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German Pages 337 [352] Year 1999
Volker Gerhardt/ Reinhard Mehring/Jana Rindert
Berliner Geist
Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert
Berliner Geist Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946 Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität
m LM toi
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Porträts auf dem Einband: Johann Gottlieb Fichte, Georg W. F. Hegel, Wilhelm Dilthey, Eduard Spranger, Ernst Cassirer
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gerhardt, Volker: Berliner Geist : eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität/ Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert. - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-002961-7
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung
9 12
Teil I: Gründung 1. Vorgeschichte
19
2.
Die erste Phase der Gründung
24
3.
Der zweite Schritt
33
a. b.
Weltkluge Korrektur: Schleiermacher Selbsterfahrung als Bildungsidee: Humboldt
33 42
Die Berliner Philosophie nach der Gründung: Fichte
46
4.
Teil II: Formierung 5.
Mittelpunkt des Denkens: Hegel in Berlin
53
a. b.
53
c. d. 6.
C.W. F. Solger „ Philosophische Wissenschaften " vor der Konsolidierung: Dozenten zwischen Fichte und Hegel Die Berufung Hegels Hegels Berliner Wirksamkeit
55 63 66
Der Streit um Hegels Erbe
74
a. b. c. d.
74 78 81
Der Streit der Hegelianer Erste berufungspolitische Reaktion: Heinrich Steffens Die romantische Mission Schellings Voreiliger Triumph des Hegelianismus: Michelets philosophiegeschichtliche Apotheose
84
6 7.
Inhaltsverzeichnis
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen a. Hegelianismus und Historismus b. Der Neuansatz Trendelenburgs c. Berliner Philosophie im Zeichen philologischer Kritik: Eduard Zeller d. Ein vergessener Ordinarius: Friedrich Harms e. „Die Wiedergeburt der Philosophie" durch die Naturwissenschaften . f . Neue Hoffnung auf philosophische Universalität: Hermann Lotze . . .
8.
87 87 91 95 100 103 109
Randgänger, Unberufene und Vergessene
111
a. Der Randgänger als Querulant: Arthur Schopenhauer b. Der Kampf ums Ordinariat: zwei Beispiele c. Diverse Habilitanden vor 1848 d. Einige Dozenten nach 1848 e. Neuaufbau nach 1872 mit Zeller und Dilthey f . Ein Blick ins Vorlesungsverzeichnis
112 115 118 121 123 132
Teil III: Blüte 9.
Wilhelm Dilthey als exemplarischer Denker in der Berliner Tradition . . .
137
a. b. c. d.
137 144 146 153
Lazarus und die „Wissenschaft des Judenthums" Jugendgeschichte Dilthey s bis zur Berufung Dilthey s Philosophiebegriff Die Schüler Dilthey s
10. Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey a. Frühgeschichte der Berliner Psychologie b. Nachbarschaftsbeziehungen c. Ebbinghaus und Dilthey: Parallelismus oder Wechselwirkung? . . . . d. Carl Stumpf Brentano und die Institutsgründung im Zeichen der „Phänomenologischen Psychologie" e. Ein Promovent: Robert Mus il
168 177
11. Neukantianismus in Berlin: Berufene und Vergessene
179
a. b. c.
Ein Ordinariat für die Pädagogik: Friedrich Paulsen Dilthey s Nachfolger: Alois Riehl Benno Erdmann als Organisator zwischen den Schulen
12. Die unberufenen Potentaten a. b.
Berliner Leben als philosophischer Stil: Georg Simmel Ein Integral philosophischer Forschung: Ernst Cassirer
13. Zwei Kandidaten des Ministeriums a. b. c.
Der Praktiker: „Direktor Schmidt" Übergang in die Philosophie: Ernst Troeltsch Protestantismus und Lebensphilosophie
158 158 161 163
180 185 190 194 195 205 212 215 217 221
Inhaltsverzeichnis
7
Teil IV: Krise 14. Die goldenen Zwanziger
227
a. b. c. d. e.
Epigone der Berliner Tradition: Eduard Spranger Auch ein vergessener Ordinarius: Heinrich Maier Lange Lehrzeit und vielfältige Wirksamkeit: Max Dessoir Die Sozialphilosophie etabliert sich: Alfred Vierkandt Zwei umstrittene Habilitationen: Hans Reichenbach und Friedrich Delekat f . Dozent neuen Typs: Kurt Hildebrandt g. Ein Kompromißkandidat kommt: Nicolai Hartmann
229 236 238 243 246 250 254
15. Der Auszug der Psychologie a. b. c.
Carl Stumpf und die Berliner Gestaltpsychologie Die Formierung der gestaltpsychologischen Schule Die Revolution frißt ihre Kinder: Besetzungsquerelen im Institut
258
...
16. Zweierlei Enden einer Tradition a. b.
a. b. c. d. e. f. g. h. i.
276
Emigrationsschicksale: Hofmann, Liebert, Baumgardt, Kuhn Karrieren: Hochstetter, Günther, Wichmann, Odebrecht
17. Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
258 261 271
277 284 . .
Philosophie als „politische Pädagogik": Alfred Baeumler Habilitanden im Nationalsozialismus: Springmeyer, Schering, Steinbeck, Lehmann Ein Vermittler aus Italien: Ernesto Grassi Hartmanns Habilitanden: Wein, Ballauf, Liebrucks Politik und Philosophie im Spiegel Piatons: Werner Jaeger „ Systematische Philosophie " im Nationalsozialismus Stunde Null der Berliner Philosophie Wiederanknüpfungen und erste Berufungen Kontinuitätsbruch nach 1945: Verpflichtung aufs Vermächtnis? . . . .
290 291 296 304 306 310 312 315 317 321
Anhang Siglen Zeittafel Namensregister Über die Autoren Bildnachweis
329 330 334 338 339
Vorwort
Berliner Geist: Unter diesem Titel erschien posthum eine Sammlung thematisch verwandter Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen des 1963 verstorbenen DiltheySchülers Eduard Spranger.1 Spranger, ein gebürtiger Berliner, hat sich 1909 in Berlin habilitiert und dort von 1920 bis 1946 als Ordinarius gewirkt. Den Genius loci als „Sitz weltgestaltender Philosophie" führt er auf das alte, protestantisch-preußische, friderizianische Berlin zurück, das mit dem spekulativen Idealismus der nachkantischen Philosophie seine „Weltanschauung" und mit der Universitätsgründung von 1810 seinen „Sitz" erhalten habe. Dieses Erbe sei, trotz aller Wandlungen, so Spranger, der der erste kommissarische Nachkriegsrektor der alten königlichen FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin war, für die deutsche Universität weiterhin verpflichtend.2 Ob diese Verpflichtung heute noch besteht, wollen wir offenlassen. Gleichwohl scheint uns der Titel von Sprangers Sammlung - bei aller Distanz zu seiner „Weltanschauung" - für unseren Versuch einer Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie geeignet. Der Geistbegriff ist für die Hauptlinie der Berliner Universitätsphilosophie - von Hegel über Dilthey zu Spranger - kennzeichnend. Er ist heute philosophisch kaum ohne Ironie und Polemik aktualisierbar, wenn auch allenthalben wieder - in Rückübersetzung aus dem Angelsächsischen - von der „Philosophie des Geistes" die Rede ist. Wir nehmen ihn historisch auf, ohne die Geister vergessen zu wollen, die sich dieser Hauptlinie nicht fügen. Im Sinne Hegels sprechen wir weder von einem „absoluten" noch von einem „subjektiven" Geist: Wir sprechen nicht vom Fortschritt der Philosophiegeschichte und auch nicht von der Dominanz der Wirkungsgeschichte eines einzelnen Philosophen, wie Hegel, sondern vom „objektiven" Geist der Wirkung einer Institution - der Universität Berlin - auf ihre Philosophen. Die 1810 gegründete Berliner Universität hat Epoche gemacht. Bereits ihre Existenz war das Ergebnis einer kühnen Reformmaßnahme, die zum Vorbild für alle
1 Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Stuttgart 1966. 2 Dazu vgl. Konrad W. Jarausch, Gebrochene Traditionen: Wandlungen des Selbstverständnisses der Berliner Universität, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 2 (1999), S. 121-135.
10
Vorwort
deutschen Universitäten und für eine stattliche Anzahl in Übersee wurde. Es folgte eine glanzvolle Entfaltung über mehr als hundert Jahre, die Maßstäbe für die Entwicklung fast aller Einzeldisziplinen setzte. Berlin war der Gipfel der akademischen Karriere, unbestritten die „Endstationsuniversität" Deutschlands. 3 Hier wurde das Zusammenwirken von Universität und Akademie erprobt; hier entstanden die ersten Einrichtungen für die Großforschung; von hier gingen die Impulse zu dem aus, was heute Drittmittelforschung heißt. Die Liste der berühmten Lehrer und Forscher ist lang. Keine andere deutsche Universität hat so viele Nobelpreisträger unter ihren Mitgliedern gehabt. Und keine andere brachte so zahlreich Philosophen hervor, deren Namen in keiner Philosophiegeschichte fehlen. Aber die Berliner Universität, die heute den Namen ihres Gründers, und ausdrücklich auch seines Bruders, trägt, zollte ihrer bevorzugten Stellung in der Nähe des Hofes, im Zentrum der Hauptstadt, umgeben von Hochfinanz, Industrie und politischer Parteiung, auch bitteren Tribut. Nationalismus und Restauration belasteten sie schon vor 1848. Das Arrangement mit dem Wilhelminismus heizte sie bald imperialistisch und antisemitisch auf. Von den Verlusten des Ersten Weltkriegs war die Universität stark betroffen. Und die zwanziger Jahre reichten nicht hin, den Betrieb neu zu formieren. Bald folgte der Exodus der jüdischen Mitglieder. Und dann kamen der Zweite Weltkrieg und die Teilung der Stadt. Nach 1945 wurde die Universität zur Paradeanstalt einer totalitär herrschenden Parteidoktrin, die sich „wissenschaftlich" gab, ohne es je zu sein. Auf ein wissenschaftlich fruchtbares Jahrhundert folgten also Jahrzehnte der „Weltanschauung" und der „Ideologie", des Niedergangs und der Zerstörung. Zwar gab es auch nach 1933 wie nach 1945 noch Gelehrte und Lehrer von Rang. Aber sie konnten keine beispielgebende akademische Kultur und Tradition mehr ausprägen. Wo sollte die Erneuerung ansetzen, die mit der Wende des Jahres 1989 endlich möglich wurde? Diese Frage war der Humboldt-Universität seit 1990 praktisch-politisch gestellt. 4 Sie hat auch die Struktur- und Berufungskommission für Philosophie seit 1991 beschäftigt und wurde uns seit 1992 zur eigenen beruflichen Aufgabe. Die Widerstände
3 „Die vierte Ebene war allein der Universität in Berlin vorbehalten. Sie war, bis auf wenige erklärbare Ausnahmen, Endstationsuniversität. An keiner anderen deutschen Universität waren in den Geisteswissenschaften die Zahl der Ordinarienberufungen so hoch und die Abwanderungsquote so niedrig, wie in Berlin. Ein Ruf nach Berlin war, wie es auch von Zeitgenossen wahrgenommen wurde, der Gipfel der akademischen Karriere sowohl unter den preußischen als auch unter den nichtpreußischen Universitäten. Zum Ende des Jahrhunderts hin sah man Berlin gar als ,Weltuniversität' an." (Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, vgl. dort nur S. 60, 170f, 272 ff, 223). 4
Knappe Dokumentation bei Thomas Raiser, Schicksalsjahre einer Universität. Die strukturelle und personelle Neuordnung der Humboldt-Universität zu Berlin 1 9 8 9 - 1 9 9 4 , Baden-Baden 1998.
11
Vorwort
gegen die Erneuerung der Philosophie waren mitunter aber so massiv, daß es der nachdrücklichen Erinnerung an die große Vergangenheit des Faches bedurfte, um überhaupt eine wissenschaftliche Zukunft eingeräumt zu bekommen! Wer das nicht glauben mag, lese die von der SED im Foyer des Hauptgebäudes noch immer angeschlagene 11. Feuerbach-These. Damit ist das persönliche Motiv genannt, das dieses Buch entstehen ließ. Wir mußten es schreiben, um uns Mut zu machen. Das hat in unserem Fall geholfen. Um so mehr hoffen wir, daß die Arbeit auch einen objektiven Ertrag gezeitigt hat. Für großzügige Unterstützung danken wir dem Präsidenten der Humboldt-Universität, der DFG, den Mitarbeitern des Universitätsarchivs sowie dem Akademie Verlag. Außerdem sind wir unseren Kollegen Michael Heidelberger und Rolf-Peter Horstmann für wertvolle Hinweise verbunden. Volker Gerhardt
Reinhard
Mehring
Jana Rindert
Einleitung
Die Philosophie des 19. Jahrhunderts wird heute noch weitgehend aus der Optik ihrer Akteure beurteilt. Die Überbietungsversuche der Kritischen Philosophie Kants durch Fichte, Schelling und Hegel führten zu Selbstinthronisationen, die die nachfolgende Philosophiegeschichtsschreibung zugleich anregten und belasteten. Da ist der spektakuläre Bruch mit Hegel, den nicht nur seine linke Schülerschar vollzog. Da ist die Umdeutung von Hegels eschatologischer Geschichte des „absoluten" Geistes in die philologisch gezügelte, „positive" Geistesgeschichte und die Entstehung des „historischen Bewußtseins" durch Dilthey. Diese deutungsmächtigen Impulse wurden zuerst auf den philosophischen Kanzeln Berlins vertreten und gingen von dort aus in die Welt. Zwar hat die Berliner Universitätsphilosophie nach Hegel und Dilthey sich immer wieder selbst historisiert. Selten wurde jedoch der Versuch gemacht, die Traditionskonstruktionen institutionengeschichtlich darzustellen. Nun ist es an der Zeit, die gesamte Berliner Universitätsphilosophie bis zur Wiedereröffnung 1946 zu erfassen. Dazu wird hier ein erster Versuch vorgelegt, der einen Bestand dominierender Themen und Probleme sichtbar machen und diverse Geschichten einzelner Universitätslehrer erinnern möchte. Aus pragmatischen Gründen mußten Schwerpunkte gesetzt werden. Der Stoff war viel zu umfänglich, die Quellenlage zu schwierig, als daß alle Fragen hinlänglich hätten geklärt werden können. Auch Beschränkungen waren nötig: So wurden nur die Ordinarien, Professoren und Habilitanden der Berliner Universitätsphilosophie berücksichtigt.1 Gescheiterte Habilitationsversuche wurden in der Regel ebensowenig berücksichtigt wie die Dissertationen. Die Rolle der Studentenschaft blieb insgesamt unthematisch.2 So wurde die überlieferte Philosophiegeschichtsschreibung nicht mit einer Sozialgeschichte, politischen Geschichte oder Rechtsgeschichte der Fakultät parallelisiert, obwohl solche Gesichtspunkte mitberücksichtigt sind. Wir haben eine philoso-
1 Orientiert an Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin. Bd. I: 1810-1945, Leipzig 1955. 2 Dazu informativ Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten: 1800-1950, Frankfurt/M. 1984.
Einleitung
13
phierende Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie - in Wahrnehmung ihres „Geistes" - versucht. Das ist gewiß ein fragwürdiges Unternehmen. Schon Erich Rothacker beklagt, daß unsere gängigen Universitätsgeschichten „zuviel reine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichten und oft mehr die Chronique scandaleuse der Hochschule als die Chronik ihrer Kerntätigkeiten" 3 bieten. Rothackers „ideale Hochschulgeschichte" setzt die Universitätsgeschichte mit der Wissenschaftsgeschichte in ein enges Verhältnis. Seine Einleitung in die Geisteswissenschaften unternimmt dies 1920 gerade für die Berliner Entwicklung von Hegel und der Historischen Schule zu Dilthey. Doch welchen Anteil kann eine Institution an der Entwicklung eines Faches haben? Ist die Universitätsgeschichte nicht weitgehend darauf beschränkt, die Entwicklung einzelner Vertreter eines Faches additiv zu dokumentieren? Kann sie die Wissenschaftsgeschichte einer Institution mit allgemeinen Epochenentwicklungen „geistesgeschichtlich" in ein Verhältnis setzen? 4 Die Universitätsgeschichte folgt ihren eigenen Regeln. Eine Institution entwickelt sich nicht aus einem „objektiven Geist": jedenfalls nicht aus dem „Geist" oder den Prinzipien einer Philosophie. Deshalb ist der historiographische Sinn und Ertrag unserer Rede von einer philosophischen „Tradition" oder einem philosophischen „Profil" methodisch durchaus fragwürdig. 5 Diese Probleme werden hier nicht vorab reflektiert. Unsere Arbeit soll sich durch ihre Erträge rechtfertigen. Dabei will sie zur Erinnerung an eine Idee von Universität beitragen, die sich ausdrücklich philosophisch verstand. Unser idealer Adressat ist der philosophisch interessierte Leser. Die Darstellung nimmt im Ergebnis - mit gebotener Behutsamkeit - erneut eine Kontinuitätsbehauptung und Traditionskonstruktion vor. Sie vertritt die These, daß die Humboldt-Universität in ihrer relativ kurzen und überaus wechselvollen Geschichte ein eigenes philosophisches Profil ausgeprägt hat, das weiterhin philosophisch interessant und bildungspolitisch aktuell ist. Institutionengeschichtlich ist die Ausdifferenzierung einer Berliner Forschungslandschaft eine Möglichkeitsbedingung für den Erhalt einer prekären Königsrolle und Schlüsselstellung der Philosophie an der Universität. Die Preußische Akademie besteht längst, als die Universität gegründet wird. 1821 folgt die Technische Schule, seit 1866 Gewerbeakademie, heute Technische Hochschule, 1830 folgt die Forstlehranstalt Eberswalde, 1906 die Handelshochschule, 1920 die Deutsche Hochschule für Politik. Zur Säkularfeier der Universitätsgründung verkündet der Kaiser 1910 die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Auch eine Einrichtung wie die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums wäre
3 Wissenschaftsgeschichte und Universitätsgeschichte, Bonn 1943, S. 22. 4 So anregend Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, Jena 1932. 5 Forderung nach konsequenter Historisierung jetzt bei Ulrich Johannes Schneider, Philosophie und Universität, Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 1998.
14
Einleitung
für eine umfassende geschichtliche Betrachtung der Rolle der Philosophie in der Forschungslandschaft Berlin einzubeziehen. Unsere Untersuchung beschränkt sich jedoch auf die universitären Vertreter und formuliert ihre Thesen zum philosophischen Profil der Berliner Universität, ohne dessen Rolle in der gesamten Forschungslandschaft weiter zu problematisieren. Die Universitätsreform und Gründungsgeschichte der Berliner Universität ist als Teil der preußischen Reformen eine Antwort auf die Niederlage in den napoleonischen Kriegen. Philosophen sind an ihr aktiv beteiligt (Kap. 1). So kommt es zur Gründung der Universität aus philosophischem Geist. Die Philosophie erhält eine universitäre Schlüsselfunktion; sie steigt aus ihrer alten propädeutischen Funktion in der „unteren Fakultät" zum Mittelpunkt der Universitätsorganisation auf. Von der Philosophie wird fortan eine enzyklopädische Leistung und systematische Rolle erwartet. Fichtes Ehrgeiz (Kap. 2) wird dabei durch Schleiermacher praktisch korrigiert. Humboldt verbindet diese Sicht der Universität mit seiner Auffassung der Wissenschaft als Bildungsmacht (Kap. 3). Fichte mobilisiert diese Bildungsidee als nationalpolitisches Programm im Befreiungskampf gegen Frankreich (Kap. 4). Die Formierung der Berliner Philosophie beginnt mit Hegel, neben dem Schleiermacher wirksam bleibt. Historisch betrachtet muß die Auffassung revidiert werden, Hegel und der Hegelianismus hätten das Profil der „Philosophischen Wissenschaften" und Fakultät unumstritten dominiert (Kap. 5). Nach Hegels Tod gerät der Hegelianismus in einen Erbstreit, der berufungspolitische Reaktionen provoziert. Die Berufung Schellings ist nicht der erste und einzige Versuch einer Restauration der Romantik in der Berliner Philosophie. Das damalige Triumphieren des Hegelianismus über deren Scheitern ist voreilig. Es verdeckt die Krise nur, in die die Berliner Philosophie nach der ersten Phase ihrer Formierung gerät (Kap. 6). Bald setzt aber eine zweite Formierungsphase ein. Sie steht zunächst im Zeichen der Philologie und philosophiegeschichtlichen Forschung, hält aber auch systematische Ansprüche fest. Dies gilt sowohl für Trendelenburg als später auch für Friedrich Harms und Eduard Zeller. Die systematischen Ansprüche der Philosophie werden schon durch die philosophische Reflexion der Naturwissenschaften erinnert, die Helmholtz und andere anregen. Eine Antwort ist die Berufung Hermann Lotzes. Sie macht deutlich, daß der Gründungsanspruch auf eine umfassende philosophische Universalität und Systematik festgehalten wird (Kap. 7). Neben der Stabilisierung des Berliner Niveaus durch diese gelungenen Berufungen gibt es jedoch auch eine starke Diversifizierung der Berliner Dozentenschaft im Niveau und in den Forschungsorientierungen (Kap. 8). Ihre Blüte erlangt die Berliner Philosophie deshalb eigentlich erst mit der Berufung Wilhelm Diltheys. Mit Zeller und Dilthey konsolidiert sich der Lehr- und Forschungsbetrieb auf höchstem Niveau. Es sind nun nicht mehr nur einzelne Leistungen hervorragender Forscher, durch die die Berliner Universität Weltniveau erlangt: Auch
Einleitung
15
die Dozenten neben ihnen sind nahezu ausnahmslos glänzende Vertreter ihres Faches. Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende ist die Berliner Universitätsphilosophie auf ihrer Höhe. Dilthey vermag den Gründungsanspruch weitgehend zu erfüllen (Kap. 9). Allerdings deuten sich in den Auseinandersetzungen um seine „geisteswissenschaftliche Psychologie" auch Grenzen an. Entspricht schon die universitäre Kommunikation mit den Naturwissenschaften nicht mehr den enzyklopädischen Ansprüchen, wie Hegel sie erhob, sondern beschränkt sich die Philosophie nun auf einen Grundlegungsanspruch, so wird ihr auch diese Kompetenz nun verstärkt bestritten. Dilthey kann seine „geisteswissenschaftliche Psychologie" nur durch seinen berufungspolitischen Einfluß behaupten. Durch die Berufung von Carl Stumpf bleibt die Psychologie jedoch innerhalb der „Philosophischen Wissenschaften" in einem verträglichen Ergänzungsverhältnis zur Philosophie (Kap. 10). Der Neukantianismus spielt dagegen in Berlin um 1900 nur eine untergeordnete Rolle. Seine wichtigsten Vertreter sind Friedrich Paulsen, Alois Riehl und Benno Erdmann. Alle drei nehmen tiefgreifende Modifikationen Kants vor (Kap. 11). Georg Simmel, Ernst Cassirer und Ernst Troeltsch treten zwar ebenfalls als herausragende Kantforscher hervor, bleiben aber in ihrer lebensphilosophischen Orientierung eher Erben und Nachfolger Diltheys und treten im übrigen mit bedeutenden eigenen Leistungen hervor. Die Universitätsakten enthalten keinen Hinweis darauf, daß Simmel und Cassirer in der Fakultät zu Opfern antisemitischen Ressentiments werden. Simmeis Frühwerk kann mit seiner sozialphilosophischen Orientierung keine Berufung rechtfertigen, und für Cassirer ist neben Riehl in Berlin einfach kein Platz (Kap. 12). Dennoch spielen auch konfessionelle Motive eine Rolle: Troeltsch expliziert die protestantische Prägung der Lebensphilosophie religionshistorisch und versucht, eine Antwort auf das Relativismusproblem des Historismus, das Diltheys Weltanschauungslehre aufwirft, zu geben (Kap. 13). Sämtliche Ordinariate werden in den zwanziger Jahren neu besetzt. Die Berliner Philosophie gerät dadurch in eine offenkundige Krise. Eduard Spranger vermag das Erbe Diltheys nur epigonal fortzusetzen. Und das philosophische Profil wird heterogen. Zwar fordert die Fakultät Cassirer. Das Ministerium beruft jedoch Nicolai Hartmann, dessen Kategorienanalyse zwar Anregungen Heinrich Maiers weiterführt, der Philosophie Diltheys aber fern steht (Kap. 14). Philosophisch gewichtige Innovationen gehen eher von den Schülern Stumpfs, von Wolfgang Köhler und der Berliner Schule der Gestaltpsychologie aus. Diese wird im Nationalsozialismus weitgehend zerschlagen (Kap. 15). Zahlreiche Berliner Philosophen müssen emigrieren, andere aber machen Karriere (Kap. 16). Während Köhler freiwillig emigriert, bleiben Spranger und Hartmann. Alfred Baeumler wird als nationalsozialistischer Philosoph berufen. Zwar tangiert die Politisierung im Nationalsozialismus das Niveau. Eine gänzliche Liquidierung der philosophischen Tradition erfolgt jedoch erst nach 1945. Sie findet ihren Ausdruck in der Abschaffung eines selbständigen Instituts für Philosophie und
16
Einleitung
der Verpflichtung aller philosophischen Forschung auf den Marxismus-Leninismus. Deshalb wird unsere Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie mit der ersten Berufung nach 1945, der Wiedereröffnung der Universität 1946 und der Gründung der DDR beschlossen (Kap. 17).
Teil I: Gründung
1.
Vorgeschichte
Von keiner anderen Universität Europas läßt sich so ausdrücklich sagen, daß sie unter philosophischen Auspizien entworfen, betrieben und ins Werk gesetzt wurde. Es waren philosophische Köpfe, die das umstrittene, weder beim preußischen Hof noch bei den Berliner Bürgern beliebte Projekt verteidigten; es war ein bedeutender Sprachphilosoph aus der Schule Kants, der - kurzfristig als hoher Kultusbeamter tätig - die Universitätsgründung des Jahres 1810 durchsetzte: Wilhelm von Humboldt; es war ein namhafter Theologe, Philosoph und Platon-Übersetzer, der als vortragender Ministerialrat und Sekretär der Einrichtungskommission die ersten Berufungen vorbereitete: Schleiermacher. Schließlich war es Fichte, der als erster gewählter Rektor amtierte, nachdem er der Idee der neuen Universität in einer Programmschrift die schärfste Kontur gegeben hatte. Ihren ersten Ruhm erwarb die Neugründung durch die in alle damaligen Wissenschaftszweige ausstrahlende Lehrtätigkeit Hegels. Dann war es wieder ein Philosoph, Schelling, von dem die Bewältigung der ersten großen Krise der Universität erwartet wurde. Und obgleich der alte Schelling mit seiner Mission scheiterte, stärkte die Auseinandersetzung mit ihm doch das politische Selbstbewußtsein der Universität. Sie errang eine Stellung, die ihr nach 1848 nicht mehr genommen werden konnte. Vor der Berliner Neugründung hat es in Deutschland nur eine Hochschule gegeben, die unter vergleichbaren Ansprüchen entstand. Für die Errichtung der Universität Halle hatte der aus Leipzig vertriebene Christian Thomasius (1655-1728) 1 philosophische Ziele formuliert, die sich der Kurfürst von Brandenburg Friedrich III. (und spätere preußische König Friedrich /. [1657-1713]) 1694 zu eigen machte: Die Universität solle dazu dienen, „den Menschen [...] zum Menschen zu machen, ihn von dem Schmutz der Barbarei [...] befreien und ihm auf Erden eine Heimath bereiten" 2 . Obgleich die Philosophie nach dem traditionellen Kanon der unteren Fakultät 1 Im folgenden werden die Lebensdaten wichtiger Personen bei erster bzw. zentraler Erwähnung um der Orientierung bzw. Strukturierung willen genannt. Dabei kommt es zu zahlreichen Wiederholungen. 2 Auf diese bemerkenswerte Äußerung Friedrichs III. beruft sich Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter (Rektoratsrede vom 3. August 1893), Berlin 1893, S. 12.
20
Teil I: Gründung
den Namen gab, wurde ihr - als „allgemeiner Weltweisheit" - die führende Rolle zuerkannt. Bei der Erziehung zum sachverständigen, weltkundigen, politisch ergebenen und gläubigen Untertanen sollte sie nicht mehr nur propädeutische Aufgaben erfüllen, sondern die wissenschaftliche Tätigkeit insgesamt orientieren. In diesem Sinn wurde in Halle fast dreißig Jahre lang, zunächst von Thomasius, dann von Christian Wolff ( 1679-1754), gelehrt, bis der zur Herrschaft gelangte Pietismus seine theologischen Ansprüche auch politisch behaupten und 1723 die Vertreibung Wolffs erwirken konnte. Erst dessen Rehabilitierung im Jahre 1740 - eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs II. (1712-1786) - verschaffte der Philosophie in Preußen wieder öffentliche Geltung. Ihre universitäre Stellung blieb jedoch beschränkt. Als hinterbliebener Anwalt der alten Artistenfakultät sollte sie auf das vorbereiten, was man in den Hauptfakultäten der Mediziner, Juristen und Theologen lernte. Hätte die Vernunftkritik Kants der Philosophie nicht von innen heraus einen Weisheit und Wissenschaft gleichermaßen bewegenden Impuls gegeben, wäre von der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts wohl nur das Denken für den Lehrgebrauch, die sogenannte Schulphilosophie,3 Übriggeblieben. Gleichwohl befand sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die bislang auf propädeutische Funktionen eingeschränkte Philosophische Fakultät in einem unerhörten Aufschwung. Das machtbewußte Hannoveraner Königshaus hatte 1734 die Universität Göttingen errichtet und alsbald nicht nur Halle, sondern auch die damals führende deutsche Universität in Leipzig überflügelt. Die Gründung war ganz im pragmatischen Geist der Aufklärung geschehen: Die von der Regierung abhängige Georgia Augusta sollte vornehmlich Staatsbeamte ausbilden und dabei die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften nutzbar machen. Damit waren hohe Erwartungen an die Leistungen der menschlichen Vernunft verbunden, die sich keineswegs auf technische und ökonomische Neuerungen beschränken sollte. Auch literarischen Neigungen, wie sie Johann Christoph Gottsched (1700-1766) an der Leipziger Universität beförderte, wurde breiterer Raum gewährt. So konnte der mit der Leitung beauftragte Hannoversche Staatsmann Gerlach Adolf von Münchhausen die „feingesittete Weltbildung" verlangen, die ihn selbst auszeichnete. Theorie und Praxis, Wissen und Leben sollten in Einklang kommen.4 Die Folge war eine Blüte der literarischen Wissenschaften. Die Göttingischen Gelehrten Anzeigen wurden zum vielgelesenen Journal und fanden in allen Hauptstädten Nachahmung, so durch die Berlinische Monatsschrift, die Biester und Gedicke seit 1783 herausbrachten. Die Entwicklung einer eigenständigen deutschen Literatur ging 3 Dazu die ältere Darstellung von Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945; vgl. Notker Hammerstein (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung, Göttingen 1995. 4 Alfred Heubaum, Geschichte des deutschen Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, Bd. 1, Berlin 1905, S. 246.
1.
Vorgeschichte
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parallel mit der Entfaltung literarischer Kritik und förderte das allgemeine Interesse an den alten Sprachen, der Geschichte und der Kultur überhaupt. Göttinger Gelehrte wie Geßner, Heyne, von Schlözer, Michaelis oder das alle Fakultäten überstrahlende Genie Georg Christoph Lichtenbergs (1742-1799) führten vor, daß die Universität sich im Geiste Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) und Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781), Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724-1803) und Moses Mendelssohns (1729-1786) halten konnte. Was die Salons in Paris und die Clubs in London beschäftigte, das konnte man auch in den Hörsälen Göttingens vernehmen. Hier wuchsen „Philosophen für die Welt", und die alte Disziplin wurde so populär, daß man daranging, sie zu einem Schulfach zu machen. Daß unter solchen Bedingungen auch das akademische Selbstbewußtsein der Philosophie wuchs, versteht sich keineswegs von selbst. Als „Weltweisheit" hätte sie sich durchaus außerhalb der Universitäten einrichten können. Es gab damals nicht wenige, die diesen Verzicht auf einen universitären Status forderten. Dieses Ansinnen ist später auch von einem in Berlin gescheiterten Privatdozenten überliefert.5 Dennoch etablierte sich die Philosophie als Wissenschaft und behauptete sich mit eigenen Methoden gegenüber dem gewachsenen Ansehen der Einzelwissenschaften. In Deutschland war es insbesondere die kritische Selbstprüfung des menschlichen Denkens durch Immanuel Kant (1724-1804), die der Philosophie neue Aufgaben stellte. Der alte platonische Führungsanspruch wurde dabei verworfen. Die „kritische Philosophie" hielt es nicht nur politisch für bedenklich, daß die Philosophen „Könige" sein sollten, sondern sie wollte im Reich der Wissenschaften auch keine alleinherrschende „Königin" mehr sein. Statt dessen empfahl sie sich in einer dienenden Funktion, die Geltungsansprüche auf deren Methode prüfte und praktische Orientierungshilfen gab.6 Allein schon die Freiheit, die sie für sich reklamierte, mußte es ausschließen, daß gegebene Ziele ungeprüft übernommen wurden. So konnte sie mit dem alten Vorwurf, sie sei nicht mehr als eine ancilla theologiae, gelassen umgehen. Denn es blieb immer noch die Frage, ob diese Magd „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt" 7 . Allerdings machten Kants genialische Schüler die Selbstbescheidung der kritischen Philosophie bald vergessen. Und plötzlich hatte das spekulative Denken ein geographisches Zentrum, nämlich die nicht weit von Goethes Weimar gelegene Uni5 Gemeint ist Arthur Schopenhauer (1788-1860), der sich 1820 in Berlin habilitierte. Schopenhauer will die Universitätsphilosophie auf den „Vortrag der Logik" sowie ein Semester Geschichte der Philosophie beschränkt wissen (Über die Universitäts-Philosophie, in: Sämtliche Werke, Darmstadt 1989, Bd. 4, S. 173-242, hier: 240). 6 Zu dieser Selbstbeschränkung der Philosophie vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 134 ff. 7 Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten (1798), in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 7, S. 28.
22
Teil I: Gründung
versitätsstadt Jena. 8 Hier hatte Friedrich Schiller (1759-1805) 1789 mit seinen Vorlesungen über Universalgeschichte begonnen und mit dem effektvollen Kontrast zwischen dem „Brotgelehrten" und dem „philosophischen K o p f die wohl folgenreichste Formel der deutschen Universitätsreform ausgegeben. Hier hielt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) - Schillers Formel aufnehmend - seine Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in denen er die Philosophie vor alle andere wissenschaftliche Bildung stellte und sie gleichwohl jeder praktischen Rechtfertigung enthob. „Von dem Nutzen der Philosophie zu reden", so erklärt er in verächtlicher Abgrenzung gegenüber der Aufklärung, „achte ich unter der Würde dieser Wissenschaft. Wer nur überhaupt danach fragen kann, ist sicher noch nicht einmal fähig ihre Idee zu haben." 9 Freiheit, Selbstbildung und ursprüngliche Tätigkeit sind die hohen Ziele, denen Schelling das akademische Studium unterstellt: „Lerne nur, um selbst zu schaffen. Nur durch dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine." 10 Dieses Pathos entsprach dem Geist von Jena, der schon Hölderlin und Wilhelm von Humboldt angezogen hatte und dem 1801 auch Hegel folgte. So wurde Jena in wenigen Jahren zur philosophischen Universität par excellence. Doch so plötzlich die Jenaer Universität zur Pflanzstätte der Weimarer Kultur geworden war, so jäh war ihr Ende: Am 14. Oktober 1806 wurde in Sichtweite der Stadt das preußische Heer durch die Truppen Napoleons vernichtend geschlagen; Sachsen-Weimar geriet in politische Abhängigkeit von Frankreich, die Studenten blieben aus, und folglich mußten auch die Gelehrten die Universität verlassen. Viel schlimmer aber sah es in Preußen aus. Der Staat war durch seine jahrelange Schaukelpolitik isoliert; er verlor sein Heer und einen großen Teil seines Territoriums; er war heillos überschuldet und mußte überdies Reparationen zahlen. Preußen stand, 8 Dieter Henrich (Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991) hat für diese besondere Situation ein philosophiehistorisches Programm der „Konstellationsforschung" vorgeschlagen, das die Forschung auf den Rückgang hinter die ausgearbeiteten Systeme auf die „Probleme und Debatten am Ursprung" verweist. Gesamterörterung des deutschen Idealismus als Projekt der Revision Kants bei RolfPeter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des deutschen Idealismus, Frankfurt 1991; vgl. ders., Deutscher Idealismus - Ein Aufstand der Epigonen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), S. 491-502. 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), in: Sämtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1859, Bd. 5, S. 256. - Die Vorlesungen wurden 1802 in Jena gehalten, 1803 erstmals publiziert und 1813 und 1830 erneut gedruckt. Eine Würdigung der „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" findet sich bei Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975, S. 288 ff: Anläßlich der Säkularfeier von 1910 wurden die Programmschriften von Fichte, Schleiermacher und Steffens durch Eduard Spranger neu veröffentlicht. Weitere Ausgaben erfolgten u. a. durch Emst Anrieh (1956), Wilhelm Weischedel (1960) und Ernst Müller (1990). 10 Schelling, Vorlesungen über die Methode, S. 241.
1.
Vorgeschichte
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mit einem Wort Humboldts, „am Abgrund", und es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, daß erst in dieser aussichtslos erscheinenden Lage die Erneuerung des Bildungswesens möglich wurde. Die Niederlage machte einschneidende Veränderungen unausweichlich. Und so kamen mit Karl Freiherr vom und zum Stein (1757-1831), mit Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822), Gerhard von Scharnhorst (1755-1813), August Graf Neidhardt von Gneisenau (1760-1831) und Hermann von Boyen (1771-1848) endlich jene Reformer zum Zuge, die über neue Tatkraft verfügten. Ihr Ausgangspunkt lag in der Philosophie Kants. Es klingt nach Luther, ist aber im Geiste Kants gemeint, wenn einer dieser Reformer sein Amt mit den Worten übernimmt: „Man muß am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben." 11 Es ist Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der sich Anfang 1809 mit dieser Maxime Mut zuspricht, und der Ort, an dem er dies tut, ist Königsberg.
11 Zit. nach: Wilhelm Dilthey, Die Reorganisation des preußischen Staates, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 78.
2.
Die erste Phase der Gründung
Die Berliner Universitätsgründung war als Teil der Bildungsreform ein Teil der preußischen Reformen. Waren die Niederlage Preußens gegen Napoleon im Krieg von 1806/7 und der Tilsiter Frieden der historische Moment, in dem die preußischen Reformer, eine junge intellektuelle Minderheit in der preußischen Verwaltungselite, ihre politische Chance erhielten, so war den Reformern die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen doch lange vor der preußischen Niederlage deutlich. Man kann die Geschichte der preußischen Reformen deshalb auch weitgehend unabhängig von den außenpolitischen Umständen als Teil der Sozialgeschichte Preußens unter Rückgang auf die friderizianische Stiftung des Allgemeinen Landrechts schreiben. So sah es schon Wilhelm Dilthey1, und so beschrieb es Reinhart Koselleck in seiner wegweisenden Darstellung Preußen zwischen Reform und Revolution, die die „innere Geschichte Preußens" als „Geschichte der Durchsetzung" des Landrechts auffaßte.2 Überhaupt lassen sich die preußischen Reformen nicht als Generalkonzept nach einer philosophischen Idee vorstellen. Und wenn sie auch zweifellos für die Weichenstellung zum autoritären Nationalstaat3 in Deutschland überaus wichtig waren, so liegt eine klare nationalstaatliche Perspektive doch nicht immer im Sinn und Wollen der einander nicht immer einigen Reformer. Deshalb ist ein verfassungshistorisches Urteil4 zu relativieren, welches das Scheitern der preußischen Reformen am Scheitern 1 Dazu vgl. insgesamt Wilhelm Dilthey, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Gesammelte Schriften, Bd. 3; ders., Zur preussischen Geschichte, Gesammelte Schriften, Bd. 12: Dilthey schreibt dem politischen Willen Friedrichs eine entscheidende Rolle bei der Überwindung des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften" durch die „deutsche Aufklärung" zu, die mit dem Kultur- und Rechtsstaat Preußen den Boden für die Entdeckung des „geschichtlichen Bewußtseins" bereitete. 2 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, hier: S. 24. 3 Wolfgang J. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. 1990. 4 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957.
2.
Die erste Phase der Gründung
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eines Gesamtplans mißt. Ein solches Urteil supponiert den Reformern nicht nur eine klare nationalpolitische Perspektive auf die Gründung eines Nationalstaats, sondern zudem einen bestimmten politischen Verfassungsbegriff, der die diversen Reformen als Teil einer Gesamtlösung begreift, die mit der Idee eines deutschen Nationalstaats bezeichnet ist. Zweifellos ist die Verfassungsfrage den Reformern auch für das Gelingen der Bildungsreform von hoher Wichtigkeit. Dennoch bedeutet ihre Niederlage in der Verfassungsfrage nicht einen Fehlschlag der einzelnen Reformen im Ganzen. Dies ist sie nur aus einer nationalstaatlichen Perspektive ex post. Allerdings ist es nicht zuviel gesagt, daß die „deutsche Wissenschaft" im 19. Jahrhundert ein „Faktor der gesamten Verfassungsentwicklung Deutschlands" 5 war. Mit dem Tilsiter Frieden von 1807 wird eine Universitätsgründung nötig. Denn der Verlust Halles muß ausgeglichen werden. Die Berliner Neugründung ist 1810 die erste Antwort. Frankfurt/Oder wird 1811 mit Breslau zusammengelegt, Erfurt 1816 geschlossen. In den Rheinprovinzen wird Bonn dann 1818 erneut eröffnet und Duisburg geschlossen. Somit bestehen in Preußen 1818 insgesamt sechs Universitäten: Berlin, Bonn, Breslau, Greifswald, Halle und Königsberg. Ebenso wichtig wie die institutionellen Gegebenheiten ist die innere Organisation der Universitäten. Eine Reformierung des Verhältnisses der Fakultäten zueinander steht längst an. Die Neugestaltung der Lehrerausbildung ist die Gelegenheit für eine Emanzipation der philosophischen Fakultät aus ihrer alten propädeutischen Rolle als untere Fakultät. 6 Dies liegt in der Konsequenz von Kants Universitätsschrift. 7
5 So Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992, S. 58. 6 Dazu vgl. Hermann Lübbe, Wilhelm von Humboldts Bildungsziele im Wandel der Zeit, in: Bernfried Schlerath (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt, Berlin 1986; vgl. schon Friedrich Paulsen, Wesen und geschichtliche Entwicklung der Deutschen Universitäten, in: Wilhelm Lexis (Hrsg.), Die deutschen Universitäten, Berlin 1893, Bd. 1, S. 3-114, hier: 38f.; allgemeiner: Raban von Westfalen, Akademisches Privileg und demokratischer Staat. Ein Beitrag zur Geschichte und bildungspolitischen Problematik des Laufbahnwesens in Deutschland, Stuttgart 1977; zur älteren Universitätsverfassung vgl. Herbert Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Berlin 1957; Paul Simon, Die Idee der mittelalterlichen Universität und ihre Geschichte, Tübingen 1932; allgemein vgl. Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1992; Geschichte der Universität in Europa, 4 Bde., München 1996ff.; Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 6 Bde., München 1989 ff. 7 Es läßt sich allerdings auch argumentieren, daß die Universitätsreformer zwar Kants Forderung nach einer Neubestimmung des Verhältnisses der unteren und oberen Fakultäten folgten, Kants Idee universitärer Kommunikation aber auf die Idee der Akademie beschränkten und dadurch die revolutionäre Spitze nahmen (so Ernst Müller, Die Aufklärung in der Dialektik ihrer Institutionali-
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Teil I: Gründung
Der alte Kant reagiert auf den Zensurstreit um seine Religionsschrift nicht nur mit einer ironischen Bloßstellung des abgetretenen Regiments und einer institutionellen Beschränkung der Ansprüche der kirchlichen Orthodoxie, sondern auch mit einem Traktat zur Einforderung der Wissenschaftsfreiheit. Er fordert das alte, durch Friedrich II. erlassene Recht zur universitären Selbstzensur zurück, 8 indem er die Relevanz philosophischer Grundlagenforschung für die oberen Fakultäten darlegt: Selbst die medizinische Fakultät könne von der „Macht des Gemüts" nicht gänzlich absehen, will sie das Leben erhalten. Die rechtsdogmatisch gebundene positive Rechtswissenschaft sei vollends unfähig, ein Ereignis wie die Französische Revolution moralisch-praktisch als Rechtsgeschehen zu begreifen. Und die Schriftgelehrsamkeit des Kirchenglaubens führe nur zur sektiererischen Orthodoxie, niemals aber zum philosophischen Vernunftglauben. Kant rechnet den oberen Fakultäten also vor, daß ihre staatlich beaufsichtigte, nützlichkeitsorientierte Forschung ohne die wahrheitsorientierte philosophische Kritik nicht auskommt: „Die philosophische Facultät kann also alle Lehren in Anspruch nehmen, um ihre Wahrheit der Prüfung zu unterwerfen" 9 . Schleiermacher folgert daraus, der philosophischen Fakultät komme „die erste Stelle" zu: „In dieser einen ist daher allein die ganze natürliche Organisation der Wissenschaft enthalten" 10 . Und so richtet Berlin als erste Universität die naturwissenschaftlichen, an den älteren Universitäten noch in der Medizin beheimateten Fächer in der Philosophischen Fakultät ein, was das Verhältnis zu den Naturwissenschaftlern lange begünstigt. Das Recht auf wissenschaftliche Kritik ist nach Kant auch ein moralischer Anspruch jedes Individuums an sich selbst: Die „Wahrhaftigkeit"" gebiete die Selbstaufklärung eines Individuums über seine Lebensbedingungen. Allerdings sei sie nicht jedem gleichermaßen möglich. Weil aufgeklärte Gelehrte dem Volk nur als „Wundermänner" erscheinen, sei staatliche Zensur überflüssig. Hier setzt Humboldt an, der die Bildungsmacht der Wissenschaft für alle Stände und Individuen öffnen will. Das „wesentlich Nothwendige" sei, „dass der junge Mensch zwischen der Schule und dem Eintritt ins Leben eine Anzahl von Jahren aus-
sierung. Von Kants Streit der Fakultäten
zur Humboldtschen Universität, in: W. Klein u. W. Nau-
mann-Beyer (Hrsg.), Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin 1995, S. 141-150). René König (Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935) stellt ganz auf Fichte ab und macht Humboldt für die „Tragödie der deutschen Universität" verantwortlich, kein positives Verhältnis zum Staat gefunden zu haben. 8
Dazu vgl. Wilhelm Dilthey, Der Streit Kants mit der Zensur über das Recht freier Religionsforschung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 2 8 5 - 3 0 9 .
9
Kant, Der Streit der Facultäten (1798), in: Kant's gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 28.
10 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, in: Werke. Auswahl in vier Bänden, hrsg. v. Otto Braun, Leipzig/Berlin 1911, Bd. 4, S. 580. 11 Vgl. dazu: Metaphysik der Sitten, in: Kant's gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 4 2 8 f f .
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Die erste Phase der Gründung
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schliessend dem wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich vereinigt." 12 Humboldt versteht die Universität somit primär als Chance zur Selbstverständigung und Kultivierung der Individualität. Dieses Bildungsideal ist damals noch wenig verbreitet. Und so ist auch die Idee der Universität umstritten. Ja, am Anfang der Berliner Neugründung steht eine Debatte über die Abschaffung der Universität. In Berlin sind es vornehmlich die einflußreichen Mitglieder der „Mittwochsgesellschaft", die sich darüber Gedanken machen. 13 Der zu diesem Kreis gehörende Probst Teller zieht aus seiner Mitarbeit an der noch unter Friedrich II. in Angriff genommenen, letztlich aber gescheiterten Kirchen- und Schulreform den Schluß, daß man die Universitäten nicht reformieren könne. Man müsse sie abschaffen und durch eine völlig neue Einrichtung ersetzen. Dafür plädiert auch ein kursierender Aufsatz, der insbesondere die scholastische Einteilung in Fakultäten und die eigene Gerichtsbarkeit anprangert. Das Thema findet große Aufmerksamkeit und wird heftig diskutiert. Letztlich aber stimmt man gegen die Aufhebung und für die Reform. Es sind keineswegs nur die widrigen Umstände und die ersten Vorboten der politischen Reaktion, die aus der geplanten Revolution des gesamten Erziehungswesens eine vergleichsweise bescheidene Universitätsreform werden lassen. Schon lange gibt es Reformbestrebungen. Insbesondere die fortschrittlichen Göttinger Gelehrten sehen sich zu einer großangelegten Verteidigung der Universität veranlaßt. Sie erzeugen erstmals ein kritisches Bewußtsein von der historischen Überlieferung wissenschaftlicher Institutionen und weisen die Praktikabilitätserwartungen mancher Aufklärer in die Schranken. Sie vergleichen das deutsche mit dem französischen Unterrichtssystem und finden kaum einen Vorzug in den Lehrplänen der Franzosen. Sie vermissen die Freiheit in der Auswahl der Themen und kritisieren eine zu enge und zu frühe Anbindung an die Praxis. Welchen Akzent die deutschen Reformer dagegen setzen möchten, ist einer knappen These des Göttinger Historikers Christoph Meiners
12 Litauischer Schulplan, zit. in: Tilman Borsche, Wilhelm von Humboldt, München 1990, S. 61; Humboldt entwickelt den Sinn der Bildung, „dem Begriff der Menschheit in unserer Person [...] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen", schon in seinem frühen „Bruchstück" einer „Theorie der Bildung des Menschen" in einem geschichts- und religionsphilosophischen Horizont (Theorie der Bildung des Menschen, in: Wilhelm v. Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. Andreas Flinter u. Klaus Giel, Darmstadt 1960, Bd. 5, S. 234-240, hier: 235). 13 Siehe dazu: Adolf Stölzel, Die Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhebung und Reform der Universitäten 1795, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 2, Leipzig 1889; zur außeruniversitären Frühgeschichte der Berliner Philosophie vgl. Eduard Spranger, Berlin als Sitz weltgestaltender Philosophie, in: ders., Berliner Geist, Tübingen 1966, S. 58-109.
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(1747-1810) zu entnehmen: „Bey dem wissenschaftlichen Unterricht auf Universitäten kommt es viel mehr auf Theorie als auf Praxis an." Und er fügt hinzu: „Wo auch praktischer Unterricht zweckmäßig ist, muß man sich viel mehr hüten, daß man ihn zu frühe, als zu spät anfange, daß man zu viel, als zu wenig tue." 14 Das ist gegen das französische System gerichtet und wirkt besonders überzeugend, als Napoleon als Feind im Land steht. Zunächst aber bedarf es überhaupt einer Initiative aus Berlin. Solange der bigotte Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) an der Macht ist, richten vernünftige Gründe nicht viel aus. 15 Erst mit der Thronbesteigung seines Sohnes Ende 1797 kann man auch am preußischen Hof wieder auf Argumente setzen. Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) kündigt in der Kabinettsordre vom 3. Juli 1798 einen Reformplan für das Schulwesen aller preußischen Provinzen an. Zur Begründung heißt es: „Unterricht und Erziehung bilden den Menschen und den Bürger, und beides ist den Schulen, wenigstens in der Regel, anvertraut, so daß ihr Einfluß auf die Wohlfahrt des Staates von höchster Wichtigkeit ist" 16 . Damit sind die politischen Vorbedingungen für eine Universitätsplanung in Berlin erfüllt, auch wenn der König sie nicht eigens in Auftrag gibt. Für seine Beamten versteht es sich von selbst, daß nun zunächst der Rat von Philosophen einzuholen ist. Der mit seiner Aufsatzsammlung Der Philosoph für die Welt bekannt gewordene Gymnasiallehrer Johann Jakob Engel (1741-1802) - einer der Lehrer des seit 1797 regierenden Königs sowie der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt entwirft 1802 den ersten Plan für die neue Universität. 17 Auftraggeber der Denkschrift ist der Chef der königlich-preußischen Regierung, der Geheime Kabinettsrat Karl Friedrich von Beyme (1765-1838), der sich mit seinem Amtsantritt 1798 die Reform des Unterrichtswesens als Aufgabe setzt. Im gleichen Jahr fordert der Popularphilosoph Johann Benjamin Erhard (1766-1827) die Errichtung einer höhern Lehranstalt,18 Von Beyme ist der Initiator der Neugründung und bleibt über Jahre die treibende Kraft. Durch den Leiter des geistlichen Departements, den Justizminister Julius Eberhard Wilhelm Ernst von Massow (1750-1816), wird er tatkräftig unterstützt. Von
14 Christoph Meiners, Geschichte der Entstehung und Entwicklung der hohen Schulen unseres Erdtheils, Bd. 4, Göttingen 1805, S. 85. 15 Zu dessen Reformunwilligkeit vgl. die deutlichen Worte bei Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 99f., 107ff. 16 Zit. nach: König, Universität, S. 49. 17 Erhard, Denkschrift über Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin (mit einem Begleitschreiben an den Geheimen Kabinettsrat Beyme vom 13. März 1802), in: Ernst Müller (Hrsg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 5-17. 18 Siehe: Johann Benjamin Erhard, Über Einrichtung und Zweck der höhern Lehranstalten, Berlin 1802.
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Die erste Phase der Gründung
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Massow vertraut als Justiz- und Unterrichtsminister stärker auf die Organisationsgewalt des Staates als auf die Selbständigkeit der Wissenschaft. In seinem Berliner Amt tritt er für eine strenge Reglementierung der gesamten Ausbildung ein und verlangt eine durchgängige Orientierung an praktischen Bedürfnissen. Von Beyme und von Massow haben vorrangig die Gründung einer neuartigen „allgemeinen Lehranstalt" im Auge, die sich - vom mittelalterlichen Zunft- und Prüfungswesen der Universitäten befreit - ganz der praxisnahen Unterweisung widmen sollte. Den Bestand der alten preußischen Universitäten in Königsberg und Frankfurt/Oder will man nicht antasten; sie können fortbestehen und ihren überlieferten Auftrag beibehalten, Staatsdiener auszubilden. Daneben aber soll in Berlin, und damit in unmittelbarer Nachbarschaft der Akademie, der Charité, des Collegium Medico-chirurgicum, der Hofbibliothek und bedeutender wissenschaftlicher Sammlungen, ein Institut geschaffen werden, in welchem die nutzbringende Unterweisung auch mit wissenschaftlichen Methoden betrieben werden kann. Das Gründungsvorhaben stößt auf vielfältige Widerstände. So findet der König eine Universität in unmittelbarer Nähe des Hofes störend und optiert für ihre Ansiedlung in Potsdam. Das ist vielen Bürgern aus der Seele gesprochen; in Zeitungsartikeln äußern sie ihre Sorge über den mit den Studenten notwendig einziehenden „Sittenverfall". Erst 1806 kann sich Beyme wieder seinem Vorhaben zuwenden. Nur bleibt ihm keine Zeit mehr. Mit Beginn des Jahres 1807 setzt die Serie der Reformkabinette von Hardenberg, Stein, Dohna/Altenstein und dann wieder Hardenberg ein. Auf Vorschlag des Freiherrn vom Stein gelangt Wilhelm von Humboldt 1809 in sein Amt, um endlich ins Werk zu setzen, was seit mehr als zehn Jahren beraten wurde. Den Anstoß zur Umsetzung der lange gehüteten Reformpläne geben Vorträge Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814). Fichte wird 1794 Professor in Jena, wechselt dann aber 1799 nach Berlin, als er Jena infolge des sogenannten Atheismusstreits um seine Haltung zur Religion und Kirche verlassen muß. Als Begründer des „deutschen Idealismus" berühmt, scheitert dennoch 1805 seine Aufnahme in die Akademie am Einspruch der Berliner Aufklärungsphilosophen, namentlich Friedrich Nicolais (1776—1811)19 und Johann Erich Biesters (1749-1816). Aber Fichte plant weiter für Berlin. 1807 verfaßt er seinen Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaft stehe, der allerdings erst nach seinem Tode veröffentlicht wird. Gleichzeitig beginnt er mit seinen Reden an die deutsche Nation, die er zunächst in seinem Berliner Wohnhaus, dann, des großen Andrangs wegen, im Auditorium der Akademie hält, und die
19 Dazu umfassend Horst Möller, Aufklärung in Preussen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974.
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auch von Beyme besucht, wann immer es seine Zeit erlaubt. Die Vorlesungen sollen den nationalen Widerstand gegen die demütigende Besetzung durch die Franzosen mobilisieren. Fichtes Anteilnahme an diesen Geschehnissen ist nicht verwunderlich, gilt er doch als „Entdecker des Eigenwertes der Tathandlung als solcher, der Aktivität; und damit zugleich des Eigenwertes der Freiheit" 20 . Fichte entwickelt seine Freiheitslehre schon vor 1800 zunächst in glühender Anteilnahme für die Französische Revolution. Er begreift seine Wissenschaftslehre als Grundlage des Naturrechts und arbeitet bald eine Sittenlehre und staatssozialistische Gesellschaftslehre in geschichtsphilosophischer Perspektive aus.21 Die Berichtigung der Urtheile des Publikums in Richtung auf die moralische Bestimmung des Menschen ist sein Anliegen. Schärfer als Kant oder Hegel konfrontiert er den Staat mit der sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft, die er als gelehrtes Publikum und Nation faßt. Anders als Kant schwört er deshalb dem Philosophenkönigtum nicht ab. Schon in den im Winter 1804/5 in Berlin gehaltenen Vorlesungen über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters hebt er den politischen Erziehungsauftrag der Wissenschaft hervor und sieht in deren Entfaltung die Voraussetzung für die „innige Durchdringung des Bürgers vom Staate" 22 . Inmitten der drohenden Auflösung Preußens nach der katastrophalen Niederlage bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 wendet sich Fichte an die deutsche Nation und fordert alle Deutschen pathetisch auf, die moralisch-politische Misere aus eigener Kraft zu überwinden. 23 Sein Programm einer nationalen Selbsterziehung verlangt von jedem einzelnen „geistige Selbstthätigkeit" und die entschlossene „Entwicklung des Selbstdenkens" 24 . Was daraus für die Organisation der wissenschaftlichen Ausbildung folgt, mag im einzelnen vage sein, ist aber in der Zielrichtung offenkundig. Die Erziehung
20 So pointiert Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus. I. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik, Berlin 1923, S. 94; vgl. König, Universität, S. 65ff. 21 Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, 1793; Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, 1796; Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, 1798; Der geschloßne Handelsstaat, 1800. 22 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804), in: Sämtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Leipzig 1844-46, Bd. 7, S. 210; vgl. Reinhard Lauth, Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin von Mitte 1799 bis Anfang 1805 und seiner Zuhörerschaft, in: Hegel-Studien 15 (1980), S.9-50. 23 Dazu vgl. Peter L. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, S. 147ff. 24 Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 288 f.; vgl. ders., Der Patriotismus und sein Gegentheil. Patriotische Dialoge aus dem Jahre 1807, in: Fichtes nachgelassene Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Bd. 3, S. 221-274.
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hat ganz und gar philosophischer Einsicht zu folgen. Also bedarf sie gründlicher Erneuerung. In eben dieser Radikalität empfiehlt sich Fichte dem preußischen Kabinettschef. In einem Brief an von Beyme, den „theuersten Freund", schreibt Fichte: „Aus nichts wird nichts, auch gibt es keinen Sprung zwischen durchaus entgegengesetzten Zuständen: deshalb glaube ich, theuerster Freund, immerfort, dass ohne eine völlige Umschaffung unseres ganzen Sinnes, d.h. durch eine durchgreifende Erziehung, aus keinem günstigen oder ungünstigen Erfolge Heil für uns zu erwarten ist."25
Vor diesem Hintergrund hat der Auftrag von Beymes an Fichte sein Gewicht, ein Gutachten über eine „neue Lehranstalt" zu Berlin zu verfassen. Nach der Niederlage Preußens wollen beide, der Politiker und der Philosoph, nationale Kräfte freisetzen, um den Deutschen eine neue Zukunft zu eröffnen. Dafür soll die Neugründung ein Zeichen setzen.26 Deshalb enthält Fichtes Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, der von Beyme noch im September 1807 zugeht, keinen moderaten Reformvorschlag für eine verbesserungswürdige alte Institution, sondern eine revolutionäre Neukonzeption. Sein Auftraggeber dürfte nicht überrascht gewesen sein, daß der gesamte Aufbau der neuen Lehranstalt aus einem Begriff der Philosophie abgeleitet wird. Fichte läßt nichts gelten, was sich nicht vor dem Richterstuhl des Philosophen - das hieß genaugenommen: nur vor ihm selbst - legitimieren kann. Die wissenschaftliche „Erziehung der Nation" wird aus dem Bewußtsein eines Philosophen nach strengen Gesetzen deduziert. Die Reform der Universität gilt ihm als ein „entscheidendes Element jener alle Bereiche des Lebens durchwirkenden und umgestaltenden Nationalerziehung"27. Freilich ist die Nation für Fichte alles andere als ein Selbstzweck. Gerechtfertigt ist sie nur durch den Beitrag, den sie zur Humanisierung des Menschen leistet. Fichte „will dadurch zum Erzieher des Menschengeschlechts werden, daß er Erzieher der deutschen Nation wird"28. Noch als Dekan der Philosophischen Fakultät erklärt er die Doktorpromotion zum „Symbol der Aufnahme in den
25 Brief vom 21. Februar 1808, in: Fichte, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. H. Schulz, Leipzig 1925, Bd. 2, S. 502f. 26 Fichte hatte sich bereits im Winter 1805/6 durch eine vom Ministerium erbetene Schrift über die Reform der Universität Erlangen („Ideen für die innere Organisation der Universität Erlangen") empfohlen. Dieser Text wurde im nachfolgenden Semester mit einigen Zusätzen und Veränderungen versehen und Hardenberg eingereicht, nachdem dieser zum leitenden Minister ernannt worden war. Auf Hardenberg folgte im Oktober 1807 Karl vom und zum Stein, der bei seiner erzwungenen Ablösung im November 1808 seinen Nachfolgern Dohna und Altenstein die Anregung gibt, Wilhelm von Humboldt das Unterrichtsressort zu übertragen. 27 Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975, S. 296. 28 Alois Riehl, Fichtes Universitätsplan, in: ders., Führende Denker und Forscher, 2. Aufl., Leipzig 1924, S. 101-119, hier: 105.
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Teil I: Gründung
grossen Bund der Veredlung des Menschengeschlechts"29. Daß er sich wie kein anderer berufen fühlt, die Kriterien für diese „Veredlung" zu formulieren und zu exekutieren, gehört zur Tragik dieser philosophischen Existenz, die neben sich keine andere Größe dulden konnte.
29 Fichte, Rede bei einer Ehrenpromotion an der Universität zu Berlin, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 218.
3.
a.
Der zweite Schritt
Weltkluge Korrektur:
Schleiermacher
Wie eine weltkluge, auf das Machbare bedachte Korrektur der Ideen Fichtes lesen sich die Gelegentlichen Gedanken Uber Universitäten in deutschem Sinn, die Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) Anfang 1808 der Öffentlichkeit vorlegt.1 Der bedeutende Prediger und Theologe, Platon-Forscher und Übersetzer und höchst eigenständige Philosoph 2 sucht zunächst intern Einfluß auf die Gründung zu nehmen, scheitert aber mit seinem kühnen Vorschlag, die Kultusbehörde solle Tatsachen schaffen und auch ohne Einwilligung des Königs die Universität errichten. Nun will er mit seiner Schrift öffentlich Druck erzeugen. Schleiermachers Text ist ein bildungspolitisches Dokument ersten Ranges. Was darin über die elementaren Erfordernisse von Studium und Lehre, über die Bedingungen und Ziele wissenschaftlicher Forschung, über das Verhältnis zum Staat oder die Aufgabenverteilung zwischen Schulen, Universitäten und Akademien gesagt ist, hat heute angesichts der überfüllten und überlasteten Hochschulen wieder frappierende 1 Bei der Abfassung seiner Schrift lag Schleiermacher das Gutachten Fichtes vermutlich nicht im Wortlaut vor. Er dürfte aber nicht nur von seiner Existenz, sondern auch von der Tendenz gewußt haben. Dafür spricht schon die offenkundig gegen Fichte gerichtete Bemerkung, die Wissenschaft könne „durchaus nicht Sache des einzelnen sein, [könne] nicht von einem allein zur Vollendung gebracht" (Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, in: Werke, Bd. 4, S.537) werden. Den vollständigen Text des Gutachtens hat Schleiermacher - so Menze - frühestens 1817 kennengelernt (vgl. Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975, S. 287). Allgemeine Darstellung Schleiermachers bei Wilhelm Dilthey, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 354-402; vgl. ders., Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 1-36. 2 Zur Gesamteinschätzung seines Werkes jetzt: Dieter Burdorf u. Reinold Schmücker (Hrsg.), Dialogisierte Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998; Überblick über das philosophische Wirken bei Hans-Joachim Birkner, Schleiermacher als philosophischer Lehrer, in: ders., Schleiermacher-Studien, Berlin 1996, S. 237-250; theologische Kritik bei Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 2. Aufl., Zürich 1952, S. 379-424.
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Teil 1 : Gründung
Aktualität. Anders als Fichte erkennt Schleiermacher, daß auch der beste Staat die Neigung hat, die Hochschulen für politische Zwecke in Dienst zu nehmen. Die universitäre Selbstverwaltung soll daher einen Schutz vor direkten staatlichen Eingriffen bieten. Allerdings dürfe man nicht so weit gehen, die Gelehrten sich selbst zu überlassen; da herrsche dann alsbald wieder der Geist „kleinlicher Intrigue" 3 , der die alten Universitäten in Verruf gebracht habe. So bemüht sich Schleiermacher um eine Balance aus staatlicher Kontrolle und wissenschaftlicher Autonomie, die beide Seiten zur Begründung ihrer Entscheidungen nötigt. Dabei geht er von der Überzeugung aus, daß die „wissenschaftliche Gesinnung unserer Zeit ihrer Natur nach durchaus demokratisch" 4 sei; also habe auch der innere Aufbau der Universität demokratisch zu sein! Entsprechend tritt er für eine Stärkung der Amtsautorität der Dekane und des Rektors ein, stellt ihnen einen von staatlichen Weisungen unabhängigen Kurator zur Seite und entwickelt die Grundsätze für jenes kooperative Berufungsverfahren, nach dem Universitäten und Kultusverwaltungen bis heute zusammenwirken. Schelsky bemerkte dazu pointiert, „daß sich die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts und noch der Gegenwart in der Betonung ihrer Selbstverwaltungskompetenzen als ein Erbe Schleiermachers, keineswegs aber Humboldts ansehen kann" 5 . Schleiermacher gesteht dem staatlichen Ausbildungsanspruch von vornherein seine Berechtigung zu. Er betont die Notwendigkeit der Verbindung von Forschung und Lehre und hält es für den normalen Entwicklungsgang eines produktiven Gelehrten, daß er im fortgeschrittenen Alter an eine Akademie überwechselt. Großen Nachdruck legt er aber auch auf die universitären Lehrveranstaltungen. Sie haben der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die moderne Bildung „weit individueller" 6 ist als die alte. Und sie müssen lebendiger Ausdruck der gemeinschaftlichen Bemühung um Erkenntnis sein: „Jede Gesinnung, die wissenschaftliche wie die religiöse, bildet und vervollkommnet sich nur im Leben, in der Gemeinschaft mehrerer." 7 Dafür sei es günstig, daß der Lehrer den Studenten altersmäßig möglichst nahesteht. Dann nämlich kann er die beiden wichtigsten Voraussetzungen für einen anschaulichen Vortrag: „Lebendigkeit und Begeisterung" am ehesten erfüllen. Dabei darf er sich nicht scheuen, auch populär zu sein. Denn nur wenn er an den Bildungsstand seiner Hörer anschließt, kann er Schritt für Schritt zu höherer Bildung führen. Darin, so sagt der Platon-Kenner Schleiermacher, liege die „wahre dialektische Kunst". Die Popularität
3 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, S. 594. 4 Ebd., S. 598. 5 Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Hamburg 1963, S. 155f. 6 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, S. 573. 7 Ebd., S. 572.
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kann freilich nur das rhetorische Medium sein. Den sachlichen Gehalt gewinnt der Vortrag durch die Produktivität des Individuums, das sich lehrend mitteilt: „Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden." 8
„Lebendigkeit und Begeisterung", „Besonnenheit und Klarheit" sind die Losungsworte von Schleiermachers Lehrkonzeption. Universität will lebendigen Geist freisetzen und dialogisch zu Klarheit und Besonnenheit führen. Prägte Humboldt die berühmt gewordene Formel von „Einsamkeit und Freiheit", so läßt sich mit Schleiermacher „Mitteilung und Tätigsein" als Prinzip der Universität behaupten.9 Es sei nämlich nur ein „leerer Schein", wenn „ein wissenschaftlicher Mensch" „abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen"10 lebe. Vielmehr sei es „das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens", auf „Mitteilung" ausgerichtet zu sein. Unter dem Anspruch von „Mitteilung und Tätigsein" organisiert die Universität nicht nur ihre inneren Angelegenheiten, sondern verpflichtet sich auch auf einen lebendigen Austausch mit den tragenden gesellschaftlichen Kräften. In der jüngeren Wirkungsgeschichte der Berliner Universitätsidee sind „Einsamkeit und Freiheit" gegenüber „Mitteilung und Tätigsein" überbetont worden. Schelsky erklärte die Gründungsgeschichte der Berliner Universität zum Vorbild für die Hochschulreform in der Bundesrepublik und präsentierte Schleiermacher dabei als konservativen Geist, der den revolutionären Schwung genommen habe. Unter Schleiermachers Einfluß sei aus der beabsichtigten Initialisierung einer gänzlich neuen Institution lediglich die Reform der alten Universität geworden." Noch schärfer äußerte sich René König, der Humboldt und Schleiermacher vorhält, 8 Ebd., S. 573. 9 Die ethisch-aktivistische Orientierung Schleiermachers betont - gegen Emil Brunners „mystische" Deutung - Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, S. 388 f. 10 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, S. 538. 11 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. - Der erste Teil dieser bedeutenden Schrift ist „der Untersuchung der Vorgänge gewidmet, die zur Gründung der Universität Berlin im Jahre 1809 geführt haben, mit der Absicht, die noch heute gültigen Strukturen der sozialen Handlungen aufzudecken, die zu einer so vorbildhaften Erneuerung der deutschen Universität geführt haben" (ebd., S. 10). - Schelskys abwertendes Urteil über Schleiermacher erklärt sich aus seinem soziologischen Interesse am Strukturmodell gewollter gesellschaftlicher Veränderungen überhaupt. Für entscheidend hält er dabei die leitende „Sachidee der Institution" (ebd., S. 65). Sie muß allererst entworfen und gewollt werden, ehe es zu einer durchgreifenden gesellschaftlichen Wandlung kommt. Mit Blick auf die „neue Sozialidee" der Universität ist in der Tat die Leistung Fichtes und Humboldts zu betonen. Schelsky unterschätzt aber in seinem soziologischen Modell den kreativen Charakter der praktischen Umsetzung einer Idee in die politische Realität. Und hier liegt Schleiermachers großes Verdienst.
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Teil I: Gründung
sie hätten die von Fichte „mühselig erarbeitete Idee" verwässert. „Noch unsere Gegenwart", so glaubte er sagen zu können, „krankt an dieser unausgetragenen Gegensätzlichkeit" 12 . Es mag sein, daß der Gegensatz zwischen diesen Denkern bis heute nicht hinreichend ausgetragen ist; doch über den einzigen wirklich relevanten Gegensatz zwischen beiden, nämlich den zwischen Revolution und Reform, gibt es mittlerweile einige Klarheit. 13 Deshalb muß es überraschen, wenn ein überaus erfahrener zeitgenössischer Philosoph von „Schleiermachers Halbheiten" spricht: Was durch Fichtes kühne Vision überwunden schien, kehre im „Gewände einer Universitätsreform" 1 4 wieder. Schließlich ist die Praktikabilität des Fichteschen Plans nirgends erwiesen worden. Und Schleiermacher ist alles andere als eine zaghafte oder unentschlossene Natur. In den Monaten der Besatzung wird er zum Prediger des nationalen Widerstands, der sich weigert, in den Dienst der Franzosen zu treten. 15 In seinen späteren Berliner Ämtern erweist er sich als ein Mann, der konzeptionell denkt und couragiert handelt. Dabei hätte Schleiermachers hochschulpolitische Behutsamkeit wohl kaum einen so machtvollen Effekt erzeugt, wenn nicht die scharfe Kritik Schillers, der Ideenflug Schellings und der überschießende Plan Fichtes vorab die Kräfte für eine Erneuerung freigesetzt hätten. Universitätspolitisch wiederholt sich hier, was sich schon einmal am Ende einer anderen Aufklärungsepoche als günstige Konstellation für eine Reform der Universitäten erwiesen hat: Als Luther die von den Humanisten schon lange geäußerte Kritik an den Universitäten in die Tat umsetzen wollte, bedurfte es eines Melanchthon, um zu verhindern, daß mit der scholastischen Theologie uno actu auch die Universitäten verschwanden. Schleiermacher hat nicht nur die Ideen und die Leidenschaft für die Sache, sondern auch das nötige Augenmaß und den Langmut, um seine Vorstellungen im Gang durch die Institutionen und in mühevoller Überzeugungsarbeit zu verwirklichen. Schon im März 1809 ist er „Direktor der wissenschaftlichen Prüfungskommission" im Range eines „Staatsrats". Im Sommer 1810 ist er dann Sekretär der Einrichtungs12 René König, Vom Wesen der Universität, Berlin 1935, S. 61. 13 Siehe dazu: Claudia Langer, Reform und Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, Stuttgart 1986. 14 Jürgen Mittelstraß, Die unzeitgemäße Universität, Frankfurt/M. 1994, S.22f., vgl. 39ff. Eine gerechtere Beurteilung findet Schleiermachers Beitrag zur Universitätsreform bei Gerd Irrlitz: Friedrich Schleiermacher. Der Universitätsmann und Philosoph, in: Schleiermacher-Archiv, Bd. 1.2, S. 1122-1144. - Abgewogen und gut begründet urteilt auch Menze, Bildungsreform, S. 297 f. 15 „Warum ich nicht nach Halle gehe." Erklärung Schleiermachers vom 1. Februar 1808, erschienen in der „Staats- und Gelehrte[n] Zeitung des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten" vom 16.2.1808. Siehe dazu: H. Patsch, Ein Gelehrter ist kein Hund. Schleiermachers Absage an Halle, in: Schleiermacher-Archiv, Bd. 1.1., S. 127-138.
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kommission, die auf Veranlassung Humboldts am 3. Juni 1810 gebildet wird, und nimmt größten Einfluß auf die ersten Berufungsentscheidungen. Die Einrichtungskommission hat alle Kompetenzen eines Gründungssenats; sie ist für den Ausbau des Lehrkörpers, die Errichtung und Grundausstattung aller akademischen Einrichtungen sowie den Aufbau der Verwaltung zuständig und nimmt am 18. Juni unter der Leitung des Staatsrats Johann Daniel Wilhelm Uhden (1763-1835) ihre Arbeit auf. Ein weiteres Mitglied ist Geheimrat Johann Wilhelm Süvern (1775-1829), der ebenfalls dem Unterrichtsdepartement angehört. Schleiermacher legt bei seiner Organisationsarbeit keinen Wert darauf, sich in den Ruf gesellschaftspolitischer Radikalität zu bringen. Schon der Titel eines „Reformers" geht ihm zu weit. Was freilich einer Prüfung nicht standhalte, könne ohne Umstände beseitigt werden: „dann lasse man mehr die Sache selbst gewähren, künstle nicht, und wolle nicht Leichen frisch erhalten" 16 . Eben dies sagt Schleiermacher in derselben Schrift, in der er sich gegen den Bruch mit der Universität ausspricht: „Wenn man es [...] als einen großen Vorteil ansieht, den Umschaffungen oder bedeutende Veränderungen [...] gewähren können, daß man dabei zugleich dieser Formen sich entledigen und bessere dafür einführen werde: so übereile man sich doch ja nicht, damit man nicht etwas ganz Willkürliches an die Stelle dessen setze, was sich auf eine natürliche Art gebildet und eben seiner Natürlichkeit wegen so lange erhalten hat, sondern suche doch erst die Bedeutung dieser bisherigen Formen recht zu verstehen."17
Unter dem Eindruck der Französischen Revolution, so heißt es weiter, seien auch andere zu der Einsicht gelangt, daß es besser sei, gute Einrichtungen zu erhalten; man müsse dann die Zeit später nicht damit vergeuden, die gemachten Fehler wieder ungeschehen zu machen. Est enim facilius bene constituía retiñere, quam prolapso restituerez Schleiermacher gibt dieser Erfahrung in seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie eine populäre Fassung: Er wolle Nützliches anbauen und nur zertreten, was er für Unkraut erkenne. 19 Der Gründungserfolg der Berliner Universität bestätigt seine politische Vorsicht; denn es ist nicht abzusehen, was ohne sie aus Fichtes „höherer Lehranstalt" geworden wäre. Auch im Umgang mit den Organen der Universität bewährt sich dieses Prinzip politischer Schonung: Schleiermacher widersteht der Versuchung, sich in die Belange anderer Fakultäten einzumischen oder ihnen neue Rangplätze zuzuweisen. Ob die 16 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, S. 578. 17 Ebd., S. 578f. 18 So der Göttinger Rhetor und Philologe Christian Gottlob Heyne in einer 1792 gehaltenen Rede „Judicorum de universitatibus recognitio" (zit. in: König, Vom Wesen der deutschen Universität, S. 36). 19 Schleiermacher, Rede vom 29. Januar 1811, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften der Jahre 1804-1811, S. 80.
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Philosophische Fakultät nun, wie Fichte es für selbstverständlich hält, an die erste Stelle rückt oder in ihrer vorgeordneten propädeutischen Funktion bleibt, ist für ihn eine nebensächliche Frage. In seinen Augen ist entscheidend, daß der „innere Zusammenhang alles Wissens" durch eine starke institutionelle Position der Philosophie verbürgt ist. Deshalb sollten „alle Universitätslehrer in der philosophischen Fakultät eingewurzelt sein" 20 . Man sollte es ihnen zur Pflicht machen, ihr Fach gelegentlich philosophisch zu betrachten; so lasse sich verhindern, daß die Spezialdisziplinen sich vereinseitigen und vereinzeln. Parallel zu seinem Universitätsentwurf arbeitet Schleiermacher seine „Enzyklopädie und Methodologie" aus, die er seit 1804 in Halle und im Winter 1808 auch als Privatvorlesung in Berlin vorträgt und 1811 als Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen publiziert. Darin entwickelt er die Systematik des Faches und sein Verhältnis zur Philosophie. Schleiermacher unterstellt darin zwar die Theologie als „positive Wissenschaft" den Zwecken der „Kirchenleitung", indem er die christliche Theologie als „Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln" bezeichnet, „ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist" 21 . Dieses „Wissen um das Christentum" setze aber eine Einsicht in das „Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes" voraus. Diese „Entwicklung des Begriffs frommer Gemeinschaften" betrachtet Schleiermacher als Aufgabe der Religionsphilosophie: „Soll es überhaupt Kirchen geben: so muß die Stiftung und das Bestehen solcher Vereine als ein notwendiges Element in der Entwicklung des Menschen können in der Ethik nachgewiesen werden." 22 So greift die „philosophische Theologie" über die Dogmatik des „historischen" und „praktischen" Christentums hinaus. „Die philosophische Theologie ist die Wurzel der gesamten Theologie", meint Schleiermacher. Ihr Zweck aber ist ein praktischer: „Die praktische Theologie ist die Krone des theologischen Studiums." 23 Und so verknüpft er die Theologie mit der Philosophie über die Ethik. Die Ethik gehört neben der Enzyklopädie und der Dogmatik zu Schleiermachers Hauptkollegien. Er erörtert ethische Fragen auch in der Akademie, der Schleiermacher - anders als Fichte, Solger und später Hegel - seit 1810 angehört und bald als 20 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, S. 584. 21 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, herausgegeben von Heinrich Scholz, 1910, 4. Aufl., Darmstadt 1961, S. 2 (§ 5); zu Schleiermachers Systematik vgl. Heinrich Scholz, Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909; vgl. auch Martin Rössler, Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Berlin 1994. 22 Ebd., S. 9. 23 Ebd., S. 10.
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„Sekretär" der „Philosophischen Klasse" vorsteht. Im Vertrauen auf die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen beschränkt Schleiermacher sich aber nicht nur auf die Ethik, sondern liest in der Philosophischen Fakultät auch Dialektik, Ästhetik und Hermeneutik. Seine Auffassung der Theologie als positiver, praktischer Wissenschaft ist getragen von einer „philosophischen Theologie", die die Theologie universitätspolitisch in ein enges Verhältnis zur Philosophie setzt. In diesem Sinne kann Schleiermacher in seinen Gedanken über Universitäten schreiben, daß „die ganze Organisation der Wissenschaft" in der philosophischen Fakultät enthalten sei. Ähnlich erklärt er sich am 10. Mai 1810 in seiner Eintrittsrede in die Akademie: „Alles was Wissenschaft zu heißen verdient zu einem ganzen vereinigend muß eine Akademie nothwendig den Glauben in sich ruhen haben an einen solchen Mittelpunkt aller Erkenntnis, wie die Philosophie ihn darstellen soll, weil ohne ihn ein ganzes der Wissenschaften ein leerer Schein wäre oder irgend einem Zweck des geschäftigen Lebens untergeordnet; aber zugleich eine Reihe von Geschlechtern zu Einem zusammenhangenden wissenschaftlichen Leben verknüpfend darf nichts, was nur eine bestimmte Gegenwart erfüllt, sich ihrer ausschließend bemächtigen." 24
Deshalb meint Schleiermacher auch, „daß für eine Akademie sich weniger diejenigen eignen, die neue Systeme gegründet oder vollendet haben, als die, welche die Philosophie historisch und kritisch zu behandeln bemüht sind." 25 Dies scheint sich direkt gegen Fichte zu richten und gilt später Hegel. Als Philipp Karl Buttmann (1764-1829) 1826 als Sekretär der „Historisch-philologischen Klasse" aus Altersgründen zurücktritt, 26 vollzieht Schleiermacher als Sekretär der „Philosophischen Klasse" denselben Schritt und veranlaßt dadurch 1827 die Bildung einer vereinten „Historisch-philosophischen Klasse", deren Leitung er als einer der beiden Sekretare übernimmt. Damit sichert er die historisch-philologische Behandlungsform in der Akademie sowie den eigenen Aufgabenbereich umfangreicher Editionsvorhaben. Diese Entscheidung prägt die weitere Aufgabenteilung von Akademie und Universität und die Berufungskriterien der Akademie. 2 7 Fortan wird die Philosophie in der Akademie vor allem durch diejenigen Ordinarien vertreten, die sich organisatorisch in den Dienst der großen editorischen 24 Schleiermacher, Rede vom 10.5.1810 beim Eintritt in die Akademie, in: Reden und Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften, vorgetragen von Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse herausgegeben von L. Jonas, Berlin 1835, S. 3 - 8 , hier: 6; das Vorwort des Herausgebers bietet auch ein Gesamtverzeichnis von Schleiermachers Akademievorlesungen, ebd., S.XIII-XVI; zu den unterschiedlichen Akademiegedanken Schleiermachers und Hegels vgl. Gunter Scholz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt 1995, S. 147ff. 25 Ebd., S. 5. 26 Dazu vgl. Schleiermachers Akademie-Gedächtnisrede auf Buttmann vom 3.8.1830, in: ders., Reden und Abhandlungen, S. 115-129. 27 Dazu vgl. Conrad Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg 1993, S. 151 ff.
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Vorhaben stellen. Aber nicht alle Ordinarien werden in die Akademie berufen. Fichte, Solger und Hegel, Gabler, Paulsen, Riehl und Baeumler bleiben draußen. Schon 1799 sucht Schleiermacher in seinen Reden Über die Religion die Eigenart der Religion als Gefühl und „Anschauung des Universums" gegenüber den Gebildeten unter ihren Verächtern zu verteidigen. Er wehrt sich dort nur gegen die „Einmischung von Metaphysik und Moral" in die Glaubenslehre und betrachtet die Religion als umfassenderen Standpunkt, ohne das Verhältnis zur Philosophie genau klären zu wollen. Allerdings gleicht er die Religion dabei weitgehend der Kunst an. Dem romantischen Programm einer „neuen Mythologie" nahestehend, konstatiert er den Zerfall der ersehnten „Kunstreligion" in die Ausdifferenzierung einer säkularen Kunst und institutionalisierten Religion und verteidigt die Religion, weil er der modernen Kunst die Möglichkeit bestreitet, noch wirklich Kunstreligion zu sein. Hegel erahnt diese Tendenz nicht unrichtig. 28 Karl Barth sieht Schleiermachers epochale Bedeutung innerhalb der Geschichte der protestantischen Theologie darin, daß er als christlicher Theologe zugleich moderner Mensch war und die „Möglichkeit realisierte, als Theologe mit gutem, nicht mit gebrochenem Gewissen zugleich ganz und gar moderner Mensch zu sein." 2 9 Er habe die Theologie aber dabei „der Ethik untergeordnet". Dies erfolgte, so Barth, aus dem apologetischen Bemühen, einen höheren Standpunkt als den des dogmatischen Glaubens einzunehmen und für die Möglichkeit des religiösen Standpunkts zu werben. Barth charakterisiert dieses Bemühen folgendermaßen: „Er ist als moderner Mensch, also als Denker, also als Ethiker, also als Religionsphilosoph, also als philosophischer Theolog, also als Apologet und also endlich als Dogmatiker entschlossen, das Christentum auf keinen Fall so zu interpretieren, daß seine interpretierten Sätze in Widerspruch zu den Prinzipien und Methoden der Philosophie, der Geschichts- und Naturforschung seiner Zeit treten können." 3 0 Im Ergebnis habe Schleiermacher nur eine Theologie der Frömmigkeit entwickelt, eine Glaubenslehre, die als Gefühlstheologie keine überzeugende Christologie trug und deshalb die „Absolutheit des Christentums" verriet. Barth gelangt, wie schon Hegel, zu dem Resultat, daß Schleiermacher „die entscheidende Voraussetzung aller christlichen Theologie in Frage stellte in einer Weise, wie es seit den Tagen der älteren Gnosis vielleicht nicht wieder geschehen war." 31 Doch wie auch immer es um Schleiermachers Dogmatik steht: Negative Urteile von theologischer Seite, wie diejenigen Barths, unterstreichen nur, wie eng Schleiermacher seine Theologie, kulturprotestantisch engagiert, zur
28 So Ernst Müller, Religion als „Kunst ohne Kunstwerk". F. D. E. Schleiermachers Reden „Über die Religion" und das Problem ästhetischer Subjektivität, in: W. Braungart, G. Fuchs u. M. Koch (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. I: um 1800, Paderborn 1997, S. 149-165. 29 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, S. 387. 30 Ebd., S. 397. 31 Ebd., S. 424.
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modernen Philosophie und Wissenschaft in ein Verhältnis setzt. Heute zeichnet sich etwa in der Hermeneutikdiskussion - erneut ab, was schon Dilthey und seinen Nachfolgern nicht abwegig schien: daß Schleiermachers Philosophie heute nicht minder anregend ist wie diejenige Fichtes oder Hegels. Als Akademiemitglied dazu berechtigt, Vorlesungen auch in den „Philosophischen Wissenschaften" zu halten, liest Schleiermacher dort regelmäßig ein großes systematisches Pensum; er liest Geschichte der griechischen und der christlichen Philosophie, Ethik, Pädagogik und Politik bzw. Lehre vom Staat, Ästhetik, Psychologie und Dialektik. 32 Diese Vorlesungen wurden erst nach Schleiermachers Tod herausgegeben und sind teilweise bis heute nicht leicht zugänglich: was die Wirkung in die philosophische Diskussion erschwerte. Schon im Sommersemester 1811 liest Schleiermacher zeitlich parallel zu Fichte die Dialektik. Obwohl er - im Sendschreiben zur zweiten Auflage seiner Dogmatik Der christliche Glaube - von seinem „philosophischen Dilettantismus" spricht, scheut er die direkte Herausforderung und Konkurrenz also nicht. Insbesondere mit seiner - sich auf Piaton rückbeziehenden - „Dialektik" tritt Schleiermacher in erklärte Opposition zu Fichte und Hegel. Er liest sie zwischen 1811 und 1831 insgesamt sieben Mal. Die Fassung von 1822 gilt ihrem Herausgeber dem Berliner Spranger-Schüler Rudolf Odebrecht 3 3 - als die „entscheidende Wendung". Schleiermacher versteht Dialektik als „Kunstlehre der Gesprächsführung" im „Gebiete des reinen Denkens" zum Zweck der methodischen Schlichtung von wissenschaftlichem Dissens. „Übereinstimmung" sei im Bereich der Wissenschaft „nur aus dem Streit und durch denselben" 3 4 hindurch zu finden. Philosophische Enzyklopädien und Systeme, wie sie Fichte und Hegel vertraten, seien nicht geeignet, den Streit zu schlichten: „Daher scheint es nun ziemlich nahe zu liegen, daß man versuche, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Nämlich, statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hoffnung, dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen, gelte es nun, eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen, in der Hoffnung, dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Anfangspunkte für das Wissen zu kommen." 3 5 Schleiermacher entwickelt gegenüber dem philosophischen Systemanspruch nur eine „Kunstlehre" des Wissens, eine Methodik des „Findens" der Wissenschaft, die im Ergebnis allerdings ebenfalls „Wissenschaftslehre" 3 6 von der Totalität des Wissens sein will.
32 Verzeichnis „Wichtige Schriften und Vorlesungen Schleiermachers in chronologischer Folge" in: Burdorf u. Schmücker, Dialogische Wissenschaft, S. 267-289. 33 Friedrich Schleiermachers Dialektik. Im Auftrage der Preussischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942, hier. XXI. 34 Ebd., S. 41. 35 Ebd., S. 43. 36 Ebd., S. 91.
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b.
Teil I: Gründung
Selbsterfahrung als Bildungsidee:
Humboldt
Ähnlich wie Schleiermacher betont auch Wilhelm von Humboldt (1767-1835) schon in seinem wirkungsvollen Antrag An des Königs Majestät vom Juli 1809, „dass jede Trennung von Fakultäten der acht wissenschaftlichen Bildung verderblich" sei. In einer damals noch relativ neuen organologischen Terminologie verlangt er, die zu errichtende Anstalt so zu einem organischen Ganzen zu verbinden, „dass jeder Theil, indem er eine angemessene Selbständigkeit erhält, doch gemeinschaftlich mit den andern zum allgemeinen Endzweck mitwirkt" 37 . Daß dies als ein philosophisches Zeichen verstanden wird, sollte dem König ein Bedürfnis sein: „Wenn Ew. Königl. Majestät nunmehr diese Einrichtung feierlich bestätigten und die Ausführung sicherten; so würden Sie sich a u f s neue Alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessili, auf das Festeste verbinden" 38 . Daran knüpft Humboldt auch die Hoffnung auf ein „Wiederaufblühen" des gedemütigten preußischen Staates. Mittels einer neuen Universität soll der Staat die „moralische Cultur der Nation" 39 sichern und mehren. Es ist noch kein Jahr her, daß die Truppen Napoleons Humboldt aus Rom vertrieben. Das Preußen, in das er Ende 1808 zurückkehrt, hat mehr als ein Drittel seines Territoriums verloren und leidet unter den Auflagen der Franzosen. Freiherr vom Stein muß sein Amt als Ministerpräsident aufgeben und emigrieren. Humboldt tritt im Februar 1809 für wenig mehr als ein Jahr als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern, gleichsam als Bildungsminister, in die Regierung Altenstein-Dohna ein. Er begreift damals die desolate Lage seines Landes 40 , sieht aber in der Reorganisation des Unterrichtswesens auch eine Chance zur Wiederaufrichtung des Staates. Dem damals in Halle unter französischer Besatzung lebenden Philologen Friedrich August Wolf (1759-1824) läßt er die Rede von der „Zerfallenheit der Dinge" nicht durchgehen. Von Königsberg aus schreibt er noch vor seinem Amtsantritt: „Von der Zerfallenheit der Dinge, wie Sie es nennen, zeigt sich nicht eben mehr, ja weniger, als sich vor einiger Zeit besorgen ließ. Niemand kann die Zukunft enträtseln; aber ich weiß nicht, ich habe einen vielleicht manchem wunderbar
37 Wilhelm v. Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität Berlin (1809), in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner/K. Giel, Darmstadt 1960, Bd. 4, S. 115. 38 Humboldt, Antrag auf Errichtung, S. 114. 39 Siehe dazu auch: Humboldt, Ueber die innere und äussere Ordnung der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: Werke, Bd. 4, S. 255. 4 0 Siehe die politische Biographie bei Wilhelm Dilthey, Wilhelm von Humboldt, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 6 4 - 8 5 ; zu Humboldts vorbehaltlicher Annäherung vgl. Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München 1927; zur Wirksamkeit detailliert: Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910.
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scheinenden Mut." 41 Und mit diesem Mut macht er sich an die Gründung der Universität, die heute seinen Namen trägt. 42 Im Mai 1809 ist ein erster Entwurf ausgearbeitet, im Juli 1809 beantragt Humboldt beim König die Gründung, und am 16. August 1809 wird die Errichtung der Berliner Universität durch Kabinettsordre beschlossen. In den nächsten Monaten arbeitet Humboldt auch seine Pläne zur Schulreform aus und stellt die Universitätsgründung somit in den Zusammenhang einer umfassenden Bildungsreform. 1810 steht die Planung vor ihrem Abschluß. Erste Berufungen sind beschlossen, die Finanzierung ist geklärt, und Humboldt schreibt im Mai 1810 einen Generalbericht an den König. Im Juni 1810 übernimmt die Einrichtungskommission die weitere Arbeit, so daß Humboldt sein Amt als Bildungsminister niederlegen und seine diplomatische Tätigkeit wiederaufnehmen kann. Als erster Rektor wird der Jurist Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760-1839) von der Einrichtungskommission bestimmt. Zum Wintersemester 1810/11 eröffnet die Universität ihren Betrieb. Anfang Oktober 1810 immatrikulieren sich die ersten Studenten. Am 24. Oktober beginnen die Vorlesungen. Am 17. Juli 1811 wird Fichte dann der erste gewählte Rektor. Man hat Humboldts politischen Charakter und Mut bezweifelt, sah in ihm nur einen launigen Ästheten und versonnenen Denker. Seine Bruchstücke einer Selbstbiographie sprechen in der Tat nicht nur von einer völligen „Abwesenheit von Furcht" 43 , sondern auch von Weltscheu: „Ich habe aber von jeher einen Abscheu davor gehabt, mich in die Welt zu mischen, und einen Trieb, frei von ihr, als ihr Beschauer und Prüfer, zu stehen, und habe, natürlich gefühlt, dass nur die unbedingteste Selbstbeherrschung mir den Punkt ausser der Welt schaffen könnte, dessen ich bedurfte" 44 . Aus dieser Unabhängigkeit aber vermag Humboldt im entscheidenden Moment zu handeln und die Gymnasialreform und Gründung der Universität zügig ins Werk zu setzen. Es sind die einzigen Neuerungen, zu denen Preußen damals Kraft findet. Schon Dilthey hält die Tatsache, daß die Gründungsentscheidung in Königsberg fällt, für alles andere als einen Zufall. In Berlin schien damals keine zukunftsweisende politische Entscheidung mehr möglich: „Kein männliches Wort, kein ganzer Charakter schien sich in diesen Kreisen mehr zu finden. Und diese Verderbnis hatte nach dem allgemeinen Urteil aller Tüchtigen in Berlin ihren Hauptsitz. Ein
41 Zit. in: Wilhelm Dilthey, Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 78. 42 1828 hatte Friedrich Wilhelm III. auf untertänigsten Antrag der Universität das Recht verliehen, seinen Namen zu führen; am 8. Februar 1949 wurde ihr auf Antrag des Senats der Universität vom Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung der Name „Humboldt-Universität" verliehen. Die Bezeichnung stützt sich ausdrücklich auf die Lebensleistung der Brüder Humboldt. 43 Humboldt, Bruchstücke einer Selbstbiographie (1816), in: Werke, Bd. 5, S. 7. 44 Humboldt, Bruchstücke einer Selbstbiographie, S. 6.
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Teil I: Gründung
merkwürdiges historisches Zeugnis hiervon ist die Wirkung der Übersiedlung der Regierung nach Königsberg. Erst auf dem Boden von Ostpreußen, in jenem Kreise, welchen Kant mit seiner nüchternen, auf den starken Willen gestellten Philosophie [...] erfüllt hatte, [...] fand Stein die Gesinnung, das selbständige Studium der Kräfte des Staates, deren er für seine großen Pläne bedurfte." 45
Der „Hauptgesichtspunkt" der Universitätsgründung liegt nach Humboldt in der Konzentration auf einen philosophischen Begriff von Wissenschaft: Die Neugründung könne ihren Zweck nur erreichen, wenn sie sich der „reinen Idee der Wissenschaft" 46 verpflichte. Ihre gesellschaftliche Organisation sei deshalb „von aller Form im Staate" 47 abzulösen. Humboldts Formel von der „Einsamkeit und Freiheit" proklamiert nicht die Ablösung der Individuen von jeder Organisation. Sie formuliert im Gegenteil den Grundsatz einer Institution, die Kooperation und wechselseitige Förderung möglich machen soll. Individuen kommen zusammen, „damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde" 48 . Humboldt selbst allerdings ist ein schwieriger Charakter. Seine Briefe und Selbstzeugnisse lassen erkennen, daß er sich seit früher Jugend in die Einsamkeit des bloßen Betrachters verbannt fühlt, dessen „ganzes Streben" dahin geht, „die Welt in ihren mannigfaltigsten Gestalten in seine Einsamkeit zu verwandeln" 49 . Nur durch die Liebe zu seiner Frau und unter dem Anspruch praktischer Herausforderungen kann er sich gelegentlich daraus befreien. Wenn er etwa den Wissenschaftler unter seine eigene Lebensmaxime stellt, liegt darin gewiß eine Auszeichnung von Forschung und Lehre. Aber eine Institution läßt sich darauf kaum bauen. Humboldt macht sich auch keine Illusionen über den Typus des Gelehrten. Die Gelehrten, schreibt er seiner Frau, sind die „unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse - mit ihren sich ewig durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten, wo jeder meint, daß nur sein Fach Unterstützung und Beförderung verdiene" 50 . „Gelehrte dirigiren ist nicht viel besser, als eine Komödiantentruppe unter sich zu haben." 51 Dennoch vertraut er auf ein vertrag -
45 Dilthey, Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, S. 4. 46 Humboldt, Ueber die innere und äussere Ordnung, S. 255. 47 Ebd., S. 256. 48 Ebd., S. 255. Hierher gehört auch das mit dem Namen Humboldts verknüpfte Prinzip der „Einheit von Forschung und Lehre", das sich ebenfalls auf Kants Wirksamkeit zurückführen läßt. Siehe dazu: Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1 8 3 1 - 1 9 3 3 , Frankfurt/M. 1983, S. 39 ff. 49 Humboldt, Bruchstücke einer Selbstbiographie, S. 5. 5 0 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hrsg. v. A. v. Sydow, Berlin 1909, Bd. 3, S. 399. 51 Ebd., S. 19.
3.
Der zweite Schritt: Schleiermacher und Humboldt
45
liches Auskommen in der akademischen Selbstorganisation: „Man beruft eben tüchtige Männer und läßt das Ganze allmählich sich ancandieren." 52 Durch Fichte, Schleiermacher und Humboldt wird die Organisationsidee der Berliner Universität von Philosophen aus philosophischem Geist entworfen. Die Gründung erfolgt nicht generalstabsmäßig nach einem „deduzierten Plan". Gegenüber diesem höheren Ehrgeiz Fichtes fällt der mäßigende Einfluß Schleiermachers ins Gewicht. Entscheidend bleibt dennoch die Federführung Humboldts. Als Humboldt im Februar 1809 die Leitung der Sektion für Kultus und Unterricht übernimmt, sind die Planungen zwar bereits weit gediehen und tüchtige Organisatoren tätig. Bereits am 19. Juni 1810, einen Tag nach der eröffnenden Sitzung der Einrichtungskommission, legt Humboldt sein Amt nieder, um als preußischer Gesandter nach Wien zu wechseln. Die Universitätsgründung wird dennoch heute zurecht mit seinem Namen verbunden. Denn Humboldt trifft nicht nur die wichtigsten Planungsentscheidungen, sondern formuliert von seiner Selbsterfahrung ausgehend auch die Gründungsidee, Wissenschaft als Bildungsmacht zu begreifen. Dabei weist er der Philosophie die universitäre Aufgabe zu, die Einheit der Wissenschaften interpretativ und praktisch auf den Bildungsprozeß der Individuen zu beziehen und diese Bildung des Gelehrten als Modell von Humanität aufzufassen. Verknüpft man die Berliner Universität mit seinem Namen, so ist nicht allein seine historische Wirksamkeit gemeint, sondern zugleich die tragende Bildungsidee. Wenn die Planungsideen und Organisationsentscheidungen der Mitbeteiligten über Humboldts Anteil auch nicht zu vergessen sind, so ist doch der „Mythos" Humboldt gegenüber einseitigen historischen Perspektiven, bildungspolitisch gesehen, im Recht. Daß Humboldt eine Bildungsidee hat, die er ins Werk zu setzen vermag, kennzeichnet ihn als Gründer. Und die singuläre Neuheit seiner Gründung liegt in der institutionellen Organisation der universitären Funktion von Philosophie.
52 Diese Äußerung Humboldts überliefert Immanuel Hermann Fichte, in: Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 2. Aufl., Leipzig 1862, Bd. 1, S. 416.
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Die Berliner Philosophie nach der Gründung: Fichte
Im Oktober 1810 nimmt Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) als erster Philosoph seine Tätigkeit auf. Im Sommer 1811 hält er Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in denen er sich und seinen Kollegen hohe Ziele setzt: Nachdem mit der Aufklärung das Zeitalter der Prophetien unwiderruflich zu Ende gegangen sei, habe nun der wissenschaftliche Geist die Leitung des gesellschaftlichen Handelns zu übernehmen. Jetzt müsse die „klare Einsicht" herrschen, und mit ihr trete „der Gelehrte an die Spitze der Fortschöpfung der Welt" 1 . Diese Verantwortung gebe dem Studium einen höheren Ernst. Deshalb lehnt Fichte die verbreitete Vorstellung vom lustigen Studentenleben, in dem der Jüngling seine „Rohheit und Wildheit auslasse" 2 , mit aller Schärfe ab. Wer nicht ernsthaft studieren wolle, gehöre nicht auf eine Universität. Denn „alle weise Anwendung der Universitäts-Jahre, und mit ihr die Sittlichkeit und die Religiosität, und der einzige wahre Lebensgenuß der Studierenden hängt davon ab, daß er ergriffen und durchaus besessen und ausgefüllt sei von seinem lebendigen Triebe nach Wissenschaft und Geistesbildung." 3 Aus dieser These wird unversehens eine Forderung. Um ihr Nachdruck zu verleihen, setzt Fichte hinzu, daß jeder Student schon vor dem Eintritt in die Universität „überzeugende Proben" seiner wissenschaftlichen Gesinnung abzulegen habe. Zeigt sich im Studium, daß der Ernst des wissenschaftlichen Strebens fehlt, hat der Student die Universität zu verlassen und sich einer „anderen Lebensart" zu widmen. Fichte wird zunächst Dekan der Philosophischen Fakultät und dann im Herbst 1811 der erste gewählte Rektor. 4 Die Statuten der Universität sind damals noch nicht förmlich erlassen. 5 Sie werden erst am 31. Oktober 1816 vom König Friedrich Wil1 Fichte, Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1811), in: Nachgelassene Werke, Bd. 3, S. 172. 2 Ebd., S. 205. 3 Ebd., S. 207. 4 Senats-Protokoll der Wahlen vom 17.7.1811 in: Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. Erich Fuchs, Bd. 4: 1806-1812, S. 331; biographische Angaben auch nach Max Wundt, Johann Gottlieb Fichte, Stuttgart 1927, S. 49ff. 5 Eine Edition des „vorläufigen Reglements" von 1810 erfolgte erst jüngst in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 2 (1999), S. 137-150.
4.
Die Berliner Philosophie nach der Gründung: Fichte
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heim III. „erteilt", die der Philosophischen Fakultät erst am 29. Januar 1838. Die Gründungsstatuten der Universität gelten im Kern bis 1930, als eine neue Satzung in Kraft tritt, die im Nationalsozialismus zwar weitgehend unterhöhlt, aber nicht förmlich aufgehoben wird. Die Grundzüge der Universitätsverfassung stehen freilich schon bei der Gründung praktisch fest. Fichte hält seine Rede beim Antritt des Rektorats am 19. Oktober 1811 Ueber die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit. Die äußeren Bedingungen für die akademische Freiheit zur Erfüllung des hohen Berufs der Wissenschaft, „die Gottheit" darzustellen, seien gegeben. Weder von Seiten der Regierung noch der anderen Stände sei eine Gefährdung zu befürchten. Gefahren für die akademische Freiheit gingen einzig und allein von einer verderbten „Menschenart" aus, von der „Klasse der nicht studierenden Studenten" 6 , die den Beruf zur Wissenschaft als Privileg für ein unverantwortliches Dasein auffassen. Fichte, der schon im Deduzierten Plan darauf besteht, der „philosophische Künstler", der der gesamten Wissenschaft die „allgemeine" Enzyklopädie vorgibt, müsse „ein einziger sein", fühlt sich durch studentische Umtriebe nachhaltig gestört. Er ist über burschenschaftliche Unruhen empört, gegen die sich auch Hegel später öffentlich erklären wird. 7 So nimmt er den studentischen Ehrenhandel einer Duellforderung zum Anlaß, am 14. Februar 1812 um Rücktritt von seinem Rektorat zu ersuchen. Tatsächlich ist es jedoch weniger das studentische Verhalten, das ihn zum Rücktritt bewegt. Vielmehr setzt sich Fichte in seinem Handeln über den Akademischen Senat hinweg und bestreitet dessen Zuständigkeit. Er ignoriert mit der universitären Ehrengerichtsbarkeit einen Teil der gepriesenen akademischen Freiheit und wendet sich statt dessen direkt an das Ministerium. Es handelt sich also auch um einen Grundsatzstreit über die Stellung des Rektors zum Senat. Zwar erklärt sich der Senat am 20. Februar beim Ministerium gegen eine Entlassung Fichtes. 8 Die weiteren Beratungen und Voten verdeutlichen aber die grundsätzlichen Differenzen. Der damalige Chef des Unterrichts- und Kultusdepartements Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755-1834), Humboldts Nachfolger, befürwortet am 24. März daraufhin gegenüber Hardenberg Fichtes Entlassung. Er nennt auch den Grund: „Der Rektor hiesiger Universität, Profeßor Fichte hat wegen Misverständnißes mit dem akademischen Senat schon vor 4. Wochen um Entlaßung vom Rektorate gebeten. Da er so viel ich weis, wegen seiner Reden an die deutsche Nation, bei den französischen Behörden nicht gut notiert ist, und
6 Ueber die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit, in: Fichtes sämtliche Werke, Bd. 6, S. 451-476, hier: 470. 7 Zur burschenschaftlichen Metaphysik der „Überzeugungstat" vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957, S. 705 ff. 8 Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 401, vgl. 409ff.
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Teil I: Gründung
da es ihm auch an der Gewandheit fehlen mögte, in Collisionsfallen sich mit Klugheit zu benehmen; so halte ich im jezzigen Verhältnis dies Gesuch für erwünscht."9
Hardenberg stimmt Schuckmann zu. Zugleich mit der Entlassung Fichtes ernennt der König im April 1812 v. Savigny zum Rektor. Gerät Fichte über diese Angelegenheiten auch mit Schleiermacher, Solger und anderen in dauernden Dissens - er lebt fortan „von allen völlig abgesondert", wie Friedrich Karl von Savigny (1779-1861) am 13. August 1812 an Friedrich Creuzer (1771-1858) schreibt - , so tritt er doch in Berlin als akademischer Lehrer mit neuen, bedeutsamen Bearbeitungen seiner Philosophie hervor. Er liest in den nächsten Semestern theoretische und praktische Philosophie, Logik und Wissenschaftslehre sowie Rechts-, Staats- und Sittenlehre. 10 Fichtes unbedingte Hingabe an seine philosophische Einsicht reißt viele seiner Hörer mit. Sein eigener Anspruch geht stets vom Handeln aus. Daher ist es nicht allein die ursprüngliche Kraft seines Geistes, sondern zugleich auch das tatkräftige Beispiel, wodurch es Fichte, trotz des Scheiterns als Rektor, gelingt, der Neugründung praktisch-politische Ziele zu setzen. Ihm verdankt die Universität ihren heroischen Anfang. Er repräsentiert den Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung. Sein eminenter Beitrag zur Neugründung liegt weniger im Deduzierten Plan als im unbedingten Einsatz für die neue Institution. Ihm vor allem ist es zu danken, daß sich mit der neuen Universität auch wirkliche nationalpolitische Hoffnungen verbinden. Fichtes nationale Gesinnung schöpft ihre Kraft aus der Erwartung, direkt zur Befreiung und Bildung des Menschengeschlechts beizutragen. Die politische Unschuld dieses frühen, europäisch gesonnenen" Nationalismus mag heute befremden. Aber sie sucht die Hoffnung auf eine Emanzipation des Menschengeschlechts an reale Bedingungen zu knüpfen. Die Nation, der Adressat von Fichtes Erziehungsanspruch, ist damals keine historisch-politische Realität. Fichte erstrebt allererst die „Volkwerdung der Deutschen" 1 2 mittels eines „Zwingherrn". Sein Nationsbegriff ist jedoch 9 Ebd., S. 431. 10 Diese nachgelassenen Berliner Vorlesungen wurden von I. H. Fichte veröffentlicht. 11 Dazu die klassische Darstellung von Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats (1907), 6. Aufl., München 1922, S. 93ff.; vgl. Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, S.527ff.; deutlich auch Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, München 1937, S. 90ff., bes. 101: „Fichtes letztes Ziel ist und bleibt ein geistig-sittliches, nicht ein politisches, ein universal-menschheitliches, nicht ein eingeschränkt nationales". Die pädagogische Funktion von Fichtes „Urvolk" betont selbst der Baeumler-Assistent Wolfram Steinbeck (Das Bild des Menschen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, München 1939, bes. S. 291 ff.) in seiner Berliner Habilitationsschrift. 12 So Arnold Gehlen, Deutschtum und Christentum bei Fichte, 1935, in: Arnold Gehlen-Gesamtausgabe, Bd. 2, hier: S. 225 ff.; Gehlen begreift Fichtes „metaphysischen Patriotismus" als mystisches, „Johanneisches Christentum". So schon Fritz Medicus, J. G. Fichte, Berlin 1905, S. 201 f.
4.
Die Berliner Philosophie nach der Gründung: Fichte
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primär ein Kultur- oder Bildungsbegriff, der das deutsche „Urvolk" durch seine Sprache auszeichnet und eine moralische Utopie der „Heiligung" entwirft. So ruft Fichte auch nicht zu den Waffen, sondern zur Wissenschaft. Der Staat ist ihm eine rechtliche Anstalt zu sittlichem Zweck. Preußen sucht damals den Nationendiskurs für seine politische Reorganisation und Mobilisierung einzuspannen. „Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat" 1 3 , meint der preußische König 1807. Fichtes Adressierung seines Erziehungsanspruchs an die Nation übersteigt diese etatistische Perspektive. Wenn Fichte nationale Selbstbestimmung einfordert, so knüpft er das Selbstbehauptungsrecht Preußens gegen Napoleon an die politische Mündigkeit der Bürger. So haben es die bürgerlichen Reformer insgesamt gesehen: Sie verbinden die Forderung nach politischem Einsatz des Bürgertums für den monarchischen Staat mit der Erwartung einer Konstitutionalisierung des Systems. Dieses bürgerliche Selbstbewußtsein trägt Fichtes Pathos, mag es bisweilen auch reichlich spekulativ und dogmatisch klingen. Fichte denkt über den Beitrag des Philosophen zur politischen Aufklärung gewiß weniger bescheiden als Kant. Bei ihm klingt philosophische Aufklärung nach Erziehungsdiktatur und Philosophenkönigtum. So glaubt er beweisen zu können, daß die erste Pflicht eines jeden denkenden Menschen in der Befreiung von der Fremdherrschaft liegt: „Die erste Bedingung aller menschlichen Bildung ist unumschränkte Selbständigkeit, und diese besteht darin, dass man seine Schranken anerkenne als die durch klare eigene Einsicht vom festen Willen gesetzten. Wer nach fremder Einsicht wollen muss, ist nicht frei." 1 4 Doch wer wollte bestreiten, daß damit ein starkes Argument genannt ist. Das nationale Pathos, in dem sich Fichte der Universität verbunden weiß, verlöre jeden Sinn, wenn man es von seinen menschheitlichen Erwartungen abtrennen würde. Umgekehrt folgt aus dem universellen Anspruch eine besondere Verantwortung: „Jeder Mensch", so heißt es in der fünften Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten, „soll einmal selbständig werden und die oberste Leitung seines Lebens selbst übernehmen; um so mehr soll dies der Gelehrte, welcher ja [...] sogar die höchste Leitung des gesammten Menschengeschlechts [...] übernehmen soll." 15 Fichtes Wirkung reicht weit über Berlin hinaus. Und so erfüllt sich zuerst die politische Erwartung an die Universität, die Humboldt in seinem Gesuch an den König geäußert hatte: Die Universität wird zum Zentrum der nationalen Erneuerung. Als im
13 Zitiert nach: Alois Riehl, Fichtes Universitätsplan, in: ders., Führende Denker und Forscher, 2. Aufl., Leipzig 1924, S. 101. 14 Fichte, Die Republik der Deutschen. Bruchstücke aus den Jahren 1806/7, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 535. 15 Fichte, Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1811), in: Nachgelassene Werke, Bd. 3, S. 199.
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Teil I: Gründung
Sommer 1813 die Kräfte für die militärische Befreiung mobilisiert werden, bricht Fichte seine Vorlesung mit pathetisch bewegten Worten ab. „Wer einen einzigen lichten und thatbegründenden Gedanken in der Menschheit einheimisch macht, thut dem Feinde grösseren Schaden, als ob er hunderttausend Feinde erschlüge [...] Aber dieser geistige Krieg gegen das Böse erfordert äusseren Frieden, Ruhe, Stille, Sicherheit der Personen, die ihn führen." 16 Für sich bekennt Fichte, diese Ruhe verloren zu haben. Er begnügt sich deshalb nicht damit, die Studenten zum Kampf zu ermutigen, sondern beteiligt sich aktiv an der Land- und Bürgerwehr und zieht als Ausbilder auf den Exerzierplatz. Durch die Strapazen gesundheitlich geschwächt, infiziert er sich mit einem Wundfieber und stirbt am 14. Januar 1814 - zehn Monate nach dem Beginn des Krieges gegen Napoleon. Am 19. Oktober 1814 wird Napoleon in der „Völkerschlacht" bei Leipzig vernichtend geschlagen. „Eine deutsche Eiche war gefallen, stämmig, zackig, in kräftigem Grün, aber sie fiel auf befreite deutsche Erde" 17 , so beschreibt Friedrich Adolf Trendelenburg (1802-1872) Fichtes Tod später bei einer Gedenkfeier in der Aula der Berliner Universität.
16 Fichte, Rede an seine Zuhörer bei Abbrechung der Vorlesungen über die Wissenschaftslehre am 19.2.1813, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 601-610, hier: 604f. 17 Adolf Trendelenburg, Zur Erinnerung an Johann Gottlieb Fichte, in: ders., Kleine Schriften. Zweiter Theil, Leipzig 1871, S. 191-223, hier: 220; vgl. ders., Gedächtnissrede am Geburtstage des Stifters der Universität des Königs Friedrich Wilhelm III., ebd., S. 145-165.
Teil II: Formierung
5.
a.
Mittelpunkt des Denkens: Hegel in Berlin
C.W. F. Solger
Carl Wilhelm Ferdinand Solger (1780-1819) ist Absolvent des Grauen Klosters in Berlin. Zunächst studiert er Rechtswissenschaft in Halle, hört aber 1801 auch eine Weile bei Schelling in Jena und 1804 bei Fichte. 1809 wird ihm ein Extraordinariat für Philosophie in Frankfurt/Oder übertragen. 1811 wird die Frankfurter Universität geschlossen und mit der Universität Breslau zusammengelegt, der später von den Berliner Privatdozenten gefürchteten östlichen „Wüste". Der zunächst für Berlin vorgesehene Henrik Steffens (1773-1845) geht nach Breslau. Dadurch wird Berlin für Solger frei. Solger kommt im Herbst 1811 zum dritten Semester und lehrt zunächst neben Fichte Philosophie und Philologie. Er stirbt im Oktober 1819 noch vor der Vollendung des 49. Lebensjahres. Solger bewegt sich in den Kreisen der Romantiker; er ist eng befreundet mit Ludwig Tieck (1773-1853) und Friedrich Ludwig Georg von Raumer (1781-1873). Auch mit Schleiermacher steht er im Gespräch, wogegen er der „Persönlichkeit und Lehre Fichtes"1 bald entfremdet ist. Solgers stark auf ästhetische Fragen bezogenes Werk2 beginnt mit einer Übersetzung des Sophokleischen Ödipus, nimmt Anregungen Spinozas, Schellings und der deutschen Mystik auf, läßt sich auf die romantische Literaturdebatte ein und bewegt sich in der großen literarischen Tradition von Dante über Shakespeare und Calderón bis Goethe. Erst nach dem Tode Fichtes konzentriert Solger sich mehr auf die Philosophie.3 Noch bei seiner Berufung hat er an philosophi1 Hermann Fricke, Karl W. F. Solger. Ein brandenburgisch-berlinisches Gelehrtenleben an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1941), Berlin 1972, S. 107, vgl. auch S. 105ff.; dazu Solgers Brief v. 22.3.1812 an F. v. Raumer, in: Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente der Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Berlin 1960, S. 260f. 2 Solger, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, Berlin 1815; Philosophische Gespräche, Berlin 1817; Solger's nachgelassene Schriften und Briefwechsel, hrsg. L. Tieck u. F. v. Raumer, Leipzig 1826; Vorlesungen über Ästhetik, hrsg. v. K. W. L. Heyse, Leipzig 1829. 3 Veranstaltungsverzeichnis bei Fricke, Gelehrtenleben, S. 261 f.
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Teil II: Formierung
sehen Publikationen wenig vorzuweisen. Die Veröffentlichung philosophischer Dialoge fällt erst in die Berliner Zeit. Die Lehrsituation ist damals in den Jahren der Befreiungskriege schwierig. Die Studenten bleiben aus. 1814/15 ist Solger Rektor der Universität. Er hat keine zwanzig Hörer in der Vorlesung. 4 So erhofft er sich von Hegels Kommen auch eine Belebung der Berliner Philosophie insgesamt. Brieflich wirbt er um Hegels „Freundschaft": „Vielleicht ist es möglich, daß wir nicht nur in Eintracht, sondern auch im Einverständnis arbeiten". 5 In seiner Besprechung von Solgers nachgelassenen, von den Freunden Tieck und v. Raumer herausgegeben Schriften scheint Hegel Solger denn auch von seiner „Beisetzung" (E. Hirsch) der Romantiker auszunehmen. Genauer betrachtet ist dies jedoch nicht der Fall. Hegel ist nicht bereit, Solgers nachgelassene Äußerung kommentarlos hinzunehmen, Hegel habe nur „Nachbeter" mitgebracht; er, Solger, dagegen biete „keine neue Narrheit" in der Philosophie. Hegel 6 zitiert diese frühe briefliche Bemerkung über seine Lehrtätigkeit und kritisiert seinerseits Solgers Philosophie. Er betrachtet Solger nicht nur als ein Opfer der Romantiker, namentlich Tiecks, sondern begreift ihn selbst als Romantiker. Nirgends sei Solger zur Philosophie gelangt. Romantisch verstiegen habe er die Aufgabe verfehlt, die absolute Religion auf den philosophischen Begriff zu bringen und dem Christentum einen „Zufluchtsort in der spekulativen Philosophie" 7 zu bieten. Über die bloße Programmatik versäume Solger die „Entwicklung von Gründen" 8 . Ganz anders als Piaton, dem mit Giordano Bruno aufgenommenen literarischen Vorbild, brächten es Solgers Dialoge nur zur falschen „Popularität" der „Konversation" 9 . Hegel wundert denn auch Solgers Lebensunmut nicht; er zitiert einen Privatbrief von 1818: „Ich lebe in dieser großen Stadt fast wie auf einer wüsten Insel". Er sieht in Solger den typischen, pathologischen Fall eines Romantikers, der nie zur philosophischen Versöhnung findet. Der philosophiegeschichtlichen Einordnung gibt er damit die Frage nach Solgers Stellung zur Romantik auf. 10 Erst als mit Hegel auch die
4 So Fricke, Gelehrtenleben, S. 170. 5 Abdruck in: Briefe von und an Hegel, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 3: 1823-1831, Hamburg 1954, S. 189; gekürzt bei: Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, S. 325. 6 Vgl. Hegels Aufsatz Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel [1828], in: Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1970, Bd. 11, S. 205-274, hier 264. 7 Ebd., S. 238. 8 Ebd., S. 247. 9 Ebd., S. 266ff. 10 Dazu vgl. Rudolf Odebrecht, K. W. F. Solger und die romantische Idee, in: Geisteskultur 1925, S. 241-257; Joseph Elias Heller, Solgers Philosophie der ironischen Dialektik. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen und spekulativ-idealistischen Philosophie, Diss. Berlin 1928 (von Dessoir betreute Berliner Dissertation).
5.
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Mittelpunkt des Denkens: Hegel in Berlin
Hegelianer kommen, konsolidiert sich die Philosophie in Berlin und gewinnt ein wirkmächtiges Profil. Das Erscheinungsbild der Fakultät ist in den ersten Jahren der Formierung alles andere als homogen.
b.
„Philosophische Wissenschaften " vor der Dozenten zwischen Fichte und Hegel
Konsolidierung:
Schleiermacher ist der unbewegte Beweger und Ruhepunkt der Universität. Doch er vertritt die theologische Fakultät, wenn er - laut Vorlesungsverzeichnis - auch gelegentlich in der philosophischen Fakultät unter der Rubrik „Philosophische Wissenschaften" anzeigt und liest. In den ersten Jahren lesen neben Fichte noch Ordinarien der ersten Stunde aus anderen Fächern „Philosophische Wissenschaften": Der Jurist Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760-1839)", der erste, noch von der Einrichtungskommission bestimmte Rektor der Universität, liest über Naturrecht, der Anatom Johann Christian Reil (1759-1813) über Psychologie. Im Sommersemester 1811 kündigt Schleiermacher Dialektik an. Dazu kommen der Mathematiker Abel Burja (1752-1816) und der Mineraloge Christian Samuel Weiß (1780-1856). Der Privatdozent August Ferdinand Bernhardt (1770-1820) liest Sprachwissenschaft, der Privatdozent Johann Friedrich Wilhelm Himly (1769-1831) hält einige Semester lang Veranstaltungen zur Pädagogik ab. Solger tritt hinzu. August Boeckh (1785-1867) 12 , der bedeutende Philologe, über Jahrzehnte einer der „Sterne" der Philosophischen Fakultät, liest „Geschichte der griechischen Philosophie". Zwischen Solger und Hegel lehrt in den Zeiten der preußischen Reorganisation dann ein bunter Kreis von Privatdozenten. 13 Karl Christian Krause (1781-1832) ist auf seinem Irrgang durch die Universitätslandschaft auf der Suche nach Amt und Würden von Jena über Rudolfstadt und Dresden auch für ein Semester in Berlin. Fichte hat diesem seinem Schüler Unterstützung zugesagt. Krause kommt im Dezember 1813 nach Berlin, reicht einige Schriften bei der Fakultät ein und wird darauf11 Dazu vgl. Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz. Zur Biographie eines deutschen Juristen um 1800, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 15-27. 12 Zur Orientierung vgl. Helmuth Schneider, August Boeckh, in: Berlinische Lebensbilder: Geisteswissenschaftler, hrsg. v. Michael Erbe, Berlin 1989, S. 37-54. 13 Will man heute etwas über diese Randfiguren der Philosophiegeschichte der ersten Jahrhunderthälfte wissen, so muß man schon auf ältere Darstellungen zurückgreifen: vgl. Johann Eduard Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie. Dritte Abteilung: Die Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant; ders., Grundriß der Geschichte der Philosophie: Anhang: Die deutsche Philosophie seit Hegels Tod, 1866; Eduard Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 2. Aufl., München 1875; Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, hrsg. v. K. Oesterreich, 11. Aufl., Berlin 1916.
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Teil II: Formierung
hin nach seiner öffentlichen Probevorlesung vom 26. Februar 1814 als Privatdozent zugelassen. Im Sommersemester kommt jedoch nur eine Vorlesung „Einführung in die Philosophie" zustande. Krause verzichtet dann auf weitere Ankündigungen. Nachdem sich die Hoffnung auf die Nachfolge 1 4 des 1814 verstorbenen Fichte zerschlägt, wechselt Krause mit Frau und zwölf Kindern über Dresden nach Göttingen, das er, 1831 politisch verdächtigt, in Richtung München verläßt, wo Schelling seine akademische Situierung behindert. Trotz dieser Widrigkeiten arbeitet er in zahlreichen Schriften eine eigene Philosophie aus, von der Carl Prantl urteilt, „daß Krause's Philosophie, wenn sie sich einer derartigen staatlichen Unterstützung erfreut hätte, wie dieselbe dem Hegelianismus und auch dem Herbartianismus thatsächlich zu Theil wurde, wahrlich im gleichen Grade über gar viele Lehrstühle verbreitet gewesen wäre" 1 5 . Krauses Philosophie wird heute noch in der spanischsprachigen Welt unter dem dort geläufigen Titel „Krausismo" studiert. Das schmälste Vorlesungsangebot findet sich 1814/15. Gerade einmal drei Veranstaltungen werden in den „Philosophischen Wissenschaften" von Solger, Schleiermacher und dem Pädagogen Himly angeboten. 1815 tritt der Ästhetiker Ernst Heinrich Toelken (1785-1866) hinzu, der 1814 Privatdozent und 1823 Professor für Kunstgeschichte und Archäologie in Berlin wird und noch die ganzen 20er Jahre hindurch ziemlich regelmäßig Ästhetik ankündigt. 1815/16 ist nur Himly neben Solger im Vorlesungsverzeichnis vertreten, 1816 auch der gerade habilitierte Altphilologe Christian August Brandis (1790-1867), der 1818 Extraordinarius für klassische Philologie wird und 1820 nach Bonn wechselt. 1816/17 liest Boeckh erneut. 1817 lesen nur Schleiermacher und Solger. 1818 ist das Vorlesungsangebot reicher. Schleiermacher ist weiterhin gelegentlich aufgeführt. Die Zeiten aber, wo der Bedarf durch die Vertreter anderer Fächer abgedeckt wurde, sind vorbei. Der Statutenentwurf der Akademie von 1809 wird nach der Universitätsgründung überarbeitet und 1812 neu beschlossen. Die Universität folgt bald darauf. Durch die Statuten der Universität vom 31. Oktober 1816 sind die Lehrbefugnisse damals schon den heutigen Verhältnissen ähnlich geregelt. Die Lehrbefugnis setzt in der Regel die Habilitation voraus. Lehrbefugt sind die Ordentlichen und die Außerordentlichen Professoren sowie die Ordentlichen Akademiemitglieder - wie Schleiermacher - und
14 Dazu die Briefe Krauses vom 3.2.1814 u. 28.2.1814, in: Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, Bd. 5: 1812-1814, Stuttgart 1991, S. 96 u. 121; biographische Angaben nach Enrique Urena, K. C. F. Krause, Philosoph, Freimaurer, Weltbürger. Eine Biographie, Stuttgart 1991, S. 325ff. 15 In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 17, S. 79; positives Urteil auch bei Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, Jena 1932, S. 293-308; vgl. Klaus-Michael Kodalle (Hrsg.), K. Chr. Krause (1781-1832). Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo, Hamburg 1985, S. 265ff.; ebd. 277ff. auch eine umfangreiche Bibliographie.
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Privatdozenten. 16 Später wird noch der Status des Honorarprofessors eingeführt und zwischen beamteten (besoldeten) und nichtbeamteten Extraordinarien unterschieden. Als Honorarprofessoren werden „in Anerkennung besonderer wissenschaftlicher Verdienste auch bei vollständiger Besetzung der ordentlichen Professuren geeignete Männer dem Könige vom Ministerium in Vorschlag gebracht" 17 . Eine existentielle Frage ist meist der Erhalt eines besoldeten Extraordinariats, das die Subsistenz vom Lehrerfolg bzw. Kolleggeld relativ unabhängig macht. Wenn die Extraordinarien damals auch nicht zur Fakultät im engeren Sinne gehören, liegt der existentielle Bruch doch innerhalb der Klasse der Extraordinarien. Nur der bezahlte Extraordinarius ist sozial gesichert. Und dieser Status ist rar, während die meisten Privatdozenten bei Wohlverhalten in der Regel irgendwann zu unbesoldeten Extraordinarien aufsteigen. Vorlesungen sollen damals schon „in dem Universitätsgebäude oder wenigstens in dem Universitätsbezirk gehalten werden". Das Vorlesungshonorar ist „in der Regel der Liberalität jedes Lehrers überlassen". 1838 werden die Statuten der Philosophischen Fakultät näher geregelt. Für die Hauptfächer der einen Philosophischen Fakultät sind „siebzehn ordentliche Nominalprofessuren" vorgesehen. Die Philosophie ist weiterhin in die theoretische und die praktische Philosophie gegliedert. Erst 1893 kommt ein dritter Lehrstuhl hinzu. Zur Habilitation werden damals eine Habilitationsschrift und eine Probevorlesung für jedes beantragte Hauptfach sowie ein Kolloquium vor der versammelten Fakultät und eine öffentliche Vorlesung verlangt. Das Promotionsverfahren erfordert neben der Dissertationsschrift noch eine mündliche Prüfung sowie eine öffentliche Disputation der Dissertationsthesen. 1817 habilitiert sich Johann Friedrich August von Calker (1790—1870)18, der 1815 in Bonn bei Jakob Friedrich Fries (1773-1843) promovierte und dessen Lehre ab 1818 dann als außerordentlicher, später ordentlicher Professor wieder in Bonn vertritt. Hegel wird seinen Weggang nicht bedauert haben, greift er Fries in der Vorrede zur Rechtsphilosophie doch als „Heerführer dieser Seichtigkeit" an. Die von Schleierma16 Universitätsstatuten v. 1818, Abschnitt VIII: Von den Vorlesungen bei der Universität, in: Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Systematische Zusammenstellung für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, bearbeitet vom Universitäts-Kuratorium, Berlin 1887; detaillierte Erläuterungen bei Erich Wende, Grundlagen des preussischen Hochschulrechts, Berlin 1930, S. 63 ff. Die Entwicklung der Universität läßt sich an statistischem Material ablesen. Schon 1860 erschien eine erste nach Fakultäten unterschiedene Aufarbeitung mit Datenanhang: Rudolf Köpke, Die Gründung der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860; informativ auch Adolph Wagner, Die Entwicklung der Universität Berlin 1810-1896, Berlin 1896. 17 Ebd., S. 309f.; klare Beschreibung des Lehrkörpers der Universität dann in der Satzung von 1930, §§ 9, in: Werner Richter u. Hans Peters (Hrsg.), Die Statuten der preußischen Universitäten und Technischen Hochschulen, Berlin 1930. 18 Calker, Urgesetze des Wahren, Guten, Schönen, 1820; Propädeutik der Philosophie, 1820/21; Denklehre oder Logik und Dialektik, 1822.
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eher angeregte Preisfrage der Akademie von 1815 über den „Einfluß" des Descartes auf Spinoza 19 beantwortet Heinrich August Ritter (1791-1869) recht erfolgreich; obwohl auch er, so Schleiermacher, den „Sinn der Aufgabe" nicht voll erfaßt und deshalb die „Aufgabe nicht befriedigend gelöst" hat 20 , erhält er den halben Preis; 1817 wird er Privatdozent in Berlin. Schleiermacher nahestehend, wird er schon nach Solgers Tod von der Fakultät für ein Extraordinariat vorgeschlagen. In den zwanziger Jahren publiziert er Studien zur Logik und zur antiken Philosophie 21 und beginnt mit der Abfassung einer zwölfbändigen Geschichte der Philosophie (1829/53). 1824 erhält er eine außerordentliche Professor. Nach Hegels Tod ist er für dessen Nachfolge von Seiten der Fakultät als Kandidat im Gespräch 22 , geht aber als Ordinarius nach Kiel und später nach Göttingen. Anders als Fichte, Solger oder Hegel wird er, der Schleiermacher-Schüler und Bruder des großen Berliner Geographen Karl Ritter (1779-1859), 1832 Akademiemitglied. 1839 gibt er aus dem Nachlaß Schleiermachers Geschichte der Philosophie heraus. In der Profilierungsphase der Berliner Philosophie bietet er neben Hegel und den Hegelianern einen stabilisierenden Gegenpol. Nur ein kurzes Gastspiel gibt Johann Schad (1758-1834) 2 3 , der, aus einem Kloster entflohen, 1802 als Anhänger Fichtes Professor für Philosophie in Jena wird und 1804 als Ordinarius an eine russische Universität wechselt. Hegel schreibt am 16. August 1803 schon an Schelling: „Schad läßt sich einen physikalischen Apparat machen und wird auf den Winter Experimentalphysik lesen; andere meinen, er sei auf dem Weg, verrückt zu werden." 24 Wegen politischer Verdächtigungen 1816 aus Rußland aus-
19 Zur Spinoza-Rezeption als Modellfall der Philosophiegeschichtsschreibung vgl. Ulrich Johannes Schneider, Philosophie und Universität, Hamburg 1998, S. 249ff. 20 Schleiermacher, Sämtliche Schriften, 3. Abt., 3. Bd., S. 19-27, hier: 27. 21 Ritter, Welchen Einfluß hat die Philosophie des Cartesius auf die Ausbildung der des Spinoza gehabt und welche Berührungspunkte haben beide miteinander gemein? Nebst einer Zugabe; Über die Bildung des Philosophen durch die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1817; Geschichte der Ionischen Philosophie, Berlin 1821; Vorlesungen zur Einleitung in die Logik, Berlin 1823; Geschichte der phytagoräischen Philosophie, Hamburg 1826; Handbuch der allgemeinen Geschichte der Philosophie, 2 Bde. Gotha 1828/30; Abriß der philosophischen Logik, Berlin 1829; Geschichte der Philosophie, Hamburg 1829/53 (12 Bde.); Die christliche Philosophie nach ihrem Begriff, ihren äußeren Verhältnissen und in ihrer Geschichte bis auf die neuesten Zeiten, 2 Bde. Göttingen 1858/9; System der Logik und der Metaphysik, 2 Bde. Göttingen 1856; Versuch zur Verständigung über die neueste Philosophie seit Kant, Braunschweig 1853; dazu vgl. Gunter Scholz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt 1995, 286ff. 22 So Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.1, S. 477 f. 23 Schad, Gemeinfaßliche Darstellung des Fichteschen Systems, 1799/1802; Der Geist der Philosophie unserer Zeit, 1800; Grundriß der Wissenschaftslehre, 1800; Die absolute Harmonie des Fichteschen Systems mit der Religion, 1802; Das Paradies der Liebe. Ein Kloster-Roman, 1804. 24 Briefe von und an Hegel, Bd. 1: 1775-1812, S. 74.
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gewiesen, findet Schad 1817 in Berlin Aufnahme. Nach Hegels Ankunft kehrt er 1819 nach Jena zurück. Nach dem Urteil Max Wundts kommt er dort „allmählich mehr und mehr herunter" und stirbt „in ziemlicher Verkommenheit" 25 . Sein philosophisches Spätwerk ist eine dreibändige, über tausend Seiten starke Autobiographie 26 , die dem Kampf gegen die „Hölle des Aberglaubens" gewidmet ist und leider über die erste Jenaer Lehrzeit nicht hinauskommt. Sie endet mit der epilogischen Erwartung baldiger Rehabilitierung in Rußland und erwähnt die Berliner Zeit nicht. Schad reflektiert sein Leben philosophisch, theologisch und kirchengeschichtlich; er weiß sich als guter Christ im „Geiste der Lehre Jesu" und schildert seinen Kampf um „Selbstthätigkeit und Selbstbildung" gegen die katholische Kirche und ein inquisitorisches Mönchswesen: „Mag daher die alleinseligmachende Kirche tausend Flüche gegen mich schleudern; mag ich sogar bemerken, daß sie im Geheimen Anstalten treffe, ihr göttliches Recht, Ketzer umzubringen, durch fanatische Meuchelmörder auch an mir geltend zu machen" 27 . Schad bemerkt diese Anstalten, bemerkt sie überall und interpretiert sein Leben als „Erlösung" von diesen Verfolgern. Furchtlos erwartet er die selige Freude. Auch die Philosophen betrachtet er als Agenten der Verfolgung: „Welcher Sklavensinn herrscht selbst auf dem Gebiete unserer protestantischen Philosophie!" 28 Der „Autoritätsglaube an Kant" sei die neue Orthodoxie, meint Schad. „Kant behauptet, daß das, was der Mensch thun soll, er auch nothwendig thun könne" 29 . Schad verwirft dies und bestätigt es doch durch seinen Kampf um Emanzipation von der Orthodoxie. So liest sich seine Autobiographie wie eine Übersetzung von Kants und Fichtes Religionskritik in den Bildungsroman, oder als Schauerroman, der einem Ε. T. A. Hofmann zur Ehre gereicht hätte. Richard Brodersen (1793-1830) wird 1818 Privatdozent und wechselt 1819 nach Kiel. Mit Ernst Stiedenroth (1794—1858)30 lehrt ein Anhänger Johann Friedrich Herbarts (1776-1841) für einige Jahre regelmäßig neben Hegel. 1819 habilitiert er sich aus Göttingen nach Berlin um und erhält 1825 einen Ruf auf eine außerordentliche, später ordentliche Professur nach Greifswald. Wenige Jahre lehrt auch Immanuel Hermann Fichte (1797-1879) 31 neben Hegel. Noch während der Lehrtätigkeit 25 Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, S. 261 ff., hier: 263. 26 Schad, Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben. Fürsten, Staatsmännern, Religionslehrern und Erziehern vorzüglich gewidmet, Bd. 1-3, Altenburg 1828. 27 Schad, Lebensgeschichte, Bd. 3, S. 538. 28 Schad, Lebensgeschichte, Bd. 1, Vorrede S. XX. 29 Schad, Lebensgeschichte, Bd. 3, S. 379. 30 Stiedenroth, Nova Spinozismi delineatio, Göttingen 1817; Theorie des Wissens mit besonderer Rücksicht auf Skepticismus, Göttingen 1819; Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, Berlin 1824/25. 31 Fichte, Sätze zur Vorschule der Theologie, Stuttgart 1826; Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie, zur Vermittlung ihrer Gegensätze, Sulzbach 1829; Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, Sulzbach 1832; Grundzüge zum System der Philosophie.
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seines Vaters Johann Gottlieb beginnt er 1812 sein Studium in Berlin. 1818 promoviert er, schon unter Beteiligung Hegels, De philosophiae novae platonicae origine, und habilitiert sich dann 1819. 1822 geht er, auch aus politischen Motiven, als Gymnasialoberlehrer nach Saarbrücken. Im Juni 1829 bittet er Hegel um „gutachterliche Beurteilung" für eine Berufung. Doch erst 1836 gelangt er an die Universität Bonn und wird dort 1840 Ordinarius. Später lehrt er in Tübingen. I. H. Fichte vertritt einen „spekulativen Theismus" und hat um 1848, schon durch seine Zeitschrift für Philosophie und speculative Theologie, einen guten akademischen Stand. 1847 nimmt er Hermann Virici (1806-1884), der sich 1833 in Berlin habilitiert und seit 1834 in Halle lehrt, in die Herausgeberschaft mit auf und öffnet die Zeitschrift unter neuem Namen, als Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, auch für andere Ansätze und praktische Zeitfragen. Für das „höchste allvermittelnde Ziel aber" halten die Herausgeber „den philosophischen Ausbau der christlichen Weltanschauung" 32 . 1868 leitet der jüngere Fichte seine Vermischten Schriften als Beitrag zur Geschichte der nachhegel'schen Philosophie mit einer Selbsthistorisierung ein. Herrmann Wilhelm Ernst von Keyserlingk (1793-1858) 3 3 wird 1819 Privatdozent. Seine 1839 erschienenen Denkwürdigkeiten schildern mit einiger psychologischer Pedanterie und Selbstkritik, wie er, Keyserlingk, anfangs von der „Unfehlbarkeit des Herbart'schen Systems" überzeugt, sich zum „Apostel dieses philosophischen Evangeliums" aufschwingt und 1816 mit einem Vergleich zwischen Fichte's und Herbart's System in der Tasche voller akademischer Hoffnungen in Berlin ankommt 3 4 , dort aber zunächst nicht einmal promoviert wird und erst nach einem Umweg über Jena 1819 in Berlin zum Ziel kommt. Die akademischen Aussichten erscheinen Keyserlingk nach Fichtes Tod günstig. Die Universität indes wirkt auf ihn wenig einladend: „Denn erstlich ist ihre Lage in einer dürren und unfruchtbaren Sandfläche wenig reizend und anziehend; zweitens lebt man in derselben ungemein theuer und schlecht, und drittens konnte und kann
Erster Teil: Das Erkennen als Selbsterkennen, Heidelberg 1833; Grundzüge für die Philosophie der Zukunft, Stuttgart 1847. 32 Vorwort, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 17 (1847), S. 3; zu Fichte eingehend: Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1986, S. 88ff., 109ff., 121 ff. 33 Keyserlingk, Entwurf einer vollständigen Theorie der Anschauungsphilosophie, Heidelberg 1822; Speculative Grundlegung von Religion und Kirche, oder Religionsphilosophie, Berlin 1824; Die Hauptpunkte zu einer wissenschaftlichen Begründung der Menschenkenntniss oder Anthropologie, Berlin 1827; Glaubensbekenntniss eines Philosophen über die Nichtigkeit des Philosophierens in seiner seitherigen Vereinzelung vom Christenthume, Berlin 1833; Die theoretisch-praktisch begründete und erläuterte Lehre vom Schönen, oder Aesthetik. Ein Handbuch zum Selbststudium von Hermann Wilhelm Ernst v. Keyserlingk, Leipzig 1835. 34 Vgl. Keyserlingk, Denkwürdigkeiten eines Philosophen oder Erinnerungen und Begegnisse aus meinem seitherigen Leben, Altona 1839, S. 61 ff.
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sich bei der großen Weitläufigkeit dieser Hauptstadt und bei der dadurch bewirkten Vereinzelung der Studierenden weder ein studentischer Gemeingeist unter denselben, noch das wahre Studentenleben ausbilden"35.
Dort also sucht Keyserlingk in bewußter Abgrenzung „meist nur vor einem schwach besuchten Auditorium" eine „Gegenwirkung" gegen den „philosophischen Dogmatismus" Hegels zu entfalten. Wie Solger entdeckt er in Hegels Wirksamkeit nur „blinde Nachbeterei": „Kein Philosoph hat so viel vom Begriff und von der Nothwendigkeit einer wissenschaftlichen Begründung gesprochen, als Hegel; aber Keiner wollte im Grunde weniger begriffen und wissenschaftlich erkannt, Keiner so unbedingt verehrt, ja angebetet werden, als Hegel" 36 . Neben Hegel hält sich der Lehrerfolg in engen Grenzen. In finanziellen Nöten beantragt Keyserlingk im Dezember 1824 beim Ministerium ein Extraordinariat, wird aber ablehnend beschieden. Die Ernennung Leopold von Hennings (1791-1866) zum Extraordinarius und die Berufung Stiedenroths nach Greifswald geben ihm Anlaß, es im Sommer 1825 mit einer Eingabe beim König erneut zu versuchen. Da die Fakultät dies aber nicht unterstützt, sucht Keyserlingk die Studentenschaft gegen Hegel zu mobilisieren, um das Bedürfnis nach einem „Gegengewicht" öffentlich deutlich zu machen. Er veranstaltet eine großangekündigte Disputation „wider den formalen Pantheismus" Hegels. Daraufhin hat er in der Fakultät vollends ausgespielt, und auch weitere Eingaben bleiben vergeblich. 1831 bietet Keyserlingk Hegel ein „Sendschreiben" für dessen Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik an. Hegel weiß jedoch mit der „gefälligst angefügten Beilage nichts anzufangen" 37 . In seinen Denkwürdigkeiten schildert Keyserlingk seine Irrtümer und Ungeschicklichkeiten selbstkritisch. Er macht seine Erfahrungen universitätspolitisch durch den Vorschlag produktiv, den Status des Extraordinarius abzuschaffen, die Zulassung von Privatdozenten zu erschweren und „nur zwei Classen von akademischen Lehrern, nämlich Professoren und Privatdocenten, bestehen" zu lassen.38 Resigniert stellt er fest, daß die „Frequenz seiner Privat-Vorlesungen" gegen die „Marktschreier" von Hegels „Kirche" nicht zu bestehen vermochte, und schildert seine völlige Verarmung und seinen ständigen Kampf um königliche Unterstützung. Im Januar 1837 ertrotzt Keyserlingk endlich eine Zusage, künftig berücksichtigt zu werden; er hofft auf Greifswald. Seine Denkwürdigkeiten enden mit dem traurigen Bericht seiner Ehescheidung und einem Anhang Göttliche Weltregierung und menschliche Willensfreiheit. Im Erscheinungsjahr seiner Denkwürdigkeiten scheidet Keyserlingk aus der Fakultät aus. Möge „der beste der Könige" sein Versprechen gehalten haben!
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Keyserlingk, Denkwürdigkeiten, S. 62f. Ebd., S. 197; vgl. auch 190ff. Briefe von und an Hegel, Bd. 3: 1823-1831, S. 332. Keyserlingk, Denkwürdigkeiten, S. 209 f.
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Mit Calker, Ritter und Schad, Brodersen, Fichte, Stiedenroth und Keyserlingk findet Hegel neben Solger also auch Anhänger von Schleiermacher, Fries und Herbart in der Fakultät vor. Bald habilitieren sich glücklose Antipoden: 1820 wird Arthur Schopenhauer (1788-1860) Privatdozent. Von diesem Randgänger der Universitätsphilosophie, der sein Scheitern in der Lehre als Opposition zu Hegel zelebriert, ist später noch ausführlicher die Rede. Ein echtes Opfer ist dagegen Friedrich Eduard Beneke (1798-1854). Nachdem Beneke sich gerade erst 1821 habilitiert hat, wird ihm mit Zustimmung Hegels nach Abfassung einer Physik der Sitten 1822 die Venia wieder entzogen.39 Die Qualität und, mehr noch, die Tendenz seiner Schrift wird beargwöhnt.40 Man fürchtet, die „Einseitigkeit der Betrachtung" könne auf die Studenten „leicht sehr nachteilig"41 wirken. Beneke wechselt daraufhin nach Göttingen und kehrt 1827 nach Berlin zurück. Seit Beneke gibt es, wie Dilthey 42 schreibt, eine „Reaktion der Philosophie der denkenden Erfahrung" auf Hegel. Beneke knüpft an Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819), Karl Philipp Moritz (1756-1793) und die „Erfahrungsseelenkunde" des 18. Jahrhunderts an. Er begreift Philosophie als „Wissenschaft der Wissenschaft". Ihr „Mittelpunkt" sei das durch die „innere Erfahrung" der „Selbstbeobachtung"43 gegebene „Selbstbewußtsein"44. Da „Selbstbewußtsein" ein „Sein" der Seele bekunde45, lehnt Beneke nicht nur jede spekulative Philosophie, sondern auch Kants Unterscheidung des „transzendentalen Ich" vom phänomenal gegebenen „inneren Sinn" ab. In seiner Zeit gilt Beneke als bedeutender Vermittler zwischen Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Nach Hegels Tod und Abfassung einer Jubeldenkschrift46 zur Rückbesinnung auf Kant wird ihm ein 39 Dazu ausführlich Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.1, S. 294ff.; frühe Schriften Benekes u.a.: Ueber das Wesen deutscher Universitäten, Berlin 1817; Erfahrungsseelenkunde als Grundlage allen Wissens, Berlin 1820; Grundlegung zur Physik der Sitten, ein Gegenstück zu Kant's Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Berlin 1822. 40 Dazu die Dokumentation bei Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 476ff. 41 Brief Altensteins an Beneke vom 11.4.1823, zit. in: Otto Gramzow, Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie, Berlin 1899, S. 32. 42 Die deutsche Philosophie in der Epoche Hegels, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 259-282, hier: 278 ff. 43 Beneke, Lehrbuch der Psychologie, Berlin 1833, S. lOff. 44 Beneke, Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben, Berlin 1833, S. lOf. 45 Beneke, System der Metaphysik und Religionsphilosophie, Berlin 1840, S. 43 ff. 46 Beneke, Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit. Eine Jubeldenkschrift auf die Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1832; Erziehungs- und Unterrichtslehre, Berlin 1835/36; Erläuterungen über die Natur und die Bedeutung meiner psychologischen Grundhypothesen, Berlin 1836; Grundlinien der Sittenlehre, Berlin 1838/41; System der Metaphysik und Religionsphilosophie, Berlin 1840; System der Logik, Berlin 1842; Die neue Psychologie, Berlin 1845; Pragmatische Psychologie oder Seelenlehre in Anwendung auf das Leben, 2 Bde., Berlin 1850; Lehrbuch der pragmatischen Psychologie, Berlin 1853; Archiv für die pragmatische Psychologie oder die Seelenlehre in Anwendung auf das Leben, 3 Bde., Berlin 1851-53.
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unbesoldetes Extraordinariat zuerkannt. Dennoch kann er sich nie voll etablieren. Geradezu tragisch ist sein Tod: Beneke verabschiedet sich von einem Studenten, kommt dann aber doch nicht, wie versprochen, zur Vorlesung, sondern schlendert statt dessen, seinen neuen Pelz tragend, die Spree entlang Richtung Charlottenburg. Seine Handschuhe werden später im Besitz von Arbeitern entdeckt. Zwei Jahre später wird sein Leichnahm aus der Spree gefischt. Es bleibt ungeklärt, ob Beneke sich damals selbst tötete, eventuell wegen der Nichtberücksichtigung auf die Nachfolge Georg Andreas Gablers (1786-1853), oder ob ein Mord oder Unfall geschah.47 Doch dies greift über die Epoche der Wirksamkeit Hegels hinaus. Es ging zunächst nur darum, sich am Leitfaden der Vorlesungsverzeichnisse einen Überblick über den Dozentenkreis zu verschaffen, der zwischen Fichte und Hegel in den „Philosophischen Wissenschaften" ankündigt. Dabei fällt auf, daß die „Philosophischen Wissenschaften" zunächst auch fachfremd vertreten werden, bis es einige Privatdozenten gibt, die den Lehrbetrieb neben den Ordinarien aufrechterhalten. Zwar vertritt Hegel die Philosophie nach Solgers Tod zwischen 1819 und 1831 als Ordinarius allein. Dennoch lehren damals nicht nur Hegelianer. Da jedoch einige Opponenten als Widersacher scheitern, ist nur Heinrich Ritter ein wirklich präsentes Gegengewicht in der Lehre.
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Die Berufung Hegels
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ist zunächst einige Jahre Hauslehrer und dann von 1801-1807 Privatdozent in Jena. Nachdem diese Zeit mit der Publikation der Phänomenologie des Geistes, des einleitenden ersten Teils vom System der Wissenschaft, ihren Abschluß findet, wird er nach einem kurzen Intermezzo als politischer Redakteur in Bamberg Rektor des angesehenen Nürnberger Ägidiengymnasiums. Zwischen 1808 und 1816 arbeitet er dort sein System aus, das 1816 mit dem zweiten Band der Wissenschaft der Logik seinen reifen Abschluß findet. Wie schon sein erster Biograph Karl Rosenkranz (1805-1879) berichtet, drängt Hegel nach Ausarbeitung seiner Philosophie auf eine neuerliche universitäre Wirksamkeit und setzt sich bei einem gutachterlichen Vorschlag für die Besetzung der philosophischen Professur in Erlangen in „halber Verzweiflung"48 selbst auf die Liste der Kandidaten. Gleichzeitig ist er in Berlin und Heidelberg im Gespräch. In Berlin befürwortet Solger seine Berufung. Er kann darauf verweisen, daß Hegel seine Wissenschaft der Logik zum Abschluß gebracht hat. Für Hegel spricht, daß er 47 Eine blumige Darstellung findet sich bei seinem Biographen Gramzow, Benekes Leben und Philosophie, S. 272 ff. 48 Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, S. 296.
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trotz großer äußerer Hindernisse den Weg des systematischen Denkens konsequent gegangen ist. Und so ist ihm mit der Logik, wie Zeitgenossen meinen, „das Buch der Bücher, ein vollendetes Meisterstück des menschliches Geistes" 49 gelungen. Im Juli 1816 erhält Hegel deshalb Besuch aus Berlin, und zwar vom Königlich Preußischen Regierungsrat und Professor Friedrich von Raumer (1781-1873). Der bringt die Nachricht, daß Neigung bestehe, ihm die Nachfolge Fichtes anzutragen. Es kommt zu einem Gespräch über die geeignete Methode, Philosophie an Universitäten zu lehren; V. Raumer reist zufrieden ab und bittet den Kandidaten, seine Auffassung vom Philosophieunterricht für die Berliner Instanzen schriftlich zu fixieren. Dem kommt Hegel umgehend mit einer kleinen Abhandlung nach, die er v. Raumer schickt. 50 Die darin enthaltenen Bemerkungen über Deutlichkeit, Gründlichkeit und Mitteilbarkeit der Philosophie gehören zum Besten, was nach Kants Vorspruch zu seinen Vorlesungen im Wintersemester 1765/66 51 je zur Didaktik der Philosophie gesagt wurde. Aller Nachdruck liegt auf der durchgängigen Begrifflichkeit und spezifischen Wissenschaftlichkeit der „neuen Idee" und „Form" philosophischer „Metaphysik". V. Raumer empfiehlt Hegel umgehend. Er findet Unterstützung durch Solger, Heinrich Friedrich Link (1767-1851) und Berthold Georg Niebuhr (1776-1831); auch die Theologen Philipp Konrad Marheineke (1780-1846) 52 , Johann August Wilhelm Neander (1789-1850) und Schleiermacher schließen sich an. Von Schleiermacher heißt es sogar, er habe Hegel ins Gespräch gebracht. Doch hier sind Zweifel angebracht. Immerhin kommt es zu einem einmütigen Vorschlag an die Erziehungsbehörde, die sich aber nicht sogleich für den Ruf entscheiden kann. Statt dessen schreibt Friedrich von Schuckmann (1755-1834), der zuständige Leiter, einen umständlichen Brief an Hegel, in dem er von dem „redlichen Manne" wissen will, ob er sich, nach so langer Entfernung von der Universität, die akademische Lehre überhaupt noch zutraue:
49 Brief Thadens vom 27. August 1827 an Hegel. 50 „Über den Vortrag der Philosophie auf Universitäten. Schreiben an Friedrich v. Raumer (1816)", in: Hegel, Werke, Bd. 4, S. 418-425. Zur Berufungsgeschichte Hegels vgl. die Dokumente in: Idee und Wirklichkeit einer Universität, S. 299 ff. 51 Siehe: Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre 1765-1766, in: Kants's gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 305-313. 52 Marheineke hatte schon Professuren in Erlangen und Heidelberg inne, ehe er 1811 auf einen Theologie-Lehrstuhl in Berlin berufen wurde. Er gilt als Begründer der spekulativen Theologie und war Hegel früh verbunden. Marheineke hielt die Gedenkrede an Hegels Grab, veröffentlichte u. a. eine „Einleitung in die öffentliche Vorlesung über die Bedeutung der Hegeischen Philosophie in der christlichen Theologie" (1842) sowie eine „Kritik der Schellingschen Offenbarungsphilosophie" (1843). Verzeichnis seiner zahlreichen Publikationen in: Gelehrtes Berlin im Jahre 1825 zu einem milden Zwecke herausgegeben von Ferdinand Dümmler, Berlin 1826, S. 161 f.; Fortsetzung in: Verzeichniss im Jahre 1845 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke, Berlin 1846.
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„Da sie nämlich schon seit einer bedeutenden Reihe von Jahren nicht akademische Vorträge gehalten haben, auch vorher nicht lange Zeit akademischer Lehrer gewesen sind, so ist von mehreren Seiten der Zweifel erregt worden, ob Ihnen auch die Fertigkeit, über Ihre Wissenschaft lebendigen und eindringlichen Vortrag zu halten, noch völlig zu Gebote stehe." 53
Eine Antwort Hegels ist nicht überliefert. Aber der Brief macht verständlich, warum sich Hegel umgehend für ein gleichzeitig eingehendes Angebot der Universität Heidelberg entscheidet. 1817 werden die Wissenschaftsangelegenheiten aus dem Innenministerium ausgegliedert und dem neugegründeten „Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten" übergeben. Bis 1840 leitet es Karl Sigismund Franz Freiherr von Stein zum Altenstein ( 1770-1840) 5 4 . Altenstein gehört zu den preußischen Reformern der ersten Stunde. Schon 1807 begeistert er sich für Fichtes Ideen zur Reform der Universität und setzt unter Fichtes Erlangener Memorandum eine befürwortende Bemerkung, die als seine politische Maxime gelten kann: „Wissenschaft, Kunst und Religion kräftig befördern, und sie so zu erfassen, daß sie einen wohltätigen Einfluß haben müssen, halte ich für das Wichtigste in unserem Zeitalter, wo überall der Kampf großer, wilder, ungezügelter Kraft mit gehaltloser Schwäche schon ausgebrochen ist oder auszubrechen droht. Nur dadurch kann eine wohltätige Wiedergeburt bewirkt werden, die außerdem nur aus dem Innern hervorgeht." 55
Als Mitarbeiter von Hardenbergs verfaßt Altenstein die „Rigaer Denkschrift", die den monarchischen Staat konstitutionell nach „demokratischen Grundsätzen" zu regieren empfiehlt. 56 Von 1808 bis 1810 ist er Finanzminister, leitet das Finanzressort und hilft unter Humboldts Amtszeit tatkräftig, die schwierigste Klippe, nämlich die Finanzierung durch säkularisierte Domänengüter, zu umschiffen. 1810 wird er entlassen, aber Hardenberg holt ihn 1815 in den zentralen Dienst zurück und übergibt ihm 1817 das neue Kultusministerium. Altenstein macht die Förderung der Philosophie dort so sehr zu seiner eigenen Angelegenheit, daß Max Lenz urteilt, es sei „die Philosophie"
53 Brief Schuckmanns an Hegel vom 15. August 1816 (zit. nach: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 298). 54 Dazu Werner Vogel, Karl Sigmund Franz von Altenstein, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin, hrsg. v. W. Treue u. K. Gründer, Berlin 1987, S. 89-105. 55 Zit. nach: Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 5 (Fußnote). 56 Hardenbergs Rigaer Denkschrift, in: Georg Winter (Hrsg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg. Erster Teil: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform, Leipzig 1931, hier: S.306. Diese Formulierung stammt von Hardenberg und deckt sich mit Altensteins Vorentwurf. Die Formulierung könnte von Kant abgezogen sein, auch wenn das verwaltungspraktische, auf die Stärkung der „Kraft" des monarchischen Staates abzweckende Verfassungsverständnis der beiden Reformer Kants Rechtsstaatskonzeption ansonsten nicht konsequent entspricht und die Reformen weder aus einem klaren Rechtsstaats- noch Nationalstaatsbegriff konzipiert; vgl. aber Eduard Spranger, Altensteins Denkschrift von 1807 und ihre Beziehungen zur Philosophie, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 18.2, Leipzig 1905, S. 107-152.
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gewesen, die „in Altensteins Ministerium residierte" 57 . Man darf ergänzen: die Philosophie Hegels, denn Altenstein lernt Hegel in Heidelberg persönlich kennen und gewinnt aus den Gesprächen die Überzeugung, daß man Hegel in Zeiten religiöser und politischer Unsicherheit das schwierige Lehramt anvertrauen könne. Dies sei „ein Mann von dem reinsten Charakter, von selten mannigfaltigen Kenntnissen, von Reife des Geistes und von philosophischem Scharfsinn": „Gleich weit entfernt von religiöser Schwärmerei und von Unglauben, hat er bei seiner philosophischen Tiefe doch auch schätzbare Ansichten in der allgemeinen Erziehungskunst und sogar praktische Kenntnisse in solcher." 58 Da auch die Fakultät auf Hegel beharrt, ergeht der Ruf. Altenstein wird in den nächsten Jahren zum universitätspolitisch wichtigsten Förderer des Hegelianismus.
d.
Hegels Berliner
Wirksamkeit
Hegel ist sogleich entschlossen, nach Berlin zu gehen. Der „Berliner Sand", so meint er, „sei für die Philosophie eine empfänglichere Sphäre als Heidelbergs romantische Umgebungen" 59 . Ihn reizt der größere Wirkungskreis. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Berufungsverhandlungen schreibt er aber in seinem Abschiedsgesuch an das Großherzoglich Badensche Ministerium auch: „Es müsse für ihn vornämlich die Aussicht von größter Wichtigkeit sein, zu mehrer Gelegenheit bei weiter vorrückendem Alter von der precären Function, Philosophie auf einer Universität zu dociren, zu einer andern Thätigkeit übergehen und gebraucht werden zu können." 60 Damit spielt er nicht nur auf praktische Wirkungsmöglichkeiten an, sondern auch auf eine Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften. So distanziert die Rede von der „precären Function" auch klingt: Hegel stellt sich „still und fleißig"61 seinen hohen Ansprüchen an den universitären Unterricht. Er nimmt sich die Encyklopädie und die Rechtsphilosophie erneut vor und arbeitet sie für die Vorlesung weiter aus. Damit betreibt er die Integration der Philosophie in den Kanon der Wissenschaften, die er im Schreiben an Friedrich v. Raumer als wesentliches Ziel bezeichnet hatte. Er vermittelt in der Tat „Kenntnisse", sucht mit den „speziellen Berufswissenschaften" in Verbindung zu bleiben und richtet seine ganze Sorgfalt sowohl auf die „Bestimmtheit der Begriffe" als auch auf einen „konsequenten methodischen Gang". Daß Hegel damit die Hoffnung verbindet, die Philo-
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Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.1, S. 7. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hrsg. v. G. Nicolin, Hamburg 1970, S. 168. Zit. nach: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 316. Zit. nach: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 318. So Solger in einem Brief an Tieck vom 22. 11. 1818, in: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 320.
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sophie könne vorbildlich wirken, verrät schon der Anspruch, ihr den Status einer „propädeutischen Wissenschaft" 62 zu erhalten. Hegels Antrittsvorlesung vom 22. Oktober 1818 ist ein Dokument der hohen Erwartungen, die sein Philosophieren mit der neuen Universität, der „Universität des Mittelpunkts", verknüpft. Wie vor ihm Fichte und Humboldt beschwört Hegel den Geist der Nation, mit dem die Gründung der Universität so eng verknüpft ist. Der „Nationalität", diesem „Grund alles lebendigen Lebens" 63 , habe die Philosophie ihre Stimme zu leihen. Denn sie sei eine Macht, aus der „Not der Zeit" und deren „kleinen Interessen" herauszuführen; in ihr finde der Mensch „das Selbstbewußtsein seines Wesens" 64 . Dieses Selbstbewußtsein will Hegel mit seinen Vorlesungen zur Encyklopädie systematisch entfalten. Dabei hofft er die „Seichtigkeit" der Gegenwartsphilosophie zu überwinden und die „Morgenröte einer schöneren Zeit" 65 herbeizuführen. Den „Geist der Jugend" will er ansprechen, den „Glauben" an die Vernunft wecken: „Ich darf wünschen und hoffen, daß es mir gelingen werde, auf dem Weg, den wir betreten, Ihr Vertrauen zu gewinnen und zu verdienen; zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen als dies, daß Sie Vertrauen zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten." 66
In diesem Sinne lehrt Hegel und wirkt über die Grenzen Berlins hinaus. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) schreibt Hegel am 7. Oktober 1820: „Mit Freuden hör ich von manchen Orten her, daß Ihre Bemühung, junge Männer nachzubilden, die besten Früchte bringt; es tut freilich Not, daß in dieser wunderlichen Zeit irgendwo aus einem Mittelpunkt eine Lehre sich verbreite, woraus theoretisch und praktisch ein Leben zu fördern sei." 67
Bei diesem Ziel kommt Hegel zugute, daß sein systematisches Werk weitgehend vollendet ist, als er nach Berlin wechselt. Die Wissenschaft der Logik ist publiziert. Über die Encyklopädie und die Grundlinien der Philosophie des Rechts hat er bereits in Heidelberg gelesen. Am neuen Wirkungsort bedarf es also nur der Überprüfung,
62 Vgl. Schreiben an v. Raumer vom 2. 8. 1816, in: Hegel, Werke, Bd. 4, S. 418-425. 63 „Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin" am 22. Oktober 1818 (zugleich auch Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung), in: Hegel, Werke, Bd. 10, S. 399-417. Die Formel von der Nationalität als dem „Grund alles lebendigen Lebens" findet sich wörtlich schon in der mit dem Berliner Text im ersten Teil weitgehend identischen Heidelberger Eröffnung seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1816) (Vgl. Hegel, Werke, Bd. 18, S. 11). 64 65 66 67
Hegel, Werke, Bd. 10, S. 402. Hegel, Werke, Bd. 18, S. 12f. Hegel, Werke, Bd. 10, S. 404. Brief Goethes vom 7.10.1820 an Hegel, in: Goethe-Hegel. Briefwechsel, hrsg. v. H. Bauer, Stuttgart 1970, S. 17; zu den unterschiedlichen Eindrücken von Hegel vgl. Hegel in Berichten seinerZeitgenossen, S. 189 ff.
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Ergänzung und Erweiterung. Auch die Ästhetik arbeitet er weiter aus. Hegel trägt sie in mehreren Vorlesungszyklen vor und nimmt dabei vielfältige Anregungen aus der entstehenden Kulturmetropole auf. 68 So ist es weniger der „Berliner Sand", vielmehr sind es die neu entstehenden Berliner Museen, die Theater und Konzertsäle, die sein Werk weiter fördern. Hegel verfolgt die politischen Entscheidungen aus der Nähe und läßt sich auf das gesellige Leben der Hauptstadt ein. Die Formel von der Universität des Mittelpunkts wird in den Jahren seiner Tätigkeit eine zutreffende Beschreibung. „Berlin", so schreibt Rosenkranz, „ist die Stadt der absoluten Reflexion, welche Unruhe des Denkens mit der noch nicht zur Culmination gelangten Entwicklung des Preußischen Staates und seiner Hauptstadt selbst zusammenhängt." 69 Das ist ganz im Sinne Hegels: Der wahre Mittelpunkt ist dort, wo der Philosoph wirkt. In der Tat entwickelt sich Berlin nach der Befreiung von der napoleonischen Last zum Zentrum eines preußisch-deutschen Zusammenhanges. Alle Bewegung im Lande orientiert sich nach Berlin. Rosenkranz bedient sich Kategorien Hegels, wenn er schreibt: „In Berlin existirt nichts Naives, Unmittelbares, sondern als ein durch die Reflexion Erzeugtes." 70 Von daher rühre der Hunger nach immer neuen Bildungsstoffen. Sie brauche ständig Anregung und Zerstreuung und lasse allzu schnell Langeweile entstehen, wenn neue Sensationen fehlen. „Von dieser Seite erscheint sie im Extrem als ein Moloch, dessen Feuerarme jedes frische Leben verglühen lassen." 71 Selbst die Frömmigkeit sei hier vom Verlangen nach ständiger Umwälzung durchdrungen. Die Schilderung macht klar, daß es so nicht bleiben kann. Und so erwarten die Hegelianer die Lösung der metropolaren Spannungen vom Einzug des spekulativen Geistes. Durch das Hegeische Denken soll das Zentrum seinen eigentlichen, weil ruhenden Mittelpunkt erhalten. Rosenkranz' Formulierungen sind deutlich genug: „Durch die Universität hatte Berlin von nun ab Gelegenheit, dem der Reflexion immanenten Triebe, zur Spekulation sich zu vollenden, in einem geordneten Studiengange genug zu thun." Fichte, Schleiermacher und Solger hätten dazu wichtige Vorarbeit geleistet. 72 Insbesondere Schleiermacher sei „ein zur Natur gewordenes lebendiges Kunstwerk der Reflexion", der „plastische Ausdruck des tieferen Berlinis-
68 Dazu u. a. Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Pöggeler (Hrsg.), Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, Bonn 1983; Otto Pöggeler, Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik, Opladen 1987. 69 Rosenkranz, Hegels Leben, S. 320. 70 Ebd., S. 320. 71 Ebd., S. 321. 72 Dazu vgl. auch Hegels Vorschrift der Vorgeschichte der eigenen Philosophie, die die Hauptformen der neuesten Philosophie nach Fichte vorzugsweise kritisiert (Hegel, Werke, Bd. 20, S. 387ff.) und nur in der Ästhetik, namentlich durch Schiller (Hegel, Werke, Bd. 13, S. 89ff.), noch positive Entwicklungen ausmacht. Schleiermacher kommt in Hegels Philosophiegeschichte nur am Rande als Philologe vor.
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mus" 73 , über den er jedoch nicht hinausgelange. Und so muß Hegel kommen, der alles aufnimmt und in eine begriffliche Form des Philosophierens als Selbstbestimmung des Absoluten überführt. 74 Eine der wichtigsten universitätspolitischen Initiativen Hegels ist die am 16. Juli 1826 erfolgte Gründung einer Sozietät für wissenschaftliche Kritik, deren Vereinszweck die Herausgabe eines Jahrbuchs ist. Schon bei der Herausgabe des Kritischen Journals der Philosophie in Jena, später bei seiner Arbeit als Redakteur in Bamberg und an den Heidelberger Jahrbüchern überzeugte sich Hegel vom machtpolitischen Instrument der Presse. In der Sozietät versammelt er nun nicht nur seine Schüler, wie Gans, Hotho oder von Henning', auch der Theologe Marheineke, der Physiologe Johannes Schultze und die Philologen Bceckh und Franz Bopp sind dabei. Selbst Wilhelm von Humboldt wird Mitglied, nimmt aber keinen aktiven Anteil an der Redaktionsarbeit. Eduard Gans ( 1798-1839) 75 , der hoffnungsvolle Jurist und Lieblingsschüler, hat die Finanzierung der Zeitschrift durch den Stuttgarter Verleger Cotta gesichert. Als Hegel wissen will, ob Cotta selbst den Vorschlag gemacht habe, antwortet Gans. „Nein, eigentlich ich ihm": „Ich meinte, eine Universität, wie die Berliner, könne nicht lange mehr ohne eine literarische Zeitung bleiben, und die Willkür und das bloß Negative, das in den bisherigen Unternehmungen der Art herrscht, erfordere, daß von einem großen Mittelpunkte aus dergleichen auf positive Weise betrieben würde." 76 Diese Anekdote ist für die damaligen, geschichtsphilosophisch überspannten Erwartungen an die Person und Philosophie Hegels bezeichnend. Die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik werden zum wirkungsmächtigen Organ der Hegelschule. 77 Leopold von Henning (1791-1866) redaktioniert sie von 1827 bis 1847. Henning ist während der Befreiungskriege Offizier, Leutnant, ein politischer Kopf. Hegel bringt ihn aus Heidelberg mit und habilitiert ihn 1821 in Berlin.78 Henning ist wohl
73 Rosenkranz, Hegels Leben, S. 322. 74 Grundsätzliche Kritik an Hegels „Holismus des Bewußtseins", an seinem Versuch, in spekulativer „Aufhebung" Kants aus der „Perspektive des Absoluten" zu denken, jetzt bei Herbert Schnädelbach, Hegel zur Einführung, Hamburg 1999; vgl. aber auch Volker Gerhardt, Die Größe Hegels, in: Merkur Heft 602 (1999), S. 530-543. 75 Gans, Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, 4 Bde., 1824/1835; System des Römischen Civilrechts im Grundrisse, Berlin 1827; Vermischte Schriften, juristischen, historischen, staatswissenschaftlichen und aesthetischen Inhalts, 2 Bde., Berlin 1834. 76 Gans, Rückblicke auf Personen und Zustände, Berlin 1836, S. 230. 77 Siehe: Christoph Jamme (Hrsg.), Die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik" - Hegels Berliner Gegenakademie, Stuttgart 1994; darin insbesondere die Beiträge von F. Hogemann: Die Entstehung der Jahrbücher; S. Obenaus: Berliner Allgemeine Literaturzeitung oder ,Hegelblatt'? und N. Waszek: Eduard Gans und die Jahrbücher'. 78 Henning, Jefferson, Handbuch des Parlamentsrechts, übersetzt von Henning, Berlin 1819; De systematis feudalis notione, Berlin 1821; Einleitung zu öffentlichen Vorlesungen über Goethe's
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vor allem gemeint, wenn sich Solger und Keyserlingk über die Gefolgschaft Hegels mokieren. Er liest Rechtsphilosophie, bald auch Logik und Metaphysik nach Hegels Grundriß. Daneben liest und publiziert er aber auf Hegels Wunsch auch über Goethes Farbenlehre. Nachdem er 1824 Principien der Ethik, in historischer Entwickelung veröffentlicht, wird er 1825 außerordentlicher Professor. Gleichzeitig mit Gabler, einem Jenaer Schüler der ersten universitären Stunde Hegels 79 , wird er 1835 in Berlin Ordinarius für „Staats- und Cameral-Wissenschaften" und liest dabei weiterhin auch Philosophie. Hennings Hauptleistung bleibt aber die Redaktion der Jahrbücher. Befestigen die Jahrbücher auch die Vormacht der Hegeischen Schule, so wird Hegel doch nicht in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Dabei ist ihm von Seiten des Ministeriums schon in den Berufungsverhandlungen ein Platz in Aussicht gestellt. Der Erfolg seiner Lehrtätigkeit, sein Renommee und seine Anerkennung in anderen Fakultäten hätten, so sollte man meinen, seine Aufnahme selbstverständlich machen sollen. Doch obgleich Altenstein auf eine Zuwahl drängt und Hegels Wunsch bekannt ist, unterbleibt der ehrende Akt. Damit entgehen Hegel begehrte Forschungs- und Publikationsmittel. Außerdem zerschlägt sich die Hoffnung auf einen vorzeitigen Rückzug aus dem Universitätsunterricht. Für Hegels Aussperrung aus der Preußischen Akademie gibt es viele Gründe. Der wichtigste liegt in Schleiermachers Auffassung, daß die Idee der Philosophie zwar die Akademie trägt, deren historisch-kritische Arbeitsweise und kollegialer Zusammenhalt aber jede systemphilosophische Prätention auf „absolutes Wissen" ausschließen. Daran scheitert schon Fichtes Aufnahme, und so ergeht es Hegel. Sofern die Philosophie propädeutische Aufgaben erfülle, gehöre sie nicht in den Forschungszusammenhang einer Akademie. Sofern sie aber spekulativ betrieben werde, sei sie die Sache einzelner. Eine eigene Klasse mit Reise- und Personaletat nebst Sekretär sei für die Philosophie nicht nötig. Was die Philosophie berühre, werde von Geschichte und Philologie abgedeckt. An diese respektablen Gründe hält sich Schleiermacher. Er verhindert - längst vor Hegels Ankunft in Berlin - die Zuwahl von Mitgliedern für die philosophische Klasse und sorgt nach Kräften dafür, daß sie gar nicht erst tagt.80 Außerhalb der Akademie entsagt er dem spekulativen Denken keineswegs. Sein frühes System der Sittlichkeit steht ebenso wie seine mehrfach vorgetragene Vorlesung über Ethik in der besten Tradition der spekulativen Philosophie. Auch in seinen Akademieabhandlungen liest Schleiermacher mit systematischem Anspruch über FraFarbenlehre, Berlin 1822; Principien der Ethik, in historischer Entwickelung, Berlin 1824; Zur Verständigung über die Preussische Verfassungsfrage, Berlin 1845. 79 Gabler war ähnlich wie Hegel lange im fränkischen Schuldienst Gymnasialprofessor. Publikationen: De disserendi ratione commentatio, Bayreuth 1824; System der theoretischen Philosophie, Bd. 1: Propaedeutik, Erlangen 1827; De verae philosophiae erga religionem christianam pietate, Berlin 1836. 80 Einzelheiten zu diesen Vorgängen finden sich in: Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, Bd. 1.2, S. 719ff.
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gen der Ethik und andere philosophische Themen. Die Aufgaben der Akademie sucht er jedoch auf philologische Vorhaben zu beschränken. Es sind aber nicht nur universitätspolitische Erwägungen, sondern auch Aversionen gegen Hegel und sein System, die Schleiermachers Widerstand motivieren. Der Unterschied in den Ausgangspositionen ist offenkundig: Hegel stellt alle philosophischen Aussagen unter die Bedingung strikter Begrifflichkeit im Sinne seiner dialektischen Logik; er insistiert auf der Identität und „Einheit der göttlichen und menschlichen Natur" und der damit gegebenen Möglichkeit eines begrifflichen Wissens und Selbstbewußtseins des subjektiven Geistes im absoluten. Die Religion der neueren Zeit beruhe auf dem „Gefühl: Gott selbst ist tot", wogegen es die Aufgabe sei, die Wahrheit des Christentums in die Philosophie zu retten und den „spekulativen Karfreitag" der Auferstehung des Glaubens im philosophischen Wissen zu vollbringen.81 Schleiermacher dagegen macht sich seit seiner Jugend die Kantische Trennung von Wissen und Glauben zu eigen und baut seine Theologie auf die Voraussetzung eines religiösen Gefühls. Auch er setzt auf die Leistung der begrifflichen Erkenntnis. Doch in der letztlich entscheidenden Frage der Stellung des Menschen zu Gott beharrt er auf der tragenden Rolle des Gefühls. Diese unterschiedlichen Perspektiven stehen schon vor Hegels Wechsel nach Berlin fest, vertiefen sich aber mit Schleiermachers systematischer Ausarbeitung seiner Gefühlstheologie, die 1821/22 als Glaubenslehre erscheint. Und sie werden zum offenen Gegensatz, als der junge Karl Rosenkranz eine Polemik gegen die „Theologie für Schwarmgeister" publiziert. Von da an steht zumindest die Anhängerschaft in öffentlicher Opposition. Auch das persönliche Verhältnis ist schwer belastet, obgleich es vereinzelte Zeichen persönlicher Anerkennung gibt. So wird berichtet, Hegel habe in geselliger Runde auf eine Bemerkung Schleiermachers jäh reagiert. Man habe sich im Streit getrennt. Am Tag darauf erhält Hegel Schleiermachers vorbehaltlose Entschuldigung: „Um nicht eins über dem andern zu vergessen, werthester Herr College. Der Beauftragte des Hauses Hesse in Bordeaux heißt Rebstock und wohnt Alexanderplatz No. 4. Uebrigens muß ich Ihnen eigentlich sehr verbunden sein, daß Sie das unartige Wort, welches mir neulich nicht hätte entwischen sollen, sogleich erwiederten, denn dadurch haben Sie den Stachel wenigstens gemildert, den die Heftigkeit, welche mich überraschte, in mir zurückgelassen hat. Ich wollte demnächst wohl, es fügte sich, daß wir die Disputation da fortsetzen könnten, wo sie stand, ehe jene ungehörigen Worte fielen. Denn ich achte Sie viel zu sehr, als daß ich wünschen sollte, mich mit Ihnen über einen Gegenstand zu verständigen, der in unserer gegenwärtigen Lage von so großer Wichtigkeit ist." 82 81 So schon in Hegels Jenaer Frühschrift Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Hegel, Werke, Bd. 2, S. 287-433, hier 432; Hegel war der Auffassung, daß seine Einwände gegen Jacobi auch den Standpunkt Schleiermachers trafen. 82 Rosenkranz, Hegels Leben, S. 325f. Abdruck auch in: Briefe von und an Hegel, Bd. 3: 1823-1831, S. 221.
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Hegels Antwort zeugt ebenfalls von urbaner Großzügigkeit: „Ich danke Ihnen, werthester Herr College, zuvörderst für die Ihrem gestern erhaltenen Billette gegebene Adresse der Weinhandlung; - alsdann für die Aeußerung, welche, indem sie eine neuliche unangenehme Vorfallenheit zwischen uns beseitigt, zugleich auch die von meiner Aufregung ausgegangene Erwiderung vermittelt und mir nur noch eine entschiedene Vermehrung meiner Achtung für Sie zurückläßt. - Es ist, wie Sie bemerken, die gegenwärtige Wichtigkeit des Gegenstandes, welche mich in einer Gesellschaft eine Disputation herbeizuführen verleitet hat, die mit Ihnen fortzusetzen und zu einer Ausgleichung unserer Ansichten zu bringen, nicht anders als interessant sein kann."83
Zu dieser „Ausgleichung der Ansichten" kommt es jedoch nicht. Auch eine gemeinsame Rutschpartie Arm in Arm im Tivoli-Park ändert daran nichts. 84 Der sachliche Gegensatz beschäftigt die Berliner Gesellschaft noch Jahre über deren Tod hinaus. Schleiermacher ist nicht der einzige Gegner Hegels in Akademie und Universität. Hegel hat nicht nur die Gefühlstheologie abgelehnt, sondern auch die sich formierende Historische Schule durch scharfe Polemik verprellt. Der Gründer der Historischen Rechtsschule, Friedrich Karl von Savigny (1779-1861) 8 5 , dominiert nicht nur in seiner Fakultät, sondern verfügt auch in der Akademie und bei Hofe über großen Einfluß. V. Savigny mißtraut Hegels Geistphilosophie. Und er fühlt sich nachhaltig durch Hegels juristische Schüler gestört. Als Eduard Gans, nach Übertritt zum Christentum, zunächst zum Extraordinarius und dann zum Ordinarius der Juristischen Fakultät ernannt wird, zieht v. Savigny sich aus den Amtsgeschäften der Fakultät zurück. Im Bund mit Schleiermacher ist seine Opposition gegen die Aufnahme Hegels in die Akademie dauerhaft erfolgreich. Hegel sucht seine Societät für wissenschaftliche Kritik zur Gegen-Akademie auszubauen. Schon in der Namensnennung erhebt er Anspruch auf die kritische Tradition der neuzeitlichen Akademien in London und Paris. Im Aufbau kopiert er die berühmten Vorläufer und gibt seinen ehrgeizigen Plan offen zu erkennen. An der Societät beteiligen sich viele Personen von Rang und Namen, darunter auch einige, die die Realisierung allzu ehrgeiziger Pläne verhindern wollen. So wird Wilhelm von Humboldt Mitglied und macht Hegel artige Komplimente, hält aber tatsächlich nichts von dem Vorhaben. 86 Von einer Konkurrenz zur Akademie ist auch bald ernsthaft nicht mehr die Rede. Doch die Jahrbücher finden weithin Beachtung. Man nimmt sie als Organ der Hegel-Schule wahr und verdächtigt sie politisch, ein Tarnorgan der Preußischen Regierung zu sein. Heute sind sie die erste Quelle für Hegels Spätphilosophie und die „Diadochenkämpfe" seiner Erben. 83 Ebd. 84 Vgl. Rosenkranz, Hegels Leben, S. 326. 85 Charakterisierungen Savignys bei Erik Wolf, Grosse Rechtsdenker in der deutschen Geistesgeschichte, 2. Aufl., Tübingen 1944, S. 436ff.; Franz Wieacker, Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, Göttingen 1959, S. 107 ff. 86 Brief an G. Schlesier (1827), zit. nach: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 398.
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Hegel erkrankt an der Cholera, die sich erstmals bis nach Berlin ausbreitet, und stirbt am 14. November 1831. An seinem Grab beschwört man „sein Reich, das Reich der Gedanken": Den „erledigten Thron Alexanders wird kein Nachfolger besteigen, Satrapen werden sich in die verwaisten Provinzen theilen, aber wie damals die Griechische Bildung, so wird diese Deutsche Wissenschaft, wie Hegel sie in mancher durchwachten Nacht, bei stiller Lampe ersann und schuf, welterobemd in dem Gebiete der Geister werden."87
Die Trauernden ahnen die Kämpfe noch kaum, die sich bald „Hegelianer" und „AntiHegelianer" und „rechte" und „linke" Schüler liefern. Die Worte von der „welterobernden" deutschen Wissenschaft sind nicht übertrieben. Man bedenke nur, daß auch der Doktor der Philosophie Karl Marx als Linkshegelianer begann und - zumindest in seinem methodischen Anspruch - immer blieb. Die Philosophen wollten nunmehr die Welt nicht länger nur interpretieren, sondern auch verändern. Doch die einzige Veränderung, die sich im Zeichen dieses Anspruchs ergab, war die Veränderung der Philosophen selbst: Sie wollten vor allem wirksam sein und ließen sich von der Macht der Presse verführen, bloße Publizisten zu sein. Darüber vergaßen sie das eigentliche Geschäft der Philosophie: die Selbsterkenntnis.
87 Grabrede Försters, wiedergegeben in: Rosenkranz, Hegels Leben, S. 565.
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Der Streit der
Hegelianer
Hegel zieht nicht nur die deutschen Philosophen1 in seinen Bann, sondern er hat schon zu Lebzeiten auch Schüler und Gefolgsleute in Frankreich, Italien und England. „Als ihn am 14. November 1831 die Cholera bei ihrem ersten Gange durch unser Vaterland hinwegraffte", so resümiert Rudolf Virchow, „hinterliess er einen förmlichen Generalstab geschulter Jünger, die es übernahmen, in seinem Sinne weiterzuwirken"2. Durch Hegel wurde „Berlin zum Mittelpunkt der neuen Bewegung in den Geisteswissenschaften", schreibt Dilthey.3 Wenn die Berliner Universität nach Hegels Tod unter dem Bann seines Denkens steht, erfüllen sich Erwartungen der Universitätsgründer, die der Philosophie die Funktion einer Leitwissenschaft zuerkannten. Hegel ist Platzanweiser und Interpret. In seinem System erhält jedes einzelne Moment seine mit dem Ganzen verknüpfte Bedeutung. Somit ist Hegel die Symbolfigur der Berliner 1 Zur Geschichte der Hegeldeutungen detailliert Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977; zum Erbstreit nach Hegel vgl. Karl Löwith (Hrsg.), Die Hegeische Linke, Stuttgart 1962; ders., Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard, Zürich 1941; Hermann Lübbe (Hrsg.), Die Hegeische Rechte, Stuttgart 1962; ders., Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel 1963, S. 27ff.; vgl. auch Jürgen Gebhardt, Politik und Eschatologie. Studien zur Geschichte der Hegeischen Schule in den Jahren 1830-1840, München 1963. Eine interessante wissenssoziologische Studie über den Junghegelianismus schrieb Wolfgang Eßbach (Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988); er zeigt, wie die Junghegelianer sich, als philosophische Schule um die akademische Karriere gebracht und aus dem Staatsdienst entlassen, selbst darüber verständigten, wer sie als differente Gruppe sind, und dabei mit den Zuordnungen als politische Partei, journalistische Bohème und atheistische Sekte experimentierten. Diese exemplarische Analyse eines gesellschaftlichen Selbstverständigungsversuchs geht allerdings weit über die Perspektive einer Universitätsgeschichte hinaus. Dazu vgl. Olaf Briese, Felder und Konstellationen. Zur philosophischen Kultur in Deutschland zwischen 1830 und 1850, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), S. 141-166. 2 Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter (Rektoratsrede vom 3.8.1893), Berlin 1893, S. 15. 3 Wilhelm Dilthey, Hegels Berliner Periode, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 252-258, hier 252.
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Neugründung. Er ist der Philosoph der Konsolidierung. Er gibt ihr das Bewußtsein einer Weltgeltung in der philosophisch entworfenen Weltgeschichte. Die Regierung gilt ihm als die „lebendige Totalität" einer Gemeinschaft. Dies bringt ihn immer wieder als reaktionären preußischen Staatsphilosophen in Verruf, obgleich er sich selbst in seiner fragwürdigen Haltung gegenüber den Karlsbader Beschlüssen liberalen und republikanischen Geist bewahrt. Hegels politische Optionen spielen im Urteil über seine philosophische Bedeutung keine geringe Rolle. Die Kontroversen um die Jahrbücher werden nach Hegels Tod mit unverminderter Schärfe fortgesetzt und erhalten durch den Streit um die theologische Erbschaft einen unversöhnlichen Charakter. Die „Orthodoxen" lehnen seine philosophische „Bewahrung" des Christentums zwar aus anderen Gründen ab als die Anhänger Schleiermachers; doch im Kampf gegen seinen angeblichen Pantheismus ist man sich einig. In diesem agitatorisch geführten Streit zeigt sich alsbald, daß Hegels Schüler alles andere als eine geschlossene Front bilden. Zwar ist es imposant, wie sie die Jahrbücher zur Auseinandersetzung mit dem Gegner nutzen. Doch von der Arbeit eines „Generalstabs", wie Virchow meinte, kann schon deshalb keine Rede sein, weil sich das kritische Element im Erbstreit emanzipiert. So sind denn bereits die ersten Jahre nach Hegels Tod durch die Auseinandersetzungen um das philosophische Vermächtnis geprägt. Es gelingt nicht einmal, einen überzeugenden Nachfolger zu finden. Hegels Lehrstuhl bleibt bis 1835 vakant. Schon die Durchsicht des Vorlesungsverzeichnisses hat gezeigt, daß die ersten Dozenten neben Hegel keineswegs einhellig Hegelianer waren. Zwar vertraten vor allem v. Henning, Michelet und Hotho Hegels Lehre innerhalb der „Philosophischen Wissenschaften". Aber auch Schleiermacher, Ritter und Beneke, Keyserlingk und Schopenhauer lehrten neben Hegel. Auch nach Hegels Tod ist die Präsenz des Hegelianismus im Vorlesungsverzeichnis zunächst wenig greifbar. So kündigen im Sommersemester 1834 neben Henning und Michelet einige Widersacher an: Beneke und Keyserlingk, Steffens und Trendelenburg. Die Macht des Hegelianismus bekundet sich aber vor allem darin, daß der Hegelianismus in die benachbarten Wissenschaften ausstrahlt und besetzungspolitisch dominiert. 1835 werden mit Georg Andreas Gabler und Leopold v. Henning die beiden ältesten Schüler Hegels zu Ordinarien ernannt. Abgesehen von Trendelenburg sind die Widersacher in der Philosophie - nach dem Weggang Ritters - eher Randfiguren. Erneut kündigen die 30er Jahre hindurch diverse Dozenten „Philosophische Wissenschaften" an. So finden sich neben dem Kunsthistoriker Tölken noch Ankündigungen des Privatdozenten für Ästhetik Heinrich Theodor Roetscher (1803-1871), der Orientalisten Johann Heinrich Eduard Roer (1805-1866) und Karl Ludwig Theodor Nauwerck (1810-1891), des Altphilologen Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) sowie des Germanisten Peter Feddersen Stuhr (1887-1851). Der Medizinhistoriker Justus Friedrich Karl Hecker (1795-1850) kündigt vor 1848 ebenso in den „Philosophischen Wissen-
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Teil II: Formierung
Schäften" an wie der Turnpolitiker, Schüler Jahns und Germanist, Hans Ferdinand Maßmann (1797-1874), der einst als Student auf dem Wartburgfest die Bücherverbrennung anführte. 4 Aber solche Lehrveranstaltungen gehörten damals schon eher zum Studium generale. Daneben stehen sich in der Universität die Hegelianer und die Anti-Hegelianer gegenüber. Die öffentliche Auseinandersetzung wird durch Vertreter der „rechten" und „linken" Hegel-Schule geprägt. Die Aufteilung ist polemischen Ursprungs. David Friedrich Strauß, von dem der damals als „witzig" empfundene Vorschlag stammt, 5 nimmt die Sitzordnung des französischen Parlaments zum Vorbild und rechnet sich der linken, also der fortschrittlich-liberalen Seite zu. J. E. Erdmann faßt zusammen: „Michelet [...] führte den Einfall weiter aus. In seiner Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland bringt er sich dem früheren Zuhörer [der Vorlesungen, aus denen das Buch hervorgegangen ist] als gleichfalls Linken in Erinnerung, schlägt dann, damit es nicht weder Fisch noch Fleisch sei, dem Centrum eine Koalition mit der Linken vor; und indem er die Pointe des Strausschen Vergleichs ganz verschwinden lässt, verheisst er dieser Koalition die Führerschaft des hingeschiedenen Meisters und eine imposante Majorität. Und damit ja kein Zweifel darüber statthabe, dass er zum oberen Hause des Hegeischen Parlaments gehöre, kam er mit proxies: fur Gans, Vatke und Benary stehe er ein." 6
Zum Linkshegelianismus rechnet man heute eine Gruppe von Theoretikern und Publizisten, die die kritischen Potentiale der Hegeischen Dialektik im Vormärz vor 1848 auf die Religions-, Staats- und Gesellschaftskritik anwandten und eine radikale gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen suchten. Ihr bedeutendster Kopf ist Ludwig Feuerbach (1804-1872). Tonangebend sind aber auch Bruno Bauer (1809-1882) und David Friedrich Strauß (1808-1874); später kommen Arnold Ruge (1802-1880), Edgar Bauer (1820-1866) und Karl Marx (1818-1883) hinzu. Nur Bauer lehrt in Berlin von 1834 bis 1839 als Privatdozent für Religionsphilosophie und Altes Testament und tritt in dieser Zeit auch mit Arbeiten über D. F. Strauß hervor.7 In Bonn, wohin er wechselt, wird ihm später seine Venia legendi entzogen. Die Anfang der vierziger Jahre offenkundige Spaltung in „Pantheisten" und „Atheisten" beschleunigt den Zerfall dieser eigenwilligen Front der Linkshegelianer. In ihr streiten gewiß die glänzenderen Talente, eigensinnige Individuen allesamt, die sich - trotz der bekannten Parodie von Marx und Engels - nur schlecht zu einer „heiligen Familie" fügen. Dies
4 Dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789-1830, Stuttgart 1957, S. 719. 5 Siehe: Johann Eduard Erdmann, Die Deutsche Philosophie seit Hegels Tod, 4. Aufl., Berlin 1896, S. 689. 6 Ebd., S. 694. 7 Bauer, Die Religion des Alten Testaments in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Prinzipien dargestellt, Berlin 1838; Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen, Leipzig 1841 ; Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit, Zürich 1842.
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Der Streit um Hegels Erbe
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tut ihrer intellektuellen Wirkung keinen Abbruch. Hätte man Marx und Engels dabei stets als das erkannt, was sie ihrer geschichtlichen Stellung nach sind: nämlich als zwei besonders begabte, besonders vorlaute und mit ihrem Status als bloße Kritiker besonders unzufriedene Intellektuelle, wäre die Weltgeschichte zwischen 1848 und 1989 ein wenig anders verlaufen. 8 Auf der rechten Seite stehen die akademisch etablierten Schüler Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs ( 1 7 9 4 - 1 8 6 1 ) 9 , Heinrich Gustav Hotho (1802-1873) 1 0 , Johann Eduard Erdmann (1805-1896), Carl Ludwig Michelet (1801-1893) und Eduard Gans (1798-1839). Hinzu kommen Philipp Konrad Marheineke ( 1 7 8 0 - 1 8 4 6 ) und Johann Karl Wilhelm Vatke (1806-1882) 1 1 aus der Theologischen Fakultät. Zur rechten Fraktion gehört auch der 1835 berufene Nachfolger Georg Andreas Gabler (1786-1853). Gabler gehört noch zu Hegels Jenaer Schülern. 1827 publiziert er den ersten Teil eines Systems der theoretischen Philosophie, eine Propädeutik der Philosophie, übersendet ihn Hegel am 28. September 1827 mit bissigen Bemerkungen zur akademischen Konkurrenz und bittet um Fürsprache bei Altenstein. 12 Er bleibt dann mit Hegel über die Jahrbücher in Kontakt. Nach seiner Berufung nach Berlin hält er sich zwar aus allen öffentlichen Auseinandersetzungen heraus, steuert aber einen Beitrag zur „richtigen Beurteilung" 13 der Philosophie seines Vorgängers bei. Dies zieht den Spott nicht nur der Hegeischen „Linken" auf sich, weil Gabler „als ein Philosoph von Profession" erklärt, „nichts mit äußern Lebensfragen, mit politischen und religiösen Interessen von praktischer Art und Tendenzen zu schaffen haben" zu wollen.
8 Zur Auseinandersetzung mit dessen Erbe vgl. die Dokumentation einer Ringvorlesung vom WS 1994/95 an der Berliner Humboldt-Universität: Volker Gerhardt (Hrsg.), Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996; ders., Die Asche des Marxismus. Über das Verhältnis von Marxismus und Philosophie, in: Jahrbuch Politisches Denken 1998, S. 17-40. 9 Hinrichs lernte Hegel in Heidelberg kennen, wo er sich 1819 habilitierte. 1822 veröffentlichte er die gegen Schleiermacher gerichtete Schrift: Die Religion im inneren Verhältnis zur Wissenschaft, zu der Hegel ein Vorwort beisteuerte. Als Professor in Breslau und - seit 1825 - in Halle gehörte Hinrichs zu den treuesten Anhängern des älteren Kollegen und Freundes. 10 Hotho habilitierte sich 1827 und erhielt 1829 eine außerordentliche Professur für Kunstgeschichte an der Berliner Universität. Zwischen 1835 und 1838 gab er Hegels „Vorlesungen über Ästhetik" heraus. Von seinen eigenen Arbeiten sind die „Vorstudien für Leben und Kunst" (1835) bemerkenswert. Dazu die materialreiche Darstellung von Elisabeth Zimmer, H. G. Hotho 1802-1873. Ein Berliner Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Philosoph, Berlin 1994. 11 Wilhelm Vatke studierte in Berlin bei Schleiermacher, Hegel und Marheineke, habilitierte sich mit einer Arbeit über Piaton und Clemens von Alexandrien und erhielt 1837 eine außerordentliche Professur in der Theologischen Fakultät. 12 Briefe von und an Hegel, hrsg. v. J. Hoffmeister, Bd. 3: 1823-1831, Hamburg 1954, S. 206ff., 224 ff. 13 Gabler, Die Hegeische Philosophie. Beiträge zu ihrer richtigen Beurteilung und Würdigung, Berlin 1843.
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Teil II: Formierung
Bitter beklagt er sich darüber, daß die „Wildfänge" unter Hegels Schülern „die Lehren und Mysterien der Schule aus dem Frieden und Schatten der Hörsäle auf den öffentlichen Markt geschleppt, und das Schulgezänke darüber fast schon in einen Weltstreit verwandelt" 14 haben. Gewiß liegt in diesen Sätzen nicht nur ein Mißverständnis Hegels. Mit dieser Verteidigung geht aber zugleich Hegels Einfluß an der Berliner Universität ihrem Ende entgegen. Gabler kündigt zwar bis zu seinem Tode regelmäßig Veranstaltungen an, liest aber meist nur „privatim".
b.
Erste berufungspolitische
Reaktion: Heinrich Steffens
Heinrich (Henrik) Steffens (1773-1845) 15 hat bereits eine ehrenvolle akademische Laufbahn über Kiel, Jena, Freiberg (1800), Kopenhagen (1802), Halle (1804) und Breslau (1811) hinter sich, als er 1832 nach Berlin berufen wird. Er steht schon auf den ersten Professorenlisten der Jahre 1807 bis 1810 und macht seinen Anspruch damals auch durch Vorlesungen Über die Idee der Universitäten geltend, die er im Wintersemester 1808/09 in Halle hält und 1809 in Berlin publiziert. Steffens kann sich damals allerdings gegen Fichte nicht durchsetzen und wird an die Universität Breslau berufen, die im Zuge der preußischen Neuordnungen 1811 mit Frankfurt/ Oder zusammengelegt wird und als Zwischenstation für Berlin in den nächsten Jahrzehnten eine große Rolle spielt. Steffens steht in der Tradition der romantischen Naturphilosophie. In Jena befreundet er sich mit Schelling. Philosophisch bedeutsam sind die Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft von 1806 sowie die zweibändige Anthropologie von 1823. Steffens schreibt aber auch Novellen sowie zahlreiche religionsphilosophische und -politische Werke. Der alte Steffens ist allerdings in die Krise der romantischen Naturphilosophie geraten und zieht sich auf religiöse Positionen zurück. In Breslau engagiert er sich in den dortigen Auseinandersetzungen. Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) unterstützt eine kirchliche Reorganisation, die vor allem Lutheraner und Reformierte in eine Kirchenverfassung, Lithurgie und Union zu-
14 Zit. nach: Karl L. Michelet, Entwicklungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegeischen Schule, Berlin 1843, S. 398. 15 Publikationen Steffens' u.a.: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806; Über die Idee der Universitäten, Berlin 1809; Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden, Berlin 1817; Karikaturen des Heiligsten, 1819/21; Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben, Breslau 1823; Anthropologie, Breslau 1823; Polemische Blätter zur Beförderung der speculativen Physik, Breslau 1829; Wie ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Luthertum ist, Breslau 1831; Christliche Religionsphilosophie, Breslau 1839; Was ich erlebte, 10 Bde., Breslau 1840/44; Nachgelassene Schriften. Mit einem Vorwort von Schelling, Berlin 1846.
6.
Der Streit um Hegels Erbe
79
sammenfaßt. 16 Schleiermacher trägt gegen solche staatliche Eingriffe in das kirchliche Selbstorganisationsrecht Bedenken und publiziert 1824 eine pseudonyme Streitschrift Über das lithurgische Recht evangelischer Landesfürsten. Um 1830 eskalieren die Konflikte. Breslau ist ein Zentrum des Widerstands der Lutheraner, die sich gegen die Union als orthodoxe Altlutheraner formieren. Steffens gehört zu den Breslauer Professoren, die diesen strenggläubigen, freikirchlichen Separationskurs initiieren. Paradoxerweise ist es gerade dieser Widerstand gegen die staatliche Religionspolitik, der ihm den Ruf nach Berlin einträgt. 1831 begegnet Steffens nämlich dem damaligen Kronprinzen, der mit der staatlichen Einigungspolitik ebenfalls nicht einverstanden ist. Zu den ersten Amtshandlungen von Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) gehört es später, diese religionspolitischen Zwangsmaßnahmen auszusetzen. Nach seiner Begegnung mit Steffens wünscht der Kronprinz ihn für die Nachfolge Hegels; er plant also damals schon über den Willen der Fakultät hinweg die Restauration der Romantik in der Universität, die er als König dann durch die Berufung Schellings ins Werk setzt. Altenstein hat jedoch Bedenken, und Steffens kommt nur als besoldeter Extraordinarius. Im April 1832 tritt er sein Amt an.17 1835 wird er Mitglied der Akademie. Er liest nun vor allem Religionsphilosophie, Anthropologie, Naturphilosophie und Psychologie. In Berlin verkehrt er erneut in den Kreisen der verbliebenen Romantiker, unter anderem mit Rahel von Varnhagen (1771-1833) 18 und Bettina von Arnim (1785-1859). Der konservative Romantizismus des Königs bringt ihn abermals mit Schelling und Tieck zusammen. Sein alter Freund Schleiermacher verstirbt damals bald. Literarische Früchte der Berliner Zeit sind eine Christliche Religionsphilosophie (1839) sowie die zehnbändige Autobiographie Was ich erlebte. 1834/35 ist Steffens Rektor der Berliner Universität. In dieser Funktion verhindert er 1835 im letzten Moment die Habilitation von Theodor Mündt (1808-1861); ihn empört dessen „naive Darlegung einer Frivolität der Gesinnung, die mit aller Gewalt geistiger Darstellung sich geltend machen will" 19 . Dies bringt ihn beim „Jungen Deutschland" in den Ruf eines Reaktionärs.20 Mündt kann sich später dennoch in Berlin habilitieren, wird dann als Antwort auf sein Engagement im „Jungen Deutschland" nach Breslau versetzt und kehrt 1850 als Universitätsbibliothekar nach Berlin zurück; er gehört zu den führenden politischen Publizisten um 1848. 16 Siehe Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, 15. Aufl., Tübingen 1979, S.458ff.; über die protestantische Theologie nach Schleiermacher ebd., S. 460ff. 17 Vgl. dazu Hans-Jürgen Hube, Henrik Steffens in Berlin, in: Otto Lorenz u. Torleiv Skarstad (Hrsg.), Henrik Steffens (1773-1845), 1995. 18 Vgl. Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1958. 19 Schreiben vom 28.4.1835, UAHU Phil. Fak.1202, Bl. 84. 20 Siehe Richard Petersen, Henrik Steffens. Ein Lebensbild, Gotha 1884, S. 378ff.; vgl. auch Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2.1, Halle 1910, S. 363ff., 476ff.
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Teil II: Formierung
Von Karl Rosenkranz (1805-1879) ist eine anschauliche Schilderung von Steffens' Vorlesungsstil überliefert: „Wenn man durch den Flur der Berliner Universität in das Kastanienwäldchen nach hinten hin ausschreitet, so befindet sich zur Linken ein Auditorium, welches amphitheatralisch aufgerichtete Bänke hat und in der Mitte von vier hölzernen Säulen getragen wird [...] Der Saal war gedrängt voll. Der größte Theil der Zuhörer mußte stehen. Als Steffens sich endlich zum Katheder durchgearbeitet hatte, konnte ich ihn die ganze Stunde nicht sehn, weil ich hinter eine jener Säulen gepreßt war. Um so wunderbarer, um so geisterhafter wirkte seine Sprache auf mich ein. So etwas hatte ich noch nicht vernommen. Kraft und Wohlklang der Stimme vermählten sich hier mit einer Fülle der Phantasie, mit einem Reichthum von Kenntnissen, mit einer Frische urlebendigster Erzeugung, daß ich zum höchsten Entzücken fortgerissen wurde. Steffens sprach ganz frei und überließ sich mit völlig naiver Genialität dem begeisterten Drange seiner Gedanken. Ich habe ja viel vortreffliche Lehrer gehabt, aber einen solchen Genuß, wie Steffens, hat mir keiner gewährt." 21
Wie anders ist da der erste Eindruck, den Rosenkranz zuvor von Hegel gewonnen hatte! Nachdem er ein Kolleg bei dem eloquenten Henning besucht hatte, sieht er sich verpflichtet, nun auch die Veranstaltungen des Meisters zu besuchen. Doch er hält es bei Hegel nicht lange aus: „Wie er, dem glatten, gewandten Vortrag Schleiermachers gegenüber, sich in mühsame und schleppende Perioden erging, die er seltsam umherwarf, mit Husten und Tabacksschnupfen unterbrach und eine Sprache redete, die einem Sterblichen verschlossen schien. Ich bewunderte die Studenten, welche lautlos, als ob die Sphinx ihren mysteriösen Mund geöffnet habe, zu seinen Füßen saßen und oifenbar, was er sagte, verstehen mußten, da sie von dem nach meiner Meinung sich wiederkäuenden Vortrage sogar ganz ordentliche Hefte nachzuschreiben vermochten. So kümmerte ich mich denn um Hegel bei allem Respekt vor ihm nicht weiter, sondern blieb bei dem redegeläufigen Herrn von Henning stehen." 22
Rosenkranz gehört zu den treuesten Anhängern Hegels; er ergreift im religionsphilosophischen Streit mit Schleiermacher die Partei Hegels, betrachtet Hegels Philosophie als vollendete „Überwindung der Kant'schen Philosophie"23, hält Schelling im Sommer 1842 dessen eigene philosophische Anfänge vor 24 und schreibt Hegels Biographie.25 Damit steht er bald in der Defensive. Entzünden die Junghegelianer einen Parteienstreit um das Hegeische Erbe, so wirft der Nationalliberalismus nur noch einen polemischen Rückblick auf Hegel und seine Zeit, auf „Staatsvergötzung" und Machtstaatsgedanken.26 In Berlin geraten die Hegelianer allmählich ins akademische
21 22 23 24
Rosenkranz, Von Magdeburg bis Königsberg, Berlin 1873, S. 205 f. Ebd., S. 187. Rosenkranz, Geschichte der Kant'schen Philosophie, Leipzig 1840. Rosenkranz, Schelling. Vorlesungen gehalten im Sommer 1842 an der Universität Königsberg, Danzig 1843. 25 Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844. 26 Vgl. Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen, Berlin 1857; dagegen Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870; eindringliche Kritik der Wirkungsgeschichte Hegels dann bei Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Stuttgart 1921.
6.
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Der Streit um Hegels Erbe
Abseits. Die spekulative Gebärde wird bloße Rhetorik und Phrase. Michelet hält sich noch am besten. Paulsen27 hört ihn und andere „Art Fossilien" dort noch Anfang der siebziger Jahre. Neue philosophische Impulse gehen vom Hegelianismus nach Hegels Tod kaum noch aus. Die Notwendigkeit einer philosophischen Neubesinnung ist den besseren Köpfen klar. Sie artikuliert sich jenseits des Junghegelianismus zunächst in der Forderung nach psychologischer Forschung und einem Rückruf zu Kant. Neben Beneke ist hier Karl Fortlage (1806-1881) 2 8 zu nennen, der sich 1842 nach Berlin umhabilitiert und 1846 nach Jena wechselt. Schon 1832, ein Jahr nach Hegels Tod, macht Fortlage Die Lücken des Hegeischen Systems publik und knüpft daran die Forderung nach einer Rückkehr zu Kant an. Max Wundt rechnet Fortlages Kantauffassung zu den „frühesten Vorbereitungen des Neukantianismus" 28 . „Man wird in zukünftiger Zeit den ganzen Umfang unserer deutschen Philosophie seit Kant mit dem Namen der kantischen Schule belegen" 30 , schreibt Fortlage 1832. So kam es dann nach 1865.
c.
Die romantische
Mission
Schellings
Vor dem Hintergrund der Emanzipationen von der idealistischen Spekulation erscheint der Erbstreit um Hegel wie eine Ersatzhandlung. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen haben keinen eigenen Austragungsort. Das aufstrebende Bürgertum ist politisch machtlos; es gibt keine parlamentarische Repräsentanz. Durch die allgegenwärtige Zensur können sich die weltanschaulichen Gegensätze nicht offen äußern. So gerät die Debatte um das richtige Verständnis der Hegeischen Philosophie zu einer Stellvertreterdiskussion über die moralischen, rechtlichen und religiösen Ziele der Gesellschaft überhaupt. Voll Abneigung gegen die Hegeische Schule möchte Friedrich Wilhelm IV. gleich nach seiner Thronbesteigung 1840 für einen raschen Kurswechsel sorgen. Schon als Kronprinz bemühte er sich darum, scheiterte aber am Widerstand Altensteins. An
27 Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben, Jena 1910, S. 175. 28 Fortlage, Die Lücken des Hegeischen Systems der Philosophie. Nebst Andeutungen der Mittel, wodurch eine Ausfüllung derselben möglich ist, Heidelberg 1832; Die Stellung Kants zur Philosophie vor ihm und nach ihm, in: Deutsche Vierteljahresschrift 4 (1838), S. 91-123; Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant, Leipzig 1852; System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinnes, 2 Bde., 1855; positive Schätzung bei Johann Eduard Erdmann, Die deutsche Philosophie seit Hegels Tod, 1866; Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, Jena 1932, S. 412-426; Felix Würffei, Karl Fortlage in seinem Verhältnis zum Deutschen Idealismus, Halle 1939. 29 Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, S. 412. 30 Fortlage, Die Lücken des Hegeischen Systems, S. X.
82
Teil II: Formierung
diesem Mann, der seit 1817 das Unterrichtsministerium leitete und in Preußen zu einer Institution geworden ist, kam selbst ein Kronprinz nicht vorbei. Als Altenstein aber stirbt, nimmt der König im Frühjahr 1840 erneut Verbindung mit dem in München lehrenden Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) auf, um ihn zum Wechsel nach Berlin zu bewegen. Schelling ist im Laufe der Jahre zum Antipoden des Hegelschen Systemdenkens geworden. Seine Kritik an Hegel ist schon in seinen Münchner Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie von 1827 deutlich. Seine frühe naturphilosophische Systemspekulation hat er hinter sich gelassen und ist nun schon seit Jahrzehnten die philosophische Hoffnung der deutschen Romantik, die nach 1818 offen als Anwalt der religiösen und politischen Reaktion auftritt. Schelling lehrt glücklos in München, leidet unter der klerikalen Beschränktheit von Kollegen und Studenten, kommt nicht zum Abschluß eines angekündigten zehnbändigen Hauptwerkes, genießt aber die besondere Förderung durch das Bayrische Königshaus. Seit 1806 ist er Mitglied der Bayrischen Akademie, seit 1827 deren Präsident. Auch deshalb wird er 1832 schon Auswärtiges Mitglied der Preußischen Akademie. Durch diese Verbindungen kommt es 1842 zu einer ungewöhnlichen Lösung. Schelling wird nicht als Ordinarius nach Berlin berufen, da doch der Hegel-Lehrstuhl mit Gabler planmäßig besetzt ist; statt dessen kommt er als glänzend bezahltes Lesendes Akademiemitglied. Die Akademie-Mitgliedschaft wurde generell entlohnt; Schelling bezieht ein besonderes Salär. Für die Gegner Hegels liegt ein unwiderstehlicher Reiz darin, diesen zur Legende gewordenen Widersacher zu berufen. 31 In der Universität muß ein solches Ansinnen Empörung auslösen, obgleich Schellings mehrfach gedruckte Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums Erinnerungen an den jugendlichen Reformgeist wachhalten. Den neuen Minister für das geistliche Departement aber, Johann Albert Friedrich Eichhorn (1781-1854), verbindet mit seinem König die Sehnsucht nach einer romantischen Erneuerung. Also setzen sie die Entscheidung durch. Der Gesandte Preußens in Bern stellt die ersten Kontakte her. Nichts könnte die damaligen politischen Erwartungen an die Philosophie deutlicher illustrieren als die - schließlich auch zwischen den Monarchen - geführten Verhandlungen über Schellings Berufung nach Berlin. 32 Der König wirbt um den inzwischen 65jährigen Philosophen. Er läßt seinen Gesandten betonen, es gehe ihm nicht darum, „die erste Universität seines Reiches mit dem glänzenden Namen des
31 Vgl. dazu die Ausführungen bei Manfred Frank, Einleitung in: Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hrsg. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, S . 7 - 8 4 ; Frank verweist auch auf überraschende Wirkungen Schellings in den Linkshegelianismus und Anarchismus hinein: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, Frankfurt/M. 1975. 32 Vgl. Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 8f.; vgl. auch 42f.
6.
Der Streit um Hegels Erbe
83
ersten Philosophen zu schmücken". Nunmehr sei es eine „höhere Instanz", die ihn nach Berlin rufe, nämlich: „das Vaterland selbst fordere sein Kommen." Es gelte der „Drachensaat des Hegeischen Pantheismus, der flachen Vielwisserei und der Auflösung der häuslichen Zucht" ein Ende zu bereiten. Und so habe der Philosoph die Pflicht, „als Führer der Nation, als Retter aus dem Stillstand und der Versumpfung alles realen Lebens in Staat und Kirche sich vor den Thron seines Königs zu stellen." 33 Anfänglich widersteht Schelling dieser Werbung, gibt aber endlich nach. Doch der bayrische Hof stellt ihn nicht gänzlich frei: Kronprinz und König bestehen darauf, daß er lediglich beurlaubt werde. Schelling glaubt nur etwa ein Jahr zu benötigen, um die „Hydra des Hegelianismus und alles Sumpfgevögel, das aus der Niederung pantheistischer Denkweise und dem Gestrüpp moralischer und philosophischer Begriffsverwirrung" 34 aufgestiegen ist, zu vernichten. Schließlich komme es, wie er Eichhorn schreibt, nur darauf an, daß dem Berliner Publikum „ein Ausweg [...] gezeigt" 35 werde. Es bedarf, so schreibt er, „keiner, am wenigsten einer fortgesetzten Polemik, es bedarf nur, daß ihnen [den Berliner Hörern] als möglich dargetan werde, was sie für unmöglich halten - als möglich im Verein strengster Wissenschaftlichkeit, ohne Beeinträchtigung des freiesten Denkens, ohne irgend etwas aufzugeben, was wahre und echte Wissenschaft seit Kant wirklich errungen." 36 Hinter diesem Anspruch steht Schellings Überzeugung, daß Fichte und Hegel ohnehin nur „sein Brot" 37 gegessen haben. Richtiger ist wohl, daß alle drei von Kants „Brot" gezehrt haben. Großzügig ausgestattet, nimmt Schelling am 15. November 1841 seine Vorlesungen auf. Er kommt nach Berlin, in die „Metropole der Wissenschaft", um endlich den „großen Kampf 1 3 8 gegen Hegel auszufechten. Dabei hat er die Zusicherung des Königs, keiner
33 Ebd., S. 10. - Zitiert nach der Paraphrase des Schreibens des Preuß. Gesandten in Bern, Chr. K. J. von Bunsen, im Sommer 1840 an Schelling. 34 Zit. nach: Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 42.; vgl. Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente der Geschichte der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, hrsg. v. W. Weischedel, Berlin 1960, S. 337ff. 35 Brief an Eichhorn vom 5. Mai 1841, in: Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, S. 43. 36 Ebd., S. 43. - In seinem ersten öffentlichen Wort in Berlin, gesprochen auf dem ihm zu Ehren gegebenen Bankett des Ministers, drückt Schelling die Hoffnung aus, der Streit mit den „in eine Sackgasse" (ebd., S. 45) geratenen Hegelianern werde „ein wissenschaftlicher bleiben". In seiner ersten Vorlesung legte er dann großen Nachdruck darauf, daß durch ihn „nichts [...] verloren gehen werde, was seit Kant für die echte Wissenschaft gewonnen worden" (ebd., S. 46) sei. Vgl. dazu Axel Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt 1996. 37 Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 45 (Brief Schellings an Dorfmüller vom 10.9.1841). 38 So wird er mit einer Äußerung aus seiner Vorlesung im Wintersemester 1841/42 von Michelet glaubwürdig zitiert: Michelet, Entwicklungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, S. 10.
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Teil II: Formierung
Zensur unterworfen zu sein. Schellings Privileg wird zum exemplarischen Fall des „Grundrechts der deutschen Universität" 39 : der Lehrfreiheit. Doch es gelingt dem alten Schelling nicht mehr, seinen Anschluß an Kant deutlich zu machen. Noch vor Ablauf eines Jahres wird offenkundig, daß seine Mission scheitert. Die anfangs in großer Zahl herbeiströmenden Hörer warten vergeblich auf die rettenden neuen Gedanken. Das Interesse nimmt ab, während die Hegelianer wieder Zulauf haben. Der König und sein Minister verfolgen die Nachrichten über die rückläufigen Hörerzahlen mit Spannung. Der Mann mit der eindrucksvollen äußeren Erscheinung vermag durch die Aura seiner längst erfolgten Wirkung nur noch einzelne Hörer zu fesseln. Er liest zwischen 1841/42 und 1845/46 einige Semester Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung. Doch als absehbar wird, daß er bald vor leeren Bänken sitzt, da bittet er, sich auf seine schriftstellerische Tätigkeit zurückziehen zu dürfen. Die Dokumente der Enttäuschung und des Hohns sind zahlreich. Varnhagen von Ense schreibt am 21. Januar 1846 resümierend: „Schelling ist als Lehrer gar nicht zu nennen; niemand spricht mehr von ihm". 40 Das Scheitern von Schellings Berliner Mission könnte man als exemplarisch für das Ende der philosophischen Formierungsperiode der Universität ansehen. Denn die Produktivität der Philosophie scheint erschöpft. Mit Hegel ist eine Epoche des spekulativen Denkens zu Ende gegangen. Schelling ist ein letztes Aufgebot. Dies wird außerhalb der Philosophie längst erkannt. Mehr noch: In Berlin macht man lange vor Schellings Scheitern einen ganz anderen Neuanfang. Unter Verzicht auf eine philosophische Zentralperspektive begeben sich nämlich die Einzelwissenschaßen auf einen eigenen Weg zur philosophischen Erkenntnis.
d.
Voreiliger Triumph des Hegelianismus: Michelets philosophiegeschichtliche Apotheose
Im Erbstreit um Hegel wird dies jedoch nicht sogleich bemerkt. Der Hegelianismus verbucht das Scheitern Schellings als seinen Triumph. Karl Ludwig Michelet (1801-1893) 41 tut es nach dem Muster von Hegels Philosophiegeschichte. Er gehört 39 Diese bekannte Formulierung bei Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 89-118, hier: S. 118. 40 Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen, hrsg. v. X. Tillitte, Turin 1974, S.499; vgl. auch 445 ff. 41 Vgl. Karl Ludwig Michelet, Ethik des Aristoteles, 1827; ders., System der philosophischen Moral, 1828; ders., Anthropologie und Psychologie, 1840; ders., Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, 1841; ders., Die Epiphanie der ewigen Persönlich-
6.
Der Streit um Hegels Erbe
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noch zu Hegels persönlichem Schülerkreis. 1826 habilitiert er sich und wird 1829 außerordentlicher Professor. Nach dem Tode seines Lehrers macht er sich um die Sicherung von dessen Nachlaß verdient. Nach Schellings erstem Auftritt wehrt er dessen Ansprüche 1843 in einer eigenen, 1844 publizierten Vorlesung über den Entwicklungsgang der neuesten Deutschen Philosophie ab. Alles, was Schelling in Berlin lehre, sei längst in seinen früheren, „zum Theil schon seit sehr langer Zeit herausgegebenen Schriften" gesagt; es sei alles beinahe ebensolange widerlegt. Michelet läßt die Geschichte der Widerlegung Schellings mit der Berliner Philosophiegeschichte zusammenfallen. Nur Kant liegt dieser Historie voraus. Dann folgt Fichte, der von Schelling überflügelt wird. Aber Schelling muß schon im zweiten Dezennium den „Thron der Wissenschaft abtreten". An wen? Nun: an - Solger. Erst nach ihm - und damit erst mit seinem Wechsel nach Berlin - lehrt Hegel „als der unbestrittene Meister und Fürst der Philosophen" 4 2 . Diesen Entwicklungsprozeß parallelisiert Michelet nach einem durch Heinrich Heine (1797-1856) bekannt gewordenen Muster sogleich mit der Weltgeschichte: Kant stellt „die législative und constituante dar, welche die ersten Grundlagen der neuen Ordnung der Dinge aus dem Principe der subjektiven Freiheit s c h u f ' 4 3 . Fichte tritt als Jakobiner auf, der „mit zerstörender Wuth alle Unterschiede der Objecte und der Iche in Eine Gleichheit des Schafotts nivelliren will". Schelling komme dagegen zunächst das Verdienst zu, diese tödlichen Konsequenzen aus einem anderen Ursprung des Denkens abwehren zu wollen. Seine Reaktion indes habe die freiheitlichen Grundlagen des Denkens zerstört und ihrerseits extremistische Reaktionen provoziert: „Wie dann Napoleon aus dem freien Volke hervorgegangen war, begann auch Schelling mit den Freiheitsideen seines Identitätssystems, wie mit dem achtzehnten Brümaire, bis er sich allmählich zu einer Reaction wendete, die, gleich der Napoleonischen Politik, das ancien régime der Legitimität und die alte Autorität der kirchlichen Vorstellungen wieder herstellen wollte, das Princip des unabhängigen Denkens aber unterdrückte. [...] Wäre Schellings positives Christenthum nicht eine so verzerrte und widrige Gestalt, Bruno Bauer und Andere würden nicht offen die Vernichtung des Christenthums in Hoffnung und Aussicht stellen." 44
Michelet konzentriert alles philosophische Geschehen auf Berlin. Was nach Hegel kommt, weiß er nicht mit Gewißheit zu sagen. Sicher ist er sich nur, daß Schelling
keit des Geistes, 3 Bde., 1844-52; ders., Naturrecht oder Rechtsphilosophie als die praktische Philosophie, 2 Bde., 1866; ders., Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, 1870; ders., Hegel und der Empirismus, 1873; ders., Das System der Philosophie als exakte Wissenschaft, 4 Tie. in 5 Bdn., 1876-81. 42 Michelet, Entwicklungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, S. 220; vgl. ders., Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel, 2 Bde., Berlin 1837/38. 43 Ebd., S. 221. 44 Ebd., S. 221.
86
Teil II: Formierung
nicht wiederkehren wird. Nicht einmal als Kritiker habe er einen ernstzunehmenden Part. Denn Hegels Philosophie entwickele sich längst aus eigenem Impuls: „Seit jener glänzenden Zeit der Hegeischen Alleinherrschaft in der Philosophie hat sich eben alles Leben in ihrer Geschichte auf die Entwickelung und Fortbildung der Hegeischen Schule beschränkt; und das letzt verflossene Decennium gehört ausschließlich ihr. Noch ist sie aber in einem gährenden Kampfe nicht nur nach Außen, sondern auch in sich selbst begriffen; so daß die Zukunft der Philosophie sich noch längere Zeit mit ihr scheint beschäftigen zu wollen." 45
Diese Zuversicht, die neueste Philosophiegeschichte mit der Geschichte des Hegelianismus gleichzusetzen, trügt. In Berlin verliert die Hegeische Schule bald ihre beherrschende Stellung. Wie einst nach Fichtes Tod gerät die Berliner Philosophie über die Nachfolgerfrage in eine ernste Krise. Zwei unbefriedigende Antworten werden zunächst gegeben: Die eine ist die scheinbar einfachste und sicherste Lösung, Hegelianer und also Epigonen Hegels zu berufen: Gabler und Henning. Die andere ist der Versuch einer Restauration der Romantik: die Berufung Steffens' und später Schellings. Die Fakultät steht beiden Lösungen mit Vorbehalten gegenüber. Sie setzt auf eine dritte Variante: auf die Berufung Trendelenburgs sowie eine langjährige Enthaltsamkeit gegenüber übereilten Neubesetzungen. Die Berliner Philosophie erneuert sich im Zeichen strikter Philologie gegen die Spekulation; sie setzt sich in ein neues Verhältnis zu den Natur- und Geisteswissenschaften. Damit beginnt eine zweite Phase der Formierung des philosophischen Profils der Universität. An ihrem Ende steht die Hoffnung auf ein neues Integral philosophischer Forschung.
45 Ebd., S. 220.
7.
a.
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen
Hegelianismus
und Historismus
Der öffentliche Streit um die Auslegung Hegels wird von Angehörigen aller Fakultäten geführt. Die Theologen und die Juristen geben dabei den Ton an; aber auch die aufblühende Geschichtswissenschaft und die sich rasch entwickelnden Naturwissenschaften nehmen regen Anteil. Das hängt keineswegs bloß mit den personellen Verbindungen in der Berliner Universität zusammen. Die Notwendigkeit, zur beherrschenden Philosophie der Zeit Stellung zu beziehen, hat durchaus exemplarischen Charakter: Den Einzelwissenschaften wird in diesem Streit bewußt, daß sie nicht nur in ihren methodologischen Fragen, sondern vor allem in ihrem Selbstverständnis von philosophischen Grundfragen abhängig sind. Dies gilt insbesondere für die Geschichtswissenschaft. Institutionengeschichtlich ist die Abgrenzung der Philosophen von den Historikern schwierig. Beide gehören derselben Fakultät an, die noch nicht in verschiedene Institute unterschieden ist. Der Zug der Wissenschaft zur Positivität führt zudem dazu, daß sich die Philosophen zunehmend als Historiker verstehen. Schon Hegel expliziert seine logischen Spekulationen als historische Interpretationen. Allerdings zielt seine „philosophierende Geschichte der Philosophie" (I. Kant) in radikal präsentistischer Aneignung auf die historische Exposition der eigenen Philosophie. Die aktualisierende Übersetzung kennzeichnet dann den philosophischen Umgang mit der Geschichte bis heute.1 Dieser philosophischen Auffassung oder Aneignung opponieren die Historiker. Verstärkt fassen sie die philosophische Spekulation als Hypothese für die positive Geschichtsforschung auf. So schreibt Erich Rothacker2 die Entwicklung von Hegel und der Historischen Schule zu Dilthey als eine Geschichte der Umbildung der Philosophie zur positiven Geisteswissenschaft. In der Opposition gegenüber dem Hegelianismus begreift sich die Historische Schule verstärkt als Historismus. Die Opposition schärft ihr methodologisches Selbstbewußtsein. 1 So Ulrich Johannes Schneider, Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 1998, S. 212ff. 2 Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930.
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Savigny und Leopold von Ranke (1795-1886) gelten als Begründer der Historischen Schule. Beide stehen zu Hegel in ausgesprochenem Gegensatz. Zwar gibt es in der teleologischen Geschichtsauffassung und Weltgeschichtsschreibung zahlreiche Berührungspunkte zwischen Ranke und Hegel. 3 Doch Ranke akzeptiert Hegels philosophische „Theodizee" nie als genuin protestantisches Geschichtsbild. So entwickelt er seine Lehre von der „moralischen Energie" und „Individualität" der Nationen, ihrer „Unmittelbarkeit zu Gott", im ausgesprochenen Gegensatz zur Philosophie. Man kann dies als aufbrechenden Gegensatz zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie interpretieren und die Individualitätsanschauung des Historismus, wie Friedrich Meinecke (1862-1954) 4 , als einen säkularisierten Protestantismus deuten. Die religiöse Konnotierung trübt aber, jedenfalls bei Ranke, die methodologische Reflexion. Ranke äußert sich nur gelegentlich zu methodologischen Fragen. Seine wichtigsten Bemerkungen finden sich in seinem Politischen Gespräch von 1838, das weniger ein Schriftchen zur Wissenschaftslehre als eine Grundlegung der nationalpolitischen Perspektive auf Die grossen Mächte5 ist. Die Methodologie des Historismus steht in engem Zusammenhang mit einer politischen Geschichtsbetrachtung, die die Konstellation der großen Mächte unter den Primat der Außenpolitik stellt und die prekäre Mittellage Preußens unter den nationalpolitischen Gesichtspunkt einer „deutschen Sendung" rückt. Deren methodologische Rechtfertigung erfolgt später insbesondere durch Droysen und Max Weber (1864-1920), der sich ja auch in Berlin habilitiert. Johann Gustav Droysen (1808-1884) studiert seit 1826 in Berlin bei Boeckh und Hegel. Nebenbei ist er Hauslehrer von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847). Seine ersten Arbeiten gelten der Alten Geschichte. 1833 erscheint die Geschichte Alexanders des Großen. Noch in der ersten Berliner Zeit legt er Übersetzungen von Aischylos und Aristophanes vor. Von 1829 bis 1839 ist Droysen Privatdozent in Berlin. 1840 wechselt er nach Kiel und vollendet dort seine bahnbrechende Geschichte
3 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 191 ff. 4 Friedrich Meinecke begriff sich am Ende einer Berliner Tradition und verteidigte diese, indem er rückblickend Die Entstehung des Historismus (München 1936) beschrieb. Wenn Meinecke den „Kern des Historismus" als „individualisierende Betrachtung" und „Sinn für das Individuelle" (ebd., S. 2) definiert, so zeigt sich schon die Nähe der Motivlage zur philosophischen Tradition. Die Bedeutung dieses Historismus für die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaften betont: Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971; vgl. die einschlägigen Beiträge zu den Berliner Historikern im Sammelband von Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988; vgl. auch: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, hrsg. v. Reimer Hansen u. Wolfgang Ribbe, Berlin 1992. 5 Ranke, Das politische Gespräch und andere Schriftchen zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Erich Rothacker, Halle 1925; Die grossen Mächte/Politisches Gespräch, hrsg. v. Theodor Schieder, Göttingen 1955.
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des Hellenismus, die der gängigen Wertschätzung des klassischen Griechenland ein positives Bild des Hellenismus als Nationsbildungsprozeß zur Seite stellt. Als Prototyp des politischen Professors ist Droysen 1848 engagiert. 6 Ab 1859 wirkt er als Ordinarius in Berlin. Erst in dieser zweiten Berliner Zeit liest er regelmäßig über „Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" und gibt dafür 1868 als Vorlesungsleitfaden einen Grundriß der Historik heraus, der die erste systematische Reflexion auf das Verfahren der historischen Wissenschaften 7 enthält. Methodologisch rechtfertigt Droysen seine historiographische Parteilichkeit: „Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen als die relative Wahrheit meines Standpunktes, wie mein Vaterland, meine religiöse, meine politische Überzeugung, meine Zeit mir zu haben gestattet" 8 . Droysen geht dabei über den Rahmen einer disziplinaren Methodologie hinaus, entwirft eine Erkenntnistheorie der Geschichte und legt den Grund für eine philosophische Hermeneutik. Gleichzeitig arbeitet er seine Geschichte der preussischen Politik aus, die ein machtstaatliches „borussianisches Geschichtsbild" etabliert, das liberale Züge bewahrt. 9 Der philosophischen Selbstbesinnung der Historiker folgt die geschichtliche Selbstbesinnung der Philosophen. Johann Eduard Erdmann (1805-1896), Friedrich Adolf Trendelenburg (1802-1872), Eduard Zeller (1814-1908), Kuno Fischer (1824 bis 1907) und Friedrich Ueberweg (1826-1871) setzen in der philosophiegeschichtlichen Forschung die neuen Maßstäbe. Trendelenburg und Zeller sind über Jahrzehnte einflußreiche Ordinarien in Berlin. Erdmann und Fischer habilitieren sich dort. Ueberweg sitzt bei Trendelenburg im Seminar. Die Geburt der neueren Philosophiegeschichtsschreibung aus dem Geist des Hegelianismus ist das Werk Johann Eduard Erdmanns (1805-1896). Erdmann ist Pfarrerskind aus Livland. „Zu Schleiermacher war er gekommen, aber Hegel riß ihn in seine Bahn", schreibt Hermann Glockner l0 , der eine Monographie über Erdmann veröffentlichte und dessen vielbändigen Versuch einer wissenschaftlichen Dar6 Droysen. Politische Schriften, hrsg. v. Felix Gilbert, München 1933. 7 Dazu umfassend Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969; zur Stellung Droysens in der Geschichte der philosophischen Hermeneutik vgl. auch Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 199ff.; Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974, S. 89 ff. 8 Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, hrsg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1977, S. 236. 9 Dazu vgl. Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe und Sendung in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103-160. 10 Einführung, in: Hermann Glockner (Hrsg.), Johann Eduard Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 1, Neudruck Stuttgart 1932, S.7; vgl. ders., Johann Eduard Erdmann, Tübingen 1932; zu Erdmanns Hegelbild vgl. ders., Hegel, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 11 (1880), S. 254-274.
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Stellung der Geschichte der neuern Philosophie neu herausgab. 1828 kehrt Erdmann in seine livländische Heimat zurück und übernimmt dort 1829 die Pfarrstelle seines Vaters. 1830 promoviert er in Kiel aufgrund einer Disputation über den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie. 1833 ist er wieder in Berlin und habilitiert sich 1834 11 mit dem ersten Band einer großangelegten Philosophiegeschichte. 12 Wenige Semester nur lehrt er mit großem Erfolg in Berlin. 1836 wird er als Extraordinarius nach Halle berufen und lehrt dort jahrzehntelang neben Hermann Ulrici (1806-1884), der sich fast gleichzeitig in Berlin habilitiert. Aus der Hegeischen Schule stammend, versteht Erdmann sich damals als ein Vertreter der „speculativen Theologie" 13 , der von anthropologischen und psychologischen Fragen ausgeht 14 und Religionsphilosophie als „Phänomenologie des religiösen Bewusstseyns" begreift. 15 Er ist ein „philosophierender Theologe" 16, der predigt 17 und um 1848 - teils anonym - politische Schriften 18 veröffentlicht. Er konzentriert seine Arbeit dann weitgehend auf die Geschichte der Philosophie. Erdmann nimmt systematische Ansprüche durch Literarisierungen zurück. So entwickelt er seine Anthropologie nur in der literarischen Form „psychologischer Briefe" an eine Unbekannte in der „mystischen Rolle des N. N.". 19 Und die „Gesamtausgabe seiner jemals gehaltenen populären Vorträge", „theils neu theils längst vergessen", nennt er - frei nach Goethe - Ernste Spiele.20 Die Vorrede beschwört den Leser 11 UAHU, Phil. Fak. 1202, Bl. 30-38. 12 Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuem Philosophie, Riga 1834—1853: Bd. 1.1: Darstellung und Kritik der Philosophie des Cartesius nebst einer Einleitung in die Geschichte der neueren Philosophie, 1834; vgl. noch ders., Grundriß der Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Berlin 1866/70. 13 Erdmann, Vorlesungen über Glauben und Wissen als Einleitung in die Dogmatik und Religionsphilosophie, Berlin 1837; Natur oder Schöpfung? Eine Frage an die Naturphilosophie und Religionsphilosophie, Leipzig 1840; Die theologische und philosophische Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts, Leipzig 1849. 14 Erdmann, Leib und Seele nach ihrem Begriff und ihrem Verhältnis zu einander. Ein Beitrag zur Begründung der philosophischen Anthropologie, Halle 1837; Grundriss der Psychologie, Leipzig 1840; Grundriss der Logik und Metaphysik, Halle 1841. 15 Erdmann, Vermischte Aufsätze, Leipzig 1846, S. 62-117. 16 So im Nachruf Benno Erdmann (mit Johann Eduard nicht verwandt), in: Philosophische Monatshefte 29 (1893), S. 219-227, hier: 223, dort auch Bibliographie. 17 Erdmann, Rechenschaft von unserem Glauben. Reihe von Predigten, Halle 1834; Drei Predigten, Halle 1837; Die Liebe, die Freiheit und die Gerechtigkeit durch den Glauben. Drei Predigten, Halle 1841; Der neue Mensch, die eherne Schlange, der Gang nach Emmaus, Halle 1850; Sammlung aller Predigten, Halle 1867 u. a. 18 Erdmann, Über einige vorgeschlagene Universitätsreformen, Leipzig 1848; Philosophische Vorlesungen über den Staat, Halle 1851 ; Vorlesungen über akademisches Leben und Studium, Leipzig 1858. 19 Erdmann, Psychologische Briefe, Leipzig 1852, 7. Aufl., Leipzig 1896. 20 Erdmann, Ernste Spiele. Vorträge, theils neu theils längst vergessen, 4. Aufl., Berlin 1890; vgl. Sehr Verschiedenes je nach Ort und Zeit. Drei Vorträge, Berlin 1871.
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geradezu: „Dies Büchelchen enthält, wie der Titel sagt, Spiele, und er lügt nicht, es sind Spiele, nichts als Spiele". Die Themen lesen sich wie französische Aufklärungsessayistik: „Über Lachen und Weinen", „Über die Langeweile", „Über Putzsucht und Eitelkeit", „Über Schwärmerei und Begeisterung". So ist es wohl auch nicht ganz ernst gemeint, wenn Erdmann „Über die Stellung deutscher Philosophen zum Leben" schreibt: „Darum fort mit jeder Philosophie, die sich vom Leben trennt! Nur das ist uns Philosophie, was ganz Leben ist" 21 . Oder vielleicht doch? Jedenfalls nimmt Erdmann hier ein Thema auf, das die Berliner Philosophie von Fichte über Hegel, Schleiermacher und Steffens bis hin zu Dilthey, Simmel, Troeltsch und Spranger verbindet. Erdmann läßt seine These spielerisch in der Schwebe.
b.
Der Neuansatz Trendelenburg s
Von Anfang an steht Friedrich Adolf Trendelenburgs (1802-1872) Entwicklung unter Vorzeichen, die gegen Hegel gerichtet sind. Im ersten Semester besucht er 1824 Hegels Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, findet dessen Betrachtungsweise „sonderbar" und wechselt im Sommer 1825 zur Ästhetik-Vorlesung Schleiermachers über. Begeistert berichtet er darüber seinem Vater: „Ich wüsste nicht, wo ich mehr lernen könnte für die Gedankenentwicklung in mir und in anderen." 22 Vorrangig widmet er sich fortan der Philologie. August Boeckh wirkt „am tiefsten". Boeckh macht Trendelenburg mit der historischen Methode vertraut. 1825 tritt Trendelenburg eine großzügig honorierte Hauslehrerstelle an, die es ihm erlaubt, seine wissenschaftlichen Studien fortzusetzen. Schon im Mai 1826 erfolgt die Promotion. Da sein Zögling der Sohn des Schwagers von Altenstein ist, ergeben sich aus dem Arbeitsverhältnis noch andere Aussichten. Als sich Trendelenburg im Dezember 1832 an den Minister wendet, wird ihm eine ausserordentliche Professur „vertraulich" 23 zugesichert. Nach Hegels Tod wird Trendelenburg 1833 mit der Veröffentlichung seiner bahnbrechenden Ausgabe Aristotelis de anima habilitiert und zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität ernannt. Als seine Elementa logices Aristotelicae erscheinen und sein Weggang nach Kiel droht, wird seine Professur im Juli 1837 in ein Ordinariat umgewandelt. 1840 publiziert Trendelenburg erstmals seine Logischen Untersuchungen. Über Jahrzehnte vertritt er die Philosophie bis 1872, als Zeller sein Nachfolger wird, nahezu allein, da Gabler in der Fakultät kaum eine Rolle spielt und Schelling scheitert. Nach Hegels Tod ist er unstrittig der überragende Vertreter der
21 Erdmann, Über Lachen und Weinen. Über die Stellung deutscher Philosophen zum Leben. Zwei Vorträge, Berlin 1850, hier: 47; Wiederabdruck in: Erdmann, Ernste Spiele, S. 37. 22 Zit. in: Ernst Bratuschek, Adolf Trendelenburg, Berlin 1873, S. 45. 23 Ebd., S. 74f.
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Berliner Philosophie, der als Lehrer, Rektor und Kultuspolitiker, wie Köhnke 24 aus der Sekundärliteratur zustimmend zitiert, „ein volles Menschenalter die Berliner Universität" beherrscht. Er ist dreimal Rektor der Universität und fünfmal Dekan. Er ist über dreißig Jahre Mitglied der Prüfungskommission für das Schulamt und seit 1846 Mitglied der Akademie. Als v. Raumers „Rede zur Gedächtnisfeier König Friedrichs II." vom 28. Januar 1847 das königliche Mißfallen erregt und Raumer daraufhin seine Mitgliedschaft in der Akademie niederlegt, übernimmt Trendelenburg dessen Amt als Sekretär der „Historisch-philosophischen Klasse" und leitet sie von 1847 bis 1871, lange neben seinem einstigen Lehrer Boeckh. Trendelenburg formuliert seine Hegel-Kritik im Medium der Auseinandersetzung mit Aristoteles. Zur Abkehr von der Spekulation gehört die Pflege des philologisch disziplinierten Seminars. Trendelenburg gilt als ein Begründer dieser heute so selbstverständlichen Lehrform. Von Aristoteles' Kategorienlehre und deren Wirkungsgeschichte her geht er die Kritik der Hegeischen Dialektik an. 25 Er bestreitet Hegel die Möglichkeit eines „voraussetzungslos" reinen Denkens, verwirft die spekulative Logik und nimmt eine Umgestaltung zur Erkenntnistheorie vor, die er als „Theorie der Wissenschaft" in ein empfangendes Verhältnis zu den einzelnen Wissenschaften setzt. Auch Trendelenburg betrachtet die Philosophische Fakultät als die „eigentliche Grundlage, auf welcher die übrigen beruhen". Die Philosophische Fakultät solle „die wissenschaftlichen Keime" 26 der anderen Fakultäten enthalten. Universitäre Aufgaben habe sie schon deshalb, weil „blinde Voraussetzungen", „unbesehene Grundbegriffe" und „unerörterte Ursprünge" 27 in die einzelwissenschaftliche Theoriebildung unreflektiert miteingehen. Nie beschränkt Trendelenburg die philosophischen Aufgaben jedoch nur auf wissenschafts- und erkenntnistheoretische Aspekte. So wendet er alle Mühe darauf, den „Herrn Staatsminister" davon zu überzeugen, daß der Nachfolger Gablers auf dem Lehrstuhl für theoretische Philosophie imstande sein müsse, über die „philosophische Physik" sachverständig zu lesen. Als „Professor für das Fach der praktischen Philosophie und Pädagogik" berufen, sehe er sich „wegen des in den Naturwissenschaften unglaublich gewachsenen und täglich wachsenden Stoffes" 28 nicht mehr in der Lage, die philosophische Physik auch nur stellvertretend zu präsentieren.
24 Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1986, S. 43. 25 Dazu Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie. Erster Band: Geschichte der Kategorienlehre, Berlin 1846, Vorwort; dazu vgl. Peter Petersen, Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs. Ein Beitrag zur Geschichte des Aristoteles im 19. Jahrhundert, Hamburg 1913. 26 Trendelenburg, Die überkommene Aufgabe unserer Universität, Rektoratsrede am 3.9.1857, in: Kleine Schriften, 2 Teile, Leipzig 1871, Teil 2, S. 165-190, hier 178. 27 Trendelenburg, Logische Untersuchungen (1840), 2. ergänzte Aufl., Leipzig 1862, Bd. 1, S. 4. 28 UAHU, Phil. Fak. 1459, Bl. 157.
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Seine Philosophie entfaltet Trendelenburg systematisch vor allem in seinen 1840 erstmals erschienenen Logischen Untersuchungen. Seinen Einwand gegen Hegel macht er dabei an der Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein, Logik und Metaphysik fest. „Wie dringt denn das Denken in das Sein ein, das es nicht selber ist, und wie kommt das Sein in das Denken hinein, mit dem es nichts zu tun hat?" 29 Trendelenburgs - hier nicht zu diskutierende - Antwort ist von der Auseinandersetzung mit Aristoteles geprägt. Sie wirkt u.a. auf Wilhelm Dilthey (1833-1911) 30 . Wie die Sammlungen Historischer Beiträge zur Philosophie dokumentieren, setzt Trendelenburg sich unter den neueren Philosophen vor allem mit Leibniz und Herbart sowie Kant und Spinoza auseinander. Für die „strenge Einheit einer Grundansicht" verweist er auf seine - auf Dilthey wirkende - Akademie-Abhandlung Über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme von 1847. Und er bekundet eine Hoffnung: „Mögen diese .historischen Beiträge zur Philosophie' weder so historisch sein, dass sie unphilosophisch, noch so philosophisch, dass sie unhistorisch würden. Mögen sie auch ihres Theils das Ziel aller Philosophie in sich tragen, dass das Ideale im Realen und das Reale im Idealen erkannt werde" 31 .
In seiner grundlegenden Abhandlung typisiert er drei mögliche „Stellungen" oder Systeme: Demokritismus, Piatonismus und Spinozismus. 32 Er klassifiziert die diversen Autoren nach den letztmöglichen Standpunkten und sieht unvereinbare „Weltansichten" im „ K a m p f . Der Gegensatz von Kraft und Gedanken ist nach Trendelenburg letztlich ein „Kampf zwischen Physik und Ethik" 33 . „Die neuere Zeit liebt die Materie", bemerkt er: „Indessen liegt hier ein Wendepunkt der Betrachtung. Wer etwas mit der wirkenden Ursache macht, wer sie benutzt, trägt den Zweck, trägt einen höheren Gedanken auf ähnliche Weise in sich, wie das organische Leben die wirkenden Ursachen den Zwecken des Ganzen unterwirft. Jene Verherrlichung aller Kräfte geschieht doch im Namen eines Gedankens, der sie erkennt oder sie benutzt. Es ist zu hoffen, dass dieses Uebergewicht der Physik sich im Fortgang dem ursprünglichen Gedanken nicht widersetzen, sondern ihn mit ihrer Macht ausstatten werde"34.
Trendelenburg hofft also auf eine Bekräftigung der teleologischen Weltansicht durch die Naturwissenschaften. „Das Organische und das Ethische steht im Bunde; denn das Ethische ist das sich selbst erkennende, das bewusst und frei gewordene Organische" 35 . Von diesem Ansatz her modifiziert Trendelenburg Kants Ethik und diesen 29 30 31 32 33 34 35
Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 1, S. 132. Dazu Joachim Wach, Trendelenburg und Dilthey, Tübingen 1926. Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1855, Vorwort. Ebd., S. lOff. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28.
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Rechtsbegriff. Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik schließt mit drei Thesen zur Vereinbarkeit des Aristoteles mit Kant. Die zweite lautet: „Kant hat bewiesen, dass der reine Wille der gute Wille ist; aber Kant hat nicht bewiesen, dass der reine Wille kein empirisches Motiv, kein Objekt der Erfahrung haben könne. Es fehlt der Übergang von dem guten und reinen Willen in abstracto zum wirklichen Willen. In der Richtung des Aristoteles liegt ein Princip, das den guten Willen nicht aufgiebt, sondern erfüllt." 36
1860 publiziert Trendelenburg ein umfangreiches Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. Seinen Rechtsbegriff erläutert er auch in einigen Akademiebeiträgen. Er geht dabei von Kant aus, setzt aber „das Sittliche dem Recht" voraus und definiert: „das Recht sei im sittlichen Ganzen der Inbegriff derjenigen allgemeinen Bestimmungen des Handelns, durch welche es geschehe, dass das sittliche Ganze und seine Gliederung sich erhalten und weiterbilden kann" 37 . Dieser teleologische Aspekt der Selbsterhaltung eines rechtlich formierten sittlichen Ganzen führt Trendelenburg zur politischen Historie. Von Amts wegen ist es ihm immer wieder aufgetragen, „vaterländische oder wissenschaftliche Feste mit einem Vortrag einzuleiten" 38 . Er scheut dabei die „königliche Betrachtung" der Dinge nicht.39 Der ganze erste Band seiner Kleinen Schriften ist der „vaterländischen Geschichte" Preußens und insbesondere Friedrich dem Großen gewidmet. Trendelenburgs vaterländische Festreden sind aus preußischer Perspektive in die politischen Auseinandersetzungen vor der Reichsgründung hinein geschrieben; sie bekunden kein distanziertes politisches Denken. Trendelenburgs Abstand zum aufkommenden Neukantianismus wird in den 60er Jahren in einer großen Kontroverse mit Kuno Fischer (1824-1907) deutlich. 40 Als Student sitzt Fischer bei Trendelenburg im Seminar. 1850 habilitiert er sich in Heidelberg und verfaßt dann seit den 50er Jahren seine wegweisende Geschichte der neueren Philosophie. Zunächst erscheinen die Bände über Descartes, Spinoza und Bacon. Als Fischer in Heidelberg wegen seines „Pantheismus" entpflichtet wird, habilitiert er sich 1855 in Berlin.41 Doch auch in Berlin gibt es Schwierigkeiten. Nachdem das Habilitationsverfahren von seiten der Fakultät schon erfolgreich abgeschlossen ist, suspendiert der Minister v. Raumer die Habilitation aus politischen Motiven. Daraufhin setzt Alexander von Humboldt (1769-1859) sich persönlich beim König für Fischer 36 Trendelenburg, Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik, in: Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 3, S. 1 7 1 - 2 1 4 , hier 213. 37 Trendelenburg, Die Definition des Rechts. Zur Kritik und Erwiderung (1862), in: Kleine Schriften. Zweiter Theil, S. 8 1 - 9 0 , hier 87. 38 Trendelenburg, Kleine Schriften. Erster Theil, Vorwort. 39 Trendelenburg, Die königliche Betrachtung der Dinge und das Wesen der Wissenschaft, in: Kleine Schriften. Zweiter Theil, S. 6 6 - 8 0 . 4 0 Dazu die scharfe Kritik an Fischer bei Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 195ff.; vgl. auch: Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena, Jena 1932, S. 3 8 4 f f . 41
Vgl. dazu Schneider, Philosophie und Universität, S. 281 ff.
7.
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ein, und der König begrüßt die Erteilung der Venia legendi, um Fischer eine Berliner Zukunft nicht zu verschließen. 42 Derselbe König, der Hegel ein für allemal vergessen machen wollte, verschafft einem prominenten Vertreter des Hegelianismus nun die Lehrbefugnis. Fischer wird dann direkt nach Jena berufen, weshalb er nie in Berlin lehrt. 1860 erscheint Fischers ebenso wegweisende wie umstrittene Kant-Darstellung. Als Trendelenburg diese Darstellung 1862 in der zweiten Auflage seiner Logischen Untersuchungen ignoriert, entzündet Fischer eine Polemik, die Ende der 60er Jahre eskaliert. Trendelenburg publiziert 1869 eine Broschüre Kuno Fischer und sein Kant, die Fischer 1870 mit einem Anti-Trendelenburg sehr unsanft repliziert. Die Kontroverse hat große Bedeutung für die Entstehung eines erkenntnistheoretisch ausgerichteten Neukantianismus. Köhnke bezeichnet Cohens Begründung des Marburger Neukantianismus durch eine Theorie der „Erzeugung des Gegenstandes" als ein „Resultat der Fischer-Trendelenburg-Debatte". 43 Ein anderes Resultat ist es, daß sich der Neukantianismus damals in der Ära Trendelenburg in Berlin nicht entfaltet. Nicht nur Trendelenburg bleibt auf Abstand zur erkenntnistheoretischen Programmatik des Neukantianismus, sondern auch zahlreiche Schüler dieses „großen Unbekannten" (Köhnke) der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts fügen sich nicht dem neukantianischen Programm. Berlin wird keine Hochburg des Neukantianismus. Hauptvertreter wie Kuno Fischer, Friedrich Albert Lange und Hermann Cohen lehren niemals in Berlin. Erst jüngere Vertreter wie Paulsen, Riehl und später Benno Erdmann werden berufen, als der Neukantianismus sich schon zur strengen Kantphilologie fortentwickelt hat.
c.
Berliner Philosophie im Zeichen philologischer Eduard Zeller
Kritik:
1872 tritt Eduard Gottlob Zeller (1814-1908) die Nachfolge Trendelenburgs an. Er ist schon 1853 für die Nachfolge von Gabler im Gespräch, damals jedoch noch umstritten; 44 am 10. Februar 1872 wird er endlich an „erster und einziger Stelle" 45 von der Fakultät vorgeschlagen und im Juli 1872 ernannt. 46 Gleichzeitig wird er Mitglied der Akademie. Der Wechsel Zellers ist Teil einer Berufungswelle nach der Reichs42 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 2.2, Halle 1918, S. 290 ff. 43 Dazu vgl. Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, Würzburg 1994, S. 107 ff. 44 UAHU, Phil. Fak. 26, Bl. 88. 45 UAHU, Phil. Fak. 1459, Bl. 383. 46 UAHU, Phil. Fak. 1459, Bl. 389.
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gründung. Die Universität der Hauptstadt kann nun als „Endstationsuniversität" renommierte Ordinarien jeder Herkunft für sich gewinnen. Mehr als jede andere Universität beruft Berlin von Anfang an weitgehend leistungsbezogen. Herkunft und Konfession spielen eine geringere Rolle. 47 Berlin hat bei weitem die höchste Quote von Ordinarienberufungen und die geringste Abwanderungsquote. Nur 6 von 95 zwischen 1810 und 1914 berufenen Geisteswissenschaftlern verlassen Berlin wieder, um an einer anderen Universität zu lehren. Dies sind entweder Hausberufene, die den Makel tilgen, oder Heimkehrer, die in ihre Heimat zurück wollen: wie Heinrich Wöljflin (1864-1945) und Andreas Heusler (1865-1940). 48 Nach der Reichsgründung ist Berlin unbestritten die erste Adresse. Berlin ist nun nicht nur Endstationsuniversität für die preußischen Einstiegs- und Aufstiegsuniversitäten, wie Breslau und Halle, sondern kann verstärkt Ordinarien aus allen deutschen Ländern gewinnen. Nicht nur Göttingen und Bonn, sondern selbst die großen nichtpreußischen Enduniversitäten München und Wien verlieren renommierte Gelehrte an Berlin. Eine „Welle von Abberufungen Wiener Geisteswissenschaftler an die Berliner Universität" 49 , bei der zwischen 1875 und 1886 fünf Wiener Geisteswissenschaftler nach Berlin wechseln, ist ein kleines Nachhutgefecht zur kleindeutschen Reichsgründung, ein universitätspolitisches Königgrätz. Auch Heidelberg verliert überragende Gelehrte wie Helmholtz und Zeller an die Reichshauptstadt. „Die Besten zu berufen, war das Prinzip der Berliner Berufungspolitik in den Geisteswissenschaften - und dies seit der Gründung der Universität" 50 , schreibt Marita Baumgarten in ihrer nüchternen sozialhistorischen Statistik der Prestige- und Rangordnung der deutschen Universitäten. Die Berufung Zellers ist damals zweifellos eine solche prestigeträchtige Entscheidung. Zeller promoviert 1836 in Tübingen zum Doktor der Philosophie mit einer Abhandlung über Piatons Nomoi.51 1840 wird er Privatdozent der Theologie. Bald schließt er sich der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs (1792-1860) 52 an. Für diese Schule begründet er 1842 die Zeitschrift Theologische Jahrbücher. Noch 1860 publiziert er eine anonym erschienene Schrift über Die Tübinger historische Schule.52 Wie Baur teilt er damals die verbreitete Ablehnung von David Friedrich
47 Dazu vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 121 f. u. ö. 48 Ebd., S. 179f. 49 Ebd., S. 183, vgl. 170f. 5 0 Ebd., S. 47, vgl. 60, 274. 51 Vgl. Zeller, Platonische Studien, Tübingen 1839. 5 2 Dazu vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Zollikon 1952, S. 450ff.; vgl. auch Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, S. 6 6 f f . 53 Abdruck dann in Zeller, Vorträge und Abhandlungen. Erste Sammlung, 2. Aufl., Leipzig 1875, S. 2 9 4 - 3 8 9 ; vgl. ders., Ferdinand Christian Baur, ebd., S. 3 9 0 - 4 7 9 ; Zellers theologiegeschichtliche Selbstverortung nach Schleiermacher, Baur und Strauß geht deutlich aus dieser ersten
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Strauß54 nicht. Als „Tübinger Mitarbeiter von Ruges Hallischen (Deutschen) Jahrbüchern mit dem unbesonnenen Radikalismus [aber] nicht zufrieden, mit dem sich diese immer unbedingter in die Arme warfen" 55 , gründet Zeller 1843 Jahrbücher der Gegenwart. Auch er ist also ein Mann des Vormärz. Seit den vierziger Jahren erscheint die erste Auflage der später überarbeiteten Philosophie der Griechen. Dennoch sieht Zeller für sich als „liberaler Theologe oder Philosoph" unter der Herrschaft der „theologischen Reaktion" in Deutschland kaum akademische Aussichten. Er geht deshalb 1847 zunächst nach Bern, wechselt 1849 trotz dortiger heftiger Widerstände 56 nach Marburg und dann bei nächster Gelegenheit 1862 nach Heidelberg, von wo er die „Neugestaltung der deutschen Verhältnisse" und den „gewaltigen Kampf des geeinigten Deutschlands zur Abwehr des französischen Übermutes" 57 lebhaft begrüßt. Einen Ruf nach Wien lehnt der Befürworter der kleindeutschen Lösung „sofort" ab. Aber auch den Ruf nach Berlin, der nach dem Tode Trendelenburgs bald ergeht, nimmt er nicht gleich an. Erst als Helmholtz „persönlich im Auftrag der Regierung" 58 anreist und der Finanzminster das außergewöhnlich hohe Gehalt bewilligt, gibt Zeller seine Bedenken bezüglich seines fortgeschrittenen Alters auf: Zum Zeitpunkt seiner Berufung, 1872, ist er bereits 58 Jahre alt. Dies ist nicht so ungewöhnlich wie heute, weil die Ordinarien - so auch Dilthey, Stumpf und Riehl - bis ins hohe Alter lehren. In Berlin wird Zeller sogleich in die Akademie gewählt. 1878 ist er Rektor der Universität. Zu seiner Lehrstuhlübernahme bringt er eine umfangreiche Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz59 mit. In Berlin hält und publiziert er zunächst
Sammlung von Vorträgen und Abhandlungen sowie der dritten Abteilung seiner Kleinen Schriften (Bd. 3, 1911) hervor, die die vorwiegend aus der Jahrhundertmitte stammenden Abhandlungen zur Theologie und Kirchenpolitik dokumentiert. Wenn diese Sammlungen mit Abhandlungen zur „Entwicklung des Monotheismus bei den Griechen" sowie zur „Annahme der Perfektibilität des Christentums" eröffnen, so ist angedeutet, daß Zeller sein christlich-dogmatisches Interesse auch bei seiner Philosophiegeschichte der Antike nicht völlig suspendiert hat. 54 Dazu vgl. Zeller, Strauß und Renan, in: Historische Zeitschrift 12 (1864), S . 7 0 - 1 3 3 ; ders., David Friedrich Strauß in seinem Leben und seinen Schriften geschildert, Bonn 1874; David Friedrich Strauß, in: Allgemeine deutsche Biographie 36(1893), S. 538-548;AusgewählteBriefe von David Friedrich Strauß, herausgegeben und erläutert von Eduard Zeller, Bonn 1895. 55 Zeller, Erinnerungen eines Neunzigjährigen, Stuttgart 1908, S. 136. 56 Dazu Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 49ff. 57 Zeller, Erinnerungen, S. 185; Zeller publizierte 1870 in den Preußischen Jahrbüchern eine Abhandlung: Das Recht der Nationalität und die freie Selbstbestimmung der Völker. 58 Ebd., S. 189; dazu vgl. ders., Vom 90. Geburtstag, in: Zeller, Kleine Schriften, Bd. 3, Berlin 1911, S. 461-464. 59 Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 1873, 2. Aufl. München 1875; die Darstellung reicht bis in die jüngste Gegenwart. Ein Fazit dieses Durchgangs ist die Berliner Antrittsrede „Über die gegenwärtige Stellung und Aufgabe der deutschen Philosophie".
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Teil II: Formierung
Vorlesungen zum Verhältnis von Staat und Kirche60, um - wie er in seinen Erinnerungen schreibt - dem „Berliner Freisinn" mit einer Betonung der „unveräußerlichen Aufsichtsrechte des Staates über die Religionsgemeinschaften" entgegenzutreten. Wenn Zeller dabei für die Trennung von Staat und Kirche plädiert und die Kirchen als „relativ selbständige Gesellschaften im Staate" anerkannt wissen will, setzt er protestantische Flagge im damaligen Kirchenkampf und optiert nationalliberal für die politische Selbständigkeit des jungen Reiches. Aus Süddeutschland kommend, bekennt sich Zeller demnach zum protestantischen Preußentum. 1886 publiziert er die umfassende Monographie Friedrich der Große als Philosoph.6I Max Dessoir (1867-1947) 62 berichtet, daß Zeller seine Hauptvorlesung gewissermaßen im Angesicht der Majestät vorzugsweise gegenüber dem Palais des alten Kaisers hielt, als noch täglich die Wache aufzog und „den sich zeigenden Herrscher mit dem ,Heil Dir im Siegerkranz'" begrüßte. Obgleich er sein philosophiehistorisches Werk schon vor seiner Berliner Zeit weitgehend abgeschlossen hat,63 ist Zeller noch Jahrzehnte in der Fakultät präsent. 1888 ist er Mitbegründer des Archivs für Geschichte der Philosophiedas er mit einem programmatischen Beitrag Die Geschichte der Philosophie, ihre Ziele und Wege eröffnet. Erst 1894, achtzigjährig, läßt er sich emeritieren und zieht in seine württembergische Heimat nach Stuttgart zurück. Dennoch bleibt er am Berliner Fakultätsleben weiterhin brennend interessiert. Den besten Eindruck vermittelt der sorgsam edierte Briefwechsel 65 mit Hermann Diels (1848-1922) und Hermann Usener (1834-1905), der bis in Zellers Todesjahr 1908 reicht. Zeller tritt nicht nur als Religions- und Kirchenhistoriker, Religionsphilosoph und Historiker der Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung hervor.66 60 Zeller, Staat und Kirche. Vorlesungen an der Universität zu Berlin gehalten, Leipzig 1873. 61 Vgl. dann Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci, Berlin 1942; vgl. zuvor schon die zahlreichen Akademiereden Trendelenburgs über Friedrich II., in ders: Kleine Schriften. Erster Teil, S. 1-272. 62 Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S. 173. 63 In die Berliner Zeit fällt die Veröffentlichung des Grundrisses der Geschichte der griechischen Philosophie, 1883. 64 In Gemeinschaft mit Hermann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann und Eduard Zeller herausgegeben von Ludwig Stein. Der Zeller-Schüler Stein berichtet über seine Initiative zur Zeitschriftengründung in seinen Erinnerungen A MÍ dem Leben eines Optimisten, Berlin 1930, S. 28 f. 65 Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller: Briefwechsel, hrsg. v. Dietrich Ehlers, 2 Bde., Berlin 1992. 66 Zwischen 1844 und 1852 erschien seine vielbändige Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Vgl. insgesamt Zeller, Kleine Schriften, 3 Bde., Berlin 1910/11; zu Zellers wegweisender Bedeutung vgl. Werner Jaeger, Die Entwicklung des Studiums der griechischen Philosophie seit dem Erwachen des historischen Bewußtseins, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 6 (1952), S. 200-221; vgl. auch Diltheys Nachruf auf Zeller, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 267-278.
7.
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen
99
Er äußert sich immer wieder auch zu systematischen Themen, allerdings meist nur im Zusammenhang offizieller Anlässe. Für die Aufgabenbestimmung der Philosophie geht er von der Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aus.67 Während die Geisteswissenschaften positive Geschichtswissenschaften sind, sei die Philosophie eine systematische Wissenschaft von den allgemeinen Formen und Methoden des Denkens: Logik und Erkenntnistheorie.68 Die Philosophie knüpfe den „Zusammenhang aller Wissenschaften", der das Wesen der Universität ausmache.69 Zeller bekennt sich zu einem „Kriticismus", der spekulative „Constructionen" meidet. Die Berliner Antrittsrede Über die gegenwärtige Stellung und Aufgabe der deutschen Philosophie70 fordert eine „Rückkehr zur Erfahrung". Die Geschichte der Philosophie empfiehlt Zeller als eine solche „Hülfe" zum Zwecke des philosophischen Unterrichts, „dass man philosophiren lerne". Zwischen Geschichte der Philosophie und systematischer Philosophie müsse eine „Arbeitstheilung" stattfinden. Der Historiker habe seine kritische Würdigung der Systeme auf die problemgeschichtliche Betrachtung zu beschränken. Zeller tritt in Berlin also mit einer strikten Selbstbeschränkung auf die geschichtliche Betrachtung an. Allerdings beansprucht er mit seiner dritten Sammlung von Vorträgen und Abhandlungen 1884 auch, daß seine Schriften als „Bausteine" und „Theile Eines Gebäudes" zur „Lösung der wissenschaftlichen Aufgaben" der Gegenwartsphilosophie „systematisch" gedacht seien.71 Solche Bausteine sind die Studien Über teleologische und mechanische Naturerklärung in ihrer Anwendung auf das Weltganze (1876), Über die Gründe unseres Glaubens an die Realität der Aussenwelt (1884) 72 , Über Metaphysik als Erfahrungswissenschaft (1895) sowie Über Systeme und Systembildung (1899)73. Die Nähe dieser späten systematischen Problemstellungen zu Dilthey ergibt sich schon aus den Titeln und geht nicht zuletzt auf die gemeinsame Wertschätzung von Helmholtz 74 zurück. Zeller teilt indes Diltheys Weltanschauungslehre nicht. Sein Philosophiebegriff ist von der Erfahrung
67 Zeller, Über die Aufgabe der Philosophie und ihre Stellung zu den übrigen Wissenschaften (1868), in: Vorträge und Abhandlungen, Zweite Sammlung, Leipzig 1877, S. 445-466. 68 Zeller, Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie, in: Vorträge und Abhandlungen, Zweite Sammlung, S. 479-526. 69 Vgl. dazu Zeller, Über akademisches Lehren und Lernen (1879), in: Vorträge und Abhandlungen. Dritte Sammlung, Leipzig 1884, S. 84-107. 70 Ebd., S. 467-478, bes. 475 ff. 71 Zeller, Vorträge und Abhandlungen. Dritte Sammlung, Vorwort. 72 Ebd., S. 225-285; in dieser Sammlung Berliner Studien finden sich u.a. auch zwei Beiträge zur praktischen Philosophie: Über das Kantische Moralprincip und den Gegensatz formaler und materialer Moralprincipien (1879); Über Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze (1882). 73 In: Zeller, Kleine Schriften, Bd. 2, Berlin 1910, S. 553-565 u. 566-585. 74 Zu dieser Schlüsselbedeutung von Helmholtz für die damalige philosophische Diskussion vgl. Hans-Ulrich Lessing, Dilthey und Helmholtz. Aspekte einer Wirkungsgeschichte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 819-833.
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Teil II: Formierung
der Überhebung des Kantischen Kritizismus in die spekulative „Construction" geprägt. Deshalb beschränkt er sich trotz seiner Unterscheidung der Aufgaben systematischer Philosophie von den Geisteswissenschaften auf die historisch-philologische Selbstkritik systematischer Ansprüche durch die Geschichte der Philosophie.
d.
Ein vergessener Ordinarius: Friedrich
Harms
Der Ordinariatskollege, den Zeller 1872 in Berlin vorfindet, teilt seine behutsame Annäherung an systematische Aufgaben: Von 1867 bis zu seinem Tode hat der heute fast vergessene Friedrich Joachim Simon Harms (1819-1880) den Lehrstuhl für theoretische Philosophie inne. Harms kommt zwischen zwei Rufen an Lotze 1867 als Ordinarius nach Berlin auf den lange verwaisten Lehrstuhl Gablers. Er hat in Kiel und Berlin Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie studiert. Sein Berliner Lehrer ist Heinrich Ritter, in Kiel beeinflußt ihn H. M. Chalybäus, der dem Kreis der spekulativen Theisten um I. H. Fichte angehört. 1842 habilitiert er sich in Kiel und wird dort 1858 ordentlicher Professor. Kiel steht damals im Brennpunkt der Konfliktlinien um die Einigungsprozesse zwischen Dänemark und Deutschland, Österreich und Preußen. 75 Preußen kann bei seinen Annexionen in Norddeutschland, nicht nur Schleswigs und Holsteins, allenfalls die höhere Legitimität der nationalen Einigung gegen den Bundesbruch für sich geltend machen. Es setzt dann aber eine deutsche Sendung Preußens und die kleindeutsche Lösung politisch voraus. Sie führt zum preußisch-österreichischen Krieg. Ein Wortführer der nationalen Legitimität der preußischen Politik in Norddeutschland ist damals Theodor Mommsen (1817-1903). In diesem Konflikt steht Harms auf seiten der preußisch-deutschen Partei gegen Dänemark und Österreich und wird daraufhin Rektor der Kieler Universität. Er hat sich also nicht nur philosophisch verdient gemacht. Nach seiner Berufung 1867 nach Berlin publiziert er 1868 Abhandlungen zur systematischen Philosophie, die er mit einer Abhandlung Über den Staat eröffnet. Wie Zeller erklärt sich auch Harms bei seinem Amtsantritt öffentlich für den preußischen Staat. Ein solches politisches Antrittsbillett ist damals für einen Ordinarius offenbar beinahe noch obligatorisch. Fichte, Hegel, Trendelenburg, Zeller, Harms, später Dilthey: Sie alle haben sich energisch zu Preußen bekannt. Wie Zeller begreift Harms die Philosophiegeschichte als einen Zugang zu den eigentlichen systematischen Aufgaben. Die Philosophiegeschichte ist ihm die „wahre
75 Zur überaus verwickelten Rechtslage ausführlich Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, S. 449ff.; dort findet sich auch der Verweis auf Theodor Mommsen als Wortführer des nationalstaatlichen Legitimitätsanspruchs der preußischen Politik (ebd., S. 552ff. bzw. 582f.).
7.
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen
101
Propädeutik für die Systematische Philosophie"76. Auf einen behutsamen Zugang zur Systemphilosophie über die Philosophiegeschichte sieht Harms sich durch die Entwicklung des Hegelianismus zum „Anthropologismus" verwiesen. Er kritisiert diesen als einen Anthropomorphismus, der ein philosophisches Verhältnis zu den Erfahrungswissenschaften verunmöglichte.77 Von der Erfahrung des Scheiterns der zeitgenössischen Philosophie an dieser Aufgabe her sucht er die Möglichkeit der Grundlegung eines „Systems der Philosophie" neu zu erkunden. Seine Prolegomena zur Philosophie laufen auf eine Konfrontation des „skeptischen Realismus" mit dem „dogmatischen Idealismus" hinaus. Die philosophischen Grundbegriffe orientiert er an der Entwicklung der exakten Wissenschaften. Dabei entdeckt er innerhalb der besonderen Wissenschaften schon eine Tendenz auf die „Erhebung einer besonderen Wissenschaft zur Grundwissenschaft", die die Aufgabe philosophischer Klärung stellt. Harms unterscheidet dabei den besonderen Zugang über das „Wissen selbst" von der Selbstbezüglichkeit des „zweifelsüchtigen Denkens": „Die Möglichkeit einer Lösung des Problems der Philosophie hängt davon ab, ob sie aus dem zweifelsüchtigen Denken oder dem Wissen selbst die Grundsätze des Erkennens und die Forderungen des Denkens zu gewinnen versucht. Nicht aus der Zweifelsucht des Denkens, sondern aus der Untersuchung über die Erfahrung geht die Wissenschaftsbildung hervor" 7 8 .
So erhebt er beispielsweise die Psychologie nicht zur Grundwissenschaft, sondern betont deren Abhängigkeit von philosophischen Vorentscheidungen: „Unter allen Disciplinen der Philosophie hat keine ein wechselvolleres Schicksal gehabt als die Psychologie. In der That ist sie eine untergeordnete Disciplin der Philosophie, deren Lehren daher stets abhängig sind von den Systemen der Philosophie und ihren allgemeinen Theilen [...] Daher kann die Psychologie nicht für sich, sondern nur in ihrer Unterordnung und Abhängigkeit von der Weltansicht des Systemes der Philosophie, wozu sie gehört, abgehandelt werden. Sie wiederholt in sich das System der Philosophie wie im Abbilde." 7 9
Erst posthum wird Harms' System der Philosophie publiziert. Nach einer Geschichte der Logik (1881) folgen eine Metaphysik (1885), Logik (1886), Ethik (1889), Rechtsphilosophie (1889) und Naturphilosophie (1895). In der Berliner Zeit erscheint Die Philosophie seit Kantm, in der außer Herbart, dem Nachfolger Kants in Königsberg, 76 Harms, Geschichte der Psychologie, 2. Aufl., Berlin 1879, S. IV. 77 Harms, Prolegomena zur Philosophie, Braunschweig 1852, S. IVff.; vgl. ders., Anthropologismus in der Entwicklung der Philosophie seit Kant, Leizig 1845; dazu vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg und Neukantianismus, S. 131 ff. 78 Harms, Prolegomena, S. XIII f. 79 Harms, Geschichte der Psychologie, 2. Aufl., Berlin 1879 (1. Aufl. 1877), S. V. 80 Harms, Die Philosophie seit Kant, 2. Aufl., Berlin 1879 (1. Auflage 1876); weitere Veröffentlichungen von Harms sind: Die Philosophie Fichtes nach ihrer geschichtlichen Stellung und nach ihrer Bedeutung, 1862; Zur Erinnerung an Hegels 100. Geburtstag, 1871 ; Arthur Schopenhauers Philosophie, 1874; Über die Lehre von Friedrich Heinrich Jacobi, 1876; Die Philosophie in ihrer Geschichte, 2 Bde., 1878/81.
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Teil II: Formierung
nur Berliner auftauchen. Harms betrachtet die deutsche Philosophie seit Kant darin als „Ganzes für sich" 81 . Ausgangspunkt ist ein gewisser Gegenschlag zum sich formierenden Neukantianismus: Kant habe „mehr und etwas Anderes gewollt, als Kritik des Erkennens": „Das Positive, was er wollte und geleistet hat, ist die Gründung einer ethischen Weltsicht [...] Die Gründung und Ausbildung einer geschichtlichen und ethischen Weltansicht [...] ist das Wesen der deutschen Philosophie seit Kant" 82 . Harms betrachtet Kants Philosophie also als die „Grundlegung einer deutschen Weltansicht" und erörtert sie im Zusammenhang ihrer „Anfänge" bei Lessing, Herder und Jacobi. Er behandelt den Deutschen Idealismus als eine „Ausbildung" des Kantischen „Kriticismus" und unterscheidet dabei den „ethischen Idealismus" Fichtes vom „physischen Idealismus" Schellings und „logischen Idealismus" Hegels. Doch dabei beläßt Harms es nicht; seine originelle Darstellung des Deutschen Idealismus ist von dem Gedanken getragen, daß es innerhalb der „Opposition" gegen den Idealismus eine Richtung gab, die als „indirecte Fortbildung" wieder „auf Kant zurück" 83 führt. Anders als die Opposition der Naturwissenschaften und des vom Linkshegelianismus ausgehenden „Materialismus und Monismus" bedeute diese dritte Richtung der Opposition keine Negation des Deutschen Idealismus, sondern dessen „Einschränkung" auf seinen vernünftigen Sinn. Harms nennt drei Vertreter dieser Einschränkung des Idealismus im Rückgang auf Kant: Schleiermacher, Herbart und Schopenhauer. „Die Lehren von Schleiermacher, Herbart und Schopenhauer haben sich gebildet in der Bestreitung der Entwicklung der Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel [...] Wohl gehen sie auf Kant zurück und stimmen in Punkten mit ihm überein, worin Fichte, Schelling und Hegel abweichen. Aber sie gehen grade auf Kant zurück und gehen nicht unmittelbar von ihm aus. [...] Ihre Auffassung von Kant und ihr Ausgangspunkt von Kant ist selbst durch die Bestreitung der Entwicklung der Philosophie seit Kant bedingt. Sie enthalten keine directe, sondern eine indirecte Fortbildung der Philosophie seit Kant [...] Für diese indirecte Fortbildung haben sie aber zugleich vorkantische Philosopheme benutzt, von Piaton, von Leibniz, von Locke, und Schopenhauer auch von der französischen und der indischen Philosophie" 84 .
Schleiermacher und Herbart stellt Harms positiv dar, während er Schopenhauer scharf kritisiert: „In dieser indischen Denkweise über das Leben und sein Ideal liegt freilich der grösste Widerspruch mit dem Wesen der Philosophie seit Kant [...] dass es ein Ideal giebt, das sein soll, und in dem Leben und durch das Leben wirklich werden soll, lehrt der deutsche Idealismus, dass es nichts Ideales giebt, was sein soll, und alles Leben werthlos ist, der Pessimismus" 85 . Die Ablehnung von Schopenhauers Pessimismus wurde zum Berliner Topos.
81 82 83 84 85
Harms, Die Philosophie seit Kant, S. 1; vgl. S. 95ff. Ebd., S. Vif. Ebd., S. 464. Ebd., S. 464. Ebd., S. 594; vgl. auch 592ff.
7.
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen
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Hegels Konzept von der „Versöhnung" durch dialektische „Aufhebung" gegensätzlicher Standpunkte stellt Harms die Forderung einer „Einschränkung" der „absoluten Philosophie" auf eine kritische Philosophie gegenüber, die an einer Ausbildung des Kritizismus zur ethischen und geschichtlichen Weltansicht festhält. Harms möchte also das Berliner Erbe im Rückgang auf Kants Kritizismus festhalten. Ohne sich direkt auf die zeitgenössische Parole des „Zurück zu Kant" (O. Liebmann) zu beziehen, macht er deutlich, daß für die Fortbildung des Kritizismus von dessen Ausbildung im Deutschen Idealismus nicht abgesehen werden kann.
e.
„ Die Wiedergeburt der Philosophie " durch die Naturwissenschaften
Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Notwendigkeit einer positiven Orientierung an den Einzelwissenschaften deutlich. Harms gibt dem in seinen Prolegomena zur Philosophie einen Ausdruck. Die neue Selbstbescheidung der Philosophie tritt um 1848 in der Umbenennung der Zeitschrift für Philosophie und speculative Theologie in die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik hervor. „Weltanschauungsdenken tritt an die Stelle des Systemdenkens" - so bringt Köhnke 86 den Wandel auf eine Formel. Natur- und Geisteswissenschaften treten damals weiter auseinander. Die Philologie avanciert zur vorherrschenden Methode. Eine starke Selbstbeschränkung der Philosophie auf philologische Kritik vertritt in Berlin, wie erörtert, Eduard Zeller. Droht die Philosophie qua Philologie zu vereinseitigen, so setzt von den Naturwissenschaften her Die Wiedergeburt der Philosophie (C. Stumpf) ein. Alois Riehl spricht von einer Wiedergeburt „aus der Mitte der Naturforschung selbst" 87 . Unter den philosophischen Köpfen der Berliner Naturforscher ist Alexander von Humboldt (1769-1859) an erster Stelle zu nennen. Er hat nie eine Professur an der Universität inne, lehnt früh ein entsprechendes Ersuchen von Beymes ab, wirkt aber bereits im Hintergrund der Beratungen über die Neugründung. Damals spricht er sich entschieden gegen den Titel einer „Lehranstalt" aus und hält es, mit Blick auf die Degradierung der Hochschulen in Frankreich, für selbstverständlich, die Bezeichnung „Universität" beizubehalten. Dann ist er viele Jahrzehnte ein rühriger, seinen Einfluß
86 Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 57. 87 Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 2; vgl. ders., Führende Denker und Forscher, 2. Aufl., Leipzig 1924; zur ersten Orientierung über die Berliner Naturwissenschaftler vgl. Wilhelm Treue u. Gerhard Hildebrandt (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder: Naturwissenschaftler, Berlin 1987; Herbert Meschkowski, Von Humboldt bis Einstein. Berlin als Zentrum der exakten Wissenschaften, München 1989.
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bei Hofe nutzender Förderer der neuen Institution. 88 Als er 1827 wieder nach Berlin übersiedelt, willigt er ein, als Mitglied der Akademie Vorlesungen an der Universität zu halten. Sie finden seit dem Wintersemester 1827/28 statt und sind in den ersten Bänden des Kosmos abgedruckt. In Virchows Rückblick markiert die Ankunft Alexander von Humboldts in Berlin den „definitivefn] Uebergang in die naturwissenschaftliche Zeit" 8 9 der Universität. Der Bezug auf Kant bringt Naturwissenschaften und Philosophie dann wieder miteinander ins Gespräch. An der Berliner Universität braucht Kant eigentlich nicht neu entdeckt zu werden. Fichte, Schleiermacher, Hegel und selbst der greise Schelling haben ihren Ausgangspunkt immer wieder mit dem Namen Kants verbunden. Und ihre Gegner haben im Namen Kants widersprochen. Am schärfsten wohl Beneke, der Hegels Tod zum Anlaß nahm, die Rückkehr zu Kant einzuklagen. Aber nicht nur die Philosophen berufen sich auf Kant. Längst haben Naturwissenschaftler ihren eigenen Weg zu Kant entdeckt. Bemerkenswerte philosophische Impulse gehen beispielsweise von dem 1833 berufenen Physiologen Johannes Peter Müller (1801-1858) aus. Dessen Versuch, naturwissenschaftlich auch an Aristoteles, Spinoza, Schelling anzuknüpfen, 9 0 findet die Zustimmung der historisch-kritisch arbeitenden Philosophie. Trendelenburg zollt dem medizinischen Kollegen das höchste Lob: „In Johannes Müller war das philosophische Studium ein wesentliches Bildungselement seines Geistes. Was er als Naturforscher war, war er nicht trotz der Philosophie, sondern von ihr mitgetragen [...] Den platonischen Constructionen der modernen Naturphilosophie hing er nur vorübergehend an, aber er war und blieb ein aristotelischer Geist, aristotelisch in der Strenge der Methode, in der analytischen Schärfe, aristotelisch in der die Welt der Thatsachen durchsuchenden, sichtenden Beobachtung und in der Weite seines wissenschaftlichen Horizontes, aristotelisch endlich in der Auffassung der Principien."91
Die Ironie dieses Urteils liegt darin, daß Müller sein eigenes Denken nie in Opposition zu Hegel verstand, von der systematischen Nähe zwischen Aristoteles und Hegel wußte und sich dennoch auch Kant verpflichtet fühlte. Entsprechendes gilt mit einigen kräftigen Abstrichen für drei seiner Schüler - Virchow, Helmholtz und Du Bois-Reymond, auf die man heute nur hinzuweisen braucht, um die vielfältigen Berührungspunkte zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie in der Jahrhundert-
88 Dazu vgl. K.-H. Biermann (Hrsg.), Alexander von Humboldt. Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe an das politische Kultusministerium 1818-1859, Berlin 1985. 89 Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, Berlin 1893, S. 21. 90 Siehe hierzu: Johannes Müller und die Philosophie, hrsg. v. M. Hagner und B. Wahrig-Schmidt, Berlin 1992; vgl. Arthur Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie und seiner Bedeutung für dieselbe, in: Kant-Studien 20 (1915), S. 357-371. 91 Adolf Trendelenburg, Worte der Erinnerung an Johannes Müller, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Aus dem Jahre 1859, Berlin 1860, S. 122.
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mitte kenntlich zu machen. Die Naturwissenschaftler dieser Epoche haben von sich aus nie auf das Philosophieren verzichtet. Das ließe sich exemplarisch am Entwicklungsgang Rudolf Ludwig Karl Virchows (1821-1902) belegen, der sich mit den bedeutenden Entdeckungen nicht zufrieden gibt, die ihm auf dem Feld der Zellularpathologie gelingen. Es reicht ihm auch nicht, auf den Gebieten der Epidemiologie, der Anthropologie oder der Sektionstechnik zu umwälzenden Einsichten zu gelangen; und es ist ihm offenkundig nicht genug, mit unerhörter politischer Energie für die Realisierung seiner Vorstellungen zu kämpfen. 92 Es treibt ihn vielmehr immer wieder, auch über die Bedingungen seines Wirkens nachzudenken und seine Position in philosophischer Reflexion zu bestimmen. 93 Und so, wie er seine medizinische Forschung unter den Primat der Vernunft zu stellen versucht, so fordert er, auch die praktische Lebensführung unter die philosophisch gegründeten Prämissen der „persönlichen Freiheit" und der „eigenen Verantwortlichkeit" anzugehen. In diesem Sinne heißt es: „Die Naturwissenschaften haben ihren Siegeszug nur dadurch vollführen können, dass sie in treuem Festhalten an dem thatsächlichen Wissen immer weiter in das Dunkel noch unerforschter Gebiete eingedrungen sind und dass sie stets versucht haben, in neuen Erscheinungen zunächst das alte Gesetz und damit die Verknüpfung mit bekannten Erscheinungen aufzufinden. Wer in jeder Ausnahme ein neues Gesetz zu finden hofft, der ist nicht viel besser daran, als wer in jeder Ausnahme ein neues Wunder erblickt. Und wie es in der intellektuellen Welt ist, so ist es auch in der sittlichen. Der Trieb, Gutes zu thun und recht zu handeln, beruht auf dem Gefühl der inneren Befriedigung, welches wir empfinden, wenn wir eine Handlung begehen, welche der menschlichen Vernunft und den Pflichten der Menschen gegen einander gemäss ist." 94
Auch diese Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfolgt unter Berufung auf Kant. Besonders sinnfällig hat dies Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821-1894) ausgesprochen. 95 Er ist gleichermaßen als Physiker und als Physiologe anerkannt. Noch als junger Assistenzarzt an der Charité veröffentlicht er seine Untersuchung Über die Erhaltung der Kraft (1847); er tritt dann als Physiologe in Königsberg und Bonn mit bahnbrechenden Arbeiten zur Optik und zur Augenheilkunde hervor und kehrt 1871 auf den neugeschaffenen Physik-
92 Dazu vgl. das kleine Portrait von Virchow bei Theodor Heuß, Deutsche Gestalten. Studien zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1947, S. 120ff. 93 Vgl. u.a.: Goethe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller, Berlin 1861; Gedächtnisrede auf Johann Lukas Schönlein, Berlin 1865; Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin 1877; Die Aufgabe der Naturwissenschaften in dem neuen nationalen Leben Deutschlands, Berlin 1871. 94 Virchow, Die Gründung, S. 28 f. 95 Dazu bes.: Carl Stumpf, Hermann Helmholtz und die neuere Psychologie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 8 (1895), S. 303-314; Alois Riehl, Hermann von Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant, Berlin 1904; Benno Erdmann, Die philosophischen Grundlagen von Helmholtz'Wahrnehmungstheorie, Berlin 1921.
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lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität zurück. Auch er glaubt wieder direkt an Kant anknüpfen zu können. An Kants Wertschätzung der Naturwissenschaften lehnt Helmholtz seine Vorstellung vom künftigen Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften an. In seiner Heidelberger Rektoratsrede von 1862 stellt er heraus, daß beide Disziplinen nur auf „gleichem Boden" korrespondieren können. Kant werde dem Anspruch, die Entwicklungen der Naturwissenschaften in sich aufzunehmen, allerdings nicht immer gerecht. Mit unüberhörbarer Polemik grenzt Helmholtz sich damit zugleich gegen die Kantianer ab: „Die Naturwissenschaften stehen noch jetzt fest auf denselben Grundsätzen, die sie zu Kants Zeiten hatten und zu deren fruchtbarer Anwendung Newton das große Beispiel gegeben hat; sie haben sich nur reicher entfaltet und ihre Grundsätze an einer immer größeren Fülle von Einzelheiten geltend gemacht. Aber die Philosophie hat ihre Stellung zu ihnen verändert. Kants Philosophie beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Kenntnisse durch das reine Denken zu vermehren, denn ihr oberster Satz war, daß alle Erkenntnis der Wirklichkeit aus der Erfahrung geschöpft werden müsse, sondern sie beabsichtigte nur, die Quellen unseres Wissens und den Grad ihrer Berechtigung zu untersuchen, ein Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben wird und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen können." 9 6
Helmholtz wird von seinen Zeitgenossen oft in einem Atemzug mit Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818-1896) genannt. In Berlin gelten sie als die beiden „Diadochen", die sich das wissenschaftliche Erbe ihres Lehrers streitig machen. Du Bois-Reymond wendet sich nach ersten Studien in Naturphilosophie, Ästhetik und Geschichte unter dem Eindruck zweier Koryphäen wissenschaftlicher Forschung, des Chemikers Eilhardt von Mitscherlich (1794-1863) und des Physikers Heinrich Wilhelm Dove (1803-1879), den Naturwissenschaften zu und nimmt ein Studium der Medizin auf. Er lernt Johannes Müller kennen und beginnt sich zunehmend für anatomische und physiologische Fragen zu interessieren. Als Dissertation legt er eine Studie über die Ansichten der Griechen und Römer über die elektrischen Fische vor. 1846 erfolgt die Habilitation über Muskelreaktion, 1848 die Ernennung zum Extraordinarius für Physiologie und Allgemeine Pathologie in Königsberg, 1851 die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, 1855 die Berufung zum außerordentlichen Professor in Berlin und 1858 schließlich das Ordinariat für Physiologie, mit dem er die Nachfolge Johannes Müllers antritt. 1872 hält er in Leipzig seine berühmte Rede Über die Grenzen des Naturerkennens. Während Wirtschaft und Politik mit gründer-
96 Hermann von Helmholtz, Über das Sehen von Menschen (1855), in: Helmholtz, Philosophische Vorträge und Aufsätze, Berlin 1971, S. 4 6 f . ; zur neukantianischen Programmatik von Helmholtz vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 151 ff.; zur neueren Diskussion vgl. Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, hrsg. Lorenz Krüger, Berlin 1994; Michael Heidelberger, Helmholtz als Philosoph, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 8 3 5 - 8 4 4 ; ders., Hermann von Helmholtz ( 1 8 2 1 - 1 8 9 4 ) , in: Klassiker der Physik. Erster Band, hrsg. v. Karl von Meyenn, München 1997, S. 3 9 6 - 4 1 5 .
7.
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zeitlichen Optimismus auf die Erkenntnisleistungen der Wissenschaft setzen, spricht er sein „Ignorabimus": „Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein .Ignorabimus' auszusprechen. In Rücksicht auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen:,Ignorabimus'." 97
In seinen Schriften über Voltaire, Rousseau und Goethe, Die sieben Welträtsel oder das Verhältnis von Kulturgeschichte und Naturwissenschaft98 hält Du Bois-Reymond auf Distanz zur Fachphilosophie und gefällt sich darin, wohlgehegte Ansprüche eines religiös oder romantisch gesonnenen Publikums zu verletzen. Doch seine Selbstbescheidung naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfolgt in kritischem Geist. Auch in ihm ist das Erbe Kants lebendig. Müller, Virchow, Helmholtz und Du Bois-Reymond stehen beispielhaft für die Impulse, die von den Naturwissenschaften in die philosophische Forschung eingehen. Für sie ist es selbstverständlich, ihr Fach aus der Perspektive menschlicher Kultur zu betrachten. Namentlich Virchows sozial engagierte Reformtätigkeit als Stadtverordneter und Parlamentarier gründet in dem Selbstverständnis, nicht nur Mediziner vom Fach, sondern auch „Arzt der Kultur" zu sein. Solche Wirksamkeit trägt dazu bei, daß sich die Fachphilosophie wieder auf die Probleme der Naturwissenschaften besinnt. Um die Jahrhundertwende gibt es dann einen konkurrierenden Austausch zwischen Philosophie und Psychologie: Hermann Ebbinghaus (1850-1909), Benno Erdmann (1851-1921) und Carl Stumpf ( 1848-1936), Theodor Ziehen (1862-1950)" (lange an der Charité wirkend) und später Wolfgang Köhler (1887-1967) stehen für diesen bis in unsere Zeit nachwirkenden Grenzgang. Die Fakultät bemüht sich immer wieder, ihre naturwissenschaftliche Kompetenz auch durch externe Anregungen zu erhalten. So gastiert Hugo Münsterberg (1863-1916) 100 1910/11 für zwei Semester in Berlin. Er lehrt „Angewandte Psycho97 du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens (1872). Die sieben Welträtsel (1880). Zwei Vorträge, Leipzig 1916, S. 51. 98 du Bois-Reymond, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft (1887), in: ders., Reden, 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1912. 99 Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie, Jena 1896; Das Verhältnis der Herbart'schen Psychologie zur physiologisch-experimentellen Psychologie, Berlin 1900; Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben, Leipzig 1902; Das Gedächtnis, Berlin 1908; Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913; Die Grundlagen der Psychologie, Leipzig 1915; Lehrbuch der Logik aus positivistischer Grundlage, Bonn 1920. 100 Münsterberg, Die Willenshandlung. Ein Beitrag zur Physiologischen Psychologie, Freiburg 1888; Die Amerikaner, Berlin 1904; Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung,
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Teil II: Formierung
logie" und „Idealistische Weltanschauung", „Einleitung in die Philosophie" und „Willensfreiheit". Münsterberg entwickelt seine Psychotechnik von der Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt (1832-1920) her.101 Als einer der Pioniere des deutschamerikanischen Wissenschaftstransvers ist er seit 1892 auf Vermittlung von William James Professor für Psychologie in Harvard. In Berlin befreundet er sich mit Dessoir,102 lernt Cassirer kennen und lädt ihn nach Harvard ein. In diesen Jahren lehrt auch der Physiker Max Bernhard Weinstein (1852-1918) 1 0 3 , der sich 1886 bei Helmholtz habilitierte und 1895 Titularprofessor wird, 104 in der Philosophie. Er liest über Naturphilosophie, über „Materialismus und Idealismus", „Monismus und Dualismus" und die Möglichkeit einer naturphilosophischen „Weltanschauung" überhaupt. Max Planck (1858-1947) holt Albert Einstein (1879-1955) später als Professor ohne Lehrverpflichtung an die Akademie. Von 1913 bis zu seiner Vertreibung 1933 wirkt Einstein an der Friedrich-Wilhelms-Universität; er hält regelmäßig öffentliche Vorträge, ohne förmliche Einbindung in die Philosophische Fakultät. Nach eigenem Bekenntnis hat er ein enges Verhältnis zum philosophischen Denken. Alle seine großen Entdeckungen gehen „von naturphilosophischen Ideen" aus, heißt es. Naturphilosophie ist ihm eine „metaphysische Heuristik" 105 . Und wenigstens ein Berliner Philosoph vermag damals mit Einstein zu kommunizieren: Ernst Cassirer (1874-1945). 106 Auch Hans Reichenbach (1891-1953), der sich 1926 in Berlin habilitiert, unternimmt eine systematische Aufarbeitung der modernen Physik. So werden die Emanzipationsoder Ausdifferenzierungstendenzen der Natur- und Geisteswissenschaften immer wieder mit dem Versuch philosophischer Kommunikation beantwortet.
Leipzig 1908; Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten ExperimentalPsychologie, Leipzig 1912; Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914. 101 So die Einleitung zu: Hugo Münsterberg, Frühe Schriften zur Psychologie, Berlin 1990. 102 Dazu Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S. 162f; vgl. schon ders., Zur Erinnerung an Hugo Münsterberg, in: Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, 2. Aufl. Leipzig 1918, S. V-XVIII. 103 Habilitationsakten UAHU, Phil. Fak. 1212, Bl. 250-264; spätere Publikationen: Denken und Träumen. Dichtungen, Berlin 1901; Einleitung in die höhere mathematische Physik, Berlin 1901; Die philosophischen Grundlagen der Wissenschaften. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin, Leipzig 1906; Entstehung der Welt und der Erde nach Sage und Wissenschaft, Leipzig 1908; Welt- und Lebensanschauungen, hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis, Leipzig 1910; Die Grundgesetze der Natur und die moderne Naturwissenschaft, Berlin 1911; Die Physik der bewegten Materie und die Relativitätstheorie, Leipzig 1913. 104 UAHU, Phil. Fak. 1436, Bl. 229. 105 So Bernulf Kanitscheider, Albert Einstein, in: Klassiker der Naturphilosophie, hrsg. v. Gernot Böhme, München 1989, S. 357-373; vgl. ders., Das Weltbild Albert Einsteins, München 1988. 106 Ernst Cassirer, Zur Einstein'schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921.
7.
f.
Fortsetzung der Philosophie aus dem Geist einzelner Disziplinen
Neue Hoffnung auf philosophische Hermann Lotze
109
Universalität:
Das Anliegen philosophischer Selbstbesinnung der Natur- und Geisteswissenschaften zeigt sich auch im Bildungsweg eines bedeutenden Philosophen, der bei den Zeitgenossen viel Beachtung findet. Rudolph Hermann Lotze (1817-1881) habilitiert sich 1839/40 in Leipzig im Alter von 22 Jahren gleichzeitig in den Fächern Medizin und Philosophie. Nach seiner Metaphysik und einer Reihe von ästhetischen Schriften publiziert er vor allem auf dem Gebiet der Physiologie und Psychologie. Lotze setzt sich dabei mit dem Vitalismus kritisch auseinander, wodurch er Schulhäupter wie Johannes Müller verärgert. 107 1842 erhält er eine außerordentliche Professur in Leipzig. 1844 folgt er einem Ruf nach Göttingen und verhilft der Philosophie dort zu neuer Anerkennung. Sein Vorlesungsspektrum ist auch für damalige Verhältnisse außergewöhnlich vielfältig. Er liest über Pathologie, Pastoral-Medizin, Nervenkrankheiten, Logik, Psychologie, Allgemeine Arithmetik, Naturphilosophie, Enzyklopädie der Philosophie, Anthropologie, Organische Physik, wobei die Psychologie am „besuchtesten" 1 0 8 ist. Sein Denken geht vor allem von Kant aus. Keinem anderen Philosophen billigt er „eine gleiche Autorität" 1 0 9 zu. Ein Markstein seines Schaffens ist sein umfassender Mikrokosmos, der zwischen 1856 und 1864 in drei Bänden erscheint. 110 Die Fakultät bemüht sich mehrfach, Lotze nach Berlin zu holen. Bereits nach dem Tode Gablers faßt sie den Beschluß, Lotze zu berufen, um „den in seiner Abkehr von den exakten Methoden und der Naturforschung erstarrten Idealismus mit den Ergebnissen und Forderungen der auf allen Gebieten der Natur- und Geisteswissenschaften siegreich vordringenden Empirie in Einklang zu bringen." 111 Bedauerlicherweise - so meint Max Lenz - habe man das im Ministerium nicht ebenso erkannt. So bleibt die Angelegenheit zunächst unerledigt. In den folgenden Jahren werden immer wieder Versuche unternommen, Lotze nach Berlin zu holen. Man verweist darauf, daß die Philosophie seit dem Tod Gablers mit einem Ordinariat auskommen muß, während die Statuten von 1838 zwei ordentliche Professuren vorsehen." 2 Im November 1866
107 108 109 110
Siehe Rudolph H. Lotze, Kleine Schriften zur Psychologie, Berlin 1989, Einleitung, S. 18. Carl Stumpf, Zum Gedächtnis Lotzes, in: Kant-Studien 22 (1918), S. 1-26, hier: S. 7. Ebd., S. 13. Untertitel: Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, 3 Bde., Leipzig 1856/1858/1864; weitere Schriften: Geschichte der Aesthetik in Deutschland, München 1868; Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen, Leipzig 1874; Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie, Kosmologie und Psychologie, Leipzig 1879; Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant, Leipzig 1882. 111 Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 2.2, S. 288. 112 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1458, Bl. 26. 81. 112f.
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Teil II: Formierung
tritt die Fakultät abermals zusammen, um über die Besetzung der Professur für theoretische Philosophie zu entscheiden. Trendelenburg erklärt, daß „nach seiner Ansicht auf der heutigen Hochschule die philosophische Betrachtung der Natur verwaist sei, obgleich hinter den Ursprüngen der Philosophie die philosophische Physik mit der Logik und Physik einen integrierenden Theil derselben ausmachen und die Philosophie ihres universellen Charakters und der philosophische Unterricht einer bildenden hebenden Anregung verlustig gehe, wenn die Naturwissenschaften ausgeschlossen bleiben"113.
Der neue Kultusminister nimmt sich der Sache beherzt an und führt die Berufungsverhandlungen, muß der Fakultät aber im März 1867 die unerfreuliche Mitteilung machen, daß Lotze sich nicht entschließen kann, „seinen gegenwärtigen Wirkungskreis mit dem in Berlin zu vertauschen"114. So wird Harms Nachfolger Gablers auf dem Lehrstuhl für theoretische Philosophie. Nach dessen Tod ergeht der Ruf im Mai 1880 erneut an Lotze. Diesmal nimmt er an.115 Im Sommersemester 1881 beginnt er seine Lehrtätigkeit in Berlin, stirbt jedoch noch vor Ende seines ersten Berliner Semesters am 1. Juli 1881 an einer Lungenentzündung. Sein Nachfolger wird Wilhelm Dilthey. Auch Dilthey vertritt den Lehrstuhl für theoretische Philosophie, den zuvor Fichte, Hegel und Gabler, Harms und Lotze inne haben. Bei der Formierungsgeschichte der Berliner Universität wurden bisher zwei Phasen unterschieden. Die erste steht im Zeichen Hegels und des Hegelianismus. Sie ist durch den Versuch gekennzeichnet, die Universität des Wissens durch eine philosophische Enzyklopädie und Systematik mit Anspruch auf „absolutes" Wissen „aufzuheben". Fichtes und Hegels philosophische Enzyklopädien sind starke dogmatische Vorgaben, die Einspruch provozieren und zu Streitigkeiten in der ganzen Universität führen. Die zweite Phase steht im Zeichen der historischen und methodologischen Selbstbesinnung der einzelnen Wissenschaften. Aus ihr gehen eigene philosophische Impulse hervor, die die Philosophie reaktiv aufnimmt. Während Trendelenburg sein Werk aus der historisch-philologischen Selbstbesinnung heraus entwickelt, zeigt sich der Versuch einer systematischen Reaktion deutlich bei Harms und dann philosophisch originärer noch bei Lotze. Vor und nach 1848 ist die Philosophie aber nicht nur auf diesen Höhen vertreten.
113 UAHU, Phil. Fak. 1459, Bl. 157. 114 UAHU, Phil. Fak. 1459, Bl. 158. 115 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1460, Bl. 215f„ 253. Die Ernennung erfolgte nicht ohne Widerstand des Finanzministers, der einer Überschreitung der Normalbesoldung im Falle Lotzes erst nach langem Zögem zugestimmt hat. (Vgl. I. HA Rep. 76Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 47, Bd. 17, Bl. 123, 125 f., 149 f.).
8.
Randgänger, Unberufene und Vergessene
Die Philosophiegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wurde lange von der Annahme eines „revolutionären Bruchs" (K. Löwith) mit dem Deutschen Idealismus und Hegelianismus geleitet. Sie übernahm dabei philosophische Voraussetzungen des Junghegelianismus und des Nietzscheanismus und perpetuierte ein älteres, von Schopenhauer gepflegtes antiuniversitäres Ressentiment. Man beschrieb einen Auszug des „originären" Denkens aus der Universität und etablierte die „philosophische Kultur" in der politischen Öffentlichkeit sozialer Bewegungen jenseits der Universität. Tatsächlich lehrt kein Jung- bzw. Linkshegelianer in Berlin „Philosophische Wissenschaften". Parallel zum Auszug des Junghegelianismus aus der Universität formiert sich die Universitätsphilosophie unter Trendelenburg neu. Mit Zeller und Dilthey beginnt dann die große Zeit der Berliner Universitätsphilosophie. Die hohe Zeit des akademischen „Mandarins" (F. J. Ringer), der Wilhelminismus, ist auch die Blütezeit eines akademisch-philosophischen Betriebs auf höchstem Niveau. Psychologie, Pädagogik und Soziologie sind nun die Teildisziplinen, mit deren Emanzipationsstreben sich die Philosophie auseinandersetzt. Lange versammelt sich unter den „Philosophischen Wissenschaften" aber ein bunter Dozentenkreis unterschiedlichster methodischer Orientierung. Unsere Formierungsgeschichte wäre unvollständig, würde nicht auch das Kaleidoskop dieser Dozenten vorgestellt, die sich in Berlin habilitierten und „Philosophische Wissenschaft" lehrten. Nicht alle Dozenten, die unter der Rubrik der „Philosophischen Wissenschaften" ankündigen, sind aus heutiger Perspektive Größen ihres Faches. Das Niveau der Berliner Universität erweist sich jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts daran, daß die meisten Berliner Privatdozenten irgendwann einen Ruf an eine andere Lehr- und Forschungsstätte erlangen. Andere lehren vorwiegend in Berlin, können sich dort nicht voll etablieren, wollen aber auch nicht weg. Nicht alle Randgänger, Unberufenen und Vergessenen der Berliner Universitätsphilosophie sind hier zu erinnern. Sie spielen ja eine nur episodische und untergeordnete Rolle und prägen das Berliner Profil nicht. Manche scheitern als Generalisten grobflächiger Weltanschauungslehren, manche als akademische Spezialisten. Manchen fehlt auch einfach das Talent. Dazu kommen Abweichungen vom akademischen Stil und Habi-
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Teil II: Formierung
tus, unliebsame Literarisierungen oder Politisierungen der Lehre. Max Weber bemerkt in Wissenschaft als Beruf: „Ob es einem solchen Privatdozenten, vollends einem Assistenten jemals gelingt, in die Stelle eines Ordinarius und gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach Hasard ist. Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade"1.
a.
Der Randgänger als Querulant: Arthur
Schopenhauer
Der bekannteste Randgänger und Unberufene der Berliner Philosophie ist Arthur Schopenhauer (1788-1860). Schopenhauer kultiviert seine Randgängerei als Opposition gegen Hegel und die Universitätsphilosophie überhaupt. Als Berliner erster Stunde geht er im Herbst 1811 an die neugegründete Universität, um F. A. Wolf, Fichte und Schleiermacher sowie die Naturwissenschaftler zu hören. Von den Philosophen ist er bald enttäuscht. Auf das Titelblatt seines Kollegheftes zu Fichtes Wissenschaftslehre notiert er: „Vielleicht ist die richtige Lesart Wissenschafts/eere" 2 . Die Kriegsunruhen vertreiben ihn 1813 nach Weimar und Rudolfstadt. Am 2. Oktober 1813 promoviert er in Jena Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde. Nach Zusendung der Schrift wird er mit Goethe im November 1813 näher bekannt. Über die Farbenlehre gerät er jedoch bald in Dissens. Nachdem er sich auch mit seiner Mutter verstreitet und sich am 17. Mai 1814 deshalb sein komfortables Erbe auszahlen läßt, siedelt er nach Dresden über. 1816 erscheint eine Abhandlung Über das Sehn und die Farben, die nicht die erhoffte volle Zustimmung Goethes findet. 3 Beide frühe Schriften betrachtet Schopenhauer als Einleitung und Propädeutik zu seinem zwischen 1814 und 1818 in Dresden verfaßten Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, mit dem er sich - nach einer ersten Italienreise - 1820 in Berlin habilitiert. Seinen Habilitationsantrag richtet er am 31. Dezember 1819 an den Dekan Boeckh. Boeckh setzt Schopenhauers Gesuch am 8. Januar 1820 in Umlauf: „Ungeachtet der nicht geringen Anmaßung und außerordentlichen Eitelkeit des Herrn S., welche aus allem Beiliegenden hervorgeht, halte ich doch dafür, daß in Rücksicht auf die Qualifi-
1 Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. 1/17, S.75, vgl. 79f.: „Wenn junge Gelehrte um Rat fragen kommen wegen Habilitation, so ist die Verantwortung des Zuredens fast nicht zu tragen. Ist er ein Jude, so sagt man ihm natürlich: .lasciate ogni speraza' ". 2 Arthur Hübscher, Arthur Schopenhauer. Ein Lebensbild, Leipzig 1938, S. 36; Schopenhauers Vorlesungshefte sowie Studienhefte sind veröffentlicht in: Arthur Schopenhauer. Der handschriftliche Nachlaß. Zweiter Band: Kritische Auseinandersetzungen (1809-1818), hrsg. v. A. Hübscher, Frankfurt 1967, hier: 29. 3 Ebd. S. 49ff.
8.
Randgänger, Unberufene und Vergessene
113
kation desselben nichts gegen seine Habilitation eingewandt werden kann" 4 . Hegel folgt dem Antrag und trifft Schopenhauer einmal zur Absprache der Probevorlesung, die Schopenhauer am 23. März 1820 „Ueber die vier verschiedenen Arten der Ursachen" hält. Schopenhauer 5 berichtet darüber, daß es im Verlauf der Disputation zu einer naturwissenschaftlichen Belehrung Hegels kommt. Dessen Philosophie hat er nie gründlich studiert. Erst ab 1827 finden sich erste gallige Randglossen zu Hegels Berliner Encyklopädie6. Und erst 1836, in der ersten Publikation seit 1819, wird die Polemik in der Schrift Ueber den Willen in der Natur öffentlich, worauf Karl Rosenkranz generös reagiert.7 Schopenhauer versteht sich vom Beginn seiner Berliner Dozentur an als Antipode Hegels. Zuversichtlich legt er seine Vorlesung auf die Zeit, „wo Herr Prof. Hegel sein Hauptkollegium liest" 8 . Hegel liest damals täglich zwischen 16 und 18 Uhr. Schopenhauer kündigt schon im Sommersemester 1820 „Die gesamte Philosophie oder die Ys>ae vom Wesen der Welt und des menschlichen Geistes" täglich 16 Uhr an und wechselt zum Wintersemester auf Hegels Haupttermin 17 Uhr. Nur im ersten Semester kommt eine Vorlesung zustande. Ein Hörer ist Beneke, der Die Welt als Wille und Vorstellung im Dezember 1820 in der Jenaischen Allgemeinen Litteraturzeitung auch rezensiert. Darüber ist Schopenhauer schon wegen formaler Einwände so erbost, daß er eine mündliche Klärung zurückweist und eine Nothwendige Rüge erlogener Citate9 als Replik veröffentlicht.10 Nachdem er im Sommersemster 1821 keine Resonanz findet, kündigt er ab dem Wintersemester 1821/22 ohne Zeitangabe an. Da erneut keine Vorlesung zustande kommt und Schopenhauer zudem über eine Prozeßverwicklung verärgert ist, geht er 1822 erneut nach Italien und 1823 nach München. 1825 kehrt er nach Berlin zurück und kündigt zwischen dem Wintersemester 1826/27 und 1831/32 regelmäßig „Die Grundlegung der Philosophie oder Theorie der
4 Zitiert nach Alfred Schmidt, Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels, München 1988, S. 12 f. 5 Zitiert Hübscher, Lebensbild, S. 65; vgl. Schmidt, Idee und Weltwille, S. 13ff. 6 Siehe: Arthur Schopenhauer. Der handschriftliche Nachlaß. Fünfter Band: Randschriften zu Büchern, Frankfurt 1968, S. 64. 7 Schopenhauer war damals mit Rosenkranz in Kontakt getreten, um dessen Kant-Ausgabe editorisch zu beraten. Siehe: Schopenhauer-Briefe, hrsg. v. Ludwig Schemann, Leipzig 1893, S. 186ff., bes. Rosenkranz' Brief v. 9.9.1837, S. 193. 8 Schopenhauer schreibt diese Verwaltungsanweisung, nebst anderen technischen Fragen, am 31.12.1819 dem damaligen Dekan August Boeckh, als Beilage zu seinem - lateinisch verfaßten, weitschweifig autobiographischen - Habilitationsantrag, zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht habilitiert ist. In: Schopenhauer-Briefe, S. 113f., oder: Arthur Schopenhauers gesammelte Briefe, hrsg. A. Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 55. 9 Abdruck in: Schopenhauer-Briefe, S. 142 ff. 10 Nähere Darstellung bei Eberhard Grisebach, Schopenhauer. Geschichte seines Lebens, Berlin 1897, S. 143, 147 ff.
114
Teil II: Formierung
gesamten Erkenntnis mit Inbegriff der Logik" zwei bis dreimal wöchentlich 12 bis 13 Uhr an. Dabei bleibt er seinem früheren Vorhaben treu. Denn Hegel hatte seinen zweiten Termin zuvor schon auf den Mittag gelegt, so daß Schopenhauer bis zu seinem gleichzeitigen Ausscheiden aus der Fakultät erneut zeitgleich mit Hegel ankündigt. Und erneut kommt keine Vorlesung zustande. „Vierundzwanzig Semester hat Schopenhauer der Universität Berlin angehört, aber nur während des ersten Semesters hat er tatsächlich gelesen", schreibt der Biograph Arthur Hübscher". 1831 flieht Schopenhauer vor derselben Cholera, die Hegel dahinrafft, nach Frankfurt - als ob sein Berliner Dasein mit dem Tod des Antipoden seinen Sinn verloren habe. Schopenhauers Ablehnung der Universitäts-Philosophie ist jedoch nicht so eindeutig, wie sie sich liest. Nach seinem Berliner Fehlschlag ist er auf Fürsprache Goethes 1823 einem Ruf nach Jena nahe, wo es um die Nachfolge für den seit dem Wartburgfeste suspendierten Fries geht. Später bemüht er sich um eine Umhabilitierung nach Würzburg. Savigny und Creuzer äußern sich aber 1828 negativ.12 Wenn Schopenhauer sich auch als Erbe Kants und Antipode Hegels versteht, so ist er doch nicht dessen Opfer. Schopenhauer überträgt seine wortkräftige Aversion gegen die „Hegelei" auf die Universitätsphilosophie insgesamt. Diese straft ihn jedoch zunächst nur mit einer „Art Inquisitionszensur" (Fr. Nietzsche) 13 : mit Desinteresse. Erst als Schopenhauer nach 1848, nach dem „Zusammenbruch" des Deutschen Idealismus und der politischen Resignation des deutschen Bürgertums, als Weltanschauungsautor breit rezipiert wird, setzt sich die Universitätsphilosophie mit ihm auseinander. Die Ablehnung ist in Berlin besonders einhellig und heftig, da Schopenhauers Pessimismus 14 das optimistische Credo der Berliner Lebensphilosophie in Frage stellte. Deshalb kommt es durch Dilthey15, Harms]b, Alois Riehl·1, Friedrich Paulsen18 und andere zu einer scharfen Absage. Georg Simmel stellt ihn dann als den großen, systematisch konsequenten Lehrer Friedrich Nietzsches dar.19
11 Hübscher, Lebensbild, S. 68. 12 Hermann Kantorowicz, Schopenhauers akademische Erfahrungen, in: Kant-Studien 34 (1929), S. 516f. 13 Schopenhauer als Erzieher, in: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1966, Bd. 1, S. 300. 14 Zur Begriffsgeschichte vgl. Volker Gerhardt, Stichwortartikel: Pessimismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 386-395. 15 Wilhelm Dilthey, Zur Philosophie Arthur Schopenhauers (1862), in: Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 356-370. 16 Friedrich Harms, Schopenhauer's Philosophie, Berlin 1874; Die Philosophie seit Kant, 2. Aufl., Berlin 1879, S. 562ff.; vgl. Georg von Gizycki, Kant und Schopenhauer, Leipzig 1888. 17 Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 213ff. 18 Friedrich Paulsen, Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles. Drei Aufsätze zur Naturgeschichte des Pessimismus, 1900, 4. Aufl., Stuttgart 1926. 19 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vorlesungszyklus, Leipzig 1907.
8.
b.
115
Randgänger, Unberufene und Vergessene
Der Kampf ums Ordinariat: zwei
Beispiele
Der Kampf ums Ordinariat entbrennt in der Berliner Philosophie erstmals heftig nach Hegels Tod und, mehr noch, nach dem Tode Gablers. Karl Friedrich Werder (1806-1893) habilitiert sich 1834 problemlos De Piatonis Parmenide und publiziert 1841 eine Logik aus Hegelschem Geist. Dies bleiben seine einzigen fachphilosophischen Arbeiten. Der Zusammenbruch des Hegelianismus läßt auch seine Autorschaft versiegen. Werders literaturhistorische Vorlesungen sind jedoch weithin beliebt. In Theaterkreisen wie bei Hof ist der Rhetor und Rezitator gern gesehen. Schon im Juli 1835 erbittet Werder unter ausführlichem Hinweis auf seine persönliche Lage „in tiefster ehrfurchtsvoller Ergebenheit" die „Gewährung eines kleinen Gehaltes zur ferneren glücklichen Erfüllung" 2 0 seiner Pflicht - was von der Fakultät als Antrag auf Berufung verstanden wird. Werder hofft wohl, den anderen Hegelianern Gabler und Henning gleichgestellt zu werden, die 1835 Ordinarien wurden. In seiner gutachterlichen Unterstützung versäumt Steffens mit Schreiben vom 22. Oktober denn auch nicht darauf hinzuweisen, daß Hegel Werder „unter seinen vorzüglichsten Schülern" 2 1 geschätzt habe. Die Fakultät verweist ablehnend auf die fehlende Vakanz und befürwortet nur eine finanzielle Unterstützung. Im Sommer 1837 ersucht Werder daraufhin um die „Beförderung zu einer außerordentlichen Professur" 22 . Bedenken bezüglich der großen „Zahl von sehr ordentlichen und außerordentlichen Professoren der Philosophie" 23 bestehen fort. Dennoch wird Werder am 24. Juli 1838 zum außerordentlichen Professor ernannt. Im November 1849 ersucht er dann beim Ministerium um eine ordentliche Professur. 24 Er hebt dabei ganz auf seine Lehrerfolge ab, denn neuere philosophische Veröffentlichungen hat er nicht vorzuweisen. Boeckh gibt Werder gutachtend einen „lebhaften Vortrag" und „poetisches Talent" zu, sieht aber „kein Bedürfnis" 2 5 für ein weiteres Ordinariat. Nachdem Werder sich daraufhin unter Vergleich seiner Lehrerfolge mit Gabler und Henning beschwert, wird die Ablehnung der Fakultät, insbesondere durch Trendelenburg, deutlicher. Gabler und Henning hätten ihren Vorlesungen „nicht so enge Grenzen gesteckt"; und wenn „ferner Hr. Werder einen unfreundlichen Blick auf Druckschriften anderer werfe, so sei zu bemerken, daß er von seinem philos. Standpunkt aus nicht als ein competenter Richter über Leistungen angesehen werden könne, die von einem anderen Standpunkte aus gemacht werden" 26 . Der Minister schließt sich dieser Ablehnung an. 20 21 22 23 24 25 26
UAHU, Phil. Fak. 1431, Bl. 61. UAHU, Phil. Fak. 1431, Bl. 58. UAHU, Phil. Fak. 24, Bl. 126. Antwort der Fakultät vom 24.8.1837 an das Ministerium, in: UAHU, Phil. Fak. 1431, Bl. 85. Siehe: UAHU, Phil. Fak. 1457, Bl. 74. Schreiben vom 17.1.1850, in: UAHU, Phil. Fak. 25, Bl. 241. UAHU, Phil. Fak. 25, Bl. 252.
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Teil II: Formierung
1859 unternimmt Werder einen letzten Vorstoß über die Fürsprache des Wirklichen Geheimen Rats Alexander von Humboldt bei der Königlichen Hoheit.27 Die Fakultät bemerkt nun drastisch, auch als Nachfolger Gablers komme Werder nicht in Betracht.28 Nicht nur für die Philosophie, auch für die Kunstphilosophie und Literaturwissenschaft sei er nicht ausgewiesen. Seine Ernennung würde von Anderen als ungerechtfertigte Zurücksetzung empfunden. Werder habe sich „weder als Docent noch als Schriftsteller bewährt"29: „Von einem allgemeineren Standpunkte gestattet sich die ehrerbietigst unterzeichnete Fakultät auf Folgendes aufmerksam zu machen. Die ordentlichen Professuren, deren Zahl nothwendig beschränkt ist und bei deren Vergebung nach Wesen der deutschen Universitäten ganz besondere Ansprüche zu stellen sind, scheinen uns nicht als Belohnungen selbst langer und verdienstvoller Lehrthätigkeit betrachtet werden zu dürfen". 30
Otto Friedrich Gruppe (1804-1876) ist ein zweites Beispiel für den Versuch, über den Willen der Fakultät hinweg durch politische Verdienste und Immediateingaben beim Ministerium ein Ordinariat zu erlangen. Als Mitarbeiter im Feuilleton der preußischen Staatszeitung tritt Gruppe mit einigen antihegelianischen Pamphleten hervor. Sein Hauptwerk Antäus formuliert 1831 schon die Aufgabe, Hegel auf die Füße zu stellen.31 Im Auftrag des Ministeriums der geistlichen Angelegenheiten konfrontiert Gruppe dann 1842 Bruno Bauer und die akademische Lehrfreiheit und äußert sich 1843 grundsätzlicher über Lehrfreiheit und Preßunfug. Daraufhin wird er 1844 zum außerordentlichen Professor ernannt. Bald bewirbt sich Gruppe um Berufung. Sein Vorstoß geht direkt an den König: „Ew. Königl. Majestät nahet ehrfurchtsvoll ein Mann, welcher glaubt das Opfer seiner Treue und Ergebenheit geworden zu sein, um von Ew. Majestät Gnade die Abwehr der Unbilden zu erflehen, die ein vielleicht unverdientes Schicksal auf ihn gehäuft hat. Er wagt es aber erst, nachdem er sich überzeugt, daß Ew. Majestät Ministerium die Mittel zu seiner Rettung nicht zu Gebote stehen. Ge27 28 29 30 31
Schreiben des Ministers vom 15.1.1859 an die Fakultät, in: UAHU, Phil.Fak. 1458, Bl. 144. Schreiben der Fakultät an den Minister, UAHU, Phil. Fak. Bl. 145. UAHU, Phil. Fak. 1458, Bl. 146. Schreiben der Fakultät vom 24.1.1859, UAHU, Phil. Fak. 1458, Bl. 146R. In seiner Philosophie der Weltgeschichte meinte Hegel zum Rechtsgedanken der Französischen Revolution: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut" (Hegel, Werke, Bd. 12, S. 529). Der erste Absatz der Vorrede von Gruppes Antäus lautet: „ANTÄUS durfte nach dem bekannten griechischen Mythus sich das Buch nennen, welches einen riesenhaften Gegner allein dann bekämpft glaubt, wenn der Mensch, ein Sohn der Erde, den Boden nicht unter den Füssen verliert, aus dem er mit seinem Wissen und Denken emporgewachsen. Die spekulative Philosophie ist dieser Riese und ihr gilt der gewagte K a m p f (Gruppe, Philosophische Werke, Bd. 1, hrsg. v. Fritz Mauthner, München 1914, S. 3). Marx knüpfte also direkt an Hegel und die zeitgenössische Hegelkritik an, wenn er die „Mystifikation" der Hegeischen Dialektik vom Kopf auf die Füße „umstülpen" wollte (vgl. Nachwort zur 2. Aufl. des Kapitals, MEW, Bd. 23, S. 27).
8.
Randgänger, U n b e r u f e n e und Vergessene
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statten Ew. Majestät mir huldreichst die Darlegung meiner Lage. Als Gegner der Hegeischen Philosophie, ohne Vermögen und ohne Protection, fand ich lange Zeit den Weg zum akademischen Lehrfach verschlossen. Erst mit dem Jahr 1840 durfte ich neue Hoffnung fassen und Ew. Majestät danke ich meine Ernennung zum außerordentlichen Professor im Fach der Philosophie an hiesiger Universität. Zwar hatte Ew. Majestät damaliger Unterrichts-Minister mich als Hülfsarbeiter in seinem Ressort beschäftigt, allein schon meldeten sich die Vorboten einer revolutionären Bewegung in Kirche und Staat, nicht außer Zusammenhang mit der von mir bekämpften philosophischen Lehre. Sie verlangten Abwehr, und ich wurde bestimmt, in den Kampf zu gehen. Ich wagte ihn mit offenem Visier, einen Kampf mit Gegnern, die sich eines großen Theils der Presse bemächtigt hatten und deren Köcher mit giftigem Pfeile gefüllt waren." 3 2 Und so seitenlang fort.
Ein ähnlich ausführliches Schreiben der Fakultät, vom 24. April 1852 an den Minister v. Raumer adressiert, geht daraufhin Gruppes umfangreiches Schriftenverzeichnis durch und befindet, daß „der Verfasser auf keinem Gebiete sich als nachhaltig durchdringend erwiesen hat" und auch seine „Wirksamkeit als Lehrer der Universität [...] sehr beschränkt"33 sei. Nach dem Tode Gablers versucht Gruppe es Ende 1853 erneut. Im November 1853 weist die Fakultät daraufhin nicht nur dieses Ansinnen zurück, sondern stellt fest, daß von den Extraordinarien Michelet, Werder, Gruppe, Beneke und Dr. George keiner „zum Ordinarius als Ergänzung der Lücke vorzuschlagen sei" 34 . Im Dezember 1855 richtet Gruppe eine weitere Immediateingabe an den König. Die Fakultät stellt daraufhin abermals klar, daß er nicht in Betracht komme: „Als Schriftsteller auf wissenschaftlichem Gebiete ist der Prof. Gruppe seit dem Bericht der Facultät vom 24. April 1852 mit einer einzigen Schrift aufgetreten. Sie ist im vorigen Jahre erschienen und führt den Titel .Gegenwart und Zukunft der Philosophie in Deutschland'. Ein erheblicher wissenschaftlicher Werth kann dieser Schrift nicht beigemessen werden; sie bezeugt die Wahrheit des von ihrem Verfasser in dem Vorwort abgelegten Geständnisses, daß er sie in einigen Wochen geschrieben habe. In seiner Eingabe an Seine Majestät den König erwähnt er des Verhältnisses dieser Schrift zu religiösen Interessen. Sie findet sich aber mit religiösen Interessen nur dadurch ab, daß sie der Philosophie jede ideale Richtung abspricht, wodurch, wenn es ausführbar wäre, der allgemeine religiöse Sinn nur um eine Stütze ärmer würde." 3 5
Ganz wirkungslos blieb Gruppe dennoch nicht. Hans Vaihinger (1852—1933)36 erinnert die Bekanntschaft mit seinen Schriften als stärkste Anregung seines Berliner Semesters. Anfang dieses Jahrhunderts gibt dann Fritz Mauthner (1849-1923) die frühe Hegelkritik Antäus mit einer biographischen Einleitung neu heraus. Wegen seines sprachphilosophischen Ansatzes sei Gruppe der „bedeutendste Gegner Hegels
32 33 34 35 36
UAHU, Phil. Fak. 1457, Bl. 182. UAHU, Phil. Fak. 1457, Bl. 179-181. UAHU, Phil. Fak. 1457, Bl. 243. Schreiben vom 21.1.1856 an v. Raumer, in: UAHU, Phil. Fak. 1458, Bl. 37. Hans Vaihinger, Wie die Philosophie des Als Ob entstand, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen., Bd. 2, hrsg. v. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, S. 175-203, hier: 190.
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und der scholastischen Philosophie überhaupt" gewesen, meint Mauthner, schränkt dann aber ein: „Gruppe war nicht der Begründer eines neuen philosophischen Systems [...]; er war einfach ein armer deutscher Schriftsteller, der auf mindestens fünf Gebieten der Schriftstellerei eine unheimlich reiche Tätigkeit entwickelte [...]; die philologischen, ästhetischen, historischen, dichterischen und philosophischen Schriften sind druckfertig, wollen gute Marktware sein" 37 .
c.
Diverse Habilitanden vor 1848
Es folgen nun additiv nach der Chronologie der Habilitationen eine Reihe Dozenten, die sich in Berlin habilitierten und dort aus den unterschiedlichsten Gründen nicht Ordinarien wurden. Einige wurden anderen Orts sehr erfolgreich; andere blieben Randgänger oder einfach nur Vergessene. Hermann Virici (1806-1884) wird 1833 Privatdozent. 1835 publiziert er eine zweibändige Geschichte der hellenischen Dichtkunst und wechselt als außerordentlicher Professor nach Halle. 1842 erscheint eine Abhandlung über Prinzip und Methode der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel und Schleiermacher; 1844 folgt ein System der Metaphysik, 1845 eine Geschichte und Kritik der Prinzipien der neuern Philosophie. In Halle lehrt er neben Erdmann, bekehrt sich zum Antihegelianer und bekämpft die dialektische Logik, tritt aber auch als Shakespeare-Herausgeber mit einer Geschichte Shakespeares und seiner Dichtung sowie theistischen Titeln wie Glauben und Wissen, Gott und die Natur und Gott und der Mensch hervor. 1861 wird er Ordinarius, mit gutem Namen in der Fachwelt. Zusammen mit Immanuel Hermann Fichte gibt er seit 1848 die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik heraus und prägt dadurch die philosophische Diskussion der Jahrhundertmitte. Johann Friedrich Leopold George (1811—1873)38 studiert Theologie bei Schleiermacher und Neander. Er promoviert 1833 und habilitiert sich 1834. 1836 tritt er in den Gymnasialdienst ein, lehrt aber weiterhin regelmäßig an der Universität. Zu seinen religionswissenschaftlichen Forschungen treten seit den vierziger Jahren verstärkt psychologische und philosophische Fragestellungen hinzu. Auch George beantragt damals seine Ernennung. Wie üblich antworten Trendelenburg und Gabler, die Philosophie sei „überfüllt" 39 . 1854 veröffentlicht George ein Lehrbuch der Psycho37 Mauthner, in: Gruppe, Philosophische Werke, Bd. 1, S. XXVIf. 38 George, Mythos und Sage, 1837; Über Prinzip und Methode der Philosophie mit Rücksicht auf Hegel und Schleiermacher, 1842; System u. Metaphysik, 1844; Die fünf Sinne. Nach den neueren Forschungen der Physik und Physiologie dargestellt als Grundlage der Psychologie, Berlin 1846; Lehrbuch der Psychologie, 1854; Psychologie. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von J. L. George, Berlin 1862; Die Logik als Wissenschaftslehre dargestellt, 1868. 39 Gutachten Trendelenburgs vom 21.11.1846, UAHU, Phil. Fak. 1432, Bl. 76-77.
8.
Randgänger, Unberufene und Vergessene
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logie. 1856 wird er Extraordinarius und 1858 Ordinarius in Greifswald. 1862 gibt er aus dem Nachlaß Schleiermachers Psychologie heraus. 1868 erscheint seine Logik als Wissenschaftslehre dargestellt. Karl Heinrich Althaus (1806-1886) 40 promoviert in Halle und habilitiert sich 1838 in Berlin.41 1859 wird er auf eigenen Antrag mit Unterstützung der Fakultät 42 zum außerordentlichen Professor 43 ernannt. Zeitlebens lehrt er in Berlin. Karl Moritz Kahle (1806—?) promoviert 1832 in Berlin und scheidet nach seiner Habilitation 1839 bald in die Anwaltstätigkeit aus. Franz Vorländer (1806-1867) 44 promoviert 1834 mit einer Arbeit Elementa doctrinae de casibus in Berlin, publiziert 1841 Grundlinien einer organischen Wissenschaft der Seele, wird 1842 Privatdozent und wechselt 1843 als Extraordinarius nach Marburg. Seine Monographie über Schleiermachers Sittenlehre von 1851 wurde vor einigen Jahren neu aufgelegt. Der Philosophiehistoriker und KantForscher Karl Vorländer (1860-1928) ist sein Sohn. Friedrich Adolf Maercker (1809-1889) studiert schon Ende der zwanziger Jahren in Berlin, promoviert 1837 in Halle und habilitiert sich 1842 mit einer Abhandlung über Das Prinzip des Bösen nach den Begriffen der Griechen. Er lehrt jahrzehntelang ganz regelmäßig Philosophie, Rhetorik und Pädagogik in Berlin, seit 1861 als Titularprofessor, ohne weitere akademische Anerkennung. Johann Karl Glaser (1814-1894) wechselt von der Theologie über die Philosophie in die Staatswissenschaften; 1844 habilitiert er sich in der Philosophie und wird 1855 Ordinarius in Königsberg, später in Marburg. Er ist dann als Vertreter der konservativen Opposition gegen Bismarck Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und dankt seinen politischen Beziehungen auch einen Teil seiner akademischen Karriere. 45 Carl Hermann Kirchner (1822-1860) promoviert 1846 De Procli Neapolitanici in Berlin, gewinnt eine Preisaufgabe der Berliner Akademie mit einer Schrift über Die Philosophie des Plotin, laut Vorwort verfaßt „in der eigenen Sprache Plotin's", wird daraufhin 1847 Privatdozent und lehrt bis zu seinem frühen Tod in der Fakultät. In
40 Althaus, Prolegomena de summo disciplinarum fine et nexu, Halle 1837; De tragicorum Graecorum dialecto, Berlin 1866; Von der Überzeugung, insbesondere der religiösen, Leipzig 1872; Conjectanea in aliquot locos Baccharum Euripides, Spandau 1884. 41 UAHU, Phil. Fak.1202, Bl. 194-207. 42 UAHU, Phil. Fak.1458, Bl. 177-179. 43 Schreiben des Ministers vom 29. 7. 1859, UAHU, Phil. Fak.1458, Bl. 198. 44 Vorländer, Grundlinien einer organischen Wissenschaft der menschlichen Seele, 1841; Wissenschaft der Erkenntnis, Marburg 1847; Die gegenwärtige politische Bewegung oder was das deutsche Volk will, soll, kann und muss. Ein Wort zur Verständigung, Marburg 1848; Schleiermachers Sittenlehre, Marburg 1851; Geschichte der philosophischen Moral, Rechts- und Staats-Lehre der Engländer und Franzosen, Marburg 1855; zu Vorländer vgl. Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, Würzburg 1994, S. 55ff. 45 So Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 2.2, Halle 1918, S. 139.
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seinem Todesjahr erscheint eine Abhandlung über Die speculativen Systeme seit Kant und die philosophische Aufgabe der Gegenwart. Adolph Helfferich (1813-1894) 4 6 studiert in Tübingen und gerät dort in die burschenschaftliche Bewegung. 1833 wird er deshalb inhaftiert, nimmt aber erneut sein Studium auf, promoviert 1840 und habilitiert sich 1843. Am 25. Oktober 1862 wird er in Berlin zum außerordentlichen Professor ernannt. Doch schon am 11. September 1864 beantragt er,47 durch eine Erbschaft mittlerweile unabhängig, beim damaligen Rektor Trendelenburg seine Entpflichtung und Rückkehr in den Status des Privatdozenten. Obwohl Trendelenburg in seiner Antwort vom 21. September 1864 Helfferich bittet, diesen Schritt zu überdenken, scheidet er 1865 ins Privatleben aus. 48 Nach 1873 lebt er beinah ununterbrochen in Heilanstalten. Diese Angaben sind spärlich. So wurde nicht ermittelt, wer effektiven Zulauf in der Lehre hatte. Es ist davon auszugehen, daß der eine oder andere Dozent, ähnlich wie einst Schopenhauer oder Keyserlingk, kaum Hörer fand und seine Veranstaltungen trotz regelmäßiger Ankündigungen deshalb nicht abhielt. Sieht man von einigen ab, die Berlin schnell wieder verließen, so komplettieren um 1848 vor allem die Dozenten Werder, George, Althaus, Maercker, Helfferich, Gruppe und Glaser das Bild der Fakultät. Es sei erinnert, daß neben Trendelenburg und Gabler damals noch v. Henning und Michelet, Beneke und Fortlage, Steffens und Schelling das Gesicht der „Philosophischen Wissenschaften" in unterschiedlicher Weise prägen. Nach 1848 treten die literarischen und spekulativen Absichten weiter zurück. Die Philosophie verwissenschaftlicht sich, politisch und weltanschaulich unter Druck, im Zeichen historisch-kritischer Philosophiegeschichtsschreibung. Zwischen 1846 und 1861 gibt es einen „fünfzehnjährigen Ausbaustopp" 49 der Fakultät. Die Zahl der Inskriptionen sinkt dramatisch, die der Habilitationen folgt nach. 50 Ein Ministerial-Erlaß vom 1. Dezember 1853 empfiehlt, „die statuarischen Bestimmungen in Betreff der Habilitation von Privatdozenten mit angemessener Strenge zur Ausführung zu bringen" 51 . So kommt es erst in den sechziger Jahren wieder zu neuen Habilitationen.
46 Helfferich, Spinoza und Leibniz oder Das Wesen des Idealismus und des Realismus, Hamburg 1846; Die Metaphysik, 1846; Neujahrswunsch eines dichtenden Patrioten, Berlin 1846; Der Organismus der Wissenschaft und die Philosophie der Geschichte, 1856; Blätter der Erinnerung an Adolf Helfferich, Cannstatt 1894. 47 UAHU, UK.,PAH 195, Bl. 5. 48 UAHU, UK„ PA Η 195, Bl. 5. 49 Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 47. 50 Dazu Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt 1986, S. 109ff., bes. 140ff. 51 Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Systematische Zusammenstellungen für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, bearbeitet von Dr. Daude, Berlin 1887, S. 330.
8.
d.
Randgänger, Unberufene und Vergessene
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Einige Dozenten nach 1848
Jürgen Bona Meyer (1829-1897) 5 2 ist vor seiner Habilitation schon ein bekannter und einflußreicher Autor. Er studiert Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie und promoviert 1854 bei Trendelenburg über Aristoteles' Thierkunde. Im Materialismusstreit bezieht er in den fünfziger Jahren eine kritizistische Position, die er in einschlägigen Arbeiten über Kant ausführt. 1861 publiziert er über Die Idee der Seelenwanderung, 1862 Über Fichtes Reden an die deutsche Nation. 1862 habilitiert er sich in Berlin und lehrt auch an der dortigen Kriegsakademie. 1869 publiziert er eine wichtige Monographie zu Kant's Psychologie und wird Ordinarius in Bonn. 1870 erscheinen seine Philosophischen Zeitfragen. Meyer wird Prinzenerzieher des späteren Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) und nimmt als einflußreicher Kultur- und Bildungspolitiker zu den Weltanschauungsfragen der Zeit Stellung. Eugen Carl Dühring (1833-1921) promoviert am 14. Dezember 1861 De tempore, spatio, consalite atque de analysis infinitesimalis logica in Berlin. Von Hause aus Jurist, infolge seiner Erblindung für den Verwaltungsdienst verloren, habilitiert er sich 1863 mit Unterstützung Trendelenburgs für Philosophie, später auch für Nationalökonomie. 1865 erscheint seine bekannteste Schrift Der Werth des Lebens. Als Vertreter „exakter Wissenschaft" auf der Grundlage von Mathematik und Mechanik ist Dühring damals trotz seines sozialmissionarischen Weltanschauungspathos als Wissenschaftler durchaus geachtet. 1866 stellt er deshalb ein Gesuch an die Fakultät, in dem er auf Publikationen und Lehrerfolg verweist und um eine Beförderung für das Fach Nationalökonomie nachsucht. 53 Er hat dabei die Professur für Philosophie und Staatswissenschaft Hennings im Blick, der am 5. Oktober 1866 verstorben war. 54 Laut Überweg 55 sieht die Fakultät in Dührings Erblindung damals ein Hindernis für die „Amtsverschwiegenheit". Auch wünscht man statt „eines Kameralisten" einen „wirklichen Philosophen". So richtet die Fakultät nur die Bitte um ein „Gnadengehalt" an den Minister. Zeitweise bezieht Dühring eine Remuneration von 100 Talern. Als Lehrer ist er weiter erfolgreich. 1869 erscheint seine Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und 1871 seine material interessantere Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus von ihren Anfängen
52 Meyer, Zum Streit zwischen Leib und Seele. Worte der Kritik, Hamburg 1856; Über den Kriticismus mit besonderer Rücksicht auf Kant, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 37 (1860), S. 226-263 u. 39 (1861), S. 4 6 - 6 6 ; Kant's Psychologie, Berlin 1870; Arthur Schopenhauer als Mensch und Denker, Berlin 1872; Deutsche Universitätsentwicklung, Berlin 1875. Fichte, Lassalle und der Sozialismus, Berlin 1878; zu Meyer ausführlich Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 157ff., 343f. und 410ff. 53 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1434, Bl. 136-137. 54 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1434, Bl. 191. 55 Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 13. Aufl., Basel 1951, S. 387.
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bis zur Gegenwart. Erst nach scharfen öffentlichen Angriffen auf Adolph Wagner (1835-1917) 5 6 und dann - in der zweiten Auflage seiner Kritischen Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik - auf das deutsche Universitätswesen überhaupt wird er 1877 remotiert und verliert die Venia legendi. Gleichzeitig publiziert Engels seinen Anti-Diihring. Als freier Schriftsteller in den „Naturzustande des Gelehrten" (I. Kant) zurückgefallen, setzt Dühring seine Ausfälle gegen die „Professorenphilosophie" (A. Schopenhauer) fort. In den neunziger Jahren bietet er einen Gesammtcursus der Philosophie in mehreren Bänden, läßt dabei aber den „Namen der Philosophie [...] nur in Ermangelung eines besseren" 57 bestehen. Er ergreift nun zu allen Zeitfragen die Feder: zur Religionsfrage, Judenfrage, Frauenfrage wie zum „Schicksal" seiner eigenen Schriften. Zur radikalen Religionskritik kommen grelle antisemitische Töne hinzu. 1864 habilitiert sich Wilhelm Dilthey (1833-1911) in Berlin. Seine Arbeit begutachten Trendelenburg und August Boeckh, deren Ära und Wirksamkeit damals ihrem Ende entgegengeht. Dies zeigt sich auch daran, daß beide von einem anderen Berliner Habilitanden zum Gegenstand historischer Forschung und kritischer Edition werden: Ernst Bratuschek (1837-1888) 5 8 promoviert 1865 in Berlin über Piaton, veröffentlicht regelmäßig in den Philosophischen Monatsheften und tritt bald in deren Herausgeberschaft ein. 1870 ergreift er in der Fischer-Trendelenburg-Debatte für seinen Lehrer Trendelenburg Partei. 1871 wird er Privatdozent. 1873 veröffentlicht er eine umfangreiche Monographie über Trendelenburg 59 und wechselt 1874 als Professor nach Gießen. Dort ediert er die Enzyklopädie seines philologischen Lehrers Boeckh. 60 Julius F. E Bergmann (1840-1904) 6 ' studiert in Göttingen und Berlin bei Lotze und Trendelenburg. Von Lotze ausgehend und von I. H. Fichte beeindruckt, läßt sich Bergmann - nach Ulrich Sieg 62 - als „Spätidealist" bezeichnen. 1862 promoviert er in Berlin Über den ontologischen Beweis vom Dasein Gottes. Mit dem alten Michelet 56 Berliner Börsen-Zeitung vom 8. und 15.11.1875. 57 Dühring, Wirklichkeitsphilosophie. Phantasmenfreie Naturergründung und gerecht freiheitliche Lebensordnung, Leipzig 1895, Vorrede. 58
Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 25 ff., 269, 397.
5 9 Bratuschek, Adolf Trendelenburg, Berlin 1873; Kuno Fischer und Adolf Trendelenburg, in: Philosophische Monatshefte 5 (1870), 2 7 9 - 3 2 3 ; Friedrich Schleiermacher, in: Philosophische Monatshefte 2 (1868), S. 1 - 2 2 . 60 Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. E. Bratuschek, 2. Aufl. Leipzig 1886, Neudruck Darmstadt 1966. 61 Bergmann, Grundlinien einer Theorie des Bewußtseins, Berlin 1870; Zur Beurtheilung des Kriticismus vom idealistischen Standpunkte, Berlin 1875; Sein und Erkennen. Eine fundamentalphilosophische Untersuchung, Berlin 1880; Die Grundprobleme der Logik, Berlin 1882; Vorlesungen über Metaphysik mit besonderer Beziehung auf Kant, Berlin 1886; Geschichte der Philosophie, 1892; Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie, Marburg 1900; System des objectiven Idealismus, Marburg 1903. 62 Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 174ff.
8.
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zusammen gibt er 1867/68 die Zeitschrift Der Gedanke heraus, bis er sich mit Michelet entzweit und 1868 die Philosophischen Monatshefte begründet. Das Programm dieser Zeitschrift ist weit gefaßt. Sie will nicht nur ein allgemeines Rezensionsorgan sein, sondern geht von dem Grundsatz aus, „dass die gesammte Wissenschaft in die Philosophie aufzugehen bestimmt ist": „Denn die Philosophie ist der mächtigere Strom, welcher die Empirie in sich aufnimmt". 63 Aus dieser Zeitschrift geht 1895 unter neuer, renommierter Herausgeberschaft 64 das Archiv für systematische Philosophie hervor, das Zeller mit einer Abhandlung Über Metaphysik als Erfahrungswissenschaft einleitet. 1870 erscheinen Grundlinien einer Theorie des Bewußtseins. Aufgrund dieser Verdienste erhält Bergmann 1872 in Berlin die Venia legendi, ohne eine Habilitationsschrift eingereicht zu haben. Noch im selben Jahr wird er Nachfolger Ueberwegs in Königsberg und wechselt dann 1875 nach Marburg. Dort lehrt er neben Cohen, kann sich aber philosophisch nicht behaupten und verstreitet sich mit den dortigen Neukantianern. 1893 will Bergmann deshalb seinen akademischen Beruf aufgeben. Daraufhin wird er durch Friedrich Althoff (1839-1908), den allgewaltigen Personaldezernenten im Unterrichtsministerium, von seinen akademischen Pflichten entbunden. Seiner Philosophie ist das gut bekommen. Sein 1903 publiziertes, letztes Werk System des objectiven Idealismus gilt als seine wichtigste Schrift.
e.
Neuaufbau nach 1872 mit Zeller und Dilthey
Klagt die Fakultät um 1848 immer wieder über die große Anzahl der Dozenten, so führt die Beschränkung der Habilitationen bis zur Reichsgründung zu einer personellen Ausdünnung. Nach dem Tode von Beneke und Gabler stehen neben Trendelenburg, abgesehen von einigen vergessenen Privatdozenten, eigentlich nur noch Henning und Michelet für eine gewisse Kontinuität innerhalb der langen Formierungsgeschichte von Hegel zu Dilthey. Als Henning und Boeckh dann Ende der 60er Jahre sterben und Trendelenburg 1872 folgt, stehen die „Philolosophischen Wissenschaften" in Berlin vor einem Neuanfang. Die durch Henning und Michelet repräsentierte Präsenz des Hegelianismus sowie die durch Boeckh und Trendelenburg eindrucksvoll erfolgte Konsolidierung der Fakultät aus dem historisch-kritischen Geist Schleiermachers und der Historischen Schule treten damit ab. In dieser Lage ist die Berufung Zellers, eines immerhin 58jährigen Mannes, auch ein Zeichen der Kontinuität. Zeller sorgt dafür, daß der Geist der Historischen Schule erhalten bleibt. Nach dem schnellen Weggang von Meyer und Dilthey, Bratuschek und Bergmann sowie der
63 Programm, in: Philosophische Monatshefte 1 (1868), S. III/IV. 64 In Gemeinschaft mit Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Christoph Sigwart, Ludwig Stein und Eduard Zeller herausgegeben von Paul Natorp.
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randständigen Position Dührings lehrt neben Harms und Zeller eigentlich niemand von Einfluß und Gewicht mehr „Philosophische Wissenschaften". Zeller findet damit bei seinem Wechsel nach Berlin Bedingungen vor, wie ein Ordinarius sie sich nur wünscht. Auch die Habilitanden finden in den folgenden Jahren glückliche Karrierebedingungen vor. 1875 habilitiert sich Friedrich Paulsen (1846-1908), 1877 folgt Benno Erdmann (1851-1921). Beide werden später in Berlin Ordinarien, weshalb sie in einem folgenden Kapitel zu behandeln sind. Der erste Habilitand unter Zeller dagegen, der keine nennenswerte Karriere macht, ist ein Pionier des Neuhegelianismus, der durch die jahrzehntelange, fortgesetzte Lehrtätigkeit Michelets noch vom Geist des Meisters zehrt: Adolf Lasson (1832-1917) ist bereits seit 1859 Realschulprofessor in Berlin, bevor er sich 1877 habilitiert. Steht schon seine jüdische Abstammung seiner weiteren akademischen Karriere im Wege, so bringt er sich durch seine - von Dilthey später so taxierte - „theologische Hegelei" zunehmend ins Abseits. Nur in Paulsen hat er einen Fürsprecher, den er sich aber 1890 durch seinen Einsatz Für das alte Gymnasium wider die Neuerer verprellt. Denn Paulsen ist einer der Neuerer. So wird Lasson erst am Heiligabend 1897 im 65. Lebensjahr zum Honorarprofessor ernannt. Wie später sein Sohn Georg Lasson (1862-1932), 65 der Pfarrer ist und niemals an der Universität wirkt, macht er sich vor allem als Hegel-Herausgeber verdient. In Lasson besitzt die Berliner Philosophie in neukantianischer Zeit einen glühenden Verfechter der Hegelschen Spekulation. 66 Lasson wußte sich „immer im Reich des Absoluten", meint Arthur Liebert 67 in seinem schwärmerischen Nachruf. Politisch gehört er schon durch seine Verteidigung der Hegeischen Kriegslehre zum Rechtshegelianismus. 68 Erst als seine akademische Wirksamkeit sich ihrem Ende nähert, mehren sich die Stimmen für eine „Erneuerung des Hegelianismus" 69 und eine „spekulative" Ausrichtung. Ferdi65 G. Lasson, Grundbegriffe der Glaubenslehre, 1913; Was ist Hegelianismus?, 1917; Hegel als Geschichtsphilosoph, 1920. 66 A. Lasson, Baco v. Verulams wissenschaftliche Prinzipien, 1860; Johann Gottlieb Fichte im Verhältnis zu Kirche und Staat, Berlin 1863; Meister Eckardt der Mystiker, Berlin 1868; Das Kulturideal und der Krieg, Berlin 1868; Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin 1871; Über Gegenstand und Behandlungsform der Religionsphilosophie, 1879; System der Rechtsphilosophie, Berlin 1882; Zeitliches und Zeitloses. Acht Vorträge, Leipzig 1890; Das Gedächtnis, 1894; Handelsinteressen und Besitzinteressen, Berlin 1896; Der Leib, 1898; Deutsche Art und Bildung, Berlin 1914; Über den Zufall, Berlin 1918. 67 Arthur Liebert, in: Kant-Studien 23 (1918), S. 101-109, hier: 102. 68 Dazu vgl. Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der Hegeischen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974, S. 182ff. ; einschränkend Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Berlin 1977, S. 146 ff. 69 So der programmatische Titel von Wilhelm Windelbands Akademierede von 1910, in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, Bd. 1, 4. Auflage, Tübingen 1911, S. 260ff.
8.
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nand Jakob Schmidt (1860-1939), von dem noch zu berichten ist, erinnert 1932 in einem „Gedenkblatt zur Hundertjahrfeier seines Geburtstages": „Ohne Anstoß erregende Übertreibung wird von Adolf Lasson gesagt werden dürfen: er war in den Zeiten schwerster Geistesnot der treue Hüter des deutschen Idealismus!" 70 Georg von Gizycki (1851-1895) 71 promoviert im Mai 1875 in Berlin mit einem Versuch über die Konsequenzen der Evolutionstheorie, der 1876 publiziert wird. Im selben Jahr promoviert er bei Zeller, der auch die Habilitation betreut. Im Sommer 1878 wird Gizycki Privatdozent. Er liest über Ethik, Logik und Erkenntnistheorie. Nach persönlichem Gesuch bei der Philosophischen Fakultät wird Gizycki, der an einen Rollstuhl gefesselt ist, im August 1883 zum Extraordinarius ernannt. 72 Er ist an der Fakultät mehr gelitten als erwünscht, steht er doch im Ruf, „einer der gefährlichsten Kathedersozialisten" zu sein. Und er tritt als überzeugter Atheist auf. Betont ketzerisch untermauert er seine unchristliche Gesinnung gelegentlich mit einer illustren Begebenheit aus der Kindheit: Als der Klassenlehrer am ersten Schultag fragte, was er denn schon „vom lieben Heiland wüßte", habe Gizycki geantwortet, daß er „von dem Land noch nie etwas gehört hätte" 73 . Bis an sein Lebensende bleibt Gizycki in Berlin. Hier wirkt er an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur mit,74 einer sozialpolitischen, mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Reformbewegung, die sich nach Aufhebung der Sozialistengesetzgebung der sozialen Frage annimmt, gegen den Konfessionalismus propagiert und „ethische Kultur" zur Versöhnung der Klassengegensätze einfordert. Die Ursprünge dieser Bewegung führen nach Amerika, wo unter der Führung des Philosophen Felix Adler (1851-1933) 1876 in New York die Societies for ethical culture entstanden. Der deutsche Zweig fügt sich nicht ganz dem freikonfessionellen Pathos und argumentiert akademisch vor allem mit Kant. Gizycki wird 1893 Herausgeber der Zeitschrift Ethische Kultur, verstirbt aber schon im März 1895, noch nicht ganz 44jährig. Dilthey sorgt dann dafür, daß Gizyckis Extraordinariat auf Ästhetik umdefiniert wird und an Dessoir fällt. 75 Paul Jakob Deussen (1845-1919) studiert in Bonn, Tübingen und Berlin zunächst gemeinsam mit seinem Schulpforta-Freund Friedrich Nietzsche (18441900) 76 - Theologie, Philosophie, Altphilologie und Sanskrit. Nietzsche weist Deus-
70 Ferdinand Schmidt, in: Kant-Studien 37 (1932), S. 221. 71 Gizycki, Grundzüge der Moral 1883; Moralphilosophie, 1888; Vorlesungen über soziale Ethik, 1895; Vom Baume der Erkenntnis, 3 Bde., 1897-1900. 72 Vgl. I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 47, Bd. 18, S. 160f. 73 Zit in: Lilly Braun, Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre, München 1910, S. 509. 74 Dazu ausführlich Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel, Frankfurt 1996, S. 284ff. 75 Ebd., S. 36Iff. 76 Beide ließen sich 1864 an der Bonner Theologischen Fakultät immatrikulieren. Während Nietzsche schon nach einem Semester in die Philosophische überwechselte, harrte Deussen noch drei weitere Semester aus (Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, S. 19).
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sen auf Schopenhauer hin, 77 von dem der Schritt zum Sanskrit naheliegt. Einige Jahre arbeitet Deussen als Gymnasiallehrer. Nietzsche vermittelt dann eine Hauslehrerstelle bei der russischen Fürstin Trubetzkoi, mit deren Familie Deussen ab 1872 Europa bereist und Zeit und Muße für seine Habilitationsschrift findet. 78 1873 habilitiert er sich in Genf. 1881 will er sich dann nach Berlin für Sanskrit umhabilitieren. Albrecht Friedrich Weber (1825-1901), der damals das Sanskrit in Berlin vertritt, rät dringend ab. Eine Habilitation auf diesem Gebiet biete „gar keine Aussicht auf Beförderung". Daraufhin wendet Deussen sich an Zeller, obgleich dieser gegenüber Weber bereits äußerte: „Er ist ein Schopenhauerianer, es wäre mir nicht angenehm, wenn er sich hier habilitierte." 79 Zeller begleitet die Habilitationsschrift über das System der Vedanta dennoch. Im Wintersemester 1881/82 hält Deussen seine erste Vorlesung. Im August 1887 wird er zum außerordentlichen Professor ernannt. 80 Bald erreicht ihn ein Ruf nach Kiel. Offensichtlich ist es gelungen, Althoffs Befürchtung zu entkräften, daß bei einer Berufung Deussens „insbesondere für die Theologen, dem Hauptkontingent der philosophischen] Hörer in Kiel, nichts Gutes herauskommen werde." 81 Am 15. Oktober 1889 verläßt Deussen Berlin und lehrt fortan in Kiel. Er publiziert eine Metaphysik vom Standpunkt des „kantisch-schopenhauerschen Idealismus" 82 . 1911 begründet er die Schopenhauer-Gesellschaft, deren Jahrbuch sowie die historischkritische Ausgabe der „Sämtlichen Werke". Deussen fügt die indische Philosophie in seine mehrbändige Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen (1894/1917) ein und wirkt somit an der Ausweitung des Philosophiebegriffs mit. 83 1919 verstirbt er in Kiel. Im gleichen Jahr unterzieht Hein-
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Deussen, Erinnerungen, S. 38; vgl. auch S. 79. Ebd., S. 76ff.; vgl. auch87f. Deussen, Mein Leben, hrsg. v. Erika Rosenthal-Deussen, Leipzig 1922, S. 204. Ebd., S. 234. Zit. in: Ulrich Sieg, Im Zeichen der Beharrung. Althoffs Wissenschaftspolitik und die deutsche Universitätsphilosophie, in: Bernhard von Brocke (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff' in historischer Perspektive, Hildesheim 1991, S. 288. 82 Deussen, Die Elemente der Metaphysik, 1877, ó.Aufl., Leipzig 1919. 83 Deussens Philosophiegeschichte gliedert sich in zwei Teile und sieben Bände. Der erste Teil erörtert die Entwicklung der indischen Philosophie in drei Bänden mit einem Anhang zur chinesischen und japanischen Philosophie (1894/1899/1908). Der zweite Teil behandelt die „Philosophie der Griechen" (1913), dann „Die Philosophie der Bibel" (1913) mit dem Nachklang der Philosophie des Mittelalters (1915), um endlich mit der „neueren Philosophie von Descartes bis Schopenhauer" (1917) zu schließen. Das Vorwort des letzten Bandes führt das „Lebenswerk" auf eine „Art Eingebung" vom November 1873 zurück. Die Ausarbeitung präsentiert Deussen als eine „Dankesschuld" gegenüber seinen Lehrern, vor allem gegenüber dem „fast übermenschlichen Genius Schopenhauers", dem es gelungen sei, „auf dem von Kant gelegten Grunde ein Gebäude ewiger philosophischer Wahrheit aufzurichten" (1917, S. IX).
8.
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rieh Scholz (1884-1956) 84 , ein Berliner, der 1919 die Nachfolge Deussens in Kiel antritt, sein Werk einer eindringenden Generalkritik: Deussens „Überzeugungstreue" und Jüngerschaft gegenüber Schopenhauer habe eine Verzeichnung der indischen Philosophie „unter dem Gesichtspunkt der möglichsten Anpassung an das abendländische Denken" bewirkt und mit der moralischen und metaphysischen Interpretation der Bibel auch die eigene „Sinnhaftigkeit der Religion vernichtet". Scholz stellt diesen „Hierophant der deutschen Schopenhauer-Gemeinde" in die „Geschichte der nachschaffenden Philosophie" und befördert ihn so aus der eigentlichen Philosophiegeschichte heraus. 1882 wird Dilthey nach Berlin berufen. Bis zur Jahrhundertwende macht Dilthey keine „Schule" in irgendeinem Sinne. Er fördert aber Karl Heinrich von Stein (1857—1887)85. Stein beginnt in jungen Jahren in Heidelberg und Halle ein Theologiestudium und wechselt 1875 nach Berlin zur Philosophie und Naturwissenschaft, wo er sich Eugen Dühring zum Lehrer erkürt, 1877 bei Zeller Über Wahrnehmung promoviert und 1878 pseudonym eine „lyrische Philosophie" über Die Ideale des Materialismus veröffentlicht. Über Malwida von Meysenbug lernt er 1879 Richard Wagner (1813-1883) kennen und lebt ein Jahr bei Wagner als Erzieher von dessen Sohn Siegfried. 1881 habilitiert er sich in Halle mit der Arbeit Über die Bedeutung des dichterischen Elements in der Philosophie des Giordano Bruno. Rudolf Haym (1821-1901) setzt die Arbeit mit Bedenken durch. Stein liest dann in Halle über Schopenhauer und Wagner und publiziert in den Bayreuther Blättern u. a. über Luther, Shakespeare, Rousseau und Goethe. 1882 nimmt er Kontakt mit Nietzsche auf, der in ihm voreilig einen Schüler vermutet. Um die gleiche Zeit stellt Stein das Habilitationsgesuch in Berlin. Er begründet den Wechsel mit den breiteren Wirkungsmöglichkeiten an einem „allgemeineren Überlegungen notorisch so zugänglichen Orte, als es eben die Berliner Universität ist" 86 . Zeller lehnt zweimal ab, wogegen Dilthey auf die „ganz ent-
8 4 Heinrich Scholz, Paul Deussen, in: Kant-Studien 2 4 (1919), S. 3 0 4 - 3 1 7 , hier: 310, 313, 317. 85 Umfassend jetzt: Markus Bernauer, Heinrich von Stein, Berlin 1998, dort bes. S. 73ff. (Studienzeit), 131 ff. (Habilitation in Berlin), 2 0 6 f f . (Lehrtätigkeit). Publikationen Steins u.a.: Ueber Wahrnehmung, Berlin 1877; Ueber die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno, Halle 1881; Helden und Welt. Dramatische Bilder, eingeführt durch Richard Wagner, Chemnitz 1883; Wagner-Lexikon. Hauptbegriffe der Kunst- und Weltanschauung Richard Wagner's in wörtlichen Anführungen zusammengestellt von Carl Fr. Glasenapp und Heinrich von Stein, Stuttgart 1983; Die Entstehung der neueren Ästhetik, Stuttgart 1886; Vorlesungen über Aesthetik, nach vorhandenen Aufzeichnungen bearbeitet, Stuttgart 1907; Heinrich von Steins Briefwechsel mit Hans v. Wolzogen. Ein Beitrag zur Geschichte des Bayreuther Gedankens, Leipzig 1910; Heinrich von Stein. Gesammelte Dichtungen, hrsg. v. Friedrich Poske, Bd. 1-3, Leipzig 1916. 86 Wissenschaftliche Selbstdarstellung v. 2 3 . 1 2 . 1 8 8 2 , in: Heinrich von Stein. Idee und Welt. Das Werk des Philosophen und des Dichters, hrsg. v. Günter Ralfs, Stuttgart 1940, S. 199-202, hier: 202.
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schiedene ästhetische Begabung" verweist und Steins Zulassung zur Habilitation im Mai 1883 mit einiger Mühe durchbringt. 87 Dilthey sorgt dafür, daß Stein im Sommer 1884 eine akademisch gediegene Abhandlung Über den Zusammenhang Boileau's mit Descartes einreicht. Nachdem auch die Probevorlesung über „Rousseaus Einfluß auf Kant" überzeugt, kann Stein zum Wintersemester 1884/85 seine Lehrtätigkeit als Privatdozent in Berlin aufnehmen. Er liest meist „Ästhetik" und auch einmal unentgeltlich „Über Richard Wagner". Das Thema seiner Habilitationsschrift weiterführend, publiziert Stein 1886 eine umfangreichere Arbeit über Die Entstehung der neueren Ästhetik, die Nähen zu Diltheys 1887 erschienener großer Abhandlung über Die Einbildungskraft des Dichters sowie dessen Studie über Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Fragestellung aufweist. 88 Zuletzt publiziert er Schopenhauer-Scholien, die Schopenhauers Willensmetaphysik in eine heroisch-tragische Lehre vom Konflikt des Individuums mit der Welt psychologisch umdeuten. Diesem Thema gelten auch Steins dramatische Bilder Helden und Welt. Nach seinem Tod 1887 setzt vornehmlich im Wagner-Kreis bald ein regelrechter Heinrich von Stein-Kult ein, der den Frühvollendeten zum Märtyrer des Weltanschuungskampfes um die Durchsetzung der Bayreuther Anschauungen an der Universität macht. Wagners Schwiegersohn Chamberlain schreibt die Biographie. 89 Bald folgen Textausgaben. Hermann Glockner 90 singt Stein ein jugendbewegtes Elogium. Mit Deussen und Stein gibt es also auch Fürsprecher von Schopenhauer, Wagner und Nietzsche in der Fakultät. Damals lebt auch der Nietzsche-Freund Paul Reé (1849-1901) mit Lou von Salomé in Berlin und pflegt mit Deussen und Stein zusammen ein „philosophisches Kränzchen". Reé will sich mit seinen Arbeiten zur Entstehung des Gewissens und dem Ursprung der moralischen Empfindungen habilitieren. Zeller gutachtet jedoch, Reés „durchaus dilletantische Arbeit" strotze nur so vor „Oberflächlichkeit" und „Gedankenlosigkeit" 91 ; Dilthey erklärt sich mit Zellers Ablehnung „ganz einverstanden" 92 . Reé erhält die seltene „einfache Abweisung" 93 , die jedes weitere Verfahren in Berlin ausschließt. In seiner posthumen Publikation Philosophie distanziert sich Reé selbst von seinen frühen Schriften.
87 Ebd., S. 211. 88 Beides in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 101-241 bzw. 242-287. 89 Houston Stewart Chamberlain u. Friedrich Poske, Heinrich von Stein und seine Weltanschauung, Leipzig und Berlin 1903. 90 Hermann Glockner, Heinrich von Stein. Schicksal einer deutschen Jugend, Tübingen 1934. 91 UAHU, Phil. Fak. 1212, Bl. 136. 92 Ebd., Bl. 137. 93 Ebd., Bl. 138.
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Randgänger, Unberufene und Vergessene
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Johannes Rehmke (1848—1930)94 studiert zunächst Theologie und promoviert 1871 in Zürich. Von 1875-1883 arbeitet er als evangelischer Religionslehrer und „Professor der Philosophie" an der Kantonschule zu St. Gallen. Auf Empfehlung seines theologischen Lehrers Biedermann geht er dann nach Berlin und habilitiert sich dort im März 1884 mit einer Schrift über Die Welt als Wahrnehmung und Begriff. Bereits ein knappes Jahr später tritt Althoff an ihn heran, ob er eine außerordentliche Professur in Greifswald übernehmen wolle. Rehmke sagt zu und lehrt fortan in Greifswald. Er wird dort 1887 Ordinarius und bleibt der pommerschen Stadt treu, obgleich ihn immer wieder Angebote anderer Universitäten erreichen. 95 Er ist um die Jahrhundertwende ein sehr produktiver und bekannter Autor. Im Alter lehrt er von 1921 bis 1929 noch in Marburg. August Dörings (1834-1912) 9 6 Weg zur Philosophie führt über die Theologie. Nach bestandenen theologischen Examina tritt er 1857 eine Vikarstelle in der Gemeinde Altenberg bei Aachen an. Mit einem Reisestipendium ausgestattet, begibt er sich dann nach Nordamerika. Nach seiner Rückkehr promoviert Döring 1864 in Jena. Anschließend geht er in den Schuldienst und steigt in Dortmund zum Gymnasialdirektor auf. 1885 siedelt er nach Berlin über und meldet sich an der Universität zur Habilitation an. Zeller möchte „dem schon in reiferem Alter befindlichen Mann" keine großen Chancen in Aussicht stellen. Gleichwohl zeugten die Schriften Dörings „nicht allein von guter Kenntniß der alten und neueren Philosophie, sondern auch von selbständigem Denken, vielseitiger psychologischer Beobachtung, Uebung in der methodischen Behandlung wissenschaftlicher Fragen" 97 . Dilthey quittiert „einverstanden" 98 , und so ist Döring 1885 habilitiert. Wie Paulsen und Gizycki engagiert er sich in der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur und veröffentlicht zahlreiche sozialethische und sozialpolitische Schriften. Philosophisch geht er von einer Güterlehre aus, die den Pessimismus im elementaren Ausgangspunkt beim menschlichen „Bedürfnis" zu widerlegen sucht und daraus eine Ethik entwickelt, die „alle metaphysischen und speciell alle theologischen Voraussetzungen" 99 fernzuhalten strebt. 1892 wird das Kultusministerium bei
94 Rehmke, Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, 1894; Grundriss der Geschichte der Philosophie, Berlin 1896; Philosophie als Grundwissenschaft, Leipzig 1910; Logik oder Philosophie als Wissenschaftslehre, 1918; Grundlegung der Ethik als Wissenschaft, 1925. 95 Siehe dazu: Sophus Hochfeld, Johannes Rehmke, München/Leipzig 1923. 96 Döring, Der Inhalt der sittlichen Forderung, Berlin 1893; System der Pädagogik im Umriss, Berlin 1894; Die Lehre des Sokrates als sociales Reformsystem, München 1895; Hamlet. Ein Versuch zur ästhetischen Erklärung der Tragödie, Berlin 1898; Handbuch der menschlichnatürlichen Sittenlehre für Eltern und Erzieher, Stuttgart 1899; Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1903; Grundlinien der Logik als einer Methodenlehre universeller sachlicher Ordnung unserer Vorstellungen, Leipzig 1912. 97 UAHU, Phil. Fak. 1212, Bl. 107. 98 UAHU, Phil. Fak. 1212, Bl. 107. 99 Döring, Philosophische Güterlehre. Untersuchungen über die Möglichkeit der Glückseligkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns, Berlin 1888, S. V.
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der Fakultät initiativ, ob Döring nicht zum unbesoldeten Extraordinarius berufen werden könne. Die Fakultät lehnt dieses Ansinnen im Mai 1894 jedoch entschieden ab. Vor allem Zeller kann sich für eine Berufung Dörings nicht erwärmen; Dörings wissenschaftliche Leistungen seien „nicht so hervorragend", um eine solche Berufung zu rechtfertigen. 100 Zeller äußert sich brieflich drastisch: „Das Selbstgefühl, mit dem hier die eingebildete Mittelmäßigkeit sich breit macht, ist wahrhaft klassisch" 101 . „Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet" 102 , meint er später schon angesichts des unaufgeschnittenen Buches Die Lehre des Sokrates als sociales Reformsystem. August Schmekel (1863-1946) 1 0 3 promoviert 1885 in Greifswald und meldet sich am 13. Oktober 1893 zur Habilitation in Berlin an; er reicht zwei Schriften über Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhang sowie über Die Probleme der Logik und Erdmanns Lösung derselben ein. Zeller urteilt positiv und Dilthey erklärt sich „ganz einverstanden". Einige Semester kündigt Schmekel regelmäßig Veranstaltungen zur antiken Philosophie sowie zur Philosophie des 19. Jahrhunderts an, bis er 1901 nach Greifswald wechselt. Dort wird er später Ordinarius für klassische Philologie. Günther Thiele (1841-1910) 1 0 4 ist ein Schüler Julius Bergmanns; er tritt mit Arbeiten zu Kant hervor, wird 1882 in Königsberg ordentlicher Professor und wechselt 1898 als Privatdozent für systematische Philosophie nach Berlin. Rudolf Lehmann (1855-1927) 1 0 5 ist Pädagoge und Praktiker, ein Gymnasiallehrer. Früh von Schopenhauer beeinflußt, habilitiert er sich 1900 bei Paulsen und Dilthey 100 101 102 103
UAHU, Phil. Fak. 1436, Bl. 187. Zeller am 29.12.1896 an H. Diels, in: Diels, Zeller, Usener. Briefwechsel, S. 166. Zeller an Diels am 28. 7. 1895, ebenso am 2.9.1895. UAHU, Phil. Fak. 1220; Publikationen Schmekels: De Ovidiana Phythagoreae doctrinae adumbratione, 1885; Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt, Berlin 1892; Isidorus von Sevilla. Sein System und seine Quellen, Berlin 1914; Forschungen zur Philosophie des Hellenismus, Berlin 1938. 104 Thiele, Kants intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines Kritizismus, 1876; Grundriß der Logik und Metaphysik, 1878; Die Philosophie Kants, 1882-1887; Die Philosophie des Selbstbewußtseins und der Glaube an Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Systematische Grundlegung der Religionsphilosophie, Berlin 1895; Kosmogonie und Religion, Berlin 1898; Philosophische Streifzüge an deutschen Universitäten in zwanglosen Heften. Erstes Heft: Einleitung: der objektive Idealismus von Julius Bergmann in Marburg, Berlin 1904; zu Thieles Werk vgl. Otto Siebert, Religionsphilosophie in Deutschland, 1906, S. 96ff.; Darstellungen der Religionsphilosophien der Berliner Dozenten Pleiderer und Runze finden sich ebd., S. 27ff. und 112ff. 105 Lehmann, Der deutsche Unterricht. Methodenlehre für höhere Lehranstalten, 1890; Schopenhauer. Einleitung zur Psychologie der Metaphysik, 1892; Lehrbuch der philosophischen Propaedeutik, Berlin 1905; Erziehung und Unterricht. Grundzüge einer praktischen Pädagogik, 2. Auflage Berlin 1912; Die deutschen Klassiker: Herder, Schiller, Goethe, 1921; Die pädagogische Bewegung der Gegenwart, München 1922; Das doppelte Ziel der Erziehung, Berlin 1925. Würdigung Lehmanns zum 70. Geburtstag durch Ernst Goldbeck, in: Kant-Studien 30 (1925), S. 559-566.
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„für das Fach der Pädagogik und die angrenzenden Gebiete der Philosophie".106 Paulsen würdigt seine Beiträge zur Pädagogik gutachterlich und erwartet „von seiner Beteiligung an dem pädagogischen Unterricht unserer Fakultät eine erfreuliche Bereicherung" 107. Zwischen 1900 und 1906 kündigt Lehmann ein breites Pensum an und wechselt dann auf einen Lehrstuhl für Philosophie und deutsche Literatur an die Akademie nach Posen; später wird er in Breslau noch Honorarprofessor. Bei diesem Überblick über die Berliner Habilitationen zwischen 1872 und 1900 wurden Ebbinghaus (1880), Simmel (1885), Dessoir (1892) und Schumann (1894) bisher übergangen, weil sie noch ausführlicher behandelt werden. Der Experimentalpsychologe Ebbinghaus geht, als Stumpf 1894 als Nachfolger Zellers kommt und Schumann als seinen Assistenten holt. Die Rolle Simmeis ist ein Kapitel für sich, und Dessoir macht dank der Förderung Diltheys in Berlin Karriere. Er übernimmt damit gewissermaßen die Rolle, die Dilthey dem verstorbenen Heinrich von Stein zudachte. Geht man davon aus, daß die Karrieren von Ebbinghaus, Rehmke, Schmekel, Schumann und Lehmann einigermaßen absehbar waren, so bleiben als Randgänger damals vor allem Lasson, Gizycki, Deussen und Doering, da Thiele als Emeritus kein Problem ist. Die akademischen Leistungen von Lasson und Deussen sind heute noch ohne weiteres namhaft und bekannt. Ähnlich wie Paulsen sind Gizycki und Doering damals als sozialpolitisch engagierte Ethiker profiliert. Dieses sozialpolitische Erbe beschließt die kameralistische Linie, die durch v. Henning und Dühring in der Philosophie vertreten war. Die Schwierigkeiten, die Beiträge von Gizycki und Doering einzuschätzen, hängen mit diesen Ausdifferenzierungen zusammen. Noch Simmeis Karriere leidet darunter, daß sein Frühwerk sozialwissenschaftliche, volkskundliche und nationalökonomische Fragen erörtert, die damals kaum noch in der Philosophie vertreten, sondern an andere Fächer und Fakultäten abgetreten werden. Vierkandt schließlich, der sich 1900 in Berlin habilitiert, gelangt von der Völkerkunde zur Sozialphilosophie. Bedenkt man solche disziplinären Verschiebungen, so gibt es zwischen 1848 und 1900 eigentlich niemanden, dessen Habilitation aus der Perspektive der damaligen Fakultät als Irrtum bezeichnet werden muß. Erst nach 1900 habilitieren sich diejenigen, die zumeist mit der „Schule" Diltheys verbunden werden: Misch (1905), Frischeisen-Köhler (1906), Groethuysen (1907) und Spranger (1909). Die meisten Habilitanden zwischen 1900 und 1933 sind aber Psychologen. Ein Sonderfall ist Cassirer (1906). Und nur noch ein Habilitand der Wilhelminischen Blütezeit ist heute weitgehend vergessen, der in Berlin und anderswo in der Philosophie keine Karriere macht: Friedrich Kuntze (1881-1929) studiert in Lousanne, Berlin und Freiburg. 1905 promoviert er in Freiburg bei Heinrich Rickert über Das Problem der Objektivität bei Kant und habilitiert sich dann 106 So Althoff im Schreiben vom 30.6.1900, in: UAHU, Phil. Fak. 1224, Bl. 97. 107 Gutachten Paulsens vom 14.3.1900, UAHU, Phil. Fak. 1224, Bl. 99.
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1911 in Berlin mit Unterstützung Riehls mit einer umfangreichen, erkenntnistheoretischen Arbeit über Die Philosophie Salomon Maimons, die Cassirer 108 als eine „ausgezeichnete Monographie" beurteilt. Im Ersten Weltkrieg dient Kuntze als Offizier und übernimmt einen leitenden Posten im Kriegsministerium. Künstlerisch begabt, mit zahlreichen Aufsätzen im Kunstwart hervortretend, ist er Neukantianer. Methodologisch und didaktisch interessiert, publiziert er über Die Technik der geistigen Arbeit und die „Denkmittel" der Philosophie. 109 Im Handbuch der Philosophie verfaßt er einen zentralen Artikel über Erkenntnistheorie (1927); er hinterläßt ein Werk Der morphologische Idealismus (1929). Für die Nachfolge von Misch steht er einmal 1917 in Marburg mit Unterstützung Paul Natorps an erster Stelle der Fakultätsliste, vor Max Wundt und Heidegger. Berufen wird jedoch Wundt. 110
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Ein Blick ins
Vorlesungsverzeichnis
Wie schon in der Formierungsphase der Berliner Philosophie kündigen auch in der Wilhelminischen Blütezeit eine ganze Reihe Dozenten im Vorlesungsverzeichnis unter der Rubrik „Philosophische Wissenschaften" an. Sie haben nicht die Venia für Philosophie, vertreten z. T. andere Fächer oder wirken als Praktiker an der Universität. Erwünscht sind sie, sofern sie eine sinnvolle Ergänzung des Lehrangebots namentlich zur Seite der Naturwissenschaften und der Pädagogik bieten. Nach den alten Statuten der Akademie und laut der Statuten der Philosophischen Fakultät vom 29. Januar 1838 (Abschnitt II, § 40) haben Akademiemitglieder das Recht, Vorlesungen zu halten. Professoren einer anderen Fakultät, wie Naturwissenschaftler oder Theologen, dürfen in der Philosophischen Fakultät nur mit deren Einwilligung Vorlesungen halten (§ 43). Insbesondere in Wilhelminischer Zeit ist der Versuch erkennbar, die Universalität der „Philosophischen Wissenschaft" - so die Rubrizierung im Vorlesungsverzeichnis auch durch Lehraufträge darzustellen.
108 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. III: Die nachkantischen Systeme, Neudruck Darmstadt 1994, S. 82. 109 Kuntze, Das Problem der Objektivität bei Kant, Diss. Freiburg 1905; Die kritische Lehre von der Objektivität, Heidelberg 1906; Die Philosophie Salomon Maimons, Heidelberg 1912 (dazu vgl. Salomon Maimons theoretische Philosophie und ihr Ort in einem System des Kritizismus, in: Logos 3 (1912), 285-308); Denkmittel der Mathematik im Dienste der exakten Darstellung erkenntniskritischer Probleme, Berlin 1912; Die Technik der geistigen Arbeit, Heidelberg 1921; Der deutschen Nation Stirb und Werde, Berlin 1922; Erkenntnistheorie, München 1927; Von den neuen Denkmitteln der Philosophie, Heidelberg 1928; Der morphologische Idealismus. Seine Grundlagen und seine Bedeutung, München 1929; kurzer Nachruf von Arthur Liebert in der Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1928/29, S. 12f. 110 Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 379f.
8.
Randgänger, U n b e r u f e n e und Vergessene
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Der Trendelenburg-Schüler und Altphilologe Hermann Bonitz (1814-1888), Direktor des renommierten Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, ist von 1868 bis 1875 Akademiemitglied und bietet Anfang der siebziger Jahre Lehrveranstaltungen in der Philosophie an.111 Hermann Diels (1848-1922) kündigt Mitte der achtziger Jahre, damals Extraordinarius für klassische Philologie in Berlin, ebenfalls einige Veranstaltungen zur „Geschichte der griechischen Philosophie" an. Ziemlich regelmäßig liest der große Sprachwissenschaftler Hermann Steinthal (1823-1899) 1 1 2 zwischen 1880 und 1899 über „Allgemeine und vergleichende Mythologie", Psychologie und andere Themen. Die ganzen neunziger Jahre hindurch lehrt der Mathematiker Reinhold Ernst Eduard Hoppe (1816-1900) regelmäßig jeweils im Sommersemester die „Elementarfrage der Philosophie". 113 Anfang der neunziger Jahre bietet Otto Pfleiderer (1839-1908) U 4 , seit 1875 Ordinarius für Systematische Theologie und Neues Testament, mehrfach Veranstaltungen zur Religionsphilosophie an. Volle dreißig Jahre hindurch kündigt der Theologe und Religionspsychologe Georg August Wilhelm Runze (1852-1938) 1 1 5 zwischen 1889 und 1919 Religionsphilosophie, Ethik und Metaphysik innerhalb der Philosophie an. Vor allem die Pädagogik wird ständig auch durch Lehraufträge vertreten. Zwischen 1898 und 1912 bietet der rührige „Provinzschulrat" Wilhelm Münch (1843-1912) U 6 , 111 Zur Weiterführung der antiken Philosophiegeschichtsschreibung nach Zeller u. a. durch Diels, Wilamowitz und E. Norden vgl. Werner Jaeger, Die klassische Philologie an der Universität Berlin von 1870 bis 1945, in: Studium Berolinese. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, hrsg. v. Hans Laussick u. a„ Berlin 1960, S. 459-485. 112 Späte Publikationen Steinthals: Abriß der Sprachwissenschaft, 2 Bde., Berlin 1881/93; Allgemeine Ethik, Berlin 1885; Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, 2 Bde., Berlin 1890/91; Über Juden und Judenthum, Berlin 1906; dazu vgl. Johannes Lohmann, Die Entwicklung der allgemeinen Sprachwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bis 1933, in: Studium Berolinese, S. 449-458. 113 Sie ist veröffentlicht: Hoppe, Die Elementarfrage der Philosophie nach Widerlegung eingewurzelter Vorurteile, Berlin 1897. 114 Pfleiderer, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 2. Aufl. 1878; Moral und Religion, 1872; Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 3. Aufl. 1898; Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, 5. Aufl., 1898; Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza bis zur Gegenwart, 1893; Religion und Religionen, München 1906. 115 Runze wurde 1880 Privatdozent, 1890 außerordentlicher und 1918 Honorarprofessor für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Veröffentlichungen u.a.: Schleiermachers Glaubenslehre, 1877; Ontologischer Gottesbeweis, 1881; Psychologie des Unsterblichkeitsglaubens, 1894; Studien zur vergleichenden Religionswissenschaft, 3 Bde. 1889/97; Religionsphilosophie, 1901; Metaphysik, 1905; Essays zur Religionspsychologie, 1913. 116 Münch, Vermischte Aufsätze über Unterrichtsziele und Unterrichtskunst an höheren Schulen, Berlin 1896; Geist des Lehramts. Eine Hodegetik für Lehrer an höheren Schulen, Berlin 1903; Eltern, Lehrer und Schulen in der Gegenwart, Berlin 1906; Kultur und Erziehung, München 1909; Das Unterrichts- und Erziehungswesen Groß-Berlins. Eine Übersicht, Berlin 1912.
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Teil II: Formierung
seit 1897 Honorarprofessor für Pädagogik, Semester für Semester meist mehrere pädagogische Veranstaltungen an. Es gibt also damals schon einen derart großen Bedarf an Pädagogik, daß mit Münch und dem Privatdozenten Lehmann gleich zwei Dozenten neben Paulsen erwünscht sind. Diesen Bedarf deckt zwischen 1913 und 1927 der Extraordinarius Ferdinand Jakob Schmidt ab. Danach vertritt die Pädagogik - neben Spranger und später Ottomar Wichmann - wieder ein Honorarprofessor, der Theologe und Kirchenpolitiker Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) " 7 , dem 1934 die Lehrbefugnis entzogen wird. Nur kurzzeitige pädagogische Lehraufträge haben dagegen Georg Wentzel (1862-1919), Hermann Reich (1868-1934) und Fritz Karsen (1885-1951) 1I8 , dessen Lehrauftrag 1933 entzogen wird. Außer pädagogischen Zusatzangeboten gibt es auch einen Bedarf an naturphilosophischen Veranstaltungen. So trägt Helmholtzm gelegentlich in der Philosophischen Fakultät vor. Wie erwähnt, liest der 1886 in Berlin habilitierte Physiker und Geograph Max Bernhard Weinstein (1852-1918) zwischen 1906 und 1915 ziemlich regelmäßig über Naturphilosophie und verwandte Themen. Nur einmal 1907/08 trägt Karl August Möbius (1825-1908) über „Das Seelenleben der Tiere" vor. Der Literaturhistoriker Richard M. Meyer (1860-1914), seit 1901 Extraordinarius, liest 1903 und 1909 über Nietzsche.120 Zwischen 1906 und 1909 doziert der Psychiater Edmund Forster (1878-1933) über „Zufall und Aberglaube" und „Wahrheit und Wahrscheinlichkeit". 1909/10 liest der Austauschprofessor George Foot Moore (1851-1939) Religionsgeschichte, 1910/11 Hermann Walther Nernst (1864-1941), seit 1905 Ordinarius für Physik, über die „Neue Atomistik". Nernst erhält 1920 den Nobelpreis für Chemie. Adolf Friedrich Karl Schmidt (1860-1944) bietet eine Veranstaltung über „Geschichte und Theorie künstlicher Verständigungsmittel" an. Der große Universalhistoriker Eduard Meyer (1855-1930) liest 1916/17 über Religionsgeschichte. 1919 kündigt der damalige Staatssekretär und spätere Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876-1933) eine Veranstaltung über „Akademische Reform" an.121
117 Siegmund-Schultze, Schleiermachers Psychologie in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre, Tübingen 1913; Die Überwindung des Hasses, Zürich 1946. 118 Karsen, Die Schule der werdenden Gesellschaft, Berlin 1921; Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme, Leipzig 1923. 119 Ζ. B. WS 1872/73 über Die sog. Prinzipien der Erfahrungswissenschaften. 120 Meyer, Nietzsche. Sein Leben und seine Werke, München 1913. 121 Dazu vgl. Carl Heinrich Becker, „Internationale Wissenschaft und nationale Bildung". Ausgewählte Schriften (1876-1933), hrsg. v. Guido Müller, 1997.
Teil III: Blüte
9.
Wilhelm Dilthey als exemplarischer Denker in der Berliner Tradition
In unserer Formierungsgeschichte wurden zwei Phasen unterschieden: Dominieren zunächst Hegel und der Hegelianismus, so erneuert sich die Berliner Philosophie mit Trendelenburg im Zeichen philologischer Forschung sowie einer Neubestimmung des Verhältnisses zu den Nachbarwissenschaften. Nach der Reichsgründung gewinnt die Universität durch ihre Hauptstadtlage noch an Attraktivität. Der Fakultät gelingt es, Zeller und endlich auch Lotze nach Berlin zu holen. Lotzes baldigen Tod kompensiert sie durch die Berufung Diltheys. Der philosophische Lehr- und Forschungsbetrieb erlangt mit Zeller und Dilthey seine Höhe. Nicht nur die Lehrstühle sind fortan glänzend besetzt. Die ganze Schüler- und Dozentenschaft hat Niveau. Sorgt Zeller für höchste philosophiehistorische Ansprüche, so nimmt Dilthey das Gründungsprogramm der Berliner Philosophie - von Schleiermacher wie von Hegel her - ernst. Anstelle des „Geistes" wird nun das „Leben" zum Leitbegriff philosophischer Forschung. Aber es ist ein Leben, das sich „verstehen" läßt und insofern dem Geist ursprünglich verbunden ist. Nicht nur die Schüler Diltheys setzen diese Lebensphilosophie nach 1900 fort, sondern auch andere Berliner Philosophen zentrieren ihre philosophische Arbeit um den Begriff des Lebens. Simmel, Cassirer und Troeltsch lassen sich als Lebensphilosophen und Erben Diltheys begreifen. Dilthey ist deshalb der exemplarische Berliner Philosoph in der Epoche ihrer Blüte. Wie Hegel und Trendelenburg zieht er einen bedeutenden Schülerkreis heran und wirkt entscheidend auf Besetzungsfragen ein. Wichtiger noch als der schulbildende Einfluß ist jedoch seine philosophische Selbstbesinnung auf die universitäre Rolle und Aufgabe der Geisteswissenschaften.
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Lazarus und die „ Wissenschaft des Judenthums "
Diltheys akademische Anfänge liegen weit vor der Reichsgründung in der Zeit politischer Umbesinnung des Bürgertums nach 1848. Die Philosophie geriet damals durch den Zusammenbruch der idealistischen Spekulation in die Krise und neigte zur bloß historischen, positiven Geisteswissenschaft. Die Geisteswissenschaft jedoch wurde durch die Niederlage des bürgerlichen Nationalliberalismus stark politisiert. Die poli-
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Teil III: Blüte
tische Historie wurde zu einer Leitdisziplin. Sie verarbeitete die Niederlage des Bürgertums von 1848 durch eine Umdeutung der Rolle Preußens in der Nationalgeschichte. Die protestantisch-preußische Geschichtsschreibung wurde kleindeutsch und sah im preußischen Staat nicht mehr den Hort der Reaktion, sondern einen Motor nationaler Einigung. Droysen und Treitschke repräsentierten diesen Typus des politischen Professors. Leben und Werk des jungen Dilthey ließen sich von diesen nationalpolitischen Auseinandersetzungen her darstellen. So stand Dilthey mit Heinrich von Treitschke (1834—1896) damals in engem Kontakt. Aber er hatte auch Umgang mit Moritz Lazarus (1824-1903), dem späteren Gegner Treitschkes im Berliner Antisemitismusstreit und einem der Repräsentanten des liberalen Judentums im Wilhelminismus. Lazarus entstammt einer orthodoxen jüdischen Familie. Er durchläuft eine recht gläubige Schule, kann aber das Gymnasium aus finanziellen Gründen nicht besuchen. Mit 16 Jahren tritt er in ein Posener Geschäftshaus ein. Bald macht er sich auf, sich seine Schulung selbst zu finanzieren. 1844 erlangt er in Braunschweig ein Stipendium zur Ausbildung als Rabbiner, wechselt dann aber 1846 zum Studium nach Berlin und entscheidet sich dort für die Philosophie. „Lazarus' Übergang bedeutete in Wirklichkeit keinen Wechsel; er blieb intra muros, seine Philosophie trennt keine Mauer von seiner jüdisch-wissenschaftlichen Tätigkeit", schreibt ein Biograph. 1 Seine Aufmerksamkeit gilt von Anfang an neben bibelkritischen und rabbinischen Studien auch den positiven Wissenschaften. Er hört Vorlesungen des Physiologen Johannes Müller, des Physikers Heinrich Wilhelm Dove und des Botanikers Karl Heinrich SchultzSchultzenstein. Psychologisch geht er von Herbart aus. Dabei nimmt er auf, was die Naturwissenschaften jener Zeit bieten. Den Doktortitel erwirbt er mit einer Dissertation De educatione aesthetica im Herbst 1849 in Halle. Er wählt Halle, weil dort die Promotionskosten niedriger veranschlagt werden. Danach läßt er sich in Berlin als Privatgelehrter nieder. 1850 veröffentlicht er eine kleine Schrift über Die sittliche Berechtigung Preußens in Deutschland. 1851 folgt ein Entwurf zur Gründung einer Humanitätsgesellschaft ohne Grenzen des Staates, der Nation und der Religion. 1856 und 1857 erscheint sein psychologisches Hauptwerk Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze in zwei Bänden. Diese Schrift bildet die Grundlage der psychologischen Vorlesungen, die Lazarus während seiner Berliner Lehrtätigkeit als Honorarprofessor hält. Laut autobiographischer Notizen ist Lazarus vor allem von Beneke beeinflußt. 2 Beneke setzt die Psychologie als „Grundwissenschaft" ein: „Alles, was uns in der Logik, der Moral, Ästhetik, der Religionsphilosophie, ja selbst in der Metaphysik für unsere Erkenntnis als
1 Alfred Leicht, Lazarus. Gedenkschrift zum 100. Geburtstage des Begründers der Völkerpsychologie, Frankfurt 1924, S. 30. 2 Vgl. Lazarus, Aus meiner Jugend. Autobiographie, hrsg. v. Nahida Lazarus, Frankfurt/M. 1913, S. 118.
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Wilhelm Dilthey als exemplarischer Denker in der Berliner Tradition
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Gegenstand vorliegt, ist ja Produkt in der menschlichen Seele, und kann [...] nur beurteilt werden, wenn wir es nach den Grundgesetzen der menschlichen Seelenentwicklung auffassen, wie sie in der (theoretischen) Psychologie in ihrem allgemeinsten Zusammenhange dargelegt werden" 3 . Lazarus übernimmt diese psychologische Orientierung. In seiner 1883 gehaltenen Psychologie-Vorlesung diktiert er seinen Hörern: „Die Psychologie als Wissenschaft steht gerade im Vordergrund aller Wissenschaft [...] alle philosophische Wissenschaft ist heutzutage in ihrem Entstehen aus der Psychologie entsprungen oder spielt auf dem Boden der Psychologie." 4 Schon Lazarus' programmatische Schrift Über den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie von 1851 wendet dabei Hegels Begriff des „objektiven Geistes" anthropologisch und völkerpsychologisch zum Programm der Erfassung der Manifestationen des objektiven Geistes in seiner seelischen Gesamtheit. 5 Zum Freundeskreis von Lazarus gehört damals zwischen 1855 und etwa 1864 auch der junge Dilthey. Beide eint nicht nur das theologische Interesse. Vor allem ist es die Völkerpsychologie, die Dilthey zur Auseinandersetzung und später zu Einspruch reizt.6 Gemeinsam mit Hermann Steinthal gründet Lazarus 1859 die Zeitschrift fiir Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Heute gilt er als einer der ersten profilierten Vertreter völkerpsychologischen Denkens. 7 Lazarus folgt 1860 einem Ruf an die Berner Universität, an der er zunächst als Honorarprofessor und dann als ordentlicher Professor der Psychologie und Völkerpsychologie lehrt. 1864 ist er dort Rektor.8 1865 reicht er jedoch ein Entlassungsgesuch ein und geht nach Berlin zurück. Er kommt in Kontakt mit dem damaligen Direktor der Kriegsakademie, General v. Etzel.9 Etzel schlägt Lazarus als Nachfolger für Jürgen Bona Meyer, der nach Bonn wechselte, für die Lehrtätigkeit an der Kriegsakademie vor. Lediglich sein Judentum spreche gegen ihn. „Wenn es sonst nichts ist" 10 , habe der König bemerkt und die Berufung bewilligt. Regelmäßig hört ihn
3 Friedrich Eduard Beneke, Pragmatische Psychologie oder Seelenlehre in Anwendung auf das Leben (1850), in: ders., Schriften zur Psychologie und Pädagogik, hrsg. v. Nikola Barelmann, Berlin 1986, S. 91. 4 Handschriftliche Kollegmitschrift (Hdschr. Koll. 255), Archiv der UBHU, S. 7. 5 Vgl. Wilhelm Hehlmann, Geschichte der Psychologie, Stuttgart 1963, S. 187 f. 6 Dazu Brief vom November 1858 an den Bruder Karl, in: Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852-1870, hrsg. v. Clara Misch, Stuttgart 1930, S.50f; vgl. HansUlrich Lessing, Dilthey und Lazarus, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 57-82. 7 Siehe Helga Sprung, Hajim Steinthal (1823-1899) und Moritz Lazarus (1824-1903) und die Ursprünge der Völkerpsychologie in Berlin, in: L. Sprung/W. Schönpflug (Hrsg.), Zur Geschichte der Psychologie in Berlin, Frankfurt 1992, S. 83-96. 8 I. Belke (Hrsg.), Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, Tübingen 1971, S. XXVII f. 9 Moritz Lazarus' Lebenserinnerungen, bearbeitet von Nahida Lazarus und Alfred Leicht, Berlin 1906, S. 3 1 0 f f u n d 5 1 4 f f . 10 Lazarus, Lebenserinnerungen, S. 516.
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dort der Kronprinz." 1872 ist Lazarus einem Ruf an die neugegründete Universität Straßburg nahe. Auf Wunsch des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des späteren 100 Tage-Kaisers Friedrich III. (1831-1888), bleibt er an der Kriegsakademie. Dort fordert man jedoch unter dem Nachfolger Etzels die „Beseitigung des Juden". 12 Die Folge ist, daß die philosophischen Vorträge 1872 aus dem Lehrplan gestrichen werden. Zur Kompensation wird Lazarus im Mai 1873 - gegen den Willen der Fakultät, 13 die Lazarus' wissenschaftliche Verdienste bezweifelt - zum „ordentlichen Honorarprofessor" der königlichen Universität ernannt. Lazarus hatte allerdings gehofft, die Nachfolge Trendelenburgs antreten zu können. Bis 1896 liest er an der Berliner Universität. Ähnlich wie dann Hermann Cohen (1842-1918) arbeitet er zuletzt an einer unvollendeten „Ethik des Judenthums". 1 4 Lazarus vertritt einen „subjektiven" Volksbegriff: „Ein Volk ist eine Menge von Menschen, welche sich für ein Volk ansehen, zu einem Volke rechnen" 15 . Mit diesem Volksbegriff tritt er in die damalige Nationsdiskussion ein und nimmt gegen den aufkommenden Antisemitismus Stellung. Treitschke entzündet im November 1879 durch einen Artikel „Unsere Aussichten" in den Preußischen Jahrbüchern den Berliner Antisemitismusstreit. 16 Er fürchtet die jüdische Einwanderung aus dem Osten und fordert die vorbehaltlose Assimilierung als Konsequenz der Emanzipation: „Auf deutschem Boden", so meint er, „ist für eine Doppel-Nationalität kein Raum". 17 Lazarus 18 antwortet in seiner Rede Was heißt national? mit seinem voluntaristischen Nationenbegriff, wonach das Wesen der Nation im „lebendigen Bewußtsein der Einheit" bestehe. Daraufhin legt Treitschke seine konfessionellen Motive offen: Die Einheit der Nation sei von der Einheit der Religion getragen. 19 Weil Treitschke damit das Grundrecht der Glaubensfreiheit ziviltheologisch in Frage stellt, ist seine Berufung auf die „Natur des modernen Staates" 20 zweifelhaft. Denn um dessen säkulare „Natur" geht der Streit. 11 Zu den angeblich nahen Beziehungen die allerdings nicht verläßlichen Angaben in den von der Gattin bearbeiteten Lebenserinnerungen, ebd., S. 500ff. 12 Ebd., S. 533. 13 UAHU, Phil.Fak. 1459, Bl. 436. 14 Lazarus, Die Ethik des Judenthums, 1898, 2. Aufl., Frankfurt 1904. 15 Zit. nach Alfred Leicht, Lazarus. Gedenkschrift zum 100. Geburtstage des Begründers der Völkerpsychologie, Frankfurt 1924, S. 16. 16 Heinrich v. Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher v. Nov. 1879, Wiederabdruck in: Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965, S. 5-12; vgl. allgemein Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universität (1871-1933), Frankfurt/M. 1995. 17 Treitschke, Herr Graetz und sein Judentum, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 31-45, hier: 44. 18 Lazarus, Was heißt national? Ein Vortrag, Berlin 1880. 19 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 77-90. 20 Treitschke, Antwort auf eine studentische Huldigung, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 205-207, hier: 206.
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Die hitzige Debatte führt zu einer öffentlichen „Erklärung" gegen (den namentlich ungenannten) Treitschke, die auch Virchow, der damalige Rektor der Universität, Gneist, Scherer, Droysen, Mommsen und andere Berliner Kollegen unterzeichnen. Die Universität stellt sich also mehrheitlich hinter Lazarus. Theodor Mommsen (1817-1903) führt dann die offene Auseinandersetzung. Er hört heraus, daß Treitschke Nation sagt und Christentum meint. Mommsen hält dagegen, daß die Einheit der Nation die Privatisierung des religiösen Bekenntnisses und somit den Verzicht auf eine religiöse Einheit verlange. Wer, wie Treitschke, die nationale Zugehörigkeit auch an religiöse Identitäten knüpfe, degradiere die deutschen Juden zu „Mitbürgerfn] zweiter Klasse" und predige den „Bürgerkrieg einer Majorität gegen eine Minorität" 21 im Namen der Nation. Und er entlockt Treitschke das Eingeständnis: „Ich stehe anders als er zu dem positiven Christenthum." 22 Damit ist der konfessionelle Kern der Frage identifiziert. Cohen erfaßt ihn schon im Januar 1880 direkt: „Das Bekennen wird auch im nationalen Sinne zu einer religiösen Pflicht." 23 Der Berliner Antisemitismusstreit wird zum Ausgangspunkt einer religiösen Selbstbesinnung des Judentums, die die Assimilierung ihrerseits in Frage stellt. Cohen und Lazarus geraten darüber in einen Dissens, der das liberale Judentum auf Jahre entzweit. 24 Lazarus entwickelt keine Religionsphilosophie des Judentums, sondern wählt den Weg vergleichender Betrachtung und betont den universalistischen Gehalt der jüdischen Ethik. Auch als Völkerpsychologe ist er Ethiker. Seine Hoffnung auf eine Synthese von Weltbürgertum und Nationalstaat ist von seinem Judentum geprägt, betont Lazarus doch die Universalität der jüdischen Ethik und ihres Gottesbegriffs. 25 Seine Biographie und sein Werk markieren einen Wendepunkt in der Geschichte der Assimilierung. Nicht zuletzt unter der diskriminierenden Erfahrung von Grenzen der Integrationsbereitschaft besinnt sich der Völkerpsychologe auf sein Judentum zurück. Anders als Steinthal lehrt Lazarus allerdings nicht an der 1872 eröffneten Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, sondern bleibt als Repräsentant des liberalen Judentums im Wilhelminismus an der Universität. Die Anfänge einer „Wissenschaft des Judentums" datieren auf die zwanziger Jahre in Berlin. Eduard Gans prägt den Begriff und schlägt 1821 auch die Gründung eines 21 Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 210-225, hier: 220 u. 224; vgl. grundsätzlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat, in: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt/M. 1999, S. 276 ff. 22 Treitschke, Erwiderung an Herrn Th. Mommsen in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 228-231, hier: 228. 23 Cohen, Ein Bekenntniss in der Judenfrage, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 124-149, hier: 125. 24 Dazu ausführlich Ulrich Sieg, Bekenntnis zu nationalen und universalen Werten. Jüdische Philosophen im deutschen Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 609-639. 25 Lazarus, Die Ethik des Judenthums, S. 144 ff.
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„Instituts für die Wissenschaft des Judentums" vor. Leopold Zunz (1794-1886), ein Schüler des Berliner Theologen Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849), treibt dieses Anliegen voran; er initiiert ein apologetisches Profil, während Gans anfänglich auf die „Liquidierung des Judentums" dringt: vermutlich im Hegelianischen Sinne einer Aufhebung in die progressive Assimilierung. „Destruktions- und Konstruktions-Tendenzen" ringen in diesen Bestrebungen lange miteinander. 26 1848 bemüht sich Zunz um die Einrichtung eines Lehrstuhls für „Wissenschaft des Judentums" in der Philosophischen Fakultät. Unter der Federführung Trendelenburgs werden diese wie spätere ähnliche Initiativen unter Hinweis auf den Widersinn konfessioneller Bindung zur Wissenschaftsfreiheit abgelehnt. 27 Es kommt statt dessen zu einer institutionellen Selbstorganisation. Seit den dreißiger Jahren gibt es insbesondere durch Abraham Geiger (1810-1874) und Ludwig Philippson (1811-1889) vorangetriebene Pläne für eine Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die 1870 gegründet und 1872 eröffnet wird. Seit der Gründung sitzt Lazarus im Kuratorium. Sie ist eine vollwertige Hochschule - wenn sie auch bald nur den Titel einer „Lehranstalt" führen darf - mit regelmäßigem Lehrbetrieb und eingetragenen Hörern. Bis zur Jahrhundertwende hat sie allerdings nur zwischen zehn und vierzig akademisch fortgeschrittene Hörer. Gelehrt wird in „Unabhängigkeit" nach dem „Principe der Autonomie des religiösen Bewussteins". 28 Die Hauptlehrgebiete sind Judaica, vergleichende Religionsgeschichte und Ethik/Systematische Religionsphilosophie. Seit der Eröffnung lehrt u. a. Steinthal an der Lehranstalt und liest neben Judaica vor allem Ethik und Religionsphilosophie. Von 1883 bis 1923 und von 1934 bis zu ihrer Schließung 1942 durch die Nationalsozialisten existiert die Lehranstalt in Berlin (zwischenzeitlich in Frankfurt/Main), in direkter Nachbarschaft der Universität. In erster Linie ist sie ein Institut liberaler Rabbinerausbildung 29 , neben dem ebenfalls in Berlin bestehenden orthodoxen Rabbi-
26 Gershom Scholem, Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt, in: ders., Judaica, Frankfurt 1963, S. 147-164, hier 152; vgl. den Stichwortartikel: Judentum, Wissenschaft des Judentums, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 6 5 3 - 6 5 8 . 27 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2.2, Halle 1918, S. 302ff.; vgl. Heinrich Simon, Wissenschaft vom Judentum in der Geschichte der Berliner Universität, in: Julius Carlebach (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992, S. 153-164. 28 Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Rückblick auf ihre ersten fünfundzwanzig Jahre ( 1 8 7 2 - 1 8 9 7 ) , Berlin 1897, dort auch unsere Informationen; vgl. Marianne Awerbuch, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Reimer Hansen u. Wolfgang Ribbe, Berlin 1992, S. 5 1 7 - 5 5 1 . 29 So Herbert A. Strauss, Die letzten Jahre der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums, in: Carlebach, Wissenschaft des Judentums, S. 3 6 - 5 8 , bes. 38; vgl. Mordechai Eliav, Das orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin, ebd., S. 5 9 - 7 3 .
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nerseminar; sie ist aber auch eine Antwort auf den aufkommenden Antisemitismus und ein Institut jüdischer Selbstbesinnung. Später wird eine von der Lehranstalt unabhängige Akademie für die Wissenschaft des Judentums gegründet, an der u. a. der alte Hermann Cohen und der junge Leo Strauss (1899-1973) forschen. 30 Die Reserve der Universität gegenüber der Wissenschaft des Judentums kommt 1923 noch in der allerdings innerhalb der Fakultät umstrittenen - Ablehnung einer Umhabilitation von Julius Guttmann (1880-1950) zum Ausdruck. Guttmann lehrt damals als Professor für Ethik und Religionsphilosophie an der Hochschule. Carl Stumpf, Max Dessoir, Werner Jaeger u.a. plädieren gegen die Zulassung, während Heinrich Maier und Wolfgang Köhler dafür votieren. Der später selbst als Jude entlassene Dessoir nennt den für die Fakultät letztlich wohl entscheidenden Grund: „die jüdische Philosophie des Mittelalters bedarf keiner Vertretung in unserer Fakultät". 31 Am 28. Dezember 1923 erhält Guttmann den ablehnenden Bescheid. Bis 1890 gibt es an den preußischen Universitäten nur wenige Ordinarien jüdischer Herkunft und Konfession. Auch danach korrigiert sich das Bild nur zugunsten katholischer Universitätslehrer, die anfänglich ebenfalls nur spärlich vertreten sind.32 Die Fakten sprechen für sich, auch wenn man im einzelnen heute nicht immer nachweisen kann, inwieweit die jüdische Konfession für Zurücksetzungen ausschlaggebend war. Deshalb verwundert es, wenn Dilthey Lazarus anläßlich dessen Übersiedlung nach Bern vorhält, „dem Titel eines prof, honorarius nachzulaufen"; Dilthey waren die beruflichen Aussichten eines jüdischen Privatgelehrten gewiß nicht unbekannt, und er besaß nicht minder Übung im „Nachlaufen". In einem Brief vom März 1868 berichtet er seinem Bruder Hermann von dem gerade erfolgten Ruf nach Kiel: „Lazarus war denn mit mir zugleich in Kiel vorgeschlagen und wäre gern hingegangen, auch Ueberweg wünschte es sehr, hinzukommen. (Wie hätte mich gefreut, wenn das Papa erlebt hätte, daß ich alle meine Altersgenossen und viele ältere in der Philosophie überflügelt trotz meines närrischen Lebenslaufes.)" 33 Ist die Freude auch berechtigt: Die Worte eines Verächters akademischer Würden sind es nicht. Persönlich und sachlich steht Dilthey später in schroffem Gegensatz zu Lazarus. 34
30 Strauss' erste große Monographie Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas theologisch-politischem Traktat (Berlin 1930) erschien im Rahmen der „Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums" und hatte, wie Strauss im Vorwort notiert, im Auftrag der Akademie zunächst „die Bibel-Wissenschaft Spinozas zum Gegenstand". 31 UAHU, Phil. Fak. 1240, Bl. 204-219, hier: 219. 32 Dazu vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S . l l ó f f . 33 Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852-1870, hrsg. v. Clara Misch, Stuttgart 1930, S. 257 f. 34 Dazu vgl. Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel, Frankfurt/M. 1996, S. 337 ff, 398 ff.
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b.
Teil III: Blüte
Jugendgeschichte
Diltheys bis zur Berufung
Wilhelm Christian Ludwig Dilthey (1833—1911)35 macht 1852 in Wiesbaden sein Abitur und studiert dann in Heidelberg und Berlin. Auf Wunsch seiner Eltern legt er 1856 das theologische Examen ab. Unter dem Eindruck von Kuno Fischer und Trendelenburg zieht es ihn aber zur Philosophie. Nachdem er 1856 auch das philologische Staatsexamen abgeschlossen hat, arbeitet er - auf Vermittlung Trendelenburgs 36 zwei Jahre am renommierten Joachimsthaler Gymnasium im Schuldienst. Durch die Übernahme der Herausgebertätigkeit der Briefe Schleiermachers finanziell unabhängiger, lebt er dann einige Jahre als freier Schriftsteller. Bis zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, mit der Dilthey sein Berliner Ordinariat antritt, publiziert er in den nächsten Jahren zahlreiche historische und biographische Studien.37 Vor allem ediert er Schleiermachers Briefe und beginnt seine Schleiermacherstudien. 1867 erscheint der erste Band von Schleiermachers Leben, einer - wie die meisten monographischen Vorhaben Diltheys - unvollendeten Biographie, die innerhalb der Geschichte des „Kunstwerks" der Biographik (auch das ein Vorhaben Diltheys) Epoche machte. In diesen Jahren publiziert Dilthey überdies Studien zu den preußischen Reformern sowie die später in Das Erlebnis und die Dichtung überarbeitet erschienenen Studien zu Lessing und Goethe, Novalis und Hölderlin. Dilthey tritt also zunächst vor allem als Historiker und Philologe hervor. Seine Habilitationspläne verfolgt er in diesen Jahren konsequent. Durch ein Augenleiden infolge Überarbeitung stark behindert, kommt es nach Rücksprache mit Trendelenburg jedoch zu einem etwas improvisierten Procedere. 38 1864 promoviert er über Schleiermachers Ethik und habilitiert sich noch im selben Jahr in Berlin mit einem handschriftlichen Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins, den er zusammen mit anderen Publikationen einreicht. Trendelenburg gutachtet ausführlich und bemerkt einen „Mangel an praecisem Ausdruck der Grundbegriffe": „Der Erfolg wird davon abhängen, wie weit es ihm gelingt, sich in den Angelpunkten einfach und scharf zu begründen. Erst dadurch werden die Kenntnisse und Reflexionen Bestand gewinnen", meint Trendelenburg am 7. April 1864.39 Mit ähnlichem Tenor schließt sich Boeckh an. Am 23. Juni 1864 „beehrt sich die gehorsamst unterzeichnete Facultät gehorsamst anzuzeigen, daß sich bei ihr der Dr. phil. Wilh. Dilthey für das Fach der Philosophie habilitiert hat" 40 . 35 36 37 38
Autobiographischer Abriß vom Mai 1870 in: Der junge Dilthey, S. 280ff. Brief vom Neujahr 1856, in: Der junge Dilthey, S. 27. Bibliographie dieses jungen Dilthey in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 208 ff. Dazu Brief vom Februar 1863 an den Vater, in: Der junge Dilthey, S. 180f, vom Juli 1883 an den Bruder, ebd. 182 f. 39 UAHU, Phil. Fak. 1207, Bl. 161-164, hier 164. 40 UAHU, Phil. Fak. 1207, Bl. 166.
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Wilhelm Dilthey als exemplarischer Denker in der Berliner Tradition
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Schnell macht Dilthey akademische Karriere. 1866 wird er nach Basel berufen, 1868 wechselt er nach Kiel und 1871 nach Breslau. Gerade rechtzeitig kann er Trendelenburg von seiner systematischen Kraft überzeugen, so daß dieser für die Berufung auf eine außerordentliche Professur nach Basel positiv gutachtet. 41 Dort ist Dilthey die „Wirksamkeit zu sehr beengt" 4 2 . Auch aus familiären Gründen will er nach Bonn. Dort wird ihm aber der Berliner Freund Jürgen Bona Meyer vorgezogen. So nimmt er Anfang 1868 einen Ruf nach Kiel an 4 3 , will aber auch dort schnellstmöglich wieder weg: „Es ist keine Kleinigkeit, liebster Hermann, wieder in einer Universität zu sitzen, auf der Jeder Tag für Tag rechnet, wann sein Ruderdienst auf der durchlöcherten Barke zu Ende sei", schreibt er im Sommer 1869 an seinen Schwager Usener. „Ich bin offen und entschieden für die Auflösung der nutzlosen Anstalt" 4 4 . Gleichwohl bemerkt er in einem Bewerbungsschreiben: „Ich glaube nicht, daß irgend ein Docent der Philosophie in Deutschland, Kuno Fischer etwa ausgenommen, eine größere Prozentzahl der Studierenden zu Zuhörern hat". 4 5 Doch auch die nächste Stelle bringt noch nicht die Erlösung. Vom Kieler Galeerendienst wechselt Dilthey 1871 in die - als schlesische Landesuniversität wegen ihres Provinzialismus gefürchtete 4 6 - Breslauer „Wüste". In seiner Breslauer Zeit arbeitet er seine Philosophie aus. Am 25. Mai 1882 versammeln sich die Berliner Fakultätsmitglieder, um darüber zu beraten, wer auf den vakant gewordenen Lehrstuhl Lotzes zu berufen sei. Man einigt sich auf zwei Kandidaten: Benno Erdmann (1851-1921) und Dilthey. Erdmann habilitierte sich 1877 glänzend in Berlin und stand fortan bis zu seiner späten Berufung 1909 immer wieder auf der Liste. Für Erdmann votiert damals Zeller, für Dilthey tritt Wilhelm Scherer (1841-1886), ein Jugendfreund aus früheren Berliner Tagen, ein. Dabei hat Scherer einen schweren Stand: Im Entwurf der Berufungskommission heißt es nämlich mit Bezug auf Dilthey, daß man nicht den Eindruck habe, „daß er sein Interesse neben den Geisteswissenschaften auch der Naturwissenschaft in nachhaltiger Weise zugewendet habe" 4 7 . Dies zählt insofern doppelt negativ, als es um die Nachfolge Lotzes geht. Scherer versichert daraufhin der versammelten Professorenschaft, „daß Dilthey Interesse für die Naturwissenschaften und nach Aussage eines ihm persönlich bekannten Naturforschers auch Kenntnisse in derselben habe" 4 8 . Man
41 Vgl. die Briefe vom Dezember 1866 an den Schwager Usener und an den Bruder, in: Der junge Dilthey, S. 224ff. 42 Brief vom Oktober 1867 an Treitschke, in: Der junge Dilthey, S. 250. 43 Brief vom Februar 1868 an Erdmannsdörffer, in: Der junge Dilthey, S. 255. 44 In: Der junge Dilthey, S. 271 f. 45 Mai 1870 an Wilhelm Scherer, in: Der junge Dilthey, S. 284. 46 Dazu vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 197ff; zur „Einstiegs-" und Zubringeruniversität Kiel ebd., S. 163ff, 172f. 47 UAHU, Phil. Fak. 29, Bl. 201. 48 UAHU, Phil. Fak. 29, Bl. 201.
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läßt sich überzeugen, und der unerfreuliche Satz über Diltheys naturwissenschaftliche Kenntnisse erscheint nicht im Abschlußbericht. Damit ist Dilthey pari loco Erdmann gleichgestellt. Nach den offiziellen Verlautbarungen liegt aber Erdmann vorn. Denn die Frage der Abschlußabstimmung, „ob Erdmann an erster Stelle vorgeschlagen werden solle, wird mit 14 gegen 12 Stimmen verneint", wogegen „mit 21 gegen 5" 4 9 verneint wird, ob Dilthey an erste Stelle gehöre. Es scheint also, daß der größere Teil der Professoren eher einer Berufung Erdmanns zuneigte. Am 26. Juni 1882, einen Monat vor der Ernennung, scheinen die Würfel jedoch zugunsten von Dilthey gefallen. Treitschke teilt Dilthey brieflich mit: „Ich sehe nicht ein, warum Sie sich sorgen. Ich habe von Haus aus nicht bezweifelt und glaube jetzt, nach einem Gespräche mit Greiff 5 0 , ganz sicher, daß man Sie berufen wird. In der Fakultät ist es Keinem in den Sinn gekommen, Erdmann mit Ihnen persönlich in eine Linie zu stellen; wir waren aber verpflichtet auf die berechtigten Wünsche der naturwissenschaftlichen Fachmänner Rücksicht zu nehmen, da die erledigte Professur von Altersher immer durch Männer von überwiegend naturwissenschaftlicher Richtung besetzt worden ist." 51 Einen Monat später erreicht Dilthey der Ruf, „den zuletzt von dem verstorbenen Professor Dr. Lotze bekleideten Lehrstuhl der Philosophie zu übernehmen" 5 2 . 1887 wird Dilthey auch Mitglied der Akademie, 5 3 für die er die Kant-Ausgabe initiiert. Die Akademie dankt es ihm bald nach seinem Tod mit der Veranstaltung seiner Gesammelten Schriften.
c.
Diltheys
Philosophiebegriff
Dilthey studiert die alten Sprachen und hält den Kontakt zu den Altphilologen seiner Zeit. Schleiermachers Hermeneutik weitet er zu einer eigenständigen Methode der geisteswissenschaftlichen Forschung aus. 54 In origineller Aneignung sucht er über Kants transzendentalen Anspruch, Fichtes methodischen Individualismus, Schellings organologische Spekulation und Hegels Logik des Geistes hinauszugehen. Bei diesen Bemühungen kommt er immer wieder auf Humboldts Sprachphilosophie und dessen 49 UAHU, Phil. Fak. 29, Bl. 201. 50 Julius Greiff war vom 21.12.1868 bis 1.1.1890 Ministerialdirektor im preuß. Ministerium; er übte also jenes Amt aus, das Althoff dann sieben Jahre später übernahm. 51 Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Treitschke K. 15, Treitschke an Dilthey. 52 UAHU, UK., PA D 90, Bl. 2. 53 Dazu Dilthey, Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 10-11. 54 Siehe: Dilthey, Leben Schleiermachers. Erster Band: Auf Grund der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß, in: Gesammelte Schriften, Bd. 13; Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlaß, in: Gesammelte Schriften, Bd. 14.
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Suche nach der individuellen Gestaltung des Geistes zurück. So nimmt Dilthey die beste philosophische Tradition seiner Universität auf, um ihre grundlegende Funktion im Selbstverständnis der historischen und sozialen Wissenschaften bewußt zu machen. Eine leitende Absicht ist, der Philosophie ihren universitären Ort zu erhalten. Dafür bekämpft er den konkurrierenden Grundlegungsanspruch des klassischen soziologischen Positivismus. Dilthey teilt mit August Comte (1797-1854) zwar das Anliegen, Metaphysik zu historisieren: Er beschreibt eine „Auflösung der metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit", läßt diese Geschichte aber nicht in den klassischen Positivismus münden, sondern überführt den soziologischen Positivismus seinerseits der Befangenheit in einer „naturalistischen Metaphysik" 5 5 und geht dann von der „Selbstbesinnung" des Individuums als dem ,,Meta-Physische[n] unseres Lebens" 5 6 aus, von der her die geisteswissenschaftliche „Grundlegung" der Lebensund Weltanschauung erfolgt. So entsteht ein neues Schema für die Ordnung der wissenschaftlichen Welt. 57 Nach der imposanten Entfaltung der Einzeldisziplinen im 19. Jahrhundert bemüht sich Dilthey um eine Verbindung der verfügbaren Erkenntnisse. Sein Anspruch ist bescheidener als der Fichtes, Schellings oder Hegels - ein „System", in dem alles Wissen nach einem Prinzip verknüpft sei, hält er für eine Illusion der alten Metaphysik. Auch glaubt er auf apriorische Leistungen des menschlichen Verstandes verzichten zu können. Gleichwohl nimmt er einen gemeinsamen Ursprung aller Erkenntnis an. Offenkundig ist dies zunächst nur auf die Geisteswissenschaften bezogen, denen er ein methodologisches Bewußtsein zu vermitteln sucht. Dilthey bezieht aber auch die Naturwissenschaften ein. Die modernen Wissenschaften sind nach Dilthey in ihrer Gesamtheit auf Erfahrung gegründet und unterscheiden sich schon dadurch prinzipiell von der spekulativen Metaphysik, die ihren letzten „Künstler" und Vollender in Hegel gefunden habe. Die Erfahrungswissenschaften erschließen ihre Wirklichkeit vorwiegend mit kausalanalytischen Mitteln. Dadurch droht zu zerreißen, worum es beim Verstehen letztlich geht: die Einheit des Lebens. Am deutlichsten wird dies in den Naturwissenschaften, die durch Quantifizierung, durch Ausrichtung auf einen physischen Kausalkonnex sowie durch mathematischmechanische Konstruktion vor allem äußere Aspekte der Realität erfassen. Dieser äußere Zugang erlaubt dann die technische Verwertung und steuernde Reproduktion der erkannten Sachverhalte. Der besondere Status der Geisteswissenschaften ergibt 55 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band (1883), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 105, vgl., S. 86 ff. 56 Ebd., S. 384ff. 57 Dazu vgl. Friedrich Paulsen, Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung, in: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, hrsg. v. Paul Hinneberg, Berlin und Leipzig 1906, S. 282-310.
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sich daraus, daß sie sich der lebendigen Wirklichkeit im Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen zu nähern suchen. Im Medium des Erlebens bezieht sich Leben auf anderes Leben. „Leben erfaßt hier Leben." 58 Um aber daraus ein wissenschaftliches Verfahren zu machen, bedarf es nicht nur der erlebenden Vertiefung in sich selbst und in das jeweils andere - sei dies nun ein anderer Mensch, ein bestimmtes historisches Ereignis oder die Gesellschaft als ganze. Es bedarf vielmehr einer methodisch angeleiteten Erschließung des Umfelds, in dem sich das Erleben vollzieht. Es ist diese Erschließung, die Dilthey „Verstehen" nennt. Was er auf diese Weise zu begreifen sucht, ist „Sinn", und das Organ für den „Sinn" benennt man in der Philosophie wie in der Alltagssprache mit denselben Begriffen, nämlich: Verstand und Vernunft. Für Dilthey ist nun entscheidend, daß „Verstehen" ohne „Erleben" gar keinen Gegenstand hätte. „In der geisteswissenschaftlichen Methode liegt die beständige Wechselwirkung des Erlebnisses und des Begriffs." 59 Dieser Begriff beruht auf dem „Nacherleben" individueller und kollektiver Zusammenhänge, ja, die wissenschaftliche Erkenntnis besteht in nichts anderem als darin, „unmittelbares Nacherleben" bewußt zu machen. Denn das Erleben des Menschen wird von „allgemeinen Formen des Denkens" 60 strukturiert, und der Geisteswissenschaftler hat sich eigentlich nur darin zu üben, zu artikulieren, zu prüfen und zu verknüpfen. Der das Verstehen leitende Begriff basiert auf der inneren Präsenz der Erlebniswelt. Dagegen versucht die wissenschaftliche Kenntnis der Natur von der Erlebnisqualität einer jeden Erfahrung abzusehen. Deshalb will Dilthey das Ausgangsterrain der Naturwissenschaft, die „äußere Erfahrung", vom Erkenntnismedium der Geisteswissenschaft abgrenzen. Dabei stellt die naturwissenschaftliche Erkenntnis, wie jede menschliche Leistung, eine Lebensäußerung von Individuen dar. Denn ganz gleich, ob es sich um „Erleben" oder um „Verstehen", „Aufmerksamkeit" oder „Interesse" handelt: In jedem Fall sind es Dispositionen oder Leistungen einzelner Menschen. Und deren spezifische Aktivität beruht auf einem psycho-physischen Zusammenspiel gegebener wie erworbener Funktionen, die sich nicht eindeutig der äußeren oder inneren Realität zuordnen lassen. Das von Dilthey entworfene System der Natur- und Geisteswissenschaften beschäftigt das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. 61 Neben dem Neukantianismus 58 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 164. 59 Dilthey, Das Wesen der Philosophie (1907), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 339-416, hier: 341. 60 Ebd. S. 341. 61 Zur umstrittenen Restriktion der Philosophie auf die Geisteswissenschaften vgl. Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974, S. 105ff.; Oswald Schwemmer, Theorie der rationalen Er-
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liefert es die Stichworte für die methodologischen Debatten, die bis heute den Streit über den Positivismus, die Kritische Theorie, die Hermeneutik oder die Systemtheorie bestimmen. Es ist überall gegenwärtig, wo die Historizität des menschlichen Daseins thematisiert wird. Dilthey hat aber nicht nur die methodologische Trennung der Wissensgebiete vorgeschlagen. Vielmehr ist es ihm durch die Freilegung ihrer gemeinsamen Ausgangsbasis zugleich gelungen, ihre ursprüngliche Einheit kenntlich zu machen. Dieser tragende Grund allen Wissens ist das individuelle Leben des Menschen. Jeder mögliche Ertrag des Forschens läßt sich nur in der Form einer individuellen Einsicht gewinnen. Jeder gesellschaftliche Zusammenhang kommt nur durch die Wechselwirkung von Individuen zustande. Folglich haben alle Wissenschaften, mögen sie sonst noch so verschieden sein, in diesen elementaren Formen des menschlichen Lebensvollzugs ihre unaufgebbare gemeinsame Grundlage. In seinem Begriff der Philosophie versucht Dilthey der perspektivischen Zuspitzung auf den erlebenden Menschen Rechnung zu tragen. Dabei gestattet ihm seine weitausgreifende Bildung, nicht nur dem Philosophieren überhaupt, sondern auch der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin einen weiten Rahmen zu stecken. Dilthey ließe sich leicht als „Postmoderner" und „Postmetaphysiker" reklamieren. Denn er historisiert die „Metaphysik der substantialen Formen". Er beschreibt den „Verfall" dieser Metaphysik als geschichtliche Einleitung in die Geisteswissenschaften und meint mit der Rückführung aller geisteswissenschaftlichen Probleme auf die „innere Erfahrung" eine „unmetaphysische Stellung des philosophischen Denkens zu den metaphysischen Problemen der Philosophie" 62 gefunden zu haben. Seine Kritik der Metaphysik führt zu einer Weltanschauungslehre, die die überlieferten Grenzziehungen von Kunst, Religion und Philosophie einreißt und als „Formen der Welt- und Lebensanschauung" 63 geschichtlich betrachtet. Die Grundlegung dieser Formen jedoch ist die neue Problemstellung von Diltheys Lebensphilosophie. Als Wissenschaft unter Wissenschaften komme ihr die erste Aufgabe zu, „Grundwissenschaft" zu sein. Sie ermittelt „Form, Regel und Zusammenhang" der szientifischen Vorgänge und wird damit einerseits zur „Erkenntnistheorie" und andererseits zur „Theorie des Wissens". „Als Theorie des Wissens", so heißt es lakonisch, „ist sie Wissenschaft". Damit wird sie zur „Theorie der Theorien" 64 . klärung. Zu den methodischen Grundlagen der Kulturwissenschaften, München 1976; Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland (1831-1933), Frankfurt/M. 1983, S. 138 ff. 62 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 363. Warum sich die Hoffnung auf ein Ende der Metaphysik nicht erfüllen kann, hat Volker Gerhardt in einem Aufsatz darzulegen versucht: Metaphysik und ihre Kritik. Zur Kontroverse zwischen J. Habermas und D.Henrich, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S.45-70; ders., Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, 1. Kap. 63 Vgl. Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8. 64 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 408.
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Die Wissenschaft ist aber nur eines ihrer großen Themen. Dilthey hat nicht nur eine universitäre, sondern auch eine lebensweltlich-praktische Konzeption von Philosophie. 65 Von ebenso großer Bedeutung wie das Verhältnis zu den einzelnen Wissenschaften ist ihm die individuelle Lebenserfahrung. Indem Philosophie diese theoriefähig macht, nimmt sie ihre zweite große Aufgabe wahr. „Lebenserfahrung" ist für Dilthey „die wachsende Besinnung und Reflexion über das Leben". „Leben" nennt er „die innere Beziehung der psychischen Leistungen im Zusammenhang der Person" 66 . Er legt also einen Begriff zugrunde, der die Erkenntnisbedingungen des Lebens mitreflektiert, wonach wir von „Leben" nur im Bewußtsein unserer eigenen Lebendigkeit sprechen können. Das eigentliche Problem des Begriffs „Leben" besteht nicht in seiner vermeintlichen Irrationalität, sondern in seiner zirkulären Verfassung. Wie kann es überhaupt gelingen, aus der Selbsterfahrung und Selbsteinschätzung des menschlichen Lebens einen Begriff des Lebens zu gewinnen, der nicht schon durch die Ordnung und Zweckmäßigkeit präformiert ist, an der wir unsere Lebendigkeit erkennen? Für Dilthey ist es der „Geist", der solche Erkenntnis möglich macht - ein „Geist", der sich in „Erleben" und „Verstehen" erschließt. 67 Dilthey führen diese Fragen auf die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn Gesellschaft ist der „Boden", auf dem sich die individuellen Lebenserfahrungen erst geltend machen können. „Die Gesellschaft ist der umfassende Regulator des Gefühls- und Trieblebens". Sie erst formt die regellosen Antriebe der Individuen. Und mit der Gesellschaft öffnet sich auch der ungeheure Vorraum des Gegenwärtigen, die Geschichte. Auch in ihr sucht der Philosoph nicht nur nach formalen Bedingungen des Wissens und des Tuns, sondern auch nach dem Sinn für das menschliche Leben. Denn die Geschichte ist nur für die Zukunft offen. Allein dem historischen Bewußtsein erschließt sich ein Lebenskontext, der Vertrauen in künftige Handlungen geben kann. Wie weit Dilthey hier gekommen zu sein glaubt, verrät das emphatische Ende seiner Betrachtung über die Philosophie der Lebenserfahrung: „Alles wirkt zusammen, damit der Mensch freier werde und offen für die Resignation und das Glück der Hingebung an die großen Objektivitäten des Lebens." 68
Mit dieser Einsicht steht die Philosophie vor ihrer dritten großen Aufgabe: Sie hat Rechenschaft über die praktische Stellung des Menschen zu sich und zur Welt zu geben. Nachdem sie als Erkenntnistheorie und Theorie der Wissenschaft den 65 Dazu vgl. Karl Ulmer, Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie. Eine Erinnerung an die Grundintention des Gesamtwerks von Wilhelm Dilthey, in: Philosophische Perspektiven 4 (1978), S. 279-416. 66 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 408. 67 Dazu Gerhardt, Selbstbestimmung, Kap. 4 u. 5. 68 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, S. 409.
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Geltungsbereich des Wissens und als Lebensphilosophie und Weltanschauungslehre den Horizont der Lebenserfahrung abgesteckt hat, kann sie der klassischen Aufgabe der Ethik nicht ausweichen: schon deshalb nicht, weil nur unter der praktischen Maßgabe des menschlichen Willens das theoretische Wissen und die lebendige Erfahrung auf einen Sinn zulaufen können. Damit stellt Dilthey seine Konzeption der Philosophie unter den seit Sokrates gültigen und von Spinoza und Kant erneuerten Primat der praktischen Vernunft. Dilthey bietet nicht nur eine Grundlegung für das Studium der Geschichte, sondern auch und zunächst für das Studium der Gesellschaft; er adressiert seine Geisteswissenschaft als „dienendes Werkzeug der Gesellschaft" zur Erkenntnis der „Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft" an die Praktiker. 69 Diese Absicht wird über die phänomenologische Rezeption weithin vergessen, obwohl sie die ersten Herausgeber seiner Gesammelten Schriften gut dokumentieren, indem sie die Präsentation seines Werkes mit den Vorlesungen zur Pädagogik und Ethik 7 0 abschliessen. Diese Ausgabe betont die „Einheit des philosophischen Gehalts" 7 1 und gibt dadurch Diltheys Philosophie sachgerecht zu entdecken. Bis heute hält sich dennoch die Neigung, Diltheys Konzeption von Leben, Geist und Individualität in ein Abseits der Gesellschaft zu projizieren. Es gibt aber damals schon Schüler, die das praktische Anliegen Diltheys sogleich verstehen und seine Philosophie für eine Grundlegung der Soziologie und der Sozialphilosophie nutzen. Zu ihnen gehört George Herbert Mead (1863-1931), der seine Dissertation bei Dilthey nur deshalb nicht abschließt, weil ihm zuvor eine Professur in Chicago angeboten wird. 72 Zur Praktischen Philosophie rechnet Dilthey alle klassischen Aufgaben der Ethik und bezieht ausdrücklich die „Lebensordnungen von Wirtschaft, Recht, Staat, Herrschaft über die Natur" (und folglich auch die Technik) mit ein. Wie weit seine philosophische Hoffnung reicht, mag ein Satz vergegenwärtigen, mit dem er abschließend die Zielsetzung der Ethik mit den anderen beiden großen Aufgaben der Philosophie verknüpft: 69 Vgl. dazu nur Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 3f. und 21 f.; ders., Über das Studium der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 31-73. 70 Zu Diltheys Ethik vgl. Diltheys ausführliche Darstellung im Brief vom Januar 1890 an den Grafen Yorck, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, 1877-1897, Halle 1923, S. 90ff. 71 So Walter Jaeschke, Editionen der Philosophie des 19. Jahrhunderts, in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung philosophischer Texte, hrsg. v. Jaeschke u.a., Hamburg 1987, S. 197-213, hier 204; Jaeschkes kritischen Bedenken gegen diese Edition sind neben pragmatischen Überlegungen schon die Wirkungen dieser Edition entgegenzuhalten. 72 Mead war von 1889 bis 1892 in Berlin. 1893 nahm er einen Ruf nach Chicago an. In seinem postum erschienenen Werken, insbesondere in Mind, Seifand Society (1934), wirkt sowohl der Einfluß Diltheys wie auch der Simmeis nach.
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„Und indem dann die Philosophie die Tatsächlichkeit der Lebensordnungen, wie die Geisteswissenschaften sie beschreiben und zergliedern, aus der Struktur des Individuums und der Gesellschaft verständlich macht, indem sie aus dem teleologischen Charakter derselben ihre Entwicklung und ihre Bildungsgesetze ableitet, alle diese Notwendigkeiten aber unter jenes oberste Gesetz der Bindungen des Willens stellt, wird sie zu einer inneren Kraft, welche auf die Steigerung des Menschen und die Fortentwicklung seiner Lebensordnungen hindrängt, gibt aber zugleich feste Maßstäbe für diese in der sittlichen Regel und in den Realitäten des Lebens."73
Für diese weitläufige Aufgabenstellung der Philosophie hat Dilthey schon in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften einen prägnanten Begriff, der mit wünschenswerter Klarheit den neu gewonnenen Ausgangspunkt des philosophischen Denkens markiert, der die Bindung an das Leben auf den Punkt bringt, in ihm auch den Primat des Willens festmacht und von ihm her die weite Sinndimension des Erlebens, Verstehens und Erklärens offenhält. Der Begriff lautet „Selbstbesinnung" 74 . Es ist dies eine der kürzesten Definitionen, die sich die Philosophie je gegeben hat. Gleichwohl ist sie so umfänglich, daß sie ihre große Tradition, einschließlich ihres antiken Ursprungs, in sich aufnehmen kann. Vor allem aber geht in sie die wohl bedeutsamste Denkerfahrung des 19. Jahrhunderts ein: Das Scheitern der idealistischen Systeme und der Aufstieg der empirischen Wissenschaften werden nüchtern als Tatbestände angesehen. Doch weder das eine noch das andere kann die Philosophie von der sokratischen Aufgabe der Selbsterkenntnis entbinden. „Was ist der Mensch?" lautet die Frage, in der nach Kant alle Fragen der Philosophie zusammenlaufen. Im Übergang ins zwanzigste Jahrhundert gibt ihr Dilthey nicht nur eine neue Fassung, sondern auch einen Lösungsweg vor. Denn so weit die Hoffnungen Dilthey s auch reichen mögen: Seine Formel ist Ausdruck der neuen Bescheidenheit der Philosophie. Folglich sagt man nicht zuviel, wenn man in Wilhelm Dilthey den exemplarischen Denker seiner wissenschaftlichen Epoche namhaft macht. Verglichen mit seinen Zeitgenossen Friedrich Nietzsche (1844-1900), Gottlob Frege (1848-1925) oder Edmund Husserl (1869-1938) wird niemand Dilthey den ersten Platz geben wollen. Aber sein Denken ist umfänglich und integrativ genug, um heute noch eine philosophische Herausforderung und Aufgabe zu sein.
73 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 411. 74 Vgl. dazu nur Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 24f. (Programm: Selbstbesinnung vs. Metaphysik), S.385f., 176ff. (Sokrates), 259ff. (Augustinus); ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 7, 82f., 200; Weltanschauungslehre, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 192f.; dazu: Gerhardt, Selbstbestimmung, 1. Kap.
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Die Schüler
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Bis 1900 läßt sich nur Max Dessoir (1867-1947) im engeren Sinne als Schüler Diltheys bezeichnen. Um die Jahrhundertwende sammelt der alte Dilthey aber eine Gruppe junger Philosophen um sich. Zum engeren Schülerkreis gehören Paul Meitzer (1873-1960) 7 5 , Max Frischeisen-Köhler (1878-1923) 7 6 , Georg Misch (1878-1965), Bernhard Groethuysen (1880-1946) 7 7 und Eduard Spranger (1882-1963). Misch habilitiert sich 1905, Frischeisen-Köhler 1906, Groethuysen 1907 und Spranger 1909. Im Todesjahr Diltheys treten sie mit einem Sammelwerk Weltanschauung, Philosophie und Religion hervor. Das Sammelwerk versucht vor allem Philosophie und Religion als Formen der Weltanschauung in ein Gespräch zu bringen. Es ist keine reine Programmschrift der Dilthey-Schule. So sind neben Dilthey beispielsweise auch Hans Driesch (1867-1941), Erich Adickes (1866-1928), Paul Natorp (1854-1924), Georg Simmel (1858-1918), Paul Deussen (1845-1919) und Ernst Troeltsch (1865-1923) beteiligt. Das Sammelwerk gibt dennoch einen guten Eindruck vom religions- und kulturphilosophischen Interesse der Dilthey-Schule. Keinem seiner Schüler bahnt Dilthey damals direkt eine Berliner Karriere. So müssen sie sich in der Ferne bewähren. Menzer wechselt 1906 als Extraordinarius nach Marburg und dann 1908 als Ordinarius nach Halle. Frischeisen-Köhler folgt 1915 als Extraordinarius nach Halle. Misch geht 1911 nach Marburg und 1917 als Nachfolger Husserls nach Göttingen. Spranger wechselt 1911 nach Leipzig und kehrt 1920 auf ein Ordinariat nach Berlin zurück. Nur Groethuysen bleibt in Berlin. 75 Menzer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik bis zum Erscheinen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1897; Kants Lehre von der Entwicklung der Natur und Geschichte, Berlin 1911 (Wilhelm Dilthey zugeeignet); Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1913; Weltanschauungsfragen, Stuttgart 1918; Persönlichkeit und Philosophie, Halle 1920; Leitende Ideen in der Pädagogik der Gegenwart, Osterwieck 1926; Deutsche Metaphysik der Gegenwart, Berlin 1931; Goethes Ästhetik, Köln 1957. 76 Frischeisen-Köhler, Hobbes in seinem Verhältnis zu der mechanischen Naturanschauung, Berlin 1902; Realitätswert der sinnlichen Qualitäten. Studien zur Naturphilosophie des Thomas Hobbes, 1905; (Hrsg.), Weltanschauung. Philosophie und Religion in Darstellungen, Berlin 1911; Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig 1912; Das Realitätsproblem, Berlin 1912; Das Problem des ewigen Friedens, Berlin 1915; Grenzen der experimentellen Methode, Berlin 1918; Bildung und Weltanschauung. Eine Einführung in die pädagogischen Theorien, Charlottenburg 1921; Philosophie und Pädagogik, Leipzig 1931; Die Philosophie der Gegenwart, in: Die Geschichte der Philosophie, hrsg. v. Max Dessoir, 1925, S. 555-630; vgl. den Nachruf auf Frischeisen-Köhler in: Kant-Studien 29 (1924), S . V - X X , sowie Frischeisen-Köhlers Nachruf auf Dilthey in: KantStudien 17(1913), S. 161-172. 77 Groethuysen gehörte außerdem dem engeren Schülerkreis um Simmel, dem „philosophischen Antipoden" (Margarete Susman, Ich habe viele Leben gelebt, Stuttgart 1964, S. 65), an. Nach Susmans Einschätzung habe bei Groethuysen jedoch letztlich „Dilthey über Simmel gesiegt" (ebd., S. 65).
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Diese Schüler sind ihrem Lehrer nicht nur philosophisch verbunden, sondern pflegen auch sein Werk fort. So betreut Menzer jahrzehntelang als Sekretär der Kant-Kommission der Preußischen Akademie die von Dilthey 1894 ins Leben gerufene Akademie-Ausgabe. 78 Frischeisen-Köhler gibt zusammen mit Arthur Liebert (1878-1946) die Kant-Studien heraus und setzt die Kontroverse um die naturwissenschaftliche Begriffsbildung gegen Rickert 79 fort, während Misch und Groethuysen im Auftrag der Akademie damit beginnen, die Werke Diltheys herauszugeben. Es gibt wohl kaum einen besseren Beleg für das Ansehen und den Einfluß Diltheys als die Tatsache, daß die Berliner Akademie nur wenige Jahre nach seinem Tod die Herausgabe seiner Gesammelten Schriften veranlaßt. Zuvor initiierte sie nur die Ausgaben von Leibniz, 80 Kant und Humboldt - allesamt überragende Denker, die der Akademie verbunden waren. Noch bevor die Akademie, auf Betreiben Sprangers, Schleiermacher-Editionen der „Ästhetik" und „Dialektik" veranstaltet, fördert sie die Sammlung der verstreut erschienenen Schriften Diltheys. Der selbst arbeitet solcher Sammlung allerdings vor - eine Parallele zu Heidegger, der allerdings weniger die Sache der Philosophie als die Organisation seines eigenen Werkes 81 betrieb. Bei Dilthey stehen die Probleme im Vordergrund. Neben geistesgeschichtlichen Studien und Weltanschauungslehren ist es dann verstärkt die Pädagogik, der sich Diltheys Schüler widmen. Spranger schlägt darin ein neues Kapitel Berliner Philosophie auf. Georg Misch (1878-1965) steht Dilthey besonders nahe, da er seit 1908 mit dessen Tochter verheiratet ist. Mit seiner großen Geschichte der Autobiographie^2 nimmt er Diltheys narrationstheoretische Problematisierung des Selbstverstehens durch das „Kunstwerk" der Biographik 83 auf. Misch antwortet Dilthey auch in seiner Einleitung Der Weg in die Philosophie84; er erörtert dort - bewußt interkulturell unter Einbezug der indischen und chinesischen Philosophie - den „Durchbruch durch die natürliche Einstellung" zum philosophischen Staunen und metaphysischen Erkennen. 78 Dazu Menzer, Die Kant-Ausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 337-350; vgl. Frithjof Rodi, Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preussischen Akademie der Wissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch 10 (1996), S. 101-134. 79 Frischeisen-Köhler, Grenzen der experimentellen Methode, in: Deutsche Erziehung. Schriften zur Förderung des Bildungswesens im neuen Deutschland, hrsg. v. K. Muthesius, Heft 9, Berlin 1918, S. 1-30; Philosophie und Leben, in: Kant-Studien 26 (1921), S. 112-138. 80 Dazu Dilthey, Leibniz und sein Zeitalter, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 3 - 8 0 . 81 Dazu vgl. Reinhard Mehring, Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992. 82 Misch, Geschichte der Autobiographie, 4 Bde., 2. Aufl., 1949-1976; Studien zur Geschichte der Autobiographie, Göttingen 1954. 83 Dazu Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 191 ff. 84 Misch, Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel, 2. Aufl., München 1950.
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Misch verteidigt Dilthey s Ansatz 85 auch gegen dessen Absorption durch Heidegger. Unlängst erschien aus dem Nachlaß der Versuch einer phänomenologischen Logik. 86 Der vielleicht interessanteste Schüler Diltheys aber ist Bernhard Groethuysen (1880-1946). Er promoviert 1903 bei Stumpf und Dilthey über Das Mitgefühl87. In der Deutschen Rundschau veröffentlicht er einen Nachruf auf Dilthey. Er organisiert die Dilthey-Ausgabe, 88 gibt die wichtigsten systematischen Bände der Gesammelten Schriften - die Einleitung in die Geisteswissenschaften, den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften sowie die Weltanschauungslehre - heraus und übersetzt Dilthey mit seinem zweibändigen Werk über Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich89 in die Soziologie. Es ist ein „Meisterwerk der Sozialgeschichte der Moderne" (R. König). Es beschreibt die Weltund Lebensanschauung säkularisationstheoretisch von der katholischen Weltanschauung ausgehend und scheint damit eine Gegenprobe zu Max Webers klassischer Untersuchung über das historische Verhältnis von protestantischer Ethik und modernem Kapitalismus vorzunehmen, da auch Groethuysen auf das Verhältnis von Kirche und Kapitalismus abhebt. Sein primär lebensphilosophisches Interesse zeigt sich aber im Ansatz bei der „Umbildung des religiösen Erlebnisses", der religiösen Ideen von Tod, Gott und Sünde. Im Februar 1931 wird Groethuysen zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. Die Fakultät hebt auch die Verdienste bei der Dilthey-Ausgabe hervor. Die Arbeit an der Akademie-Ausgabe der Leibniz-Briefe bringt es mit sich, daß Groethuysen den Winter über in Paris arbeitet, wo er französischen Schriftstellern wie André Gide - beim Übersetzen deutscher Texte zur Seite steht. 1926 veröffentlicht er eine Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche. Er ist ständiges Mitglied in der Leitung der beiden Zeitschriften La Nouvelle Revue française und Commerce und gibt bei Gallimard eine Bibliothèque des idées heraus. 90 In Berlin trifft man ihn nur im Sommer an. Am 29. April 1933 beantragt Groethuysen 85 Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, 2. Aufl., Leipzig 1931; Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt/M. 1947; vgl. dazu auch Paul Hofmann, Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft? Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Heideggers „Sein und Zeit", Berlin 1929; Julius Stenzel, Dilthey und die deutsche Philosophie der Gegenwart, Berlin 1934. 86 Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg 1994. 87 Abdruck in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 34 (1904), S. 161-270. 88 Dazu vgl. Frithjof Rodi, Die Anfänge der Dilthey-Ausgabe, gespiegelt in Mitteilungen und Dokumenten von Arthur Stein, in: Dilthey-Jahrbuch 5 (1988), S. 167-177. 89 Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 1, Halle 1927; Die Soziallehren der katholischen Kirche und das Bürgertum, Halle 1930. 90 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1475, Bl. 238.
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eine Unterbrechung seiner Lehrtätigkeit.91 Er kehrt nicht wieder nach Berlin zurück und lebt in Paris ärmlich als sokratischer Bohémien,92 arbeitet jedoch weiterhin wissenschaftlich. Nach dem Kriege erscheinen eine Sammlung Mythes et portraits (1947) und eine Monographie über J. J. Rousseau (1949). Ein politisch-philosophisches Fazit der Untersuchungen zur Sozial- und Ideengeschichte der Französischen Revolution ist die schmale Broschüre Die Dialektik der Demokratie93, die das damals brandaktuelle Problem der Parteiendemokratie als „Ausdruck der demokratischen Dialektik" von Individuum und Gemeinschaft im „rein hermeneutischen Versuch" behandelt. Nach Groethuysen besteht die Dialektik der Demokratie im permanenten Bestreben der „Selbstaufhebung der Partei" im demokratischen Prozeß. Er will damit 1931 die parteienstaatliche Organisation im Moment ihrer Suspension durch das Weimarer Präsidialsystem verteidigen. Er tut dies qua Hermeneutik der „demokratischen Ideologie" und unterstellt den Parteien dabei, ideologiegeschichtlich an der Französischen Revolution orientiert, ein Begehren zur „Selbstaufhebung" im „Allgemeinwillen". Diese Verteidigung der Parteienstaatlichkeit bleibt im typischen „Oppositionsrousseauismus"94 des deutschen konstitutionellen Denkens befangen; sie hat noch keinen Begriff von parlamentarischer Repräsentation in der pluralistischen Konkurrenzdemokratie. Im Handbuch der Philosophie publiziert Groethuysen 1931 eine historisch-typologisierende Philosophische Anthropologie, die dem enzyklopädischen Zweck entsprechend zu konventionell ideengeschichtlich verfaßt ist, als daß sie als philosophisches Vermächtnis angesehen werden könnte. Immerhin erfaßt diese anregende Darstellung Diltheys Interesse an einer historischen Anthropologie und Typenschau des geschichtlichen „Selbsterlebnisses" des Menschen. Ganz im Sinne Diltheys schreibt Groethuysen: „Philosophische Anthropologie ist Selbstbesinnung, ein immer erneuter Versuch des Menschen, sich selbst zu fassen [...]. Jeder Mensch ist in gewissem Sinne Lebensphilosoph."95 Der Durchgang durch die „anthropologischen Auffassungsweisen" von Piatons Sokratesfigur bis zur Neuzeit läßt sich auch als leise Korrektur an Dilthey lesen. Denn Diltheys scharfe Kritik der „Metaphysik der substantialen Formen" ließ die Geschichte der Selbstauffassung und Analyse des Menschen - im zweiten, von Misch herausgegebenen Band der Gesammelten Schriften -
91 Vgl. UAHU, UK„ G 208, Bd. 3, Bl. 16. 92 Vgl. dazu das Nachwort von Eberhard Schmitt zu Groethuysens nachgelassener Philosophie der Französischen Revolution, Neuwied 1971, S. 193ff.; umfassender: Hannes Böhringer, Bernhard Groethuysen. Vom Zusammenhang seiner Schriften, Berlin 1978; vgl. auch Jürgen Sieß, Der Philosoph bei den Dichtern. Bernhard Groethuysens Fragmente einer literarischen Anthropologie, in: Vermittler. Deutsch-französisches Jahrbuch 1 (1982), S. 75-104. 93 Groethuysen, Die Dialektik der Demokratie, Wien 1931. 94 Dazu grundlegend Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, Frankfurt/M. 1997. 95 Groethuysen, Philosophische Anthropologie, 1931, Neudruck Darmstadt 1969, S. 3.
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erst jenseits der Metaphysik des Mittelalters mit der Renaissance beginnen. Groethuysen berücksichtigt dagegen auch die Frühgeschichte der anthropologischen Selbstauffassung. Dabei bleibt er aber im begrifflichen Rahmen von Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften und entwickelt keine eigene philosophisch-systematische Anthropologie. Seine Sammlung Mythes et portraits, 1968 unter dem Titel Unter den Brücken der Metaphysik übersetzt erschienen, stellt kurze Essays zur modernen Dichtung in den Zusammenhang der älteren europäischen Geistesgeschichte und nähert dabei Metaphysik und Dichtung einander an. Im Nachlaß Robert Musils findet sich der Entwurf eines kleinen Widmungsgedichts vom 12. Januar 1936 an Groethuysen, das den Philosophen im Bohémien betont: „Es bringt die Hand - doch ängstigt sich das Herz - / Dem Philosophen einen kleinen Scherz. / Wüßt ich nicht, daß vornehm im weisen Griechenbarte / Wie ein Leuchtkäfer stets die Zigarette verglüht / Ach ich wagte es nicht, dieses eine darzubieten! / Wüßte ich nicht, daß im weisen Barte des Griechen/ Wie ein Leuchtkäfer sich die Zigarette verbirgt / Ach, ich wagte es nicht!"96
Die Bedeutung Diltheys und seiner Schule ist schon zeitgenössisch höchst umstritten. Nach der scharfen Kritik seiner psychologischen Grundlegung durch Ebbinghaus muß Dilthey auch noch Husserls Absage 97 an die „Weltanschauungsphilosophie" zugunsten der phänomenologischen Idee einer Philosophie als strenge Wissenschaft erleben. Husserl ist schon in den - von Dilthey begrüßten - Logischen Untersuchungen (1900/01) auf Distanz gegangen und verschärft seine Kritik mit Blick auf das Sammelwerk von 1911. Damit meint er dann die Schule insgesamt. Heidegger 98 scheint mit seiner „Fundamentalanthropologie" wieder auf Dilthey zurückzugehen. Tatsächlich übernimmt er in Sein und Zeit viel mehr, als er dem Leser eingesteht. In seine Referenz an Dilthey flicht er aber die Bosheit hinein, sich eher auf die „Ideen des Grafen Yorck" zu beziehen als auf Dilthey. Georg Misch verteidigt den Standpunkt Diltheys gegen Heidegger, Ludwig Landgrebe99 sucht die Gegensätze selbständig zu vermitteln. Es ist wesentlich solchen Vermittlungsleistungen (L. Landgrebe, E. Fink, H.-G. Gadamer, M. Riedel) zu danken, daß die Nachkriegsphilosophie das Erbe Diltheys gegenüber Heidegger nicht ganz ausgeschlagen hat.
96 Robert Musil, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. II, 470. 97 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos 1 (1910/11), S. 289-340, bes. S. 323 ff. 98 Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 77; erst unlängst erschienen Heideggers Kasseler Vorträge von 1925: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der Kampf um eine historische Weltanschauung, in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992/93), S. 143-180, sowie jetzt insgesamt ders., Einleitung in die Philosophie. Vorlesung vom WS 1928/29, Gesamtausgabe, Bd. 29, Frankfurt/M. 1996. 99 Landgrebe, Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 237-366.
10.
Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
Dilthey macht schon deshalb in Berlin nicht Schule im strikten Sinne, weil er seine Schüler nicht in besonderem Maße unterzubringen sucht. Er nimmt aber massiven Einfluß auf eine Besetzungsfrage, die seinen eigenen Grundlegungsanspruch tangiert: auf die Berufung von Cari Stumpf. Diese Einflußnahme überrascht zunächst, da Stumpf als Experimentalpsychologe dem Ansatz Diltheys fernzustehen scheint. Diese gängige Auffassung ist jedoch unzutreffend und verkennt die damalige universitäre Situation. Die Berufung eines experimentell arbeitenden Psychologen ist damals unstrittig. Es besteht jedoch die Alternative zwischen Hermann Ebbinghaus und Stumpf. Nicht die experimentelle Orientierung, sondern die grundsätzliche philosophische Beurteilung des Leib-Seele-Problems ist für Diltheys Ablehnung von Ebbinghaus und seine Bevorzugung Stumpfs entscheidend. Dilthey sieht eine Unvereinbarkeit zwischen Ebbinghaus' Position des psychophysischen Parallelismus und seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stumpf dagegen ist zwar experimentell orientiert, bestreitet als Schüler Brentanos jedoch nicht die grundsätzliche Möglichkeit einer geisteswissenschaftlichen Psychologie und philosophischen Geisteswissenschaft, wie Dilthey sie vertritt. Die Berufung von Stumpf ist für die weitere Entwicklung der Berliner Philosophie von zentraler Bedeutung. Denn nicht minder als Dilthey bringt Stumpf zahlreiche bedeutende Schüler hervor und fördert die Entstehung einer Berliner Schule der Gestaltpsychologie, die auch Impulse der „geisteswissenschaftlichen Psychologie" aufnimmt und so eine philosophische Orientierung der Psychologie festhält. Dadurch gibt es eine Kontinuität Berliner Psychologie seit ihren Anfängen.
a.
Frühgeschichte der Berliner
Psychologie
Die Anfänge neuerer psychologischer Forschung liegen in der Aufklärung, Impulse kommen in der Romantik hinzu. Ein Wegbereiter ist Johann Tetens, dessen vermögenspsychologische Klassifikation der seelischen kräfte in Verstand, Willen und Gefühl in Kants Dreiteilung der Kritiken
weitere Nikiaus Grundwieder-
10.
Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
159
kehrt. 1 Eine neuere Darstellung beschreibt die philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert von Karl Philipp Moritz, Johann Friedrich Herbart und Carl Gustav Carus ausgehend. 2 An der Berliner Universität liest Schleiermacher zwischen 1818 und 1833/34 viermal die Psychologie in den „Philosophischen Wissenschaften". Seine Vorlesungen erscheinen allerdings erst 1862 aus dem Nachlaß. Schleiermacher bemüht sich um eine Annäherung von „rationaler" und „empirischer" Psychologie; er begreift die Psychologie dabei als ein „Komplement der Dialektik". 3 Weil er das „Gefühl" als „unmittelbares Selbstbewußtsein" bestimmt, kann er es in die spekulativ-dialektische und empirisch-psychologische Seite auslegen. Es war bereits davon die Rede, daß sich in Berlin bald eine Gegenlinie empirischpsychologischer Forschung gegen die Dominanz der spekulativen Philosophie Hegels und des Hegelianismus etabliert. Diese hat zunächst Schwierigkeiten, ihre Eigenart gegen Hegel zu behaupten. Hegel lehnt zwar die empirische Psychologie nicht durchweg ab, will sie aber, wie so vieles, in sein System „aufheben". Hegel erörtert die Psychologie im Rahmen seiner Systematik innerhalb der Philosophie als höchste Stufe und letzte Gestaltung des „subjektiven Geistes". 4 Gegenstand der Psychologie, so Hegel, ist der „sich in sich bestimmende Geist, als Subjekt für sich". Anders als die Anthropologie und Phänomenologie habe es die Psychologie nicht nur empirisch mit den „Vermögen oder allgemeinen Tätigkeitsweisen des Geistes als solchen" zu tun, sondern zugleich mit der praktischen Funktion dieser Vermögen. So behandelt Hegel in seiner Psychologie nicht nur den „theoretischen", sondern auch den „praktischen Geist", und skizziert Grundzüge einer Willenspsychologie unter dem Telos der Bildung eines Individuums zum „freien Geist". Nach dem Vorbild des Aristoteles möchte er der empirischen Psychologie das spekulative Interesse zurückgeben, die menschlichen Vermögen unter dem Gesichtspunkt der Bildung des Individuums zur Freiheit zu beschreiben. Seine Forderung an die „empirische Psychologie" lautet, daß die theoretischen Vermögen des Individuums zugleich als Funktionen seiner praktischen Orientierung zu beschreiben sind. Drei Kritiklinien gegen Hegels „spekulatives" Interesse zeichnen sich ab: erstens die Detailkritik seiner empirisch-psychologischen Bemerkungen selbst; zweitens Hegels Verhältnisbestimmung
1 Vgl. Johann Nikolaus Tetens, Philosophische Untersuchungen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde., Leipzig 1776-77. 2 Klaus Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg 1993; detaillierter Abriß der Geschichte der Psychologie schon bei Friedrich Eduard Beneke, Lehrbuch der Psychologie, Berlin 1833, S. 2ff. 3 So Andreas Arndt, „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip". Friedrich Schleiermachers Psychologie, in: Dieter Burdorf u. Reinold Schmücker (Hrsg.), Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, S. 147-161, hier: 159. 4 Hegel, Enzyklopädie (1830), bes. §§ 378, 387, 440ff; vgl. dazu Hermann Drüe, Psychologie aus dem Begriff. Hegels Persönlichkeitstheorie, Berlin 1976.
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Teil III: Blüte
von theoretischem und praktischem Geist, mit der starken Betonung der praktischen Orientierungsfunktion des kognitiven Prozesses; drittens die Stellung dieser Psychologie, und der Philosophie des subjektiven Geistes insgesamt, im Gesamtsystem. Hegel stand hier stets unter dem falschen Verdacht, daß sein „subjektiver Geist" nicht vom menschlichen Individuum handelte. Dies wird ihm jedenfalls in Berlin direkt entgegengehalten. Seine Schüler verteidigen dagegen Hegels Ansatz. 1837 veröffentlicht Karl Rosenkranz eine Psychologie. Ihr folgt drei Jahre später Johann Eduard Erdmanns Grundriß der Psychologie. Michelet verfaßt eine Anthropologie und Psychologie5. Die Anfänge der Opposition liegen weiter zurück. In Königsberg hört Hermann v. Keyserlingk (1793-1858) Vorlesungen Herbarts und wird zu einem glühenden Verehrer von dessen Philosophie. Schon 1816 legt er einen Vergleich zwischen Fichtens System und dem des Herrn Professor Herbart vor, dem „verehrten Lehrer und Freunde, dem Herrn Professor Herbart, als Zeichen seiner innigen Hochachtung und Ehrerbietung mit dankerfülltem Herzen" gewidmet. Seine Hoffnungen auf eine Berliner Wirksamkeit begründet Keyserlingk, wie erwähnt, mit dem Bedürfnis einer „Gegenwirkung" gegen Hegels Dogmatismus.6 Die Kritik an Hegels „Pantheismus" führt ihn jedoch von der Psychologie ab zur Theologie. Während seiner Berliner Privatdozentenzeit kündigt er die Anhängerschaft an Herbart auf und arbeitet daran, eine „Uebereinstimmung zwischen der Philosophie und der göttlichen Offenbarung zu bewirken". Diese Aufgabe stellt sich ausdrücklich seine 1829 in Berlin publizierte Schrift Die Wissenschaft vom Menschen-Geiste oder Psychologie. Sie enthält anregende alltagspsychologische Gedanken über die Trieb- und Gefühlswelt des Menschen, faßt den „Menschen-Geist" aber nicht als Gegenstand der Naturforschung auf, sondern fordert eine eigenständige Betrachtungsweise der „Natur des Geistes" ein. Friedrich Eduard Benekes (1798-1854) Bemühen gilt der akademischen Profilierung der psychologischen Denkweise innerhalb der Philosophie. Seine Psychologie nimmt ihren Ausgang bei der „inneren Erfahrung" des „Selbstbewußtseins"7. Methodologisch setzt Beneke konsequent auf die „Selbstbeobachtung"; sie liefere der „psychologischen Erkenntnis" die „Auffassung dessen, was in uns selber vorgeht" 8 . Die physiologische Betrachtung könne hierbei nur „schätzbare Winke und Bestätigungen für die Einteilungen und Konstruktionen der Seelenentwicklungen"9 darreichen. Ihr 5 Michelet, Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjektiven Geistes, Berlin 1840. 6 Keyserlingk, Denkwürdigkeiten eines Philosophen, Altona 1839, S. 190ff. 7 Beneke, Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben, Berlin 1833, S. lOff.; Lehrbuch der Psychologie, Berlin 1833, S. 1 ff. 8 Beneke, Die neue Psychologie, in Auszügen abgedruckt in: Beneke, Schriften zur Psychologie und Pädagogik, Berlin 1986, S. 62f. 9 Ebd., S. 57.
10.
Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
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„Heil" 10 habe die Psychologie von der Physiologie nicht zu erwarten. Das Scheitern aller bisherigen Versuche, „die psychischen Entwickelungen aus der leiblichen Organisation zu erklären", spreche für diese Prognose. Und sie werden auch „in alle Zukunft" scheitern, da die Erklärung des Psychischen aus dem Physischen „Gleichartigkeit" voraussetze, die zwischen beiden Phänomenen nicht existiere. Im Gegenteil bestehe - so Beneke - „Inkommensurabilität"11. Beneke wie Dilthey drängen auf eine von der Physiologie freie Betrachtung der psychischen Erscheinungen. In einem wesentlichen Punkt weichen die Auffassungen jedoch voneinander ab: Während Beneke dem mechanistischen Modell folgt und die psychischen Vorgänge ausschließlich „nach strengen Kausalverhältnissen" verbunden sieht, hegt Dilthey frühzeitig Zweifel gegenüber der Anwendung des Kausalitätsbegriffes auf die Beziehung der verschiedenen psychischen Modi untereinander. Noch in seiner Berliner Psychologie-Vorlesung bekennt sich Dilthey zwar im Wintersemester 1888/89 uneingeschränkt zum deterministischen Erklärungsmodell der naturwissenschaftlich-orientierten Psychologie: „Die erklärende Psychologie ist [...] im Recht, wenn sie das Auftreten eines einfachen Vorgangs [...] abhängig macht von Bedingungen im Seelenleben selbst [...]. Von den niedrigsten bis zu den höchsten Leistungen [des Seelenlebens] reicht ein einziger Kausalzusammenhang"12. Wenige Jahre später nimmt er aber von diesem kausalistischen Standpunkt Abstand. Am Ende steht die Überzeugung, daß es in der Innenwelt keine naturwissenschaftliche Kausalität gibt und das Psychische nur „in der Form von Wirkungszusammenhängen" aufzufassen ist.
b.
Nachbarschaftsbeziehungen
Dilthey hätte sich nicht in die Linie der „Reaktion der Philosophie der denkenden Erfahrung" stellen können und von den Grenzen erklärender Psychologie überzeugen lassen, wenn das methodologische Selbstverständnis der Naturwissenschaften ihm eine solche Position nicht erlaubt hätte. Dies schien in der Jahrhundertmitte noch ganz unwahrscheinlich. 1841 gründet sich in Berlin der sogenannte „jüngere Naturforscherverein", dem Carl Ludwig (1816-1895), Emil du Bois-Reymond (1818-1896), Ernst Wilhelm von Brücke (1819-1892) und Hermann von Helmholtz (1821-1894) angehören. Dieser Verein fixiert als Eid: „In den Organismen sind keine anderen Kräfte als die bekannten der Physik und Chemie. In jenen Fällen, die zur Zeit nicht
10 Ebd., S. 56. 11 Ebd., S. 56 f. 12 Dilthey, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Teil: Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1875-1894), in: Gesammelte Schriften, Bd. 21, S. 282.
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Teil III: Blüte
durch diese Kräfte erklärt werden können, muß man entweder die spezifische Art und Weise ihrer Wirkung durch Anwendung physikalisch-mathematischer Methoden herausfinden oder neue Kräfte annehmen, die den chemisch-physikalischen Kräften, welche der Materie innewohnen, im Rang gleichgestellt sind und auf die Kräfte der Anziehung oder Abstoßung zurückgeführt werden können" 13 . Dieses deterministische Programm ließ sich jedoch mit den damaligen Methoden nicht aufrechterhalten. Du Bois-Reymonds Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens markiert 1872 die Abkehr. Sein „Ignorabimus" stellt einen „Freibrief für autochtone geisteswissenschaftliche Forschung aus, auf den auch Dilthey gerne Bezug nimmt. Nach Dilthey lassen sich die psychischen Eigenschaften eines Menschen eben nicht „aus dem Bau seines Gehirns" 14 ableiten. Er lehnt jede Form von Materialismus, so auch den psycho-physischen Parallelismus ab. Dies ist einer der Hauptgründe für das Scheitern von Hermann Ebbinghaus (1850-1909) in Berlin. Dessen unverhohlene Sympathie für den „Materialismus Spinozas, Goethes, Fechners" und die Überzeugung, daß „Seele und Nervensystem [...] eine Partei" bzw. „ein und dasselbe Reale" 15 seien, passen nicht in Diltheys geisteswissenschaftliches Programm. Ebbinghaus' nüchterne Vorstellung von der Seele als Indikator des Nervensystems steht Diltheys Ansicht schroff entgegen, daß die „Tatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen" 16 . Auch Benno Erdmann (1851-1921), gegen den sich Dilthey bei seiner Berufung nach Berlin durchsetzte, neigt dem „psychophysiologischen Parallelismus" zu.17 Die philosophische Pointe der Parallelismuslehre besteht in der Ablehnung einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. So behauptet auch Erdmann, daß physische bzw. mechanische Vorgänge keine psychischen Ursachen haben können, weil psychische und physische Prozesse in keiner kausalen Abhängigkeit zueinander stehen, sondern „ein und dasselbe" sind. Unterschiedlich seien lediglich die Erscheinungsweisen: „Das Mechanische ist das von außen erfaßte Seelische, das Seelische das von innen erfaßte Mechanische unseres Körpers."18 Carl Stumpf (1848 bis 1936) dagegen hält - in der Nachfolge Brentanos - auch bei intensiver Experimentalforschung an der „Wechselwirkung" und der Prävalenz der geisteswissenschaftlichen Methode, der Beobachtung der „eigenen Innenwelt" 19 , fest und neigt
13 Zit. in: Helmut E. Liick, Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 1991, S. 46. 14 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 9. 15 Hermann Ebbinghaus, Abriß der Psychologie, 2. Aufl., Leipzig 1909, S. 45. 16 Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 11. 17 Benno Erdmann, Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, Köln 1907. 18 Ebd., S. 207. 19 Carl Stumpf, Selbstdarstellung, in: Raymund Schmidt (Hrsg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1924, S. 204-261, S.243. In einem der vertraulichen Gut-
10.
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Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
nicht zur physikalistischen „Unterordnung der Psychologie unter das Naturerkennen" 20 . Deshalb will er die Experimentalpsychologie auch nicht der Medizinischen Fakultät überlassen: „Leicht würde sonst ihr ganzer Betrieb u. ihre Anwendungen einer schädlichen Einseitigkeit anheimfallen. Denn psychologische Beobachtung, ohne welche alles Experimentieren in diesen Fragen vergeblich sein würde, bleibt eine Kunst, zu der der Naturforscher und Arzt nicht durch die Naturforschung und Medizin als solche erzogen wird, als vielmehr durch beständige Berührung mit den Problemen der Geisteswissenschaften Nahrung erhalten muss."21
Dennoch geht Stumpf einen wesentlichen Schritt über die bloß deskriptiv-phänomenologische Psychologie hinaus. Stumpf ist ein Mann des Übergangs, dem es durch Erweiterung des geisteswissenschaftlichen Ansatzes gelingt, aktuelle Entwicklungstendenzen und Forschungsergebnisse in seine Psychologie zu integrieren. Deshalb ist er Diltheys Kandidat für die Nachfolge Zellers. Ebbinghaus und Erdmann dagegen kommen für Dilthey nicht in Betracht. Daß der Lehrstuhl des Philosophiehistorikers nun durch einen psychologisch arbeitetenden Philosophen besetzt werden soll, zeigt einen tiefgreifenden Wandel im philosophischen Selbstverständnis an. Stumpf erfüllt die Erwartungen Diltheys und der Fakultät an eine Vertretung der Psychologie innerhalb der Philosophie. So wird er in der Kommissionssitzung vom 1. Juli 1893 Erdmann und Ebbinghaus vorgezogen. Wird Erdmann hinter Stumpf und auch Georg Elias Müller zurückgesetzt, weil „er eben kein Experimentator sei" 22 , so scheidet Ebbinghaus als vorwiegend experimentell arbeitender Psychologe und Anhänger des „Parallelismus" vorab aus.
c.
Ebbinghaus und Dilthey: Parallelismus
oder
Wechselwirkung?
Hermann Ebbinghaus (1850-1909) studiert in Bonn, Halle und Berlin unter anderem bei Delbrück, J. E. Erdmann, Schmoller und Trendelenburg. 1873 promoviert er in Bonn mit einer Abhandlung Ueber die Hartmannsche Philosophie des Unbewussten und studiert danach nochmals drei Semester Mathematik und Physik an der Berliner achten über Stumpfs universitäre Wirksamkeit anläßlich der Besetzung des Psychologie-Ordinariats heißt es: „Auch in der experimentellen Psychologie gehört Stumpf nicht zu den Extremen; er betont vielmehr immer wieder, daß nur gewisse elementare Vorgänge sich experimentell feststellen ließen, und daß vor allem die Selbstbeobachtung eine wichtige Quelle psychologischer Erkenntnis sei." (I HA Rep. 92, NL Althoff, Nr. 71, Bl. 55 f.). 20 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 165. 21 Dieses Zitat stammt aus einem Antrag zur Einrichtung eines Extraordinariats für Experimentalpsychologie und Naturphilosophie vom 29.6.1904, den Stumpf für seinen Assistenten Friedrich Schumann im Namen der Fakultät stellt. (UAHU, Phil. Fak. 1464, Bl. 106). 22 UAHU, Phil. Fak. 1462, Bl. 102.
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Teil III: Blüte
Universität. Zwischen 1876 und 1879 arbeitet er als Französischlehrer. 1880 habilitiert er sich in Berlin mit einer bahnbrechenden Schrift, die später überarbeitet unter dem Titel Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie erscheint. Gutachter sind Zeller und Helmholtz. Während Zeller moniert, daß „das materielle Ergebnis" nicht „sehr erheblich" sei, meint Helmholtz, daß der Verfasser die „Fähigkeit und die nöthigen Vorkenntnisse hat, um psychologische Probleme anzugreifen", und empfindet es „für einen Gewinn für unsere Universität [...], wenn diese wichtige Seite der Forschung durch eine tüchtige jüngere Kraft vertreten würde." 23 Seine erste Vorlesung hält Ebbinghaus 1880/81 über „Psychologie der Sinnesempfindungen (Psychophysik)". Nachdem die Habilitationsschrift 1885 erscheint und anerkannt wird, veranlaßt die Fakultät unter der Federführung Zellers und Diltheys die Berufung zum außerordentlichen Professor. Im Antrag vom 22. Januar 1886 heißt es: „Herr Dr. Ebbinghaus hat sich während seiner bald sechsjährigen Thätigkeit nie um eine Beförderung beworben; um so mehr ist unseres Erachtens die Facultät seiner Tüchtigkeit und seinem Verdienste schuldig, sich ausdrücklich für seine Beförderung zum außerordentlichen Professor unter Verleihung eines auskömmlichen Gehaltes zu verwenden." 24
Daraufhin verleiht der Kultusminister Ebbinghaus am 7. Juni 1886 ein Extraordinariat „mit der Verpflichtung, Vorlesungen über Psychologie und Ästhetik sowie Uebungen auf dem Gebiete der experimentellen Psychologie zu halten" 25 . Für die technische Ausstattung erhält er über die Jahre insgesamt 1.600 Mark.26 Verglichen mit den Beträgen für das Physiologische Institut oder das Chemische Laboratorium ist das nicht gerade üppig. Die mangelhafte Ausstattung der experimentellen (physiologischen) Psychologie ist damals bekannt. Forscher wie Du Bois-Reymond und Wilhelm Wundt berichten davon, daß die experimentelle Arbeit bis Ende der siebziger Jahren vor allem kostspielig, dilletantisch und unbefriedigend war. So erinnert sich Du Bois-Reymond: „Wenn in dieser Zeit ein junger Mann physiologische Experimente durchführen wollte, hatte er dies in seiner Wohnung zu tun. Daher bekam der aufstrebende Wissenschaftler oft Ärger mit seinem Vermieter, wenn er Frösche und Kaninchen als Versuchstiere nahm [...] Der junge Physiologe mußte seine Bücher, Chemikalien, Werkzeuge und all das andere Forschungsmaterial aus seinem eigenen schmalen Beutel bezahlen, oft seine eigenen Apparate planend und bauend." 27 Und Wundt resümiert nach einem kurzen 23 24 25 26
UAHU, Phil. Fak. 1210, Bl. 168. UAHU, Phil. Fak. 1435, Bl. 115. UAHU, UK., ΡΑΕΙ,ΒΙ. 1. Vgl. Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 3, Halle 1910, S. 202. 27 Emil Du Bois-Reymond (Hrsg.), Zwei große Naturforscher des 19. Jahrhunderts: Ein Briefwechsel zwischen Emil Du Bois-Reymond und Karl Ludwig, Leipzig 1912, S. 15.
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Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
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Berliner Studienaufenthalt im Sommersemester 1856: „Als ich [...] in meine süddeutsche Heimat zurückkehrte, war es mir klar bewußt, daß ich nicht gefunden, was ich erwartet hatte" 28 . Dabei steht die urzeitliche Ausstattung der experimentellen Psychologie in keinem Verhältnis zum allgemeinen akademischen Interesse an psychologischen Fragestellungen. Psychologisieren ist damals schon en vogue. Wie kümmerlich die Ausstattung gewesen ist, läßt auch der Bericht eines Zeitzeugen ahnen. Danach stehen Ebbinghaus ein Hippsches Chronoskop, Metronome, Stimmgabeln sowie ein Farbmischapparat miserabler Qualität zur Verfügung.29 Von einem „Großbetrieb experimentell-psychologischer Forschung" kann kaum die Rede sein. Ein solcher ist damals in Berlin auch nicht erwünscht. Max Dessoir spricht in einem Brief an Althoff nur offen aus, was andere dachten: „Fuer wirklich psychologische Experimente brauchen wir keine Palaeste, sondern an den großen Universitaeten ein paar ruhige Zimmer mit wenigen Apparaten. Wir muessen uns gerade auf diesem Gebiete hueten, solche Handlanger zuzurichten, wie sie in der Leipziger Schule die Mehrheit bilden." 30 Daß gerade Dessoir sich so äußert, der für sein medizinisches Doktorexamen Über den Hautsinn in einem gerätetechnisch gut ausgestatteten Laboratorium forschte, verwundert nur auf den ersten Blick. Man ist nicht generell gegen das Experimentieren eingestellt, plädiert aber für eine Trennung der Arbeitsgebiete. Wer in experimentell-psychologische Richtung arbeiten will, soll sich an die physiologischen Einrichtungen halten, während den Philosophen die Systematisierung und Interpretation der experimentell gewonnenen Forschungsergebnisse obliegt. Zunächst scheint Dilthey in Ebbinghaus einen guten Gesprächspartner gefunden zu haben. So berichtet er an Yorck von Wartenburg von wöchentlichen Spaziergängen mit Ebbinghaus, „welcher die besten und klarsten Kenntnisse psychologischer Art hier hat" 31 . Es trennt ihn dann sachlich vor allem seine Ablehnung des Parallelismus. Ebbinghaus legt dessen monistischen Kern folgendermaßen dar: „Die Seele [...] ist nicht ein dem Gehirn und Nervensystem fremd und andersartig und abtrennbar gegenüberstehendes Wesen, sondern vielmehr gleiches Wesens mit ihnen und nur in ihrer Erscheinungsweise von ihnen verschieden"32. Er schließt sich damit an Gustav
28 Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, S. 112, vgl. 104ff.; Wundts Autobiographie vermittelt neben näheren Charakterisierungen von Helmholtz und Du Bois-Reymond (153ff., 170ff.) vor allem einen guten Eindruck von der Entwicklung der Psychologie nach 1848, die Wundt als „Teilgebiet der Philosophie" (313) aufgefaßt wissen will. Deutlich wird auch die Bedeutung von Herbart und Mill für diese Entwicklung. 29 Vgl. H. Gundlach, Apparative Möglichkeiten und Begrenzungen des Werkes Ebbinghaus', in: W. Traxel/H. Gundlach (Hrsg.): Ebbinghaus-Studien 1, Passau 1986, S. 128. 30 I HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. AI, Nr. 71, Bl. 137 f. 31 Brief Diltheys, Ende 1883, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877-1897, Halle 1923, S. 38. 32 Ebbinghaus, Abriß der Psychologie, S. 46.
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Teil III: Blüte
Theodor Fechner (1801-1877) an, dessen Psychophysik33 er intensiv studiert. Vor allem folgt Ebbinghaus der Psychophysik bei der Bestimmung des Leib-Seele-Problems, wonach beide „in der Sache Eins" sind und nur von „zweierlei Standpuncten als zweierlei" erscheinen. Fechner prägte dafür den Begriff der „Identitätsansicht" 34 . Mit Fechner teilt Ebbinghaus die Ablehnung der Lehre vom kausalen Zusammenhang zwischen Psychischem und Physischem. Als Hauptargument gegen die Wechselwirkungslehre führt er das „Prinzip von der Erhaltung der Energie" an, mit dem sich die Annahme einer Seele, die durch ihre Tätigkeit den Gesamtwert modifiziert, nicht vereinbaren lasse. „Der beseelte Organismus wäre ein materielles System, dessen Energiegehalt, ganz abgesehen von seinen Beziehungen zur Umgebung, rein durch die in ihm selbst stattfindenden Vorgänge fortwährenden Schwankungen nach oben und nach unten unterläge." 35 Deshalb steht für Ebbinghaus fest, daß materielle Vorgänge nur materielle Ursachen haben können. Für teleologische Erwägungen besteht in solch einem mechanistischen Weltbild kein Bedarf. Dilthey ist dem Energieerhaltungssatz weniger verpflichtet. Aus seiner Perspektive begünstigt die Parallelismuslehre aufgrund ihrer physiologistischen Entmündigung des seelischen Eigenlebens die Ignoranz gegenüber seelischen Prozessen. Die „mächtigsten geistigen Tatsachen" würden dann lediglich als „Begleiterscheinungen unseres körperlichen Lebens" 36 gelten. Dilthey erklärt deshalb den psycho-physischen Parallelismus „zur Sache einer wissenschaftlichen Partei" und mißbilligt den „verfeinerten Materialismus", der bereits „in politischer Ökonomie, Kriminalrecht, Staatslehre [...] zersetzend gewirkt hat" 37 . Er negiert die Parallelismuslehre, weil sie den weltanschaulichen Materialismus affirmiert. Dabei kann Dilthey auch nicht umstimmen, daß der Materialismus, den er verurteilt, der Materialismus eines Spinoza oder Goethe sei. Diese fundamentalen sachlichen Gegensätze bringen Ebbinghaus in Berlin um seine weiteren akademischen Aussichten. Bei den Besetzungsfragen von 1893 um die Nachfolge Zellers ist er für Dilthey persona non grata. Kann Dilthey die drohende Berufung Paulsens gerade noch erdulden, erregt eine mögliche Berufung von Ebbinghaus seinen schärfsten Unmut und Widerwillen. In einem zweibögigen Brief vom 8. Oktober 1893 an Althoff heißt es: „Mein anderer Wunsch geht dahin daß erst nach Erledigung der andren Berufungssache Paulsen's Ernennung erfolge. Ich leide schon tief unter der Dissonanz mit Zeller die nach so vieljähriger Harmonie aus dieser Berufungsangelegenheit entsprang. Sollte nun was sehr möglich ist Müller ebenfalls
33 Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Teile, 2. Aufl., Leipzig 1889. 34 Zit. in: Michael Heidelberger, Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt/M. 1993, S. 131. 35 Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, S. 44. 36 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 142. 37 Ebd., S. 162.
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Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
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ablehnen und die Sache käme an die Fakultät zurück, so kann Paulsen nach seinem intimen Verhältnis zu Ebbinghaus nicht anders als gegen mich für diesen eintreten. Und so würde gleich am Beginn unser ohnehin so schwieriges Verhältnis, das nur bei diffiziler Behandlung sich für die Universität erwünscht gestalten kann, unheilbar verdorben. Ganz von der Chance zu schweigen, daß nach solcher Kreisverhandlung in der Facultät über E.[bbinghaus], ich dann mit E. in derselben Facultät zusammensitzen sollte: was nach meinem Gefühl kaum möglich ist." 38
Bei der Stellung Diltheys in der Fakultät sind die Berliner Tage damit für Ebbinghaus gezählt. Ebbinghaus wird in Berlin nicht Ordinarius, und als ein zweiter experimentell arbeitender Psychologe neben Stumpf wird er nicht gebraucht. Anfang April 1894 wird er nach Breslau berufen, um dort - laut amtlicher Mitteilung Althoffs - sein „besonderes Augenmerk der Psychologie zuzuwenden"39. Sogleich richtet er sein Augenmerk auf Diltheys Anfang 1895 erschienene, grundlegende Akademie-Abhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie,40 Die EbbinghausDilthey-Kontroverse beginnt. In der Gewißheit, daß der Zusammenhang des Seelenlebens der inneren Wahrnehmung „ursprünglich"41 gegeben sei, entscheidet Dilthey sich gegen die kausal-analytische Betrachtungsweise der erklärenden Psychologie, die unweigerlich in einen „Nebel von Hypothesen"42 führe. Ebbinghaus wirft Dilthey dagegen vor, von einer inadäquaten Vorstellung der erklärenden Psychologie aus zu operieren.43 Und spöttelt zwischenzeilig, Dilthey fehlten fundierte Kenntnisse über den „gegenwärtigen Stand der Psychologie" 44 ; seine kritischen Empfehlungen seien „den Psychologen bestens bekannt und [...] allseitig geübt"45. Daß diese Belehrung nicht spurlos an ihrem Adressaten vorüberging, belegt Diels' Mitteilung an Zeller,46 „daß Ebbinghaus'
38 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. AI, Nr. 71, Bl. 121 f. 39 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 4, Tit. 4, Nr. 36, Bd. 7, Bl. 148. 1905 wird Ebbinghaus nach Halle berufen. 40 Vgl. Frithjof Rodi, Die Ebbinghaus-Dilthey-Kontroverse. Biographischer Hintergrund und sachlicher Ertrag, in: W. Traxel (Hrsg.), Ebbinghaus-Studien 2, Passau 1987, S. 146-154; vgl. auch Ulrich Jahnke, Promoter des Fortschritts!? Friedrich Althoff und die deutsche Universitätspsychologie, in: Bernhard vom Brocke (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff' in historischer Perspektive, Hildesheim 1991, S. 307-336. 41 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 143. 42 Ebd., S. 142. 43 Vgl. Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hrsg. v. F. Rodi/H.-U. Lessing, Frankfurt/M. 1984, S. 4 5 - 8 7 (dieser Artikel wurde zuerst in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 (1896), S. 161-205, hier: S. 61, veröffentlicht). 44 Ebd., S. 60. 45 Ebd., S. 84. 46· Diels stand der Etablierung einer beschreibenden Psychologie eher skeptisch gegenüber. Die beschreibende Psychologie müsse notwendigerweise von einer „Identität von Vorstellung und
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Insulte ihn [Dilthey] doch psychisch sehr mitgenommen haben" 47 . Wenngleich nicht auszuschließen ist, daß Dilthey unmittelbar nach der Ebbinghaus-Replik „seine Stellung erschüttert"48 sieht, revidiert er doch seine Entscheidung gegen die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf psychische Vorgänge niemals. Der Satz: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" 49 , bleibt für ihn weiterhin gültig, obwohl Dilthey seine Auffassung gegen Ebbinghaus' scharfe Kritik nie - wie ursprünglich geplant - öffentlich verteidigt. Lediglich eine kleine „Anmerkung" 50 erscheint.
d.
Carl Stumpf, Brentano und die Institutsgründung im Zeichen der „Phänomenologischen Psychologie"
Carl Stumpf ( 1848-1936), der mit Unterstützung Diltheys das freigewordene Ordinariat erhält, ist ein erklärter Anhänger der „Wechselwirkung" und Gegner des „Parallelismus". Stumpf stammt aus Unterfranken. Von Hause aus sehr musikalisch, findet er durch frühe Platon-Lektüre zur Philosophie. „Im Grunde bin ich auch zeitlebens Platoniker geblieben", schreibt er später in seiner Selbstdarstellung.51 Sein Studium beginnt er in Würzburg und begegnet dort Franz Brentano (1838-1917). Dies ist für ihn lebenslang prägend: „Alles versank vor den großen Aufgaben der philosophischen und religiösen Wiedergeburt"52. Brentano wurde nach seiner - noch auf Heidegger 53 wirkenden - Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden 1864 zum Priester geweiht. In Würzburg habilitierte er sich 1867 mit einer Arbeit über Die Psychologie des Aristoteles und lehrte seitdem dort als Privatdozent, bald auch als Extrasprachlichem Ausdruck" ausgehen, wo doch „die eigentliche Bedeutung der Worte auf diesem Gebiete erst durch eine vielfach trügerische Etymologie erschlossen" werde, weshalb „diese Methode genau so hypothetisch wie alle andern" sei (Brief Diels an Usener vom 15.3.1896, in: Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller: Briefwechsel, hrsg. v. Dietrich Ehlers, 2 Bde., Berlin 1992, Bd. 1, S. 518). Und auch Zeller räumte ein, daß Ebbinghaus in sachlicher Hinsicht „nicht selten ganz oder theilweise recht" habe (Brief Zeller an Diels vom 12/3.11.1895, in: Briefwechsel, Bd. 2, S. 113). 47 48 49 50 51
Brief Diels an Zeller vom 12.4.1896, in: Briefwechsel, Bd. 2, S. 132f. Ebd., S. 133. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 144. In: Dilthey, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 237-240. Stumpf, Selbstdarstellung, in: Raymund Schmidt (Hrsg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1924, S. 204-261, hier: 207. 52 Ebd., S. 208; vgl. Dieter Münch, Psychologie und Metaphysik. Historisch-systematische Untersuchungen zum Frühwerk Franz Brentanos, Frankfurt/M. 1996. 53 Martin Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 81.
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Ordinarius an der Universität. Brentano rät Stumpf zu einer Promotion bei Hermann Lotze (1817-1881). Schon 1869 promoviert Stumpf daraufhin bei Lotze in Göttingen Über das Verhältnis des Platonischen Gottes zur Idee des Guten. Er kehrt dann aber zu Brentano nach Würzburg zurück und tritt dort ins Priesterseminar ein. Inzwischen ist Brentano aber über das gerade erlassene Infallibilitätsdogma in eine religiöse Krise geraten, die auch Stumpf ergreift. Brentano legt sein Priesteramt nieder, und Stumpf tritt aus dem Priesterseminar aus: „Das ganze Gebäude der katholisch-christlichen Glaubenslehre und Weltanschauung zerfiel mir vor den Augen. Unter furchtbaren Seelenschmerzen mußte ich das gewählte Lebensideal wieder aufgeben." 54 Stumpf betrachtet sich fortan als „abgefallenen Katholiken" und tritt später auch aus der Kirche aus. Der Bruch mit dem Katholizismus ist - wie später bei Riehl - vielleicht nicht unwichtig für seine Berufung ins protestantisch-preussische Berlin. Lotze bietet Stumpf daraufhin in diesen stürmischen Monaten eine Habilitationsmöglichkeit, und schon 1870 habilitiert sich der gerade erst 22jährige in Göttingen mit einer - unveröffentlichten - Schrift über die „mathematischen Axiome". Er nimmt sogleich seine Vorlesungstätigkeit auf und publiziert dann 1873 eine umfassende Monographie Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Noch im selben Jahr erhält er das Würzburger Extraordinariat Brentanos, der nach Wien wechselt. In den nächsten Jahren führt ihn eine steile Karriere über Würzburg (1873), Prag (1879), Halle (1884), München (1889) - mit Unterstützung Diltheys55 - nach Berlin (1894). Nach seiner Promotion kehrt Stumpf nie mehr zu scholastischen Studien zurück, obwohl er über ein gediegenes altphilologisches Handwerkszeug verfügt und sich selbstverständlich immer wieder auf die antike Philosophie rückbezieht. In den 80er Jahren erarbeitet er ein großes, zweibändiges Werk über Tonpsychologie.56 Von seinem psychologischen Ansatz her lehnt er den erkenntnistheoretischen Apriorismus ab, wie schon seine Münchner Akademie-Abhandlung Psychologie und Erkenntnistheorie deutlich macht. Die tonpsychologischen Experimente führen ihn auch zur „systematischen Musikwissenschaft" und zur Musikethnologie, in der er - bald zusammen mit seinem Mitarbeiter Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935) - Bahnbrechendes leistet. Er arbeitet auch mit anderen bedeutenden Berliner Musikwissenschaftlern zusammen, wie Georg Schiinemann (1884-1945) und Kurt Sachs (1881 bis 1959), die sich beide 1919 in Berlin habilitieren, dort bald Extraordinarien für Musikgeschichte und 1933 aus der Lehre vertrieben werden. Stumpf musiziert und komponiert seit seiner Jugend und nimmt regen Anteil am Berliner Musikleben.57 Seine 54 Stumpf, Selbstdarstellung, S. 210. 55 Daten zum biographischen und philosophischen Werdegang in: Erich Becher, Deutsche Philosophen, München/Leipzig 1929, S. 207-239. 56 Stumpf, Tonpsychologie, 2 Bde., Leipzig 1883/1890. 57 Dazu vgl. Stumpf, Die Berliner Aufführungen klassischer Musikwerke für den Arbeiterstand, in: Preußische Jahrbücher 100 (1900), S. 246-265.
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tonpsychologischen Experimente stehen in der Nachfolge von Helmholtz, dem Stumpf einen Nachruf widmet. 58 Schon 1895 wird er Mitglied der Berliner Akademie. Mit Stumpfs Berufung will Dilthey eine „gänzliche naturwissenschaftliche Radicalisierung der Philosophie" 59 in Berlin unterbinden. Schon die Berufung nach Halle geht auch auf die Befürwortung Diltheys zurück, der dem Unterrichtsreferenten Althoff folgende Einschätzung gibt: „Als Katholik geboren, ist er doch in diesen religiösen Überzeugungen nicht confessionell gefärbt. Seine Kinder hat er evangelisch taufen und erziehen lassen. So möchte gerade seine Berufung im Einklang mit einer weitherzigen und doch zugleich von religiösem Ernst getragenen Handhabung der Statuten von Halle-Wittenberg sein. Sie würde auch den katholischen Kreisen ein Beweis in dieser Richtung sein. Wissenschaftlich aber gewönne Halle an ihm einen der ersten Vertreter der von der Naturwissenschaft ausgehenden philosophischen Arbeit."60
Am 18. Dezember 1893 teilt der Kultusminister Bosse 61 der Fakultät mit, daß „Seine Majestät der Kaiser und König [...] mittelst Allerhöchster Bestallung vom 4. Dezember d. Js. den bisherigen ordentlichen Professor an der Universität München Dr. Carl Stumpf zum ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der hiesigen Friedrich Wilhelms Universität zu ernennen geruht" 62 habe. Ostern 1894 kommt Stumpf nach Berlin. Von Althoff wird ihm der Aufbau eines „Psychologischen Instituts" angetragen. Zur Verfügung stehen dafür drei dunkle Hinterhauszimmer in der Dorotheenstraße 5 und ein Instrument (Chronoskop), das allerdings geliehen ist. 63 Zum Glück ist der Lehrauftrag „nicht speziell auf Psychologie sondern auf Philosophie überhaupt" 64 bezogen. Noch bevor Stumpf den Ruf annimmt, teilt er Althoff vertraulich mit, daß es ihm fernliege, in Berlin einen „Großbetrieb experimentellpsychologischer Forschung" 65 zu errichten. Und wenige Monate nach Amtsantritt äußert er dem Unterrichtsreferenten gegenüber sein Mißfallen, daß das psychologische Seminar im Personalverzeichnis als „Seminar für experimentelle Psychologie" aufgeführt ist: „Ich hatte in den Verhandlungen die schlichtere und zugleich allgemeinere Bezeichnung .psycholog. Seminar' mit Absicht vorgeschlagen, auch gegenüber dem Ausdruck ,Institut', um nicht den An58 Stumpf, Hermann von Helmholtz und die neuere Psychologie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 8 (1895), S. 303-314. 59 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877-1897, S. 165. 60 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Β 29, Bd. 2, Bl. 117. 61 Robert Bosse (1832-1901) bekleidete das Ministeramt von 1892 bis 1899. 62 UAHU, Phil. Fak. 1462, Bl. 129. 63 Diese Auskunft hatte Stumpf erhalten, nachdem er sich Mitte November 1893 bei Ebbinghaus brieflich erkundigte, was in Berlin „bereits vorhanden" sei. (Vgl. I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. AI, Nr. 71, Bl. 147). 64 UAHU, Phil. Fak. 1464, Bl. 106. 65 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 6, Bl. 320.
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schein zu erwecken, als sei es nur auf Experimentieren abgesehen, während ich auch theoretische Übungen zur Psychologie damit zu verbinden denke; weil ich ja auch nicht .experimentelle Psychologie' sondern Psychologie schlechtweg als Vorlesung ankündige. Ich fürchte, dass die engere Bezeichnung manche sonst talentvollen Kräfte, denen es aber nicht so ausschliesslich um Experimentieren zu thun ist, abschrecken könnte, sich zu beteiligen, und dafür eine gewisse Sorte von Amerikanern anlockte, deren ganzes Streben dahin geht, durch eine möglichst mechanische Handlangerarbeit in möglichst kurzer Zeit Dr. phil. zu werden." 6 6
Nun ist Stumpf der experimentellen Forschung keineswegs abgeneigt. Noch am Ende seiner Berliner Lehrtätigkeit versichert er, daß die naturwissenschaftliche Methode ihm stets „ein Leitstern"67 geblieben sei. Stumpf legt jedoch den allergrößten Wert darauf, daß es bei der experimentellen Arbeit „nicht an tiefgehendem Interesse für allgemeinphilosophische Fragen" 68 fehlen dürfe. Immer wieder betont er, daß „die psychologischen Studien sich von den allgemeinen-philosophischen nicht abtrennen lassen" und den Studenten die „innige Verflechtung psychologischer mit allgemeinphilosophischen Problemen" 69 zum Bewußtsein zu bringen sei. In einem Überblick über die Richtungen und Gegensätze in der heutigen Psychologie70 schreibt er, daß die naturwissenschaftlich begründete, objektiv-experimentelle Psychologie die Methode der Selbstbeobachtung nicht ersetze, sondern ergänze. In seiner Rede zum Antritt des Rektorates 1907 über Die Wiedergeburt der Philosophie71 unterscheidet er zwei Ausgangspunkte und „Wege" der Philosophie: den Weg der „Erfahrungsphilosophie", die „aus den Einzelwissenschaften heraus" wächst, sowie den Weg des Apriorismus, der zur „Katastrophe" des Zusammenbruchs des Idealismus und zum „Tiefstand" der Philosophie um 1848 führte. Erfahrungsphilosophie ist nach Stumpf im Ausgang von den Natur- wie von den Geisteswissenschaften möglich. Wichtig sei nur, „daß der Philosoph irgendein Handwerk gelernt und geübt" habe. Allerdings hält Stumpf speziell „eine umfassende naturwissenschaftliche Bildung" 72 für unentbehrlich. Wenn er in
66 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. B, Nr. 182, Bd. 4, Bl. 43. 67 Stumpf, Selbstdarstellung, S. 208. Während seiner Promotionszeit bei Lotze in Göttingen (1867/68) hatte Stumpf sich „mit der größten Intensität auf Philosophie und Naturwissenschaften gestürzt" (Erinnerungen, in: Oskar Kraus, Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München 1919, S. 101) und Vorlesungen bei dem namhaften Physiker Wilhelm Weber (1804-1891) gehört. Weber gilt als Inaugurator der experimentell ausgerichteten Physik in Göttingen, weshalb der Stammvater der Psychophysik, Fechner, in Weber den Musterfall naturwissenschaftlicher Forschung repräsentiert sieht (vgl. Michael Heidelberger, Die innere Seite der Natur, S. 95). 68 UAHU, Phil. Fak. 1230, Bl. 201. 69 So Stumpf in seiner Überblicksdarstellung: Das psychologische Institut, in: Lenz, Geschichte der Universität zu Berlin, Bd. 3, S. 202-207, hier: 205f. 70 In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft und Technik, v. 19.10.1907, S. 904-914. 71 Die Rektoratsrede ist abgedruckt in: Stumpf, Philosophische Reden und Vorträge, Leipzig 1910, S. 161-196. 72 Ebd., S. 179.
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seinem Akademievortrag über die Einteilung der Wissenschaften darauf verweist, daß die „Gegenstände der Naturwissenschaften aus den Erscheinungen" erschlossen würden, während die „psychischen Funktionen [...] das Material für die Gegenstände der Geistes Wissenschaften"73 lieferten, konsolidiert er den Anspruch der philosophischen Psychologie auf ein eigenes Gegenstands- und Aufgabenterrain. Die Entwicklung des Psychologischen Instituts läßt sich anhand der Jahresberichte Stumpfs in der - seit dem Rechnungsjahr 1887/88 mit Lücken bis 1939 geführten Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gut verfolgen. Lehrgegenstände und Teilnehmerzahlen sind dort genannt. Im ersten Bericht heißt es: „Nachdem Prof. Ebbinghaus mehrere Jahre hindurch psychophysische Uebungen geleitet hatte und darin durch gelegentliche Bewilligung von Geldmitteln von der K. Regierung unterstützt worden war, wurde bei der Berufung des Unterzeichneten die Einrichtung eines Seminars zur Ergänzung der psychologischen Vorlesungen durch theoretische und experimentelle Uebungen in Aussicht genommen und die erforderlichen Räumlichkeiten und Geldmittel zur Verfügung gestellt. Im Sommer 1894 wurde Herr Privatdozent Dr. F. Schumann aus Göttingen zum Assistenten ernannt."74
Stumpf konzentriert sich in den nächsten Jahren mehr auf die theoretischen, sein Assistent Friedrich Schumann (1863-1940) mehr auf die experimentellen Übungen. In den nächsten Jahren verbessert sich die Raumsituation. 1900 zieht man in zehn Zimmer der Dorotheenstrasse 95/96 um. Stumpf legt eine Bibliothek sowie eine Apparatesammlung an und begründet das Phonogrammarchiv, dessen Leitung bald Hornbostel übernimmt. Ihm widmet Stumpf 1911 seine Monographie über Die Anfänge der Musik. Bald begründet er auch einen Berliner „Verein für Kinderpsychologie", der im Institut tagt. Immer noch ist er mit der Ausstattung des Seminars nicht zufrieden, das nach Ministerialverfügung vom 20.12.1900 nun doch offiziell „Psychologisches Institut" heißt. Stumpf wünscht einen zweiten, medizinisch gebildeten Assistenten.75 Einige Jahre lehrt deshalb der Mediziner und Privatdozent für Psychophysiologie Karl Ludolf Schaej'er (1866-1931) 76 im psychologischen Seminar. Auch wenn Stumpf dem Beispiel Wundts nicht folgt und eher eine Forschung im kleinen Stil bevorzugt, entsteht unter seiner Führung das zweitgrößte Psychologische Institut im Wilhelminischen Reich.77 Sein naturwissenschaftliches Interesse trifft nicht immer die Erwartun-
73 Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, in: Abhandlungen der königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Nr. 5, 1906, Berlin 1907, S. 20. 74 Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1894/95, S. 50; einen guten Eindruck vermitteln auch Stumpfs zusammenfassende Darstellung „Das psychologische Institut" sowie seine „Selbstdarstellung", S. 218 ff. 75 Chronik für das Rechnungsjahr 1900, S. 56. 76 Nachruf in der Chronik für das Rechnungsjahr 1930/31, S. lOf. 77 Vgl. Mitchell G. Ash, Ein Institut und seine Zeitschrift. Zur Geschichte des Berliner Psychologischen Instituts und der Zeitschrift „Psychologische Forschung" vor und nach 1933, in: CarlFriedrich Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin 1985, S. 115.
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gen der Studenten. Als sich der junge Ludwig Marcuse (1894-1971) im Frühjahr 1913 an der Friedrich-Wilhelms-Universität einschreibt, begleiten ihn große Erwartungen und unklare Vorstellungen. Unter Philosophie versteht er „die Summe der seltsamen Fragen", auf die man im Studium Antwort finden kann. Seine Suche beginnt bei der „Psychologie": „Ich betrat seinen Hörsaal und war ebenso schnell wieder draußen; denn es hing an der Tafel das überlebensgroße Abbild eines Ohr-Labyrinths, ganz offenbar war ich in ein medizinisches Kolleg geraten. Schließlich entdeckte ich, daß die Psychologie des Professor Carl Stumpf gar nicht war, was ich darunter verstand; und daß die Logik der anderen Welt-Autorität, des Professor Benno Erdmann, eine Summe von mathematischen Formeln, gar nicht war, was mir Logik zu sein schien. Und dann war da noch der hausbackene, zuverlässige Kantianer Alois Riehl. Wir sangen: ,Die Philosophie gilt hier nicht viel. Man rottet sie aus mit Stumpf und Riehl.'" 7 8 .
Das ist ein sehr leichtsinniges und irriges Urteil. Denn seiner Herkunft und seinem Selbstverständnis nach ist Stumpf eindeutig ein Philosoph, der die „Wiedergeburt der Philosophie" an die Aufgabe knüpft, eine „Weltanschauung der Zukunft" 79 oder eine „Metaphysik"80 auszuarbeiten. Nach seiner Emeritierung noch liest er „öfters unter dem Titel ,Weltanschauungsfragen' eine Art System der Philosophie" 81 . In seiner Akademie-Abhandlung Zur Einteilung der Wissenschaften von 1907 äußert er sich ausführlich über das Verhältnis der Philosophie zu den diversen Klassikifikationen der Wissenschaften und definiert die Philosophie als „Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen des Psychischen und denen des Wirklichen überhaupt."82 Zwar würdigt noch der alte Stumpf auch den Beitrag seines Lehrers Lotze; 83 in seiner autobiographischen Selbstdarstellung schreibt er aber, daß seine „erkenntnistheoretischen Grundlinien immer die von Brentano gezogenen geblieben sind" 84 : „Hier gibt es keine Wahl: entweder die Philosophie muß auf den Namen einer Wissenschaft verzichten, oder sie gewinnt und belegt ihre Begriffe durch gewissenhafte Zergliederung des Einzelnen. Hier gibt es auch kein Zurück, weder zu Hegel noch zu Kant, sondern muß durchaus wieder von unten auf gebaut werden. Diesen Weg hat Brentano beschritten, und ich kann nicht umhin, ihm hierin wie ehemals aus voller Überzeugung beizustimmen." 8 5
78 Ludwig Marcuse, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Zürich 1975, S. 24. 79 Stumpf, Die Wiedergeburt der Philosophie, in: Philosophische Reden und Vorträge, S. 161-196, hier: 191. 80 Stumpf, Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Philosophie, ebd., S. 94-124, hier: 105. 81 Stumpf, Selbstdarstellung, S. 229, vgl. 254ff. 82 Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, S. 91. 83 Dazu vgl. Stumpf, Zum Gedächtnis Lotzes, in: Kant-Studien 22 (1918), S. 1-26. 84 Stumpf, Selbstdarstellung, S. 208f, vgl. 231; dazu vgl. Kurt Lewin, Carl Stumpf, in: Kurt-LewinWerkausgabe, hrsg. v. Carl-Friedrich Graumann (Hrsg.), Bd. 1: Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1981, S. 339-346. 85 Erinnerungen, in: Kraus, Franz Brentano, S. 148f.
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Was kann Stumpf damit meinen? Klärt der Bezug auf Brentano die Reserve gegenüber der Experimentalpsychologie? 1874 publiziert Brentano seine Psychologie vom empirischen Standpunkt, in der er die „Grenzfragen zwischen Natur- und psychischer Wissenschaft" hinsichtlich ihrer Unterschiede und Wechselbeziehungen erörtert. Brentano will damit eine „reine", nicht-physiologische Psychologie untermauern.86 Unter dem Begriff des psychischen Phänomens subsumiert er alle psychischen Tätigkeiten (Wahrnehmungs- und Denkakte, Gemütsbewegungen etc.). Weil deren Merkmal die Intentionalität oder Objektgerichtetheit ist, wird die Klasse der physischen Phänomene ausgeschlossen.87 Daß es Wechselbeziehungen zwischen den psychischen und physischen Vorgängen und „reziproke Dienstleistungen"88 zwischen genetisch-kausal verfahrender naturwissenschaftlicher und deskriptiver Psychologie gibt, wird in diesem Einteilungsprinzip mitgedacht, durch die epistemische Parteinahme für die deskriptive Psychologie jedoch ein gutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit beraubt: „Sie geht auf nichts anderes aus als uns einen allgemeinen Begriff von dem gesamten Bereich menschlichen Bewußtseins zu geben, indem sie die sämtlichen Grundbestandteile angibt, aus welchen alles, was irgendwann von einem Menschen innerlich wahrgenommen wird, sich zusammensetzt, und die Verbindungsweisen, welche zwischen diesen Teilen möglich sind, aufzählt. Die Psychognosie [deskriptive Psychologie] wird darum, auch zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet, in keinem Lehrsatze einen physisch-chemischen Prozeß irgendwie erwähnen."89
In dieser Auflistung der phänomenologischen Arbeitsschritte steckt das ganze psychologische Programm der Geisteswissenschaft. Stumpf präsentiert es im Anschluß an Brentano und Lotze als „Struktur- oder Funktionspsychologie" und trägt damit dem Umstand Rechnung, daß die Leistung dieser Psychologie in der Beschreibung struktureller Regularitäten zwischen den Bewußtseinsfunktionen besteht. In seinem Akademievortrag Zur Einteilung der Wissenschaften verweist er darauf, daß Diltheys Strukturpsychologie die psychognostische Analyse von Bewußtseinsprozessen fortsetze.90 Nur daß Diltheys Interesse - so vervollständigt Stumpf in seiner Selbstdarstellung später - „mehr auf der Seite eines feinsinnig nachfühlenden Verständnisses psychischer Zusammenhänge im Großen" 91 lag. Als Dilthey die deskriptive Psychologie vor die Aufgabe stellt, „das Strukturgesetz" zu finden, „durch welches die Intelligenz, das Trieb- und Gefühlsleben und 86 Franz Brentano, Deskriptive Psychologie, aus d. Nachlaß hrsg. u. eingl. v. R. M. Chrisholm u. W. Baumgartner, Hamburg 1982, S. 1. 87 Vgl. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Hamburg 1973, S. 125. 88 Brentano, Deskriptive Psychologie, S. 7. 89 Ebd., S. 2. 90 Vgl. Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, S. 63. 91 Stumpf, Selbstdarstellung, S. 250. Die konsequenteste Anwendung hat der Einfühlungsbegriff in der Ästhetik von Theodor Lipps erfahren.
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die Willenshandlungen zu dem gegliederten Ganzen des Seelenlebens verknüpft sind" 92 , scheint er seine geisteswissenschaftliche Intention in ähnliche Richtung wie die von Brentano und Stumpf zu entwickeln. Die konkrete Einlösung des phänomenologischen Programms divergiert aber. Während Brentano sich auf die Beobachtung psychischer Elementarstrukturen konzentriert und Dilthey sich - historisch weit ausholend - dem Studium der Gleichförmigkeiten und Besonderheiten der individuellen und allgemeinen Geistesgeschichte widmet, arbeitet Stumpf experimental-psychologisch zu Problemen der Wahrnehmung, insbesondere zur Raum- und Tonwahrnehmung und zur Psychologie des Gefühls. 93 Brentano hätte Diltheys Dichotomisierung von verstehender Deskription und kausal-analytischer Erklärung insofern zugestimmt, als auch er Deskription und Genese disziplinär voneinander trennte. Allerdings ging seine anti-monistische Ablehnung einer Parallelität von physischen und psychischen Phänomenen nicht so weit, den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung lediglich „heuristischen Wert" 94 beizumessen; denn in praxi betrachtete Brentano die „enge Fühlung mit den Naturwissenschaften als die Bedingung erfolgreichen Philosophierens" 95 . Noch schärfer tritt Stumpf dann Diltheys Disjunktion von Erklären und Beschreiben entgegen. Er ist der Auffassung, „daß die begriffliche Trennung von Beschreibung und Erklärung in der Praxis nicht so rein durchgeführt werden kann. Keine Strukturwissenschaft kann ohne alle kausalen Untersuchungen bestehen und umgekehrt. Besonders wenn man die Aufgabe der Strukturpsychologie auf die Beschreibung der aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien des Seelenlebens erstreckt [...], so rückt die Frage nach den treibenden Kräften in unmittelbare Nähe, und solche Kräfte können dann natürlich auch nicht bloß innerhalb der seelischen Funktionen selbst gesucht werden, sondern verlangen die Mitberücksichtigung der organischen Prozesse." 96 Damit rückt Stumpf seinerseits an Ebbinghaus heran. So heißt es in einem internen Gutachten über Stumpfs Tätigkeit in München auch, er gehöre derjenigen „Seite der Lotzeschen Schule an, welche die sogenannt praktisch psychologischen Forschungen verfolgt, wie Müller in 92 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 176. 93 Vgl. Stumpf, Tonpsychologie, Bd. 1, 1883; Bd. 2, 1890; Über den Begriff der Gemütsbewegung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21 (1899); Über Gefühlsempfindungen, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 40 (1907); Spätwerke: Gefühl und Gefühlsempfindung, 1928: Erkenntnislehre, 2 Bde., 1939/40; zur Emotionstheorie Stumpfs vgl. Rainer Reisenzein, Stumpfs kognitiv-evaluative Theorie der Emotionen, in: Lothar Sprung u.a. (Hrsg.), Zur Geschichte der Psychologie in Berlin, Frankfurt/M. 1992, S. 97-136. 94 Dilthey, ten, Bd. 95 Stumpf, 96 Stumpf,
Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schrif5, S. 193. Zum Gedächtnis Lotzes, in: Kant-Studien 22 (1918), S. 1-26, hier S. 2. Zur Einteilung der Wissenschaften, S. 63 f.
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Teil III: Blüte
Göttingen, Ebbinghaus in Berlin, u . z . Z . B . Erdmann hier [Halle]" 97 . In ihrer Stellungnahme zum psychophysischen Parallelismus gehen Stumpf und Ebbinghaus indes getrennte Wege. Stumpfs Ablehnung der Parallelitätslehre richtet sich gegen die monistische Vereinnahmung des Psychischen durch das Physische. Stumpf hält dagegen am „Willen als Ursache unserer Handlungen" 9 8 fest. So hat Dilthey bei seinen Befürchtungen einer „naturwissenschaftlichen Radikalisierung" wohl nicht die Anwendung der experimentellen Methode schlechthin im Auge. Wäre das der Fall gewesen, hätte er Stumpf noch hinter Ebbinghaus piaziert. Stumpf nimmt die naturwissenschaftliche Einzelforschung so ernst, daß noch Nicolai Hartmann (1882-1950) in seiner Gedächtnisrede im Jahre 1937 hervorhebt, daß Stumpfs Experimente „in mancher Hinsicht denen der Physiker an Exaktheit überlegen" 9 9 waren. Als Radikalisierung hat Dilthey vielmehr die philosophische Interpretation des Verhältnisses von Physischem und Physischem in materialistische Richtung unter Verdacht. Dabei lehnt er die monistische Annahme einer leib-seelischen Parallelität kompromißlos ab. Mit dem Abrücken von der naturwissenschaftlichen Methode entfernt sich Dilthey von seinem eigenen, ursprünglich konzilianteren Standpunkt. Seine Einleitung in die Geisteswissenschaften, wenige Monate nach der Berufung nach Berlin abgeschlossen, kennt weder die strikte Trennung von Verstehen und Erklären, noch die gnoseologische Deklassierung der erklärenden Psychologie hinsichtlich der Erkenntnis psychischer Strukturzusammenhänge. 1883 heißt es noch, „daß die Erkenntnis der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geistigen Tatsachen bilden" 1 0 0 . Von dieser Auffassung entfernt sich Dilthey zunehmend. Entgegen seinen fundamental-philosophischen Grundlegungsabsichten bekräftigt er damit den methodischen Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften und beschränkt seine Philosophie praktisch auf ein Verhältnis zu den Geisteswissenschaften. Schon durch seine berufungspolitische Macht nimmt er dabei auch einen prägenden Einfluß auf die Formierung einer institutionell selbständigen Berliner Psychologie. Dies wirkt noch in nächster Generation nach. Stumpfs Nachfolger Wolfgang Köhler (1887-1967) etabliert die Berliner Schule der Gestaltpsychologie, die mit dem grundlegenden Anspruch des Gestaltbegriffs eine philosophische Orientierung festhält und sich zu 97 I HA Rep. 92 Nachlaß Althoff AI, Nr. 71, Bl. 45. Althoff hatte sich dieses Gutachten 1893 im Vorfeld der Besetzung des neuen Berliner Ordinariats für Psychologie eingeholt. 98 Stumpf, Leib und Seele, in: Philosophische Reden und Vorträge, S. 65-93, hier: S. 89; dazu vgl. noch ders., Spinozastudien, Berlin 1919. 99 In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Berlin 1937, S. CXVIII. 100 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 18f.
10.
Berliner Psychologie im Verhältnis zu Dilthey
177
Diltheys philosophischem Ansatz adaptiv verhält. Mehr noch als in der Philosophiegeschichte hat Stumpf heute in der Psychologiegeschichte seinen Platz. Sein bekanntester Promovent bleibt aber nicht in der Wissenschaft.
e.
Ein Promovent: Robert Musil
In Klagenfurt geboren, studiert Robert Musil (1880-1942) von 1897 bis 1901 an der Technischen Hochschule in Brünn. 1901 legt er die zweite Staatsprüfung im Maschinenbau ab, absolviert dann seinen Militärdienst und arbeitet zunächst an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1903 immatrikuliert er sich in Berlin, muß jedoch 1904 noch die Maturitätsprüfung nachholen. 1906 erscheinen Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, zunächst ohne größeren Erfolg. Musil ist damals noch nicht entschieden, Schriftsteller zu werden. Sein Promotionsantrag enthält keinen Hinweis auf die eigene literarische Tätigkeit. Am 27. Juni 1908 meldet er sich zur Promotion bei Stumpf und Riehl an. „Euer Spectabilität erlaube ich mir unter Überreichung meiner Dissertation Studien zur erkenntnistheoretischen Grundlage der Physik mit Bezug auf die Anschauungen E.Machs und meinen persönlichen Papieren die Bitte auszusprechen, meine Meldung zum Doktorexamen gefälligst anzunehmen. Ich wünsche in folgenden Fächern geprüft zu werden: Hauptfach: Philosophie Nebenfächer: Mathematik, Physik Robert Musil"
In seinem Gutachten vom 7. Februar 1908 bemerkt Stumpf, daß er eine erste Fassung der Dissertation zur Überarbeitung zurückgab. Die zweite Fassung findet jedoch seine volle Zustimmung. „Sie entspricht jetzt als Ganzes den Anforderungen einer historisch-kritischen Untersuchung. Der Verf. gibt eine scharfsinnige und überall quellenmässig belegte Analyse der Erkenntnislehre Mach's [...] Die Kritik ist dabei überall eine immanente. [...] An verschiedenen Punkten wird er immer noch in der Sache klären und schärfen, in der Form mildern müssen". Stumpf bewertet die Arbeit mit dem Prädikat laudabile und plädiert für die Zulassung zum mündlichen Verfahren.101 Alois Riehl (1844-1924) notiert zwei Tage später am 9. Februar 1908: „Zu dem Urteile des Herrn Referenten erkläre ich meine volle Zustimmung". Am 27. Februar findet die mündliche Prüfung statt. Stumpf prüft über Piaton, Condillac und Herbart sowie ein Problem der Wahrnehmungspsychologie. „Der Cand. zeigte sich gut, in der platonischen Frage sehr gut unterrichtet." Riehl prüft über Descartes, Leibniz und Kant sowie Ebbinghaus und G. E. Müller, bewertet seinen Prüfungsteil aber nur „befriedigend". Im Nebenfach gibt der Physiker Heinrich Ru101 UAHU, Phil. Fak. 440, Bl. 181/82.
178
Teil III: Blüte
bens (1865-1922) ein „sehr gut", der Mathematiker Hermann Amadeus Schwarz (1843-1921) ein „befriedigend", so daß insgesamt ein „cum laude" herauskommt. 102 Am 11. März 1908 bestätigen Stumpf und Riehl die Revisionsbögen und geben somit ihre Einwilligung zum Druck der recht umfangreichen Dissertation. Den Promotionsunterlagen im Universitätsarchiv liegt ein abgelaufener Reisepaß bei. In einem späteren Lebenslauf schreibt Musil 103 , er habe damals eine Habilitationsmöglichkeit (vermutlich von Stumpf) angeboten bekommen. Bekanntlich wählte er jedoch einen anderen Versuch, „ein bedeutender Mann zu werden". Ulrich, sein Mann ohne Eigenschaften, wählt zunächst den Weg des Offiziers, dann des Technikers, später des Mathematikers. Statt der „Utopie" der Exaktheit und des Wirklichkeitssinns huldigt er dem „Möglichkeitssinn" ekstatischen Erlebens. Musil verbindet ihn mit der „Utopie des Essayismus". 104 Er folgt dieser Utopie in seinem unabgeschlossenen Projekt eines intellektuellen Romans und sagt mit dem Ideal des „mathematischen Menschen" auch der Universitätsphilosophie ab. Daß Musil seinen Piaton dennoch aus erster Hand hat, erkennt schon sein Doktorvater.
102 UAHU, Phil. Fak. 440, Bl. 183. 103 Musil, Curriculum vitae, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. 2, S.949. 104 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Kap. 9, 10, 61, 62 u.a.; zum Einfluß Machs auf Musils Ästhetik vgl. Manfred Frank, Auf der Suche nach einem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil, in: Karl-Heinz Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne, Frankfurt/M. 1983, S. 318-362; vgl. auch Reinhard Mehring, Von der Identität des Mann ohne Eigenschaften. Identität, Ethik und Moral bei Robert Musil, in: Weimarer Beiträge 41 (1995), S. 547-561.
11.
Neukantianismus in Berlin: Berufene und Vergessene
Aus dem Blickwinkel einer „philosophierenden" Philosophiegeschichtsschreibung liegt es nahe, universitäre Karrieren von heutigen Bedeutungszuweisungen her verstehen zu wollen. Doch so fragwürdig solche Fortschrittsgeschichten ex post auch an sich sind, lassen sich universitäre Karrieren überhaupt nur begrenzt als Gratifikationen von Forschungsleistungen auffassen. Die Universitätsgeschichte hat ihre eigenen Kriterien. So beurteilen die Zeitgenossen einen akademischen Lehrer nicht nur nach innovativen Forschungsleistungen. Zunächst erwartet man nur ein kollegiales Auskommen und ordentliche Vertretung eines Faches in Forschung und Lehre. Nicht alle ehemaligen Ordinarien der Berliner Universität sind deshalb heute Größen der Philosophiegeschichte. Eduard Spranger, der es wissen mußte, verteidigt die Ordinarienuniversität und die Notwendigkeit zünftiger „Niveaukontrolle"1: „Keine Genossenschaft kann auf das Prinzip der Genialität aufgebaut werden" 2 . Schon in wilhelminischer Zeit litten die Ordinarien unter dem Andrang der Geschäfte: „Am freiesten ist der Privatdozent, gebundener schon der beamtete Extraordinarius, am gebundensten aber der Ordinarius, der, besonders an den großen Universitäten, oft erleben muß, seine wissenschaftlichen Kräfte unter der Fülle der Obliegenheiten, Sitzungen und Prüfungen erstickt zu sehen".3 Dennoch halten die Berliner Ordinarien das hohe Format der damaligen Gelehrsamkeit. Sowenig Dilthey sich hinter Nietzsche verstecken muß, sowenig selbstverständlich ist es, die Größen der damaligen Zeit - wie Paulsen und Riehl, Stumpf und Erdmann, Maier, Spranger oder Hartmann - in einer Philosophiegeschichte der Meisterdenker zu ignorieren. Die Gründerzeit des jungen Reiches verbessert die akademischen Aussichten.4 Es kommt zu einem Ausbau des Universitätssystems und zu Neugründungen wie Straßburg. Das junge Reich bestärkt seine politische Selbständigkeit im Kulturkampf gegen 1 Eduard Spranger, Das Wesen der deutschen Universität (1930), in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 82-158, hier 125. 2 Ebd., S. 126. 3 Ebd., S. 130. 4 Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen der neukantianischen „Bewegung" ausführlich Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1986, S. 302ff.
180
Teil III: Blüte
den politischen Katholizismus und Sozialismus. Insbesondere der Neukantianismus ist als eine Universitätsphilosophie gefragt, die kritische Parteinahme für den Staat verspricht. Er tritt gegen die „Drachensaat" des Naturalismus, Pessimismus und Klerikalismus an und bietet eine philosophische Grundlegung der Pädagogik. In Berlin erhält er aber erst spät ein Ordinariat. Paulsen, Riehl und Benno Erdmann vertreten ihn über die Jahrhundertwende ohne idealistischen Überschwang in positivistischer Wendung zur Kantphilologie und zur entwicklungsgeschichtlichen Forschung. Zu einer Hochburg des Neukantianismus wird Berlin nie.
a.
Ein Ordinariat für die Pädagogik: Friedrich
Paulsen
1893, im Jahr der Gründung des Psychologischen Instituts, wird Friedrich Paulsen (1846-1908) Ordinarius. Sein Werk ist heute weitgehend vergessen, obwohl schon seine Einleitung in die Philosophie mehr als dreißig Auflagen findet. Paulsen macht seine ganze Karriere in Berlin. Früh von Trendelenburg beeinflußt, erlangt er seinen ersten akademischen Erfolg mit einer Preisschrift über ein von Trendelenburg gestelltes Problem der Aristotelischen Ethik. 5 Die Arbeit wird unter verändertem Titel (Symbolae ad systemata ethica historicae et criticae) von Harms promoviert. Nach bestandener Promotion (27. Mai 1871) strebt Paulsen die Habilitation an. Im Februar 1874 reicht er ein Manuskript ein, das viel Sympathie für empiristische Auffassungen erkennen läßt. Die Referenten Harms und Zeller indes stehen dem Bekenntnis zu Mill und Hume ablehnend gegenüber. 6 Daraufhin unternimmt Paulsen ein Jahr später einen zweiten Habilitationsversuch. Er reicht den Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnißtheorie ein. Auch dieses Manuskript findet bei Harms und Zeller nicht ungeteilte Zustimmung, obwohl es durch sein historiographisches Niveau eine „zweite Phase der Kantbeschäftigung" 7 einleitet: die positivistische Wendung zur entwicklungsgeschichtlichen Darstellung und strikten Philologie. Nicht mehr von Kant zu Hegel werden fortan die Linien gezogen, auch kein „Zurück zu Kant" wird gefordert, sondern Kant wird nun als ein Markstein in einer offenen Geschichte der Erkennntnistheorie behandelt. Alois Riehl, der später neben Paulsen in Berlin lehrt, führt diesen Ansatz bald konsequent durch, „Kant in die Tradition der Entwicklung eines Kritizismus zu stellen" 8 . Abermals beanstandet Harms, Paulsen sei der zweifelhaften Überzeugung, daß es „einen höheren Standpunkt als Hume einnimmt überhaupt nicht giebt" 9 . Am Ende überwiegt aber doch der positive Eindruck, den Paul5 6 7 8 9
Vgl. Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen, Jena 1909, S. 171. Ebd., S. 194ff. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 369. Ebd., S. 373. UAHU, Phil. Fak. 1209, Bl. 87.
11.
Neukantianismus in Berlin: Berufene und Vergessene
181
sens Fleiß, Sorgfalt, „Scharfsinn u. Uebung in methodischer Untersuchung" 10 hinterläßt. Im Juni 1875 wird ihm die Venia legendi erteilt. Einer der ersten Hörer" ist Ferdinand Tönnies (1855-1936). 1878 wird Paulsen außerordentlicher Professor. Seine weiteren Aussichten in Berlin sind aber keineswegs rosig. Das Verhältnis zu Harms und Zeller ist gespannt. So erhofft sich Paulsen von der Berufung Lotzes eine Verbesserung seines Standes in der Fakultät.12 Als dann aber zunächst Benno Erdmann im Gespräch ist, fühlt Paulsen sich übergangen und wird beim Minister initiativ. Daraufhin bietet sich ihm die Nachfolge Diltheys in Breslau an. Nach einer Ortsbesichtigung lehnt Paulsen jedoch ab, da Althoff auch Möglichkeiten in Berlin sieht. „We can make a place for you" 13 , meint Althoff zuversichtlich. Die Beziehung zu Althoff bewahrt ihn davor, „in die östliche Wüste" (Breslau)14 zu müssen. Dennoch ist die Absage damals „an extremely risky step", den Paulsen nur im Vertrauen auf seine Lehrerfolge wagt. Auch in den folgenden Jahren lehnt er mehrfach ab, so bei Aussichten nach München für die Nachfolge Carl Prantls (1820-1888). 15 Für eines der beiden Berliner Ordinariate kommt er für die Fakultät auf absehbare Zeit kaum in Betracht. So setzt Paulsen ganz auf seine Beziehung zu Althoff und die neue Disziplin einer philosophischen Pädagogik. Sein Briefwechsel mit Althoff geht weit über das gewöhnliche Maß hinaus.16 Die Philosophie erlebt damals den Auszug der Psychologie aus der Philosophischen Fakultät. Droht die Philosophie ihre psychologische Kompetenz zu verlieren, so beansprucht sie verstärkt die Pädagogik. Und so wird Paulsen ein Pionier einer bildungspolitisch aktiven philosophischen Pädagogik. Auf Anregung seines Doktorvaters Harms beginnt er schon während seiner Privatdozentenzeit, pädagogische Vorlesungen zu halten. „Wie danke ich Gott, daß ich durch die Pädagogik von der Logik erlöst bin" 17 , heißt es in einem Brief an Tönnies damals. Wahrscheinlich ist der Erfolg seiner ersten (und letzten) Vorlesung über Logik und Erkenntnistheorie hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben, so daß Paulsen gerne in ein anderes, ihm bis dahin fremdes Arbeitsgebiet überwechselt. Ende der siebziger Jahre beginnt er seine Studien zur geschichtlichen Entwicklung des Unterrichtswesens. Dafür
10 UAHU, Phil. Fak. 1209, Bl. 87 f. 11 Paulsen, Aus meinem Leben, S. 204f. 12 Die Fortsetzung seiner Jugenderinnerungen erschien bisher nur auf Englisch: Friedrich Paulsen. An Autobiography, New York 1938, S. 295 ff. 13 Ebd., S. 301 ff.; dazu vgl. die Briefe vom 4.11.1882, 8.12.1882, 26.1.1883 an Tönnies, in: Ferdinand Tönnies/Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876-1908, Kiel 1961. 14 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. B, Nr. 142, Bd. 2, Bl. 10. 15 Vgl. ebd., S. 335 f. 16 Vgl. I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. B, Nr. 142, Bd. 2, Bl. 1-59. 17 Tönnies/Paulsen. Briefwechsel, S. 114.
182
Teil III: Blüte
ist er regelmäßig in der Königlichen Bibliothek zu finden, wo er sich mit archivarischem Langmut auf die Spuren schulgeschichtlicher Dokumente begibt: „Alte, längst verschollene Universitäten des Mittelalters suchte sein rückschauender Blick wieder zu beleben, die Stätten, wo die ersten protestantischen Pädagogen den Geist Luthers und Melanchthons verbreitet hatten, süddeutsche und schweizerische Jesuitenkollegien, philanthropische Anstalten und Pietistenschulen, alle diese Zeugen deutscher Kulturentwicklung wurden ihm so durch unmittelbare Anschauung vertraut und belebten das aus vielen literarischen Urkunden gewonnene Bild." 1 8
Als Ergebnis der Recherchen erscheint 1885 die Geschichte des gelehrten UnterrichtsI9. Paulsen tritt damit mitten in die bildungspolitischen Debatten der Zeit ein. Das Schlußkapitel wird als „Grabrede auf das klassische Gymnasium" mißdeutet.20 Bei seinen bildungspolitischen Interventionen steht Paulsen im regen, nicht immer spannungsfreien Gedankenaustausch mit Althoff: zu Fragen des Vorschlagsrechts der Fakultäten, des universitären Honorarsystems oder der Gleichstellung der Realanstalten mit den humanistischen Gymnasien. Althoff stellt ihm nun einen Lehrstuhl in Berlin in Aussicht.21 Er kann dies verantworten, da Paulsen 1889 auch mit einem System der Ethik hervortritt, das zugleich einen Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre bietet; 1892 folgt die Einleitung in die Philosophie. Beide Publikationen werden von den Kollegen zwar nicht besonders positiv aufgenommen, beim Publikum aber viel gelesen und gekauft. Als Philosoph, Ethiker und Praktiker ist Paulsen ausgewiesen, als 1893 ein erster förmlicher Ruf aus Leipzig ergeht.22 Gleichzeitig steht in Berlin die Nachfolge Zellers zur Diskussion. Paulsen teilt Althoff im August 1893 daraufhin mit, daß ihm das Königlich Sächsische Kultusministerium eine Professur der Philosophie und Pädagogik angeboten habe. Dann kommt er auf Berlin zu sprechen; denn er will Berlin nur ungern verlassen: „Sie hatten, verehrter Herr Geheimrath, zu Anfang des Sommersemesters die Güte, mir mitzuteilen, daß Sie die Umwandlung meines Extraordinariats in ein Ordinariat an der Berliner Universität vorhätten. Inzwischen sind, wie ich höre, von der hiesigen Fakultät Vorschläge für eine Ersatzprofessur für Herrn Geh. Rath Prof Zeller gemacht worden. Sollten diese Vorschläge zur Berufung eines andern jüngeren Gelehrten führen, so würde dadurch, wie auf der Hand liegt, meine bisherige Stel18 Johannes Speck, Friedrich Paulsen. Sein Leben und sein Werk, Langensalza 1926, S. 19. 19 Paulsen, Geschichte des Gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., Leipzig 1885; vgl. auch ders., Wesen und geschichtliche Entwicklung der Deutschen Universitäten, in: Wilhelm Lexis (Hrsg.), Die deutschen Universitäten, 2 Bde., Berlin 1893, Bd. 1, S. 3-114. 20 So Eduard Spranger in der Einleitung der postum herausgegebenen Gesammelten Pädagogischen Abhandlungen (Stuttgart 1912, S. XII). Spranger stellt dort Paulsens breites bildungspolitisches Wirken umfänglicher dar; vgl. auch Sprangers Erinnerungen an Paulsen, in: ders., Vom pädagogischen Genius, Heidelberg 1965, S. 243-246; als ein Beispiel des Widerstands gegen Paulsens bildungspolitische Pläne vgl. Diltheys Brief vom Dezember 1890 an den GrafenYorck, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877-1897, Halle 1923, S. 114f. 21 Tönnies/Paulsen. Briefwechsel, S. 176.
11.
Neukantianismus in Berlin: Berufene und Vergessene
183
lung unmöglich. Ich würde demnach den Lehrstuhl an der Leipziger Universität, der nach Berlin für die Wirksamkeit meines Lehrens der Philosophie ohne Zweifel den günstigsten Boden bietet, nicht wohl ablehnen können, wenn mir nicht in Berlin eine entsprechende Stellung gegeben würde." 2 3
Nur drei Monate nach diesem Schreiben arriviert Paulsen zum ordentlichen Professor an der Berliner Universität. Sein Extraordinariat wird in ein Ordinariat umgewandelt, so daß Berlin fortan drei Lehrstühle für Philosophie besitzt. Im November 1893 äußert sich Dilthey über die Sache wie folgt: „Die philosophische Frage ist also nun so erledigt, wie es mir von Anfang an als das Wahrscheinliche erschien. Stumpf kommt und Paulsen wird Ordinarius [...] Es stellt sich heraus daß schon im Sommer, bei Anregung der ganzen Frage, Paulsens Ernennung von dem Ministerium beschlossne Sache war, Bosse [Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten] selber es ihm persönlich zusicherte und es persönlich gewollt hatte." 24
Ostern 1894 ist Paulsen endlich Ordinarius. Von Studientagen an hat er seine ganze akademische Karriere in Berlin gemacht, obwohl er als Philosoph von manchem Kollegen nicht für voll genommen und seine philosophischen und sozialpolitischen Orientierungen verdächtigt werden. Schon seine Parteinahme für den Parallelismus 25 zeigt seine philosophische Distanz zu Dilthey und Stumpf. So berichtet er in seinen Lebenserinnerungen mehr von ausgedehnten Wanderungen und bildungspolitischen Kämpfen denn vom Fakultätsleben. Nach seiner Berufung veröffentlicht er monographisch außer kritischen Auseinandersetzungen mit dem Pessimismus, Klerikalismus und Naturalismus 26 sowie kleineren Schriften zur UniversitätsVerfassung 27 vor allem mehrere Broschüren und eine Einführung zu Kant.28 Alle seine Monographien richten sich an ein breiteres Publikum und erreichen es auch. 1905 publiziert Paulsen noch gesammelte Vorträge und Aufsätze Zur Ethik und Politik. Posthum erscheint eine ausgearbeitete Pädagogik. Paulsens philosophischer Standort ist zunächst durch seine Distanzierung von Kant als Erbe Piatons und Begründer des kritischen Idealismus und Rationalismus in Deutschland gekennzeichnet. Obwohl Paulsen Kants basale Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen akzeptiert29, ist sein Vorbehalt gegenüber Kants transzen23 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. AI, Nr. 71, Bl. 58. 24 Briefwechsel zwischen Dilthey und v. Wartenburg, S. 165 f. 25 Paulsen, Parallelismus oder Wechselwirkung?, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 122 (1904), S. 7 4 - 8 5 u. 162-171. 26 Paulsen, Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles. Drei Aufsätze zur Naturgeschichte des Pessimismus, Stuttgart 1900; Philosophia militans. Gegen Klerikalismus und Naturalismus, Berlin 1901. 27 Paulsen, Über die gegenwärtige Lage des höheren Schulwesens in Preussen, Berlin 1893; ders., Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902. 28 Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898; Kant, der Philosoph des Protestantismus, Berlin 1899; Kants Verhältnis zur Metaphysik, Berlin 1900. 29 Vgl. dazu Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, 8. Aufl., Stuttgart 1924, S. 396 ff.
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dentaler Methode nicht zu übersehen. So verteidigt er Humes Auffassung des Kausalitätsproblems als wissenschaftstheoretische Aufgabenstellung gegenüber Kants Antwort 30 und verwirft den „formalen Rationalismus" und „Piatonismus" in der Moralphilosophie zugunsten einer „teleologischen" Betrachtung der „Einheit von Form und Materie" des Wollens.31 Grundsätzlich bekennt er sich gegen die „rationalistischdogmatische Denkweise" zur „historisch-genetischen Denkweise": Der „Rationalismus und Apriorismus im strengen Kantischen Sinn gehört, trotz dem Pochen der Inhaber der Kantorthodoxie auf die transzendentale Methode' sei es gesagt, der Vergangenheit an; er gehört in die Reihe der Descartes, Spinoza, Leibniz, denen das mathematisch-demonstrative Wissenschaftsideal vorschwebte. Das 19. Jahrhundert hat sich einer .historischen', genetischen und damit zugleich relativistischen Betrachtungsweise der Dinge zuerst in der Geschichte, dann auch in der Metaphysik und zuletzt auch in den Naturwissenschaften zugewendet." 32
Später betont Paulsen unter Berufung auf Nietzsche ein Ungenügen am Historismus33 und bezieht sich positiv auf eine „idealistische Metaphysik", die beim „Selbstbewußtsein" und der „Selbstauffassung des seelischen Lebens" 34 ansetzt. Er spricht von einem unhintergehbaren „Anthropomorphismus" und einer „monistisch-pantheistischen Weltansicht"35, auf die er auch die Naturwissenschaften tendieren sieht. So sucht er auch die Ethik unter den Titel „Energismus" in unmittelbare Nähe zur Biologie zu bringen: „Es scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen, daß die Ethik nach Seiten ihrer Methode der Naturwissenschaft näher verwandt ist als der Mathematik, am nächsten steht sie den biologischen Wissenschaften." 36
Recht und Sitten seien „moralische Instinkte". Die Moralphilosophie habe die Aufgabe, „instinktive Übung zu eingesehener Zwecknotwendigkeit" 37 zu erheben. Das „Rechtsgesetz hat zwar zunächst seinen Ursprung im Willen der Menschen, aber zuletzt hat es seinen Grund in der Natur der Dinge [...]. Ein Sittengesetz drückt nicht bloß ein Sollen, sondern auch ein Sein aus". Die Moralphilosophie erstrebt „Einsicht in die teleologische Notwendigkeit dieser Sitten, dieser Lebens- und Rechtsformen".
30 31 32 33
34 35 36 37
Ebd., S. 194ff. Ebd., S. 332ff. Ebd., S. 404. Vgl. Paulsen, Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung, in: Paul Hinneberg (Hrsg.), Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, Berlin und Leipzig 1906, S. 284-310, bes. S. 305 ff. Paulsen, Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, in: Paul Hinneberg (Hrsg.), Systematische Philosophie, Berlin 1907, S. 389-422, bes. 398 ff. Vgl. ebd., S. 405ff. Paulsen, System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre. 11. und 12. Aufl., Stuttgart 1921, Bd. 1, S. 6. Ebd. S. 10, anschließende Zitate auf den folgenden Seiten der Einleitung.
11.
Neukantianismus in Berlin: Berufene und Vergessene
185
Diese seien relativ; „es kann eigentlich keine allgemein-gültige Moral in concreto geben, die verschiedenen Ausprägungen des allgemeinen Typus des Menschen erfordern jede ihre besondere Moral". Paulsen führt seine „Güterlehre" deshalb, im zweiten Band seiner Ethik, als Tugend- und Pflichten-, Staats- und Gesellschaftslehre durch. Ausführlich nimmt er dabei zur sozialen Frage Stellung. Unter Berufung auf Lorenz von Stein bejaht er die konstitutionelle Monarchie als soziales Königtum im souveränen Nationalstaat.38 Seine „sozial-teleologische Erwägung" gibt als „Formel für die Bestimmung und Begrenzung der Staatstätigkeit" an: „liberal in dem Gebiet des geistig-persönlichen Lebens, sozial in dem Gebiet des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lebens" 39 . Will man einer Charakterisierung Dessoirs folgen, war Paulsen ein „problemloser Denker". In der Vorlesung über Ethik soll er gern „die ihn zutiefst kennzeichnende Wendung" gebraucht haben: „Am besten fährt, wer ,..". 40 Böse Zungen behaupteten, Paulsen vertrete eine „Schaukelmoral"41. Dilthey schreibt Graf Yorck am 30. November 1888, er habe gerade die Ethik Paulsens zugeschickt bekommen, „hineingesehen", „ein Kreuz geschlagen" und „zur Rücksendung bestimmt". In der Geringschätzung Paulsens liegt eine Portion akademischen Dünkels gegen den Bauerssohn, der ein Kandidat Althoffs ist und die Nobilitierung der Pädagogik in der Personalunion mit der Philosophie allererst durchsetzen muß. Adickes 42 verteidigt Paulsen noch im Nekrolog gegen den Vorwurf des „Popularphilosophen". Zweifellos hat Paulsen akademisches Format. Seine Geschichte des Gelehrten Unterrichts bleibt ein Standardwerk, und auch sein Kant, seine Einleitung in die Philosophie, sein System der Ethik können sich sehen lassen. Paulsen ist imstande, die Philosophie wie die Pädagogik auf der Höhe seiner Zeit zu vertreten. Dies gelingt erst Spranger wieder, der als Schüler Diltheys wie Paulsens als Ordinarius nach Berlin zurückkehrt.
b.
Diltheys Nachfolger: Alois Riehl
Dilthey bittet am 20. Juni 1905 um die Entbindung von seinen amtlichen Verpflichtungen.43 Alois Riehl (1844-1924) wird noch im gleichen Jahr sein Nachfolger. Damals ist er schon über 60 Jahre alt und kann auf eine erfolgreiche Tätigkeit in Graz (1873), Freiburg (1882), Kiel (1895) und Halle (1898) zurückblicken. Berlin ist eben
38 39 40 41 42 43
Paulsen, System der Ethik, Bd. 2, S. 586ff. Ebd., S. 644. Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S. 176. Brief Diels an Zeller vom 12.4.1896, in: Briefwechsel Diels, Usener, Zeller, Bd. 2, S. 132. Erich Adickes, in: Kant-Studien 14 (1909), S. 1-7. Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1464, Bl. 207.
186
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„Endstationsuniversität". Sein philosophisches Hauptwerk Der philosophische zismus44 liegt lange vor. Die Fakultät schreibt damals an das Ministerium:
Kriti-
„Das ausnehmend Wirksame in Riehls Auffassung der Philosophiegeschichte liegt darin, wie er alle Beziehungen der Philosophie zu den exakten Naturwissenschaften, zum Leben, zu Religiosität, Kunst und Literatur umfaßt und nun in diesem ganzen weiten Bezirk Entwickelung, innere Notwendigkeit, Voranschreiten der menschlichen Besinnung über sich selbst und über die Welt nachweist [...] Dann aber ist Riehl ganz die Person, Ästhetik hier zu lesen, welcher jetzt unsere Studierenden das stärkste Interesse entgegenbringen." 45
Bei der Berufung Riehls macht Dilthey erneut seinen Einfluß geltend. Einen Tag nach der Fakultätssitzung schreibt er an Althoff, um mögliche Zweifel seitens des Ministerialdirektors zu zerstreuen: „Ew Excellenz werden den Vorschlag der Fakultät erhalten haben der Riehl als die geeignetste Persönlichkeit enthielt. In Bezug auf das neuliche Gespräch muß ich nur, um ein Mißverständnis zu vermeiden, bemerken, daß Herr Stumpf die Leitung des experimentellen Instituts erhalten will. Nach sorgfältiger Prüfung der Sache und neuer Durchsuchung aller Schriften der drei in Frage kommenden Persönlichkeiten haben wir drei Vertreter der Philosophie die Überzeugung gewonnen daß Riehl hier nur der rechte Mann ist. Sollten gegen diese Ansicht der Fakultät Bedenken entstehen, so möchte ich nur Ew. Excellenz bitten, nicht ohne mich gehört zu haben sich in einer anderen Richtung entscheiden zu wollen." 4 6
Die Fakultätsmitglieder verständigen sich darauf, drei Kandidaten, nämlich Riehl, Benno Erdmann (1851-1921) und Wilhelm Windelband (1848-1915) „ohne Rangordnung nebeneinander" aufzuzählen, wenngleich Riehl de facto eine gewisse Bevorzugung findet. Eine solche Gleichordnung bietet Interpretationsspielraum. Einen guten Eindruck von diesen Berufungsstreitigkeiten gibt das Schreiben des Historikers Eduard Meyer an den damaligen Dekan in dieser Sache. Es wird hier in voller Länge zitiert, um die Beharrlichkeit solchen Auslegungsstreits in Berufungsfragen an einem Beispiel deutlich zu machen: „Lieber Freund !
Berlin d. 7. Juli 1905
Auf Grund unseres heutigen Gesprächs fühle ich mich verpflichtet, Dir officiell, als Dekan der Facultät, und daher schriftlich, Nachstehendes mitzutheilen: 1) Ich habe den von Dilthey verlesenen Antrag der Commission so aufgefaßt, daß Erdmann, Windelband und Riehl von der Facultät pari loco vorgeschlagen werden sollten, daß aber allerdings letzterer zum Schluß als besonders willkommen speciell unterstrichen war. Diese starke Hervorhebung Riehls war meiner Überzeugung nach unberechtigt, und deshalb habe ich auch die Anfrage gestellt, ob dieselbe abgemildert werden könne. Ich habe aber darauf nicht soviel Gewicht gelegt, daß ich einen förmlichen Antrag stellen wollte, da inhaltlich schließlich dabei beruhigen konnte, daß alle drei doch pari loco vorgeschlagen seien, wenn auch mit stärkerer Betonung Riehls. Daß eine andere Auffassung des Votums möglich sei 44 Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, 3 Bde., Leipzig 1876-1887. 45 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 15, Bl. 4 - 1 4 . 46 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. B, Nr. 29, Bd. 2, Bl. 147.
11.
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geschweige denn, daß diese die in Wirklichkeit genannte sei, nein sei versichert - ist mir nicht in den Sinn gekommen; andrenfalls würde ich selbstverständlich einen formellen Gegenantrag gestellt und eventuell ein Separatvotum angemeldet haben. Ich behalte mir vor, diese Erklärung in der nächsten Facultätssitzung zu Protokoll zu geben. 2) Da Du mir mitgetheilt hast, daß Du privatim an Elster 47 geschrieben hast, daß Riehl allein vorgeschlagen sei, habe ich ihm gleichfalls geschrieben und ihm meine Auffassung des Votums sowie die eben dargelegten Gründe meines Verhaltens in der Sitzung mitgetheilt, damit er selbst entscheiden kann, welche der beiden Auffassungen thatsächlich in dem Schriftstück enthalten sei. Ich habe ihn gebeten, bei eventuellen Besprechungen mit Facultätsmitgliedem meine Auffassung mit Nennung meines Namens zu erwähnen, und bitte Dich das gleiche zu thun. Denn ich möchte natürlich jeden Anschein vermeiden, als wolle ich hinter dem Rücken der Facultät einem officiellen Aktenstück einen falschen Sinn unterschieben. Aber dazu halte ich mich verpflichtet, nach Kräften dafür zu sorgen, daß der Sinn, den das Aktenstück seinem Wortlaut nach hat und in dem es meiner Auffassung auch der Facultät angenommen ist - ein Sinn, der natürlich von der Absicht des Antrages verschieden sein kann - zur Geltung zu verhelfen. Und daß dieser Sinn nur der ist, den ich oben ausgesprochen habe, d.h., daß die drei pari loco vorgeschlagen sind, wenn auch mit besonderer Betonung Riehls, daran halte ich nachwievor fest. Andrenfalls muß ich sagen, daß wir [...] irre geführt sind. Denn ich habe noch nie erlebt, daß man in einer Vorschlagsliste von drei gleichbedeutenden Persönlichkeiten (so ungefähr war der Ausdruck) redet, wenn man zwei davon werten will, daß man die Namen hinter einander als 1.2.3. mit ausführlicher Begründung nennt, wenn man die Folge 3.2.1. meint, und daß man ausführlich rühmend (wenn auch mit einzelnen Bedenken) charakterisiert, wenn man zwei davon als ungenügend werten will, und endlich daß man diese Verachtung nur zwischen den Zeilen andeutet, es aber auch nicht mit einem Worte ausspricht, wenn man wirklich meint, daß man zwei der Genannten und zunächst so stark als hervorragend Bezeichneten nicht haben will. Verzeih diese Belastung, aber die Angelegenheit ist mir sowohl sachlich wie auch persönlich so wichtig, daß ich nicht schweigen kann. Zu dem Letzteren füge ich privatim noch hinzu (woraus ich indessen auch Niemandem gegenüber ein Hehl machen werde), persönlich nicht um Erdmanns willen sondern um unser willen. Ob ich Erdmann wirklich wünschen soll, daß er nach Berlin kommt, weiß ich nicht; wenn ich in seiner Lage wäre, würde ich wahrscheinlich in Bonn bleiben, und ich habe das ihm selbst als ich ihn zuletzt sprach, nicht verhehlt. Aber um der Facultät willen wünsche ich allerdings mit aller Energie, daß er herkommt, und ich möchte alles thun um sie vor einem Mißgriff zu bewahren, zu dem es ja in ihrer Geschichte an Analogien keineswegs fehlt. Und somit beste Grüße! Dein Eduard Meyer. Die Sache erregt mich so, daß ich noch (es ist gleich 5 Uhr) mit keinem Gedanken an meine Übungen heute Abend gedacht habe; wie die Vorlesung war, mögen die Götter wissen." 4 8
Manches spricht gegen Erdmann und Windelband. Aber natürlich spricht manches auch gegen Riehl. Beispielsweise sein Verhältnis zur Religion: Bereits durch seine frühe Abhandlung Moral und Dogma (1872) 49 zieht Riehl klerikales Mißtrauen auf sich. In Freiburg verbietet die katholische Kirche ihren Theologen und Lehrern förmlich den Besuch seiner Vorlesungen. Riehl tritt daraufhin aus der katholischen Kirche aus und zum Protestantismus über. Verpflichtet aber ist er vor allem der Philosophie
47 Ludwig Elster war 1897 zum Geh. Regierungs- und vortragenden Rat im Kultusministerium ernannt worden. Dort verwaltete er die Universitätsangelegenheiten. 48 UAHU, Phil. Fak.1464, Bl. 208f. 49 In: Riehl, Philosophische Studien aus vier Jahrzehnten, Leipzig 1925, S. 61-90.
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Kants. Während die einen dem „Zurück zu Kant" folgen, strebt Riehl „vorwärts von Kant aus" über diesen hinaus. Als gebürtiger Österreicher - Riehl stammt aus Bozen von Herbart, dem „Staatsphilosophen des damaligen Österreichs", beeinflußt, kürt er sich - wie Herbart - die naturwissenschaftliche Modernisierung Kants zu seiner Lebensaufgabe. Referenzautoren sind ihm Forscher wie Robert Mayer (1814-1878), Helmholtz und Heinrich Hertz (1857-1894). Dabei geht es ihm vor allem um die Umdeutung der transzendentalen Formen, insbesondere um den Raum als Anschauungsform. Schon Herbart verobjektiviert Kants subjektive Raumvorstellung durch die Postulierung eines „intelligiblen Raumes" unkantisch.50 In zeitlichem und sachlichem Abstand folgt Helmholtz mit einer empirischen Raumlehre, zu deren Kernaussage gehört, daß die Vorstellung eines Objekts „von der Art der realen Bedingungen, welche die Vorstellung hervorrufen" 51 , abhängt. In dieser Raumlehre und anderen Auffassungen Helmholtz' entdeckt Riehl den Erben Kants.52 Zwar hätten die „erkenntnistheoretischen Grundanschauungen von Helmholtz [...] eine Entwicklung erfahren, die sie scheinbar von Kant entfernte, in Wahrheit aber doch nur eine Fortbildung der Kantischen Gedanken darstellt"53. Für die Synthese von Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft gelingt es Riehl mit einigem interpretatorischem Geschick, Helmholtz zu folgen und Kant nicht zu verlassen. Gerne hätte er über die naturwissenschaftlichen Hörsäle und Laboratorien graviert: „Dem ist der Eintritt verwehrt, der nicht Philosophie getrieben hat". Indes ist ihm vor allem wichtig, daß Naturforscher mit eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen „in ein unmittelbares Verhältnis zur Philosophie" 54 treten. Der philosophierende Naturforscher verkörpert ihm eine „Personalunion"55 zwischen Philosophie und positiver Wissenschaft. Die Philosophie fungiert dabei als „Fundamentalwissenschaft" für die „Denkbarkeit der Grundbegriffe der Erfahrung" und firmiert als „kritischer Realismus". Dabei läßt Riehl die „Grenzbestimmung beider Wissenskreise" nicht außer acht. Bereits seine Jugendschrift Über Begriff und Form der Philosophie begründet die Eigenständigkeit der Philosophie. Während die Naturwissenschaft die „Form der materiellen Funktionen" behandelte, beschäftige die Philosophie das Psychische als „Gehalt" in Bewußtseinserlebnissen wie Wille, Vorstellung und Gefühl. Als Riehl dies schreibt, ist an eine Berufung nach Berlin noch nicht zu denken. Dennoch geht sein Ruf auch auf den Geist des Jugendwerks zurück. Daß die Philosophie ihren Platz zwi50 Johann F. Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Hamburg 1993 (1. Aufl. 1813), S. 304 f. 51 Riehl, Führende Denker und Forscher, 2. Aufl., Leipzig 1924, S. 238. 52 Ebd., S. 232. 53 Ebd., S. 230. 54 Ebd., S. 240. 55 Riehl, Der Beruf der Philosophie in der Gegenwart (Vortrag, gehalten in Princeton 1913), in: ders., Philosophische Studien aus vier Jahrzehnten, Leipzig 1925, S. 304-312, hier: 304.
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sehen sachbezogener Nähe und methodologischer Distanz zu den Nachbardisziplinen finden muß, ist das Antrittsprogramm der nachhegelschen Philosophie in Berlin. Noch in anderer Hinsicht eignet sich Riehl als Nachfolger Diltheys. Er teilt nicht die Anschauung des psycho-physischen Parallelismus, sondern steht auf der Seite des „philosophischen Monismus" 56 . Riehls Vorschlag, das „psychische Leben als Produkt der organischen Entwicklung" 57 anzusehen, können Dilthey und Stumpf jedoch nicht voll zustimmen. In der Konsequenz des deterministischen Ansatzes spricht Riehl - im Unterschied zu Dilthey und Stumpf - nicht von Struktur-, sondern von „Assoziationsgesetzen" 58 . Dennoch kann man nicht von einem lupenreinen assoziationspsychologischen Ansatz sprechen. Eher ist Riehl der nicht-assoziationistischen Linie zuordnen, die das aktive Prinzip der „Apperzeption" vertritt. Wo er sich jedoch zu psychologischen Fragen äußert, tritt eine deutliche Sympathie für die deskriptive Psychologie zutage. Schon 1872 vertritt Riehl zum Verhältnis von Philosophie und Psychologie die Auffassung, daß die Philosophie „psychische Produkte" „abgesehen von ihrer Entstehung" behandle, während die Psychologie den „psychischen Prozess" 59 zum Gegenstand habe. So begrüßt Riehl auch die IdeenAbhandlung Diltheys. Brieflich bestärkt er Diltheys Positionen gegenüber Ebbinghaus' „unfreiwillige[r] Anerkennung" 60 . Da die Bewußtseinsphänomene in der erklärenden Psychologie bislang vorwiegend äußerlich betrachtet wurden, sei die Forderung nach einem alternativen, deskriptiven Zugriff auf die seelischen Vorgänge berechtigt. Man wird deshalb Diltheys Befürwortung auch als Antwort auf eine freundschaftliche Übereinstimmung in der Haltung zur experimentellen Psychologie ansehen dürfen. Auch Riehl sucht auf seine Weise dem fortgesetzten „Ausliefern einer philosophischen] Lehrkanzel nach der anderen an die Psychophysiker" 61 entgegenzuwirken. Seit Anfang der neunziger Jahre wendet er sich verstärkt den „nichtwissenschaftlichen" Aspekten der Philosophie zu. Schon seine Freiburger Antrittsrede Über wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie antizipiert 1883 Diltheysche Diktion, wenn es heißt: „Aber das menschliche Leben ist außerdem für jeden von uns auch der unmittelbaren Selbsterfassung durch das Bewußtsein zugänglich. Von diesem Standpunkte unmittelbarer Erkenntnis aus werden die inneren Lebensantriebe in völlig anderer Beschaffenheit gefühlt, als sie von der objektiven Seite aus angeschaut 56 Riehl, Der naturwissenschaftliche und der philosophische Monismus, in: ders., Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 176. 57 Ebd., S. 176. 58 Riehl, Über Begriff und Form der Philosophie, in: ders., Philosophische Studien aus vier Jahrzehnten, S. 119. 59 Ebd., S. 117. 60 Brief Riehls an Dilthey vom 7.11.1895, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 229. 61 Ebd. S. 222.
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werden." 62 Auch Riehl betrachtet den Menschen in seinem „Entwurf einer wahrhaft humanen Lebensführung" 63 als zwecksetzendes Wesen und begründet so die praktische Orientierungsfunktion der Philosophie als „Lebensanschauung". Knapp drei Jahre vor seiner Berufung nach Berlin bringt er den „nichtwissenschaftlichen" Teil seiner Philosophie auf eine prägnante Theorie der Lebensanschauung. Wertphilosophische Überlegungen geben den Ton an, denn ohne Werte sei unsere „Lebensfahrt ohne Kompaß" 64 . Schon 1897 publiziert Riehl eine verbreitete Monographie über Friedrich Nietzsche, den er treffend mit Sokrates assoziiert. 65 In Sokrates sieht Riehl die Einheit von Philosophie und Lebensführung vorbildlich vertreten. „Nie haben sich Leben und Lehre eines Philosophen vollständiger gedeckt als bei Sokrates." 66 Hier beruhe Wissen nicht auf eitler Fachsimpelei, nicht auf dem „Wissenskram der Sophisten" 67 , sondern „auf Einkehr in sich, auf Selbsterkenntnis, Selbstüberwindung" 68 . Riehl gelangt zur Überzeugung, „daß reine Wissenschaft nicht ausreichen kann, unser Leben zu erfüllen" 69 . Daß er damit eine Ansicht formuliert, die in Berlin gern vernommen wird, ist ihm nicht unbekannt. In einem Brief dankt er seinem verehrten „Freund" Dilthey für die Zusendung der Ideen schwärmerisch und artig zugleich: „Sie wissen, welchen Widerhall ein Satz wie der Ihre bei mir findet: ,es ist das Leben, das vor aller Erkenntnis da ist'" 7 0 .
c.
Benno Erdmann als Organisator zwischen den Schulen
Benno Erdmann (1851-1921) ist nicht mit jenem Johann Eduard Erdmann verwandt, der sich 1834 in Berlin habilitierte. Aber er führt die historische Schule der Berliner Philosophie in bedeutenden Vorhaben fort. Benno Erdmann studiert in Berlin bei Zeller und Helmholtz und promoviert 1873 mit einer Arbeit Über die Stellung des Dinges an sich in Kants Ästhetik und Analytik. 1876 folgt eine glänzende Arbeit über Kants philosophischen Lehrer Martin Knutzen und seine Zeit, 1878 ein Ver62 Riehl, Über wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie, in: ders., Philosophische Studien, S. 250. 63 Ebd., S. 252. 64 Riehl, Probleme der Lebensanschauung, in: ders., Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart^. 188. 65 Riehl, Friedrich Nietzsche, 4. Aufl., Stuttgart 1901, S. 14 u. 73; zum Verhältnis Nietzsche-Sokrates siehe: Volker Gerhardt, Die Moderne beginnt mit Sokrates, in: Aufklärung als praktische Philosophie, hrsg. v. F. Grundert u. Fr. Vollhardt, Tübingen 1998, S. 3-20. 66 Ebd., S. 194. 67 Ebd., S. 191. 68 Ebd., S. 194. 69 Ebd., S. 205. 70 Brief Riehls an Dilthey vom 2.4.1895, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 220.
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gleich von Kant's Kriticismus in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Als Habilitationsschrift verfaßt Erdmann eine systematische Arbeit über Die Axiome der Geometrie. Was er macht, hat Hand und Fuß. So sind Helmholtz und Zeller voll des Lobes.71 Und fortan ist Erdmann für jedes Ordinariat im Gespräch. Sein Weg führt über Kiel (1878), Breslau (1884), Halle (1890) und Bonn (1898) zurück nach Berlin (1909). Schon für die Nachfolge Lotzes ist er ein ernster Konkurrent Diltheys. Damals gilt er als hochbegabte „Kraft", die „noch einige Zeit brauchen wird, um ganz zu reifen" 72 . Und man will Paulsen durch Erdmanns Berufung nicht zurücksetzen und aus Berlin vertreiben. 73 Diese Gefahr besteht in der Tat, denn Paulsen ist mit seinem Jugendfreund Erdmann überworfen. Die Rivalität durchzieht Paulsens Memoiren und Briefwechsel, so daß in Berlin nur für einen von beiden Platz ist. 1893 entscheidet sich dies an der Nachfolge Zellers. Es spricht damals einiges für Erdmann. Denn Zeller ist kein Förderer Paulsens, und Erdmann ist Zellers Schüler. Neben Dilthey benötigt man jedoch einen Systematiker, der auch experimentalpsychologisch arbeitet. Zwar ist Erdmann inzwischen als Logiker und Psychologe hervorgetreten. Es scheint der Fakultät aber, „daß die ursprünglichere und stärkere Begabung Erdmanns die historische ist" 74 . Das Bedürfnis nach einem Systematiker und Gegenpol zu Dilthey entscheidet für Stumpf, und Paulsens Extraordinariat wird in ein drittes Ordinariat umgewandelt. 1905 ist Erdmann erneut im Gespräch, diesmal für die Nachfolge Diltheys. Sehr ausführlich gutachtet die Fakultät erneut, daß Erdmanns historisch-systematische Doppelbegabung allzu enge Grenzen habe: „Zu Arbeiten über andere Teile der Geschichte der Philosophie außerhalb des Umkreises der Kantforschung ist Erdmann nicht fortgegangen" 75 . Und auch Erdmanns Psychologie findet keine volle Zustimmung. Zudem decke „sein Gebiet sich mit dem des Herrn Stumpf" 76 . Nach Dilthey und Stumpf ist es diesmal Riehl, der Erdmann vorgezogen wird. Erst 1909, als Erdmanns Widersacher Paulsen verstorben ist, kommt es zur Berufung. Im Januar 1909 erneuert die Fakultät zwar ihre frühere Einschätzung, 77 nennt Erdmann aber dennoch an erster Stelle neben Oswald Külpe (1862-1915). 78 Erdmann
71 72 73 74 75
UAHU, Phil. Fak. 1209, Bl. 170-174. Fakultätsschreiben vom 27.5.1882, UAHU, Phil. Fak. 1460, Bl. 281. UAHU, Phil. Fak. 29, Bl. 209. Schreiben der Fakultät vom 13.7.1893, UAHU, Phil. Fak. 1462, Bl. 115-118, hier 117. Ausführliches Gutachten vom 7.7.1905 an den Minister, UAHU, Phil. Fak. 1454, Bl. 210-213, hier 211. 76 UAHU, Phil. Fak. 32, Bl. 329; siehe auch Briefwechsel zwischen Dilthey und v. Wartenburg, S. 161-165. 77 UAHU, Phil. Fak. 1465, Bl. 116-118. 78 Schreiben vom 19.1.1909, UAHU, Phil. Fak. 1465, Bl. 124.
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ist für diese Nachfolge eher berufen als der Denkpsychologe Külpe. Mit seinem Kommen wird das „Philosophische Seminar" innerhalb der Philosophischen Fakultät gegründet. Die Philosophie organisiert sich relativ spät institutionell, weil sie sich lange nicht als Spezialdisziplin, sondern als Integral des Wissens ansieht. Der erste Assistent - das Frauenstudium war gerade erst 1908 zugelassen worden - ist eine Frau: die „Frau Staatsrat Dr. phil. von Polowzow". 5 000 Mark stehen zur Verfügung, um die Räume in der Behrenstraße 70 (III. Stock) mit Möbeln, Lehrmitteln und Büchern auszustatten. Aus Berufungsmitteln kommen weitere 5 000 Mark hinzu. Der jährliche Etat beläuft sich auf 1200 Mark. Der kurze, von Erdmann, Riehl und Stumpf gezeichnete Bericht für die Universitätsgeschichte spricht von „provisorischen Räumen" und „bescheidenen ersten Anfängen" 79 . Erdmann ist Mitherausgeber wichtiger Fachzeitschriften sowie der Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Anders als Paulsen und Riehl gehört Erdmann seit 1911 der Preußischen Akademie an, nachdem ein erster Anlauf 1910 scheitert. Erdmann wird Organisator der großen Editionen. Er initiiert die Leibniz-Gesamtausgabe, die als ein Jahrhundertwerk heute noch nicht abgeschlossen ist, und ist Mitglied der Kommission, die seit 1902 die Ausgabe von Kants gesammelten Schriften betreut. Nach Diltheys Tod übernimmt er den Vorsitz und zeichnet für die Edition der Kritik der reinen Vernunft verantwortlich. Seine Einleitungen zu den beiden Auflagen und zu den Prolegomena sind heute noch lesenswert. Im Kreis der Editoren gilt er - ähnlich wie Erich Adickes und Hans Vaihinger - als „Gegner" Kants, während Wilhelm Windelband und Paul Natorp sich eher als Anwälte Kants verstehen. In seiner Gedächtnisrede auf Erdmann 80 nennt Stumpf Erdmann den „Hauptbegründer der vielberufenen ,Kantphilologie'". Am meisten beeindruckt ihn, daß er die ungeheure Mühe der Kant-Ausgabe auf sich genommen hat, ohne selbst Kantianer zu sein. Der unterschiedliche Ansatz zeigt sich insbesondere in Fragen der Raumlehre. Die Auseinandersetzung mit der empirischen Raumtheorie Helmholtz' führt Erdmann - ähnlich wie Riehl - zu Modifikationen Kants. Ein anderer Themenschwerpunkt ist die Logik, die Erdmann als „Wissenschaftslehre" auffaßt. 81 Seine Gliederung der Wissenschaften82 hebt sich von den zeitgenössischen Unterscheidungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ab, weil sie eine nochmalige Unterteilung beider Disziplinen in „formale" oder Gesetzeswissen-
79 Das philosophische Seminar, in: Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 3, Halle 1910, S. 201 f. 80 Carl Stumpf, Gedächtnisrede auf Benno Erdmann, in: Sitzungsberichte der Königlich preußischen. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, XXXIII 1921. 81 Vgl. Erich Becher, Benno Erdmann, in: ders., Deutsche Philosophen, München 1929, S.134-141. 82 Erdmann, Gliederung der Wissenschaften, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 72-105.
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Schäften einerseits und „materiale oder geschichtliche Wissenschaften" 83 andererseits vorschlägt und also auch die Geisteswissenschaften als Gesetzeswissenschaften zu betrachten für möglich hält. Für das „formale" Ressort innerhalb der Geisteswissenschaften erklärt er neben der Logik und Erkenntnistheorie die Psychologie für zuständig, da sie „die Wissenschaft von den Gesetzen der psychischen Entwickelungsvorgänge" 84 sei. Folglich tritt Erdmann auch als Experimentalpsychologe hervor und pflegt enge Kontakte zu den Psychologen.85 In einem Akademievortrag greift er das Verhältnis zwischen Natur- und Geistes Wissenschaften noch einmal thematisch auf.86 Er legt sich nun die Aufgabe vor, einen „psychologischen Beitrag zu der Lehre von der Einheit des Wissens" 87 zu liefern. An den Erkenntnisbedingungen will er demonstrieren, daß das Wissen in den Natur- und Geisteswissenschaften in psychologischer Hinsicht auf vergleichbaren Voraussetzungen beruht. Seine akademische Abschiedsschrift enthält den Extrakt der Erdmannschen Forschung auf dem Gebiet der Psychologie des Denkens.88 Solche Charakterisierungen zeigen schon, in welche Richtung sich die systematische Arbeit dieser Neukantianer um 1900 von Kant entfernt. Paulsen, Riehl und Erdmann sind die wichtigsten Vertreter des Neukantianismus in Berlin. Systematisch nehmen sie tiefgreifende Modifikationen vor und initiieren im übrigen eine rein historische Kantforschung. Von ihnen ist Erdmann in der Lehre wohl am erfolgreichsten. Riehl ist bei seinem Wechsel nach Berlin schon zu alt, als daß er noch starke Impulse setzen konnte. Paulsen ist heute als Pionier der Pädagogik zwar bekannt, seine Verdienste als Philosoph sind aber geringer. Erdmann macht sich nicht nur durch seine Editionen, sondern auch durch seine enge Zusammenarbeit mit Stumpf verdient. Er ist an dem großen Erfolg mit beteiligt, den die Schüler Stumpfs haben. Anregungen in die Philosophie gehen vom Berliner Neukantianismus jedoch kaum noch aus. Dies zeigt sich schon in der geringen Förderung von Cassirer, der aus Marburg kommt und keinen Mentor in Berlin hat. Andere namhafte Privatdozenten bringt die Berliner Philosophie - abgesehen von den Psychologen - nach dem Ausscheiden Diltheys nicht hervor. So bestätigt sich die These, daß der Neukantianismus in Berlin eine eher untergeordnete Rolle spielt.
83 84 85 86
Ebd., S. 83 f. Ebd., S. 94f. Siehe: Erdmann, Psychologische Untersuchungen über das Lesen, Halle 1898. Erdmann, Erkennen und Verstehen, in: Sitzungsberichte der Königlich preußischen Akademie zu Berlin, Philosophisch-historische Klasse 1912, S. 1240-1271. 87 Ebd., S. 1243. 88 Siehe: Erdmann, Grundzüge der Reproduktionspsychologie, Berlin/Leipzig 1920; weitere psychologische Schriften: Umrisse zur Psychologie des Denkens, Tübingen 1900; Die Psychologie des Kindes, Bonn 1901.
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Die unberufenen Potentaten
Das Leid der Privatdozenten ist Legende. Zeller bemerkt 1844 in seinen Gedanken über deutsche Universitäten ein wenig bitter, mit welcher Hingabe man die „Ausschließung vom Leben" 1 durch die wissenschaftliche Arbeit ertrug. Es wurde jedoch auch manches Hohelied auf die Privatdozentur gesungen, insbesondere von jenen Triumphatoren, die das Karriereziel erreichten und als Ordinarien in die Fron der Fakultätsarbeit eingespannt waren. Trendelenburg hielt die Zeit der Privatdozentur in bester Erinnerung: „Aber das doppelte Gefühl, das aus dem Forschen und Lehren entspringt, erneuert sich immer wieder und lebt in allen Gliedern der Universitäten und erhebt alle. In niemandem pflegt es reiner und kräftiger zu sein, als in den jungen Männern, welche, vom Staat nicht gerufen, aber vom inneren Berufe getrieben, von wenigen oder keinen Vorteilen begünstigt und nicht selten mit der Schwierigkeit des Lebens kämpfend, aber von der Hoheit der Wissenschaft und dem Reiz des Lehramtes angezogen, sich lediglich auf die eigene Kraft stellen, um an dem Werke der Universität teilzuhaben und mitzuhelfen."2
Den meisten blieb ohnehin nichts anderes übrig. Bis 1893 gab es in Berlin nur zwei Ordinariate. Danach kam, mit Paulsen, eine neue ordentliche Professur hinzu. Erst in den zwanziger Jahren besserte sich die Lage. Es waren zwar nicht wenige Berliner Privatdozenten, denen eine Berufung auf einen Lehrstuhl in Berlin versagt blieb. Die meisten erhielten aber irgendwann einen Ruf an eine andere Universität. Simmel und Cassirer waren jedoch nicht irgendwelche Unberufene, die anderswo unterkamen, sondern sie waren nach ihren sachlichen Problemstellungen und dem Rang ihrer Philosophie berufene Nachfolger, die unberufen blieben. Die Berliner Universität verspielte damit eine Chance, ihr philosophisches Profil weiter zu entwickeln. Aus der Perspektive der Fakultät und Zeitgenossen lag die Sache freilich relativ einfach. Die Ordinariate waren knapp: Für die Sozialphilosophie Simmeis war kein Bedarf, und für Cassirer war neben Riehl kein Platz.
1 Zit. in: Alexander Busch, Die Geschichte der Privatdozenten, Stuttgart 1959, S. 10. 2 Adolf Trendelenburg, Die überkommene Aufgabe unserer Universität. Berliner Rektoratsrede 1857, zit. in: Busch, Geschichte der Privatdozenten, S. 58.
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Die unberufenen Potentaten
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Berliner Leben als philosophischer
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Stil: Georg Simmel
Georg Simmel (1858-1918) lehrt fast drei Jahrzehnte in Berlin, ohne eine besoldete Stellung zu erlangen. Den akademischen „Leidensweg" des jungen Simmel hat Köhnke 3 aus den Archiven detailliert dargestellt. Köhnke unterscheidet das „soziologistische" Frühwerk radikal vom philosophischen Spätwerk 4 und behandelt Simmeis „transzendentalphilosophische Wendung" zur Lebensphilosophie nur knapp. Während das Frühwerk unter dem Eindruck von Lazarus und Spencer gegen Dilthey ein „soziologistisches" Konzept vom „Individuum als Schnittpunkt sozialer Kreise" vertrete, habe Simmel später diesen Ansatz ganz verworfen und eine „transzendentalphilosophische Wendung" zu einer „Soziologie ohne Soziologismus" genommen, die vom „Lebensgefühl" des Individuums ausging und das Werk als Selbstreflexion eines individuellen Lebens zu begreifen suchte. Köhnkes scharfe Unterscheidung des jungen Soziologen vom späteren Lebensphilosophen macht nicht nur die persönlichen und sachlichen Differenzen des jungen Simmel zu Dilthey deutlich. Sie korrigiert auch Simmeis Irrtum, Dilthey habe seine Karriere behindert; sie gibt Diltheys philosophischem Urteil über den frühen Simmel recht 5 , deutet Simmeis Wendung zur Lebensphilosophie als radikale Selbstkritik und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Simmeis Lebensphilosophie zu Dilthey neu auf. Gerade Köhnkes scharfe Unterscheidung des „jungen Simmel" erlaubt es, den späteren Lebensphilosophen an Dilthey anzunähern. Simmel studiert zunächst Geschichte; er hört bei Droysen, Mommsen, Treitschke und Hermann Grimm, wechselt aber bald in die Philosophie und hört neben Zeller und Harms auch bei Lazarus und Steinthal, Adolf Bastian und Adolf Lasson. 1880 verfaßt er die Preisschrift Darstellung und Beurteilung von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie, die von Zeller positiv begutachtet wird und den Preis erhält. Daraufhin faßt der 23jährige Simmel den Mut zu einer akademischen Karriere. Doch schon die folgende Dissertation liegt mit ihrer musikethnologischen Thematik zwischen den akademischen Fächern. So äußern die Gutachter Zeller und Helmholtz methodische Bedenken.6 Auch beim Habilitatonsverfahren hat Simmel nach einem Disput mit Zeller größere Schwierigkeiten. Sein Habilitationsvortrag wird 3 Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996. 4 Eine „soziologistische Periode" bis 1900 unterscheidet schon die frühe, von Spranger betreute Berliner Dissertation von Hermann Gerson, Die Entwicklung der ethischen Anschauungen bei Georg Simmel, Diss. Berlin 1932. 5 Köhnke, Der junge Simmel, S. 397. 6 Gutachten von Helmholtz UAHU, Phil. Fak. 254/1, Bl. 162-163; Dr. Winfried Schulze hat am Fachbereich der HU-Berlin eine Dokumentation der wichtigsten Quellen über „Georg Simmel an der Berliner Universität" erstellt; vgl. insgesamt Köhnke, Der junge Simmel, S. 51 ff.
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Teil III: Blüte
im Februar 1884 „als ungenügend" zurückgewiesen. Erst ein Jahr später, im Januar 1885, habilitiert sich Simmel. Köhnke7 nimmt an, daß Dilthey sich gegen Simmeis Habilitation aussprach und dabei auch Antisemitismus mitspielte. Simmel selbst litt darunter, physiognomisch als Jude stereotypisiert zu sein. Bei seinen Bewerbungen spielt der Antisemitismus immer wieder eine negative Rolle. „Auch im Jahre 1908, als seine Berufung nach Heidelberg schon fast feststand, als alles, was Rang und Namen hatte - Weber, Windelband, Rickert, Gothein, Jellinek - sich ausdrücklich für ihn einsetzte, genügte ein Gutachten Dietrich Schäfers, des Alldeutschen, des Antisemiten und Flottenvereinlers, dies zunichte zu machen" 8 . Später fühlt sich Simmel von einzelnen Ministerialbeamten geradezu verfolgt. Nach seiner mühevollen Habilitation wendet Simmel sich verstärkt ethischen Fragen zu und hat mit seinen Vorlesungen über Kant, über Schopenhauer und den Pessimismus, über Darwin und die Ethik 9 sowie seit den neunziger Jahren über Soziologie bald großen öffentlichen Erfolg. Durch eine Erbschaft 1890 zudem finanziell relativ unabhängig geworden, ist er damals auf Honorare nicht angewiesen.10 Mit seiner Einleitung in die Moralwissenschaft setzt er sich abermals zwischen die Stühle. Anders als der zeitgenössische Neukantianismus beabsichtigt Simmel keine Aktualisierung Kants, sondern eine „Kritik der ethischen Grundbegriffe". Mit Spencer gegen Kant vertritt Simmel, so Köhnke, eine „naturalistische Ethik" 11 . Er rückt damit den Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen bürgerlicher Symphatisanten der Sozial-, demokratie nahe, die nach der Ära Bismarck auf die Möglichkeit einer Lösung der sozialen Frage durch Klassenversöhnung setzen. Obwohl Simmel sozialdemokratisch 7 Köhnke, Der junge Simmel, S. 123 ff. 8 Ebd., S. 141 ; In der von der Badischen Regierung erbetenen Stellungnahme des Historikers Dietrich Schäfer heißt es: „Er [Simmel] spricht überaus langsam, tropfenweise und bietet wenig Stoff, aber knapp, abgerundet und fertig. Das wird von gewissen Hörerkreisen, die hier in Berlin zahlreich vertreten sind, geschätzt. Dazu würzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hörerschaft setzt sich entsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Im übrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den östlichen Ländern zuströmende, überaus stark vertreten. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend. Allzuviel Positives wird aus den Vorlesungen nicht hinweg genommen; aber mancherlei prickelnde Anregung und vorübergehenden geistigen Genuß läßt man sich gern bieten. Dazu kommt, daß der ganz-, oder halb- oder philosemitische Dozent an einer Universität, in welcher die entsprechende Hörerschaft mehrere Tausende zählt, bei dem Zusammenhang, der in diesen Kreisen besteht, unter allen Umständen einen ergiebigen Boden findet. Ich kann mir nicht denken, daß die Universität Heidelberg eine besondere Förderung erfährt, wenn man diese Art ihren Hörsälen zuführt." (Brief Schäfers an den Minister Böhm vom 26.2.1908; abgedruckt in: K.Gassen/M. Landmann, Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1958, S.26f). 9 Verzeichnis der Vorlesungen bis WS 1897/98 mit Hörerzahlen bei Köhnke, Der junge Simmel, S. 194 ff. 10 Köhnke, Der junge Simmel, S. 171 ff. 11 Ebd., S. 243 ff.
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gesinnt ist und unter einem Pseudonym im Vorwärts publiziert, hält er mit seinem Programm einer „beschreibenden Ethik in kritischer Absicht" theoretische Distanz zu den Berliner Vertretern einer „ethischen Kultur"12: also zu Paulsen, Gizycki und Döring. Damit begibt er sich weiter ins akademische Abseits. So wird Simmeis Einleitung in die Moralwissenschaft von den Berliner Kollegen Gizycki und Döring abgelehnt und negativ besprochen. Vor allem aber gerät Simmel in einen tiefgreifenden Gegensatz zu Dilthey. Denn er entwickelt seinen formalen und soziologistischen Ansatz aus der Völkerpsychologie von Lazarus; Dilthey dagegen versteht seine Sozialphilosophie und Ethik gerade in der kritischen Abgrenzung gegen Lazarus. Während Dilthey Lazarus' völkerpsychologische Reformulierung von Hegels „objektivem Geist" mit seinem lebensphilosophischen Ansatz beim Individuum (als „Kreuzungspunkt der Kultursysteme") verwirft, kritisiert der junge Simmel Diltheys „Einheit der Seele" und vertritt mit der „Präexistenz der Gesamtheit vor dem Einzelnen" einen extremen „Soziologismus" l3 . Nur aus akademischen Rücksichten, um des Extraordinariats des verstorbenen Ethikers Gizycki willen (das auf Betreiben Diltheys an Dessoir ging), sucht Simmel diese radikale Kritik an Dilthey zu verbergen. Simmel empfiehlt sich für diese Nachfolge damals auch direkt bei Althoff.14 Köhnke15 recherchierte akribisch, daß Diltheys erfolgreiche Initiativen zur Umdefinition dieser Stelle auf die Ästhetik und die Patronage für Dessoir keine Zurücksetzung Simmeis intendierte. 1897 erhält Dessoir den Ruf. Simmel ist damals verstärkt an einer finanziellen Absicherung interessiert, weil seine Erbschaft wegen Spekulationsverlusten zusammenschmolz. Am 27. Dezember 1897 schreibt er an den großen Heidelberger Staatslehrer Georg Jellinek (1851-1911), der später im Bunde mit Max Weber (1864-1920) Simmel nach Heidelberg holen will, ihn habe „die Stellung in der akademischen Hierarchie nie interessiert [...], sondern ausschließlich die ökonomische Sicherung".16 Dilthey bemüht sich damals um Kompensation für Lasson und Simmel, während Döring leer ausgeht. Nachdem ein erster Antrag vom 3. Juni 1898 abgelehnt wird, hat ein erneuter Antrag der Fakultät vom 2. Februar 1900 Erfolg: Im Juli 1900 wird Simmel zum unbesoldeten Extraordinarius ernannt.17 Mit dem „Abschied vom Evolutionismus" gelangt Simmel zwischen 1890 und 1894 zu seiner soziologischen Programmatik, die ihn zum Engagement für die damaligen sozialen Bewegungen und einer philosophischen Kultur des Essayismus führt, 12 Ebd., S. 284ff. 13 Ebd., S. 330, 337ff., 380ff.; vgl. auch Hans-Ulrich Lessing, Bemerkungen zum Begriff des o b jektiven Geistes' bei Hegel, Lazarus und Dilthey, in: Reports on Philosophy 9 (1985), S. 4 9 - 6 2 . 14 Brief Simmeis vom 3.3.1895 an Althoff, I HA Rep. 2 NL Althoff Β Nr. 177 (II) Bl. 109V. 15 Köhnke, Der junge Simmel, S. 355ff. 16 Zitiert nach Otthein Rammstedt, Editorischer Bericht, in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 877-905, hier: 887. 17 Köhnke, Der junge Simmel, S. 377f.
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die er bald als „Ausdruck eines Selbst- und Lebensgefühls" 18 begründet. Simmel nähert sich also dem Standpunkt Diltheys an, als die persönliche Beziehung schon zerrüttet ist. Allmählich gelangt er zu einer radikalen Selbstkritik, die den Soziologismus des eigenen Frühwerks verwirft und vom Studium der Individualität des Künstlers her, nicht zuletzt unter dem Eindruck der persönlichen Begegnung mit Stefan George (1866-1933) 19 , den soziologistisch-formalen Begriff um einen anderen Begriff von Individualität ergänzt, den Simmel nach seiner „transzendentalphilosophischen Wendung" dann als eigene Lebensphilosophie ausarbeitet. Soziologische und philosophische Arbeit laufen bei Simmel stets parallel. Während die philosophische Besinnung jedoch zunächst mehr der Ausarbeitung der eigenen soziologischen Methode dient, nimmt Simmel später eine lebensphilosophische Grundlegung vor. Dieser Entwicklungsgang stellt sich in der Chronologie des Werkes etwa wie folgt dar: Simmel geht von soziologischen Gegenwartsbeschreibungen aus. Seine erste umfassende Aufnahme des zeitgenössischen Problembestandes ist 1890 die Monographie Über sociale Differenzierung. Eine erste wichtige Theorieentscheidung Simmeis ist es dann, daß er Die Probleme der Geschichtsphilosophie 1892 erkenntnistheoretisch auffaßt und geschichtsphilosophischeTeleologismen methodologisch als narrative Muster von Geschichtsforschung begreift. Mit diesem erkenntniskritischen Bewußtsein kann Simmel anschließend seine Gegenwartsbeschreibung mit der Einleitung in die Moralwissenschaft und dann der Philosophie des Geldes von 1900 ausarbeiten und 1908 in einer umfassenden Soziologie der „Formen der Vergesellschaftung" bündeln. Programmatisch formuliert Simmel seinen Ansatz schon 1894 in dem Aufsatz Das Problem der Sociologie. Sozialphilosophisch thematisieren seine Beschreibungen insbesondere das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft. 1890 schon fragt Simmel nach der „Korrelation", mit der die Soziologie schließt: nach der Bedeutung der „Ausdehnung" und „Erweiterung der Gruppe" für die „Ausbildung der Individualität" 20 . Simmel hält bei der soziologischen Beschreibung also einen Bildungsgedanken fest und ist deshalb als Sozialphilosoph zu bezeichnen. Mit der Ausarbeitung seiner Sozialphilosophie begreift er sich dezidiert als Philosophen. „Meine Soziologie ist ein ganz spezialistisches Fach", schreibt er am 13. Dezember 1899 an seinen französischen Kollegen Célestin Bouglé: „Es ist mir überhaupt einigermassen schmerzlich, dass ich im Ausland nur als Soziologe gelte - während ich doch Philosoph bin, in der Philosophie meine Lebensaufgabe sehe u. die Soziologie eigentlich nur als Nebenfach treibe." 21 18 Ebd., S. 487. 19 Ebd., S. 500ff. 20 Simmel, Über sociale Differenzierung, in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 169ff.; Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 79Iff. 21 Zitiert nach Rammstedt, Editorischer Bericht, in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 892.
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Simmel vergewissert sich seines „transzendentalen" Standpunkts in der erneuten Auseinandersetzung mit Kant. 1904 publiziert er seine Berliner Vorlesungen über Kant; 1907 folgt die lebensphilosophische Vertiefung des Individualitätsgedankens durch eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Nietzsche, die in eine nietzscheanische Umdeutung von Kants kategorischem Imperativ mündet. Damit hat Simmel seine philosophischen und soziologischen Positionen in den Grundzügen geklärt und kann 1910 seine Sicht der Hauptprobleme der Philosophie und bald auch der Grundfragen der Soziologie publizieren. Mit seinem Goethe gibt Simmel 1913 eine „Anschauung der Individualität" 22 ; sein „kunstphilosophischer Versuch" über Rembrandt exemplifiziert 1916 die Möglichkeit einer Individualisierung des „Ausdrucks des Seelischen" namentlich in der religiösen Kunst. Einen ersten, durch Simmeis frühen Tod unüberholten Abschluß erhält diese Lebensphilosophie 1918 durch das Buch Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. Die methodische Eigenart seines Werkes zeigt Simmel selbst 1911 durch die Publikation seiner Essay Sammlung Philosophische Kultur an. Im Vorwort postuliert er dort eine „prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion", als philosophische Haltung und geistiges „Verhalten zu allem Dasein". Er exemplifiziert diese Haltung in seinen stilbildenden Essays zu Alltagsphänomenen und lebensweltlichen Erfahrungen und pointiert sie als Religions- und Kulturphilosophie. Simmel entwickelt seine „transzendentalphilosophische Wendung", wie gesagt, von der erneuten Auseinandersetzung mit Kant ausgehend; er erneuert die Frage nach der Aktualität Kants und erinnert dabei an den „Wert der Kantischen Erkenntnißlehre für die tiefsten Lebensprobleme, für die letzten Fragen nach der Bedeutung alles Menschlichen" 23 . Die „Selbständigkeit und der Unabhängigkeitssinn des modernen Denkens" erreiche in der Vernunftkritik Kants „einen Höhepunkt" 24 . Seine Einzigartigkeit aber erlange es durch die Bindung aller intelligiblen Leistungen an das Leben. Mit scharfem Blick entdeckt Simmel gerade in den apriorischen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes die „lebendigen Formungen" 25 des Geistes, der wesentlich menschliche Tätigkeit ist: „Alles Anschauen ist ein Thun, alles Erkennen ist ein Handeln" 26 . Alles Tun und Handeln aber muß konkret werden, wenn es überhaupt Bedeutung erlangen soll. Folglich ist für Simmel auch der angeblich so abstrakte kategorische Imperativ Ausdruck eines personalen Anspruchs. Die „völlige Sozialisierung des Thuns" wird hier mit seiner ,,völlige[n] Individualisierung" 27 verknüpft. Deshalb betont Simmel - wie zuvor wohl nur Humboldt, Schleiermacher und 22 23 24 25 26 27
Simmel, Goethe, 4. Aufl., Leipzig 1921, Vorwort. Simmel, Was ist uns Kant? (1896), in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 154. Ebd., S. 173. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 168.
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Hegel - die notwendige Beziehung aller Vernunftansprüche auf die individuell erfahrene Situation: Mit der Frage: „Was soll ich tun?" sind „alle einzelnen Bedingungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebensgeschichte und die Konstellation seiner Umgebung" berührt. Die Antwort aber kann niemand anderes geben als das Individuum, das sich diese Frage stellt. Da Kant die Moral von allen Beweislasten der Theologie befreit, kommt das eigene Problem der „Lebensführung" hier zum vollen Bewußtsein. So kann es nicht überraschen, daß Simmel in Kants kategorischem Imperativ den Prototyp des „individuellen Gesetzes" zu erkennen glaubt, eben jenes Gesetzes, das er für seine eigene Theorie der Lebensführung sucht. Dabei geht er stärker als irgendein Kant-Interpret vor ihm von den Problemen der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften aus und legt den anthropologisch-historischen Ausgangspunkt der Vernunftkritik frei: „Unter völligem Bruch mit aller Systematik u. allen Formeln" versucht er, „die Grundgedanken Kants [...] auf ihre rein menschliche u. kulturelle Bedeutung zurückzuführen" 28 . Mit den ersten beiden Sätzen seiner Fragment gebliebenen Selbstdarstellung hebt Simmel hervor: „Ich bin von erkenntnistheoretischen und kantwissenschaftlichen Studien ausgegangen, mit denen geschichtliche und sozialwissenschaftliche Hand in Hand gingen. Das erste Ergebnis davon war das (in den .Problemen der Geschichtsphilosophie' durchgeführte) Grundmotiv; daß .Geschichte' die Formung des unmittelbaren, nur erlebenden Geschehens gemäß den Aprioritäten des wissenschaftlichen Geistes bedeutet, genau wie ,Natur' die Formung des sinnlich gegebenen Materials durch die Kategorien des Verstandes bedeutet." 29
Daß Simmel einer der originellsten Interpreten Kants war, muß heute erst wieder bewußt gemacht werden. Sein Name ist vornehmlich mit der Begründung der Soziologie verknüpft. Aber er begründet die wissenschaftliche Soziologie in Deutschland noch philosophisch und hält mit der „transzendentalen Theorie der Gesellschaft" (H. Schelsky) einen sozialphilosophischen Deutungsanspruch fest, der der bundesdeutschen Soziologie weithin verlorenging.30 In einem 1908 verfaßten Gutachten heißt es über Simmel, er habe „die Soziologie aus dem Stande empirischer Sammlungen und allgemeiner Reflexionen zum Range einer wahrhaft philosophischen Untersuchung" 31 erhoben. Seinen für das Fach konstitutiven Aufsatz über Das Pro-
28 So Simmel in einem Brief vom 15.7.1896 an Georg Jellinek; zit. in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 588. 29 Simmel, Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung, in: Gassen/Landmann, Buch des Dankes, S. 9. 30 So die frühe Kritik von Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959. 31 Gutachten der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg zur Begründung des zweiten Listenplatzes für die Besetzung der Zweiten Professur für Philosophie, auszugsweise in: Gassen/Landmann, Buch des Dankes, S. 25.
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blem der Sociologie schreibt Simmel als Philosoph. Der Text wird in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft32 publiziert. So durchlässig sind damals noch die Grenzen zwischen der Philosophie und ihren Tochterdisziplinen. Simmeis Fürsprecher Max Weber ist dafür ein anderes Beispiel: Er kommt als Jurist und Nationalökonom zur Soziologie, stellt allerdings, anders als Simmel, seine philosophischen Interessen hinter einzelwissenschaftliche Fragen und methodologische Betrachtungen zurück. Erst heute wissen wir, wie stark sein Denken von den Problemen der zeitgenössischen Philosophie durchdrungen ist.33 Zu den philosophischen Anregern Simmeis gehört Friedrich Nietzsche. Dessen verzweifelte Suche nach dem Wert des individuellen Daseins und nach dem Sinn der Kultur treibt nicht nur die Künstler und die Propagandisten neuer Weltanschauungen um; sie wird auch zum Stimulus historischer, soziologischer und psychologischer Forschung.34 Simmel ist einer der ersten, die Nietzsche in den akademischen Diskurs der Philosophie einführen. Vor ihm unternimmt bereits Alois Riehl eine Gesamtdarstellung der Philosophie Nietzsches.35 Und wiederum vor diesem macht Dilthey auf Nietzsche aufmerksam. Beide - Dilthey und Nietzsche - lehren sogar kurze Zeit nebeneinander in Basel, ohne allerdings miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch wenn Dilthey Nietzsche selten nennt, so ist inzwischen erwiesen, daß er viel von ihm gelernt hat.36 Simmel bringt Nietzsche - nach Riehl37 und unausdrücklich mit einer These Vaihingers38 - mit einem verhinderten Berliner ins Gespräch: mit Arthur Schopenhauer. Er beantwortet Nietzsches Frage neu, was er von Schopenhauer als Erzieher gelernt habe. Wie Nietzsche betont Simmel dabei den fundamentalen Unterschied zwischen Schopenhauers Pessimismus und Nietzsches Optimismus. Simmeis Begründung ist jedoch durch den Ausgangspunkt bei Kant geklärt: Nietzsche kann das Werden bejahen, meint Simmel39, weil er den Entwicklungsgedanken nach Darwin auf-
32 Vgl. Simmel, Das Problem der Sociologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 18 (1894), S. 1301-1307. 33 Siehe dazu: Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987; ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996. 34 Vgl. Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 208f. 35 Vgl. Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, Leipzig 1897. 36 Bezug Diltheys auf Nietzsche schon bei Max Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 311-339; dazu vgl. Arthur Liebert, Wilhelm Dilthey. Eine Würdigung seines Werkes zum 100. Geburtstag des Philosophen, Berlin 1933; Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz: Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992. 37 Riehl, Philosophie der Gegenwart, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 213ff. 38 Vaihinger, Nietzsche als Philosoph (1902), 4. Aufl., Berlin 1916, bes. S. 39, 44, 32: „Nietzsches Lehre ist positiv gewendeter Schopenhauerianismus, und diese Umwendung [...] geschah unter dem Einfluß des Darwinismus". 39 Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vorlesungszyklus, Leipzig 1907, S. 4ff.
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gefaßt hat. Der Antiindividualismus von Schopenhauers Willensmetaphysik sei ein philosophisches Mißverständnis Kants 40 ; psychologisch unhaltbar verleugnet es das Glück der ästhetischen Kontemplation und den Unterschied von Mitleid und Liebe. 41 Simmeis Berliner Vorlesungszyklus über Schopenhauer und Nietzsche ist eine lebensphilosophische Kritik des Pessimismus. Simmel meint, daß Nietzsche die Selbstbejahung des individuellen Lebens, anders als Schopenhauer, richtig begriffen und dabei mit der Lehre von der ewigen Wiederkunft auch das optimistische Ethos analog Kants Kategorischem Imperativ erfaßt habe: „Darf man dies mit einer von Kant geschaffenen Kategorie formulieren: so sollen wir in jedem Augenblick, gleichviel wie er in der Wirklichkeit beschaffen ist, leben, also ob wir uns zu dem, was auf der ideellen Entwicklungslinie über diese momentane Wirklichkeit unser selbst hinausliegt, entwickeln wollten - wie wir leben sollen, als ob wir so lebten, d.h. als ob es eine ewige Wiederkunft gäbe." 42 Wie Dilthey begreift Simmel Philosophie als Ausdruck eines individuellen „Lebensgefühls" und Seins. 43 Philosophisch bringt er heraus, daß die Selbstbejahung des Lebens den Optimismus impliziert. Simmel verbindet seinen lebensphilosophischen Optimismus mit einer Betonung der „Tragödie" und des „Konflikts" der „modernen Kultur". Er vertritt damit keinen pauschalen Kulturpessimismus, sondern problematisiert vom Standpunkt der individuellen Lebensbejahung das Verhältnis des Individuums zu den - in zeitgenössischer Terminologie gesprochen - symbolischen Formen und dem objektiven Geist der Kultur. Man hat Simmel, auch in Berlin, oft als Modephilosophen gescholten. Dabei neidete man ihm den Zulauf und vergaß, daß der unberufene, nichtbeamtete Privatdozent auch von den Kolleggeldern und seiner Feder lebte. Aber schon Schopenhauer und Nietzsche zeigt, wie souverän Simmel die Moden philosophisch aufnimmt und überwindet. Im geistigen Leben Berlins hätte Simmel dem Denken Nietzsches auch kaum ausweichen können. Die Metropole ist besonders sensibel für die Strömungen der Zeit. Und wenn je ein Philosoph zur Zeitströmung gehörte, dann der unzeitgemäße Nietzsche. In den literarischen Kreisen der Hauptstadt gilt er lange vor der Jahrhundertwende als der Philosoph der Zukunft. Simmel nimmt die neuen soziologischen und psychologischen Einsichten auf und bezieht sie anschaulich auf die Probleme der modernen Kultur. Unscheinbare ästhetische Gegenstände werden unter seinem Blick zu beredten Zeugnissen der menschlichen Welt. Seine Art zu Denken zieht das großstädtische Publikum in seine Vorlesungen; in seinem offenen Haus trifft sich die gebildete Welt Berlins. Anders als Fichte begeistert er nicht durch das Feuer seiner Rede, son-
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Ebd., vgl. S. 26 ff. Vgl. ebd., S. 76ff., 139ff., 166f. Ebd., S. 254. Vgl. ebd., S. 28ff., 179ff., 261 ff.
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dem durch Scharfsinn, Eleganz der Beweisführung und die literarische Prägnanz seiner Einsichten. Simmel ist ein Denker, der bei aller Neugierde aus sich heraus kritisch prüft und entwickelt. Diltheys Ideal der „Selbstbesinnung" entspricht er nahezu vollkommen. Dennoch ist Simmeis Karriere ein universitärer „Leidensweg" (K. C. Köhnke). Simmel wird in akademischen Belangen übergangen und bleibt lange Privatdozent; dann wird er zum Extraordinarius ernannt, was ihm nicht einmal das Promotionsrecht einbringt. Erst 1914 erhält er einen Ruf an die Universität Straßburg, dem er damals folgt wie andere ihrer Einziehung zum Militär. Dem Theologen Adolf von Harnack (1851-1930) schreibt er damals: „Sehr verehrter Herr Geheimrat! Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundlichen Glückwünsche zu dem Straßburger Ruf. Sie können sich denken, daß, wenn ich ihn annehme (worüber ich mich noch nicht entschieden habe), es nicht leichten Herzens geschieht. Denn die Wirkungen auf unsere philosophische Kultur, die ich in Berlin ausüben kann, lassen sich nicht leicht anderswo erzielen. Daß auch Sie mein Fortgehen bedauern, ist sehr gütig von Ihnen. Es wäre leicht gewesen, mich zu halten - eine ganz bescheidene materielle Sicherung hätte dazu ausgereicht." 44
Auch dies ist wohl noch ein letzter Wink an den einflußreichen Fürsprecher beim Ministerium und ersten Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Es bleibt jedoch beim Ruf nach Straßburg. Straßburg war erst mit der Reichsgründung wieder an Deutschland gefallen. Die Universität wurde 1872 neu eröffnet. Simmel kommt 1914 also an eine Grenzlanduniversität, die bald im Kriege steht. Auch er publiziert damals für den Krieg und veröffentlicht 1917 eine Broschüre mit Reden und Aufsätzen unter dem Titel Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Durch seine überschwengliche Kriegsbegeisterung macht er sich damals viele Feinde, darunter den jungen Ernst Bloch (1885-1977). Er publiziert in diesen Jahren aber auch sein RembrandtBuch, Grundfragen der Soziologie, den wichtigen Vortrag Der Konflikt der modernen Kultur sowie sein philosophisches Vermächtnis Lebensanschauung. Simmel stirbt am 26. September 1918 an Leberkrebs, wenige Wochen bevor Straßburg wieder an Frankreich fällt. Seine Straßburger Zeit ist zu kurz und zu belastet, als daß Simmel dort eine neue, größere Wirksamkeit hätte entfalten können. Vielleicht traf Werner Sombarts (1863-1941) Bonmot etwas Richtiges, als er auf die Frage, warum Simmel in Berlin keine ordentlich Professur erhielt, zur Antwort gab: „Er ist zu fein." In der Tagespresse wurde Simmeis Weggang von Berlin ähnlich kommentiert: „Man kann sich zu seiner Philosophie anders stellen als die unbedingten Bewunderer [...], man muß aber doch sagen, daß er ein Einzelner, ein Seltener auf jeden Fall ist und daß ihn die Universität hätte halten müssen." 45 44 In: Gassen/Landmann, Buch des Dankes, S. 82. 45 F. Bruckner/T. Tagger, Georg Simmel, in: Die Zukunft 89 (1914), S. 37.
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War das wirklich so selbstverständlich? Als Simmel lehrt, ist die Fakultät hervorragend besetzt. Seine ersten Publikationen sind keineswegs durchschlagend, und erst seine soziologischen Hauptwerke legen eine Berufung nahe. So zielt der Abschluß der Sociologie auch auf eine Berufung nach Heidelberg ab,46 die aber scheitert. Für ein Berliner Ordinariat kommt Simmel damals bei seinen sozialphilosophischen Themen und Methoden sachlich kaum in Frage. Ein Versäumnis mag es aber gewesen sein, daß Simmeis Extraordinariat nicht besoldet wurde. Daß Simmel mit einer solchen Lösung zufrieden gewesen wäre, deutet noch sein Brief an Harnack an. Harnack aber setzt sich damals nicht für Simmel, sondern für die Berufung von Ernst Troeltsch (1865-1923) ein, die 1914 erfolgt. Troeltschs Historismus-Buch von 1922 enthält eine erste umfangreiche Auseinandersetzung mit Simmel, die einige der Berliner Vorbehalte benennt. Auch Troeltsch lehnt Simmeis Jugendschriften scharf ab. Sie seien „der trostloseste Relativismus und Historismus ohne jeden Rest von Gläubigkeit an das historische Leben, lediglich ein Spiel des Intellekts"47. Immerhin habe Simmel echte Probleme gesehen. Sein „Wendepunkt" sei seine Auseinandersetzung mit Kant. Da habe er den „tragenden Balken der Transzendentallogik" ergriffen und insbesondere mit der Überarbeitung seiner Probleme der Geschichtsphilosophie eine „transzendental-logische Theorie der historischen Formung" vorgenommen, die Problemstellungen von Windelband und Dilthey originär weiterführte. Die „Befreiung vom Historismus" sei Simmel freilich nicht wimich gelungen. Sein „Uebergang zur Metaphysik" sei Schopenhauer verpflichtet geblieben. Die „absolute Situation des Weltkrieges" habe ihn zwar als Erfahrung und Chance zur Überwindung des Relativismus ergriffen: „Zum erstenmal berührt den spielenden Intellekt ein Hauch wirklich historischen Lebens, und da hört man auch sofort neue Töne. Freilich nicht lange. Denn gleich meldet sich wieder der Skeptiker und Pessimist"48. So lehnt Troeltsch auch Simmeis späte „Lebensmetaphysik" ab. Dagegen würdigt er die „Historik": „Sie ist nicht fertig, aber sie sieht alle Probleme und beleuchtet alle neu" 49 . Troeltschs Resümee dürfte damals auch anderen Berlinern aus dem Herzen gesprochen haben: „Simmel ist ein Kind und Liebling der Moderne mit allen ihren furchtbaren Krankheiten und Schwächen. Er hat mit der Moderne das Ich [...] in das nach allen Seiten zerfließende, bloße .Leben' verwandelt und das eigentliche Ich aus diesem Lebensstrom nur wie eine flüchtige Welle sich bilden lassen. Indem er aus diesem Ich-Phänomen eine Drehung zur Idee sich vollziehen läßt, nähert er sich dem Piatonismus und Kantianismus, doch ohne Gott und ohne Seele und darum nur in einzelnen, immer neuen, nie vollendeten und nie zusammengreifenden Ansätzen" 50 . 46 Otthein Rammstedt, Editorischer Bericht, in: Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 901 ff. 47 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 572-595, hier: 573. 48 Ebd., S. 585. 49 Ebd., S. 594. 50 Ebd., S. 593f.; vgl. Heinrich Scholz, Religionsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1922, S. 267ff.
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Troeltschs Kritik scheint beinahe auf den Vorwurf hinauszulaufen, daß Simmeis Metaphysik keine christliche Dogmatik ist. Sie stößt in Berlin auf eisige Ablehnung, trotz oder wegen ihrer Nähen zur herrschenden Lebensphilosophie und Weltanschauungslehre. Konfessionelle Motive werden dabei - bei protestantischen Theologen wie Harnack und Troeltsch - eine Rolle spielen. Erst nach Simmeis Weggang wird die Sozialphilosophie bestallt. Alfred Vierkandt (1867-1953) profitiert in den zwanziger Jahren vom Institutionalisierungskampf der Gründergeneration der Sozialphilosophen.51
b.
Ein Integral philosophischer
Forschung: Ernst
Cassirer
Etwas anders liegt die Sache bei Ernst Cassirer (1874-1945). Cassirer beginnt 1892 sein Studium in Berlin und stößt in Simmeis Kolleg auf das Werk Hermann Cohens. 1896 wechselt er nach Marburg, wo er der Lieblingsschüler Cohens wird und 1899 über Descartes' Erkenntnistheorie promoviert. Die Arbeit geht in Cassirers erste Monographie über Leibniz' System ein. Cassirer will sich daraufhin in Berlin, Straßburg, Göttingen oder Marburg habilitieren. Beim Scheitern dieser Vorhaben spielt der grassierende Antisemitismus eine Rolle. Cohen sah es jedenfalls so.52 Mit dem ersten Band seiner Geschichte des Erkenntnisproblems unternimmt Cassirer daraufhin einen zweiten Anlauf in Berlin. Der gerade berufene Riehl ist für eine solche Fragestellung zuständig. Riehl betrachtet die Geschichte der Erkenntnistheorie, ähnlich wie Cassirer, im Zusammenhang der Wissenschaftsgeschichte. Er kann Cassirers Arbeit also in engem Zusammenhang mit den eigenen Forschungen als eine Weitelführung der geschichtlichen Perspektive und eine engere Zusammenführung der Geschichte des Kritizismus mit der Revolution der neuzeitlichen Wissenschaften schätzen, kritisiert jedoch das „Hineinlegen eines fertigen Schemas in die geschichtlichen Tatsachen"53. Trotz dieser „methodischen Fehler" läßt die Fakultät Cassirer zur Probevorlesung zu; 51 Dazu vgl. Otthein Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies, und Max Weber, Frankfurt 1988. In Berlin setzte bald eine Simmel-Forschung ein. So betreute Vierkandt 1931 schon eine Dissertation über Simmel (Zweitgutachter H. Maier): Hersch-Leib Woyslawski, Georg Simmeis Philosophie des kapitalistischen Geistes, Diss. Berlin 1931 ; Spranger promovierte (Zweitgutachter Dessoir) 1932 die erwähnte Arbeit von Hermann Gerson, Die Entwicklung der ethischen Anschauungen bei Georg Simmel; vgl. auch den Nekrolog von Max Frischeisen-Köhler, Georg Simmel, in: Kant-Studien 24 (1919), S. 1-51, der Simmel von Dilthey distanziert und eher an Hegel annähert. 52 Siehe John M. Krois, Ernst Cassirer 1874-1945, in: Hamburgische Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen, hrsg. v. Verein für Hamburgische Geschichte, Bd. 8: Die Wissenschaftler, Hamburg 1994, S. 11-40; ohne nähere Angaben dagegen Heinz Paetzold, Ernst Cassirer: von Marburg nach New York, Darmstadt 1995, S. 14f. 53 UAHU, Phil.Fak. 1228, Bl. 91.
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Riehl und Dilthey müssen jedoch Stumpf gegenüber die „volle Verantwortung" übernehmen. Cassirers Probevorlesung handelt 1906 schon über Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 1914 wird Cassirer, zusammen mit Frischeisen-Köhler, zum Titularprofessor ernannt54. 1917 stößt Erdmann in der Fakultät vor, Cassirer habe „längst ein Ordinariat verdient": „Nur seine Herkunft und philosoph. Parteistellung" sei ihm hinderlich.55 Riehl, Stumpf und Troeltsch unterstützen die Initiative. Die Fakultät beantragt für Cassirer daraufhin, nach Simmeis Weggang, „ein Extraordinariat mit entsprechendem Gehalt".56 Noch bevor die Entscheidung fallt, erhält Cassirer aber einen Ruf nach Hamburg, dem er 1919 folgt.57 1921 steht er in Berlin hinter Heinrich Maier (1867-1933) an zweiter Stelle für die Nachfolge von Erdmann. Immer noch bestehen jedoch Bedenken gegen Cassirers Neigung, mit „Mangel an geschichtl. Sinn" ein „von vornherein festgelegtes Gedankensystem" an den geschichtlichen Stoff heranzutragen. Cassirer wird hier noch primär als Historiker wahrgenommen, der die Geschichte nach Marburger Art konstruktiv verzeichnet. Deshalb wird Maier vorgezogen, und Maier nimmt an. Später bringt die Fakultät Cassirer erneut ins Gespräch, diesmal für die Nachfolge des 1923 verstorbenen Troeltsch. Sie setzt sich damit in einen Gegensatz zu dem neuen Kultusminister Adolf Grimme (1889—1963)58, der den jung berühmten Heidegger berufen will. Besonders Dessoir plädiert immer wieder für Cassirer.59 Die Sache wird verschleppt. Als die Fakultät in einem langen Schreiben vom 1. März 1930 auf Entscheidung dringt, macht sie geltend, nach drei Bänden Philosophie der symbolischen Formen habe Cassirer sich von seiner früheren „neukantianischen Befangenheit" 60 gelöst und stehe weit vor Hartmann, der von Marburg nach Köln gegangen ist und inzwischen - neben Heidegger - zur Konkurrenz gehört. Cassirer wird „allein" an einziger Stelle von der Fakultät vorgeschlagen. Von Heidegger sei „vielleicht Sensation, sicher aber keine solide Schulung im philosophischen Denken" zu erwarten. Doch das Ministerium bleibt bei seiner Ablehnung. Zum Kompromiß wird Hartmann berufen. Die Fakultät weiß damals sehr wohl, wer Cassirer ist. Daß er zu einem vollen philosophischen Ordinariat befähigt ist, wird in Berlin kaum bezweifelt. Zwar stößt 54 55 56 57
UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 37. UAHU, Phil.Fak. 1439, Bl. 193. UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 189-192. Dazu vgl. Barbara Vogel, Philosoph und liberaler Demokrat. Emst Cassirer und die Hamburger Universität von 1919 bis 1933, in: Dorothea Frede und Reinold Schmücker (Hrsg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung, Darmstadt 1997, S. 185-214. 58 Dazu vgl. Dieter Sauberzweig, Adolf Grimme, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber, hrsg. v. Wolfgang Treue u. Karlfried Gründer, Berlin 1987, S. 285-305. 59 UAHU, Phil. Fak. 1471, Bl. 111. 60 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 371-374.
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Cassirer von seiner Marburger Richtung her auf einige Vorbehalte in der Fakultät: Man möchte in ihm zunächst weder den gediegenen Historiker noch den Systematiker erkennen. Doch diese Vorbehalte schwinden mit der Zeit. Unter den sachlichen Gründen ist wohl einer ausschlaggebend: Die Stelle des Erkenntnistheoretikers ist durch Riehl besetzt. Neben Riehl ist für Cassirer als Ordinarius kein Platz. So muß er dreizehn Jahre warten, bis ihn Rufe an die republikanisch gegründeten Universitäten Frankfurt und Hamburg erreichen. Cassirer entscheidet sich für Hamburg, wo er vierzehn Jahre später 1933 vor den Nazis flieht, noch ehe sie ihn vertreiben können. Cassirer kommt als Vertreter der Marburger Richtung des Neukantianismus nach Berlin, ohne dort einen entschlossenen Fürsprecher und Förderer zu haben. Aber auch wenn er seine Lehrer Cohen und Natorp stets in Ehren hält, geht er philosophisch doch bald eigene Wege. Souverän verfügt er über die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie von der Renaissance bis zur Gegenwart, gewinnt aus den Werken von Leibniz und Kant aktuelle Einsichten, die er für eine geschichtlich fundierte Theorie des Erkennens nutzt. Nicht zuletzt durch die in Berlin entstehende kritische Ausgabe seines Nachlasses beginnt man inzwischen Cassirer auch als Kultur- und Lebensphilosophen zu begreifen,61 der Motive Dilthey s und Simmeis aufnimmt und ingeniös integriert. So läßt sich Simmeis Philosophie des Geldes durchaus als Analyse einer „symbolischen Form" deuten, durch die sich Cassirer anregen ließ. Entschieden distanziert sich Cassirer allerdings von Simmeis „tragischer" Auffassung der modernen Kultur.62 Sein vierbändiges Material- und Lebenswerk über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, zwischen 1906 und 1950 erschienen, ist auch eine Antwort auf Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften. Beschreibt Dilthey die „Metaphysik der substantialen Formen" als eine Antwort auf die Entstehung positiver Wissenschaft in Europa, die das „mythische Vorstellen" überwindet, so setzt Cassirer mit der Renaissance genau in der Epoche ein, die mit der Entstehung einer neuen Wissenschaft die „Auflösung der metaphysischen Stellung zur Wirklichkeit" brachte. Auch Dilthey erfaßt die Entstehung eines „modernen wissenschaftlichen Bewußtseins", von der mechanischen Naturerklärung der neuen Naturwissenschaften ausgehend,63 betont aber die Begründung der modernen Geisteswissenschaften gegen diese Naturwissenschaften. Danach setzt die „mechanische Naturerklärung" die Selbstbesinnung des Individuums auf den zweckhaften Strukturzusammenhang seines Lebens frei. Etablieren sich die Naturwissenschaften seit der 61 Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996; Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. 62 Auf diese beiden Berührungspunkte der Nähe und Differenz verweist Willfried Geßner im Themenheft des Simmel Newsletter 6 (1996), S. 1 ff., 57ff. 63 Vgl. dazu Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 35 Iff.
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Renaissance als kausalmechanische Erklärungswissenschaften, so konstituieren die Grenzen ihrer Methode die Möglichkeit der Geisteswissenschaften als Wissenschaften vom Strukturzusammenhang des Geistes. Der zweite Band von Diltheys Gesammelten Schriften behandelt das „natürliche System" der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, das, so Diltheys weitere Linienführung, in Preußen durch die entstehende Historische Schule überwunden werden konnte. Mit dieser Konzentration des historischen Focus auf die Geisteswissenschaften ist Cassirer nicht einverstanden, schon weil sie zu einer Opposition von Natur und Geist führt, die er ablehnt. Diese Differenzierung der Seele von den Formen liefe auf eine tragische Sicht der Kultur hinaus, die Cassirer bei Simmel kritisiert. Er gibt eine andere Beschreibung des Verhältnisses von Freiheit und Form, wonach der Prozeß der Symbolisierung selbst ein Freiheitsgewinn ist. Diese Zielrichtung seines Werkes zeichnet sich schon in der Berliner Zeit ab. 1906/07 erscheinen die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems, die die philosophische Erkenntnistheorie im Zusammenhang der neuzeitlichen Wissenschaftstheorie beschreiben. Der zweite Band endet mit Kant, dessen Leben und Lehre Cassirer 1918 auch monographisch darstellt. Der dritte Band erscheint 1920 und beschreibt die nachkantischen Systeme. Der vierte Band, während des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen, erscheint 1950 aus dem Nachlaß und bringt die Entwicklungen der modernen Biologie und der historischen Erkenntnis in Verbindung mit den revolutionären Entdeckungen in Geometrie und Physik. Schon 1910 zieht Cassirer aber mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff64 ein erstes systematisches Fazit seiner Studien zur Geschichte des Erkenntnisproblems. In seiner Philosophie der symbolischen Formen betont er später die Kontinuität seiner erkenntnistheoretischen Arbeit.65 Die Diagnose eines Fortgangs „von den Dingbegriffen zu den Relationsbegriffen" ist demnach der Ausgangspunkt zur Beschreibung der Dynamik der Relationierung als Symbolisierung komplexer Formsysteme. Substanzbegriff und Funktionsbegriff setzt bei der Entwicklung der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert ein. Durch die geschichtliche Betrachtung ist Cassirer auf dem Weg zu einer der veränderten Forschungslage angemessenen Phänomenologie des Erkennens. Während man bis dahin nur den Blick auf die bereits von Kant mehr oder minder stark betonten Modi des Erkennens, also auf das Selbstbewußtsein (Fichte, Schelling), die Sprache (Humboldt), die Geschichte (Hegel, Schleiermacher) und die Elementarvorgänge des Lebens (Schopenhauer, Lotze, Nietzsche, Dilthey) richtet, löst Cassirer die Erkenntnis von ihrer Bindung an ein substantiell verstandenes
64 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfrage der Erkenntniskritik, Berlin 1910. 65 Dazu vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde., 1923-1929, 9. Aufl., Darmstadt 1994, Bd. 1, S. V, Bd. 3, S. V, 554.
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Ding. Dies gelingt ihm ohne metaphysischen Aufwand. Denn zunächst beschreibt er nur, wie die Mathematik, die Logik und die Naturwissenschaften der vorangegangenen Jahrzehnte zu ihren Einsichten gelangt sind. Dabei treten Gemeinsamkeiten hervor, die den philosophischen Schluß auf die epistemische Priorität des dynamischen Gebrauchs des Wissens - und nicht auf eine statische Korrelation mit den Dingen - erlauben. Die Begriffe erfassen keine unabhängig bestehende Realität, sie sind nicht die (geistigen) Repräsentanten einer (stofflichen) Substanz, sondern ihre Leistung liegt in der Funktion, die sie im Zusammenhang möglicher Aussagen haben. Erst die „Beständigkeit im logischen Gebrauch" führt uns auf die „Beständigkeit des Seins" 66 . Kants kopernikanische Wendung wird hier noch einmal durchdacht. Wie Dilthey und Simmel ist auch Cassirer ein philosophischer Zeitgenosse Nietzsches. Dieser trumpft gegen Kant auf, es komme längst nicht mehr darauf an, ob es „Dinge an sich" gäbe; entscheidend sei, warum der Mensch den Glauben an solche absoluten metaphysischen Dinge nötig habe, und kokettiert mit vagen Antworten. Cassirer gibt dagegen klare Begründungen: „Wir bedürfen nicht der Objektivität absoluter Dinge, wohl aber der objektiven Bestimmtheit des Weges der Erfahrung selbst."67 Die aber zeige sich nirgendwo anders als in der gelingenden Erkenntnisleistung, genauer: in den logischen (und mathematischen) Funktionen, in denen sich unser tätiges Erkennen bewegt. Erkenntnistheorie wird damit eng mit der Geschichte des Wissens - und das heißt vor allem: mit der Wissenschaftsgeschichte - verknüpft. Konzentriert Cassirer sich zunächst auf die „exakte" Wissenschaft, auf die Mathematik und die mathematische Physik, so weitet er seine „Phänomenologie der Erkenntnis" später auch auf die historischen Kulturwissenschaften aus. In der historisch wie systematisch entfalteten Abgrenzung von „Substanzbegriff' und „Funktionsbegriff' stellt er der modernen Wissenschaft eine treffende Diagnose. Die Rationalität unserer Epoche ist funktional; sie hat keinen Halt und keine Grenze in irgendeiner substantiellen Gegebenheit. Es bestätigt die wissenschaftliche Bedeutung der gerade hundert Jahre alten Berliner Universität, daß Cassirer sich in Substanzbegriff und Funktionsbegriff vorzugsweise auf Naturwissenschaftler der Friedrich-Wilhelms-Universität bezieht. Johannes Müllers Theorie der Empfindungen bildet den Ausgangspunkt seiner Erörterung des Problems der Realität.68 Dann werden Überlegungen von Helmholtz über den Aufbau räumlicher Anschauungen weitergeführt. Es ist Helmholtz' „Theorie der .Relativität'", an der Cassirer abschließend den Grundgedanken seines epistemologischen Funktionalismus exemplifiziert. Er zitiert:
66 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 429. 67 Ebd., S. 428. 68 Vgl. ebd., S. 381 ff.
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„Jede Eigenschaft oder Qualität eines Dinges ist in Wirklichkeit nichts anderes, als die Fähigkeit desselben, auf andere Dinge gewisse Wirkungen auszuüben [...] Eine solche Wirkung nennen wir Eigenschaft [...] Wenn aber, was wir Eigenschaft nennen, immer eine Beziehung zwischen zwei Dingen betrifft, so kann eine solche Wirkung natürlich nie allein von der Natur des einen Wirkenden abhängen, sondern sie besteht überhaupt nur in Beziehung auf und hängt ab von der Natur eines zweiten, auf welches gewirkt wird." 69
Nur durch die „Kategorie der Beziehung" gelangen wir zur „Kategorie des Dinges" 70 . In dieser Schlußfolgerung stützt sich Cassirer auf einen anderen großen Physiker der Berliner Universität, dessen Name bis heute Weltgeltung hat: auf Max Planck. Der betont in seinem 1909 publizierten Vortrag über Die Einheit des physikalischen Weltbildes'wie sehr die physikalischen Theorien mit dem Verlust an sinnlicher Anschaulichkeit zunehmend auf die Kriterien der Einheit und Geschlossenheit angewiesen sind. Was als Realität im physikalischen Sinn gelten kann, ist von der logischen Konsistenz der entsprechenden physikalischen Theorie abhängig. Darin sieht Cassirer eine Bestätigung seiner Auffassung von der ontologischen Priorität epistemischer Prozesse: Nicht die „Identität letzter substantialer Dinge", sondern die „Identität funktionaler Ordnungen und Zuordnungen" 72 bestimmt darüber, was wir als Wirklichkeit begreifen und was nicht. Auch die zwischen 1905 und 1916 von Albert Einstein entwickelte Relativitätstheorie faßt Cassirer als Bestätigung seiner Erkenntnistheorie auf. Er ist einer der wenigen Philosophen, die sich an der Debatte über Einsteins revolutionäre Einsichten in die Relativität von Masse und Energie, von Raum, Zeit und Bewegung noch sachlich beteiligen können. 73 So wird Cassirer in Berlin zu einem wichtigen Vermittler zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Seine systematische Leistung durchdringt die Einzeldisziplinen auf die Grundprobleme der Philosophie. Cassirer führt die Philosophie aus ihrer Verengung auf die Geisteswissenschaften wieder heraus und begreift die Geisteswissenschaften schon in seiner Berliner Zeit mit zunehmender Intensität als „Kulturwissenschaften" neu. 74 Er betreibt sie mit maßvollem politischem Engagement. Die „Ideen von 1914" sind ihm 1916 in Freiheit und Form ein Anstoß zur Beschreibung des „Wesens des deutschen Geistes" und seiner „weltgeschichtlichen 69 Hermann Helmholtz, Die neuen Fortschritte in der Theorie des Sehens, in: ders., Vorträge und Reden, 4. Aufl., Braunschweig 1896, S. 321; vgl. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 406. 70 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 407 ff. 71 Siehe dazu: Max Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909. 72 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 431. 73 Vgl. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921. 74 Diese Tradition wird heute, nicht nur mit Bezug auf Simmel und Cassirer, von Oswald Schwemmer aufgenommen und fortgesetzt: dazu ders., Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997.
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Die unberufenen Potentaten
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Bestimmung" als der Entfaltung der Freiheitsidee Kants zur Kulturform des „ästhetischen Humanismus" der Goethezeit. 75 Damit gerät Cassirer in eine Kontroverse um den Begriff der Nation. 76 Im Goethe-Kapitel von Freiheit und Form exponiert er mit dem Begriff der Metamorphose einen Grundbegriff seiner späteren Philosophie und deutet seine Arbeitsrichtung an. Noch in die Berliner Zeit fallen die ersten Weichenstellungen zur Philosophie der symbolischen Formen. Schon in dieser Zeit ist sein Werk ein Integral philosophischer Forschung. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen legt dann den Grund für eine allgemeine Analyse der geistigen Funktionen und Ausdrucksformen. Dabei erscheint die naturwissenschaftliche Begriffsbildung nur mehr als eine besondere Form der Weltauslegung. Jedes Erkennen und Verstehen vollzieht sich in „symbolischen Formen". Sprache, Religion und Mythos und schließlich die wissenschaftliche Erkenntnis sind Glieder eines großen Problemzusammenhanges, den sich der Mensch erschafft und zu erschließen sucht. In diesem Kreislauf von Problemstellung und Lösungsversuch besteht die menschliche Kultur. Sie ist die unumgängliche und immer wieder neu zu leistende Arbeit des Menschen an sich selbst. 77
75 Dazu Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, Vorwort; ders., Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze, Berlin 1921. 76 Dazu Ulrich Sieg, Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbekanntes Manuskript, in: Leo Baeck Institute Bulletin 88 (1991), S. 59-95. 77 Dazu zusammenfassend vgl. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944; dt. Versuch über den Menschen, Frankfurt/M. 1990.
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Zwei Kandidaten des Ministeriums
Aus der Retrospektive einer philosophierenden Philosophiegeschichtsschreibung ist es mehr als bedauerlich, daß Simmel und Cassirer in Berlin nicht berufen wurden. Denn für die philosophische Traditionskonstruktion hätte ihre Berufung Sinn gemacht. Insbesondere Cassirers Philosophie läßt sich im Kontext der damaligen Gegenwartsphilosophie als eine Weiterentwicklung von Ansätzen Diltheys betrachten. Die Fakultät bemüht sich für die Nachfolge von Riehl und Simmel auch verstärkt um Cassirer. Sie will ihn freilich nicht als Nachfolger im Sinne einer bewußten Fortsetzung der Linie Diltheys. Wenn eine solche bewußte Traditionsbildung für die Fakultät überhaupt ein Motiv ist, so ist es mit der Berufung Sprangers 1920 saturiert. Allerdings gibt es in den Begründungen ihrer Listen immer auch Hinweise auf die Tradition. Die Pflege von Diltheys Erbe zeigt sich schon in der Entscheidung der Preußischen Akademie, dessen Gesammelte Schriften zu edieren. Doch selbst wenn eine bewußte Traditionsbildung für die Berufungswünsche der Fakultät ausschlaggebend gewesen wäre, so genügte dieser Nachweis zur historischen Rekonstruktion von Berufungsentscheidungen nicht. Denn die Fakultät kann nur wohlerwogene Wünsche äußern, die das Ministerium im Interesse eines harmonischen Verhältnisses und störungsfreien Betriebs berücksichtigt. Letztlich entscheidet aber das Ministerium allein. Dem Vorschlagsrecht der Fakultäten entspricht ein Recht der Oktroyierung durch das Ministerium. Der Virtuose dieses Verfahrens, der auf der Klaviatur des Ministeriums ebenso zu spielen vermochte wie auf derjenigen der Fakultät, ist in Wilhelminischer Zeit der „allmächtige Ministerialdirektor" Friedrich Althoff (1839-1908). Althoff stammt aus der rheinischen Provinz Preußens; er studiert Jurisprudenz in Bonn und tritt nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 als Justitiar in das Straßburger Zivilkommissariat und spätere Oberpräsidium der neuen „Reichslande" ein. In diesem neuen Reichsgebiet kann die Bürokratie ihren Planungsehrgeiz damals ohne föderale Fesseln entfalten. Althoff wirkt maßgeblich an der Neugründung der Straßburger Reichsuniversität und der Berufung ihres Lehrkörpers mit. Er selbst wird dort Ordinarius für Zivilrecht, ohne je auch nur promoviert zu haben, und steht somit auf beiden Seiten des kooperativen Verfahrens. Althoff ist ein quirliger, exzentrischer Praktiker des
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Zwei Kandidaten des Ministeriums
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bürokratischen Liberalismus. Es gibt nicht einmal umfassende Reformprogramme oder Planungsvisionen aus seiner Feder. Dennoch ist es Althoff, der das preußische Universitätswesen weitsichtig auf Weltniveau hebt. Schon in der Straßburger Zeit bindet er exzellente Mitarbeiter und ein System von Vertrauensleuten an sich. Dieser „Bismarck des Hochschulwesens", wie er von Zeitgenossen genannt wurde, entwickelt ein „persönliches Regiment", das „System Althoff', das das preußische und deutsche Universitätswesen über seinen Tod hinaus prägt. 1882 wechselt er ins preußische Ministerium, wo er u. a. Personaldezernent für die Universitäten wird. „Von 1882 bis zu seinem Abschied am 1. Oktober 1907 hat Althoff unter fünf Kultusministern - von Goßler, Graf von Zedlitz-Trütschler, Bosse, Studt, Holle - zuletzt autokratisch das preußische Hochschulwesen regiert", schreibt sein Historiker Bernhard von Brocke.1 Althoff ist also für die ganze Besetzungspolitik der Blütezeit der Berliner Universität mitverantwortlich. Die Berliner Universität hat ihm viel zu verdanken. So initiiert Althoff die Reorganisation der Charité und den Neubau der Kgl. Bibliothek. Sein größtes Unternehmen ist die Stiftung der KaiserWilhelm-Gesellschaft, die aber erst nach Althoffs Tod zur Säkularfeier der Universitätsgründung 1910 erfolgt. Althoff initiiert auch einen internationalen Wissenschaftsaustausch, insbesondere mit den USA, der die Berliner Philosophie beispielsweise in engeren Kontakt mit William James und Hugo Münsterberg, mit dem Pragmatismus und der Psychophysik bringt. Der Erste Weltkrieg unterbindet dann diese ersten Ansätze, was über die katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs für den Wissenschaftsaustausch oft übersehen wird. Es gibt vor 1914 schon einen intensiven Wissenschaftsaustausch mit den USA, gerade in Berlin. Bemerkenswert ist auch die kernige, geradezu renitente Liberalität dieses Autokraten, die selbst seine Kritiker - wie Max Weber - persönlich einnimmt und viel zur Akzeptanz von Althoffs Oktrois in den Fakultäten beiträgt. Paulsen, einer von Althoffs Vertrauensleuten in der Berliner Philosophie, überliefert das Diktum: „Ich habe in meinem Leben keine Hetze mitgemacht, keine Katholikenhetze und keine Judenhetze"2. Das kooperative Berufungsverfahren hat sich bis heute insgesamt bewährt. Das Recht des Kultusministeriums auf Oktoyierung bestimmter Kandidaten unabhängig von Listen und Listenplätzen kann internen Intrigen, Klüngeleien und Schulbildungen heilsam entgegenwirken.3 Althoff praktiziert sein Oktroyierungsrecht virtuos. Den1 Friedrich Althoff, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber, hrsg. v. Wolfgang Treue u. Karlfried Gründer, Berlin 1987, S. 195-214, hier: 203 (wir folgen hier Brockes Darstellung). 2 Friedrich Paulsen, Friedrich Althoff, in: Internationale Wochenschrift 1 (1907), S. 967-978, hier: 970 (zitiert nach Brocke a. a. O., 206). 3 Dies betont Emst Rudolf Huber bei seiner Darstellung der Rechtsstellung der Universitäten, in: ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart 1969, S. 926ff.; so schon Eduard Spranger, Das Wesen der deutschen Universität (1930), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 82-158, hier 130f.
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Teil III: Blüte
noch kränkt es den korporativen Stolz der Universität auf akademische Selbstverwaltung und führt in einigen Fällen zu Fehlbesetzungen. Deshalb ist die Humboldt-Universität die erste Universität in Deutschland, die das alte Berufungsverfahren im Rahmen ihrer neuen Verfassung 1998 mit guten Gründen abgeschafft und durch ein autonomes Besetzungsrecht (lediglich unter Rechtsaufsicht des Staates) ersetzt hat. In der Berliner Universitätsgeschichte gibt es in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts einen berühmten Streit um die Rechtsstellung der Privatdozenten. Der Streit geht um die Maßregelung und Remotion des Privatdozenten der Physik Leo Martin Arons (1860-1919). Das Ministerium verweigert dessen Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor aufgrund des politischen Engagements für die Sozialdemokratie. Die Philosophische Fakultät protestiert. Der Kaiser Wilhelm II (1859-1941) interveniert höchstpersönlich und verlangt die sofortige Amtsenthebung des Privatdozenten: „Ich dulde keinen Sozialisten unter Meinen Beamten, also auch nicht unter den Lehrern unserer Jugend an der königlichen Hochschule."
Althoff verweigert damals den Vollzug dieses kaiserlichen Befehls unter Berufung auf die mangelnde Rechtsgrundlage. Daraufhin kommt es zu einer gesetzlichen Regelung und einem Dienstverfahren gegen Arons. Die Fakultät entscheidet am 28. Juli 1899 mit Unterschrift von Schmoller, Dilthey, Wilamowitz-Moellendotff, Paulsen u. a. auf Freispruch: Das bloße Bekenntnis eines Privatdozenten zur Sozialdemokratischen Partei sei kein Bekenntnis zum Umsturz und somit kein hinreichender Grund für den Entzug der Venia.4 Durch diese Auseinandersetzungen ist das Verhältnis der Fakultät zum Ministerium lange belastet. Das „System Althoff' wirkt mit seinem ministeriellen Planungsrigorismus auch über den Willen der Universität hinweg - der in Analogie zum Regierungsstil der konstitutionellen Monarchie stand - auch bei seinem Nachfolger nach. Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956) 5 ist schon seit 1888 ein enger Mitarbeiter Althoffs und übernimmt nach dessen Tod insbesondere die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Er setzt auch dessen Politik fort, in Berufungsfragen Listen der Fakultät zu übergehen und Kandidaten zu oktroyieren. Politische und konfessionelle Präferenzen des Ministeriums zeigen sich vor 1918 noch in der Oktoyierung bzw. Durchsetzung zweier Kandidaten: Ferdinand Jakob Schmidt und Ernst Troeltsch. Während die Durchsetzung Troeltschs sich dabei für die Fakultät in verschiedener Hinsicht als Glücksfall erweist, ist die Oktroyierung von Schmidt eine peinliche Verlegenheitslösung. Fluch und Segen der Oktroyierung läßt sich an diesen Exempeln studieren. 4 Darstellung nach Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 950ff. 5 Überblick bei Wolfgang Treue, Friedrich Schmidt-Ott, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin, S. 235-250.
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Zwei Kandidaten des Ministeriums
a.
Der Praktiker: „Direktor
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Schmidt"
Ferdinand Jakob Schmidt (1860-1939) kommt nach dem Tode Paulsens als Vertreter für die Pädagogik. Er ist Schüler des Historikers Hans Delbrück (1848-1929) sowie Adolf Lassons, dem er 1918 die Gedächtnisrede hält.6 1908 publiziert er die Delbrück gewidmete Sammlung philosophischer Studien Zur Wiedergeburt des Idealismus, welche - laut Vorwort - wider die „Götzen dieser Zeit: den Psychologismus, den Historismus und den Positivismus" kämpft. Schmidt geht von der schlichten „Wahrheit des Idealismus" aus, „daß der Geist die Welt gemacht hat" 7 und der „moderne Weltgeist" nach Kant und Hegel aus Deutschland weht. Energisch bekennt er sich zum Protestantismus und zu Harnacks „Wiederbelebung der spekulativen Forschung" wider den „theologischen Positivismus" der Schule Ritschis. 8 Mit Dilthey macht Schmidt den Übergang von Kunst und Religion zur Philosophie. Philosophisch fordert er eine neue „Kant-Orthodoxie" 9 gegen die Vorherrschaft des „Pseudo-Kantianismus" der Neukantianer. Der sei „in Wahrheit nicht auf Kant zurückgegangen, sondern gerade er hat die unmittelbare Weiterentwicklung der kritischen Philosophie durch die Einführung des in seiner Wurzel fremdländischen Positivismus erst tatsächlich unterbrochen". 10 Die „Wiederbelebung der reinen philosophischen Erkenntnisart" sei deshalb eine nationale Erziehungsaufgabe. Schmidt faßt sie in einen etwas gewundenen „Schlachtruf formelhaft gleich mehrfach zusammen: „Vom psychologistischen Positivismus über Kant zur Philosophie zurück und auf dem kritischen Wege vorwärts!" 11 Er propagiert seine „Kant-Orthodoxie" als „spekulative Auffassung" Kants im Sinne Hegels. Dem „Tiefstand" des Kulturlebens unter dem Andrang des fremdländischen Positivismus müsse in den höheren Schulen durch „Einführung in die kritische Philosophie Kants" 12 begegnet werden. Auch die „Frauenbildung" sei hier gefragt. Die Wiedergeburt des Idealismus bietet zuletzt das „Prinzip für die Reorganisation der Frauenbildung": „Höhere Mädchenschulen müssen humanistische Bildungsanstalten sein." 13 Besondere Karriererücksichten wird Schmidt bei seinem Programm nicht genommen haben. Denn die Kritik des Neukantianismus trifft damals auch Paulsen und Riehl, vorausgesetzt daß diese sich getroffen fühlten. Viel mehr als die Parole von der Wiedergeburt des Idealismus hat Schmidt nicht vorzuweisen. Das Gutachten der Be6 7 8 9 10 11 12 13
Dazu vgl. Schmidt, Adolf Lasson zum Gedächtnis, in: Kant-Studien 23 (1918), S. 110-123. Schmidt, Zur Wiedergeburt des Idealismus. Philosophische Studien, Leipzig 1908, S. 1. Vgl. ebd., S . 1 2 5 f f „ 144ff. Ebd., S. 225ff. Ebd., S. 236. Ebd., S. 241, 247. Ebd., S. 288. Ebd., S. 325.
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Teil III: Blüte
rufungskommission läßt keinen Zweifel, daß „von speziell pädagogischen Interessen und Leistungen nur wenig zu bemerken" sei: „bedeutsame Leistungen für die Pädagogik, wie wir sie an der Universität vertreten wünschen, wird man darin gewiß nicht erblicken können". Die Philosophie kommt gar nicht erst in Betracht. Die Fakultät lehnt ab und schlägt Frischeisen-Köhler vor.14 Daß Schmidt dennoch berufen wird, hat er der Protektion Delbrücks zu verdanken. Delbrück war Prinzenerzieher des späteren Kaisers Friedrich III., Landtags- und von 1882-1885 Reichstagsabgeordneter. 1896 wird er der Fakultät von Althoff als Nachfolger Treitschkes oktroyiert.15 Sein Vetter Clemens Delbrück (1856-1921) ist seit 1905 preußischer Handelsminister und seit 1909 einflußreicher Staatssekretär des Inneren und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums. Bei der Jahrhundertfeier der Universitätsgründung dankt der Vertreter der Philosophischen Fakultät, der Germanist Gustav Roethe (1859-1926) 16 , Clemens Delbrück in der langen Reihe der Förderer der Fakultät - nach dem zuständigen Minister - schon an zweiter Stelle. Hans Delbrück hat also exzellente Beziehungen zum Ministerium. Sein Separat-Votum für Schmidt wirft das Gewicht der „Persönlichkeit" in die Waagschale und preist die Bedeutung einiger historischer Studien, die das Fakultätsgutachten nicht berücksichtige. Überhaupt wüßte er „als Fortsetzer jener grossen Tradition [des spekulativen Idealismus] zur Zeit einen besseren als gerade Herrn Direktor Schmidt nicht zu nennen"17. Im September 1913 wird daraufhin Schmidt zum besoldeten außerordentlichen Professor ernannt und firmiert zeitweise als Direktor der 1914 ausgegliederten Pädagogischen Abteilung des Philosophischen Seminars. In seinen Veranstaltungsankündigungen beschränkt er sich nicht auf die Pädagogik, sondern lehrt und liest von der „Einleitung in die Philosophie" und der Geschichte der Philosophie über Kant und den Deutschen Idealismus bis hin zur Logik das volle Ausbildungspensum. Auch publizistisch bleibt er nicht untätig.18 So würdigt er 1915 Das heilige Vermächtnis unserer gefallenen Helden, protestiert gegen die Entchristlichung der Schulen und lobt Das Bildungsstreben des deutschen Arbeiters, 14 I HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 61, Bd. XXII, Bl. 108, 109. 15 Dazu vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S.122f. 16 Roethe, in: Jahrhundertfeier der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 10. bis 12. Oktober 1910, Bericht erstattet von Erich Schmidt, Berlin 1911, S. 136-144. 17 IHARep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 61, Bd. XXII, Bl. 113. 18 Schmidt, Der Christus des Glaubens und der Christus der Kirche, Frankfurt 1910; Die weltgeschichtliche Mission des Protestantismus, Berlin 1910; Der philosophische Sinn. Programm des energetischen Idealismus, Göttingen 1912; Das Problem der nationalen Einheitsschule, Jena 1916; Das Bildungsstreben des deutschen Arbeiters, Leipzig 1918; Die Entchristlichung der Schule. Ein Protest, Berlin 1919; Volksvertretung und Schulpolitik, Berlin 1919; Kant, der Geistesherold einer neuen Menschlichkeitsepoche, Frankfurt 1924; Deutsche Nationalerziehung, Berlin 1924; Hans Delbrück. Der Historiker und Politiker, Berlin 1928; Selbstdarstellung, in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Philosophen-Lexikon, Berlin 1950, Bd. 2, S. 468f.
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feiert Kant im Gedenkjahr als Geistesherold einer neuen Menschlichkeitsepoche, schreibt vor allem eine Deutsche Nationalerziehung. Bis zur Emeritierung 1927 vertritt er die Pädagogik neben Spranger. Nach seiner Emeritierung gedenkt Schmidt noch seines Förderers mit der umfangreichen Monographie Hans Delbrück. Der Historiker und Politiker. Ein Nachspiel hat seine Lehrtätigkeit durch Lehrveranstaltungen vom Somersemester 1935 und Wintersemester 1935/36, in denen Schmidt die „Entwicklung der deutschen Pädagogik" unter dem Gesichtspunkt von „Wesen und Entwicklung der germanischen Philosophie" betrachtet und so noch die neue Zeit begrüßt.
b.
Übergang in die Philosophie: Ernst Troeltsch
Troeltsch wechselt von der Theologie in die Philosophie. Ein solcher Übergang ist damals noch nicht ungewöhnlich. Die protestantische Theologie ist das Elixier des philosophischen Idealismus. Eduard Zeller fängt als Theologe an. Dilthey kann ein abgeschlossenes Theologiestudium vorweisen. Stumpf kehrt dem Priesterseminar den Rücken. Aus dem Kreise Harnacks, philosophisch von Riehl kommend, lehrt damals in Berlin auch ein Privatdozent für Theologie, der bald in die Philosophie - als Ordinarius nach Breslau (1917), Kiel (1919) und Münster (1929) - wechselt, Metaphysik als strenge Wissenschaft begreift und dann einen philosophischen Lehrstuhl für mathematische Logik und Grundlagenforschung innehat: Heinrich Scholz (1884-1956). Scholz promoviert über Schleiermacher und habilitiert sich 1910 mit einer Arbeit über Augustinus.19 Von Schleiermachers Konzeption einer „philosophischen Theologie" her liegt der Übergang zu einer Religionsphilosophie nahe, die die Möglichkeit religiöser Erfahrung gegen einen positivistisch verengten Wirklichkeitsbegriff verteidigt. In seiner Berliner Zeit gibt Scholz u. a. Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums sowie Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit heraus. Zusammen mit Spranger veranstaltet er 1914 die Riehl-Festschrift. Er veröffentlicht einige Aufsätze zu Fichte und beteiligt sich an den „Ideen von 1914", die damals gerade für angehende Ordinarien attraktiv sind.20 Die Summe seiner Berliner 19 Vgl. Scholz, Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909; Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustinus de civitate dei, Leipzig 1911; Schleiermacher und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Leipzig 1913; Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916; Der Unsterblichkeitsgedanke als philosophisches Problem, Berlin 1920; Zum Untergang des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler, Berlin 1920; Die Bedeutung der Hegeischen Philosophie für das philosophische Denken der Gegenwart, Berlin 1921. 20 Scholz, Der Idealismus als Träger des Kriegsgedankens, Gotha 1915; Der Krieg und das Christentum, Gotha 1915; Politik und Moral, Gotha 1915; Das Wesen des deutschen Geistes, Berlin 1917.
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Teil III: Blüte
Zeit ist die in der Auseinandersetzung mit Kants „konstruktiver" Religionsphilosophie gewonnene, von Vaihinger21 abgegrenzte, die Möglichkeit religiöser Erfahrung verteidigende und „phänomenologisch" bei der religiösen Erfahrung großer religiöser Individuen ansetzende Religionsphilosophie. Scholz definiert Religion als „Bestimmtheit des Lebensgefühls durch das Gottesbewußtsein" 22 ; er unterscheidet verschiedene „Lebensformen" der Religion und verteidigt metakritisch die Möglichkeit der „Wahrheit der Religion", wobei er ausdrücklich den „Standpunkt Troeltschs" gegen Kant 23 bekräftigt. Scholz limitiert den „Wirklichkeitsbegriff' des Empirismus, um die Möglichkeit einer „anderen Erfahrung" - von Gott als „das Unirdische" 24 - offenzuhalten. Gleichzeitig mit dem Erscheinen seiner Religionsphilosophie fallen ihm aber 1921 die Principia Mathematica von Rüssel und Whitehead in die Hände, die ihn zur neuen Logistik führen. 25 Als Ordinarius für Philosophie holt Scholz daraufhin ein ganzes Studium der Mathematik und Physik nach. Sucht er seit den späten 20er Jahren mit Piaton und Goethe 26 noch eine neue Verbindung von mathematischer Logik und Ontologie und eine Neubegründung der Metaphysik als strenge Wissenschaft, so bezeichnet er sich später gelegentlich als „Nichtphilosoph". 27 Er wechselt also von der Theologie über die Philosophie zur Mathematik. Weniger dramatisch, weniger signifikant auch für den Weg der Philosophie im 20. Jahrhundert ist die Entwicklung von Ernst Peter Wilhelm Troeltsch (1865-1923). Länger schon Ordentlicher Professor der Systematischen Theologie in Heidelberg, ist er, wie erwähnt, 1909 schon als Alternative zu Erdmann für die Nachfolge Paulsens im Gespräch. Weil die Berücksichtigung eines Theologen aber ungewöhnlich ist, klingt der damalige Bericht der Kommission beinahe wie eine Rechtfertigungsschrift: „Die moderne Religionsphilosophie will nicht gleich derjenigen der Aufklärungszeit die Religion ersetzen; sie ist nicht philosophische Religion; das religiöse Bewußtsein als ein Teil des menschlichen Bewußtseins ist ihr Untersuchungsobjekt, nicht ihr Erzeugnis. Darum setzt sie nicht bloß die Wirklichkeit dieses Bewußtseins - , sie setzt auch die wirkliche Religionsgeschichte voraus; ist also Philosophie der Religionsgeschichte und unterscheidet sich von dieser durch den Gesichtspunkt ihrer
21 Scholz, Die Religionsphilosophie des Als-ob. Eine Nachprüfung Kants und des idealistischen Positivismus, Leipzig 1921. 22 Scholz, Religionsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1922, S. 109. 23 Ebd., S. 236ff. 24 Vgl. ebd., S. 92ff. 25 Dazu vgl. Scholz, Geschichte der Logik, Berlin 1931 ; Metaphysik als strenge Wissenschaft, Köln 1941; Grundzüge der mathematischen Logik, 2. Aufl. 1950/51. 26 Dazu Scholz, Der platonische Philosoph auf der Höhe des Lebens und im Anblick des Todes, Tübingen 1931; Goethe als Befreier, Münster 1932; Goethes Stellung zur Unsterblichkeitsfrage, Tübingen 1934; Fragmente eines Platonikers, Köln 1941. 27 Dazu vgl. Joachim Ritter, Vorwort, in: Heinrich Scholz, Mathesis universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft, Basel 1961, S. 7-16.
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Zwei Kandidaten des Ministeriums
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Betrachtung, welche zu einer Wertabstufung der Religionen zu gelangen sieht. Vor der Gefahr, die dieser Standpunkt mit sich bringt, den Blick für das Tatsächliche zu trüben, schützt Troeltsch sein historischer Sinn." 28 „In den Schriften Troeltschs zeigt sich eine Entwicklung von der Theologie zur reinen Philosophie; jede folgende Schrift bringt einen Fortschritt in dieser Richtung." 29
Der Kommissionsbericht setzt Troeltsch an die erste Stelle. Am 21. Januar 1909 entscheiden sich 24 Mitglieder der Fakultät für Troeltsch, darunter Dilthey und Riehl; 17 stimmen dagegen, darunter Stumpf. Noch am gleichen Tag melden sieben Fakultätsmitglieder jedoch ein Separatvotum an, woraufhin Benno Erdmann berufen wird. Erst Jahre später kommt Troeltsch nach Berlin. Das Ministerium ist an seiner Berufung stark interessiert. So wird die Philosophische Fakultät am 6. Mai 1914 darüber informiert, daß ihr per ministeriellem Erlaß ein Ordinariat für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte zugesprochen wird. Obgleich die Fakultät jede neue Professorenstelle nur begrüßt, weiß sie mit diesem Zuwachs zunächst nichts anzufangen. Sie läßt das Kultusministerium wissen, daß mit dieser Übertragung der bisher religionsgeschichtlichen Professur, die Johann Edvard Lehmann (1862-1930) bekleidete, eine Lage geschaffen sei, zu der man erst einmal „grundsätzlich Stellung nehmen muss" 30 . Darüber hinaus äußert sie vielfältige Bedenken gegenüber dieser unverhofften Erweiterung ihres Lehrbetriebes. Sie zweifelt vor allem die Zweckmäßigkeit einer Professur für Religionsgeschichte an, die nur den speziellen Ansprüchen einer Theologischen, nicht aber den allgemeineren einer Philosophischen Fakultät genügen könne, und verweist darauf, daß die religionsgeschichtliche Forschung durch die Fachvertreter der ägyptischen, indischen, griechisch-römischen und germanischen Sprache und Geschichte kompetent vertreten sei. Eine Professur für Religionsphilosophie böte dagegen die Gelegenheit, sich mit „der allgemeinen Weltanschauung nach Seite der letzten Grenze alles Erkennens und Aufsuchung der psychologischen Wurzeln und der mannigfaltigen Erscheinungsweisen religiöser Gemüts- und Willensrichtungen" 31 auseinanderzusetzen. Das Ordinariat solle deshalb nach den Vorstellungen der Fakultät nicht für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, sondern für „ReligionsSocial- und Geschichtsphilosophie" 32 erteilt werden. Im Grunde heißt man das neue Ordinariat also willkommen; nur soll es auch wirklich kein theologisches, sondern ein genuin philosophisches sein.
28 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 18, Bl. 352. 29 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 18, Bl. 354. Während seiner Tätigkeit in Heidelberg hatte Troeltsch mit Beginn des Wintersemester 1909/10 einen Lehrauftrag für Philosophie erhalten. Er las Uber Religionsphilosophie, Ethik sowie Geschichte der neueren Philosophie. Die Erteilung des Lehrauftrags erfolgte, nachdem Simmeis Berufung abgelehnt worden war (Vgl. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 185). 30 I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 23, Bl. 176. 31 Ebd., Bl. 179. 32 Ebd., Bl. 180.
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Teil III: Blüte
Daß die Theologen nicht tatenlos zusehen, wie andernorts Überlegungen über die Verwendung ihrer Professur angestellt werden, liegt auf der Hand. In besonderer Weise äußert Gustav Adolf Deißmann (1866-1937), der damals zuständige Professor für Neues Testament, sein Unbehagen gegenüber einer Translozierung des Ordinariats. Am 19. Mai 1914, also nur wenige Tage nach dem Erlaß des Ministers, gibt er die Schrift Der Lehrstuhl für Religions geschickte in Druck. Darin werden Gründe für einen Verbleib des Lehrstuhls in der Theologischen Fakultät genannt. Deißmann verschließt sich nicht den positiven Aspekten einer Verpflanzung der Religionsgeschichte in die Philosophische Fakultät. So liege ein Vorzug darin, daß einem Religionshistoriker in der Philosophie möglicherweise größere Unbefangenheit und Individualität in der Ausrichtung seiner Forschung zugestanden werden würde, da er „ohne notwendigen Zusammenhang mit dem vielleicht präokkupierenden Geistesleben einer lebendigen Religionsgemeinschaft" 33 und zudem unabhängig von kirchlichen Lehrmeinungen wirken könne. Einen Nachteil sieht Deißmann indes im Bereich der Lehre. Er stellt es sich schwierig vor, als Religionshistoriker vor einem Auditorium zu stehen, welches sich nicht aus einem homogenen, innerlich auf Religion eingestellten Hörerkreis zusammensetzt und „dessen seelische Verfassung"34 dem Lehrenden unbekannt ist. Diese Bedenken können das Blatt nicht wenden, da die Theologische Fakultät in dem einflußreichen Ordinarius der Kirchen- und Dogmengeschichte Karl Gustav Adolf von Harnack (1851-1930) einen engagierten Befürworter der Übertragung des Ordinariats hat. Harnack sieht den Strukturwandel der Universitäten,35 steht der religiösen Neutralisierung des Theologiestudiums aber skeptisch entgegen; schon in seiner Rektoratsrede vom 3. August 1901 macht er unter dem Titel Die Aufgabe der theologischen Facultäten und die allgemeine Religionsgeschichte deutlich, wie er über die religionsgeschichtliche Richtung innerhalb der Theologie denkt. Für Harnack ist das Christentum „nicht eine Religion neben anderen [...], sondern die Religion" 36 . Dogmatisch hält er also an der Absolutheit des Christentums fest, die Troeltsch37 ebenfalls vertritt. Harnacks Dogmengeschichtsschreibung38 ist dezidiert dogmatisch;
33 34 35 36
Deißmann, Der Lehrstuhl für Religionsgeschichte, Berlin 1914, S. 31. Ebd., S. 33. Harnack,Vom Großbetrieb der Wissenschaft, in: Preußische Jahrbücher 119 (1905), S. 193-201. Harnack, Die Aufgabe der theologischen Facultäten und die allgemeine Religionsgeschichte. Rede zur Gedächtnissfeier des Stifters der Berliner Universität, Berlin 1901, S. 15; vgl. A. v. Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 2. Aufl., Berlin 1951, S. 228; vgl. Lothar Buchardt, Adolf von Harnack, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin, Berlin 1987, S. 215-233. 37 Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, Tübingen 1902. 38 Vgl. dazu Harnack, Dogmengeschichte, 7. Aufl., Tübingen 1921, S. Iff.; Das Wesen des Christentums, 1900.
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Zwei Kandidaten des Ministeriums
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sie fürchtet den Relativismus der historisch-kritischen Methode. Deißmann schreibt deshalb an Harnack: „Irre ich, wenn ich annehme, daß für Sie dieses ganze noch werdende Fach [Religionsgeschichte] immer noch im Grunde einen geringen Reiz hat? Daß Sie immer wieder von der Fülle des oft bizarren Stoffes befremdet, von der Derbheit der Ausdrucksformen abgestoßen, von der Naivität des Volkstümlichen sich gelangweilt fühlen? Und daß Sie dann immer aufatmend zu den Regionen der theologischen und kirchlichen Hochkultur zurückkehren, von dem Walten dunkler und unheimlich gefahrlicher Kräfte in der Tiefe der Massen zu den Gedankenflügen der Ideen in den Führergehirnen, vom Kult zum Dogma, vom Wunder zur Organisation, von der Mystik zur Spekulation?" 39
Troeltsch steht zunächst zwischen beiden Positionen. So endet seine eingehende Auseinandersetzung mit Harnacks Wesen des Christentums mit der Forderung, „das eigentlich historische und das geschichtsphilosophisch-normative schärfer zu trennen. Mindestens für die gegenwärtige Lage mag es erwünscht sein"40. Parallel zu seiner philosophischen Arbeit vertieft er jedoch auch sein dogmatisches Interesse an einer Glaubenslehre. 1913 veröffentlicht Troeltsch einen Aufsatz Die Dogmatik der ,religionsgeschichtlichen Schule ',41 der Harnack nicht mißfallen haben wird. So geht die Übertragung der Professur auch auf das Betreiben Harnacks zurück.42 Dessen Beziehungen zum Ministerium spielen eine entscheidende Rolle. 43 Nicht minder ausschlaggebend ist jedoch auch das politische Interesse des Ministeriums an Troeltsch in Berlin. Troeltsch arbeitet dann eng mit dem Kultusministerium zusammen und steigt dort 1919 zum parlamentarischen Unterstaatssekretär auf.
c.
Protestantismus
und
Lebensphilosophie
Ernst Troeltsch wird wenige Tage nach Kriegsbeginn am 6. August 1914 berufen.44 Zuvor findet immerhin eine Beratung über die Besetzung statt, wobei auch Spranger im Gespräch ist. Von einer einseitigen Okroyierung kann deshalb nicht gesprochen 39 Zit. in: Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, S. 229. 40 Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums"? (1903), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl., Tübingen 1922, S. 386-451, hier 449. 41 Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 500-524. 42 Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man den Bericht zur Wiederbesetzung der von Edvard Lehmann bis 1913 verwalteten Professur für Religionsgeschichte liest. An Stelle einer Beratung über die Nachfolge findet eine Grundsatzdiskussion über die Notwendigkeit eines Ordinariats der Religionsgeschichte der Theologischen Fakultät statt. Insonderheit Harnack und drei andere Mitglieder der Fakultät vertreten die Auffassung, daß eine solche Professur für die Studierenden der Theologie nicht erforderlich sei. Die religionshistorische Forschung sollte in eine religionsphilosophische übergehen. (Vgl. I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 23, 44-51); siehe: Drescher, Ernst Troeltsch, S. 215 f. 43 Vgl. I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 23, Bl. 209; vgl. auch Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, S. 260f. 44 I HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 61, Bd. 23, Bl. 254.
222
Teil III: Blüte
werden, zumal Troeltsch ja schon 1909 auf dem ersten Listenplatz stand. Im Sommersemester 1915 beginnt er seine Tätigkeit in Berlin. Seine erste Vorlesung über „Kulturphilosophie und Ethik" formuliert ein Programm: „ich bin hergekommen, um der Anarchie der Werte ein Ende zu machen" 45 . Der Historismus hat in Berlin eine lange Tradition und viele Wandlungen hinter sich, als er Anfang des 20. Jahrhunderts ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Während Meinecke sich damals in die Berliner Tradition des Historismus stellt, bemüht sich Dilthey schon um eine philosophische Überwindung der „Anarchie" des historistischen „Relativismus". Troeltsch gilt in der Berliner Philosophischen Fakultät dann als „der Geschichtsphilosoph schlechthin" 46 . Er erhofft sich die „Überwindung" des Wertrelativismus von einer „Gewissensethik" des Individuums, das eine individuelle „Synthese" und „Aposteriori-Konstruktion" der Kulturethik als seine „persönliche Lebenstat" vollbringt. 47 Diese Gewissensethik steht in der Tradition der Individualitätskultur des Christentums. 48 Die historische Selbstvergewisserung des Individuums führt zur Identifikation des eigenen, individuellen Standortes bei Einsicht in den Zwang zum religiösen Ausgleich und politischen „Kompromiß" 49 . Meinecke charakterisiert Troeltschs Anliegen aus der Nähe: „Er hätte schon als früherer Theologe sagen können: Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben. In diesem Ringen nach einem festen Punkte, das er viel bewußter trieb als alle die vielen Rivalen seiner historischen Einfühlungskunst, zeigt sich auch, daß der Theologe in ihm nie ganz untergegangen war im Geschichtsphilosophen. Er verzeichnete mit einigem Grauen das Wort des Meisters dieser Kunst, des alten Dilthey, der am Abend seines Lebens von einer Anarchie der Überzeugungen sprach, zu der das moderne geschichtliche Denken schließlich führe" 50 .
Spranger deutet dies als eine „Wendung zum Existentiellen im historischen Bewußtsein" und spricht von einem „existentiellen Historismus" 51 . Nicht nur institutionell, als überraschender Gewinn eines weiteren Lehrstuhls, und nicht nur politisch, im Hinblick auf den Übergang zur Republik, ist die Berufung Troeltschs ein Glücksfall; sie ist es auch für die Berliner Philosophie, nachdem Simmel und Cassirer als mögliche Nachfolger Diltheys unberufen blieben. Wie gut 45 Zit. in: Ludwig Marcuse, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Zürich 1975, S. 49. 46 Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften (= Werke, Bd. 8, Stuttgart 1969), S. 233. Meinecke und Troeltsch verkehrten freundschaftlich miteinander. Gemeinsam mit dem Ordinarius für Verfassungsgeschichte Otto Hintze bildeten sie den sogenannten „Dreibund". (Vgl. ebd., S. 232-237). 47 Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge, hrsg. F. v. Hügel, Berlin 1924, S. 39f. 48 Vgl. ebd., S. 70. 49 Vgl. ebd. S. 80, lOOff. 50 Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, in: ders., Staat und Persönlichkeit. Studien, Berlin 1933, S. 5 4 - 6 4 , hier 56. 51 Spranger, Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900, in: ders., Berliner Geist, Tübingen 1966, S. 147ff., hier 164f.; vgl. auch ebd. S. 169ff., 182f., 215ff.
13.
Zwei Kandidaten des Ministeriums
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Troeltsch ins Profil der Berliner Universität paßt, bekundet spätestens seine 1921 publizierte wissenschaftliche Selbstbiographie: 52 Um 1880 sei die Theologie der einzige „Zugang zur Metaphysik" gewesen. Überhaupt sei das philosophische System nur von der „Durcharbeitung" positiver Probleme im „Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes" her zu entwickeln. Lotze und Dilthey lehrten Troeltsch den philosophischen Ausgangspunkt bei der „Selbstgewißheit des Erlebens". Max Weber zufolge der „Fachmann" 5 3 für die Geschichte des Protestantismus, modifiziert Troeltsch die Weber-These von der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Weif, er unterscheidet die kirchliche „Autorität" von der „Autonomie" des religiösen Individualismus. 54 Anders als beim institutionell resistenten Katholizismus sei zwischen dem Altprotestantismus und dem Neuprotestantismus auf dem Boden der modernen Welt deutlich zu unterscheiden, der - in seinen diversen Spielarten - vielfältige indirekte Wirkungen in der modernen Kultur zeitige. Die „Religion der modernen Welt [sei] wesentlich vom Protestantismus bestimmt" 5 5 . Namentlich der deutsche Idealismus seit Lessing und Kant sei eine „Abwandlung" des Protestantismus. 56 Ähnlich wie Schleiermacher hält Troeltsch es also für möglich, Christentum und moderne Welt miteinander zu verbinden. Ausführlich spricht er von einer „Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreligion" 57 . Die Kirchenund Dogmengeschichte des neueren Protestantismus habe diese ihre eigentliche Aufgabe 5 8 der Selbstverständigung über die „religiöse Lage" der Gegenwart verfehlt: „Es ist dem Philosophen Dilthey vorbehalten geblieben, hier die leitenden Grundgedanken der Forschung zu entwickeln" 5 9 . Schon die historiographische Aufgabenstellung führt Troeltsch also in die Philosophie. Mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit des religiösen Lebens stellt er das dogmatische Interesse vor neue systematische Aufgaben: Wie läßt sich die Christlichkeit des modernen religiösen Lebens identifizieren? Wie läßt sich Leben überhaupt begreifen? Das dogmatische Interesse an der „absoluten Geltungsforderung des Christen-
52 Troeltsch, Meine Bücher, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Zweiter Band, hrsg. v. Raymund Schmidt. Leipzig 1921, S. 161-173. 53 So Max Weber im Brief v. 23.8.1905 an Below („aber er ist der theologische Fachmann"), zitiert nach: W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, S. 61. 54 Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 5. Aufl., München 1928, S. 12, 21, 29ff., 75ff. 55 Ebd., S. 92. 56 Ebd., S. 90ff. 57 Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Geschichte der christlichen Religion: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwickelung und ihre Ziele, hrsg. v. Paul Hinneberg, S. 431-792, hier 687ff.; ausführlicher: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. 58 Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, S. 5 ff. 59 Ebd., S. 95.
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Teil III: Blüte
turns" führt Troeltsch über Dilthey hinaus zu Schleiermacher zurück. Innerhalb der großen, Dilthey und Windelband zum Gedächtnis gewidmeten Studie Der Historismus und seine Probleme erörtert Troeltsch Dilthey als „psychologisierenden Lebensphilosophen" nach Nietzsche. 60 Er kritisiert die „zwei Seelen in Diltheys Brust", Mill und Schleiermacher in einer geisteswissenschaftlichen Psychologie vereinen zu wollen. Die „paradoxe Verbindung von Positivismus und deutschem Idealismus" lasse Dilthey den Entwicklungsbegriff nicht deutlich genug fassen, der Universalgeschichte als „Kultursynthese" betreibe und „notwendig in die Metaphysik hineinführt" 6 1 . Mit der verstärkten Hinwendung zu Hegel habe sich Dilthey zwar der metaphysischen Geschichtsdeutung angenähert, diese aber nicht bewußt ergriffen. Troeltsch will Diltheys faustischen Streit mit einem beherzten Rückgang auf den Deutschen Idealismus lösen. In seiner Selbstbiographie rechtfertigt er seinen „Anschluß" an Schleiermachers „Verbindung von Geschichtsphilosophie und Ethik" mit der Voraussetzung einer eigenen philosophischen Systematik, die von einem „bestimmten Begriff vom Wesen des Denkens und seinem Verhältnis zum Leben" 6 2 ausgeht. Dieses System jedoch sei eine „persönliche Angelegenheit des Autors", ein „Werkzeug der Selbstkontrolle". „Was wir heute treiben, ist alles Epigonenwerk" 6 3 , schreibt Troeltsch 1921 über seinen „systematischen Einheitsgedanken". Er bezieht sich dabei auf die philosophische Tradition der Berliner Universität nach Schleiermacher, Lotze und Dilthey. Diese reife Selbstinterpretation belegt, wie gut sich Troeltsch in die Berliner Tradition fügt. Er nimmt sie sehr bewußt auf und sucht sie über sich selbst hinauszuführen. Der protestantische Grundzug dieser Tradition findet durch ihn eine erneute Explikation, die die Eigenheit des philosophischen Systemanspruchs in der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Leben offenhält. Nietzsche brachte die Geschichte des deutschen Idealismus einst auf eine spitze Formel: „es sind alles bloße Schleiermacher" 6 4 . Für den protestantischen Grundzug der Berliner Philosophie von Schleiermacher und Hegel bis Dilthey, Troeltsch und Spranger ist sie nicht ganz unzutreffend. Am 1. Februar 1923 verstirbt Troeltsch in Berlin.
60 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 509-530. 61 Ebd., S. 524. 62 Troeltsch, Meine Bücher, S. 172. 63 Ebd., S. 173. 64 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1966, Bd. 2, S. 1149.
Teil IV: Krise
14.
Die goldenen Zwanziger
Mit Troeltschs publizistischem und politischem Engagement vor allem verbindet sich der Eindruck, daß die Philosophie aus den Kriegswirren einigermaßen unbeschadet hervorgeht und in ein positives Verhältnis zur neuen Republik tritt. Im Kriege steht die Universität der Hauptstadt, laut Meinecke das „erste Garderegiment Wissenschaft" 1 genannt, natürlich unter der Erwartung von Loyalitätsbezeugungen. Eine besonders militante Gesinnung scheint die Fakultät jedoch nicht an den Tag gelegt zu haben. Eine Vortragsreihe zur Bestimmung der „deutschen Freiheit", mit Vorträgen von Harnack, Meinecke, Sering, Troeltsch, Hintze, liefert ein charakteristisches Zeugnis davon,2 wie sich die Berliner Großordinarien wissenschaftlich aus der Affaire ziehen. Troeltschs maßvolle Verteidigung einer Eigenart des „deutschen Geistes" sowie seine „Spectator-Briefe" 3 zur jungen Republik gehören dann zu den bedeutendsten Zeugnissen eines intellektuellen Republikanismus in Weimar. 1919 bis 1921 ist Troeltsch nebenamtlich Unterstaatssekretär für Evangelische Angelegenheiten im Preußischen Kultusministerium. Die Wissenschaftsfreiheit, durch Art. 142 der Weimarer Reichs Verfassung garantiert, gibt zusammen mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit die institutionelle Garantie der akademischen Selbstverwaltung.4 Die relative Autonomie der Universität gegen1 Friedrich Meinecke, Straßburg, Freiburg, Berlin 1901-1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, S. 145, vgl. auch 176 ff. 2 Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge von Harnack, Meinecke, Sering, Troeltsch, Hintze, hrsg. v. Bund deutscher Gelehrter und Künstler, Gotha 1917. 3 Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1925; Spectator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1924; zu Troeltschs politischem Engagement vgl. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 413 ff; allgemein Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1968; H. Döring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim 1975; exemplarisch vgl. Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992. 4 Dazu vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 973 ff.
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Teil IV: Krise
über der demokratischen Verfassung ermöglicht auch einen elitistischen Rückzug.5 Erst für diese Zeit läßt sich sinnvoll von einer konservativen Mandarinenmentalität6 sprechen. Troeltsch repräsentiert die Öffnung zur neuen Zeit hin. Sein früher Tod markiert ein Ende innovativer Weiterentwicklung der Berliner Tradition. Mit den neuen Verhältnissen verbinden sich zwar persönliche Hoffnungen auf Avancement; neue philosophische Impulse bringen die Veränderungen jedoch kaum. Vielmehr zieht sich das „geschichtliche Bewußtsein" auf die eigene Tradition zurück und wird konservativ und epigonal. Die zwanziger Jahre sind nicht die goldene Zeit der Berliner Philosophie. Dabei kommt es zu einer Berufungsflut. Zwischen 1920 und 1930 werden fünf Universitätsdozenten zu ordentlichen Professoren ernannt. Die Kulturpolitik des Reiches wird seit 1918/19 von Männern gestaltet, die liberale Bildungsideale realisieren wollen. Zu ihnen zählen Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956), Adolf Hoffmann (1858-1930), Konrad Haenisch (1876-1925) und Carl Heinrich Becker (1876 bis 1933).7 Am 1. April 1930 ersetzt eine neue Satzung der Universität die alte von 1816.8 Doch die erste spürbare Veränderung bringt schon der Erlaß des Kultusministers Haenisch vom 27. März 1920. Er sieht vor, daß es an den preußischen Universitäten künftig nur noch ordentliche Professoren und nichtbeamtete Dozenten geben soll.9 Der Status des verbeamteten Extraodinarius ist damit abgeschafft, nicht der Extraordinarius überhaupt. Privatdozenten werden weiterhin in der Regel nach einigen Jahren zu Extraordinarien ernannt, erhalten aber allenfalls eine schmale Vergütung. Damals verbeamtete Extraordinarien jedoch werden, falls keine gravierenden Bedenken vorliegen, zu persönlichen Ordinarien ernannt. In Berlin liegt die Initiative bei der Fakultät.10 Max Dessoir wird daraufhin, gleichsam über Nacht, ordentlicher Professor. Eine andere Neuerung ist das von 1921 an gültige Gesetz über die Einführung einer Alters5 Dazu etwa Werner Jaeger, Stellung und Aufgabe der Universität in der Gegenwart, in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, Berlin 1937, S. 7 2 - 9 2 , hier 79: „Die Universität ist stark genug, den Abwehrkampf zu führen, der ihr aufgezwungen worden ist"; differenzierter vgl. Eduard Spranger, Hochschule und Staat (1930), in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 189-224, vgl. auch ebd. 140: „die Aristokratie der Universität schlägt keine unmittelbare Brücke zur Demokratie, noch weniger zur Demagogie". 6 Max Webers gewiß auch auf die Gegenwart gemünzte Analyse des konfuzianischen Beamten etwas pauschal auf die ganze Wissenschaftskultur des Wilhelminismus übertragen bei Fritz J. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890-1933, Cambridge 1969. 7 Zu diesen Kulturpolitikern vgl. die knappen Darstellungen in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, hrsg. v. W. Treue u. K. Gründer, Berlin 1987. 8 Werner Richter u. Hans Peters (Hrsg.), Die Statuten der preußischen Universitäten und Technischen Hochschulen. Teil 6: Die Satzung der Universität zu Berlin, Berlin 1930; vgl. Erich Wende, Grundlagen des preussischen Hochschulrechts, Berlin 1930. 9 Vgl. dazu Carl Heinrich Becker, Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919, S. 30ff., bes. 35: „So habe man denn den Mut, die planmäßigen Extraordinarien zu Ordinarien zu machen". 10 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 225 f.
14.
229
Die goldenen Zwanziger
grenze, durch welches alle Ordinarien, die das 68. Lebensjahr vollendet haben, mit dem 1. April oder 1. Oktober des entsprechenden Jahres von ihren amtlichen Verpflichtungen entbunden werden. Da Erdmann im Januar 1921 verstorben war, Riehl 11 und Stumpf wenige Monate später entbunden werden, sind mit einem Schlag alle drei Lehrstühle frei.
a.
Epigone der Berliner Tradition: Eduard
Spranger
Schon 1920 übernimmt Eduard Spranger (1882-1963) ein Interimsordinariat 12 zur Nachfolge Riehls. Spranger gehört dem engeren Kreis um Dilthey an und promoviert im Mai 1905 in Berlin. Philosophisch konzentriert er sich auf den Entwurf einer „geisteswissenschaftlichen Psychologie" und vertritt diesen Ansatz zunächst in Kulturphilosophie und Kulturkritik sowie dann verstärkt in der Religionspsychologie. 13 Ist Dilthey der exemplarische Denker der Berliner Tradition, so läßt sich Spranger als ihr exemplarischer Epigone bezeichnen. Historisch und systematisch nimmt er beide Enden der Berliner Tradition auf. Als Historiker qualifiziert er sich durch Arbeiten über Humboldt, als Systematiker nimmt er im Streit zwischen den beiden Linien einer elementaranalytischen und geisteswissenschaftlichen Psychologie für Dilthey Partei und entwickelt dessen Ansatz weiter zu einer Bildungstheorie. Ist Sprangers philosophische Leistung auch umstritten, so ist er doch ein kluger Bildungspolitiker und Hüter der alten Universitätsidee 14 wie des „Berliner Geistes". Seine ersten Arbeiten entstehen auf Anregung von Dilthey. Dennoch treten im Laufe der Zeit „nicht unwesentliche Differenzen" 15 auf. Dilthey trägt Spranger eine Arbeit über Jacobi an. Der bricht sie aber entnervt ab, um 1905 bei Paulsen und Stumpf zu promovieren. Das neue Thema hat dennoch Diltheyschen Klang: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Der 75. Geburtstag Dilthey s bietet Anlaß zu einer Versöhnung. „Eine Habilitation in Berlin ist eine so bedeutende Errungenschaft, daß man die sich bietende Gelegenheit festhalten muß", schreibt Spranger damals am 27. April 1909 an seine Jugendfreundin Käthe Hadlich. 16 Er habilitiert sich dann 1909
11 Mit Schreiben des Ministeriums vom 22.1.1921 (UAHU, Phil.Fak. 1469, Bl. 428) wird Riehl mit dem 31.3.1921 entpflichtet. 12 Zu dieser ungewöhnlichen Regelung Schreiben vom Ministerium vom 5.6.1919, UAHU, Phil.Fak. 1468, Bl. 173. 13 Dazu die Bände 4, 5, 6, 9 von Sprangers Gesammelten Schriften. 14 Dazu bes. Spranger, Hochschule und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, dort bes.: Das Wesen der deutschen Universität (1930), Hochschule und Staat (1930), Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert (1953). 15 Spranger, Briefe 1901-1963, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 405. 16 Ebd. S. 43; vgl. auch S. 41 ff.
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Teil IV: Krise
mit Unterstützung von Dilthey und Riehl mit einer Arbeit über Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee,17 die die Ausformulierung von Humboldts Humanitätsidee in Psychologie, Ästhetik und Ethik von einer Charakteristik der Person ausgehend beschreibt. 1910 folgt eine kürzere Darstellung von Humboldts bildungspolitischer Wirksamkeit an. Dilthey sucht Spranger daraufhin für seine Schleiermacher-Biographie zu gewinnen und bietet ihm gar eine Ko-Autorschaft für den lange geplanten zweiten Band an.18 Mit dem Tode Dilthey s erledigt sich dieses Vorhaben. Im übrigen wird Spranger 1911 als Extraordinarius nach Leipzig berufen. In Leipzig konzentriert sich Spranger auf die Pädagogik, wird dort Ordinarius und entfaltet eine überaus erfolgreiche Wirksamkeit. Politisch moderat, durch Kriegspropaganda nicht belastet 19 , akzeptiert er die politischen Veränderungen 20 , engagiert sich „als Akademiker" für das Unterrichtsministerium 21 und erkennt den politischen Wandel auch als Karrierechance: „Es beginnt jetzt allmählich meine Zeit", schreibt er am 29. Oktober 1918 an Käthe Hadlich. „Das Erbe des alten Staates ist völlig verbraucht. Jetzt eine Originalschöpfung, und wir gewinnen noch einmal den Vorsprung [...] Die neuen Herren in Berlin, Unter den Linden, sind ebenso wie der in Dresden meine Gönner und Freunde. Meine Berufung nach Berlin steht näher als jemals" 22 , heißt es am 27. Dezember 1918 an die spätere Gattin Susanne Conrad. Im August 1919 berät die Fakultät über die Nachfolge des alten, damals schon 75jährigen Riehl. Obwohl Riehl noch bis 1921 als Ordinarius lehrt, wird seine Nachfolge schon geregelt. In die nähere Wahl kommen Heinrich Maier, Eduard Spranger und Georg Misch. Dabei fällt Sprangers Beschäftigung mit Fragen der Pädagogik und der Schulorganisation positiv ins Gewicht. Die Fakultät beabsichtigt die Umwandlung der pädagogischen Abteilung in ein selbständiges Seminar und hofft mit Spranger sogleich einen kompetenten Leiter zu berufen. Auch andernorts werden große Erwartungen an eine Übersiedlung nach Berlin geknüpft. Carl Heinrich Becker teilt Spranger mit, daß ihn die Fakultät für eine Professur vorgesehen habe, und fügt hinzu: „Wir haben Sie nicht nur an der Universität, sondern wir haben Sie auch als ständigen Berater im Ministerium nötig, und ich hoffe, daß es sich wird ermöglichen lassen, daß Sie die Ihnen angebotene Stelle sobald als möglich antreten." 23 Sofort macht Spranger sich an eine programmatische Schrift Gedanken zur Lehrerbildung.
17 Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; ders., Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910. 18 Vgl. Spranger, Briefe 1901-1963, S. 51 ff.; dazu der Kommentar ebd. S. 412f. 19 Dazu vgl. den Brief vom 5.12.1915 an Hadlich: „Aber ich kann die Herrlichkeiten dieses Krieges nicht mehr fühlen". 20 Vgl. den Brief an „Vater Riehl" v. 15.10.1918, ebd. S. 90ff. 21 Vgl. den Briefentwurf v. September 1918 an den Kultusminister Schmidt-Ott, ebd. S. 84ff. 22 Ebd., S. 97. 23 Ebd., S. 422.
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Er schlägt vor, Pädagogische Hochschulen neben den herkömmlichen Universitäten zu gründen. Allerdings entsprechen seine bildungstheoretischen Ansichten nicht voll Beckers Reformplänen. Spranger will den privilegierten Status der Bildungsaristokratie nicht aufheben. Die „Parlamentarisierung der akademischen Lehrstühle" lehnt er ab. 24 Spranger gehört zu den letzten Vertretern einer Philosophie, die Psychologie und Pädagogik noch zu begründen und zu umfassen beansprucht. Er führt die Auseinandersetzung zwischen Dilthey und Ebbinghaus fort und unterscheidet zwischen einer „Psychologie der Elemente" und einer phänomenologisch-beschreibenden „Strukturpsychologie". Sein Einwand lautet, daß der naturwissenschaftlich eingestellten Elementenpsychologie das eigentliche Verständnis des Seelischen verlorengehe. Die geisteswissenschaftliche Psychologie hingegen vermöge einen sinnvollen Zusammenhang von überindividuellen Wertmanifestationen zu erkennen. 25 Wie Dilthey meint Spranger, daß Verstehen und Erleben ein eigener methodischer Zugriff auf die seelische Wirklichkeit und ihre Wertgebilde sei. Dementsprechend heißt es im Kommissionsbericht: „Zwei sachlich bedeutende Abhandlungen aus den jüngsten Jahren beschäftigen sich mit den Problemen der Geschichtswissenschaft. Die Lebensformen stellen, den Gedanken Diltheys von Kultursystemen weiter entwickelnd, typische Auffassungsformen oder Kategorien der Geschichte auf, die Abhandlung: Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie gibt die Umrisse einer Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften, deren Mittelpunkt das Problem des Verstehens bildet."26
Sprangers philosophisches Hauptwerk ist die 1921 erschienene Monographie Lebensformen, deren erster Entwurf 1914 in der Festschrift für Riehl erschien. Spranger erörtert darin zunächst „geistesphilosophische Grundlagen", wendet seine „geisteswissenschaftliche Methode" dann auf eine Unterscheidung von sechs „idealen Grundtypen der Individualität" an - er unterscheidet den „theoretischen", „ökonomischen", „ästhetischen", „sozialen", „religiösen" und den Machtmenschen - , zieht „Folgerungen für die Ethik" und erörtert abschließend das „Verstehen der geistigen Strukturen". 1925 folgt eine verbreitete Psychologie des Jugendalters. Unter dem Titel Kultur und Erziehung erscheinen die Weimarer Zeit hindurch dann gesammelte Aufsätze zur Pädagogik, die diverse Erziehergestalten (wie Luther, Comenius, Rousseau, Goethe, Hölderlin) würdigen und bildungspolitische Grundfragen erörtern. Eine zweite Aufsatzsammlung Volk, Staat, Erziehung stellt das Bildungsideal des Neuhumanismus in den Zusammenhang einer „politischen Volkserziehung".
24 Vgl. dazu den Brief v. 21.5.1927 an die Landtagsabgeordnete H. Wegschneider, ebd., S. 129. 25 Vgl. Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 5. Aufl., Halle 1925, S. 3-22; vgl. ders., Wilhelm Dilthey. Eine Gedächtnisrede, Berlin o. J. 26 UAHU, Phil. Fak. 1468, Bl. 179.
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Spranger orientiert die „Theorie der Bildsamkeit" an einer „Theorie des Bildungsideals"27 in „geschichtsphilosophischer Beleuchtung". Seine Typenlehre nähert sich dabei, über Dilthey hinausgehend, Troeltschs Auffassung an, daß die Überwindung des Historismus von einer religiös interpretierten Kultursynthese zu erwarten sei. Spranger will den spekulativen Impuls des Deutschen Idealismus festhalten, indem er Philosophie ausdrücklich als persönliche „Weltanschauungsbildung" begreift. Er richtet ein „Archiv der deutschen Jugendbewegung" ein und mustert die Weltanschauungslehren und religiösen Bewegungen der Gegenwart auf ihre Beglaubigung eines Bildungsideals hin durch, arbeitet namentlich die protestantische Theologie der Weimarer Zeit auf und führt seine kulturphilosophische Erörterung des gegenwärtigen Bildungsideals, ähnlich wie Troeltsch, als kulturprotestantisch inspirierte Religionssoziologie durch. Ihr Ertrag ist eine religiöse Problematisierung des „Immanenzgefühls" der Weltfrömmigkeit2% bei methodologischer Orientierung an der relativen Selbständigkeit der Philosophie gegenüber dem Radikalismus der dialektischen Theologie und des Existentialismus.29 Als Kulturphilosoph betont Spranger also die Bedeutung religiöser Bewegungen für die geschichtliche Entdeckung eines Bildungsideals. Neben Dilthey, Hegel und dem Neuhumanismus steht auch bei Spranger eine starke Orientierung an Goethe. Insbesondere in den 30er Jahren verfaßt er einige Reden und Aufsätze, die er 1946 in einem Büchlein Goethes Weltanschauung versammelt. Er orientiert sich dabei philosophisch am späten Goethe. Dessen „Weltanschauung" begreift er, ausgehend vom „Jugendmythos", als eine neuplatonische Mystik, die pädagogisch auf die „sittliche Metamorphose" 30 des Menschen sinne. Goethe selbst sei ein Beispiel für diese Metamorphose. Indem Goethe sein Leben als einen Bildungsprozeß verstand, entdeckte er die Psychologie der Lebensalter. In weiser Einsicht in metaphysische Ausdrucksmöglichkeiten31 des Menschen verstand Goethe seine Weltanschauung als „metaphysische Offenbarung". Spranger begreift „Goethes Allreligiosität" als „Offenheit für letzte Erschließungen" der „Gehalte des Lebens". Diese Auffassung von „Goethes Weltanschauung" geht in die späte Religionsphilosophie mit ein. Während des Zweiten Weltkrieges deutet Spranger - unter Berufung auf Schleiermacher, Hegel und Dilthey - die „Weltfrömmigkeit" als „unbewußtes 27 Spranger, Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben, in: ders., Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze, 4. Aufl., Leipzig 1928, hier S. 180. 28 So schon: Spranger, Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung, Leipzig 1928, S. 35 ff. 29 Spranger, Der Kampf gegen den Idealismus, Berlin 1931; Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, Berlin 1929; Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls, Berlin 1926. 30 Spranger, Goethes Weltanschauung. Reden und Aufsätze, 1946, S. 67, vgl. 59. 31 Dazu ebd. S. 225 f.
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Christentum des modernen Menschen" und dekretiert den „Optimismus" als „stille Voraussetzung" jeden Daseins. Er setzt nun auf „Kraftzuwachs" aus dem Glauben und entdeckt die sympathetische Liebe der „Begegnung" mit Gott als Magie der Seele?2 Die „Berührung zwischen Gott und der Menschenseele bleibt das magische Urphänomen", heißt es: „Wer nur rational gemachte psychologische Kategorien mitbringt, wird in dieses Mysterium niemals eindringen" 3 3 . Sprangers Philosophie endet in einer „Propädeutik zum Christentum". Sie läßt sich deshalb leicht kritisieren und spielt im Klima der religiösen Gleichgültigkeit keine Rolle mehr. Doch schon von Dilthey her liegen Einwände nahe. So scheint Spranger, im Goethe-Büchlein deutlich, den historischen Ertrag von Diltheys Weltanschauungslehre zu negieren, wenn er eine Weltanschauung als „metaphysische Offenbarung" religiös zu legitimieren sucht. Diltheys historische Erkenntnis der Pluralität und Relativität der Weltanschauungen, der „Anarchie der Systeme", scheint damit verleugnet. Diltheys Weltanschauungslehre zielte jedoch nicht nur auf eine Typisierung des Weltanschauungspluralismus, sondern auch auf eine lebensphilosophische Begründung der Weltanschauungsbildung, die auf die „Mehrseitigkeit" des „Rätsels des Lebens" abhob 3 4 und die eigene „Ratlosigkeit" gegenüber der „Relativität der Antworten auf das Lebensrätsel" 3 5 bekannte. Eine strenge Begründung von Weltanschauungen auf „Lebensstimmungen" hat Dilthey nicht versucht. Zwar liegt eine religiöse Interpretation des „Rätsels des Lebens" nahe. Doch eine gelungene philosophische Weiterführung von Diltheys Weltanschauungslehre im Sinne Sprangers wird man darin kaum erblicken können. Wenn Spranger sich im Ersten Weltkrieg auch nicht publizistisch exponiert und die Weimarer Republik schon aus bildungspolitischer Einsicht nicht ablehnt, ist er in Weimar allenfalls ein „Vernunftrepublikaner". Die parlamentarische Demokratie ist ihm „nicht mehr Weltanschauung, sondern Technik" 3 6 . Politisch begrüßt er, der DNVP nahestehend, 1928 schon den großen „Diktator", der sich der demokratischen Maschinerie regierungstechnisch bedient: „Wer die große Staatsidee hat, soll herrschen. Auf die Idee also kommt alles an. Italien fand seine Idee durch die Jahrtausende gestaltet vor. Anderwärts muß diese Idee erst werden, mindestens sich zu neuer Bewußtheit durchringen" 3 7 . Dies ist kein frühes Votum für den Faschismus. Aus preußisch-etatistischer Perspektive 3 8 kann Spranger den Bestand der Weimarer Republik durchaus begrüßen. So feiert er den verstorbenen Stresemann 1930 als großen 32 33 34 35 36 37 38
Spranger, Die Magie der Seele, 2. Aufl., Tübingen 1949 (1. Aufl. 1947), bes. S. 126ff„ 144ff. Ebd., S. 152. Dazu vgl. nur Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 69f. Ebd., S. 198. Spranger, Volk, Staat, Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1932, S. 30. Ebd., S. 32f. Vgl. ebd., S. 70f.
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Staatsmann und Idealisten, der des Gelehrten als „Deuter der Zukunft" bedurfte. 39 Er verzichtet jedoch auf die Ausarbeitung einer politischen Theorie zugunsten eines protestantischen Geschichtsglaubens an das Individuum als „Werkzeug" des Weltplans. 40 Ende 1932 beschließt Spranger seine Sammlung Volk, Staat, Erziehung mit einem Beitrag Gegenwart (September 1932), der die „Überwindung des Individualismus" in der Situation des „Ausnahmezustandes" vom preußischen Dienstethos erhofft. „Freie, adlige Subordination" nach dem Muster von Heer und Beamtentum sei gefordert. Der einzelne stehe unter dem Imperativ: „werde Staat"! 4 1 Vom parlamentarischen System Weimars erwartet Spranger damals nichts mehr: Ein „Mechanismus kann niemals Leben zeugen" 4 2 . Er schließt mit Fichte und einem Appell an die nationale „Selbstbesinnung und Selbsterneuerung": „Eine neue Zeit erfordert neue Menschen" 4 3 . Bei diesem antiparlamentarischen und preußischen Pathos überrascht es geradezu, daß Spranger im April 1933 nach der Ernennung Alfred Baeumlers (1887-1967) angesichts der „Entwicklung der Verhältnisse an den preussischen Universitäten" 4 4 unter Berufung auf sein Gewissen seine Entpflichtung beantragt. Sein Protest richtet sich nicht buchstäblich gegen die nationalsozialistische Machtübernahme, sondern lediglich gegen die studentische Radikalisierung und die nationalsozialistische Hochschulpolitik, nicht zuletzt gegen die Oktroyierung Baeumlers. Spranger sieht die Prinzipien der Universität eklatant verletzt. Obwohl er schon vor 1933 Strukturwandlungen der Universität beobachtet, versteht er nun vollends die Welt nicht mehr. 45 Auch bei seinem Protest verschätzt er sich. Statt seiner Emeritierung mit vollem Pensionsanspruch betreibt das Ministerium seine Entlassung. Erst eine persönliche Intervention des nationalkonservativen Vizekanzlers von Papen kann sie verhindern. Spranger muß sein Gesuch allerdings öffentlich zurückziehen. Er hat diese Vorgänge 1945 selbst geschildert und dabei die Ohnmacht und Folgelosigkeit seines Protestes betont: „In der Form des Kampfes war also nichts mehr zu erreichen. Ich mußte versuchen, der Idee von Wissenschaft und Hochschulerziehung zu dienen, indem ich an der Universität blieb
39 Spranger, Wohlfahrtsethik und Opferethik in den Weltentscheidungen der Gegenwart, Berlin 1930, bes. S. 28 ff. 40 Deutliche Unterscheidung dieser Geschichtstheologie vom Nationalsozialismus dann bei Sprangers engem Freund Theodor Litt, Protestantisches Geschichtsbewußtsein. Eine geschichtsphilosophische Besinnung, Leipzig 1936; ders., Der deutsche Geist und das Christentum. Vom Wesen geschichtlicher Begegnung, Leipzig 1939. 41 Spranger, Volk, Staat, Erziehung, S. 198, vgl. auch 209. 42 Ebd., S. 191 f. 43 Ebd., S. 206. 44 Schreiben vom 25.4.1933 an den Minister Rust, In: UAHU, Phil. Fak. 1477, Bl. 144; zu Sprangers Begründung vgl. dessen Artikel vom März 1933: Spranger, Die Individualität des Gewissens und der Staat, in: Logos 22 (1933), S. 171-202; vgl. Spranger, Briefe 1901-1963, S. 149ff. 45 Dies betont Heinz-Elmar Tenorth, Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933. Politisches Handeln eines preußischen Gelehrten, in: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 573-596.
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[...] Mein Einfluß in der Universität und Fakultät war natürlich zu Ende" 46 . Mit einem Artikel März 193341 will Spranger damals seinen kurzen Protest direkt wieder vergessen machen. Sachlich ist seine dortige Forderung von Arbeitsdienst und Wehrwille aber nicht neu und skandalisierend. Interessanter ist da schon ein später Überblick über Die Epochen der politischen Erziehung in Deutschland48, der es der Wehrmacht in Weimar und dann Hitler zurechnet, daß die „Arbeiterschaft wieder national" gesinnt sei. Spranger fürchtet jedoch, daß der nationale „Aufbruch" auch ein weltanschaulicher „Umbruch" sei,49 und geht erneut auf christliche Distanz. Hartmann gegenüber gesteht er damals ein „zunehmendes Gefühl der Vereinsamung" 50 . Der Lehrbetrieb scheint gestört. Der Jugendfreundin schreibt er im Juni 1934: „In meinem Seminar ist ein Stoßtrupp aktiv geworden. Ich habe ihn ernst genommen [...], und ich werde von jetzt an die Lage als Kampfsituation betrachten und durchhalten" 51 . 1936 wechselt er für ein Jahr nach Tokio als Leiter des dortigen deutsch-japanischen Kulturinstituts. Als Mitglied der Berliner Mittwochs-Gesellschaft, der u. a. die Widerstandskämpfer Generaloberst Ludwig Beck (1880-1944) und Johannes Popitz (1884-1944) angehören, wird Spranger nach dem 20. Juli im Herbst 1944 einige Wochen im Gefängnis Moabit inhaftiert und verhört. 1945 wird er der erste kommissarische Nachkriegsrektor der Universität. In diesem Amt gerät er alsbald in Gegensatz zur russischen Verwaltung. Als die Universitätsverwaltung vom Berliner Magistrat an die Ostzonenregierung übergeht, verliert er im Oktober 1945 sein Amt. An der Wiedereröffnung der Universität im Januar 1946 ist er nicht mehr beteiligt. Er wechselt 1946 nach Tübingen und wird im September 1946 in Berlin auf eigenen Antrag entpflichtet. 52 Rückblickend betont er später den „Bruch" des Jahres 1933: „Aber es liegt 46 Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin 1959, S. 89-94, hier: S.93f.; ein weiteres Motiv war die Rentenfrage: „Ich hörte aber, daß der Minister entschlossen sei, mich ohne Pension zu entlassen, wenn ich das Rücktrittsgesuch nicht zurücknähme" (Spranger, Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert", in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, hier: S. 351). 47 Spranger, März 1933, in: Die Erziehung 9 (1933), S. 401-408; dazu aus marxistischer Perspektive etwas ausgreifend, aber - bis auf den Untertitel - nicht unzutreffend: Thomas Langstien, Die protestantische Ethik und der ,Geist von Potsdam'. Sprangers Rekonstruktion des Führerstaats aus dem Prinzip persönlicher Verantwortung, in: W. F. Haug (Hrsg.), Deutsche Philosophie 1933, Hamburg 1989, S. 29-68. 48 Spranger, Die Epochen der politischen Erziehung in Deutschland, in: Die Erziehung 13 (1938), S. 137-164, bes. 162ff. 49 Vgl. Spranger, Aufbruch und Umbruch, in: Die Erziehung 8 (1933), S.74-79. 50 Spranger, Brief v. 9.10.1934, in: Briefe 1901-1963, S. 161. 51 Brief v. 26.6.1934, ebd. S. 158f.; zu den Aktivitäten des NSDStB (Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes) in Berlin vgl. Konrad H. Jarausch, Die Vertreibung der jüdischen Studenten und Professoren in der Berliner Universität unter dem NS-Regime, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 112-133, hier: 116ff. 52 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone, Schreiben vom 14.9.1946, in: UAHU UK PA S 224, Bd. 2, Bl. 66-70.
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mir daran, hinzuzufügen, daß es nicht der Nationalsozialismus war, der in die Katastrophe geführt hat, sondern ganz eigentlich der Hitlerismus" 53 . Nach 1945 kritisiert Spranger die „Wertneutralität" der Weimarer Verfassung, die er früher begrüßte, und affirmiert nun die „Vorordnung des persönlichen Gewissens vor dem Staat" im Grundgesetz. 54
b.
Auch ein vergessener Ordinarius: Heinrich
Maier
Von anderem Naturell ist Heinrich Maier (1867-1933). Er wechselt 1922 von Heidelberg nach Berlin, um die Nachfolge Benno Erdmanns anzutreten. Heute ist Maiers schriftstellerisches Werk vergessen. Das war damals nicht abzusehen. Württemberger von Geburt und Tübinger Stiftler, nimmt Maier seinen Ausgang von der Betrachtungsweise seines späteren Schwiegervaters Christoph Sigwart (1830-1904). Bei ihm promoviert er 1892 mit einer Arbeit über Die logische Theorie des deduktiven Schlusses. In Tübingen erfolgt auch die Habilitation. Maier reicht den ersten Teil seiner dreibändigen Syllogistik des Aristoteles ein. Er lehrt dann erfolgreich an den Universitäten Tübingen, Zürich, Göttingen und Heidelberg. Nach dem Tode Erdmanns schreibt die Fakultät im März 1922 an den Kultusminister, daß Maier an „einziger Stelle" vorzuschlagen sei. In ihrer Begründung steht: „Bei der Bedeutung der wieder zu besetzenden Professur kann nur eine wissenschaftliche Kraft ersten Ranges in Betracht kommen, welche zugleich dem Bedürfnis nach gründlicher Unterweisung in der Geschichte der Philosophie Rechnung zu tragen vermag. Die Fakultät ist in der glücklichen Lage, eine solche Persönlichkeit zu nennen. Es ist dies der zur Zeit hervorragendste Forscher auf dem Gebiete der griechischen Philosophie und ihrer Geschichte, der sich zugleich in der Logik und Erkenntnistheorie ausgezeichnet und auch um die Psychologie namhafte Verdienste erworben hat."55
Antike Philosophie mit moderner Logik und Erkenntnistheorie aufgefaßt, dadurch empfiehlt sich Maier der Berliner Fakultät. Als Philosophiehistoriker eher ein Nachfolger der strengen philologischen Orientierung Trendelenburgs und Zellers, tritt er als Logiker und Erkenntnistheoretiker bewußt in die Fußstapfen Riehls, zu dessen Festschrift er eine Auseinandersetzung mit Husserl beisteuert. So würdigt er in der
53 Spranger, Fünf Jugendgenerationen, in: ders., Pädagogische Perspektiven. Beiträge zu Erziehungsfragen der Gegenwart, 3. Aufl., Heidelberg 1955, S. 25-57, hier 53; zur Rede vom „Hitlerismus" vgl. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946. 54 Spranger, Rede zum 2. Jahrestag der Bundesrepublik am 12.9.1951, in: Pädagogische Perspektiven, S. 116-132, hier 119. 55 UAHU, Phil. Fak. 1469, Bl. 222.
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Gedächtnisrede für Riehl56 dessen kritisch-realistische Umdeutung Kants: Riehl habe Kants Kategorien von Raum und Zeit realistisch in „Erscheinungsformen" umgedeutet 57 und sei als „Antimetaphysiker" und Vertreter des psychophysischen Parallelismus „am Ende weit mehr Positivist als Kantianer"58 gewesen. Aus der erkenntnistheoretischen Schule kommend, an der Physik als „Musterbild der eigentlichen Wissenschaft" orientiert, habe er dabei aber den Zugang zur praktischen Philosophie trotz seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht recht gefunden. 59 Damit präsentiert Maier sein Berliner Programm, seine Philosophie der Wirklichkeit, als eine umfassende Weiterführung der Ansätze Riehls. Systematisch geht Maier von einer Psychologie des emotionalen Denkens aus. Er kann auch Studien zum Verhältnis zwischen protestantischer Theologie und Philosophie 60 sowie eine methodologische Studie über Das geschichtliche Erkennen vorlegen. 61 Seine Berufung verdankt er jedoch in erster Linie seinem 1913 erschienenen Sokrates62. Spranger charakterisiert diese Schrift in seiner Gedächtnisrede wie folgt: „Heinrich Maiers Sokrates ist nicht der polisgebundene Moraldenker, den man seitdem wieder den undurchsichtigen Überlieferungen hat entnehmen wollen, sondern wirklich der bahnbrechende Entdecker des persönlichen Gewissens, den schon Hegel in ihm geahnt hat: der Verkünder des Ideals der inneren Freiheit, der aus eigenster sittlicher Gewißheit, aber nicht aus begrifflicher Verständigkeit, lebende und zündende Erwecken" 6 3
Viele Wege führen damals zu Sokrates zurück. Maiers Deutung von Sokrates als „sittlicher Erwecker und Heros" läßt sich als Einspruch gegen Zellers auf Nietzsche wirkende Auffassung des Sokrates als „Begründer der Begriffsphilosophie" lesen. 64 Die Rückbesinnung auf Sokrates liegt aber auch in der Konsequenz Diltheys. Dilthey begreift Philosophie nach seiner scharfen Kritik der „Metaphysik der substantialen
56 Maier, Alois Riehl. Gedächtnisrede v. 24.1.1925, in: Kant-Studien 31 (1926), S. 563-579; vgl. ders., Immanuel Kant. Festrede, Berlin 1924, bes. S. 15f.; Philosophie der Wirklichkeit, Bd. 1, Tübingen 1926, S. 1-91; Philosophie der Wirklichkeit, Bd. 3, Tübingen 1935, S. 3 f f „ 84ff.; ausführliche Darstellung in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Philosophie-Lexikon, Berlin 1950, Bd. 2, S. 98-107. 57 Ebd., S. 568f. 58 Ebd., S. 573. 59 Vgl. ebd., S. 575ff. 60 Maier, An der Grenze der Philosophie. Melanchton, Lavater, David Friedrich Strauss, Tübingen 1909. 61 Maier, Das geschichtliche Erkennen, Göttingen 1914. 62 Maier, Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung, Tübingen 1913. 63 Spranger, Gedächtnisrede auf Heinrich Maier, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klassen, Berlin 1934, S. CXIX.; vgl. schon die Rezension von Werner Jaeger, in: Deutsche Literaturzeitung 1915, S. 333-340 u. 381-389. 64 So die Darstellung der damaligen Diskussionslage bei Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, Berlin 1944, S. 5 9 f f „ bes. 70ff.
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Formen" erneut als radikale „Selbstbesinnung". Sokrates, Augustinus und Schleiermacher sind seine Exempel philosophischer Selbstbesinnung. Der Rückgang auf ein sokratisches Verständnis von Philosophie liegt also nach Dilthey nahe. Und auch das Aristotelesstudium führt über Dilthey und Trendelenburg auf die Anfänge der Berliner Philosophie zurück. Eine Berufung Maiers ist demnach also nicht nur fachlich keineswegs abwegig, sondern auch innerhalb der Berliner Tradition nicht so exzentrisch, wie die Philosophie der Wirklichkeit es dann vermuten läßt. Deren Ansatz rezipiert aber noch Nicolai Hartmann (1882-1950). 65 Während Troeltsch und Spranger erst nach einigen Jahren als Ordinarien in die Preußische Akademie gewählt werden, gehört Maier ihr seit seinem Wechsel nach Berlin an. In der Nachfolge Erdmanns wirkt er bis zu seinem Tod am 28. November 1933 dort als Leiter der Kant- und der Leibniz-Ausgabe. Er ist auch Referent des Fachausschusses für Philosophie in der 1918/19 auf Initiative der Preußischen Akademie gegründeten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die bald zum „wichtigsten wissenschaftspolitischen Steuerungsorgan" 66 avanciert. Aus ihr geht 1929 die Deutsche Forschungsgemeinschaft hervor. Politisch nimmt Maier im Krisensommer 1932 für einen Vorrang des Individualismus und somit unausdrücklich wohl für die Republik Stellung.67 Für die Nachfolge ist zunächst einmal wieder Heidegger im Gespräch. Der Lehrstuhl bleibt aber unbesetzt.
c.
Lange Lehrzeit und vielfältige Wirksamkeit: Max Dessoir
Max Dessoir (1867-1947) ist gebürtiger Berliner und verbringt fast sein ganzes akademisches Leben in Berlin. Er kommt 1885 an die Universität, hört Dilthey und wird dadurch nachhaltig geformt. Nach sechs Semestern schließt er sein Studium mit der Promotion über Karl Philipp Moritz als Ästhetiker an; er löst diese Aufgabe „nicht übel" 68 . 1892 erlangt er auch die medizinische Doktorwürde durch eine sinnesphysiologische Schrift über den Hautsinn. Noch im selben Jahr erfolgt die Habilitation für
65 Hartmann, Heinrich Maiers Beitrag zum Problem der Kategorien (1938), in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 3, Berlin 1958, S. 356-364. 66 W. Schlicker/H. Kant, Hauptstädtische Wissenschaft in der .Republik auf Zeit' 1918-1933, in: Wissenschaft in Berlin, hrsg. H. Laitko et al., Berlin 1987, S. 413. Dazu vgl. Ulrich March, Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Gründung und frühe Geschichte 1920-1925, Frankfurt/M. 1994; Winfried Schulze, Der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft 1920-1995, Berlin 1995. 67 Maier, Sittlicher Sozialismus oder Individualismus?, in: Berliner Universitätsreden, Berlin 1932. 68 Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S. 31; vgl. ders., Karl Philipp Moritz als Ästhetiker, Berlin 1889; Bibliographie Dessoirs bis 1928 in: Christian Herrmann, Max Dessoir. Mensch und Werk, Stuttgart 1929.
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Philosophie mit einer Abhandlung über Des Nicolaus Tetens Stellung in der Geschichte der Philosophie. In dieser Zeit steht eine Berufung an. Es geht um das Extraordinariat des Ethikers Gizycki. „Wir quälen uns mit dem freigewordenen philosophischen Extraordinariat. Döring, Lasson, Simmel, Dessoir - was für eine Serie!", schreibt Dilthey im Juli 1896 an den Grafen York von Wartenburg. Da Heinrich von Stein mittlerweile verstorben ist, strebt er eine Umdefinition auf die Ästhetik an. Von Althoff um Rat gefragt, antwortet Dilthey: „Er [Dessoir] besitzt eine naturgewachsene ästhetische Begabung, aber wie dies bei Ästhetikern leider so häufig ist, ist sie mit einem Mangel an logischer Klarheit und wissenschaftlicher Genauigkeit verbunden." 69 In der Berufungskommission argwöhnt man, daß Dessoir das Fach Ästhetik, „auf das ihn Dilthey dressiert", „nur pro forma" betreibe und später „den Teufel nach diesen Dingen fragen" 70 wird. Auch spricht man ihm nach einer flüchtigen Geschichte der neueren deutschen Psychologie (1894) sittlichen Ernst ab. So erörtere Dessoir „ganz ohne Not die Scheußlichkeiten der Päderasten in verdeckt-apologetischer Weise und ohne wissenschaftlichen Gewinn" und bringe „dabei seine statistischen Erhebungen über den Procentsatz cunnilingi bei den ,bessern Dirnen Berlins'" 71 an den Mann. Daß Dessoir 1897 dennoch zum besoldeten Extraordinarius ernannt wird, liegt auch hier am regen Briefkontakt mit Althoff. Dessoir versteht es, sich auf unkonventionelle Weise in Erinnerung zu rufen. So beläßt er es nicht bei den üblichen Mitteilungen über ein gerade fertiggestelltes Buch oder finanzielle Kalamitäten, sondern streut schon mal ein paar getrocknete Edelweißblümchen für die Gattin vom Urlaubsort ein. Die Gefahren von Althoffs autokratischem Verwaltungsstil bleiben ihm nicht verborgen.72 Über die Jahre des Hoffens auf ein Ordinariat hilft Dessoir sich mit ironischer Distanz. An den künftigen Minister Becker schreibt er im Oktober 1919: „Die Ordinarien betrachten die Masse der Extraordinarien etwa so, wie Englaender u. Franzosen die Deutschen beurteilen, u. die aelteren Privatdozenten rechnen sie überhaupt nicht unter die Menschen." 73 Namentlich beklagt Dessoir den „Dünkel" 74 von Riehl und Erdmann. Um so mehr konzentriert er sich auf sein schriftstellerisches Werk. Von Jugend auf ein „Geheimkünstler und Geheimforscher" 75 , arbeitet er über aktuelle psychologische Themen und zeigt eine Vorliebe für okkulte Praktiken. So schreibt er über den modernen Hypnotismus (1888), über Das Doppel-Ich (1890) und sammelt 69 I. HA Rep. 92, Nachlaß Althoff, Abt. B, Nr. 27, Bd. 2, Bl. 35. 70 Brief Diels an Zeller vom 12.4.1896, in: Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel, hrsg. v. Dietrich Ehlers, Bd. 2, Berlin 1992, S. 133. 71 Ebd., S. 133. 72 Dessoir, Buch der Erinnerung, S. 206ff. 73 I. HA Rep. 92, Nachlaß Becker, Abt. D, Nr. 167, Brief von Dessoir an Becker vom 4.10.1919. 74 Dessoir, Buch der Erinnerung, S. 176. 75 Ebd., S. 116ff., Werkbeschreibung ebd. S. 36ff.
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Teil IV: Krise
Urkunden über den „physikalischen Mediumismus" 76 . Als 1906 sein Hauptwerk Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erscheint, ist Dessoir von der früheren psychologischen Grundlegung des subjektiven „ästhetischen Eindrucks" abgerückt. Die Möglichkeit einer Entscheidung über Geltungsansprüche sieht er nun in einer „Wertwissenschaft" 77 verbürgt, die ihre Autorität aus der objektivistischen Überzeugung stiftet, daß die Objekte der ästhetischen Wahrnehmung nicht gleichgültige Reize, sondern „Träger ästhetischer Werte" 78 sind. Dessoir vollzieht damit die antipsychologische Wende innerhalb der Ästhetik mit. Edmund Husserl (1859-1938) hatte die Psychologismuskritik in seinen Logischen Untersuchungen (1900/01) zur unhintergehbaren Voraussetzung einer eigenständigen Philosophie erhoben. Die Folgen zeigen sich auch in der Ästhetik, wo die erkenntnistheoretischen Aspekte der Geltung zunehmend die psychologischen der Genese verdrängen. Drei Jahre nach Erscheinen von Husserls bahnbrechenden Untersuchungen veröffentlicht Jonas Cohn (1869-1947) im Archiv für systematische Philosophie einen Aufsatz unter dem Titel Psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik?19 und führt darin das Psychologismusverdikt in die ästhetische Diskussion ein. Der Beitrag ist als Streitschrift an die psychologisierenden Ästhetiker adressiert, namentlich an Theodor Lipps (1851-1914), der 1903 den ersten Band seiner Ästhetik publiziert. 80 Auch Cohn appelliert - wie wenige Jahre später Dessoir - an das Bedürfnis nach einer Wertwissenschaft: Die kritische Ästhetik qua Wertwissenschaft könne den Wert eines Objekts an dessen Forderungscharakter phänomenologisch ablesen. Wenngleich die Sicht sub specie valoris eine verlockende Alternative zum psychologischen Versuch einer generalisierenden Erfassung der ästhetischen Wertäußerungen offeriere, hält Lipps daran fest, daß das ästhetische Werten der Individuen allererst zu verstehen sei.81 Dessoir führen die antipsychologistischen Einwände zu einer Abkehr vom Problem des ästhetischen Eindrucks („Subjektivismus") und einer Hinwendung zum ästhetischen Gegenstand („Objektivismus"), so daß er 1910 in seiner Zeitschrift
76 Vgl. Dessoir, Vom Jenseits der Seele, Stuttgart 1917; Vom Diesseits der Seele. Psychologische Briefe, Leipzig 1923; ders. (Hrsg.), Der Okkultismus in Urkunden, 2 Bde., Berlin 1925. 77 Vgl. Dessoir, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 1906, S.91: „Die Ästhetik hat die einander widersprechenden Geschmacksurteile und Kunstgebilde auf die Berechtigung ihres Anspruchs hin zu prüfen; hiermit verläßt sie den Machtbereich der Psychologie und wird zu einer Wertwissenschaft." 78 Dessoir, Eröffnungsrede, in: Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 7.-9. Oktober 1913, Stuttgart, 1914, S. 42-54, hier 46. 79 Jonas Cohn, Psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik?, in: Archiv für systematische Philosophie 10 (1904), S. 131-159. 80 Siehe dazu: Christian G. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, Göttingen 1987. 81 Theodor Lipps, Psychologie und Ästhetik, in: Archiv für Psychologie 9 (1907), S. 91-116; ders., Ästhetik, in: Paul Hinnberg (Hrsg.), Systematische Philosophie, Berlin/Leipzig 1907, S.349-388.
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für Ästhetik und Kunstwissenschaft schreibt: „alles Objektive [tritt] durch Befolgung einer eigenen Gesetzmäßigkeit, die nicht die psychologische ist, als unabhängig dem erlebenden Subjekt gegenüber [...] Wir haben es hier mit dem ästhetischen Sein zu tun." 82 Dessoir tritt weder durch richtungsweisende Theorien noch durch spektakuläre Neuansätze oder einen systematischen Gesamtentwurf hervor. Dennoch bereichert er die Ästhetikdiskussion in vielfältiger Weise. Sein wichtigster Impuls ist wohl die Trennung von „Ästhetik" und „Kunstwissenschaft": Die Ästhetik sei viel umfassender als die Kunst und schließe das Naturschöne wie die Gegenstände „täglicher Erfahrung" 83 ein. Dagegen sei die Kunstwissenschaft auf die Sphäre der sozialen, religiösen und auch politischen Gestaltungen beschränkt. Die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zielten deshalb weiter als die Ästhetik, weil sie über die Erörterungen von Geschmacksfragen hinausgreifen und die außerästhetischen (z.B. religiöse und ethische) Wertäußerungen einbeziehen. 84 Kunst sei keine Sache des Geschmacks und dürfe auch nicht nur unter geschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden; man werde der Kunst nicht gerecht, wenn man sie „ästhetisiert und historisiert" 85 . So kann Dessoir auch politische Fragen kunstwissenschaftlich angehen und sich für zeitgenössische Debatten zuständig finden. In der Kontroverse um ein geplantes Bismarck-Nationaldenkmal auf der Elisenhöhe über dem Rhein bei Bingerbrück verteidigt er die Entscheidung der Preiskommission für einen monumentalen Entwurf, der vor allem von Alfred Lichtwark und Walther Rathenau 86 kritisiert wurde. In der akademischen Öffentlichkeit tritt Dessoir auch als geschäftiger Organisator hervor. Nach Gründung der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft folgt 1909 die Gründung der Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, deren Präsident Dessoir lebenslang bleibt. Auf seine Initiative findet 1913 der erste große Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft statt. 87 Es folgen weitere Kongresse in Berlin (1924), Halle (1927) und Hamburg (1930), letzterer unter der Schirmherrschaft Cassirers. Der für 1933 vorgesehene 5. Kongreß kann aufgrund der veränderten politischen Situation nicht mehr durchgeführt werden. 88 82 Dessoir, Objektivismus in der Ästhetik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 5 (1910), S. 1-15, hier 9. 83 Dessoir, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, S. 4. 84 Vgl. dazu: Stephan Nachtsheim, Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, Berlin 1984, S. 43-45. 85 Dessoir, Buch der Erinnerung, S. 39. 86 Siehe: Alfred LichtwarkAValter Rathenau, Der rheinische Bismarck, Berlin 1912. Die Bedeutung einer Denkmalskultur für die politische Erinnerungskultur fand in den letzten Jahren bei den Historikern wieder verstärkt Beachtung; vgl. dazu die Beiträge von Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 224ff., 264ff. 87 Bericht von Arthur Liebert, in: Kant-Studien 19 (1915), S. 506-520. 88 Vgl. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 417-421.
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Dessoir wird auch als Herausgeber tätig. Für die Philosophie verdienstlicher noch als die zweibändige, prächtig aufgemachte Sammlung Der Okkultismus in Urkunden ist das 1925 gleichzeitig herausgebene umfangreiche Doppelwerk eines anspruchsvollen historisch-systematischen Lehrbuchs. Ein Band behandelt Die Philosophie in Einzelbeiträgen, der andere die Geschichte der Philosophie, die Cassirer mit einer umfangreichen Darstellung über „Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Piaton" eröffnet. Im ersten Weltkrieg dient Dessoir als Heerespsychologe und sitzt im Armeehauptquartier an Hindenburgs Tafel. 89 Nach seiner Berufung zum Ordinarius ist er eine Säule des Lehrbetriebs: ein anerkannter Lehrer und gefragter, spitzzüngiger Gutachter. Anders als Spranger und Vierkandt engagiert er sich nicht sonderlich in politischen Fragen. Dennoch ergreift ihn, der doch „nur einen jüdischen Großelternteil" 90 hat, die Politik. Die Stimmung der Fakultät Anfang 1933 beschreibt er so: „Der Dekan der Berliner Philosophischen Fakultät hatte auf meine Bitte hin im Januar 1933 ein Dutzend Professoren zusammengerufen, um eine Mitteilung von mir entgegenzunehmen. Ich führte aus, daß wir mit einem Übergang der Regierung an die Nationalsozialisten rechnen müßten, daß damit das Leben der Hochschulen bedroht sei, und schlug Maßnahmen vor, die von unserer Universität ins Werk gesetzt werden und alle Hochschulen zu einem festen Block zusammenschweißen sollte. Der erste, der in der Erörterung sprach, erklärte, er habe ein so wichtiges Buch zu schreiben, daß er sich um solche Dinge nicht kümmern könne, der zweite betonte, er sei gleich den meisten Kollegen eine ganz unpolitische Natur, der dritte verspottete mich wegen meiner Schwarzseherei".91
Im April 1934 wird Dessoir wegen seiner jüdischen Herkunft entpflichtet. In seinem Buch der Erinnerung schildert er bewegend, warum er darauf verzichtet, gegen den Formfehler dieser Maßnahmen zu protestieren. Den systematischen Ertrag seiner Philosophie legt er 1936 in einer Einleitung in die Philosophie nieder. Hier besinnt er sich erneut auf die alte Aufgabe der Philosophie, weltanschauliche Orientierungshilfen zu geben. Dessoir ist nie versucht, die Philosophie auf das Verhältnis zu den Einzelwissenschaften zu beschränken. Diese Überforderung mache den Philosophen „zum Dilettanten von Beruf, denn man mutet ihm eine [...] unmögliche Leistung zu" 92 . Er stellt die Philosophie unter Diltheys Rubrik einer „Theorie der Theorien" 93 . Es zieht ihn aber auch auf die weltanschauliche Seite. Mit „großer Bestimmtheit fühlen wir heute, daß die Philosophie kein 'Fach' ist, daß sie aus dem Leben kommt und dem Leben dient" 94 .
89 90 91 92 93 94
Dessoir, Ebd., S. Ebd., S. Dessoir, Ebd., S. Ebd., S.
Buch der Erinnerung, S. 53 ff. 107; vgl. auch S. 72ff., 138ff. 72. Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl., Stuttgart 1946 (1. Aufl. 1936), S. 13. 21. 180.
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etabliert sich: Alfred
Vierkandt
Als Wegbereiter der Soziologie machen sich in Berlin u. a. Lazarus, Tönnies, Simmel, Troeltsch, Sombart, Kurt Breysig und Vierkandt verdient. Die Institutionalisierung der Soziologie folgt ihrer Professionalisierung jedoch nur langsam nach. So erhält Werner Sombart (1863-1941) seinen Ruf an die Berliner Universität noch als Ordinarius für „wirtschaftliche Staatswissenschaften" 95 . Der Wunsch nach akademischer Selbständigkeit ist damit indes noch nicht erfüllt. Es gibt keine gemeinsame soziologische Lehr- und Forschungsstätte. Die Soziologie existiert über verschiedene Institute und Seminare verteilt. Sombart formuliert dies so: „In Deutschland gibt es keine Soziologie', sondern nur viele .Soziologen'." 96 Mit der Weimarer Republik kommt es endlich zu einem Durchbruch. 1919 fordert C. H. Becker in seinen Gedanken zur Hochschulreform97 auch die Einrichtung soziologischer Lehrstühle; er verweist auf die Notwendigkeit staatsbürgerlicher Erziehung und bestreitet damit den Verdacht, Soziologie sei eine „Oppositionswissenschaft". Weil die Politikwissenschaft damals institutionell noch weniger etabiert ist, sucht die Soziologie zwischen Philosophie und politischer Wissenschaft ihre Fragestellung und Methode. Alfred Vierkandt (1867-1953) ist der Mann, diesen Grenzgang zu beschreiten. Seine universitäre Laufbahn beginnt 1885 in Leipzig, wo er Mathematik, Physik, Geographie und Philosophie studiert. Im Vorwort seiner 1896 erschienenen, später als Habilitationsschrift eingereichten umfangreichen Untersuchung Naturvölker und Kulturvölker nennt er Friedrich Ratzel und Wilhelm Wundt als seine Lehrer. 1900 kommt er nach Berlin, um sich zu habilitieren. Dilthey gibt eine eingängige Darstellung der Intention Vierkandts: „Er versucht die Formen und Stufen der Cultur, welche die Völker der Erde erzeugt haben, psychologisch zu beschreiben und zu vergleichen. Die Methode ist also psychologische Interpretation der ethnologisch gegebenen Thatsachen, Vergleichung, Aufstellung von Haupttypen, wobei er das Ziel im Auge hat, den allgemeinen, gesetzlichen Verhältnissen sich zu nähern, welche der Variabilität der Kultur nach der räumlichen und zeitlichen Verteilung zu Grunde liegen." 98
Vierkandts Untersuchung zielt weniger auf die Beschreibung der Naturvölker als auf die Unterscheidung der Kulturvölker von Naturvölkern durch Einführung einer sozialpsychologischen Bestimmung des Wesens der Vollkultur. „Das Wesen der Vollkultur besteht in den Übergängen der willkürlichen von den unwillkürlichen Willensakten überall da, wo es sich um wichtige und entscheidende Angelegenheiten sei es des
95 Vgl. F. Lenger, Wemer Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994, S. 255-257. 96 Dirk Käsler, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht europäische Soziologen im Sommer 1934, Opladen 1985, S. 98. 97 Carl Heinrich Becker, Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919, S. 9. 98 UAHU, Phil. Fak. 1224, Bl. 30.
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individuellen sei es des socialen Lebens handelt" 99 , schreibt Vierkandt. Wie Tönnies 100 und Simmel kennzeichnet er die Vollkultur der Gegenwart durch ein „Überwiegen der willkürlichen Willensakte" und Reflexivität. Dabei unterscheidet er „Wille und Intellekt". Aus diesem Ansatz entwickelt er zwei sozialpsychologische Kategorien und „Typen der Vollkultur".101 Vierkandt entwirft zwar eine allgemeine Typenlehre zur Klassifizierung von „Völkern", konzentriert sich aber auf die Beschreibung der „Eigenschaften" und der „Gebrochenheit" der „Vollkultur". Damit zeichnet sich eine lebensphilosophische und „tragische" Sicht auf die „Gebrochenheit" der Gegenwart ab, wie auch Simmel sie vertritt. 1900 erhält Vierkandt die Venia für „Völkerkunde und die angrenzenden Gebiete der Philosophie". In den folgenden Jahren wendet er sich verstärkt der politischen Soziologie zu. Als Soziologe unterscheidet er 1916 in Machtverhältnis und Machtmoral nicht Macht und Recht, sondern Macht und Gewalt. Er versteht die soziale Macht produktiv und kritisiert als Irrtümer der „naturalistischen Theorie" nur die status gt/o-Orientierung der „bürgerlichen Machtmoral" auf die bloße Erhaltung des Bestehenden. Unter Berufung auf Kant und Nietzsche plädiert Vierkandt für eine „idealistische Machtmoral" und diagnostiziert einen „neuen ethischen Idealismus" in den Reformbewegungen der Gegenwart. Später beruft er sich dafür emphatisch auf Kants Naturrecht102. Den Radikalismus der Revolution lehnt er ab. 103 Daß er keine neutrale Beschreibung gibt, sondern politische Option und Diagnose in einer Sozialpädagogik104 zusammenführt, verdeutlicht die Broschüre Staat und Gesellschaft in der Gegenwart, die 1916 in erster und 1929 in dritter Auflage als Einführung in das staatsbürgerliche Denken und in die politische Bewegung unserer Zeit erscheint. Im Vorwort heißt es: „Der wesentliche Inhalt des Büchleins wurde bereits im Jahre 1910 in einem Volkshochschulkurs vorgetragen. Insbesondere waren die Grundgedanken bereits dieselben: in der Entwicklung vom obrigkeitlichen zum staatsbürgerlichen Geist sind wir auf politischem Gebiet und in Entwicklung von einer ausgesprochen herrschaftlichen zu einer mehr demokratischen Verfassung auf dem gesellschaftlichen Gebiet hinter den Ansprüchen der Zeit zurückgeblieben" 105 .
99 Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Sozialpsychologie, Leipzig 1896, S. 287; Bibliographie von Vierkandts Schriften in: Gegenwartsprobleme der Soziologie. Alfred Vierkandt zum 80. Geburtstag, hrsg. v. G. Eisermann, Potsdam 1949, S. 277ff. 100 Dazu Vierkandt, Ferdinand Tönnies und seine Weiterbildung in der Gegenwart, in: KantStudien 30 (1925), S. 299-309. 101 Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker, S. 297 ff. 102 Vierkandt, Der geistig-sittliche Gehalt des neueren Naturrechts, Wien 1927. 103 Vierkandt, Zur Theorie der Revolution, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung 46 (1922), S. 19-41. 104 Vierkandt, Die sozialpädagogische Forderung der Gegenwart, Berlin 1920. 105 Vierkandt, Staat und Gesellschaft in der Gegenwart. Eine Einführung in das staatsbürgerliche Denken und in die politische Bewegung unserer Zeit, 3. Aufl., Leipzig 1929, S. 3.
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Ein „neues Zeitalter ist seit der Jahrhundertwende hereingebrochen". Vierkandt entdeckt dessen Heraufkunft in der politischen Organisation des modernen Nationalstaats durch die „politischen Parteien" und „Reformbewegungen der Gegenwart". Diese sozialdemokratischen Auffassungen erfüllen alle Erwartungen Beckers an das neue Fach. Vierkandt würdigt Beckers Gedanken zur Hochschulreform denn auch ausgiebig. Unter dem Titel Universitätsreform betont er die Notwendigkeit einer institutionellen Organisation der Selbstverwaltung aller Mitgliedergruppen, rät, einen „Kampfzustand" zu vermeiden, und fordert „Sinn für das Werdende", d.h. Gestaltungsspielraum.106 Vierkandts Hauptwerk Gesellschaftslehre107 stellt sich 1923 in die Tradition von Simmel und Tönnies. Die darin entworfene philosophische Soziologie ist als eine „formale Soziologie" zu verstehen, die ausgehend von der „sozialen Ausstattung des Menschen", unter Verzicht auf den Unterbau einer biologischen Anthropologie, einen „modernen Totalitätsgedanken" dadurch soziologisch herausstellt, daß sie „die wichtigsten historischen Formen der Gemeinschaft" von den modernen „Kollektivphänomenen" der „Gruppe" abhebt. Verstärkt zielt Vierkandt dabei auf die Beschreibung moderner Vergesellschaftungsformen in der „Gruppe". Dabei hält er auch sozialpsychologische Fragestellungen fest. Bei den Kollegen stößt er mit seiner Gesellschaftslehre auf Vorbehalte. Die Emanzipation der Soziologie von der Philosophie ist derart rapide, daß er bald innerhalb der Zunft als „Phänomenologe" beargwöhnt wird. Leopold von Wiese (1876-1969) kommentiert den Methodenwechsel seines Fachkollegen drastisch: „Die Wesensschau hat man auch früher schon gekannt; heute wird sie mehr zur Verdunkelung als zur Aufhellung schwieriger Zusammenhänge benutzt. Der Soziologe sollte sie neidlos den Philosophen überlassen."108 Ähnlich bemerkt Ferdinand Tönnies (1855-1936) zur Person: „Einer unserer Größten, aber vielleicht eher ein Philosoph als ein Soziologe."109 1921 schlägt das Ministerium Vierkandt für ein Extraordinariat für Soziologie vor. Man wurde auf ihn auch durch seine Arbeit im Vorstand der 1909 konstituierten Deutschen Gesellschaft für Soziologie aufmerksam. Als Gründungsväter zeichnen unter anderem Simmel, Tönnies und Max Weber.110 Vierkandts „formale Sozio106 Vierkandt, Universitätsreform, in: Deutsche Literaturzeitung vom 27.12.1919, S. 987-994, hier: 994. 107 Vierkandt, Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, Stuttgart 1923; vgl. ders., Kleine Gesellschaftslehre, Stuttgart 1949. Eine knappere Darstellung der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie gibt Vierkandt 1925 in dem von Dessoir herausgegebenen Lehrbuch Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin 1925, S. 841-943. 108 Leopold v. Wiese, Besprechung von Vierkandts „Gesellschaftslehre", zit. in: E. Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986, S. 325. 109 Zitiert nach: Käsler, Soziologische Abenteuer, S. 80. 110 Dirk Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungsmilieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984, S. 294.
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logie" 1 " zielt auf eine „Herleitung der Gesetze aller Gesellschaftsbildung aus dem Wesen der sozialpsychischen Prozesse, woraus gewisse Formmöglichkeiten und Abhängigkeit dieser von Zahl, Umfang, Ort, Kulturstufe sich ergeben."" 2 Noch im selben Jahr wird Vierkandt planmäßiger außerordentlicher Professor „mit der Verpflichtung, Soziologie und die benachbarten philosophischen Fächer in Vorlesungen und Uebungen zu vertreten."" 3 In der Lehre bleiben seine Erfolge hinter denen Dessoirs zurück. Auch als Gutachter ist er weit weniger gefragt. In der Fakultät jedoch ist er als integrativer Mensch beliebt. Wie Meinecke" 4 berichtet, organisiert er doch jahrelang die Sonntagsspaziergänge im Grunewald. Eine Integrationsleistung ist es auch, daß Vierkandt ein großes Handwörterbuch der Soziologie zusammenbringt. 1925 erhält er ein persönliches Ordinariat. Sein Hausstand nimmt sich dennoch relativ bescheiden aus. Um über die täglichen Runden zu kommen, muß er das oberste Stockwerk seines Hauses in der Dorotheenstraße 10 vermieten: „Und das im Haus eines Mannes, dessen soziologische Schriften überall bekannt sind, wo Soziologie betrieben wird." 115 Vierkandt optiert für die Weimarer Republik, verliert im Nationalsozialismus nach seiner Emeritierung noch seine Lehrbefugnis und stellt sich 1946, im hohen Alter, für den Neuaufbau der Berliner Fakultät wieder zur Verfügung.
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Zwei umstrittene Habilitationen: Hans Reichenbach und Friedrich Delekat
Im Sommer 1925 richtet Hans Reichenbach (1891-1953) ein Habilitationsgesuch an die Philosophische Fakultät. Als er nach Berlin kommt, kann er schon auf ein vielseitiges wissenschaftliches Leben zurückblicken. Seine Biographie liest sich wie ein Vademecum für Freunde der Interdisziplinarität. Zunächst studiert er Bauingenieurwesen in Stuttgart. Im Anschluß daran widmet er sich der Mathematik, Philosophie und Physik an den Universitäten Berlin, München und Göttingen. In Berlin gehört er zum Schülerkreis Cassirers. 116 1915 erfolgt die Promotion über die Anwendung der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie auf die physikalische Wirklichkeit. Nach weiteren Studienjahren in Berlin kehrt er 1920 nach Stuttgart zurück, wo er sich noch im selben Jahr an der Technischen Hochschule habilitiert und dann als Privatdozent 111 Dazu Vierkandt, Programm einer formalen Gesellschaftslehre, in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften 1 (1920), S. 56-66. 112 UAHU, Phil. Fak. 1470, Bl. 120. 113 UAHU, Phil. Fak. 1470, Bl. 124. 114 Friedrich Meinecke, Straßburg, Freiburg, Berlin 1901-1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, S. 160. 115 Käsler, Soziologische Abenteuer, S. 70. 116 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 334.
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Philosophie der Physik lehrt.117 Im Juni 1925 reicht er die Arbeit Der gegenwärtige Stand der Relativitätsdiskussion ein. Max von Laue (1879-1960) und Max Planck (1858-1947) werden daraufhin um Beurteilung gebeten. 118 Beide arbeiten am Institut für Theoretische Physik, das noch der Philosophischen Fakultät inkorporiert ist.119 Laues Gutachten ist eine moderate Auseinandersetzung mit Reichenbachs Begriff der Wahrscheinlichkeit sowie dessen Ansichten zur Relativitätstheorie. Allerdings gelangt der „reine" Physiker, selbst eine Autorität auf dem Gebiet der Relativitätstheorie, hinsichtlich der „Begabung und Neigung" des Habilitanden zu der Auffassung, daß dieser „hauptsächlich Erkenntnistheoretiker" sei. Und er fügt hinzu: „Bestände nicht das formelle Hindernis des mangelnden Lateinunterrichtes in der von ihm besuchten Schulgattung, so wäre die Venia legendi für Philosophie gewiss die geeignetste für ihn." 120 Planck schließt sich dem Gutachten Laues an und legt der Fakultät nahe, im Falle einer Habilitation gleich einen besoldeten Lehrauftrag für Erkenntnislehre der Naturwissenschaften zu erteilen. 121 Am 10. November 1925 tritt die Kommission zusammen. Maier hält den Habilitanden „für physikalische Philosophie geeignet", wobei aber „von Philosophie abzusehen sei". Dessoir „findet bedenklich, daß er [Reichenbach] gern spricht"; und „er sei unsympathisch". 122 In seinem schriftlichen Votum vermag Spranger sich mit Reichenbachs gesellschaftspolitischen Vorstellungen nicht anzufreunden; Reichenbach war in der Freistudentenschaft 123 engagiert. „Die Äußerungen des Bewerbers über studentische Fragen sind primitiv. Sie bewegen sich ohne jede Originalität in den Schlagworten, die hierüber im politischen Leben neuerdings üblich geworden sind", meint Spranger. 124 Andere Fakultätsmitglieder denken ähnlich. So betrachtet der Mathematiker Ludwig Bieberbach (1886-1982) Reichenbach als „Popularphilosoph", von dem „nicht eine einzige im üblichen Sinne physikalische Arbeit" veröffentlicht worden sei; er neige dazu, „seinen Gegner für dumm zu erklären, statt den tieferen Gründen" nachzugehen; außerdem scheue er nicht davor zurück, „sich über Dinge zu verbreiten, die er nicht versteht"; davon lege unter anderem „seine Schrift Student und Sozialis117 Siehe Wesley C. Salmon, Hans Reichenbachs Leben und die Tragweite seiner Philosophie, in: Reichenbach, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Aufl., Braunschweig/Wiesbaden 1977, S. 5-12. 118 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 312. 119 Siehe Wilhelm Westphal, Aus der großen Zeit der Berliner Physik, in: Studium Berolinense, hrsg. v. H. Leussink et al., Berlin 1960, S. 791-815. 120 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 315 f. 121 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 1241, Bl. 316. 122 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 324. 123 Zur freistudentischen Bewegung vgl. die Ausführungen von Wolfgang Schluchter, Unversöhnte Moderne, Frankfurt 1996, S. 39ff.; Hans-Ulrich Wipf, Hans Reichenbach als Freistudent 1910 bis 1916, in: Lutz Danneberg, Andreas Kamiah u. Lothar Schäfer (Hrsg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, Braunschweig 1994, S. 161-181. 124 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 329. Das Votum wurde am 23.3.1926 verfaßt.
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mus Zeugnis ab": „Ich würde seine Anwesenheit für keinen Gewinn halten." 125 Ginge es nach Bieberbach, später ein prononcierter Nationalsozialist, so erlangte Reichenbach wahrscheinlich nie seine Umhabilitierung nach Berlin. Aber es gibt - neben Planck und Laue - auch namhafte Wissenschaftler, die die Arbeit positiv bewerten. Zu ihnen zählen der Mathematiker David Hilbert (1862-1943) sowie Moritz Schlick (1882-1936) und Cassirer.126 Auch Wolfgang Köhler (1887-1967) setzt sich in einem Votum vom 19. Mai 1926 für Reichenbach ein.127 So wird Reichenbach doch noch in Berlin habilitiert. Allerdings erhält er die Venia legendi nicht - wie von den meisten Fakultätsmitgliedern empfohlen - für Philosophie, sondern für Physik. Sofort erfolgt die Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor am Institut für Theoretische Physik.128 1927 gründet Reichenbach eine Berliner Ortsgruppe der „Gesellschaft für empirische Philosophie", der u.a. auch Dessoir und Köhler angehören.129 Die Berliner Lehrtätigkeit beginnt mit einer Vorlesung über „Die erkenntnistheoretischen Probleme von Raum und Zeit, mit besonderer Berücksichtigung der Relativitätstheorie". Sie endet wenige Tage nach der Machtergreifung Hitlers mit der Emigration in die Türkei. Dort lehrt Reichenbach an der Universität Istanbul, bevor er 1938 in die USA emigriert und einen Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles übernimmt. Umstritten ist auch die Habilitation von Friedrich Delekat (1892-1970). Nach dem Abitur studiert Delekat Theologie in Berlin und Göttingen und tritt 1914 als Kriegsfreiwilliger in die Armee ein. 1917 legt er das erste theologische Examen ab, 1919 das zweite. Gleichzeitig promoviert er über den Mystiker Pierre Poiret. 1920 wird er Pfarrer auf dem Lande in Priebus. Diese Tätigkeit weckt sein pädagogisches Interesse. 1925 wird Delekat nach Berlin versetzt und promoviert in der philosophischen Fakultät bei Spranger über Pestalozzi13°. Am 4. Dezember 1928 meldet er sich zur Habilitation für die Fächer Philosophie und Pädagogik mit einer Arbeit Über die historischen und systematischen Grundlagen des Problems der Erziehbarkeitm. Er hat damals schon eine stattliche Literaturliste vorzuweisen. Spranger und der Alt125 126 127 128 129
UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 328. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 321ff., 334. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 329. UAHU, Phil. Fak. 1472, Bl. 150. Dazu Dieter Hoffmann, Zur Geschichte der Berliner „Gesellschaft für empirische/wissenschaftliche Philosophie", in: Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, S. 21-31; vgl. ders. u. Hartmut Hecht, Die Berufung Hans Reichenbachs an die Berliner Universität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 30 (1982), S. 651-662. 130 Delekat, Johann Heinrich Pestalozzi, der Mensch, der Philosoph und der Erzieher, Leipzig 1926. 131 UAHU, Phil. Fak. 1243, Bl. 445-472. Publiziert unter dem Titel: Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung. Ein Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Erziehung, Leipzig 1927.
14.
Die goldenen Zwanziger
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philologe Werner Jaeger werden zu Gutachtern bestellt. Nachdem Spranger und vor allem Jaeger Einwände erheben, beteiligen sich auch Maier, Dessoir und Stumpf eingehend an dem Verfahren. Dessoir kritisiert die mangelnde Differenzierung historischer und systematischer Fragen und die damit verbundene entproblematisierende Übertragung christlicher Erziehungslehren auf die Gegenwart. Während Dessoir der Habilitation jedoch mit Vorbehalt zustimmt, lehnt Stumpf entschieden ab: „Es geht heute wirklich nicht mehr an, all das Material, das uns die Einzelwissenschaften hinsichtlich der Grenzen der Erziehbarkeit liefern, beiseite zu lassen und alle Erklärung mit den ehrwürdigen Begriffen vergangener Jahrhunderte zu bestreiten".132 Der Hinweis auf die „ausgezeichnete Persönlichkeit des Verfassers" sei kein Argument. Man könne doch eine Venia für Philosophie „nicht als Appendix der Pädagogik einem Habilitanden in den Schoß legen. Ich sollte denken, dass der einzige richtige Ort, wenn er an der Universität wirken will, die theologische Fakultät sein würde", meint Stumpf. Diese energische Intervention überrascht, da Stumpf doch damals schon seit Jahren emeritiert ist. Er sieht hier wohl wissenschaftliche Standards gefährdet. So nehmen auch die Historiker Hermann Oncken (1869-1945) und Friedrich Meinecke (1862-1954), der Germanist Arthur Hübner (1885-1937) und der Geograph Norbert Krebs (1876-1947) ausgiebiger Stellung und stimmen der Habilitation zu. Am 29. Juli 1929 hält Delekat in der Fakultät seinen Probevortrag über „Max Schelers Kritik an der kantischen Ethik" und erhält dann die Venia legendi für Philosophie. Ausschlaggebend ist wohl die Intervention von Heinrich Maier, der der Pestalozzi-Dissertation Habilitationsniveau bescheinigt und sich neben Spranger am Kolloquium beteiligt. Delekat hält seine Antrittsvorlesung dann über „Die Bedeutung des Unbewußten für die Erziehung". Sofort erhält er eine Professur für Religionswissenschaft an der TH Dresden. In der Bekennenden Kirche engagiert133, wird er 1936 zwangspensioniert. Nach 1945 erhält Delekat eine Professur für Systematische Theologie, Pädagogik, Philosophie und Politik in Mainz. Seine „historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften" Immanuel Kants, erstmals 1963 erschienen, ist in mehreren Auflagen verbreitet.134
132 Gutachten v. 25.5.1929, Bl. 465. 133 Delekat, Die Kirche Jesu Christi und der Staat, 1934; Der christliche Glaube, 1940; vgl. Das erzieherische Ethos protestantischen Christentums und die Wandlungen seines begrifflichen Ausdrucks, in: Handbuch der Pädagogik. Bd. I: Die Theorie und die Entwicklung des Bildungswesens, hrsg. v. H. Nohl u. L. Pallat, Berlin 1933, S. 203-246. 134 Delekat, Immanuel Kant, 3. Aufl., Heidelberg 1969.
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f.
Teil IV: Krise
Dozent neuen Typs: Kurt
Hildebrandt
Obwohl seine Habilitation scheitert, lehrt in der Weimarer Endzeit von 1928 bis 1934 einer der politisch exponiertesten Sterne des George-Bundes in Berlin: Kurt Hildebrandt (1881-1966). Es gibt zuvor schon einige Berührungen der Fakultät und Universität mit dem George-Kreis. Im Hause Lepsius verkehren Dessoir und Simmel mit George. Friedrich Wolters (1876-1930) bildet eine andere Gruppe um George. 1909 publiziert er Herrschaft und Dienst, eine der Programmschriften des „Staates" - so wie er im George-Kreis verstanden wird: als „Paradies im Schatten der Schwerter" (Nietzsche). Im Januar 1914 habilitiert er sich bei den Historikern. Seine Arbeit über die Geschichte der Centraiverwaltung des Heeres und der Steuern in BrandenburgPreussen von 1630-1697, ungeliebte „Grundlage für seinen Brot-Beruf' 135 , geht bei Otto Hintze (1861-1940) und Max Lenz (1850-1932) ohne Probleme durch. 136 C. L. Becker möchte Friedrich Gundolf ( 1880-1931) in die Germanistik berufen; doch dies stößt auf derartigen Widerstand in der Fakultät, daß Gundolf den erfolgten Ruf ablehnt.137 Statt dessen also nur ein Lehrauftrag für Hildebrandt. Von Haus aus ist Hildebrandt Psychiater. Lange schon steht er in Verbindung mit George. In dessen Jahrbuch für geistige Bewegung veröffentlicht er den Beitrag Romantisch und Dionysisch und legt 1910 die Polemik Hellas und Wilamowitz nach, die ihm die dauernde Gegnerschaft von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) einträgt138. 1912 publiziert er eine Gastmahl-Übersetzung mit programmatischer Einleitung. 1920 folgen Studien über Norm und Entartung des Menschen sowie Norm und Verfall des Staates, die Hildebrandt auf Wunsch Georges in zwei Teilen veröffentlicht. 139 Die Ablehnung des Individualismus ist Hildebrandt selbstverständlich; aber er weiß auch: „Die Ablehnung des Individualismus ist das Gegenteil der Ablehnung des großen Einzelmenschen. Der Heros ist Schöpfer und Keimzelle
135 So Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, 90: „So gern er sonst mit Freuden über seine Arbeit sprach [...], so hat er doch niemand zugemutet, diese Arbeit von 600 Seiten, mit vielen Tabellen, zu lesen. Sie ist unaufgeschnitten in meinem Besitz. Für Wolters' historische Fähigkeit besagt sie nichts, nur darüber, welche Art Anforderungen ein bedeutender Nationalökonom wie Schmoller an seinen früheren Musterschüler stellte". Zu Wolters in Berlin ebd., S. 25 ff. 136 UAHU, Phil. Fak. 1234, Bl. 175-187. 137 Dazu vgl. W. Höppner, Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte, in: Ch. König u. E. Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925, Frankfurt 1993. 138 Angaben nach Hildebrandt, Erinnerungen, S. 55ff.; vgl. auch S. 188ff. 139 Hildebrandt, Norm und Entartung des Menschen, Dresden 1920; Norm und Verfall des Staates, Dresden 1920; vgl. auch: Staat und Rasse. Drei Vorträge, Breslau 1928; dazu vgl. Hildebrandt, Erinnerungen, 105 ff., 113 ff.
14.
Die goldenen Zwanziger
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des Staates" 140 . Hildebrandts Heroen sind Nietzsche und Piaton. „Entartung" und „Verfall" sind seine Stichworte für die Gegenwart, sein Kampf gilt dem liberalen 19. Jahrhundert. Er unterscheidet dabei zwischen physischer „Entartung" und normativem „Verfall". Nur der wohlgeordnete Staat könne der Entartung begegnen. Dessen „lebendig-geistige Daseinsform" müsse von der Philosophie allererst gegründet werden.141 Der Verfall des modernen Staates bringe „staatliche Mechanisation" und „Individualismus" als seine Korrelate hervor. „Umkehr" sei nur vom „Heros" zu erhoffen. 142 Hildebrandt schließt mit Versen Georges. Die Publikationen sind nicht nur ein publizistischer Erfolg, sondern tragen Hildebrandt auch die Zustimmung von Husserl, Natorp und Troeltsch, C. H. Becker, Dessoir und anderen ein. Sie sind ein Versuch, die Gedankenwelt des George-Kreises in die naturwissenschaftliche Diskussion zu bringen, und verstehen sich als „Widerlegung des modernen Mechanismus" 143 . Zur Ehre Hildebrandts sei es gesagt, daß er Entartung und Verfall derart als geschichtliches Problem ansieht, daß ihm auch die Normen von Mensch und Staat fragwürdig sind. So macht er sich auf die Suche nach seinem Heros. Natorp promoviert ihn mit einer Arbeit über Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato'44. Ein Nachtrag Nietzsche als Richter unserer Zeit verdeutlicht die Intention, Piatons Sieg über Nietzsche herauszustellen und die philosophische Arbeit auf die Auseinandersetzung mit Piaton zu konzentrieren. Um seinen Zugang abzusichern, veröffentlicht Hildebrandt auch eine psychiatrische Studie über Nietzsches „Geisteskrankheit" 145 sowie eine umfangreiche Monographie Wagner und Nietzsche im Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert, die Nietzsches dionysische „Hybris" der Selbstvergottung 146 kritisiert. Auf Anregung Georges unternimmt er dann einen Habilitationsversuch. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Prof. Becker, der Kultusminister, war [...] Verehrer Georges geworden und schätzte auch meine Arbeiten. Der erste Referent der Kommission, Heinrich Maier, war neutral, wollte es aber offensichtlich mit den klassischen Philologen nicht verderben. Sehr entgegenkommend war der zweite Referent, Eduard Spranger, der ausdrücklich einen Vertreter des George-Kreises an der Universität wünschte. Dessoir hatte den gleichen Wunsch, war aber besorgt wegen Wilamowitz" 147 . Der Habilitationsversuch scheitert an der Ablehnung durch Wilamowitz und 140 141 142 143 144
Hildebrandt, Individualitaet und Gemeinschaft, Berlin 1933, S. 9f. Vgl. Hildebrandt, Erinnerungen, S. 23ff. Vgl. ebd., S. 204ff. Ebd., S. 124. Hildebrandt, Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, Dresden 1922; vgl. dazu K. Hildebrandt, Erinnerungen, S. 144 ff. 145 Hildebrandt, Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk, Berlin 1926. 146 Hildebrandt, Wagner und Nietzsche im Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert, Breslau 1924, S. 495 ff. 147 Hildebrandt, Erinnerungen, S. 188.
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Teil IV: Krise
dessen Nachfolger Werner Jaeger. Auf Vorschlag Beckers erhält Hildebrandt daraufhin einen Lehrauftrag. Sofort kündigt er „Über die Bedeutung der Abstammungslehre" an und verfaßt eine scharfe Polemik gegen Jaeger148, die allen Fortschritt der Platon-Deutung dem George-Kreis zuspricht. In Berlin doziert er vor allem über Nietzsche und Piaton. 1933 publiziert er eine unter starker Beteiligung Georges149 abgeschlossene Platon-Monographie. Seit April 1933 NSDAP-Mitglied, 150 wird Hildebrandt 1934 als Ordinarius für Philosophie nach Kiel berufen. Neben Hildebrandt lehrt dort vertretungsweise Hans Georg Gadamer (geb. 1900). Dieser schreibt rückblickend: „Kiel war damals so etwas wie der Vorposten der Nazikulturrevolution. Mein Kollege war Kurt Hildebrandt, ebenso fein und unschuldig wie naiv. Was damals nach Kiel berufen wurde, die Juristen und die Geisteswissenschaftler vor allem, waren im allgemeinen begabte junge Gelehrte, die von der politischen Situation und vom eigenen Ehrgeiz verführt waren, aber vom Katheder niemals braunen Unsinn von sich gaben." 151
Hildebrandt meint: „Der freundschaftliche Verkehr in Kiel war auch wissenschaftlich ein Gewinn für mich. Politisch war er [Gadamer] weit stärker interessiert als ich und im Widerstreben gegen die ,Partei', in christlicher Gesinnung, rückte er in jener Zeit auch von meiner Piatondeutung ab".' 5 2
Gadamer bespricht Hildebrandts Platon-Buch dennoch 1935 positiv. Er bemerkt, daß „aus dem Kreise des Dichters Stefan George die wichtigsten Anstöße für ein neues Verständnis Piatons gekommen" sind, und würdigt den philologischen Ansatz, den „Sinn eines jeden Werkes als Dokument des platonischen Kampfes um die Macht zu bestimmen": „So unmittelbar politisch, wie in dieser (1932 abgeschlossenen) Darstellung, ist das platonische Werk bisher noch nie gesehen worden"153. In den folgenden Jahren schreibt Hildebrandt - nebst „Vaterländischen Reden" im mythologisierenden Stil des George-Kreises auch Biographien über Hölderlin, Goethe und Leibniz·154 In der Einleitung seines Goethe-Buches unterscheidet er dabei zwischen dem „Wettkampf der Verwandten" und dem „Vernichtungskampf'. Hildebrandt geht es eher um die Wiedergewinnung klassischer Normen. Seine Rückbesin148 Hildebrandt, Das neue Platon-Bild. Bemerkungen zur neuen Literatur, in: Blätter für deutsche Philosophie 4 (1930/31), S. 180-192. 149 Hildebrandt, Erinnerungen, S. 213ff. 150 Vgl. dazu. Hildebrandts Einleitung zu: Piaton, Der Staat, Leipzig o. J. (Kröner), bes. S. Xf. 151 Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt 1977, S. 52f. 152 Hildebrandt, Erinnerungen, S. 242f. 153 In: Deutsche Literaturzeitung 56 (1935), S. 331-336; Wiederabdruck in Gadamer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Tübingen 1985, S. 331 ff. 154 Hildebrandt, Piaton. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933; Vaterländische Reden, Leipzig 1936; Hölderlin. Philosophie und Dichtung, Stuttgart 1939; Goethe. Seine Weltweisheit im Gesamtwerk (1941), 3. Aufl., Stuttgart 1942; Leibniz. Reich der Gnade, Den Haag 1953.
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nung auf die deutsche Klassik kann als Rücknahme seiner früheren Modernitätsverwerfung gedeutet werden. Dennoch verwundert die Lehrtätigkeit Hildebrandts in Berlin. Sie kündigt von der Absorption ruhiger philosophischer Arbeit durch den Malstrom des Zeitgeistes. Wie die Wege des George-Kreises sich 1933 scheiden, 155 verdünnen sich auch dessen Einflüsse in den Generationen. Es gehört deshalb kaum noch zur Geschichte des George-Kreises, ist aber für die Entwicklung der Staatswissenschaften im Nationalsozialismus interessant, daß Friedrich Wagner (1906-1974) 1943 eine außerordentliche Professur für Staatsphilosophie und Kulturphilosophie auf einem neuerrichteten Lehrstuhl in der Auslandswissenschaftlichen Fakultät des Auslandswissenschaftlichen Instituts erhält. Wagner studiert in den zwanziger Jahren in Marburg und Heidelberg und gerät dort unter georginischen Einfluß. Vor allem aber wird er ein Schüler von Ernst Krieck (1882-1947). 1933 promoviert er, publiziert über Dante in Deutschland und habilitiert sich 1938 bei Krieck in Heidelberg mit der Arbeit Frankenreich, Frankreich, Deutschland. Politikwissenschaftlich versiert hält die Arbeit reichstheologische Motive zur Legitimation hegemonialer Ansprüche fest. Wagner macht dann eine nationalsozialistische Bilderbuchkarriere. Hauptamtlich beim allgewaltigen Reichssicherheitshauptamt des SD beschäftigt, wechselt er 1940 nach München und habilitiert sich dahin um. 1943 wechselt er nach Berlin 156 , um die neuerrichtete Professur zu übernehmen. Das Auslandswissenschaftliche Institut entsteht bei Kriegsbeginn aus der untergegangenen Deutschen Hochschule für Politik, einem Paradeprojekt der Weimarer Republik, und ist für die nationalsozialistische Reduzierung der entstehenden Politikwissenschaft auf Auslandskunde kennzeichnend. 157 Die Fakultät dieses Instituts ist der Universität eingegliedert. Im Institut arbeiten damals exzellente Wissenschaftler wie Ernst Wilhelm Eschmann, Egmont Zechlin und Wilhelm Grewe. Es handelt sich um eine Karriere- und Kaderschmiede, die damals vor allem die NS-Europastrategie darzustellen und zu legitimieren hat. Wagner gehört nicht der Philosophischen Fakultät an, arbeitet nach heutigen Begriffen auch eher politikwissenschaftlich, hat aber die Venia für Staats- und Kulturphilosophie. Nach dem Krieg arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Instituten für Landesforschung und Raumforschung in Hannover und Bad Godesberg und publiziert über Wissenschaft in unserer Zeit und Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. Der georginische Glaube an eine politische Sendung 155 Vgl. dazu: Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 19ff. 156 Umfangreiche Personalakten UAHU UK Ρ 15. 157 So die eingehende Darstellung bei Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991; vgl. auch Emst Haiger, Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im ,Dritten Reich', in: G. Göhler u. B. Zeuner (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 94-136.
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der Dichtung trägt noch das Nachkriegswerk: „Der Fortschrittsglaube wie der Verhängnisglaube ist nur archimedisch, von einer anderen ,Welt' her, aufzuheben, für die hier die Gestaltidee und das Werk Goethes stehen" 15S .
g.
Ein Kompromißkandidat
kommt: Nicolai
Hartmann
Am Vorabend der Weimarer Republik stehen am Philosophischen Institut keine besonderen Entscheidungen an. Nur eine Berufungsfrage beunruhigt die Gemüter. Troeltschs Lehrstuhl ist seit 1923 vakant. Fakultät und Ministerium können sich lange nicht auf einen Kandidaten einigen. Minister Becker, bis zum 29. Januar 1930 im Amt, favorisiert Nicolai Hartmann (1882-1950), der zu diesem Zeitpunkt in Köln ist. Sein Nachfolger Adolf Grimme hätte gern Martin Heidegger (1889-1976) auf dem Lehrstuhl gesehen. Und die Fakultät ihrerseits ist mit beiden Kandidaten unzufrieden. Mit Bezug auf den Erlaß Beckers zur Wiederbesetzung vom 6. Dezember 1929 schlägt sie Cassirer vor. Laut Gutachten besteht der Wunsch, Cassirer zu berufen, schon längere Zeit. Nur habe man „seinerzeit, unmittelbar nach Troeltsch's Tod, davon abgesehen, ihn vorzuschlagen", weil man hoffte, „es werde sich unter den jüngeren Fachgenossen mit der Zeit ein geisteswissenschaftlich eingestellter Philosoph finden, der imstande wäre, im vollen Sinne Troeltschs Nachfolge anzutreten, und dann auch deshalb, weil das Ansehen der Marburger Philosophie, zu der sich Cassirer hält, in letzter Zeit stark zurückzugehen schien. Jene Hoffnung indessen hat sich nicht erfüllt. Soll die erledigte Stelle trotzdem jetzt besetzt werden - ein weiteres Warten scheint sich in der Tat nicht zu empfehlen - , so bleibt nur Cassirer." 159 „Hinter Cassirer steht Nicolai Hartmann, über den das hohe Ministerium von uns eine Äusserung wünscht, weit zurück. Er hat einst durch seinen Übertritt von der neukantischen Philosophie der Marburger Schule zur Phänomenologie unter den Phänomenologen starkes Aufsehen erregt und gilt heute als wirksamer Vertreter der phänomenologischen Philosophie. Aber die philosophische Originalität fehlt ihm völlig. Wie er früher ein unselbständiger Schüler Natorps war, so arbeitet er jetzt in der theoretischen Philosophie mit den Gedanken Husserls, in der praktischen mit denen Schelers. Hinzu kommt, daß er mit keiner der positiven Wissenschaften fachmännisch vertraut ist." 160
Die Ausführungen verraten, wie entschlossen die Fakultät Cassirer gegenüber Hartmann bevorzugt. Hartmann studiert nach seinem Abitur von 1901 bis 1905 in Dorpat und St. Petersburg Medizin und Biologie. 1912 publiziert er über Philosophische Grundfragen der Biologie. Er studiert auch klassische Philologie, promoviert 1907 in Marburg bei Cohen und Natorp und habilitiert sich dann dort. 1920 wird er Extraordinarius und 1922 Ordinarius in Marburg als Nachfolger von Natorp. 1925 wechselt er
158 Wagner, Wissenschaft in unserer Zeit, Köln 1957, S. 11. 159 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 371 f. 160 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 374.
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Die goldenen Zwanziger
255
nach Köln. Von mangelnder naturwissenschaftlicher oder philologischer Kompetenz kann eigentlich keine Rede sein. Deshalb stimmt am Fakultätsgutachten nur, daß Hartmann dem Marburger Neukantianismus entfremdet ist.161 Nicht nur Maier ist „die Marburger Einstellung wenig sympathisch" 162 . Um so merkwürdiger scheint es, daß Cassirer nun mit solcher Entschiedenheit an die erste Stelle gesetzt wird, wurde er doch bisher meist „übersehen und übergangen" 163 . Bald droht die Oktroyierung. Denn Ende Januar 1930 designiert Becker Adolf Grimme als seinen Nachfolger. Der neue Minister ist ein „Bewunderer" 164 Heideggers. Die Fakultät indes erwartet von Heidegger „vielleicht Sensation, sicher aber keine solide Schulung im philosophischen Denken" 165 . So wird Hartmann als Kompromißkandidat am 20. Januar 1931 berufen. 166 Heidegger kommentiert seine Ablehnung in einem Brief an Karl (1883-1969) vom 17. Mai 1930 folgendermaßen:
Jaspers
„Allein, das Ganze stand für mich von vornherein diesseits von Angebot und Gegenangebot.!...] Die Fakultät hatte unico loco Cassirer vorgeschlagen, Hartmann abgelehnt und mich ,genannt', aber Bedenken geäußert bezüglich der Jugend und so fort. Man wollte also zu den vier Mittelmäßigen und Minderwertigen noch einen fünften Ungefährlichen. Es ist also heute schon fatal geworden, wenn man von einer Berliner Fakultät ausdrücklich vorgeschlagen wird." 167
In Cassirer sieht er also einen Ungefährlichen, harmlos in bezug auf die philosophische Tradition und Universitätsverfassung. Über Hartmann äußerte er sich früher schon ähnlich. Gerade nach Marburg als Extraordinarius „mit Stellung und Rechten eines Ordinarius"168 berufen, schreibt er 1923 an Jaspers: „Kroner ist in Marburg an 3. Stelle vorgeschlagen gewesen [...] So eine Jämmerlichkeit an Menschenwesen ist mir noch nie begegnet - jetzt läßt er sich bemitleiden wie ein altes Weib - die einzige Wohltat, die man ihm erweisen könnte, wäre, ihm heute noch die Venia legendi zu entziehen. Für Hartmann wäre er bequemer gewesen - denn Kroner versprach diesem ins Gesicht, er würde zu ihm natürlich im Falle seiner Berufung nach Marburg ins Colleg gehen. Das werde ich nun nicht tun, aber ich werde ihm - durch das Wie meiner Gegenwart - die Hölle heiß machen. Ein Stoßtrupp von 16 Leuten, bei manchen unvermeidlichen Mitläufern einige ganz ernste und tüchtige, kommt mit". 169 161 Vgl. dazu Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, Würzburg 1994, S. 316ff. 162 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 134. 163 Toni Cassirer, Mein Leben mit Emst Cassirer, Hildesheim 1981, S. 108. 164 Adolf Grimme, Briefe, hrsg. v. D. Sauberzweig, Heidelberg 1967, S. 36. 165 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 374. 166 Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1475, Bl. 231. 167 Martin Heidegger-Karl Jaspers. Briefwechsel 1920-1963, hrsg. v. Walter Biemel u. Hans Saner, Frankfurt 1990, Brief Nr. 101 vom 17.5.1930. 168 Brief Nr. 14 vom 19.6.1923 an Jaspers. 169 Brief Nr. 16 vom 14.7.1923 an Jaspers; im Ton maßvoll, der Sache nach aber durchaus bestätigend Gadamer, Lehrjahre, S. 2 I f f ; zu Gadamers engem Verhältnis zu Hartmann jetzt: Jean Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, S. 81 ff., 1 lOff.
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Dieser Radikalismus, dieses Selbstverständnis vom Philosophen als Stoßtruppführer, entspricht damals nicht dem Temperament der ehrwürdigen Berliner Fakultät. Mit Spranger, Maier, Köhler dominieren ganz unspektakuläre akademische Typen. Hartmann ist ein fleißiger, enzyklopädisch sammelnder Systematiker. In den zwanziger Jahren entwickelt er seine „neue Ontologie". 1921 erscheint seine vielbeachtete Metaphysik der Erkenntnis, die die weitere Arbeitsrichtung vorgibt. 1926 folgt die Ethik. Außerdem publiziert Hartmann eine zweibändige Darstellung Die Philosophie des deutschen Idealismus. Deren umfänglicher, 1929 erschienener zweiter Teil ist ausschließlich Hegel gewidmet. Hartmann betrachtet Hegel im Zusammenhang der nachkantischen Philosophie des Deutschen Idealismus. 170 In Hegel sieht er den Vollender, dessen objektive Methode der Dialektik auf Ontologie tendiert und die „ontologische Grundlage der Philosophie" erinnert. Er begreift Hegel als die „geschichtliche Selbstüberwindung des Idealismus" und dessen „radikales Umschlagen [...] in Ontologie" 171 . Hartmanns Distanz zu Dilthey zeigt sich schon in diesem Hegel-Bild. Zwar hebt auch Dilthey die Objektivität Hegels hervor, indem er Hegel in seiner Weltanschauungslehre dem „objektiven Idealismus" zurechnet; anders als Hartmann geht Dilthey jedoch hinter das System auf die Jugendgeschichte zurück. Hartmann hingegen schätzt gerade den systematischen Zugriff Hegels. Auch er tritt also seinen Ruf mit einer Bezugnahme auf die Berliner Tradition an, beschreibt diese aber nicht als Entwicklung von Hegel zu Dilthey, sondern strebt hinter die geisteswissenschaftliche Psychologie zum enzyklopädischen und ontologischen Impuls Hegels zurück. Hartmann sucht die Philosophie in ein Verhältnis zu den Wissenschaften zu setzen: „Das systematische Denken ist heute nicht bei denen zu Hause, die Systeme bauen. Der Spielraum des konstruktiven Denkens ist eingeschränkt. Die Wissenschaft ist auf allen Gebieten vorangeschritten. Wer ihre Resultate mißachtet, hat von vornherein verlorenes Spiel" 172 . Hartmann unterscheidet deshalb „konstruktives Systemdenken" und „forschendes Problemdenken" und formuliert einen „Stufengang: Phänomenologie, Aporetik, Theorie". Der Ausgang von den wissenschaftlich festgestellten Phänomenen ist sein Zugang zur Ontologie. Diese aber ist das Tor zur Metaphysik: „So ist es von altersher gewesen: die diskutierbare Grundlage aller Metaphysik ist Ontologie [...] Unsere Zeit steht vor den Toren einer neuen Metaphysik - einer sehr anderen zwar als der alten, einer ernüchterten, unspekulativen, sehr bescheiden gewordenen, dennoch aber dem Problemgehalt nach einer echten Metaphysik. Auch diese Metaphysik bedarf als Grundlage einer Ontologie" m . 170 Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus. 1. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik, Berlin 1923. 171 Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus. 2. Teil: Hegel, Berlin 1929, S. 21.; Abgrenzung von Hegel dann in: Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Berlin 1933. 172 Hartmann, Systematische Selbstdarstellung (1933), in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1955, S. 1.; Selbstdarstellung, in: Philosophen-Lexikon, hrsg. v. Werner Ziegenfuss, Berlin 1949, S. 454-471; vgl. insgesamt: Martin Morgenstern, Nicolai Hartmann, Tübingen 1992. 173 Ebd., S. 49.
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Philosophiegeschichtlich betrachtet, habe es zuvor fünf Hauptversuche gegeben, der Philosophie eine Grundwissenschaft einzusetzen: Logik, Erkenntnistheorie, Psychologie, Phänomenologie, Anthropologie. Das Faktum der Wissenschaften zwinge aber dazu, den Zugang über eine Schichten- und Kategorienlehre vom Aufoau der realen Welt - so Hartmanns systematisches Berliner Arbeitsprogramm - und somit über die Ontologie zu nehmen. 174 Hartmann arbeitet sie in Berlin die ganze nationalsozialistische Zeit hindurch gründlich aus. Zusammen mit Spranger steht er für die relative Kontinuität und Stabilität des Schulbetriebs bis 1945. Seine „Schichtenlehre" ist durch ihren Bezug auf die Naturwissenschaften nach 1945 nicht nur für die marxistische Ontologie 175 anschlußfähig. Sie wirkt bis in Luhmanns Systemtheorie nach. Von den Berliner Philosophen der Zwischenkriegszeit findet nur sein Werk heute noch eine gewisse Beachtung. Spranger und Maier, Dessoir und Vierkandt sind dagegen als Philosophen weitgehend vergessen.
174 Hartmann, Neue Ontologie in Deutschland, in: Kleinere Schriften, Bd. 1, S. 51-89. 175 Georg Lukács, Nicolai Hartmanns Vorstoß zu einer echten Ontologie, in: ders., Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Darmstadt 1984.
15. Der Auszug der Psychologie
a.
Carl Stumpf und die Berliner
Gestaltpsychologie
In der Weimarer Republik ist die Philosophie in Berlin zwar gewiß nicht mittelmäßig besetzt, wie Heidegger behauptete, aber auch nicht überragend. Schon durch die Ernennung von Dessoir und Vierkandt zu Ordinarien ist das Profil diversifiziert. Es gibt bewußte Kontinuitäten. Spranger sucht den Grundlegungsanspruch von Diltheys geisteswissenschaftlicher Psychologie weiterzuführen. Der neukantianische Impetus von Paulsen, Riehl und Erdmann wirkt in den Kategorienanalysen von Maier und Hartmann fort. Dennoch läßt sich nicht einfach von einer Fortsetzung jener systematischen Ansätze sprechen, welche die Berliner Philosophie im Wilhelminismus auf ihre Höhe brachten. Eher wäre von einer Neuorientierung unter erschwerten Bedingungen zu sprechen. Die Fakultät entläßt ihre Disziplinen vermehrt in die institutionelle Selbständigkeit, und dabei ist die Philosophie genötigt, ihr Selbstverständnis zu klären. Sie wird zum Fach unter anderen Fächern. Das bestätigt sich auch in der langen und überaus erfolgreichen akademischen Wirksamkeit Carl Stumpfs. Sorgt Dilthey mit dessen Berufung für eine Vertretung psychologischer Forschung innerhalb der Philosophie, die mit seinem Ansatz verträglich bleibt, so wirkt Stumpf, institutionell betrachtet, vor allem in der Psychologie. Leipzig, Würzburg, Göttingen und Berlin sind um die Jahrhundertwende Zentren experimentalpsychologischer Forschung. Wer methodisch über seine Lehrer hinausgeht, kommt innerhalb der Philosophie kaum noch unter. Die Berliner Schule der Gestaltpsychologie, die Stumpfs Schüler und Nachfolger Wolfgang Köhler in den zwanziger Jahren in Berlin etabliert, hält aber eine philosophische Problemstellung fest. Und Stumpf selbst ist bis über die 20er Jahre hinaus in den akademischen Fragen und Verfahren überaus präsent. Beispielsweise ist er William James (1842-1910) freundschaftlich verbunden und bringt dessen Philosophie in die Diskussion.1
1 Stumpf, William James nach seinen Briefen. Leben, Charakter, Lehre, Berlin 1928.
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Der Auszug der Psychologie
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Neben Stumpf wirkt zunächst Friedrich Schumann (1863-1940) 2 als Assistent im Psychologischen Institut. Schumann promoviert 1885 in Göttingen, arbeitet dann dort als Assistent von Georg Elias Müller (1850-1934) und habilitiert sich 1892 in Göttingen, bevor er 1894 zu Stumpf nach Berlin wechselt. 1901 beantragen Stumpf, Dilthey und Riehl ein Extraordinariat für Schumann 3 , das mit Ministerial-Erlaß vom 5. August 1902 bewilligt wird.4 Im Sommer 1904 bemühen sie sich noch um ein besoldetes Extraordinariat für „Experimentalpsychologie und Naturphilosophie"5. Im Oktober 1905 folgt Schumann jedoch einem Ruf nach Zürich 6 ; 1909 wechselt er nach Frankfurt an das Experimentalpsychologische Institut der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften. Von Frankfurt aus schreibt er am nächsten Kapitel Berliner Psychologiegeschichte mit. Denn Stumpf vermittelt ihm den gerade promovierten Wolfgang Köhler als Assistenten. In Frankfurt trifft Köhler seine einstigen Berliner Bekannten Kurt Lewin und Kurt Koffka wieder und lernt Max Wertheimer kennen. Die kommende Berliner Schule der Gestaltpsychologie formiert sich im Frankfurter Institut Schumanns. Köhler wird 1922 Stumpfs Nachfolger in Berlin, Wertheimer wird 1929 der Nachfolger Schumanns. Schumanns Berliner Assistentenstelle übernimmt damals zunächst Erich von Hornbostel7, dann folgt im Oktober 1906 Kaspar Narziss Ach (1871-1944) 8 , der als Schüler von Oswald Külpe aus Marburg und Würzburg zur Habilitation nach Berlin kommt. Er wird dort noch im selben Jahr Privatdozent und geht schon 1907 als Ordinarius nach Königsberg. Berlin ist ihm, Ach, nur ein Intermezzo. Später ist er ordentlicher Professor der Psychologie in Göttingen. Am 1. April 1907 übernimmt daraufhin Hans Rupp (1880-1954) die Assistentenstelle. 1909 habilitiert er sich Über die Raumwahrnehmung des Tastsinnes. Rupp beantragt die Venia für „experimentelle und angewandte Psychologie".9 Mit der „warmen Empfehlung des Dr. Rupp und seiner Zulassung zum Colloquium" erklärt sich Riehl „durchaus einverstanden". Das Habili2 Schumann, Electromagnetische Rotationserscheinungen flüssiger Leiter, Leipzig 1887; als weitere Publikationen gibt Schumann in den Habilitationsakten (UAHU, Phil. Fak. 1220, Bl. 106-111) an: Contrasterscheinungen in Folge von Einstellung; Über das Gedächtnis für complexe regelmässig aufeinander folgender, gleicher Schalleindrücke; Über die Schätzung kleiner Zeitgrößen. 3 Schreiben vom 6.2.1901, UAHU, Phil. Fak. 1437, Bl. 166. 4 Schreiben des Universitäts-Kuratoriums vom 12.8.1902, UAHU, Phil. Fak. 1437, Bl. 195. 5 Schreiben mit ausführlicher Antragsbegründung von Stumpf, Dilthey und Paulsen vom 20.6.1904, UAHU, Phil. Fak. 1464, Bl. 103-109. 6 Schreiben Schumanns vom 12.10.1905 an die Fakultät, in: UAHU, Phil. Fak. 1438, Bl. 23. 7 Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1905, S. 69. 8 Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung, Göttingen 1905, Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig 1910; Über den Willen, Leipzig 1910, Über die Begriffsbildung. Eine experimentelle Untersuchung, Bamberg 1921; Analyse des Willens, Berlin 1935. 9 Schreiben vom 16.2.1909, UAHU, Phil. Fak. 1230, Bl. 199.
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tationsverfahren verläuft zügig und problemlos. Schon im Mai 1909 ist Rupp habilitiert. Am 31. Juli 1919 wird er zum Titularprofessor ernannt 10 , zwei Jahre später zum außerordentlichen Professor 11 für experimentelle Psychologie und Pädagogik. Das Institut gliedert sich damals, zum Wintersemester 1919/20, in zwei Abteilungen aus: in eine für Theoretische und eine für Angewandte Psychologie. Gab es zuvor nur eine Assistentenstelle, sind es nun vier. Zuvor suchte Stumpf sich einige Jahre auch mit „Volontär-Assistenten" zu behelfen - wie Otto Abraham (1872-1926) 12 , Adhémar Gelb (1887-1936) und dann Johannes von Allesch (1882-1967) 1 3 - , die gelegentlich eine Remuneration erhielten. Mit der Etaterhöhung von 1920 erreicht die experimentelle Psychologie dann ein hohes Ausstattungsniveau. Das neue Ansehen schlägt sich auch äußerlich nieder. Man bezieht Räume des Königlichen Stadtschlosses. Rupp wird zunächst Oberassistent und als Extraordinarius im Februar 1922 dann Leiter der Abteilung für Angewandte Psychologie am Psychologischen Institut. 14 Dort bleibt er auch die nationalsozialistische Zeit hindurch. Als Stumpf 1 5 im Oktober 1920 beim Minister um Entbindung von der Leitung des Psychologischen Instituts nachsucht, bringt er seinen Wunschkandidaten in Vorschlag: Wolf gang Felix Ulrich Köhler (1887-1967). Köhler hat bei Stumpf auf experimentalpsychologischem Gebiet Ende 1909 mit den Akustischen Untersuchungen I promoviert. 16 Teil Zwei folgt 1911 als Habilitation bei Schumann in Frankfurt. 1914 geht Köhler auf Vermittlung Stumpfs nach Teneriffa 17 , wo die Preußische Akademie der Wissenschaften eine Anthropoiden-Station unterhält. Köhler führt dort Experimente zum „Werkzeuggebrauch" von Menschenaffen durch. In der Reihe der physikalischmathematischen Klasse der Akademie-Abhandlungen veröffentlicht er seine Ergebnisse Zur Psychologie des Schimpansen und Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Sein Schluß lautet: „Die Schimpansen zeigen einsichtiges Verhalten von der Art des beim Menschen bekannten." 18 Diese Thesen regen die Philosophische Anthropologie 10 11 12 13 14 15
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UAHU, Phil.Fak. 1439, Bl. 279. Schreiben vom 31.8.1921, UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 393. Dazu der Nachruf von Hornbostel, in: Psychologische Forschungen 7 (1929), S. 291-293. Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1911, S. 89 f. Schreiben vom 18.2.1922, UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 428. Dazu vgl. die Würdigungen von Max Dessoir, Carl Stumpf zu seinem 70. Geburtstag, in: KantStudien 23 (1918), S. 169-173; Wolfgang Köhler, Carl Stumpf zum 21. April 1928, in: Kant-Studien 32 (1928), S. 1-3; ders., Nekrolog, in: Psychologische Forschungen 22 (1938), S. 1. Siehe dazu: Siegfried Jaeger, Wolfgang Köhler in Berlin, in: L. Sprung/W. Schönpflug (Hrsg.): Zur Geschichte der Psychologie in Berlin, 1992, S. 161-182. UAHU, UK., P A K 2 2 1, Bl. 2. Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden. 1. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Physikalisch-mathematische Klasse, Nr. 1, 1917, Nachdruck Heidelberg 1963, S. 191; Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, Braunschweig 1920; Psychologische Probleme, 1933; Werte und Tatsachen, Berlin 1968.
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sogleich an; sie sind bis heute in der Diskussion. Köhler zieht aber auch selbst theoretische Konsequenzen aus seinen bahnbrechenden Experimenten und beschränkt sich später weitgehend auf die theoretische Arbeit. 1920 legt er die Studie Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand vor. Im gleichen Jahr ist er wieder in Berlin und vertritt dort den erkrankten Stumpf am Institut. Man beratschlagt auf Antrag von Stumpf dann über Köhler als Leiter des Psychologischen Instituts.19 Am 1. April 1922 wird Köhler berufen und verpflichtet, „die Philosophie, insbesondere die Psychologie in Vorlesungen und Übungen zu vertreten", wobei „auch die Naturphilosophie in den Kreis" 20 der Lehrtätigkeit einbezogen werden soll. Die Philosophie umfaßt etwa ein Viertel von Köhlers Lehrprogramm. 1922 erscheint der erste Band der Zeitschrift „Psychologische Forschungen", die als Hausorgan der Schule in den nächsten Jahren den ganzen Kreis versammelt.
b.
Die Formierung der gestaltpsychologischen
Schule
Die Berliner Schule der Gestaltpsychologie wird heute nicht nur mit dem Namen Köhlers verbunden. Man datiert ihre Anfänge auch auf Max Wertheimers (1880— 1943) Frankfurter Untersuchungen von Scheinbewegungen bei der Gesichtswahrnehmung.21 Wertheimer ist in Prag geboren und studiert dort zunächst Jura und Philosophie, bevor er nach Berlin und Würzburg wechselt. 1904 promoviert er in Würzburg mit Experimentellen Untersuchungen zur Tatbestandsdiagnostik. Danach arbeitet er an diversen psychologischen Instituten und habilitiert sich 1912 neben Köhler in Frankfurt mit Experimentellen Studien über das Sehen von Bewegung. Er gelangt damals zu der Überzeugung, daß Scheinbewegungen, die er unter dem Begriff „Phi-Phänome" zusammenfaßt, unmöglich durch atomistische Zerlegung in visuelle Teilkomponenten zu erklären sind. Vielmehr sei das Phi-Phänomen ein Indiz dafür, daß im Wahrnehmungsprozeß ganzheitliche Gestaltungstendenzen wirksam sind. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, heißt die Losung. „Die Gestaltpsychologie fragte nicht mehr nach der Zusammensetzung von Gegebenheiten, sie hielt den Elementarismus für ein hypothetisches Konstrukt. Sie nahm die Wahrnehmungsgegebenheiten in ihrer unmittelbaren Phänomenalität und Ganzheitlichkeit"22.
19 UAHU, Phil. Fak. 36, Bl. 2. 20 UAHU, Phil. Fak. 1470, Bl. 153. - Die Fakultät hatte bei ihren Berufungsvorschlägen stets darauf verwiesen, daß der Nachfolger auf dem Lehrstuhl Stumpfs eine Persönlichkeit sein müsse, die in Philosophie und insbesondere in Psychologie hervorragende Leistungen aufzuweisen hat, die außerdem imstande sei, das Psychologische Institut zu leiten und „den Anforderungen der Naturforschenden an die Philosophie" (UAHU, Phil. Fak. 1470, Bl. 150) genüge. 21 Dazu vgl. die Darstellung von Köhler, Die Aufgaben der Gestaltpsychologie, Berlin 1971, S. 25 ff. 22 Ludwig Pongratz, Problemgeschichte der Psychologie, 2. Aufl., Bern 1984, S. 290.
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Teil IV: Krise
Berlin und Frankfurt sind damals als Zentren psychologischer Forschung personell eng miteinander verbunden. Stumpf bleibt bis zu seiner Übergabe des Instituts an Köhler die Schlüsselfigur. So holt er nicht nur Köhler, sondern auch Wertheimer nach Berlin. Wertheimer hat von 1916 bis 1918 einen Lehrauftrag in Berlin inne; er vertritt Hans Rupp in den experimentellen Übungen und psychologischen Vorlesungen und hat dabei „hervorragende Lehrerfolge" 23 . 1918 habilitiert er sich nach Berlin um. Stumpfs Gutachten bemerkt dazu, daß Wertheimer „unter den jüngeren Psychologen eine geradezu führende Rolle" spielt.24 Während seiner Berliner Zeit veröffentlicht er vor allem Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie. Er genießt Köhlers volles Vertrauen. Beide veranstalten gemeinsam „Psychologische Übungen". Köhler gilt dabei als „der leidenschaftlich heftig Vordrängende", während Wertheimer geduldig jede Behauptung erst durch „tausend Einwände" gehen läßt. „Die Wissenschaft fängt erst dort an, wo man auch das einsammelt, was gegen sie spricht"25, erinnert Wolfgang Metzger (1899-1979) Wertheimers Haltung. 1922 wird Wertheimer nichtbeamteter Extraordinarius. Als Köhler 1925 für zwei Semester in die USA wechselt, übernimmt er kommissarisch die Institutsleitung.26 1929 wechselt er nach Frankfurt zurück und wird dort als Nachfolger Schumanns ordentlicher Professor in der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Direktor des Psychologischen Instituts und des Seminars für Philosophie.27 1933 emigriert er in die USA und lehrt dort an der New School in New York. 1945 erscheint posthum sein Buch Productive Thinking,28 Zu den Begründern der Gestaltpsychologie gehört neben Köhler und Wertheimer auch Kurt Koffka (1886-1941), der gleichfalls am Frankfurter Institut als Assistent tätig ist. Er ist häufig in Berlin zu Gast und publiziert in Dessoirs Lehrbuch eine Darstellung der „neuen Psychologie"29, wechselt jedoch nicht nach Berlin, sondern übersiedelt nach Jahren in Gießen 1924 in die USA.30
23 UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 420, vgl. die Akten zur Umhabilitierung nach Berlin: UAHU, Phil. Fak. 1236, Bl. 108-122; Dokumentation seiner frühen Lehrtätigkeiten, ebd. Bl. 111. 24 Gutachten vom 4.12.1918, UAHU, Phil. Fak. 1236, Bl. 117. 25 Wolfgang Metzger, Psychologie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. L. Pongratz, Bern 1972, S. 192-230, hier: 195, vgl. ders., Gestalttheorie im Exil, in: Geschichte der Psychologie, Bd. 1: Geistesgeschichtliche Grundlagen, hrsg. v. Heinrich Balmer, Zürich 1972, S. 659-683. 26 UAHU, Phil. Fak. 1471, Bl. 285. 27 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 103. 28 Dazu vgl. Wertheimer, Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte. Aufsätze 1934-1940, hrsg. v. J. J. Walter, Opladen 1991; Gestalttheory, with a Foreword by Kurt Riezler, New York 1944. 29 Psychologie, in: Max Dessoir (Hrsg.), Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin 1925, S. 497-603. 30 Vgl. L. Sprung/H. Sprung, Abriß der Geschichte der Psychologie an der Berliner Universität (1809-1984), in: Zur Geschichte der Psychologie an der Berliner Universität, Berliner Wissenschaftshistorische Kolloquien XI, Heft 46, Berlin 1985, S. 30.
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Kurt Lewin (1890-1947) 31 ist der jüngste unter den Berliner Gestaltpsychologen. Er wird am 9. September 1890 in der Provinz Posen geboren. 1905 siedelt die Familie nach Berlin über. Zu Ostern 1909 legt Lewin sein Reifezeugnis in Charlottenburg ab. Er studiert zunächst Medizin und Biologie und wechselt dann in die Philosophie, wo er Riehl, Cassirer und Stumpf hört. Von Ostern 1912 an forscht er am Psychologischen Institut über Willens- und Gedächtnistätigkeit. Die Ergebnisse bilden die Grundlage seiner von Stumpf und Riehl betreuten Promotionsschrift Die psychische Tätigkeit bei der Hemmung von Willensvorgängen und das Grundgesetz der Assoziation. Im September 1914 erfolgt die Promotion. Während des Krieges ist Lewin dann Mitglied einer „Artillerieprüfungskommission" und arbeitet gemeinsam mit Max Born, Erich von Hornbostel und Max Wertheimer an Schallmeßapparaten auf dem Schießplatz. Es entsteht ein Richtungsfinder für Artilleriegeschosse.32 Seinen ersten Aufsatz publiziert Lewin 1917 als Feldartillerist über Kriegslandschaft.33 Im Januar 1920 reicht er seine Habilitationsschrift ein. Dem Titel Der Typus der genetischen Reihen, in Physik, organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte34 ist schon zu entnehmen, daß Lewin den gestalttheoretischen Ansatz auf Bereiche der Naturwissenschaften anzuwenden beabsichtigt. Unter dem Titel einer „vergleichenden Wissenschaftslehre" sucht er den weiten Anspruch der Gestalttheorie insbesondere für den Vergleich „genetischer Reihen" in Physik und Biologie zu entwickeln: ein Forschungsanliegen, das Lewins philosophischem Lehrer Cassirer 35 nicht unverwandt ist. Aus den Fakultätsakten geht hervor, daß die Habilitationsschrift nur geteilte Anerkennung findet. Stumpf und Erdmann melden Bedenken an. Stumpf bemerkt „starke Fehler", kritisiert die Ausführungen zum „GenidentitätsVerhältnis"36, das der Habilitand 31 Lewin, Der Begriff der Genese in Physik, Biologie und Entwicklungsgeschichte. Eine Untersuchung zur vergleichenden Wissenschaftslehre, Berlin 1922; Idee und Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre, Erlangen 1926, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926; Gesetz und Experiment in der Psychologie, Schlachtensee 1927; Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie und die Psychotherapie, Leipzig 1929; A Dynamic Theory of Personality. Selected Papers, New York 1935; Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, hrsg. v. D. Cartwright, Bern 1963. 32 Vgl. M. G. Ash/U. Geuter (Hrsg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert, Opladen 1985, S. 58. 33 Lewin, Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440-447. 34 UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 133. Zum Habilitationsverfahren Lewins in Berlin ausführlicher: Einführung in den Band 2 der Kurt-Lewin-Werkausgabe, hrsg. v. Carl-Friedrich Graumann, Stuttgart 1983, S. 18ff. 35 Dazu vgl. Lewin, Cassirers Wissenschaftsphilosophie und die Sozialphilosophie (1949), in: Kurt Lewin-Werkausgabe, Bd. 1. Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1981, S. 347-366. 36 Zum besseren Verständnis sei hier kurz vermerkt, wie Stumpf den Begriff der Genidentität erklärt. In seinem Gutachten heißt es in Hinsicht darauf: „Der Verfasser untersucht die genetischen Reihen, d. h. die Reihen der Gebilde (Dinge oder Zustände), bei denen wir sagen, dass eines aus dem anderen hervorgehe. Diese Beziehung der Glieder nennt er Genidentität und unter-
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„wie etwas neben dem Kausalverhältnis Bestehendes hinstellt" 37 . Allerdings erscheinen ihm die Mängel der Arbeit nicht so gravierend, daß sie gegen eine Zulassung sprächen, „vorausgesetzt, daß die physikalischen und biologischen Fachmänner der Kommission keine wesentlichen Einwendungen zu erheben finden". Doch gerade das ist der Fall. Der Physiker Heinrich Rubens (1865-1922) meint: „Eine Förderung physikalischen Erkennens ist durch Betrachtungen, wie sie der Kandidat anstellt m. E. nicht zu erwarten. Die von ihm behaupteten Sätze über ,Genidentität' sind auf physikalischem Gebiet auch nur dann richtig, wenn man den Begriff des .physikalischen Gebildes' entsprechend einschränkt [...] Wenn ich trotzdem nicht gegen die Zulassung des Kandidaten stimme so geschieht dies in der Überzeugung, daß der Schwerpunkt der Arbeit auf rein philosophischem Gebiet liegt und auch die philosophischen Kollegen die Arbeit als sehr verdienstvoll anerkennen."38
Ähnlich gutachtet der Botaniker Gottlieb Johann Friedrich Haberlandt (1854-1945): „Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die gewiß auch scharfsinnigen Ausführungen des Verfassers zur Klärung der biologischen Begriffsbildung etwas beitragen können." Dennoch will Haberlandt das Verhältnis zu den philosophischen Fakultätsmitgliedern nicht durch ein ablehnendes Habilitationsgutachten belasten, und so heißt es am Ende: „Da aber der Referent, Herr Kollege Stumpf [... ] seine Zulassung zu den weiteren Habilitationsakten empfiehlt, schließe ich mich seinem Urteil und Antrag an."39
Stumpf zieht seinen Antrag auf Zulassung daraufhin mit der Begründung zurück, man müsse nun einmal „von einer naturphilosophischen Habil.Schrift verlangen, dass auch die Naturforscher selbst gewisse Anregungen darin finden". Keiner der naturwissenschaftlichen Gutachter habe „aber etwas Verdienstliches in dieser Beziehung erwähnt" 40 . Am 26. Mai 1920 wird Lewin vom Dekan der Philosophischen Fakultät daraufhin unterrichtet, daß sein Habilitationsgesuch nicht genehmigt werden kann. Lewin läßt sich davon nicht entmutigen. Einen reichlichen Monat später legt er eine neue Habilitationsschrift Experimentelle Untersuchungen zum Grundgesetz der Assoziation vor. Nach den Erfahrungen des ersten Habilitationsvorganges gehören Arbeit und Gutachter nun „rein dem Gebiete der experimentellen Psychologie" an. Die zweite Habilitationsschrift ist eine Kritik der herkömmlichen Assoziationstheorie. Es handelt sich dabei - wie Stumpf bemerkt - „um nichts Geringeres als die Umstossung des allgemeinen Assoziationsgesetzes in der Form, dass das blosse wiederholte gleichzeitige oder sukzessive Auftreten zweier Vorstellungen zur Erzeugung einer Reproduktionstendenz genüge". 41 Dahinter verbirgt sich die Anschauung, daß nicht nur Assoziationen, sondern ebenso autochthone Gestaltungsgesetze für die Strukturierung und
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scheidet sie von den funktionellen Beziehungen, wie sie in der Physik durch Gleichungen ausgedrückt werden." (UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 133). UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 133. UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 136. UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 136. UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 134. UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 138.
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Organisation des Gedächtnismaterials verantwortlich sind. Lewin schließt hier unmittelbar an die phänomenologischen Beschreibungen des Willens durch Κ. N. Ach an, die den Assoziationismus in Frage stellten. Im zweiten Anlauf gelingt die Habilitation, obwohl es abermals Einwände gibt. Erdmann steht auch dem zweiten Versuch skeptisch gegenüber 42 , verstirbt damals aber, und mit Köhler übernimmt bald ein Vertreter der Gestalttheorie und Kritiker des Assoziationismus die Leitung des Psychologischen Instituts. Im April 1921 wird Lewin planmäßiger Assistent am Psychologischen Institut in der Abteilung für Angewandte Psychologie. 1927 folgt die Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor. Im Wintersemester 1933/34 wird Lewin beurlaubt und am 31. Juli 1934 aus seiner Stelle als planmäßiger Assistent entlassen. Seit 1933 lehrt er in den USA. Seine felddynamische Theorie gilt heute als Markstein der modernen Konfliktforschung. 43 Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935) hat wie die meisten Berliner Gestaltpsychologen auch die positiven Wissenschaften studiert. 1900 promoviert er in seiner Geburtsstadt Wien mit einer Abhandlung auf dem Gebiet der Chemie. Daran schließt sich eine einjährige Tätigkeit am Physikalischen und Physikalisch-Chemischen Institut an. Hornbostel arbeitet bald eng mit Stumpf zusammen und übernimmt 1906 die Leitung des Phonogrammarchivs. Nur kurzzeitig ist er besoldeter Assistent. Stumpf bemüht sich aber immer wieder um die Finanzierung des Archivs. 1911 widmet er Hornbostel seine Monographie Die Anfänge der Musik und anerkennt damit dessen wissenschaftliche Selbständigkeit. Doch erst 1923 habilitiert Hornbostel sich mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Studien zur Form der ostasiatischen Musik.44 Sein Schriftenverzeichnis umfaßt zu diesem Zeitpunkt schon 45 Titel. Das Thema ist so spezifisch, daß die Fakultät beschließt, das übliche Kolloquium als Habilitationsleistung auszusetzen, da jedes Mitglied der Fakultät - so Stumpf - „sich doch bewußt wäre, entschieden weniger als er [Hornbostel] von der Sache zu verstehen" 45 . Bereits die Gutachten sind ungewöhnlich zurückhaltend. Man beläßt es bei allgemeinen oder formalen Feststellungen. Dessoir bemängelt beispielsweise „die rednerische Unvollkommenheit des ausgezeichneten Gelehrten. So klar, ja reizvoll er zu schreiben weiß [... ] so ungewandt ist er in muendlichen Darbietungen. Da er aber bei der Natur seines Sonderfachs sich immer nur an Wenige wenden wird, scheint mir der Mangel ganz unbedenklich." 46 1923 wird Hornbostel die Venia in systematischer und vergleichender Musikwissenschaft erteilt. Seine Antrittsvorlesung hält er über „Musikwissenschaftliche Methoden der Kulturforschung". Zwei Jahre darauf ist er „nichtbeamteter außerordentlicher Professor". Wie alle Gestalttheoretiker beschäftigt er sich 42 43 44 45 46
Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1237, Bl. 139. Vgl. dazu: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 8: Lewin und die Folgen, Zürich 1979. UAHU, Phil. Fak. 1238, Bl. 269-290. UAHU, Phil. Fak. 1238, Bl. 282. UAHU, Phil. Fak. 1238, Bl. 283.
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mit wahrnehmungspsychologischen Problemen.47 Das Ungewöhnliche und Originelle an Hornbostels sinnespsychologischen Untersuchungen besteht darin, daß sie sich auf den akustischen Wahrnehmungsbereich richten, während die meisten gestaltpsychologischen Theorien aus dem visuellen Bereich stammen.48 Trotzdem zählt er am Institut nur zu den „Sternen zweiter Ordnung" (W. Metzger). 1933 emigriert Hornbostel in die USA, übernimmt eine Professur an der New School und verstirbt 1935 während eines Forschungsaufenthaltes in England. Als Musikwissenschaftler genießt er heute noch größtes Ansehen. Den Sternen dritter Ordnung wäre Johannes von Allesch (1882-1967) zuzuordnen. In die Ästhetik gelangt Allesch über den Streit zwischen Psychologisten und neukantianischen Wertphilosophen um die Möglichkeit einer Begründung ästhetischer Urteile. Seine Dissertation Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie49 nimmt Stellung zu der Ästhetikdebatte, die seinerzeit Jonas Cohn 50 auslöste. V. Allesch schließt sich der Auffassung der psychologischen Ästhetiker an, betont die Abhängigkeit ästhetischer Äußerungen von psychischen Einflußfaktoren und betrachtet allgemeine Geltungsansprüche ästhetischer Urteile als „unberechtigte Anmaßung" 51 . Nach seiner Promotion ist er eine Zeit lang Volontärassistent,52 bis er als Kriegsfreiwilliger in das Heer eintritt.53 Er publiziert einige populäre Schriften über die Betrachtung Grünewalds, Die Renaissance in Italien und Wege der Kunstbetrachtung. Am 25. Juli 1923 beantragt er die Habilitation mit einer Schrift über Die ästhetische Erscheinungsweise der Farben, wobei er auch um die Berücksichtigung seiner früheren Schriften bittet. Der Erstgutachter Köhler bemerkt einen großen Qualitätsgewinn gegenüber früheren Arbeiten und plädiert am 2. November „ohne Bedenken für Zulassung" 54 . Dessoir 47 Abhandlungen zur vergleichenden Musikwissenschaft, hrsg. v. E. v. Hornbostel, München 1922; Ε. v. Hornbostel, Opera omnia, hrsg. v. Klaus P. Wachsmann u. a., Den Haag 1975. 48 Siehe: Martin Müller, Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935) und die kulturvergleichende Psychologie in der Berlin-Frankfurter Schule der Gestaltpsychologie, in: L. Sprung/W. Schönpflug (Hrsg.), Zur Geschichte der Psychologie in Berlin, S. 185-196. 49 Allesch, Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie, in: Zeitschrift für Psychologie 51 (1910), S. 401-536; weitere Publikationen Alleschs: Wege zur Kunstbetrachtung, Dresden 1921; Die ästhetische Erscheinungsweise der Farben, Berlin 1925; Zur nichteuklidischen Struktur des phänomenalen Raumes, Jena 1931 ; Die Wahrnehmung des Raumes als psychologischer Vorgang, Leipzig 1941. 50 Der Beitrag stand unter dem Titel: Psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik?, in: Archiv für systematische Philosophie 10 (1904), S. 131-159. 51 Allesch, Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie, S. 447. Siehe hierzu: Christian G. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, Göttingen 1987, S. 369 ff. 52 Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1911, S. 85. 53 Chronik der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1914, S. 62. 54 UAHU, Phil. Fak. 1240, Bl. 176.
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formuliert seine Vorbehalte gegen Alleschs frühere Arbeiten deutlicher, hält aber eine Vertretung der Ästhetik für einen „Zuwachs". Auch Maier, Spranger, Stumpf und andere nehmen zur Habilitation Stellung und plädieren ohne Einspruch für Zulassung. Seine Probevorlesung hält er über „Das Phänomen der Scheinbewegungen und seine theoretische Bedeutung für die Psychologie" und seine Antrittsvorlesung über den „Aufbau der Vokale". Am 28. Februar 1924 erhält er die Venia für Philosophie und lehrt dann als Privatdozent Ästhetik und Psychologie, bis er 1928 nach Greifswald wechselt und 1930 auf ein Ordinariat in Halle berufen wird, dem 1945 ein Ruf nach Göttingen folgt. Hans Friedländer (1888-?), gebürtiger Berliner, studiert zunächst einige Semester Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft, bevor er in die Philosophie wechselt und 1918 bei Stumpf und Erdmann über Die Wahrnehmung der Schwere promoviert. 1922 übernimmt er eine „Stellung beim Reichswehrministerium als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Heerespsychotechnik" 55 und arbeitet dort mit Johann Baptist Rieffert (1883-1956) zusammen. 1925 erhält er ein Forschungsstipendium der Notgemeinschaft. Im Juni 1929 meldet er sich zur Habilitation in Philosophie an. Maier und Dessoir begutachten die Habilitationsschrift Denkpsychologische Untersuchungen. Beide Gutachter haben „manches auszusetzen", anerkennen aber die „ernste, solide" Ausarbeitung 56 . Dessoir spricht von einer „geringen Affinität zu einigen Gedanken, die heute besonders die deutsche Psychologie bewegen" 57 . Und Köhler merkt an: „Eine stärkere Begabung würde wohl das psychologische Denkproblem unter einem noch fruchtbareren Blickwinkel betrachtet haben" 58 . Beim Auszug der Psychologie aus der Philosophie hat sich Friedländer zwischen die Richtungen gesetzt und niemanden so recht überzeugt. Seinen Probevortrag hält er über dieses Problem: „Gibt es Wesensgesetze im Sinne Husserls?" Am 25. Januar 1930 erhält er die Venia für Philosophie und lehrt bis zum Entzug der Lehrbefugnis 1935. Darf man Wolfgang Metzger Glauben schenken, der im Oktober 1930 als planmäßiger Assistent in Berlin ausscheidet und sich 1932 in Frankfurt habilitiert, so sind die Arbeitsverhältnisse am Psychologischen Institut in den zwanziger Jahren recht idyllisch. Von Metzgers gepriesenem „Colloquiumsschlaf" 59 zu schweigen, wird damals schon unermüdlich geforscht. Lewin testet den „Aufforderungs-Charakter" (Valenz) von Objekten, Hornbostel archiviert phonographische Aufnahmen von EingeborenenMusik, und die Institutsassistenten Karl Duncker (1903-1940), Otto von Lauenstein 55 56 57 58 59
Friedländer, Lebenslauf, in: Habilitationsantrag, UAHU, Phil. Fak. 1244, Bl. 186. So Heinrich Maiers Gutachten vom 2.11.1929, UAHU, Phil. Fak. 1244, Bl. 191. Dessoir, Gutachten vom 12.11.1929, ebd. Bl. 193. UAHU, Phil. Fak. 1244, Bl. 194. Siehe: Wolfgang Metzger, Verlorenes Paradies. Im Psychologischen Institut in Berlin, 1922-1931, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, 29, S. 16-25.
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(1906—1943)60 und Kurt Gottschaidt (1902-1990) 61 , der sich 1932 dann in Bonn habilitiert, arbeiten zu unterschiedlichen Aspekten der visuellen Wahrnehmung, während Köhler und Wertheimer ihre Theorien der Wahrnehmungsorganisation aufstellen. Trotz der nominellen und räumlichen Selbständigkeit des Berliner Psychologischen Instituts verbleibt die Berliner Gestaltpsychologie in der Philosophischen Fakultät. Köhler ist als Direktor des Psychologischen Instituts Professor für Philosophie. Er ist damit selbstverständlich eingebunden in die philosophische Fakultätsarbeit. Gerade die Gestaltpsychologie hält aber auch sachlich bewußt an einem positiven Verhältnis zur Philosophie fest, indem sie die schon in den zwanziger Jahren sich abzeichnende methodologische Krise der Psychologie (K. Bühler, 1927) zu beantworten sucht. In ihrem Programm nimmt sie zahlreiche Anregungen der geisteswissenschaftlichen Psychologie auf. Beide teilen die Aversion gegen die Assoziationstheorie bei gleichzeitiger Betonung des ganzheitlichen Erlebniszusammenhangs. Spranger spricht von einer „grundlegenden Verwandtschaft mit den Bestrebungen von Köhler, Wertheimer, Stern" 62 . Cassirer rezipiert die Gestalttheorie. Und zahlreich sind auch die Berührungspunkte mit der Ganzheitspsychologie der von Felix Krüger (1874-1948) begründeten Zweiten Leipziger Schule.63 Schon der erkenntnistheoretische Ansatz beim „erlebnismäßig Gegebenen" 64 ist ein gemeinsamer philosophischer Nenner. Unterschiede betreffen vor allem die Frage des Experiments. Die geisteswissenschaftlichen Psychologen experimentieren nicht, weil sie die Anwendung der experimentellen Methode „auf dem inner-psychischen Gebiet" 65 ablehnen. Demgegenüber arbeitet die Gestaltpsychologie vorwiegend experimentell. Dennoch steht auch sie nicht unkritisch zur Experimentalpsychologie. Köhlers Gestaltbegriff beispielsweise firmiert auch als Antwort auf die experimentelle Psychologie Wundts und dessen „Psychologie der Elemente". 1933 finden diese Theoriebeziehungen ein jähes Ende. Zu viele Berliner Gestaltpsychologen müssen vor nationalsozialistischer Verfolgung emigrieren, obgleich es auch einigen namhaften Forschern gelingt, Lehrstühle in Deutschland zu besetzen. So wird Wolf gang Metzger (1899-1979) 66 1939 Extraordinarius in Frankfurt und drei 60 Lauenstein, Ansätze zu einer physiologischen Theorie des Vergleichs und der Zeitfehler, Berlin 1932. 61 Gottschaidt, Über den Einfluß der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren, Berlin 1926; Der Aufbau des kindlichen Handelns, Leipzig 1933; Die Methodik der Persönlichkeitsforschung in der Erbpsychologie, 1942; Probleme der Jugendverwahrlosung, Leipzig 1950. 62 Eduard Spranger, Lebensformen, 5. Aufl., Halle 1925, S. XIV. 63 Krüger war 1917 auf den Lehrstuhl Wilhelm Wundts in Leipzig berufen worden. 64 Felix Krüger, Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit. Schriften aus den Jahren 1918-1940, hrsg. v. E. Heuss, Berlin 1953, S. 462. 65 Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 165. 66 Metzger, Über Vorstufen der Verschmelzung von Figurenreihen, die vor dem ruhenden Auge vorüberziehen, Berlin 1926; Gesetze des Sehens, Frankfurt 1936; Johann Georg Hamann. Ein
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Jahre später Ordinarius in Münster.67 Nach 1945 avanciert er zum führenden Nachkriegsvertreter der Schule. Ein Beispiel für die Zerstörung der Berliner Schule ist das Scheitern der Habilitation von Karl Duncker (1903-1940). Duncker beginnt 1923 sein Studium in Berlin. Er studiert bei Köhler und Wertheimer, wechselt dann für eine Zeit in die USA, promoviert 1929 in Berlin mit einer wahrnehmungspsychologischen Arbeit Über induzierte Bewegung und wird im Januar 1930 Assistent am Psychologischen Institut. Er publiziert über „Behaviorismus und Gestaltpsychologie", bringt also die Berliner Schule mit dem amerikanischen Behaviorismus ins Gespräch und meldet sich im Mai 1934 mit einer wegweisenden Arbeit zum kreativen Denken (Zur Psychologie des Denkens beim Lösen von Problemen) zur Habilitation an, die 1935 noch in Berlin unter dem Titel Zur Psychologie des produktiven Denkens erscheint. Köhler, Dessoir, Hartmann und Spranger begutachten die Arbeit direkt positiv.68 Am 22. Juni 1934 meldet die NS-Dozentenschaft jedoch politischen Einspruch gegen die Habilitation an: „Der Assistent am Psychologischen Institut, Dr. Duncker, hat sich [... ] früher mehrfach im kommunistischen Sinne betätigt. Er ist des Öfteren mit dem Antifaabzeichen im Dienst erschienen, hat in den Räumen des Psychologischen Instituts kommunistische Parteikorrespondenz empfangen und beantwortet. Er war mit einer Jüdin verheiratet, von der er sich allerdings nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus hat scheiden lassen. Allein schon aus diesen Gründen lehnen wir die Habilitation des Herrn Dr. Duncker auf das strikteste ab." 6 9
„Das ist nicht gerade sehr anständig", notiert der nationalsozialistische Dekan Bieberbach, der schon die Habilitation von Reichenbach ablehnte, am 9. September dazu und fragt am 6. April 1935 direkt beim Ministerium um eine Entscheidung an.70 Am 15. Juli beantragt er dann selbst die Ablehnung des Habilitationsgesuchs. Duncker verfaßt daraufhin am 3. August mit deutschem Gruß eine Erklärung: „Hiermit erkläre ich: Ich bin nie Kommunist oder Sozialdemokrat gewesen. [...] Es liegt mir fern zu glauben, diese Erklärung könne an den gegen mich erfolgten Massnahmen z.Z. etwas ändern. Doch lege ich den größten Wert darauf, dass aus der Begründung für diese Massnahme der Vorwurf k o m munistischer Betätigung und Gesinnung' gestrichen werde. Man konnte noch 1932 eine anti-nationalsozialistische Einstellung haben, ohne deshalb, selbst wenn man aus kommunistischem Hause stammt, dem Kommunismus auch nur nahezustehn." 71
Das Minsterium bleibt bei seiner Ablehnung. Verkünder des deutschen Zeitalters, Frankfurt 1944; Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950 bis 1982, Frankfurt 1986. 67 Vgl. dazu M. Stadler, Das Schicksal der nichtemigrierten Gestaltpsychologen im Nationalsozialismus, in: Psychologie im Nationalsozialismus, hrsg. v. C. F. Graumann, Berlin 1985, S. 139-164. 68 69 70 71
UAHU, UAHU, UAHU, UAHU,
Phil. Phil. Phil. Phil.
Fak. Fak. Fak. Fak.
1334, 1334, 1334, 1334,
Bl. Bl. Bl. Bl.
32-37. 18. 24. 27.
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Köhler ist durch die Rassegesetzgebung nicht betroffen.72 Wie Hartmann und Spranger ist er ein Gegner des Nationalsozialismus. Er erklärt dies öffentlich in seiner Vorlesung und protestiert am 28. April 1933 in der Deutschen Allgemeinen Zeitschrift unter dem Titel Gespräche in Deutschland gegen das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und die damit gegebene politische und rassistische Diskriminierung an der Universität. Im Mai 1933 protestiert er gegen den erzwungenen Rücktritt mißliebiger Vorstandsmitglieder aus der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Nachdem sein Institut im Dezember 1933 und April 1934 zweimal von Beauftragten der nationalsozialistischen Deutschen Studentenschaft durchsucht wird und seine Assistenten Lauenstein, Duncker und Hedwig von Restorff, die Nachfolgerin von Kurt Lewin, entlassen sind, bittet Köhler am 31. Mai 1934 um Versetzung in den Ruhestand.73 Diesem Rücktrittsgesuch wird nicht direkt stattgegeben. Köhler erneuert es mehrfach, läßt sich beurlauben74 und hält sich im Ausland auf. Ende September 1935 wird er entpflichtet. Köhler hätte - als „Arier" - nicht gehen müssen, und er hätte jederzeit gehen können. Als Wissenschaftler von internationalem Ruf ist er vom Februar 1925 bis 1926 schon für ein Jahr in die USA beurlaubt75 und später dort mehrfach auf Vortragsreisen. Er geht nicht gern, und er geht erst, als sein Institut zerstört ist. Im August 1938 kommt er für die Übertragung seiner Rentenansprüche an seine geschiedene Frau noch einmal kurz nach Berlin. Wie Wertheimer erlangt er in den USA nur eine randständige Position, da die Professionalisierung der amerikanischen Psychologie im Zeichen des Behaviorismus fortgeschritten ist. Akademischen Einfluß gewinnt dort nur Kurt Lewin. Nach dem Krieg sucht der Gründungsrektor der Freien Universität, Erwin Redslob (1884-1973), Köhler für die FU Berlin zu gewinnen. Köhler kommt daraufhin in den fünfziger Jahren mehrfach zu Gastvorträgen nach Berlin und übernimmt 1957 eine Honorarprofessur, forscht auch wieder experimentell am FU-Institut. Dennoch kehrt er nicht auf einen Lehrstuhl zurück, sondern bleibt bis zu seinem Tod 1967 am Swarthmore College in der Nähe von Philadelphia. Otto Lauenstein emigriert zunächst nach Dänemark und England, kehrt bei Kriegsbeginn als Sohn eines preußischen Offiziers freiwillig wieder nach Deutschland zurück und fällt an der Ostfront. Karl Duncker setzt seinem Leben im amerikanischen Exil ein Ende.
72 Dazu vgl. Siegfried Jaeger, Wolfgang Köhler in Berlin, in: Zur Geschichte der Psychologie in Berlin, hrsg. v. C. Sprung/W. Schönpflug, Zur Geschichte der Psychologie, S. 161-183. 73 Schreiben an den Dekan, In: UAHU, Phil. Fak. 1478, Bl. 399. 74 So wird er auf Antrag vom 3.2.1935 noch für das Sommersemester 1935 beurlaubt: UAHU, Phil. Fak. 1480, Bl. 223. 75 UAHU, Phil. Fak. 1471, Bl. 286.
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Die Revolution frißt ihre Kinder: Besetzungsquerelen
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im Institut
Nach dem Weggang Köhlers übernimmt Hans Rupp die kommissarische Leitung des Instituts, was politisch bald nicht mehr für opportun gilt.76 Rupp wird im Sommer 1935 in der Leitung durch den Logiker und Heerespsychologen Johann Baptist Rieffert (1883-1956) ersetzt,77 der im März 1933 in die NSDAP eintrat und eine Denkschrift über Die psychologischen Forderungen des nationalsozialistischen Staates verfaßte.78 Rieffert promoviert 1910 noch in Bonn bei Benno Erdmann.79 Bis 1912 ist er dort Assistent bei Külpe und wechselt dann nach Bern. Während des Krieges arbeitet er über heerespsychologische Fragen der Funktechnik und führt diese Forschungen nach dem Krieg noch „im Auftrag des Kriegsministeriums" weiter. 1919 habilitiert er sich in Berlin bei Stumpf und Erdmann kumulativ Zur Genealogie des Beziehungsbewusstseins und 7 weitere Abhandlungen. Stumpf zweifelt an dem didaktischen Talent, nicht aber an der wissenschaftlichen Begabung.80 Riefferts Doktorvater Erdmann schließt sich dem Erstgutachten Stumpfs ebenso wie Riehl und Troeltsch ohne weiteres an. Seinen Probevortrag hält Rieffert über „Herbarts Phänomenologie", die öffentliche Vorlesung über „Ideen zur Methode der experimentellen Psychologie des Denkens". Am 9. Juli 1919 ist Rieffert habilitiert und kündigt regelmäßig philosophische Veranstaltungen an. 1925 publiziert er eine dem Andenken Benno Erdmanns gewidmete kritische Ideengeschichte der Logik.81 1926 wird er nichtbeamteter Extraordinarius.82 1929 folgt eine Pragmatische Bewußtseinstheorie auf experimenteller Grundlage. Am 17. Dezember 1934 wird Rieffert als persönlicher Ordinarius für „Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Charakterkunde" zum Direktor des Charakterologischen Instituts berufen.83 Weiterhin lehrt er Geschichte der Logik. Er verliert seine ordentliche Professur jedoch bald wieder und wird aus dem Staatsdienst entlassen, weil er auf dem Personalbogen seine frühere Mitgliedschaft in der SPD verschwieg.84 76 Schreiben des Dekans vom 5.7.1935, UAHU, Phil. Fak. 1480, Bl. 222. 77 Schreiben des damaligen Rektors an den Minister mit Abschrift zur Kenntnis an Köhler, in: UAHU UK PA Κ 221, Bl. 1. 78 Ein Promoter nationalsozialistischer Psychologie ist damals E. R. Jaensch, der 1933 ebenfalls eine Programmschrift Die Lage und Aufgabe der Psychologie publiziert und die „Zeitschrift für Psychologie" gleichschaltet. Dort erscheint auch ein Angriff auf die „Berliner Schule"; Hans Eilks, Der Gestaltbegriff der Berliner Schule unter naturphilosophischem und experimentellpsychologischem Gesichtspunkt, in: Zeitschrift für Psychologie 136 (1935), S. 209-261. 79 Rieffert, Die Lehre von der empirischen Anschauung bei Schopenhauer und ihre historischen Voraussetzungen, Halle 1914. 80 Habilitationsakten UAHU, Phil. Fak. 1236, Bl. 84-94. 81 Rieffert, Logik. Eine Kritik an der Geschichte ihrer Idee, Berlin 1925. 82 Schreiben vom 25.3.1926, UAHU, Phil. Fak. 1472, Bl. 72. 83 Schreiben des Ministeriums vom 17.12.1934, UAHU, Phil. Fak. 1479, Bl. 66. 84 Ulfried Genter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt 1988, S. 114.
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Kommissarisch übernimmt der Extraordinarius Hans Keller (1887-1944) daraufhin 1936 die Leitung des Instituts, ab 1938 zusammen mit Major a. D. Walter M. Schering, über den noch zu berichten ist. Dazu lehren vom Wintersemester 1936/37 an der Arbeitspsychologe Walter Moede (1888—1958)85 sowie Kurt Gottschaidt (1902-1991). Gottschaidt ist schon von 1926 bis 1929 Assistent am Institut, kehrt nach seiner Habilitation in Bonn (bei Rothacker) 1935 ans Kaiser-Wilhelms-Institut zurück und wird 1938 Extraordinarius für Psychologie. Mit der Wiedereröffnung der Universität wird er im Januar 1946 Ordinarius, entfaltet eine breite Wirksamkeit und wechselt erst 1961 in den Westen nach Göttingen. Für die Nachfolge von Köhler und Rieffert ist damals aber ein anderer Kandidat im Gespräch. Der Dekan der Philosophischen Fakultät wird schon im März 1936 mit Unterstützung des NS-Dozentenbundes initiativ: Der Lehrstuhl Köhlers, die Nachfolge Riefferts, sei mit dem „Schriftsteller" und „Begründer der ,Rassenseelekunde"' Ludwig Ferdinand Clauss (1892-1974) zu besetzen. 86 Clauss promoviert 1921 in Freiburg über Die Totenklagen der deutschen Minnesänger und wirkt dann mit zahlreichen rassepsychologischen Schriften außerhalb der Universität. Philosophisch von Husserl geprägt - Clauss ist an dessen Festschrift beteiligt - , vertritt er eine phänomenologische Methode des „Mitlebens". In den späten zwanziger Jahren lebt er zusammen mit seiner Privatassistentin Margarete Landé einige Jahre in teilnehmender Beobachtung als Beduine unter Beduinen,87 1933 tritt er in die NSDAP ein und engagiert sich in reger Vortragstätigkeit. Für die Habilitation hat Clauss damals die nach dem Geschmack der Zeit besten Empfehlungen. So gutachtet der kommissarische Direktor des Psychologischen Instituts, Hans Keller, ebenso positiv wie Alfred Baeumler und der extern hinzugezogene Chefrassist Hans F. K. Günther. Eine eigene Habilitationsschrift wird nicht gefordert. Clauss habilitiert sich mit Rasse und Seele und anderen Schriften nach einer am 10. Juli 1936 erfolgten wissenschaftlichen Aussprache. 88 Einen Arbeitsplatz und Lehrauftrag für Rassepsychologie hat er damals schon. Sogleich beantragt er, auch „Philosophische Übungen über Piatons Menon" abzuhalten. Am 16. November 1936 hält Clauss seine Antrittsvorlesung „Einführung in die Psychologie der Rasse". 85 Moede, Gedächtnis in Psychologie, Physiologie und Biologie, Diss. Leipzig 1911; Die Experimentalpsychologie im Dienste des Wirtschaftslebens, Berlin 1919; Experimentelle Massenpsychologie, Leipzig 1920; Lehrbuch der Psychotechnik, Berlin 1930; Konsumpsychologie, Charlottenburg 1933; Arbeitstechnik. Die Arbeitskraft. Schutz, Erhaltung, Steigerung, Stuttgart 1935; Eignungsprüfung und Arbeitseinsatz, Stuttgart 1943; Psychologie des Berufs- und Wirtschaftslebens, Berlin 1958. 86 UAHU UK PA Clauss 36, Bl. 12. 87 Clauss, Als Beduine unter Beduinen, Freiburg 1933; vgl. ders., Rasse und Seele, München 1926; Von Seele und Antlitz der Rassen und Völker, München 1929; Die nordische Seele, München 1932; Rasse und Charakter, Frankfurt 1936. 88 Vgl. dazu die sehr umfangreichen PA UAHU UK PA Clauss 36, Bl. 1-46 (insgesamt vier Mappen im Umfang von etwa 400 Blatt).
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Bald beginnen ständige Querelen. Clauss lebt fernab von Berlin. Dienstlich mag er nicht ständig präsent sein. Seine Vorlesungen will er privatim abhalten. Der Lehrauftrag ist ihm zu gering besoldet. Gleichzeitig werden Schritte unternommen, Clauss zum Professor zu ernennen 89 , obgleich „seine eigenwillige Persönlichkeit sich nicht sonderlich zur Einordnung in eine Gemeinschaft eignet" 90 . Der Leipziger Psychiater Schröder91 urteilt dabei ebenso positiv über Clauss' „Sonderbegabung des Schauens und Erfassens der körperlichen Ausdrucksformen seelischer Vorgänge und Haltungen" wie der Bonner Philosoph und Heidegger-Schüler Oskar Becker92, der Clauss' „mimische Methode" mit Dilthey in Verbindung bringt. Negativ gutachten der 1936 aus Göttingen nach Berlin versetzte Assistent Dr. Hans Joachim Firgau93 sowie der nationalsozialistische Ganzheitspsychologe Felix Krueger94, der Walter Schering ins Gespräch bringt. Der Dekan resümiert, daß die Beurteilung von Clauss' Arbeit verschieden ausfalle, „je nachdem der Beurteiler von der Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft herkommt" 95 . Gegenüber dem Ministerium verfolgt die Fakultät die Strategie, eine Ernennung noch zu vertagen und Clauss allenfalls für ein Extraordinariat zu berücksichtigen. Clauss protestiert, ihm sei ein Ordinariat versprochen. 96 Gegen Firgau beantragt er ein Ehrenverfahren des Dozentenbundes, das zugunsten von Clauss entschieden wird. Firgau wird daraufhin seine 1937 erworbene Lehrbefugnis wieder entzogen. Nach Firgau ging es um ideologische Differenzen; er sieht in Clauss' Schriften „Ansatzpunkte für ultramontane Verdrehungsversuche" 98 . Hinter dieser Insinuierung wurde Baeumler vermutet. 99 Eine Zusammenarbeit von Baeumler mit Karl August Eckhardt (1901-1979) ist wahrscheinlich. Der einflußreiche Rechtshistoriker und SSJurist Eckhardt gehört seit 1935 zum persönlichen Stab Himmlers und engeren Mitarbeiterkreis im Sicherheitsdienst Heydrichs. Mit Erlaß vom 15. Januar 1935 100 ist er als Professor für „Germanisches Recht" zunächst an die Philosophische Fakultät berufen und zum 1. April 1936 an die Juristische Fakultät überwiesen. Als „Führer" des 97
89 Bitte des Ministeriums um gutachterliche Stellungnahme der Fakultät, Schreiben vom 15.6.1937, UAHU Uk PA C 36, Bl. 61. 90 Schreiben des Dekans Breioer, ebd., Bl. 17. 91 Gutachten vom 19.6.1937, UK PA C 36, Bl. 63. 92 Gutachten vom 19.6.1937, ebd., Bl. 66. 93 Ebd., Bl. 71-72. 94 Gutachten vom 3.6.1937, ebd., Bl. 73. 95 Schreiben vom 23.6.1937, ebd., Bl. 75. 96 Nähere Darlegung Schreiben vom 28.10.1937 an den Dekan, ebd., Bl. 82. 97 Schreiben vom 30.9.1937 an den Dozentenbund, ebd., Bl. 54. 98 Schreiben vom 14.10.1937, ebd., Bl. 56. 99 So ohne Beleg die reißerische Darstellung von Peter Weingart. Doppelleben. Ludwig Ferdinand Clauss: Zwischen Rasseforschung und Widerstand, Frankfurt 1995. Weingart konzentriert sich ganz auf den späteren Prozeß und die Errettung Margarete Landés. Er hat die einschlägigen Quellen des Universitätsarchivs nicht berücksichtigt. 100 UAHU, U K P A E 1 3 , Bl. 1.
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NSD-Dozentenbundes protestiert Eckhardt mehrfach gegen eine schnelle Ernennung von Clauss. 101 Damals schreibt Clauss an Hitler persönlich, um endlich das Ordinariat zu erhalten. 102 Parallel beantragt er weitere finanzielle Unterstützung. Am 18. Mai 1938 schreibt Clauss 103 - unter Verletzung des Dienstwegs - direkt an den Rektor, ein Antrag der Fakultät auf Erteilung einer Professur für Psychologie sei offenbar nicht bis ins Ministerium gelangt. Clauss' Gattin bezichtigt Baeumler der Unterschlagung. Daraufhin beginnt ein schwerwiegender Streit mit Baeumler. Bei den Untersuchungen muß Clauss die Anschuldigungen seiner Frau im Sommer 1939 zurücknehmen 104 und gilt dem Dekan fortan als „Typus des Querulanten". 105 Dennoch wird Clauss weiterhin als Rassepsychologe in der Lehre gebraucht und am 28. November 1939 nach eigenem Antrag in ein Beamtenverhältnis neuer Ordnung als Beamter auf Widerruf ernannt 106 und am 5. Dezember 1939 vereidigt. Im Juni 1940 läßt Clauss sich scheiden. Die „geistige Entwicklung" seiner Frau machte „eine Lebensgemeinschaft zuletzt unmöglich" 107 . Als die Ehe in die Brüche geht, denunziert die Gattin Margarete Landé bei der Partei als Jüdin und bezichtigt Clauss der „Rassenschande": des Verhältnisses mit seiner Assistentin. 108 Clauss beantragt daraufhin beim Universitätskurator eine „Disziplinaruntersuchung" 109 gegen sich selbst. Der erklärt sich aber für unzuständig. Dann beantragt er ein Parteigerichtsverfahren gegen den zuständigen Oberdienstleiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, Walter Gross: Er, Clauss, habe kein Verhältnis zu Margarete Landé, sondern bedürfe ihrer als „Werkzeug" zur Erforschung der jüdischen Rasseseele. 110 Das Verfahren kehrt sich gegen den Ankläger und gerät zu einer Kritik an Clauss „mitlebender" Methode. 111 Im Ergebnis verliert Clauss seine Lehrbefugnis und wird am 27. Januar 1943 aus der Partei ausgeschlossen und am 6. Oktober 1943 aus der Universität entlassen. 112 Es gelingt ihm aber, Margarete Landé zu verstecken und so vor der Deportation zu bewahren. Mit Hilfe eines SS-Hauptsturmführers kommt Clauss bei Kriegsende in der Waffen-SS unter, wofür Briefe zwischen Himmler und Bormann gewechselt werden." 3 Auf 101 UAHU, UK PA C 36, Bl. 30-36. 102 Brief vom 17.12.1937, Abdruck bei Weingart, Doppelleben, S. 39; zu Clauss' Initiativen um Wiedergutmachung vgl. ebd., S. 193ff.; aus den Personalakten geht klar hervor, daß Clauss als Beamter auf Widerruf vereidigt war. 103 Ebd. Bl. 104. 104 UK PA Clauss 36, Bl. 28-47. 105 Schreiben vom 11.9.1939, PA Clauss 36, Bl. 76. 106 Schreiben des Ministeriums vom 28.11.1939, UK PA Clauss 36, Bl. 88. 107 Mitteilung Clauss' vom 27.8.1940 an den Universitätskurator, ebd., Bl. 63. 108 Dazu eingehend Weingart, Doppelleben, S. 45 ff. 109 Schreiben vom 22.4.1941 an den Universitätskurator, PA C 36, Bl. 77. 110 Quellenzitate bei Weingart, Doppelleben, S. 70ff. 111 Ebd., S. 86 ff. 112 Ebd., S. 148ff., UAHU, UK PA Clauss 36, Bl. 121-125. 113 Abgedruckt bei Weingart, Doppelleben, S. 171 ff.
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Initiative von Margarete Landé" 4 erhält er für deren Errettung einen Gedenkstein in Yad Vashem. Ende des Krieges lehren dann die Völkerpsychologen und Ethnologen Richard Thurnwalt (1869-1954) 1 1 5 und Wilhelm Emil Mühlmann (1904-1988) 1 1 6 im Psychologischen Institut. In Köhlers Personalakten findet sich eine Planstudie des stellvertretenden Gauleiters, Görlitzer, vom September 1937 an den Staatsminister Wacker, die deutlich macht, wie sich die Nationalsozialisten die Zukunft der Berliner Psychologie dachten. 117 Das Papier stellt zunächst fest, daß „die psychologischen Lehrstühle unter der Führung von Prof. Köhler die Hauptstütze und Aktionsbasis des volksfremden, jüdisch-liberalistischindividualistischen Geistes an der Hochschule waren, und es wohl bei der vollkommenen Verjudung der Psychologie schwierig ist, geeignete Nachfolger zu finden": Mit „völkisch-anthropologischer Grundrichtung" fordert das Papier dann einen Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie, einen für „Charakterologie und pädagogische Psychologie" sowie einen „Lehrstuhl für deutsche (oder völkische) Weltanschauungslehre", der die „Struktur des deutschen Geistes" in rassepsychologischer Ausrichtung explizit gegen Sprangers „übervölkisch-humanistische Theorie" vertreten sollte. Als Nachfolger für Köhler schlägt Görlitzer Schering vor. Den Lehrstuhl erhält 1942 Oswald Kroh (1887-1955) 118 , nach 1948 Direktor des Psychologischen Instituts an der FU Berlin. Kroh ist von 1940-1945 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und sorgt in dieser Funktion 1941 für die Einführung einer eigenen Diplomprüfungsordnung, womit die Trennung der Psychologie von der Philosophie besiegelt ist.
114 Ebd., S. 241 ff. 115 Thurnwald erlangte mit einer Habilitationsschrift „Die Psychologie des primitiven Menschen" am 8. Februar 1923 die Venia für Ethnologie. Am Habilitationsverfahren waren Stumpf und Koehler, Vierkandt und Dessoir gutacherlich beteiligt (Phil. Fak. 1240, Bl. 45-74); weitere Schriften Thurnwalds: Die Gemeinde der Bánaro, Stuttgart 1921; Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen, 5 Bde., Berlin 1931/35; Koloniale Gestaltung. Methoden und Probleme überseeischer Ausdehnung, Hamburg 1939. 116 Die Habilitation war 1937 umstritten: UAHU, Phil. Fak. 1299 PA Mühlmann. Publikationen u.a.: Rassen- und Völkerkunde. Lebensprobleme der Rassen, Gesellschaften und Völker, Braunschweig 1936; Methodik der Völkerkunde, Stuttgart 1938; Krieg und Frieden, Heidelberg 1940; Der heutige Bestand der Naturvölker, Heidelberg 1943; Geschichte der Anthropologie, Bonn 1948; Homo creator, 1962; Chiliasmus und Nativismus, 1964. 117 UAHU, UK Personalakte Köhler 221, Bl. 60-61. 118 Kroh, Die Psychologie des Grundschulkindes in ihrer Beziehung zur kindlichen Gesamtentwicklung, 7. Aufl., 1930; Erziehung im Heere. Ein Beitrag zur Nationalerziehung der Erwachsenen, Langensalza 1926; Experimentelle Beiträge zur Typenlehre in der Gemeinschaft, Leipzig 1929; Völkische Anthropologie als Grundlage deutscher Erziehung, Esslingen 1934; Das kulturpolitische Wollen deutscher Gegenwart, Langensalza 1937.
16. Zweierlei Enden einer Tradition
Das lange bürgerliche Jahrhundert hindurch gab die Berliner Universität der Philosophie nach Humboldt und Fichte, Schleiermacher und Hegel eine Stätte, die über Lotze und Dilthey bis Simmel, Cassirer und Troeltsch fruchtbar blieb. Das Profil dieser Tradition ist von Dilthey her in dessen Vorgängern und Nachfolgern identifizierbar. Daneben findet sich eine Gegenlinie psychologischer Forschung, die zur wechselseitigen Klärung zwang und wissenschaftsgeschichtlich für die selbständige Etablierung der Psychologie von großer Bedeutung ist. Ist die Berliner philosophische Tradition also durch zwei Hauptlinien gekennzeichnet, so endet diese Tradition mit Hartmanns Rückgang auf den enzyklopädisch-ontologischen Impuls Hegels einerseits und Sprangers epigonaler Adaption Diltheys mit Humboldt in die Pädagogik und Kulturphilosophie andererseits. Eine innovative Fortbildung erhält sie in der gestaltpsychologischen Schule, die nach 1933 jedoch weitgehend liquidiert wird. Die Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität verzeichnet die Veränderungen unter dem Nationalsozialismus' nüchtern: Hartmann leitet das Philosophische Seminar, Spranger das Pädagogische Seminar, Riejfert übernimmt dann das Psychologische Institut, Alfred Baeumler kommt und erhält ein „Institut für politische Pädagogik". Maier verstirbt am 28. Dezember 1933. Sein Lehrstuhl bleibt unbesetzt, zumal Baeumler auch die Philosophie vertritt. Von der Rassegesetzgebung betroffen und entpflichtet werden die Professoren Dessoir (1934) und Vierkandt (1935). Köhler wird (1935) auf eigenen Wunsch entpflichtet. Groethuysen legt (1933) seine Lehrtätigkeit nieder, Liebert wird (1933) die Lehrbefugnis ebenso entzogen wie Lewin (1935) und den Privatdozenten Baumgardt (1935), Friedländer (1935) und Kuhn (1935). Während des Nationalsozialismus habilitieren sich in Berlin Springmeyer (1933), Schering (1934), Steinbeck (1938), Lehmann (1940), Wein (1942), Ballauf (1943) und Liebrucks (1943). Grassi kommt und erhält ein Extraordinariat. Spranger bringt während der Zeit des Nationalsozialismus keine Schüler mehr zur Habilitation. Stark 1 Konrad H. Jarausch (Die Vertreibung der jüdischen Studenten und Professoren in der Berliner Universität unter dem NS-Regime, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 112-133, hier: 126) schätzt, daß insgesamt etwa 250 Berliner Universitätslehrer vertrieben wurden, von denen etwa 9/10 Juden waren.
16.
277
Zweierlei Enden einer Tradition
politisch motiviert sind die Habilitationen von Schering und Steinbeck. Beide lehren an Baeumlers Institut für politische Pädagogik. Primär philosophisch motiviert sind die Habilitationen von Springmeyer, Wein, Ballauf und Liebrucks - alle von Hartmann betreut - , während Lehmann den Nationalsozialismus ideologisch bedient. Bevor diese Karrieren näher vorgestellt werden, sei ein Kapitel zu den zweierlei Enden von Karrieren geschrieben, die vor 1933 beginnen.2
a.
Emigrationsschicksale:
Hofmann, Liebert, Baumgardt, Kuhn
Nicht direkt zu den Schülern, aber zur Schule Diltheys zählt Paul Hofmann (1880-1947). Er studiert an den Universitäten Berlin, Leipzig und München, bevor er 1901 in Rostock mit einer Dissertation über Kants Lehre vom Schlüsse und ihre Bedeutung promoviert. 1914 habilitiert er sich in Berlin aufgrund der größeren Schrift Die antithetische Struktur des Bewußtseins. Die Gutachten von Erdmann, Stumpf und Riehl fallen ausnahmslos positiv aus. Bedenken werden nur gegenüber der „dialektischein] Methode" Hofmanns vorgebracht, weil sie - wie Erdmann meint - „zwar durchaus empirisch gemeint ist, aber mannigfache rationalistische Konstruktionen enthält" 3 . Stumpf wünscht sich überdies „mehr Vertrautheit mit der Psychologie" 4 und dafür weniger Anlehnung an Fichtes Wissenschaftslehre; ähnlich sieht es Riehl, der zuversichtlich bleibt, daß der Habilitand in Zukunft „seine große Vorliebe für dialektischen Schematismus" 5 beherrschen lernt und auch seine Kenntnisse in der Psychologie noch erweitert. In den folgenden Jahren publiziert Hofmann einige schmalere Schriften. 1922 wird er auf Antrag von Stumpf 6 zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor in Berlin berufen. Die Ernennung geht auf die Förderung durch Spranger zurück. Später wendet Hofmann sich, auch in Auseinandersetzung mit Heidegger 7 , dem „Verstehen von Sinn" zu und publiziert 1937 eine umfangreiche Studie über Sinn und Geschichte8, die, wie Hofmann in einer Fußnote bemerkt, 1933 abgeschlossen ist. 1938 wird ihm die Lehrbefugnis entzogen. Nach 1945 wird Hofmann in Berlin Ordinarius, kündigt nach der Wiedereröffnung der Universität 2 Eine Dokumentation wurde zusammengestellt von Rudolf Schottlaender, Verfolgte Berliner Wissenschaftler, Berlin 1988. 3 UAHU, Phil. Fak. 1234, Bl. 167. 4 Ebd., Bl. 167. 5 UAHU, Phil. Fak. 1234, Bl. 168. 6 Antrag der Fakultät vom Juni 1922, UAHU, Phil. Fak. 1439, Bl. 465-468. 7 Hofmann, Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft? Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Heideggers „Sein und Zeit", Berlin 1929. 8 Hofmann, Sinn und Geschichte. Historisch-systematische Einleitung in die Sinn-erforschende Philosophie, München 1937; vgl. ders., Das Verstehen von Sinn und seine Allgemeingültigkeit, Berlin 1929; Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft?, Berlin 1929.
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Teil IV: Krise
auch philosophische Veranstaltungen an, erkrankt aber und stirbt bald nach seiner Berufung. Ein langjähriger verdienstvoller Organisator philosophischer Arbeit ist Arthur Liebert (1878-1946). Nach einer kaufmännischen Lehre studiert er 1901 bis 1905 bei Paulsen und Dilthey. 1905 publiziert er ausgewählte Schriften des Pico della Mirandola und promoviert 1908 über Die Philosophie Giovanni Picos della Mirandola. Dilthey zieht Liebert bei der Herausgabe seiner Aufsatz-Sammlung Das Erlebnis und die Dichtung sowie für seine Akademie-Abhandlung Der Aufoau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften und zur Mitarbeit an der Akademie-Ausgabe Kants heran. 1911 ändert Liebert auf Empfehlung Paulsens 9 seinen Namen. An Stelle seines ursprünglichen Vaternamens „Levy" trägt er fortan den Familiennamen seiner frühverstorbenen Frau. Gleichzeitig tritt er zur protestantischen Kirche über. Sein organisatorisches Talent stellt Liebert in der Kant-Gesellschaft unter Beweis. Hier ist er dem Geschäftsführer Hans Vaihinger, dem ein Augenleiden zunehmend die Arbeit erschwert, zugeordnet. Während des Krieges arbeitet Liebert als Gymnasiallehrer mit Lehrauftrag an der Handelshochschule und Volkshochschule. Er gibt Editionen von Aenesidem-Schulze, Spinoza und Fichte, später auch Quellen-Handbücher der Philosophie heraus, betreut aber vor allem die Kant-Studien: nach dem Tode von Vaihinger zusammen mit Frischeisen-Köhler und nach dessen Tod dann mit Paul Menzer, bis er 1933 ausscheiden muß und der Nationalsozialist Hans Heyse die Herausgeberschaft übernimmt. Liebert lehrt auch an der Berliner Handelshochschule. Seine erste größere philosophische Schrift handelt 1914 über Das Problem der Geltung. Mit transzendentaler Methode vertritt Liebert darin eine „Unterordnung der Metaphysik unter die Psychologie" und eine Unterscheidung der „psychologischen Geltungsreihe" vom „logischen Sinn des Geltungsproblems". Liebert beschränkt also den Geltungsanspruch der Psychologie kritizistisch und verteidigt die systematische „Einheit der Philosophie" gegen den Psychologismus. Seinen Standpunkt situiert er ausführlich in der zeitgenössischen Diskussion und verzichtet dabei weitgehend auf Originalitätsansprüche. Diese historische Selbstauffassung seines philosophischen Geltungsanspruchs führt auch ihn zur Historismuskritik und zur Kulturphilosophie. In den ersten Nachkriegsjahren publiziert er über Strindberg, den Geist der Revolutionen und Die geistige Krisis der Gegenwart. Seine Krisis-Schrift entdeckt eine allgemeine „Wendung zum Relativismus" als den „inneren Grund für die Krisis der Gegenwart" und hofft auf die Religion als Macht des „Umschwungs": „Darum ist das Problem der Religion zur Schicksalsfrage unserer Zeit geworden" l0 . Von Nietzsche und Dilthey ausgehend, geht Liebert damit philosophisch nicht über Troeltsch hinaus, sondern beschränkt sich erneut auf die analytische Sondierung und 9 Vgl. Lieberts ausführlichen Lebenslauf, UAHU, Phil. Fak.1241, Bl. 127 f. 10 Liebert, Die geistige Krisis der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1923, S. 196.
16.
Zweierlei Enden einer Tradition
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geistesgeschichtliche Illustration des Problems. Trotz dezidiertem Kritizismus und Referenzen an den südwestdeutschen Neukantianismus ist Liebert deshalb zur Dilthey-Schule zu zählen. Als er im Januar 1925 sein Habilitationsgesuch einreicht, liegt eine ansehnliche Publikationsliste vor." Der Habilitationsvorgang gestaltet sich komplikationslos. Maier schreibt das Erstgutachten. Dessoir benennt die Grenze von Lieberts Arbeit: Liebert sei „nicht so sehr ein Forscher, der durch Einzeluntersuchungen an der Arbeit der Wissenschaft teilnimmt", als vielmehr ein Mann der „klaerenden Darstellung", ein „fleißiger und ernster Gelehrter" und der „denkbar beste Lehrer". 12 Spranger lobt aus 20jähriger Bekanntschaft die „untadelige" Person. 13 Liebert habilitiert sich kumulativ. Seinen Probevortrag hält er am 15. Juni über „Die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie", seine öffentliche Antrittsvorlesung am 4. Juli 1925 über den „Uebergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft". Wegen seiner langjährigen Verdienste wird Liebert 1928 schon zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. 1932 publiziert er eine zweibändige Erkenntnistheorie, die in ihrem systematischen Teil die „Hauptfrage" nach dem „Wesen der Wahrheit" von den „Unterfragen" nach den „Haupttypen der Weltanschauungen" her angeht und so erneut den Einfluß Diltheys erkennen läßt. 1933 publiziert Liebert 14 eine umfassende Würdigung Diltheys; sie stellt Dilthey neben Nietzsche, begreift ihn als Lebensphilosophen und klassifiziert seine „Erlebnismetaphysik" mit Diltheys eigener Weltanschauungstypologie als Spielart des „objektiven Idealismus". Am 5. September 1933 wird Liebert die Lehrbefugnis entzogen. Er emigriert sofort, geht zunächst an die Universität Belgrad, später nach Großbritannien und organisiert dort mit Alfred Meusel (1896-1960) zusammen die Freie Deutsche Hochschule in Großbritannien. Werke der Emigration sind eine Schrift über den Liberalismus als Forderung sowie ein weitschweifiger und vager Versuch,15 dem „Ur-Erlebnis" des Lebens einen Universalen Humanismus abzugewinnen. Als Dekan der Philosophischen Fakultät holt Meusel Liebert zum Wintersemester 1946 auf einen philosophischen Lehrstuhl nach Berlin zurück. Wie Hofmann kann jedoch auch Liebert den
11 12 13 14
Vgl. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 137f. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 135. UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 135. Liebert, Wilhelm Dilthey. Eine Würdigung seines Werkes zum 100. Geburtstag des Philosophen, Berlin 1933. 15 Liebert, Der Liberalismus als Forderung, Gesinnung und Weltanschauung. Eine philosophische Betrachtung, Zürich 1938; Der Universale Humanismus. Eine Philosophie über das Wesen und den Wert des Lebens und der menschlich-geschichtlichen Kultur als Philosophie der schöpferischen Entwicklung. 1. Band: Grundlegung, Prinzipien und Hauptgebiete des Universalen Humanismus, Zürich 1946.
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Teil IV: Krise
Neuaufbau nicht mehr mitgestalten. Er verstirbt nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr am 5. November 1946. Daraufhin bemüht sich Meusel um einen anderen Berliner Emigranten, um Baumgardt: Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Erfurt studiert David Baumgardt (1890-1963) Philosophie, Physik, Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. 1920 promoviert er in Berlin mit der Abhandlung Der Begriff der objektiven Möglichkeit in der Kritik der reinen Vernunft und der modernen Phänomenologie und der Gegenstandstheoriei6. Kurze Zeit später liegt der Fakultät eine Schrift über Die Methoden der modernen Ethik. Teil I: Kant und die moderne Kantkritik vor, mit der sich Baumgardt zu habilitieren gedenkt. Das scheitert am Einspruch Maiers, der es - laut Gutachten - immer schon für „töricht" gehalten hat, „wenn ein Anfänger über die Methode einer philosophischen Disziplin schreibt." 17 Maier erklärt Baumgardts wissenschaftliche Begabung insgesamt für nicht „entwicklungsfähig" und empfiehlt eine „endgültige Ablehnung" 18 . Auch die anderen Referenten können sich nur halbherzig zu positiven Urteilen durchringen. So bedauert Köhler, daß Baumgardts Werk „nicht durch fruchtbareres Gebiet führt als durch das der nachgerade ermüdenden Kant-Interpretation, noch mehr, dass Vrf. offenbar Geschmack an dergleichen hat und hier eine Gedankenenergie aufwendet, die man lieber auf eigentliches Kernschaffen gerichtet sähe." 19 Baumgardt indes entkräftet den starken Vorbehalt gegenüber seinen philosophischen Fähigkeiten 1924 mit einer zweiten Habilitationsschrift Über die Philosophie Franz von Baaders.20 Als Privatdozent liest er dann unter anderem über die Geschichte der modernen Ethik, die deutsche Mystik und die Philosophie der Griechen. 1932 wird er zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. 1933 veröffentlicht er noch Der Kampf um den Lebenssinn unter den Vorläufern der modernen Ethik, eine Auseinandersetzung mit Kants Ethik unter Bezug auf die „moderne Kantkritik" einerseits und Herder, Hemsterhuis und Jacobi andererseits, und verläßt Berlin, um - wie es heißt - im Süden „ein altes rheumatisches Kriegsleiden auszuheilen" 21 . 1935 wird ihm die Lehrbefugnis entzogen. Baumgardt emigriert zunächst nach Spanien, wechselt dann nach England und unterrichtet dort an der Universität von Birmingham, bevor er 1939 in die USA emigriert und in Washington wirkt. Sein nachgelassenes Spätwerk 22 vertritt eine 16 Veröffentlicht unter dem Titel: Das Möglichkeitsproblem der Kritik der reinen Vernunft, der Phänomenologie und der Gegenstandstheorie, Berlin 1920. 17 UAHU, Phil. Fak.l241,Bl. 24. 18 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 26. 19 UAHU, Phil. Fak. 1241, Bl. 25. 20 Baumgardt, Franz von Baader und die philosophische Romantik, Halle 1927; ders., Spinoza und Mendelsohn, Berlin 1932. 21 UAHU, UK„ PA. Β 94, Bd. 2, Bl. 37. 22 Baumgardt, Jenseits von Machtmoral und Masochismus. Hedonistische Ethik als kritische Alternative, Meisenheim 1977.
16.
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„hedonistische Ethik". Nach 1945 will Meusel ihn aus den USA nach Berlin zurückzuholen. Baumgardt antwortet am 21.3.1947: "Sehr verehrter Herr Kollege! Die Antwort auf ein offizielles Schreiben der Philosophischen Fakultät ist schwerlich der Ort, Ihnen zu bekunden, mit wieviel Dankgefühlen ich Ihren Brief vom 21. Januar gelesen habe. Ich hatte auch in den schweren Zeiten des Exils nicht den Glauben aufgegeben, dass von der Universität Berlin einst wieder eine Stimme hörbar werden würde wie die Ihre."23
Baumgardt lehnt jedoch wegen „technischer Schwierigkeiten" vorläufig ab. Die Sache erledigt sich mit der weiteren Entwicklung der Berliner Universität nach Gründung der DDR. Den „Nürnberger Gesetzen" fällt auch der Privatdozent Helmut Kuhn (1899-1991) zum Opfer. Ihm wird mit Ablauf des Jahres 1935 die Venia aberkannt. Es lohnt eine nähere Betrachtung von Kuhns Frühwerk, denn Kuhn hat das Zeug zu einem Vollender der Berliner Tradition. 1899 in Schlesien geboren, dient er vom September 1914 bis 1919 als Kriegsfreiwilliger. Nach einem Notabitur studiert er in Breslau und Innsbruck, promoviert 1923 mit einer Arbeit über den Begriff des Symbolischen in der deutschen Ästhetik bis Schiller und wechselt nach der Promotion mit einem Stipendium der Notgemeinschaft nach Berlin. In den nächsten Jahren studiert er Klassische Philologie, tritt mit einigen Arbeiten zur Ästhetik hervor und bearbeitet im Auftrag der Kantgesellschaft Eislers Kant-Lexikon. Am 3. Mai 1929 beantragt er die Habilitation. Dessoir vermißt zwar die „Kühnheit" und „Ursprünglichkeit des Denkens", akzeptiert die Arbeit aber „ohne Einschränkung als eine vortreffliche Habilitationsschrift" 24 . Spranger spricht von einer „starken und - wir mir scheint - entwicklungsfähigen Begabung" 25 . Am 2. Mai 1930 erhält er die Venia legendi. Er habilitiert sich mit einem zweibändigen Werk Die Kulturfunktion der Kunst. Während der erste Band Erscheinung und Schönheit systematisch ansetzt, verfahrt der zweite historisch und behandelt Die Vollendung der klassischen Ästhetik durch Hegel.26 1931 hält Kuhn seine Antrittsrede als Privatdozent über Die Geschichtlichkeit der Kunst21, die er als Zugang zur „Geschichtlichkeit des Daseins" begreift. Methodologisch reflektiert er auf die Geschichtlichkeit des eigenen Standorts. 28 23 UAHU, UK„ PA. Β 94, Bd. 3, Bl. 2. 24 UAHU, Phil. Fak.1244, B1.175f; zum Werdegang vgl. Kuhns Selbstdarstellung in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Ludwig Pongratz, Bd. 3, Hamburg 1977, S. 234-283; eingehende Würdigung bei Jörg Jantzen, Die Inhaber des Lehrstuhls II am Seminar für Philosophie (im Druck befindliche Universitätsgeschichte München). 25 Ebd., Bl. 178. 26 Zusammenfassend: Kuhn, Hegels Ästhetik als System des Klassizismus, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 40 (1931), S. 90-105. 27 Kuhn, Die Geschichtlichkeit der Kunst, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 209-225. 28 Kuhn, Das Problem des eigenen Standpunkts und der geschichtlichen Erkenntnis, in: KantStudien 35 (1930), S. 496-510.
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An Werner Jaegers berühmter Tagung 29 über Das Problem des Klassischen beteiligt, spricht er vom Klassischen als „historischem Begriff'. 3 0 Er distanziert sich grundsätzlich und auch in scharfem Ton von Jaegers „drittem Humanismus": „Unsere Existenzfrage zu stellen, werden wir immer wieder von den Griechen und ihrer Philosophie lernen müssen - ihre Lösung aber können wir nicht mehr in der Weise des Neuhumanismus von einem noch so groß geschauten Griechenbild ablesen". 31 Kuhn kritisiert 1934 namentlich Jaegers „Hinblick auf Piaton" und sucht seinen Zugang in der Auseinandersetzung mit Sokrates bei Abgrenzung von der zeitgenössischen Existenzphilosophie. 32 Anders als Heinrich Maier 33 unterscheidet Kuhn nicht den historischen Sokrates von Piaton (und Aristoteles), sondern die „sokratische Frage" von ihrer „ontologischen Umbildung" 34 durch Piaton: „Sokrates stellt die Frage, auf die Piatons Ontologie antwortet" 35 . Diese Ontologie ist aber nur „eine mögliche Antwort", die die „Ursprungsfrage" selbst eher verdeckt, indem sie eine existentielle Frage mit einer ontologischen Lehre beantwortet. Kuhn möchte diese Frage ursprünglich neu stellen. Der Anlaß zu dieser Wiedergewinnung der sokratischen Frage ist die parallele „Fragesituation" 36 : der Verlust der Naivität des Daseins in einer Krisenlage: „Im Verfall des Lebens entspringt die sokratische Frage und fragt nach der Möglichkeit seiner Wiederherstellung" 37 . Das sokratische Nichtwissen und die praktische Orientiertheit des eigenen Daseins initiiert den fragenden Vollzug von Selbsterkenntnis, in der eine „Antwort eigentümlicher Art" liege. 38 Im Fragen nach dem Selbst liegt ein Vorgriff auf die „Ganzheit des Lebens". Die Entscheidung zum Leben nach dem Logos ist die Wahl eines glückseligen Lebens. 39 Ein erfülltes Leben besteht in der „Sorge um die Seele" im konsequenten Vollzug der sokratischen Frage, d.h. des Lebensvollzugs nach dem Logos. Diese Existenz hat ein „doppeldeutiges" Verhältnis zum Staat:
29 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt/M. 1977, S. 47ff. 30 Kuhn, .Klassisch' als historischer Begriff, in: Werner Jaeger (Hrsg.), Das Problem des Klassischen, Leipzig 1931, S. 109-128. 31 Kuhn, Humanismus in der Gegenwart. Zu Werner Jaegers Paideia, in: Kant-Studien 39 (1934), S. 328-338, hier 338. 32 Kuhn, Existenzphilosophie, in: Zeitwende 9 (1933), S. 385-391; vgl. ders., Begegnung mit dem Nichts. Ein Versuch über die Existenzphilosophie, Tübingen 1950; Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur Metaphysik des Gewissens, Tübingen 1954. 33 Kuhn, Sokrates. Ein Versuch über den Ursprung der Metaphysik, Berlin 1934, S. 132 f. 34 Ebd., S. 153; vgl. auch S.142ff. 35 Ebd., S. 142. 36 Ebd., S. 13; vgl. S. 34ff. 37 Ebd., S. 20. 38 Ebd., S. 44. 39 Vgl. S. 72ff.
16.
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„Das Bürgersein, an dem Sokrates festhält, besteht paradox genug in der Enthaltung von aller bürgerlichen Tätigkeit. Der wahre Bürger in diesem Sinn ist also nicht nur als der Gerechte immer in Gefahr, mit der Ungerechtigkeit der Polis in Konflikt zu geraten - er steht als die echte Verkörperung der Polis außerhalb ihrer konkreten Polis. Die Polis ist durch ihn gerettet und zugleich gerichtet."40
Beinahe hätte Kuhn ein ähnliches Schicksal genommen. 41 Gegen den Entzug seiner Venia versucht er Dispens zu erwirken. Im Oktober 1935 erklärt er auf Anfrage die eigene Abstammung - nach damaligem Klassifikationssystem ist er „Mischling ersten Grades" - , im Januar 1936 auf erneute Anfrage noch die der Gattin. Daraufhin wird Kuhn am 28. Januar 1936 beurlaubt und rückwirkend die Venia entzogen. Kuhn bittet am 5. Februar 1936 mit deutschem Gruß um Aufschub unter Darlegung seiner wirtschaftlichen Situation. Der Antrag wird abschlägig beschieden. Am 14. August 1936 fragt er abermals „höflichst" nach der Vergütung seiner Dienstjahre. Da „bei Würdigkeit und Bedürftigkeit ein jederzeit widerruflicher Unterhaltszuschuß gewährt werden kann", wie die Universitätsverwaltung am 9. September 1936 mitteilt, beschreibt Kuhn am 17. September 1936 seine Bedürftigkeit als Familienvater und seine Würdigkeit nach den Vorstellungen der Zeit: „Im September 1914 bin ich im Alter von fünfzehneinhalb Jahren Soldat geworden und gehöre somit zu den jüngsten Kriegsfrei williigen des deutschen Heeres von 1914. Ich habe während des Krieges als Angehöriger eines Infanterie-Regiments und einer Mg. Scharfschützen-Abteilung an der Westfront gestanden. Ich bin zweimal verwundet worden, habe das E. K. 1. und 2. Klasse und das Verwundetenabzeichen erhalten. September 1915 wurde ich zum Leutnant befördert. Nach Friedenschluß habe ich dem oberschlesischen Grenzschutz angehört. - Ich habe mich niemals politisch betätigt und habe keiner Partei angehört"42.
Bei diesem Schreiben verzichtet Kuhn bereits auf den deutschen Gruß. Er hat inzwischen verstanden. Obwohl seine Angaben noch auf Nachfrage vom Universitätskurator bestätigt werden, erhält er am 14. November 1936 einen abschlägigen Bescheid. Kuhn emigriert in die USA. Dort lehrt er bis 1947 an der Universität von Chapel Hill und übernimmt dann eine Professur in Atlanta. 1948 kehrt er in die Bundesrepublik auf Lehrstühle für Philosophie, zunächst nach Erlangen und dann nach München, zurück und gehört dann zu den wichtigsten Erneuerern der Philosophie, insbesondere der Politischen Philosophie. Rückblickend betont Kuhn 4 3 den Anteil der Universität am Nationalsozialismus. Viele Professoren wurden zu „Helfern Hitlers", darunter Spranger, meint Kuhn aus naher Erinnerung. Die zeitgenössische „Negation der Metaphysik", insbesondere derjenigen Piatons, 40 Ebd., S. 110; vgl. auch S. 108ff.; dazu: Henning Ottmann, Der Tod des Sokrates und seine Bedeutung für die politische Philosophie, in: Festschrift f. H. Kuhn, Weinheim 1989, S. 179-191. 41 Vgl. zu diesen Vorgängen die Personalakte: UAHU, UK. PA., Κ 421, Bl. 1-17. 42 UAHU, U K K 4 2 1 , B 1 . 1 3 . 43 Kuhn, Die deutsche Universität am Vorabend der Machtergreifung, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966, S. 13-43.
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nennt er als Anteil der Philosophie an der geistigen Verwirrung der Zeit. Daß seine eigene Hinwendung zu Piaton eine Antwort auf diesen zeitgenössischen Existentialismus war, zeigt Kuhn durch den Wiederabdruck seiner frühen kritischen Besprechung von Carl Schmitts Begriff des Politischen in seiner philosophischen Summe Der Staat44 an. Seine scharfe Unterscheidung der sokratischen Ursprungsfrage von der platonischen Antwort allerdings und somit der abendländischen Metaphysik überhaupt nimmt er ein Stück weit zurück. Kuhn bekennt sich nach 1945 zu einem christlichen Piatonismus und platonischen Christentum. Die ursprünglich sokratische Frage, „wie zu Leben sei"45, übersetzt er nun in die Frage: „Wie sollen wir Leben?" 46 Den mit der Rückbesinnung auf die „sokratische Frage" gegebenen Impuls auf eine „sokratische Destruktion"47 der ontologischen Überlieferung führt Hans-Georg Gadamer durch, der Kuhn 1929 auf der Naumburger Tagung kennenlernt, das Sokratesbuch - im Jahr der Emigration - emphatisch rezensiert48 und nach dem Krieg mit Kuhn jahrzehntelang die Philosophische Rundschau herausgibt. Gadamers sokratische Destruktion unterscheidet sich von Heidegger durch die Umdeutung des „Seinsverständnisses" ins „Selbstverständnis", die, wie skizziert, schon durch Diltheys Begriff der Philosophie als „Selbstbesinnung" angelegt ist. Kuhns Sokrates gibt die Richtung näher an, die ethische Ursprungsfrage gegen die ontologische Überlieferung freizulegen. So führt die Geschichte der Philosophischen Hermeneutik von Dilthey zu Gadamer nicht nur über Heidegger, sondern auch über Helmut Kuhn.
b.
Karrieren: Hochstetter, Günther, Wichmann, Odebrecht
Während den Hochschullehrern jüdischer Abstammung nach den „Nürnberger Gesetzen" die Universität ganz verschlossen wird, machen andere in der nationalsozialistischen Zeit ihre akademische Karriere. Die Karrierechancen sind durch das Ausscheiden vieler hochqualifizierter Wissenschaftler für die verbessert, die zu Kooperation und Kollaboration bereit sind. Nicht alle Karrieren in nationalsozialistischer Zeit sind nationalsozialistische Karrieren. Sie sind es in der Berliner Universitätsphilosophie jedoch überwiegend.
44 Kuhn, Der Staat. Eine philosophische Darstellung, München 1967, dort der Anhang, S. 447 ff. 45 So die Formulierung bei Kuhn, Sokrates, S. 52. 46 Kuhn, Die sokratische Frage und die christliche Antwort (1973), in: ders., Ideologie - Hydra der Staatenwelt, Köln 1985, S. 568-587, hier: 568. 47 So Jean Grondin in einer Besprechungsabhandlung (Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, S. 54ff.) über „Gadamers sokratische Destruktion der griechischen Philosophie"; das Wort trifft Gadamers Werk insgesamt. 48 In: Deutsche Literaturzeitung 57 (1936), S. 96-100; Wiederabdruck in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 322-326.
16.
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Anschluß sucht beispielsweise Erich Hochstetter (1888-1968). Er studiert Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Germanistik in Freiburg i. Br. und Berlin, hört Stumpf, Rickert, Riehl und vor allem Benno Erdmann, zu dem sich ein persönliches Verhältnis entwickelt. Danach arbeitet er in verschiedenen Editionsprojekten. So unterstützt er Deussen bei der Herausgabe Schopenhauers und ist an der Leibniz-Edition der Akademie beteiligt. 1915 wird Hochstetter in Berlin mit einer Arbeit über Die subjektiven Grundlagen der scholastischen Ethik zum Doktor der Philosophie promoviert. In den folgenden Jahren widmet er sich, eine Ausnahme unter den Berliner Habilitanden, weiter dem Quellenstudium mittelalterlicher Texte und legt 1926 eine Habilitationsschrift Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre Wilhelms von Ockham vor. Januar 1927 wird er Privatdozent. Er gilt in Universitätskreisen bald als „der beste Kenner" 49 unter den protestantischen Philosophen auf diesem Gebiet und führt seine Forschungen zu Problemen der mittelalterlichen Weltanschauung fort. Von der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität Prag erhält er 1929 einen Ruf, muß jedoch absagen, weil eine Bestimmung der Statuten der Prager Universität vorschreibt, daß nur Extraordinarien zu ordentlichen Professoren ernannt werden können. Hochstetter ist jedoch zu dieser Zeit noch Privatdozent. Im November 1930 wird er zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. Zehn Jahre später scheinen sich die Gründe für die fehlgeschlagene Berufung geändert zu haben. In einem Lebenslauf von 1939 kann man lesen, daß der Ruf nicht zustande kam, weil „zuletzt die Erwerbung der tschechoslovakischen Staatsangehörigkeit für mich und meine Familie zur Bedingung gemacht wurde. Das war für mich unannehmbar, denn damals bedeutete diese Forderung zugleich die Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit." 50 Vor 1933 in einigen sozialistischen Organisationen tätig, tritt Hochstetter nach 1933 in einige nationalsozialistische Massenorganisationen ein. Seine Arbeitskraft widmet er vor allem der Leibniz-Ausgabe der Akademie. Im August 1939 wird er als Extraordinarius verbeamtet und besoldet. 1941 tritt er in die NSDAP ein. Wesentlich stärker belastet hat sich Hans R. G. Günther (1898-1981), der mit dem Freiburger „Rasse-Günther", Hans F. K. Günther, nicht zu verwechseln ist 51 , politisch aber doch in dieselbe nationalsozialistische Richtung schlägt. Spranger setzt seinen
49 UAHU, Phil. Fak. 1475, Bl. 70. 50 UAHU, UK„ PA. H 352, Bl. 36. 51 So aber Arnold Schölzel, Philosophie an der Universität Berlin zwischen 1848 und 1945, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 35 (1987), S. 769-778, hier 777; im Anschluß an diese Verwechslung schreibt Schölzel: „1931 wird Nikolai Hartmann als Nachfolger von Troeltsch vorgeschlagen - die Fakultät sträubt sich lange". Schölzels schlampige Darstellung insinuiert eine präfaschistische Orientierung der Fakultät vor 1933. Sie verwechselt Günther (der vor 1933 sicher kein Nationalsozialist war), verschweigt dessen Lehrer Spranger und stilisiert Hartmann in die Rolle des einsamen, ungewollten Vertreters der inneren Emigration. Die Fakultät wollte 1931 aber „allein" Cassirer, weder Heidegger noch Hartmann, und zwar als Philosophen.
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Teil IV: Krise
Schüler in den zwanziger Jahren zunächst an Pietismusstudien, an denen er selbst bis zum „nervösen Zusammenbruch"52 gescheitert war. Günther arbeitet insbesondere über Jung-Stilling.53 Noch 1931 ahnt niemand, daß er einmal Professor in Berlin sein wird. Im Gegenteil, damals wird ernsthaft in Frage gestellt, ob er überhaupt für den Dozentenberuf geeignet sei. Besonders bei Dessoir erregt Günthers Habilitationsschrift Das Problem des Sichselbstverstehens Mißfallen: „Ferner tritt aller Orten eine Verschwommenheit des Denkens zu Tage, die höchst befremdlich ist [...] Seine Schilderungen des Neurotikers, des genialen Menschen, des Propheten usw. zeigen ein für einen jungen Menschen erschreckend unlebendiges, saftloses Denken. Nur da, wo die Seiten mit geborgten Sätzen gefüllt werden, kommt Bewegung in die Sache. Aber auch dann ist nicht alles zu loben. Schon die Zusammenstellung zufällig gefundener Lesefrüchte macht keinen guten Eindruck. Und was sollen die Zitate wie dieses: ,Ueberhaupt ist es nicht so leicht, sich selbst zu kennen.' (S. 25ff.)? Hierfür braucht man doch nicht Kant zu bemühen! Andererseits soll man Goethe nicht aus zweiter Hand und noch dazu falsch zitieren" 54 .
In die Arbeitsweise Günthers setzt man keine großen Erwartungen. Die Fakultät läßt ihn dennoch als Privatdozent zu. Am 10. Mai 1932 beginnt seine Lehrtätigkeit. Im Oktober 1933 wird Günther planmäßiger Oberassistent am Philosophischen Seminar. Die Psychologie des deutschen Pietismus und der „schönen Seele" läßt er in den folgenden Jahren hinter sich. 1933 publiziert er über Seele und Geist bei Klages, 1934 immer noch konventionell über Schiller und Kant, nun allerdings im Organ Nationalsozialistische Erziehung. Es folgt eine Philosophie der Gemeinschaft im Tenor romantisch-geisteswissenschaftlicher Psychologie. 55 Mit Rothacker zusammen gibt Günther eine Schriftenreihe heraus. Am 5. Juni 1939 beantragt er selbstbewußt seine Ernennung zum „Dozenten neuer Ordnung". Er kann dabei auf seine veränderte Stellung hinweisen: „Am 1. Oktober 1938 wurde ich zum Regierungsrat ernannt und der Hauptstelle der Wehrmacht für Psychologie und Rassenforschung zugeteilt. Meine oberste Dienststelle ist das Oberkommando des Heeres"56. Zur Bekräftigung fügt Günther seiner Veröffentlichungsliste in Vorbereitung stehende, verheißungsvolle Titel bei: Begabung und Leistung in Soldatengeschlechtern51, Moltke, Probleme der
52 Eduard Spranger, Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, hier: S. 344. 53 Günther, Jung-Stilling. Ein Beitrag zur Psychologie des deutschen Pietismus, München 1928. 54 UAHU, Phil. Fak. 1245, Bl. 436 f. 55 Günther, Philosophie der Gemeinschaft, in: Blätter für deutsche Philosophie 9 (1936), S. 235-249. 56 Schreiben v. 5.6.1939 ans Dekanat und Ministerium, UAHU, UK„ PA. G 247, Bl. 20; die hohe Bedeutung der Heerespsychologie für die Professionalisierung der Psychologie betont Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988. 57 Die Studie ist erschienen: Günther, Begabung und Leistung in deutschen Soldatengeschlechtern, Berlin 1940.
16.
Zweierlei Enden einer Tradition
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Volkercharakterologie, Deutung von Sippschaftszusammenhängen. Am 17. Juni 1940 wird Günther zum außerplanmäßigen Professor ernannt. 1941 wird er Ordinarius im besetzten Prag. 1946 wechselt er nach Erlangen. Seine Sippschaftszusammenhänge hat Günther offenbar vergessen, als er 1947 eine Sammlung seiner frühen Aufsätze unter dem Titel Persönlichkeit und Geschichte veranstaltet,58 durch die er sich nach 1945 erneut als geisteswissenschaftlicher Psychologe präsentiert. Ottomar Wichmann (1890-1973) promoviert 1917 mit einer Arbeit über Piatons Lehre vom Instinkt und Genie. 1919 habilitiert er sich in Halle über Piaton und Kant. Seine Antrittsvorlesung hält er am 18. Dezember 1919 über Philosophie und Politik. Nebenbei nimmt er, wie ein Lebenslauf vom Mai 1939 59 aus gegebenem Anlaß betont, als „Zeitfreiwilliger an den Kämpfen gegen die kommunistischen Aufstände in Halle 1919 und 1920" teil. Mehrfach wird er mit Stipendien gefördert. 1921 erhält er eine Erweiterung seiner Venia für Pädagogik und übernimmt 1922 einen Lehrauftrag für „praktische Pädagogik und Didaktik". Es beginnt ein ständiger Kampf um Entlohnung und eine rege Publikationstätigkeit. 60 Für die Pädagogik qualifiziert sich Wichmann vor allem durch seine gründlichen Untersuchungen über die Beziehungen von allgemeiner Pädagogik und Fachwissenschaft. Am 28. November 1930 wird er in Halle zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt.61 Weil er „durch die zuständige Stelle der evangelischen Kirche zum Leiter des Religionspädagogischen Instituts nach Berlin berufen" 62 ist, habilitiert er sich im Frühjahr 1931 nach Berlin um und übernimmt dabei seinen Status als nichtbeamteter außerordentlicher Professor. 63 Gutachterlich stellt Spranger ausführlich die Bedürfnislage der Fakultät, nach dem Ausscheiden von Direktor Schmidt, klar und empfiehlt Wichmann nachdrücklich. Der Zweitgutachter Maier hat ebenfalls einen „ausgezeichneten Eindruck", während Dessoir - wie so oft - spitz bemerkt, daß Wichmann der „allerdings erschreckenden Verworrenheit innerhalb der gegenwärtigen Pädagogik nicht Herr geworden ist". 64 Lediglich eine Antrittsvorlesung wird erwartet, die Wichmann am 17. Februar 1931 über „Die Möglichkeit einer allgemeinen Didaktik" hält. Spranger begrüßt Wichmann in der Fakultät als lieben „Freund" 65 . Weiterhin hat Wichmann die
58 Günther, Persönlichkeit und Geschichte. Aufsätze und Verträge, Augsburg 1947. 59 UAHU, UK., PA. W 172, Bd. 1, Bl. 81. 60 Wichmann, Piaton und Kant. Eine vergleichende Studie, Weidmann 1920; Die Scholastiker, München 1921; Wille und Freiheit, München 1922; Sozialphilosophie, München 1923; Eigengesetz und bildender Wert der Lehrfächer. Untersuchungen über die Beziehungen von allgemeiner Pädagogik und Fachwissenschaft, Halle 1930; Erziehungs- und Bildungslehre, Halle 1935. 61 UAHU, UK., PA. W 172, Bd. 1, Bl. 50. 62 Schreiben des Ministeriums vom 18.5.1931, ebd., Bl. 62 63 Schreiben des Ministeriums vom 8.5.1931, in: UAHU, Phil. Fak. 1475, Bl. 355. 64 UAHU, Phil. Fak. 1244, Bl. 415-418. 65 Brief vom 28.1.1931, UAHU, Phil. Fak. 1244, Bl. 422.
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Teil IV: Krise
„praktische Pädagogik und Didaktik" zu vertreten.66 Er lehrt neben Spranger im Pädagogischen Seminar. 1933 tritt er in die SA, 1937 in die NSDAP ein. Ein ideologischer Scharfmacher ist er nicht. 1939 übernimmt er eine Lehrstuhlvertretung für eine „freigewordene Professur für Pädagogik" 67 an der heim ins Reich geholten Universität Wien und wird dort Direktor des Pädagogischen Seminars. Wie Günther profitiert er massiv von der Eroberungspolitik der Nazis. „Der Führer" persönlich hat ihn in das „Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum außerordentlichen Professor ernannt".68 Wichmann dankt einer namentlich ungenannten Berliner „Spektabilität" für den Ruf nach Wien: „Hoffen wir, daß es dem Führer gelingt, uns alle wieder der von ihm einzig angestrebten friedlichen Tätigkeit zuzuführen. Heil Hitler!" 69 Nach dem Kriege lehrt er am Pädagogischen Seminar der Universität Tübingen - erneut neben Spranger - und veröffentlicht weiter insbesondere über Piaton.70 Rudolf Odebrecht (1883-1945) studiert zunächst in seiner Heimatstadt Berlin, wechselt dann aber um einer Promotion über Cohens Philosophie der Mathematik willen nach Erlangen.71 Wie Wichmann geht er für einige Jahre in den Schuldienst. In seinem psychologischen Ansatz ist Odebrecht von Felix Krueger beeinflußt,72 dem Wundt-Nachfolger, der dann zum scharfen Nationalsozialisten wurde. 1927 erscheint Das ästhetische Welterlebnis, der erste Band einer phänomenologischen Grundlegung einer ästhetischen Werttheorie·, 1930 folgt eine ebenfalls umfangreiche Monographie zu Kants Ästhetik.73 Am 18. Dezember 1931 habilitiert sich Odebrecht in Berlin über Schleiermachers Ästhetik des Gefühls in ihrer systematischen Bedeutung,74 Das Erstgutachten Dessoirs bemängelt einige „Verworrenheit und Weitschweifigkeit der Darstellung" und bescheinigt dem Verfasser, er dringe „mit seiner schweren Art oft bis in Tiefen, die sich nicht jedem auftun" 75 . Dennoch akzeptiert er, und die Habilitation geht durch. 1931 gibt Odebrecht im Auftrag der Akademie Schleiermachers Ästhetik und später, mit „Dank" an Spranger, auch Schleiermachers Dialektik76 heraus. 1932
66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Schreiben des Ministeriums vom 24.3.1931 UAHU, UK„ PA. W 172, Bd. 1, Bl. 56. Schreiben des Ministeriums vom 17.5.1939, UAHU, U K , PA. W 172, Bd. 1, Bl. 75. Schreiben des Ministeriums vom 24.10.1939, UAHU, UK., PA. W 172, Bd. 2, Bl. 38. W 172, Bd. 3, Bl. 48. Günther, Piaton. Ideelle Gesamtdarstellung und Studienwerk, Darmstadt 1966. Odebrecht, Hermann Cohens Philosophie der Mathematik, Berlin 1906; Beiträge zu einer Systematik des reinen Bewußtseins, Magdeburg 1909. Odebrecht, Gefühl und Ganzheit. Ideengehalt der Psychologie Felix Kruegers, Berlin 1929. Odebrecht, Form und Geist. Der Aufstieg des dialektischen Gedankens in Kants Ästhetik, Berlin 1930. Odebrecht, Schleiermachers System der Ethik. Grundlegung und problemgeschichtliche Sendung, Berlin 1932. UAHU, Phil. Fak. 1245, Bl. 190. Friedrich Schleiermachers Ästhetik, Berlin 1931; Friedrich Schleiermachers Dialektik, Leipzig 1942.
16. Zweierlei Enden einer Tradition
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folgt eine Ästhetik der Gegenwart, sachlich im wesentlichen ein Literaturbericht. Am 1. Mai 1933 tritt Odebrecht in die NSDAP ein. Weiter im Schuldienst, übernimmt er 1934 einen philosophischen Arbeitskreis, den er Baeumlers Assistent Steinbeck gegenüber als „Bekundung meines Willens zur Volksgemeinschaft" 77 verstanden wissen will. Im Januar 1939 hebt Spranger gutachterlich hervor, daß Odebrecht sich der Aufgabe zugewandt habe, „die Geschichte der deutschen Philosophie als das Werk arteignen deutschen Geistes zu verfolgen". Insbesondere seine „eigenartige Programmschrift: Welterlebnis und philosophische Rede. Ein Beitrag zum Verstehen deutscher Philosophie" von 1938 bekunde einen „originalen Vorstoss, der aus den Triebkräften nationalsozialistischer Überzeugung geboren ist" 78 . Dies wird höheren Orts anerkannt. „Im Namen des Führers und Reichskanzlers" wird Odebrecht am 17. April 1939 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. 1945 verstirbt er nach einem Unfall.
77 Schreiben vom 1.6.1935, UAHU, Phil. Fak. 1245, Bl. 272. 78 UAHU, UK„ PA. O 7, Bd. 2, Bl. 16-19.
17.
Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
Zuletzt wurden zweierlei Wege beschrieben, durch die der Nationalsozialismus in akademische Lebensläufe eingriff. Damit ist auch ein Überblick über die personellen Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit, abgesehen von den Karrieren seit 1933, möglich. Die wichtigste Entwicklung betrifft den Aufbau und die Zerschlagung des Psychologischen Instituts. Während die Gestaltpsychologische Schule einige berühmte Psychologen hervorbringt, sind die Philosophen der Zwischenkriegszeit weniger prominent. Von denjenigen, die sich bis 1914 habilitierten, lehren Groethuysen, Kuntze und Hofmann als Unberufene in Berlin. Von den Habilitanden nach 1918 machen die Psychologen schnell Karriere, während die Philosophen weniger erfolgreich sind. Eine schnelle Karriere macht eigentlich nur Delekat, dies aber als Theologe und Kirchenmann. Baumgardt, Liebert, Hochstetter, Odebrecht und Günther finden mäßige Resonanz. Nur Kuhn, der vor 1933 einer sicheren Karriere entgegensah, ist von ihnen heute noch bekannt. Kuhn ist Schüler Dessoirs. Troeltsch, Spranger und Maier führen somit in Berlin allesamt keine prominenten Schüler zur Habilitation. Auch in dieser - akademisch doch sehr gewichtigen - Hinsicht ist die Berliner Philosophie der Zwischenkriegszeit nicht wirklich produktiv. Die Zeit der disziplinierten Neuorientierung hat offenbar keine weitreichenden Einsichten freigesetzt. Es bleiben noch die akademischen Karrieren, die mit 1933 eigentlich erst beginnen. Die wichtigste personelle Veränderung betrifft die Berufung von Alfred Baeumler. Vorgreifend sei gesagt, daß Spranger nach 1933 niemanden habilitiert und nur Hartmann Schüler zur Habilitation führt, von denen Ballauf und Liebrucks nach 1945 eine breite akademische Wirksamkeit entfalten. Die starke Politisierung und Ideologisierung der Philosophie im Nationalsozialismus wirft Zwielicht auch auf diejenigen, die sich davon freizusmachen versuchen. Die Bedeutung der letzten Berliner Habilitation vor 1945, der Habilitation Liebrucks', liegt innerhalb unserer Universitätsgeschichte gerade darin, daß sie diese Freiheit von der Politik im Spiegel von Piatons Entwicklung zur Dialektik eigens thematisiert. Solche Distanzierungen sind aber seltene Ausnahmen. Sie sind um so schwerer, als die Politisierung des philosophischen Selbstverständnisses schon vor 1933 verbreitet ist.
17.
Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
a.
Philosophie als „politische Pädagogik": Alfred
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Baeumler
Es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß die Berliner Tradition von ihrem Pädagogischen Seminar her liquidiert wird. Hat sie die Ausdifferenzierung der Experimentalpsychologie noch positiv verarbeitet, so wird ihr die Übersetzung in die Pädagogik zum Verhängnis. Die Politisierung der Philosophie tritt durch das Pädagogische Seminar ein und macht sich bald institutionell selbständig und anheischig, die Definitionsmacht der Philosophie zu übernehmen. Alfred Baeumler (1887-1967) ist schon vor 1933 in Dresden ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik; er tritt am l . M a i 1933 in die NSDAP ein, erhält dann 1933 zunächst - neben Spranger - einen neu geschaffenen „Lehrstuhl für politische Pädagogik" und eröffnet wenige Wochen später, am 13. Juli 1933, ein eigenes „Institut für politische Pädagogik", das gleichermaßen Philosophie, Politik und Staatswissenschaften behandelt. 1 Nach einer Eingabe ans Ministerium vertritt er bald auch die Philosophie. 2 In der von Baeumler gezeichneten Aufgabenbeschreibung heißt es: „Das Institut hat die Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen der neuen Staatserziehung herauszuarbeiten und an die Stelle des ausgearbeiteten Begriffssystems der Pädagogik des Liberalismus ein tragfähiges Begriffssystem im neuen Geist zu setzen. Diese Aufgabe kann nur eine realistische Philosophie lösen, die sich dazu mit den Wissenschaften verbindet, die das menschliche Handeln zum Gegenstand haben. Die Arbeit des Instituts erstreckt sich auf Wissenschaften, die zum handelnden Menschen in Beziehung stehen, Wissenschaft von Recht und Staat, Rassekunde, Geopolitik und Wehrwissenschaft, Geschichte".3
Das Institut wird im Kupfergraben 7 untergebracht. Die Bibliothek kommt vom politischen Gegner: „Im November 1933 wurde das Eigentum der Bücherei der Redaktion Vorwärts an das Institut übertragen, im Dezember die Bibliothek des Karl-MarxHauses in Trier zur Verfügung gestellt" 4 . Baeumler bringt einige Mitarbeiter mit: Privatdozent Dr. Horst Wagenfür liest im Wintersernester 1933/34 über Korporationsstaat und Ständestaat, Dr. Werner Berger liest über die rassekundlichen Grundlagen der Bevölkerungspolitik. Zum Sommersemester 1934 wird das Institut umstrukturiert. Wagenfür und Berger scheiden aus, dafür treten Dr. Steinbeck und Dr. Utermann als außerplanmäßige Assistenten ein. Die Ernennung Baeumlers beantwortet Spranger mit einem mutigen Schritt gegenüber dem Minister Rust, der als ein letzter Widerstandsakt der Berliner Tradition gegenüber ihrer Vereinnahmung betrachtet werden kann: „Den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bitte ich um meine Entbindung von den Pflichten eines ordentlichen Professors der Philosophie und Pädagogik an der Universität Berlin 1 Vgl. dazu Monika Leske, Philosophen im „Dritten Reich". Studien zu Hochschul- und Philosophiebetrieb im faschistischen Deutschland, Berlin 1990, S. 218 ff. 2 UAHU, Phil. Fak. 1478, Bl. 160. 3 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1932/1935, S. 189. 4 Ebd., S. 189.
292
Teil IV: Krise
unter den hierfür geltenden Formen. Die Entwicklung der Verhältnisse an den preussischen Universitäten gestattet mir für die Zukunft keine Wirksamkeit, die ich mit meinem Gewissen vereinbaren könnte."5
Nach diesem anfänglichen Protest arrangiert sich Spranger dann allerdings doch. Er verläßt die Berliner Universität, wie geschildert, nicht 1933, sondern 1946. Hartmann erklärt sich 1933 nicht derart öffentlich, meldet aber systematischen Einspruch gegen den Führerkult an: „Der Führer also ist Repräsentant des fehlenden Bewußtseins im Gemeingeist [...] Es liegt aber im Wesen der Führerschaft, daß sie weder der Initiative noch der Verantwortungskraft nach adäquat sein kann. Das repräsentierende Bewußtsein des Individuums ist kein vollwertiger Ersatz für das fehlende adäquate Bewußtsein des Gemeingeistes. Der Staatsmann bleibt notwendig Mensch".6
Baeumler dagegen pflegt den Führermythos. 1914 mit einer Arbeit über Das Problem der Allgemeingültigkeit in Kants Ästhetik promoviert, meldet er sich als Kandidat Dessoirs 1922 in Berlin mit einer Untersuchung über Die Idee der Transzendenz in der Geschichte der neueren Philosophie zur Habilitation an. Das Verfahren wird jedoch wegen formaler Einwände - als Abgänger des Realgymnasiums kann Baeumler kein Griechisch nachweisen - nicht eröffnet, und am 28. April 1922 bestätigt Baeumler den Rückerhalt seiner Unterlagen. 7 Von Hause aus Ästhetiker, Schüler Max Dessoirs und Heinrich Wölfflins, tritt er in den zwanziger Jahren mit Arbeiten zu Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche und der Geschichte der Romantik hervor.8 Nach einer Studie zur Herkunft von Kants Ästhetik veranstaltet er zunächst einige Auswahleditionen zu Hegel. Seine Geschichtsphilosophie nimmt er aber, wie eine Fußnote zu dem grundlegenden Aufsatz Romanisch und Gotisch klarstellt 9 , nicht von Hegel, sondern kunstwissenschaftlich und stilgeschichtlich auf. 1924 habilitiert er sich an der TU Dresden und wird dort 1928 außerordentlicher und 1929 ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik. Er lernt Hitler und Rosenberg 1931 persönlich kennen, steht der NSDAP aber - laut eigener Darstellung seines politischen Werdegangs 10 - bis 1933 „völlig fremd" gegenüber. Als sog. „Märzgefallener", der sich zum National5 Brief vom 25.4.1933 an den Minister Rust, in: UAHU, Phil. Fak. 1477, Bl. 144. 6 Nicolai Hartmann, Systematische Selbstdarstellung (1933), in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1955, S. 34. 7 UAHU, Phil. Fak. 1238, Bl. 37. 8 Baeumler, Das Irrationalismusproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle 1923; Ästhetik, München 1934; Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937. 9 Baeumler, Romanisch und Gotisch, in: Die Dioskuren 1 (1922), S. 260-184, hier 281 (Fußnote), dieser Aufsatz eröffnet die Sammlung „Studien zur deutschen Geistesgeschichte", Berlin 1937, S.7-39. 10 Dazu Marianne Baeumler, Hubert Brunträger, Hermann Kurzke (Hrsg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, S. 192ff„ 202ff., 240ff; Marianne Baeumler, die Witwe, hat uns neben dem im Anhang abgedruckten Foto freundlicherweise auch
17.
Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
293
Sozialismus erst nach dessen Machtergreifung bekennt, tritt er am 1. Mai 1933 in die Partei ein. Er übernimmt 1934 im Amt Rosenberg dann als Amtsleiter das Referat für Wissenschaft" und erhält den Auftrag, eine „Deutsche Geschichte" zu verfassen - die nie erscheint. Seine Tätigkeit im Amt Rosenberg beschreibt er nachträglich als eine Art Widerstandskampf im Dienste der Wissenschaftsfreiheit. 1941 übernimmt er die neue Aufgabe der Organisation einer „Hohen Schule", einer Universität neuen Typs, die nach Baeumlers Selbsterklärung den „Charakter von Akademien" haben sollte. Baeumlers Schriften nach 1933 zu Männerbund und Wissenschaft, Alfred Rosenberg12 und anderem lassen sich kaum noch der Philosophie zurechnen. Doch schon seine Schriften vor 1933, vor allem die Bachofen-Einleitung und das Nietzsche-Buch, sind stark ideologisiert. Schon 1926 läßt die umfangreiche Einleitung zu einer Textauswahl Bachofen der Mythologe der Romantik die Zielrichtung ahnen; Thomas Mann (1875-1955) 13 hat sie direkt - nicht ohne antizipierende Verzeichnungen - als „Gelehrtenfiktion" und irrationalistischen „Rückschlag" angegriffen. Sie beschreibt die neuere Geschichte der Altertumswissenschaft „von Winckelmann zu Bachofen" als Weg „von der Ästhetik zur Symbolik" 14 . Erst Bachofen habe die „Trennung von Mythus und Geschichte" vollzogen und „den Mythus aus dem Geist der Vorzeit gedeutet" 15 . Baeumler distanziert diesen Mythos nicht nur von der appollinischen Deutung des Klassizismus, sondern auch von der psychologisch-dionysischen Nietzsches, die Rohde ausführte. 16 Er betont die Verhältnislosigkeit Nietzsches zu Bachofens Konzeption des „Tellurismus", so daß er gar von der „totalen Unfähigkeit Nietzsches" spricht, den Mythos symbolisch zu deuten. „Psychologie und Mythus" schließen sich nach Baeumler radikal aus.17 nachgelassene Aufzeichnungen aus der Zeit nach 1945 zur Verfügung gestellt, darunter Aufzeichnungen über die „Beziehungen zu Max Dessoir" und Notizen zur Philosophie Heidegers, die Baeumlers Geschichtsrevision und Vergangenheitsbewältigung betreffen. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. 11 Baeumlers Tätigkeit in diesem Amt wird hier nicht untersucht. Dazu allgemein vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistische Herrschaftssystem, Stuttgart 1970. 12 Baeumler, Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934; Politik und Erziehung. Reden und Aufsätze, Berlin 1937; Bildung und Gemeinschaft, Berlin 1942; Weltdemokratie und Nationalsozialismus, 1943; Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1943. 13 Thomas Mann, Pariser Rechenschaft (1926), in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 11, Frankfurt 1974, S. 48 ff; Baeumler meinte rückblickend dazu: „So aber trieb mich die Denunziation Manns geradezu meinen geistigen Gegenspielern in die Arme" (M. Baeumler u. a. (Hrsg.), Dokumentation, S. 201 u. S. 241 ff.). 14 Die Bachofen-Einleitung wird hier zitiert nach der unveränderten Separatausgabe: Baeumler, Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums. Mit einem Nachwort: Bachofen und die Religionsgeschichte, München 1965, hier: S. 16. 15 Ebd., S. 57. 16 Vgl. ebd., S. 253ff. 17 Ebd., S. 267.
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Teil IV: Krise
Diese Verwerfung psychologischer Interpretation ist keine Verteidigung altertumswissenschaftlicher Standards, sondern zielt auf eine Anwendung von Bachofens „Metaphysik der Geschichte" auf die Gegenwart. Baeumler schätzt die chthonische Religiosität des Mutterkultes als Grundlage aller Kultur. Denn der Pakt des Sohnes mit der Mutter im Kampf gegen die Herrschaft der Frau in der Moderne sei die Forderung des Tages: „Nur als Muttersohn ist Bachofen zu begreifen" 1 S : „Es ist ein offenes Geheimnis, daß die väterliche Gewalt, die Herrschaft des Mannes heute gebrochen ist. Ein Blick in die Straßen Berlins, Paris, oder Londons in das Gesicht eines modernen Menschen oder Weibes genügt, um den Kult der Aphrodite als denjenigen zu erweisen, vor dem Zeus und Apollon zurücktreten müssen" 19
Gleichwohl läßt Baeumler es sich nicht nehmen, seinen Kampf mit Männerbund und Wissenschaft gegen den Kult der Aphrodite vom Babylon Berlin aus zu führen. Seine etwas grobkörnige Deutung der Gegenwart als Geschlechterkampf ergänzt er 1931 in seinem anschließenden kleinen Nietzsche-Buch Nietzsche, der Philosoph und Politiker um rassistische Kategorien. Scharf verwirft er dort Nietzsches dionysische Lehre von der ewigen Wiederkunft - zu Heideggers Ärger 2 0 - als religiöse „Ägyptisierung der heraklitischen Welt" 21 . Jenseits dieser Lehre präsentiert er Nietzsche als heraklitischen Philosophen und Metaphysiker des Werdens, dessen Gerechtigkeitslehre vom Leben im Ganzen als Kampf zum „heroischen Realismus" im Kampf gegen das Christentum führe. Eine fragwürdige Zutat ist es, daß Baeumler diese antichristliche Tendenz Nietzsches auch als „germanische Grundhaltung" 22 und - eine Wahlverwandtschaft von „Griechentum" und „Germanentum" voraussetzend - als „Germanismus" deutet: „Seine Lehre vom Willen zur Macht ist der vollkommenste Ausdruck seines Germanentums" 2 3 . Aus germanischer Grundhaltung kämpft der „Politiker" Nietzsche, so Baeumler, gegen Rom, gegen Demokratie und Sozialismus, gegen den wilhelminischen Kultur- und Nationalstaat um den germanischen Staat und die deutsche Führung in Europa. 24 18 Ebd., S. 307, vgl. auch S. 299ff., 307ff. 19 Ebd., S. 312. 20 In seinen Nietzsche-Vorlesungen kritisierte Heidegger (Nietzsche, Pfullingen 1961, Bd. 1, S.29ff.; anschließend ausführlich Manfred Riedel, Nietzsche in Weimar, Leipzig 1997, S. 90ff., 124ff.) Baeumlers Ausschluß der Lehre von der „ewigen Wiederkehr" um der „heraklitistischen" Deutung willen. Gegen diese Gegendeutungen von Nietzsche als Denker des Werdens oder des Seins wäre Nietzsche richtiger als ein „moderner Sokrates" zu begreifen (vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Beispiel Nietzsches, Berlin 1996, S. 339f.). 21 Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 79ff. 22 Ebd., S. 25; vgl. auch S. 59ff. 23 Ebd., S. 49, vgl. auch S. 78: „Der Wille zur Macht ist also nur ein anderer Ausdruck für die höchste Gerechtigkeit". 24 Vgl. S. 166, 180f., 182: „Vor seinen Augen stand wieder die alte Aufgabe unserer Rasse: die Aufgabe, Führer Europas zu sein". Zu Nietzsches Entwicklung zum Europäer und Freigeist dagegen Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin 1987.
17.
Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
Baeumlers Antrittsrede Männerbund dem idealistischen Erbe zu Hitler:
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und Wissenschaft bekennt sich gegenüber
„Die Gefolgschaft Adolf Hitlers kennt das Symbol, die Darstellung der Idee in einem Menschen, in einer Fahne. Das Führerprinzip und die Symbole des Nationalsozialismus haben den Begriff der Idee neu geprägt. Hier handelt es sich nicht um einen Wortstreit. Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob man sagt: Hitler oder: die Idee".25
Die erste Vorlesung zum Thema „Wissenschaft, Hochschule, Staat" ist am 10. Mai 1933 der Auftakt zur Bücherverbrennung. Baeumler marschiert an der Spitze der Studenten auf den Opernplatz, wo Fackeln auf einen Scheiterhaufen geworfen und Bücher „undeutschen Geistes" den Flammen übergeben werden. 26 Am 18. Januar 1934, ein Jahr nach Rudolf Smends (1882-1975) großer Verteidigungsrede Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht11, hält Baeumler auch die erste nationalsozialistische Gedenkrede zum Reichsgründungstag. Er betont die historische Diskontinuität und stellt ganz auf die Tat des Führers ab.28 1937 zieht er einen Schnitt zwischen Reformation, Idealismus und Nationalsozialismus: „Freiheit im Sinne des Idealismus ist etwas anderes als Rechtfertigung aus dem Glauben, und Persönlichkeit im Sinne des Nationalsozialismus ist etwas anderes als das absolute Ich des Idealismus" 29 . Baeumler deutet Fichtes Primat der praktischen Vernunft unter der „Erfahrung" der „Einheit von Rasse und Persönlichkeit" in einen irrationalen Voluntarismus der Tat um. Sachlich wie institutionell vertritt er eine prononciert nationalsozialistisch politisierte Pädagogik. 30 1945 verliert er seinen Lehrstuhl und wird drei Jahre interniert. Im privaten Kreis erklärt er sich später mehrfach - neben der Herausstreichung seiner angeblich marginalen Rolle in der Partei und seiner rein wissenschaftlichen Existenz über seine „Schuld": „Alles, was ich jemals für Hitler und sein System gesagt
25 Zitiert nach: Léon Poliakow/Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente und Berichte, Berlin 1959, S. 268. 26 Ebd., S.119ff, bei der Verbrennung seiner Bücher anwesend war damals Erich Kästner, Bei Durchsicht meiner Bücher, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: Vermischte Beiträge, 1959, S. 488^189. 27 Mit Smend zusammen veranstaltete Baeumler jedoch im WS 1933/34 ein Seminar über Rousseau (laut Chronik der Universität 1933/34, S. 189). 28 Baeumler, Das Reich als Tat, Berliner Universitätsreden, Berlin 1934. Die Rede eröffnet die Sammlung „Politik und Erziehung" (1937); dort folgen Reden und Abhandlungen über Rosenberg, Chamberlain und anderen Beiträge zum „Kampf um den Humanismus". Sie schließt mit „Jahns Stellung in der deutschen Geistesgeschichte". 29 Baeumler, Fichte zu seinem 175. Geburtstag, Berliner Universitätsreden, Berlin 1937, S. 7. 30 Dazu vgl. Heinz-Elmar Tenorth, Nationalsozialistisches Erziehungsdenken, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5, hrsg. v. Dieter Langewiesche u. ders., München 1989, S. 135.
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habe, erkläre ich für Irrtum und Wahn" 3 1 . Baeumler hat es sich da noch nicht entsagt, Schuld und Vergebung wie Wahrheit und Wirklichkeit dekretieren zu wollen.
b.
Habilitanden im Nationalsozialismus: Springmeyer, Schering, Steinbeck, Lehmann
Nach der Berufung Baeumlers erfolgt noch ein weiterer, politisch begründeter Ruf. Eine Berufungskommission für die Nachfolge von Heinrich Maier tritt schon vor dessen Tode im März 1933 erstmals zusammen. Victor Farias 3 2 führt aus, daß - neben einem Sondervotum von Paul Hofmann - vor allem ein Gutachten Baeumlers für Heideggers Berufung spricht. Farias führt es auf Baeumlers Einfluß im Amt Rosenberg zurück, daß die Fakultät schon am 7. September 1933 vom Ministerium, gezeichnet von Stuckart, die folgende Mitteilung erhält: „Der Philosophischen Fakultät teile ich mit, daß ich Professor Heidegger - Freiburg/Brsg. auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Berliner Universität für das Wintersemester berufen habe. Die Berufung Heideggers steht im Zusammenhang mit der Durchführung der Hochschulreform und war aus staatspolitischen Erwägungen heraus erforderlich"33.
Heidegger begründet seine Ablehnung mit einem öffentlichen Bekenntnis zur „Provinz" 3 4 . Später wird er gutachterlich erneut ins Gespräch gebracht. Als Nachfolger für Maier einigt sich die Kommission am 3. Februar 1934 aber einstimmig auf Heinz Heimsoeth (1886-1975): „Ausser Heimsoeth sollen in erheblichem Abstand Wundt, Bauch und Haering genannt werden" 3 5 . Jeder dieser Kandidaten hat sein Werk damals mit dem Nationalsozialismus verbunden. Andere kommen schon kaum mehr in Frage. Zu einer Berufung kommt es jedoch nicht. Maiers Lehrstuhl bleibt unbesetzt. Die Studentenzahlen sinken, und Baeumler ist ja gekommen. Dafür sind Köhler, Vierkandt, Dessoir, Baumgardt, Liebert, Groethuysen, Kuhn ausgeschieden. Einige Profiteure wurden schon genannt: Hochstetter, Wichmann, Günther und Odebrecht. Es gibt aber noch andere Habilitanden: 31 Brief von Baeumler an seinen alten Freund Manfred Schroeter vom 24.3.1950, in: Baeumler, Brunträger u. Kurzke, Dokumentation, S. 203-212, hier: S. 212; der Brief fährt fort: „Wenn ich jemals etwas gegen die Kirchen und gegen die Juden geschrieben habe, so ist das stets in geschichtlichem Zusammenhang geschehen, es war tendenziöse Polemik, die sich aus meiner Auffassung des .Reiches' ergab. Es war die negative Kehrseite meines Germanentums. Ich erkläre diesen Germanismus für einen verhängnisvollen Irrtum, und alles, was ich daraus gefolgert habe, für falsch". 32 Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1987, S. 225 ff. 33 UAHU, Phil. Fak. 1478, Bl. 71. 34 Martin Heidegger, Schöpferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz?, in: ders., Denkerfahrungen, Frankfurt/M. 1983, S. 9-13. 35 UAHU, Phil. Fak. 1478, Bl. 16.
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Heinrich Springmeyer (1898-1971) studiert in den zwanziger Jahren in Köln und promoviert 1928 bei Hartmann und Ernst Bertram mit einer systematisch interessierten Arbeit über Herders Lehre vom Naturschönen im Hinblick auf seinen Kampf gegen die Ästhetik Kants. Nach weiteren Studien bei Karl Mannheim, Rickert, Jaspers und Heidegger wechselt er mit Hartmann zusammen 1931 als dessen persönlicher Assistent nach Berlin. 36 Am 16. Februar 1933 beantragt er seine Habilitation. Hinter dem unverfänglichen Titel Untersuchungen zum Problem der Geschichtlichkeit des Geistes verbirgt sich im Kern eine Arbeit zu Marx. Nicht nur die Gutachter Hartmann und Dessoir, sondern auch Köhler, Baeumler und Spranger nehmen zu der nicht unumstrittenen Arbeit ausführlicher Stellung. Baeumler bestätigt der Arbeit Habilitationsqualität, möchte einer Publikation aber aufgrund der Fragestellung „nicht zustimmen". Das Problem der „Geschichtlichkeit des Geistes" sei als „Fragestellung nur künstlich an Marx herangebracht" 37 . Das klingt nicht abwegig, mag aber auch einen Vorbehalt gegenüber einer Marx-Arbeit, der ersten Berliner Habilitation nach der Machtübernahme zumal, ausdrücken. Dennoch kommt Springmeyer ohne größere Schwierigkeiten durch. Nachdem er noch vom Januar bis April 1934 den vom Ministerium geforderten - seit dem 18. Oktober 1933 obligatorischen - Wehrsportdienst im ersten Lehrgang der Dozenten-Akademie in Kitzberg bei Kiel abgeleistet hat 38 , erhält er rückwirkend auf den 7. Dezember 1933 die Venia für Philosophie und unterrichtet im Philosophischen Seminar neben Hartmann. Am 1. April 1936 übernimmt er die zuvor von Hans Günther verwaltete Stelle als Oberassistent des Seminars. Am l.Mai 1937 tritt er in die NSDAP ein. Im September 1937 erhält er einen Lehrauftrag für „Geschichte der neueren Philosophie". 1938 wechselt er nach Halle, wird dort zunächst außerordentlicher und 1942 ordentlicher Professor. Nach dem Krieg lehrt er in Marburg. Einen Tiefpunkt erreicht die Berliner Philosophie mit der Habilitation und Berufung von Walther Malmsten Schering (1883-?). Nach dem Abitur dient Schering von 1901 bis 1921 als Offizier. Im Alter von 44 Jahren promoviert er 1927 bei Vierkandt und Köhler mit einer Anwendung der Gestalttheorie auf das soziale Leben39, einer Kritik des Individualismus vorzugsweise in Anlehnung an Vierkandt. Am 1. Mai 1933 tritt er in die NSDAP ein. Am 7. Juli 1933 meldet Schering sich zur Habilitation mit dem anwendungsorientierten Thema Der Begriff des hinhaltenden Kampfes und seine Bedeutung für die Theorie des Krieges. Da Schering mit einem gestaltpsychologischen Thema promoviert hat, ist Köhler als Gutachter vorgesehen. Sein Ablehnungsschreiben ist denkwürdig: 36 37 38 39
Springmeyer, Lebenslauf, in: UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 173/174. UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 179. Schreiben Springmeyers vom 24.4.1934 ans Dekanat, UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 193. Schering, Ganzes und Teil bei der sozialen Gemeinschaft. Ein Beitrag zur Anwendung der Gestalttheorie auf das soziale Leben, Diss., Berlin 1927.
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„Ich kann das erste Referat nicht erstatten, weil ich in dieser Abhandlung kaum irgendwelche Ausführungen finde, zu deren Beurteilung ich als Philosoph und Psychologe kompetent wäre. Wie früher habe ich, als Laie, den Eindruck, dass ein lesenswürdiges und ansprechendes Werk vorliegt, das, auf die Autorität von Herrn Kollegen Becker hin, ohne weiteres Anlass zu einem entsprechend spezialisierten Lehrauftrag für den Autor geben könnte. Dagegen besteht mit den Gebieten der Philosophie, auf denen ich mich sachkundig glaube, so wenig Zusammenhang, dass mir von dieser Seite her eine Habilitation für Philosophie nicht möglich erscheinen würde." 4 0
Um einen Eindruck von Scherings philosophischer Arbeit zu geben, sei ein längerer Auszug aus der Stellungnahme von General Professor Dr. Becker, dem militärischen Promoter Scherings, zitiert: „Im 1. Kapitel wird der Begriff des hinhaltenden Gefechtes, wie ihn die Vorschrift,Führung und Gefecht der verbundenen Waffen' (F. u. G.) vom 1.9.1921 auf knappen einundeinhalb Seiten erläutert, an einem geschickt gewählten, applikatorischen Beispiel, auch dem militärischen Laien in trefflicher Weise verständlich gemacht. Zum Schutze der von Westen heranrollenden Ausladungen einer blauen Division wird ein durch eine Artillerieabteilung, eine schwere Batterie, eine Pionierkompagnie usw. verstärktes Infanterie-Regiment vorgeschoben. Das Regiment erhält den Auftrag, in hinhaltendem Gefecht den Feind, der im Divisionsabschnitt etwa auf die dreifache Stärke geschätzt wird, möglichst lange aufzuhalten. In klarer, lebendiger Sprache schildert der Verfasser, wie das verstärkte InfanterieRegiment diese Aufgabe erfüllt". 4 '
Scherings Lebenslauf verweist eingehend auf die militärische Karriere als Stabsoffizier bei Hindenburg und die fortgesetzte militärwissenschaftliche Arbeit in der Kriegs-Akademie, aus der die Habilitationsschrift hervorgeht. Am 20. Januar 1934 liegt ein erneuter Antrag vor, nun zum Thema Die Systematik in Clausewitz' Kriegsphilosophie.42 Als Gutachter fungieren diesmal Baeumler, besagter General Becker sowie der nationalsozialistische Historiker Walter Elze (1891-?), 1933 berufener Direktor der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Historischen Seminars der Berliner Universität. Baeumler ist von der Arbeit keineswegs begeistert. Er entdeckt im Januar 1934 als „Hauptverdienst" vor allem die „Rekonstruktion" von Clausewitz' Werk. „Die vorliegende Arbeit entbehrt im Philosophischen zwar noch der Durchbildung in bezug auf die einzelnen Begriffe; sie ist jedoch als eine Inbesitznahme von Neuland im Ganzen als eine geschlossene, unsere Erkenntnis wahrhaft bereichernde wissenschaftliche Aktion zu bewerten".43 Nachdem Schering auch seinen Probevortrag über „Die Wandlungen in Fichtes Grundanschauung vom Krieg" sowie seine Antrittsvorlesung über „Die ethischen Folgerungen aus dem Wehrgedanken" gehalten hat, erhält er am 31. Juli 1934 die Venia für Philosophie „mit besonderer Berücksichtigung der 40 Schreiben vom 3.8.1933 an den Dekan, UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 297. 41 Stellungnahme General Professor Dr. Karl E. Beckers, in: UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 283. 42 Die Arbeit ist erschienen: Schering, Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Eine Untersuchung über ihren systematischen Aufbau, Hamburg 1935; vgl. ders. (Hrsg.), Carl von Clausewitz. Geist und Tat. Das Vermächtnis des Soldaten und Denkers, Stuttgart 1941. 43 UAHU, Phil. Fak. 1246, Bl. 291.
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Kriegsphilosophie und der Kriegssoziologie". Schon vor Abschluß des Habilitationsverfahrens lehrt er neben Baeumler im Institut für politische Pädagogik. Später übersetzt er seinen Ansatz in eine ohne jede Fußnote und Methode direkt aus dem NS-gesundeten Volksempfinden geschöpfte Charakterologie. Schering versteht sich als Psychologe. Er distanziert sich aber von der geisteswissenschaftlich verstehenden Psychologie, namentlich von Spranger, und fordert dagegen ein intuitives Begreifen: „Die Methode des Begreifens kann weder erklärt noch verstanden werden, das Begreifen zielt auf Lebendiges und verzichtet auf ein Bewußtmachen" 4 4 . Dabei geht er von der „Grundtatsache aus, daß echte Gemeinschaft und starke Charaktere in gegenseitiger Ergänzung und Verbundenheit zusammen auftreten" 4 5 . Die Bewährung des Charakters erfolgt „im Einsatz". „Rasse" ist das „Fundament der Gemeinschaft": „Daß die Kameradschaft im praktischen Leben den Hauptteil der Charakterformung vollbringt, lehrt jede Erfahrung." 4 6 Das kann und muß auch nicht weiter erklärt oder verstanden werden. Für einen Nationalsozialisten wie Felix Krueger liest sich das so: „Eine soldatische, kernige Natur, die offenbar im Tatleben, nicht zuletzt im Dienste, ihren Mann steht, aber auch zum Führer taugt. Die beiden schmalen Schriften sind garnicht schulmäßig, wirken großenteils autodidaktisch. Sie zeugen von eigenwüchsigem Geist, von Verantwortungsbewußtsein und klarem, energischem, ungewöhnlich gesundem Sinn." 47
Dieser „Sinn" zeigt sich beispielsweise in einem Nekrolog auf den 1936 hochbetagt verstorbenen „Carl Stumpf zum Gedächtnis", den Schering wenige Tage nach dessen Tod vorträgt: vermutlich im psychologischen Institut, das damals beinahe vollständig liquidiert ist und nach einem Nachfolger sucht. Schering erwähnt diese Vorgänge mit keinem Wort; er schweigt sich darüber aus, daß der Nationalsozialismus die Schüler und Enkelschüler des Gelehrten Stumpf nahezu allesamt vertrieben hat. Auch auf dessen wissenschaftliches Werk und Vermächtnis geht er kaum ein; man habe „heute neue Wertmaßstäbe" und behandele die meisten Fragen „heute von einem ganz anderen Standpunkte aus". Es klingt wie ein Nachhall auf Diltheys Kontroverse mit Ebbinghaus, wenn Schering den Gegensatz sachlich mit der Ablehnung von Stumpfs „Lehre von der psychophysischen Wechselwirkung" begründet, die „sich mit der heutigen Auffassung der Einheit von LeibSeele und Geist nicht zur Deckung bringen" 4 8 lasse. Er begreift diese „Einheit" im Sinne des nationalsozialistischen Antisemitismus 44 Schering, Charakter und Gemeinschaft. Grundsätzliches zur Charakterologie, Leipzig 1937, S. 9; Schöpferische Kräfte im Menschen und ihre Pflege, Bad Homburg 1935; Zuschauen oder Handeln? Beitrag zur Lage und Aufgabe der Psychologie, Leipzig 1937; Seele, Charakter und Vererbung, Bad Homburg 1939. 45 Schering, Charakter und Gemeinschaft, S. 26. 46 Ebd., S. 77. 47 Gutachten F. Krueger vom 3.6.1937 an den Dekan (gegen eine Berufung von L. F. Clauss), UAHU, UK, PA Clauss 36, Mappe 1, Bl. 73. 48 Schering, Carl Stumpf zum Gedächtnis, UAHU, UK, PA Sch 126, Bl. 1-4, hier: 3.
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und Rassismus und bestätigt damit Diltheys Materialismusvorwurf gegen den Parallelismus in kruder Form. Lehnt Schering also Stumpfs Werk scharf ab, so würdigt er doch dessen „ausgesprochene Persönlichkeit", namentlich seine „innere Treue zu seinem Volke", die sich im Ersten Weltkrieg im Einsatz für „kriegspsychologisch wichtige Forschung" bewiesen habe. Scherings Karriere ist beachtlich. Zusammen mit Baeumlers Assistent Steinbeck ist er seit 1937 der Fakultätsvertreter des NSD-Dozentenbundes für die gesamte Philosophische Fakultät. 49 Nach der Entlassung Riefferts übernimmt er mit MinisterErlaß vom 22. März 1938 die Leitung des Psychologischen Instituts. Gleichzeitig wird er außerordentlicher Professor. 1939 folgt eine Wehrphilosophie. Kürschners Gelehrten-Kalender verzeichnet ihn 1941 als Direktor des Psychologischen Instituts. Schering ist damit kommissarischer Nachfolger Köhlers, des Mannes, der die Begutachtung seiner Habilitation zurückwies. Den Lehrstuhl erhält 1942 Oswald Kroh. 1943 wird Schering Ordinarius für Soziologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Am 13. Dezember 1934 tritt eine neue Reichshabilitationsordnung 50 in Kraft. Sie trennt den Nachweis der wissenschaftlichen Befähigung vom Erwerb der Lehrberechtigung und knüpft die Lehrberechtigung an eine besondere Eignung. Ein Zweck dieser Änderung ist die Ermöglichung einer stärkeren politischen Auslese aus einem größeren Reservoir an Wissenschaftlern. 51 Am 17. Februar 1939 wird eine neue ReichsHabilitationsordnung nebst Durchführungsbestimmungen erlassen, 52 die diese Unterscheidung des wissenschaftlichen Befähigungsnachweises von der Lehrbefugnis näher regelt. Durch die Habilitation erlangt der Bewerber nunmehr lediglich den akademischen Grad eines habilitierten Doktors oder Dr. habil. Außer einer Habilitationsschrift wird eine Wissenschaftliche Aussprache verlangt. Die Lehrbefugnis setzt darüber hinaus externe Öffentliche Lehrproben sowie die Teilnahme an einem politischen Lehrgang voraus. Die meisten Habilitanden streben auch die Lehrbefugnis an. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Befähigungsnachweis und dem Erhalt der Lehrbefugnis
49 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1936/37, S. 31 f.; in dieser Funktion ist er beispielsweise am Parteiausschlußverfahren gegen L. F. Clauss im Januar 1943 beteiligt: so Peter Weingart, Doppelleben. Ludwig Ferdinand Clauss: Zwischen Rasseforschung und Widerstand, Frankfurt/M. 1995, S. 152f.; zur Rolle des Studentenbundes vgl. allgemein Michael Güttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995. 50 Reichs-Habilitations-Ordnung vom 13.12.1934 (RWissMABI. 1935, S. 12). 51 Dazu siehe Hans Peters, Art: Hochschulen, in: Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36. Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 7, hrsg. v. E. Volkmar, A. Elster u. G. Küchenhoff, Berlin 1937, S. 267-273, bes. S. 269. 52 Reichs-Habilitations-Ordnung nebst Durchführungsbestimmungen, hrsg. v. Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Berlin 1939.
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wird damals jedoch strikt praktiziert. Eine erste Lehrprobe absolviert der Pädagoge Fritz Blättner (1891-1981). 1924 über den Begriff des Elternrechts promoviert, wird Blättner Studienrat, wechselt dann aber als Assistent von Wilhelm Flitner (1889-1990) in Hamburg in die Lehrerausbildung und erwirbt dort im März 1936 den Titel des Dr. habil. Am 20. April beantragt er die Lehrbefugnis in Hamburg. Das Ministerium verweist Blättner am 10. Juli 1936 nach Berlin, um die Neutralität des Verfahrens sicherzustellen. Die Fakultät läßt sich zunächst die Habilitationsschrift schicken. Im Januar 1937 finden dann die öffentlichen Lehrproben zur Erteilung der Lehrbefugnis im Fach Philosophie statt. Thema ist „Der Humanismus im deutschen Bildungswesen der Gegenwart". Die drei Vorträge werden eingehend protokolliert. Dem Bericht des Dekans, des Indologen Bernhard Breioer (1894-1947), vom 26. Januar 1937 zufolge, historisiert Blättner den Humanismus der geisteswissenschaftlichen Psychologie Dilthey s im Sinne des Nationalsozialismus. Die Fakultät befürwortet die Ernennung zum Dozenten. Daraufhin erhält Blättner die Lehrbefugnis für Philosophie in Hamburg. Nach dem Krieg wechselt er nach Kiel und wird dort Extraordinarius und 1948 Ordinarius für Pädagogik und Psychologie. Dagegen scheitert Peter R. Hofstätter (1906-1994) 1943 schon im Vorverfahren bei seinem Versuch, die Lehrbefugnis in Berlin zu erhalten 53 , nachdem er 1941 in Wien den Dr. habil erwarb. Günther Ipsen (1889-1984) 54 , seit 1939 Ordinarius für Philosophie und Volkslehre in Wien, und Arnold Gehlen (1904-1976) gutachten unter Verweis auf ideologische Unzuverlässigkeit - Hochstätter zitierte Psychoanalyse negativ, und Schering schließt sich am 19. März mit der Begründung an, daß Hofstätter nicht die Gewähr biete, „rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat" einzutreten. Am 29. März 1943 erhält er seine Ablehnung durch den Dekan. Nach dem Krieg ist er Ordinarius in Hamburg. Während die Habilitationen von Springmeyer und Schering im Verfahren noch deutlich von der Wendezeit gezeichnet sind, folgt die nächste Berliner Habilitation erst 1938 unter den neuen Bedingungen der starken Politisierung. Mehr noch als Schering ist Wolfram Steinbeck (1905-1988) Baeumlers Mann; er studiert in Greifswald und Breslau und promoviert 1929 über Das Problem der Bildung in der Philosophie der englischen Aufklärung. Nach dem Lehramtsexamen ist er 1932 ohne Beschäftigung. Am 1. März 1933 tritt er in die NSDAP ein. 1934 wird er Baeumlers Assistent. Am 3. Mai 1938 meldet er sich zur Habilitation an. Er legt eine Arbeit über Das Bild des Menschen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes vor 55 , die ohne sonderlich aufdringliche Ideologisierung zu zeigen sucht, daß Fichte bei seinem „Kampf gegen die metaphysische Tradition dem „Arsenal seiner Gegner" verhaftet 53 UAHU, Phil. Fak. 1346, Bl. 1-20. 54 Ipsen, Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums, 1932; Blut und Boden, 1933; Bevölkerungslehre, 1939. 55 Steinbeck, Lebenslauf, in: UAHU, UK., PA S. 27, Bd. 2, Bl. 46.
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blieb.56 Steinbeck betreibt also Traditionskritik und verzichtet weitgehend auf eine positive Darstellung der neuen Politik. Baeumler begrüßt die schwache Arbeit als „die erste Leistung aus den Reihen der jüngeren Generation, in der sich weltanschauliche Haltung und philosophische Arbeit vereinigen"57. Spranger äußert seine Ablehnung in formaler Kritik; ihm mißfallen vor allem der „typisch unklare Bau der Passivsätze und die Unbestimmtheit im Gebrauch rückbezüglicher Wörter" 58 . Nach der am 13. Dezember 1936 erneut geänderten Reichshabilitationsordnung bedarf die Habilitation der „Ermächtigung" durchs Ministerium. Am 13. Dezember 1938 wird die Habilitation ausgesprochen. Die zur Erteilung der Dozentur verlangte Lehrprobe zum Thema „Die philosophischen Grundlagen des nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriffes" findet keine ungeteilte Zustimmung. Hartmann vermißt „die Definition des Führerwillens, in dem die dialektische Problematik der ganzen Frage wiederkehre" 59 - die Betonung liegt wohl auf der Forderung einer Definition. Im Sommer 1939 erhält Steinbeck die Lehrbefugnis per Ernennungsurkunde. 1940 übernimmt er eine Vertretung in Graz.60 1945 wird er dort noch außerordentlicher Professor. Nach 1945 wechselt er in den Schuldienst und arbeitet bis zuletzt philosophisch, so als regelmäßiger Rezensent für die Kant-Studien. Gerhard Lehmann (1900-1987) promoviert 1921 bei Troeltsch und Spranger. Schon in den 20er Jahren publiziert Lehmann zahlreiche Studien.61 Als Mitarbeiter im Verlag de Gruyter assistiert er dann Buchenau und wird 1930 als Mitarbeiter der Preußischen Akademie in Fortsetzung der Arbeit Adickes mit der Bearbeitung von Kants opus postumum beauftragt. 1933 veröffentlicht er eine Geschichte der Nachkantischen Philosophie, die zwischen Kants „Kritizismus" und dem „kritischen Motiv" unterscheidet, die Geschichte des Kantianismus als Geschichte einer Weltanschauung schreibt und bis zur Gegenwart führt; Lehmann schließt mit der Forderung einer „Neuorientierung" der Phänomenologie als „Philosophie der Wirklichkeit". Neben Studien zu Kants Spätphilosophie legt er auch Arbeiten zur Sozialphilosophie 62 und Massenpsychologie vor. 56 Steinbeck, Das Bild des Menschen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Untersuchungen über Persönlichkeit und Nation, München 1939, hier S. 9 f. 57 UAHU, UK„ PA S 27, Bd. 2, Bl. 25. 58 Ebd.,Bl. 29. 59 Ebd., Bl. 20. 60 Ebd., Bl. 78. 61 Vgl. Gerhard Lehmann, Über die Setzung der Individualitätskonstante, 1922; ders., Psychologie des Selbstbewußtseins, 1923; ders., Eros im modernen Denken. Versuch einer Metaphysik der Geschlechtsliebe, 1923; ders., Die Grundprobleme der Naturphilosophie, 1923; ders., Über Einzigartigkeit und Individualität, 1926; ders., Das religiöse Erkennen, 1926; ders., Vorschule der Metaphysik, 1927; ders., Psychologie der Individualitäten, 1928. 62 Vgl. bes. Lehmann, Sozialphilosophie, in: Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, hrsg. v. Lehmann/H. Sauermann, Berlin 1931, S. 1-117.
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Lehmann ist kein Parteigenosse, publiziert aber u.a. im Völkischen Beobachter Artikel, die - so der Bericht des Amtes Wissenschaft des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung - „in wirksamer Weise Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung" 63 zurückweisen. Im Sommer 1939 beantragt er die Habilitation in Greifswald und wird positiv begutachtet. 64 Dann beantragt er die Habilitation in seiner Geburtsstadt Berlin. Spranger erhebt am 1. Oktober 1939 heftigen Einspruch; er bemängelt die Unzuverlässigkeit Lehmanns und fühlt sich in einer Akademieangelegenheit hintergangen. Lehmanns Anlehnung an Baeumler kommt schon im Vorwort seiner Habilitationsschrift zum Ausdruck. Dort distanziert er sich sogleich von seinem einstigen Lehrer Adickes und beruft sich auf Baeumler: „Erst als ich nochmals Alfred Baeumlers Werk über die Kritik der Urteilskraft las, wurde mir klar, daß ich den Hebel eben hier, bei der Kritik der Urteilskraft anzusetzen hätte. Alles andere ergab sich von selbst".65 Trotz solcher Referenzen steht die Sache auf der Kippe, zumal niemand von Lehmanns Dozentenbegabung überzeugt ist. Die Fakultät verlangt ein Entschuldigungsschreiben zur Genugtuung Sprangers. Nachdem dieses am 12. November 1939 erfolgt, ist er zur öffentlichen Lehrprobe zugelassen. Am 22. Januar 1940 erhält er dann die Venia legendi und wird direkt ins Beamtenverhältnis erhoben. Die Sache war wohl nicht nur, aber auch eine Kraftprobe zwischen Spranger und Baeumler. 1940 publiziert Lehmann eine Studie über den Einfluß des Judentums auf das französische Denken der Gegenwart. 1943 erscheint eine fast sechshundert Seiten starke Darstellung Die deutsche Philosophie der Gegenwart, die nicht nur eine Geschichte der deutschen Gegenwartsphilosophie, sondern zugleich selbst „Gegenwartsphilosophie" als „Sinndeutung" der Gegenwart sein will. Lehmann betont den „säkularen Abstand" zum 19. Jahrhundert durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs, die als „Gesamterlebnis" im Nationalsozialismus ihren positiven Ausgang finde. Er entdeckt eine „Koinzidenz" von Philosophie und Politik, wonach „in der Entwicklung der Gegenwartsphilosophie sozusagen von innen heraus als Problematik aufbricht, was im Nationalsozialismus weltanschauliche Gestalt gewinnt" 66 . Philosophisch geht er davon aus, „daß das Politische selbst Erkenntnisquellen enthält, die der philosophischen Einsicht nicht etwa bloß unerreichbar, sondern in dieser Unerreichbarkeit sogar verbindlich, verpflichtend sind" 67 . So betrachtet er die politische Antwort des National-
63 U A H U , Phil. Fak. 1295, Bl. 37. 6 4 Aus den Berliner Akten geht nicht hervor, daß Lehmann - auf Fürsprache Günther Jacobys - damals in Greifswald förmlich habilitierte. Wolfgang Ritzel (Gerhard Lehmann, in: Kant-Studien 71, 1980, S. 3 4 6 - 3 5 1 ; ders., Gerhard Lehmann zum Gedächtnis, in: Kant-Studien 7 9 (1988), S. 1 3 3 - 1 3 9 ) schreibt dies. Jedenfalls hat sich Lehmann auch in Berlin habilitiert. 65 Lehmann, Kants Nachlaßwerk und die Kritik der Urteilskraft, Berlin 1939, S. 5. 66 Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 4 9 4 f . 67 Ebd., S. 491.
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Sozialismus auch als einen philosophischen Impuls, von dem her die Gegenwartsphilosophie umgeschrieben werden müsse. 1943 zielt die „Gegenwartsphilosophie" darauf ab, die politische Philosophie des Nationalsozialismus als Fazit der Philosophiegeschichte zu präsentieren und sich selbst als Spitze dieser Philosophie zu empfehlen. Dabei bleibt nicht nur die Referenz an Kant unausgeführt, sondern insbesondere auch der politisch-philosophische Ansatz, Philosophie und Politik in einer „politischen Anthropologie" zu verbinden 6 8 , die eine „radikale Veränderung des Begriffs ,Philosophie' selbst" bedeute. Lehmann faßt Philosophie insgesamt „politisch" als „Sinndeutung" auf. Akademisch referiert er dafür auf Kant und auch Gehlen, verknüpft seinen Ansatz aber, ausgehend von Carl Schmitt, insbesondere mit dem nationalsozialistischen Hofphilosophen Rosenberg, Krieck und Baeumler. Auch Walter Schering schreibt er ein hohes Verdienst für die „Philosophie des Handelns" zu, wonach „das Handeln Erkenntnisquelle" sei. Vom Pragmatismus schweigt Lehmann in diesem Zusammenhang, geht er doch von einer „kulturellen Hegemonie" der deutschen Philosophie aus. Seine Gegenwartsphilosophie ist also eine historisch reflektierte politische Philosophie des Nationalsozialismus. Unter Berufung auf Hegel und Nietzsche liquidiert sie den historistischen Impuls geisteswissenschaftlicher Selbsthistorisierung mit kaum mehr fragwürdigem „konstruktiven" Anspruch. Diese Gegenwartsphilosophie ist 1943 eine Bewerbung um Berufung. Dazu kommt es jedoch nicht mehr. Nach 1945 wechselt Lehmann an die Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Dort trifft er wieder auf Hartmann sowie dessen einstigen Assistenten Hermann Wein. Einen Lehrstuhl erlangt er nicht mehr. Nach dem Krieg widmet er sich aber weiter der Akademie-Ausgabe, publiziert weiter rege über Kant und schreibt seine Gegenwartsphilosophie in eine verbreitete Geschichte der Philosophie um. 69
c.
Ein Vermittler aus Italien: Ernesto
Grassi
Ernesto Grassi (1902-1991) geht schon 1928 zum Studium nach Deutschland und entdeckt bald Heidegger für sich und Italien, kommt also nicht direkt als Vertreter der Achsenmacht. Dennoch trägt ihm die deutsch-italienische Freundschaft ein Extraordinat ein. Von Freiburg aus gelangt er 1938 direkt als Honorarprofessor nach Berlin. Die Initiative geht von Grassi aus, der sich persönlich an Baeumler wendet. 70 Hartmann, 68 Vgl. ebd., S. 489ff., 503ff., 524ff. 69 Lehmann, Die Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953; Die Philosophie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 1957/60; Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1969; Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1980. 70 Siehe Baeumlers Schreiben vom 4.11.1937 an den Dekan Breioer, in: UAHU, U K , PA. G. 185, Bd. 3, Bl. 2.
17.
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Spranger und Baeumler erheben zunächst keine Bedenken. Baeumler begründet, daß ein Lehrauftrag „innerhalb des Rahmens der Universität der Reichshauptstadt zweifellos sinnvoller als in einer kleinen abgelegenen Universität" 71 sei. Sein Lehrauftrag gilt der „Vertretung der italienischen Philosophie" 72 . Hartmann erhebt Bedenken gegen eine Verlängerung: „Die Tätigkeit des Herrn Prof. Grassi hat sich nach meinen Erfahrungen als nicht sonderlich erspriesslich erwiesen. Er doziert mehr über Hardegger [gemeint ist wohl: Heidegger] als über die von ihm angezeigten Themen; woran ja in unserem hiesigen Lehrbetrieb nicht gerade Bedarf ist."73
Baeumler wünscht aber die Verlängerung. 74 Am 13. Juni 1940 erhält Grassi ein Extraordinariat. Im Sommersemester 1942 liest er nicht. Im Juli 1943 stellt die Universitätskasse ihre Zahlungen ein, da Grassi für abgängig gilt. Am 24. März 1944 meldet er sich unter Hinweis auf die „schwierigen Zeiten" 75 zurück, beantragt dann aber seine Beurlaubung für das Sommersemester 76 und wird im Einverständnis mit der Fakultät im Wintersemester 1944/45 erneut in Berlin erwartet. Ob er damals in die brennende Reichshauptstadt zurückgekehrt ist, läßt sich den Akten nicht entnehmen. Grassi will sich damals offenbar die Option offenhalten, da er beim Sturz Mussolinis mit Schwierigkeiten rechnen muß. Und Mussolini ist im Juli 1943 zwar gestürzt, im September aber wieder von den Nazis „befreit" worden. Italien ist im Bürgerkrieg zerrissen, Schlachtfeld der Alliierten und Deutschen. Obwohl seine Lehrtätigkeit politische Hintergründe hat, ist Grassi kein politischer Radikalist. Von der italienischen Hegelrezeption ausgehend, fordert er eine philosophische Aneignung von Werner Jaegers Programm eines Neuhumanismus. 77 Die Durchführung 7 8 setzt er von Heidegger her als Hegelkritik an, geht aber über Heidegger hinaus, indem er das „Problem des Vorrangs des Logos" von Piaton her stellt und im Renaissance-Platonismus den positiven Ansatz für einen philosophischen Humanismus erblickt. Grassi beabsichtigt also eine humanistische Verteidigung des „Vorrangs des Logos" in der Auseinandersetzung mit Hegel und Heidegger. Damit begibt 71 Schreiben Baeumlers vom 9.12.1937 an den Dekan, ebd., Bl. 8. 72 So Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.11.1938, in: UAHU, UK„ PA., G 185, Bl. 1). Die Universitätschronik verzeichnet den Lehrauftrag für „Italienische Philosophie und ihre Beziehungen zur deutschen Philosophie". 73 Hartmann an den Dekan, vom 20.9.1938, ebd., Bl. 21. 74 Schreiben vom 21.10.1938, ebd., Bl. 26. 75 Ebd., Bd. 2, Bl. 24. 76 Schreiben vom 24.3.1944 an den Dekan, ebd., Bl. 67. 77 Grassi, Beziehungen zwischen deutscher und italienischer Philosophie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 17 (1939), S. 26-53. 78 Grassi, Vom Vorrang des Logos. Das Problem der Antike in der Auseinandersetzung zwischen italienischer und deutscher Philosophie, München 1939, bes. S. 28f„ 182ff„ 213ff., 78; vgl. E. Grassi, Kunst und Mythos, Hamburg 1957; Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962; Einführung in die humanistische Philosophie, Darmstadt 1991.
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er sich in Deutschland zwischen die Fronten. Spranger distanziert sich freundlich von dieser Abkehr vom Idealismus. 79 Gadamer dagegen kritisiert den Versuch einer „Hegelnachfolge", die „Heidegger im Grunde auf Hegel zurückbiegt" 80 . Heidegger antwortet Grassi 1942 mit Piatons Lehre von der Wahrheit in dessen Jahrbuch Geistige Überlieferung. Nach dem Krieg wechselt Grassi nach München und macht sich weiter um die Renaissance- und Humanismusforschung sowie die deutsch-italienischen Wissenschaftskontakte verdient. Auch seine humanistische Verteidigung des „Vorrangs des Logos" verdient Respekt. Von den Berlinern hat niemand sonst die Auseinandersetzung mit Heidegger derart offen geführt.
d.
Hartmanns Habilitanden:
Wein, Ballauf,
Liebrucks
Hermann Wein (1912-1981) studiert in Berlin, Wien und Heidelberg. 1936 promoviert er bei Hartmann mit Untersuchungen über das Problembewußtsein. Als Springmeyer nach Halle wechselt, schlägt Hartmann Wein als Nachfolger vor: „Herr Dr. Wein ist ein ausgezeichneter wissenschaftlicher Kopf, hat seinerzeit eine vorzügliche Dissertation geliefert und scheint mir durchaus der geeignete Mann für eine künftige akademische Laufbahn zu sein" 81 . Wenige Tage später ergänzt Hartmann sein Gutachten um die zeitgemäße charakterologische Qualifizierung: „Er besitzt die Festigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Kameradschaftlichkeit, die hierfür unbedingt erforderlich sind." 82 1937 tritt Wein in die NSDAP ein. 1938 wird er wissenschaftlicher Assistent Hartmanns. 1942 reicht er eine Habilitation zum Thema Das Problem des Relativismus ein. Das Thema reizt Baeumler zum Einspruch. Baeumler bezeichnet den Nationalsozialismus als „konstruktiven Relativismus der rassisch-völkischen Weltanschauung" 83 und vermißt eine Abgrenzung von dem Relativismus des 19. Jahrhunderts, den Wein kritisiert. Ideologisch verwirft er die Arbeit deshalb, läßt sie aber aus kollegialer Rücksicht durch. Wohl mit Seitenblick auf Baeumlers Gutachten bemerkt Spranger, Wein habe „nicht die ganze Weltanschauungsproblematik der gegenwärtigen Lage aufwerfen wollen. Vielmehr scheint es mir, daß er in dieser Hinsicht bewußte Zurück79 Eduard Spranger, in: Die Erziehung 16 (1941), S. 74-79. 80 Hans-Georg Gadamer, in: Deutsche Literaturzeitung 61 (1940), S. 893-899; Wiederabdruck in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 310ff., hier 315; vgl. auch S. 312: „Der Vorrang des Logos bleibt gegen mögliche Konsequenzen aus Heideggers philosophischem Rückgang hinter die .Logik' gewahrt"; Gadamer hatte schon ein früheres Platon-Buch Grassis rezensiert (ebd., S. 304ff.); seine spätere Besprechung des Jahrbuchs „Geistige Überlieferung" konstatiert das philosophische Scheitern von Grassis Anspruch auf philosophische Begründung des Neuhumanismus (vgl. ebd., S. 357ff.). Mit Heideggers Humanismusbrief wurde die Problemfrage in der Nachkriegszeit fortgesetzt. 81 UAHU, P A W 9 3 , B1.18. 82 Ebd., Bl. 21. 83 Ebd., Bl. 72.
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haltung geübt hat, in dem entscheidenden Bewußtsein, dass der deutsche Nationalsozialismus einer Stützung durch die Philosophie nicht bedarf' 8 4 . Wein wird zur Wehrmacht eingezogen. Nach dem Krieg folgt er Hartmann 1950 nach Göttingen auf eine außerplanmäßige Professur. 85 Theodor Ballauf (1911-1995) studiert neben Philosophie und Religionswissenschaft auch Chemie, Biologie und Psychologie. 1937 tritt er in die N S D A P ein und promoviert im Januar 1938 bei Hartmann und Baeumler in Berlin Über die Vorstellungskraft bei Kant. Anschließend legt er das Staatsexamen für Chemie, Biologie und philosophische Propädeutik ab und tritt in Halle ein Bibliothekarsreferendariat an. 1940 legt er dort eine Notprüfung ab und wird im Februar 1940 zum Wehrdienst eingezogen. 8 6 Ballauf geht von der Naturphilosophie aus. In Anschluß an Hartmanns Schichtenlehre erörtert er das Problem der autonomen Entwicklung im organischen Seinsbereich jenseits der früheren Polarisierung von Mechanismus und Vitalismus. 87 Er behandelt diese damals nicht nur strittigen, sondern auch ideologisch umstrittenen Themen ohne jede Politisierung. Am 1. April 1941 meldet er sich zur Habilitation mit einer unveröffentlichten Arbeit Über das transzendentale Problem in der gegenwärtigen Philosophie an.B& Sie erörtert das Verhältnis transzendentaler und ontologischer Verfahren in Auseinandersetzung vor allem mit Heinrich Maier, Günther Jacoby und Martin Heidegger. Dabei konzentriert sie sich auf Heidegger und entkräftet Einwände von Hartmann. Ballauf sucht also Heideggers Philosophie seinem Lehrer Hartmann näherzubringen. Hartmann bemerkt dazu in seinem Erstgutachten vom 1. September 1941 generös: Ballauf tritt „als ein Gegner auf. Aber er ist ein Gegner, wie man ihn sich wünschen möchte: ein bemerkenswerter und in jeder Wendung ein lehrreicher Gegner. Und so erblicke ich denn gerade in diesen Partien einen Beweis von Reife, Selbständigkeit und systematischer Fruchtbarkeit seines Denkens. Aus der ganzen Arbeit spricht eine unbestreitbare bedeutende Kraft, über alle blosse Diskussionen von Lehrmeinungen hinaus wieder unbeirrt an die Grundprobleme selbst heranzutreten, ihre Spuren in fremdem Denken zu verfolgen und über dessen Grenzen hinaus fruchtbar zu machen. Ja, in einer Zeit, in der die deutsche Philosophie von systematischen Köpfen nicht eben reich ist, glaube ich diese Kraft des Verf. doch recht hoch bewerten und der Beachtung der Fakultät empfehlen zu müssen." 8 9 84 Ebd., Bl. 12 1. 85 Wein, Realdialektik. Von hegelscher Dialektik zu dialektischer Anthropologie, München 1957; Sprachphilosophie der Gegenwart, Den Haag 1963; Philosophie als Erfahrungswissenschaft, Den Haag 1965; Konkrete Reflexion. Festschrift für Hermann Wein zum 60. Geburtstag, Den Haag 1975. 86 Ballauf, Lebenslauf, in: UAHU, Phil. Fak. 1247, Bl. 3. 87 Ballauf, Über das Problem der autonomen Entwicklung im organischen Seinsbereich, in: Blätter für deutsche Philosophie 14 (1940), 5 5 - 8 0 ; vgl. ders., Die gegenwärtige Lage der Problematik des organischen Seins, in: Blätter für deutsche Philosophie 17 (1943), S. 380-398. 88 UAHU, Phil. Fak. 1247, B l . l . 89 UAHU, Phil. Fak. 1247, Bl. 12-14, hier 14.
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Teil IV: Krise
Das Habilitationsverfahren verzögert sich etwas. Im Oktober 1941 fragt Ballauf deshalb nach. Versehentlich wird Spranger zum Zweitgutachter bestellt. Am 5. Juni 1942 verweist Ballauf auf eine Absprache mit Baeumler und bittet um Änderung: „Nun stehe ich allerdings auch Herrn Professor Spranger wissenschaftlich und persönlich nicht ganz fern. Trotzdem bitte ich es recht zu verstehen, wenn ich aus den sachlichen Gründen meiner Untersuchung um eine Umbesetzung des 2. Referates bitte". Baeumler urteilt dann etwas reservierter über die Gegenwartsbedeutung der „Frage nach der Vereinigung" von Heidegger mit Hartmann, vermißt noch das „Eigene", sieht „die Arbeit in ihrem Ringen mit den Problemen zu Hoffnungen berechtigt" 9 0 . Am 26. Februar 1943 findet daraufhin das Habilitationskolloquium statt. Die Aussprache geht von einem „Exposé über das Problem des organischen Prozesses" aus. Baeumler stellt einige akademische Wissensfragen und führt die Aussprache dann zu den politisch heiklen Fragen nach dem Verhältnis von „Rassenbegriff und Philosophie" sowie „bisherigen Trägern der Geschichtsphilosophie", wobei der „Gegensatz Ranke und Hegel und der Rassebegriff" zu erörtern ist. Der Psychologe Kroh fragt nach der „Vererbung seelischer Anlagen" 9 1 . Schnell gerät der Kandidat also gewissermaßen in Teufels Küche. Dennoch verläuft die Aussprache „so erfreulich, daß die Kommission sich für die Erwerbung des Dr. habil. aussprach". 92 Mit dem 26. Februar 1943 ist Ballauf in Berlin als Dr. habil. akzeptiert. Seine öffentliche Lehrprobe zum Erwerb der Lehrbefugnis hält er später in Halle 9 3 ; 1944 ist er dort - nicht in Berlin Dozent. 1946 wechselt er nach Köln. 1952 wird Ballauf Extraordinarius in Köln, wechselt 1955 nach Mainz und wird dort 1956 ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik. Nach 1945 schließt Ballauf seine Beiträge zur theoretischen Biologie mit dem ersten Band einer Geschichte der Biologie ab, Wissenschaft vom Leben überschrieben, die eine „Problemgeschichte" der „Erkenntnis des Wesens des Organischen im Wandel ihrer Selbstinterpretation und Selbstprüfung" von der Antike bis Kant und Schelling beschreibt. 94 Er unterscheidet drei geschichtliche „Grundlegungen" der Biologie und fünf verschiedene Auslegungen des Lebensproblems in der Neuzeit. Diese neuzeitliche Diversifikation schafft einen theoretischen Klärungsbedarf, bei dem die „Selbstbesinnung der Biologie und die philosophische Lebenswissenschaft" in ein Verhältnis treten. Ballauf geht es um diese Kommunikation zwischen Biologie und
90 91 92 93 94
UAHU, Phil. Fak. 1247, Bl. 17. UAHU, Phil. Fak. 1247, Bl. 23. Bericht des Dekans Grapow vom 31.3.1943, UAHU, Phil. Fak.1247, Bl. 24. UAHU, Phil. Fak.1247, Bl. 33-34. Ballauf, Das Problem des Lebendigen. Eine Übersicht über den Stand der Forschung, Bonn 1949; Die Wissenschaft vom Leben. Eine Geschichte der Biologie., Bd. 1: Vom Altertum bis zur Romantik, Freiburg 1954.
17.
Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
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Naturphilosophie. Er führt seine Arbeit jedoch nur bis zur Romantik durch und macht nicht mehr den Versuch, wie zuvor etwa Helmuth Plessner (1892-1985) mit seinen Stufen des Organischen, vom gegenwärtigen Stand der theoretischen Biologie her einen umfassenden naturphilosophischen Entwurf vorzulegen. Es ist symptomatisch für die Möglichkeiten der neueren Philosophie, daß weitere Bände dieser Biologiegeschichte nie erscheinen und Ballauf sich auf die Grundlegung und Geschichte der Pädagogik verlegt. Seinen pädagogischen Ansatz entwickelt er in der Auseinandersetzung mit Piaton. 95 Auch später noch grenzt er sich von Hartmann bei seiner Wendung zur Pädagogik ab.96 Eine Wendung zu Piaton findet sich vor 1945 schon bei Bruno Liebrucks (1911-1986). Der vielleicht eindrücklichste Beitrag der Berliner Philosophie im Nationalsozialismus ist diese Selbstthematisierung ihrer Lage: der Gefährdung der Freiheit philosophischer Forschung im politischen Totalitarismus. Liebrucks hat „von 1934 bis 1949 nichts veröffentlicht" 97 . Im Juli 1933 promoviert er in Königsberg über Probleme der Subjekt-Objektrelation. Kurz zuvor tritt er am 28. Juni 1933 in die SA ein, am 1. Mai 1937 in die NSDAP.98 Oktober 1936 bis 1937 leistet er seinen Wehrdienst ab. Danach verfertigt er seine Habilitationsschrift Piatons Entwicklung zur Dialektik. Wenige Tage vor Kriegsbeginn (!), am 28. August 1939, wird er erneut eingezogen. Als Leutnant im Feld habilitiert er sich während eines „sehr mühsam erworbenen, drei Monate währenden Habilitationsurlaubs" 99 , der für den Abschluß des Verfahrens um ganze 24 Stunden verlängert wird. Beide Gutachter, Hartmann und Baeumler, erkennen die philosophische Begabung in sachlichem Urteil. Am 29. April 1943 wird die Habilitation anerkannt. Wegen des Kriegsdienstes kann Liebrucks seine Probevorlesung zur Erlangung der Lehrbefugnis erst am 21. Februar 1944 über „Nietzsche und die Metaphysik" halten. Am 20. März 1944 beantragt er dann eine Diätierung in Höhe eines Studienratsgehalts. 100 Daraufhin wird er am 22. Mai 1944 zum Dozenten ernannt. 1950 wird Liebrucks in Köln Professor, wechselt später nach Frankfurt und publiziert zwischen 1964 und 1979 Sprache und Bewußtsein. 95 Ballauf, Die Idee der Paideia, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 6 (1951/52), S. 175-199; Die Idee der Paideia. Eine Studie zu Piatons ,Höhlengleichnis' und .Parmenides' Lehrgedicht, Meisenheim 1952. 96 Ballauf, Pädagogische Konsequenzen aus Nicolai Hartmanns Philosophie, in: Nicolai Hartmann 1882-1982, hrsg. v. A.J. Buch, Bonn 1982, S. 28-34; Nicolai Hartmanns Philosophie der Natur. Zu ihren Voraussetzungen und ihren Grenzen, in: Philosophia Naturalis 2 (1952), S. 117-130. 97 So Liebrucks, Selbstdarstellung: Das nicht automatisierte Denken, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 2, hrsg. v. Ludwig Pongratz, Hamburg 1975, S. 170-223, hier: 200. 98 Liebrucks, Lebenslauf, in: UAHU, PA L 156, Bl. 3. 99 Ebd., S. 201. 100 Brief vom 20.3.1944 an den Dekan, in: UAHU, UK„ PA L 156, Bl. 25.
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Teil IV: Krise
Liebrucks bietet keine unpolitische Interpretation von Piatons Dialektik, sondern sucht die „Theorie Piatons von seiner Verwurzelung in der Polis zu begreifen" 1 0 1 . Piaton wollte die „heroische Haltung" und den Tod des Sokrates philosophisch verstehen. Im Rahmen der Sophistik konnte das Unrecht an Sokrates nicht als solches begriffen werden. Unter dem Eindruck des Sokrates vom philosophischen Problem der Gerechtigkeit ausgehend, überwand Piaton die Sophistik durch Aufnahme des „Eleatismus" im Rahmen ontologischer Reflexion. Hatte Helmut Kuhn 1934, wie skizziert, die ursprünglich ethische sokratische Frage gegenüber der ontologischen Antwort Piatons freizulegen gesucht und damit die Eigenart der praktischen Philosophie des Sokrates gegenüber der Wirkungsgeschichte Piatons erinnert, so betont Liebrucks erneut die Bedeutung von Piatons Ontologie und Dialektik für die sokratische Frage nach der Gerechtigkeit. Seine Erörterung des Verhältnisses politischer Ungerechtigkeitserfahrung und philosophischer Antwort ist dabei auch durch die zeitgenössische Erfahrung motiviert. Die Frage nach der Ungerechtigkeit von Sokrates' Tod verwandelt sich ihm bei der Erörterung der Politela in die Erinnerung der ontologischen Voraussetzungen von Piatons „Gestalt der Herrscherphilosophen": daß nämlich das Philosophenkönigtum von Piaton nur unter der Voraussetzung der wahrhaft philosophischen Gerechtigkeit des Herrschers postuliert ist. Im zweiten Teil führt Liebrucks an Piatons Spätwerk aus, daß die Entwicklung zur Dialektik nicht nur von der politischen Entdeckung des Gerechtigkeitsproblems her begriffen werden kann. Piaton entdeckt seine Dialektik zwar im Rahmen der politisch-praktischen Philosophie, führt sie aber unter Aufnahme des Eleatismus auch als theoretische Philosophie aus. Damit verteidigt Liebrucks die Eigenart philosophischer Dialektik gegenüber der Politik. So ist seine Habilitationsschrift eine platonische Erinnerung der Freiheit philosophischer Existenz von der Politik. Der Bezug auf die Zeitgeschehnisse ist diskret, aber deutlich.
e.
Politik und Philosophie im Spiegel Piatons: Werner Jaeger
Ein exzentrischer Abschluß des Rückgangs der Berliner Tradition auf ein sokratisches Verständnis von Philosophie findet sich bei Werner Jaeger (1888-1961). Institutionell betrachtet gehört Jaeger im strengen Sinne zwar nicht in unsere Geschichte. Sein Einfluß und seine akademische Wirkung zwingt aber alle Berliner Philosophen, die sich damals mit der Antike befassen, zur Auseinandersetzung. Und sein Werk ist eine aktualitätsbezogene Erörterung des Verhältnisses von Philosophie und Politik, die für die Spiegelung des Nationalsozialismus nicht uninteressant ist. Deshalb wird er hier mitberücksichtigt. Jaeger wird 1921 der Nachfolger von Wilamowitz-Moellendorff in
101 Liebrucks, Piatons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt/M. 1949, S. 55.
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der Altphilologie. Seit den zwanziger Jahren propagiert er Die geistige Gegenwart der Antike und Relevanz der Altertumswissenschaft für einen „dritten Humanismus" als Antwort auf Traditionsbruch, „Überzivilisation" und „Zivilisationsflucht". 102 „Der Humanismus ist unbedingt ein Politicum", meint Jaeger. 103 Dieses Politikum humanistischer „Bildung des Menschen zum Menschen" habe Piaton aus dem Erlebnis des Sokrates begriffen. In skeptischer Reserve gegenüber dem modernen „Individualismus" und der politischen Lage Weimars empfiehlt Jaeger damals den griechischen Vorrang der „Staatsethik" vor der Individualethik. „Die tiefe Not des Vaterlandes, die jeder einzelne an seinem Teile mitträgt, hat ihren letzten Grund in der Staatsnot. Sie richtet daher unsere Gedanken auf die Grundlagen aller Staatlichkeit und die in ihr beschlossenen Forderungen"104.
Seine Ausführung erhält dieses Programm zwischen 1934 und 1947 durch das dreibändige große Werk Paideia. „Das geistige Prinzip der Griechen ist nicht der Individualismus, sondern der ,Humanismus'. Der kommende dritte Humanismus ist wesentlich an der Grundtatsache alles griechischen Erziehertums orientiert, daß die Humanität, das ,Menschsein', von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden ist", schreibt Jaeger in der Einleitung des Oktober 1933 abgeschlossenen ersten Bandes: 105 „Doch in dem gegenwärtigen Augenblick, wo unsere gesamte Kultur aufgerüttelt durch ein ungeheures eignes Erleben der Geschichte in eine neue Prüfung ihrer Grundlagen eingetreten ist, wird der Altertumsforschung als letztes und ihr eigenes Schicksal entscheidendes Problem die Frage nach dem erzieherischen Gehalt der Antike von neuem vorgelegt".106
Diese Thesen prüft Jaeger im Wintersemester 1933/34 in Berlin auch durch eine in der Philosophie angekündigte Veranstaltung über „Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike" und publiziert damals in der Zeitschrift Volk im Werden einen kurzen gleichnamigen Aufsatz. 107 Darin empfiehlt er die Antike als „formende Kraft" für die gegenwärtige Aufgabe der „Formung des politischen Menschen". Jaeger übersetzt diese Forderungen in ein Lehrprogramm für die Latein- und Griechischlehrer und wirkt so an der Politisierung der Bildungsaufgaben der altsprachlichen Fächer im Nationalsozialismus mit. Politisch gerät Jaeger mit dem Nationalsozialis102 Jaeger, Antike und Humanismus, in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, Berlin 1937, S. 112; ausführlich Reinhard Mehring, Humanismus als „Politicum": Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen Paideia, erscheint in: Antike und Abendland (1999). 103 Jaeger, Die geistige Gegenwart der Antike, in: Humanistische Reden und Vorträge, S. 173. 104 Jaeger, Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato, in: Humanistische Reden und Vorträge, S. 93. 105 Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, Berlin 1934, S. 13 u. 16. 106 Ebd., S.19f. 107 Jaeger, Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, in: Volk im Werden 1 (1933), S. 4 3 - 4 9 .
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Teil IV: Krise
mus nicht in Konflikt. 108 Seit 1931 in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheiratet, emigriert er 1936 nach Chicago und wechselt 1939 dann an die Harvard-Universität. Seine Bücher können weiter in Deutschland erscheinen. Jaeger bleibt Mitglied der Akademie. Nachdem seine Sammlung Humanistische Reden und Vorträge 1937 die universitäts- und bildungspolitische Zielrichtung seines Programms verdeutlicht, folgt 1944 mit dem zweiten Band von Paideia die platonisch-politische Interpretation der sokratischen Bildungsidee. Gegen Heinrich Maiers einseitig ethische Auffassung des Sokrates betont Jaeger die politische und religiöse Bedeutung von Sokrates' „Aufruf zur Sorge für die Seele" 109 und damit den engen Zusammenhang zwischen der pädagogischen Wirkung des Sokrates auf Piaton und dessen Philosophie: „Nur Plato hat athenisch und politisch genug gefühlt, um Sokrates voll zu verstehen" 110 . Jaeger stellt die Annäherung von Sokrates und Piaton im Zeichen einer politischen Auffassung der sokratischen Bildungsidee, nach der Vorbereitung durch den ersten Band über die älteren Bildungssysteme, durch eine Gesamtinterpretation Piatons umfassend dar. Betont Liebrucks die politischen Wurzeln der Entstehung der philosophischen Dialektik Piatons, so bindet Jaeger diese Dialektik stärker noch an ihre politische und letztlich pädagogische Funktion zurück. Der Staat als Erzieher ist ihm Symbol der Ordnung der Seele:111 „Im Ringen um die Erneuerung der Polis war diese Selbsterneuerung des Individuums ursprünglich als die Keimzelle einer allumfassenden neuen Ordnung gedacht. Aber am Ende erweist sich die Innerlichkeit der Seele als die letzte Zufluchtsstätte jenes unverbrüchlichen Gesetzeswillens des altgriechischen Polismenschen, der einst den Polisstaat gestaltete, jedoch in der Welt keine Heimat mehr findet".112
Die Auseinandersetzung mit der Antike wurde solchen Interpretationen in nationalsozialistischer Zeit zum Medium der Erörterung des Verhältnisses von Politik und Philosophie.
f.
„Systematische
Philosophie"
im
Nationalsozialismus
Den letzten Stand der philosophischen Diskussion im Nationalsozialismus markiert das von Nicolai Hartmann" 3 herausgegebene Sammelwerk Systematische Philosophie, nimmt es doch ein Projekt von Hinnebergs Kultur der Gegenwart wieder auf. 108 Die PAn jedenfalls belegen keinen Konflikt. Jaeger wurde entpflichtet, um nach Chicago wechseln zu können. 109 Jaeger, Paideia, Bd. 2, Berlin 1944, S. 87. 110 Ebd., S. 125; vgl. bes. S.137ff. 111 Ebd., S. 318, vgl. auch, Bd. 3, S. 79ff. („Der Staat in uns"). 112 Jaeger, Paideia, Bd. 3, Berlin 1947, S. 88f. 113 Nicolai Hartmann (Hrsg.), Systematische Philosophie, Stuttgart 1942.
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Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
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1907 hatte das gleichnamige Sammelwerk u.a. Dilthey und Paulsen, Ebbinghaus und Riehl versammelt, dazu Wundt, Lipps und andere: eine repräsentative Summe der Wilhelminischen Philosophie um 1900 also. Hieran schließt Hartmann an. Das Sammelwerk erscheint in der Reihe philosophischer Gemeinschaftsarbeit deutscher Geisteswissenschaften, die auch als Fronteinsatz verstanden wurde. Heidegger deutet seine Nichtbeteiligung als Zeichen seiner Unliebsamkeit. 114 Er sieht darin ein NSProjekt, nicht ganz zu Unrecht. Zwar ist die Systematische Philosophie durch das von Theodor Haering in gleicher Reihe herausgegebene Sammelwerk 115 über Das Deutsche in der deutschen Philosophie von allzu plakativer Ideologisierung entlastet. Wäre Hartmann aber bei den Nationalsozialisten vollkommen unliebsam, so käme er als Herausgeber kaum in Betracht. Arnold Gehlen (1904-1976) und Erich Rothacker (1888-1965), zwei ausgewiesene Nationalsozialisten, eröffnen mit Anthropologie und Kulturanthropologie. Es folgen Hartmanns Neue Wege der Ontologie sowie Bollnows Existenzphilosophie, die Habilitationsschrift von Hermann Wein über Das Problem des Relativismus sowie Heimsoeths Geschichtsphilosophie. Im Horizont geschichtsphilosophischer Standortbestimmung dokumentiert die Sammlung also vier Hauptströmungen der damaligen deutschen Gegenwartsphilosophie: Anthropologie und Kulturanthropologie, Ontologie und Existenzphilosophie. Rothacker und Heimsoeth zollen der NS-Ideologie und Rasselehre dabei einigen Tribut. Ein „Vorstoß gegen die ,Existenzphilosophie'", wie Heidegger ihn vermutet, spielt allenfalls eine untergeordnete Rolle innerhalb von Bollnows Beitrag. Wie Hartmann im Vorwort schreibt, dokumentiert die Sammlung keine „Einheit einer Gesamtanschauung": Wir stehen „heute mitten inne zwischen einer alten und einer neuen deutschen Philosophie. Die eine ist nicht mehr, die andere noch nicht die unsrige. Aber wer tiefer in die Sachlage hineinsieht, der kann die neue sehr wohl kommen sehen: in scharfer Auseinandersetzung, in tastenden Versuchen, in kühnen Vorstößen".
Auf den ersten Eindruck scheint Hartmann das Neue mit der eröffnenden philosophischen Anthropologie Gehlens zu verbinden, der Rothackers Kulturanthropologie hinsichtlich der Explikation der kulturalistischen Konsequenzen sekundiert.116 Näher betrachtet, verbindet er diese Erwartungen freilich mit seiner „neuen Ontologie". In
114 Martin Heidegger, Das Rektorat 1933/34, in: ders., Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Frankfurt 1983, S. 43. 115 Das Sammelwerk stellt an die deutsche Philosophie „heute besonders dringlich die Frage, was an ihr im besonderen Sinne deutsch war" (Vorwort, in: Das Deutsche in der deutschen Philosophie, hrsg. v. Theodor Haering, 2. Aufl., Stuttgart 1942); ohne Berliner Beteiligung wird diese Frage verhandelt von „Albert der Deutsche" bis Nietzsche. 116 Gehlen, Zur Systematik der Anthropologie, in: Hartmann, Systematische Philosophie, S. 1-53; Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, ebd. S. 55-198.
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Teil IV: Krise
einer Besprechungsabhandlung Neue Anthropologie in Deutschland117 hat er zuvor Betrachtungen zu Gehlens Der Mensch vorgelegt und dabei vom „Schichtungsgedanken" her Gehlens Ansatz bei den „biologischen Grundlagen" affirmiert. Er kritisiert aber auch Gehlens anthropologischen Zugang zum Weltproblem als eine Verengung und begreift die eigene Ontologie als umfassenderen Ansatz. Hartmann sieht also die Möglichkeit einer Integration des anthropologischen Neuansatzes in seine Schichtungslehre. Deren Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß Seinskategorien nur auf dem Umweg über Erkenntniskategorien zu erschließen seien, die Erkenntniskategorien aber „nur vermittelt durch die einfache Erkenntnis der Gegenstände" 1 ' 8 . Deutet Hartmann derart die Möglichkeit einer systematischen Integration der Philosophischen Anthropologie an, so geht er zur Existenzphilosophie auf Abstand. Wie Heidegger bemerkt, verabschiedet Otto Bollnow (1903-1991) die Existenzphilosophie als „letzte Fluchtburg in einer sinnlos gewordenen Außenwelt": „Als Gesamtphilosophie war sie der Ausdruck einer vorübergegangenen geschichtlichen Epoche" 119 . Bollnow, der eine erste umfassende Darstellung von Diltheys Philosophie schrieb 120 , fordert eine Ergänzung der Existenzphilosophie um eine „Philosophie des Lebens und der Welt" 121 und einen „Übergang von der Verzweiflung zu einem neuen Glauben" 122 . Bollnows Rückgang auf Dilthey distanziert Hartmanns Widersacher. So dokumentiert das Sammelwerk einerseits den systematischen Anspruch des Herausgebers und bleibt andererseits doch symptomatisch für die damalige Krisenlage der Philosophie. Sachlich kann es neben dem gleichnamigen Sammelwerk von 1907 kaum bestehen. Setzt Gehlen auf den anthropologischen Ansatz beim Menschen als „handelndem" Wesen, so Hartmann auf die philosophische Interpretation und Integration des positiven Wissens. Beide Wege sind aber, wie Hartmann schreibt, teils tastende Versuche, teils kühne Vorstöße. Gerade daß die erste Garde nationalsozialistischer Hofideologen an diesem Sammelwerk nicht beteiligt ist, macht es symptomatisch interessant. In die Krise gerät die damalige Philosophie nicht erst durch ihre Politisierung, und die Politisierung greift weiter durch als die offenkundige Ideologisierung.
117 Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland, in: Blätter für deutsche Philosophie 15 (1941/42), S. 159-177. 118 Hartmann, Neue Wege der Ontologie, in: ders., Systematische Philosophie, S. 21 Off. 119 Bollnow, Existenzphilosophie, in: Hartmann, Systematische Philosophie, S. 425. 120 Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig 1936. 121 Bollnow, Existenzphilosophie, S. 428. 122 Ebd., S. 430.
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Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
g.
Stunde Null der Berliner
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Philosophie
Gegen Kriegsende kann von einem geregelten Lehrbetrieb kaum mehr die Rede sein. Eine Ahnung von den Verhältnissen geben Briefe Eduard Sprangers. S o beschreibt Spranger seiner Jugendfreundin Käthe Hadlich am 25. November 1943 detailliert seinen Weg zur Universität. Darin heißt es: .„Unser' Berlin existiert nicht mehr (...) Ich hoffte im Tiergarten schneller vorwärtszukommen. Aber Wege waren kaum noch erkennbar. Große Bäume und Sprengtrichter blockierten. Ohnehin war ja alles verwildert. Aber jetzt ist es ein Chaos geworden. Das Brandenburger Tor stand. Die Häuser links am Pariser Platz alle kaputt, rechts (Adlon) etwas besser. Ich sah noch in die Wilhelmstraße hinein, wo es mehrfach brannte, auch das Kultusministerium. Nun aber kam ich Unter den Linden nicht weiter, weil der Qualm das Atmen und Sehen hinderte. Ich bog in die Neue Wilhelmstraße ein. Die Heeresbücherei (alte Militärakademie) ausgebrannt. Ein Riesenstück Blechdach hing an dem Draht der Elektrischen und machte, vom Sturm geschaukelt, schreckliche Musik. Das physikalische Institut brannte noch. Am Schiffbauerdamm sah ich, wie auf der anderen Seite eine Ruine zu Pulver zusammenfiel. Ich ging an der Spree weiter bis zur noch brennenden Frauenklinik, dann in die Universitätsstraße hinein. Das Seminar war völlig unbeschädigt. Frl. Jung hatte einen Zettel hinterlassen, daß sie aus ihrer Wohnung im Domkandidatenstift herausmüsse: Monbijou und das Zentralpaketpostamt getroffen. Endlich kam ich nach 1 Stunde 20 Min. Weg in das Auditoriengebäude, 20 Minuten zu spät. Mein kleinerer Hörsaal war unbeschädigt, aber leer; der große Hörsaal ohne Fenster, Asche auf den Bänken. Gleichzeitig eine mächtige Detonation. Eine besinnliche Studentin und den Heizer sprach ich. Sie sagten vielsagende Worte. Als ich fortgehen wollte, traf ich einen jungen Leutnant an Krücken, entzückendes deutsches Jünglingsgesicht (hieß Natalis). Er war zur Vorlesung gekommen. Es sollen nur 30 dagewesen sein. Wir verstanden uns und schieden bewegt."123 A m 18. Dezember 1943 schreibt Spranger: „ - Der letzte Angriff war wieder recht schlimm. Die Stadtbahn ist zwischen Nicolassee und Alexanderplatz zweimal unterbrochen. Die Universität hat stark gebrannt, aber nur im Westflügel. Die Staatsbibliothek ist vorn links von einer Sprengbombe getroffen. In der Akademie ist jetzt kein Raum mehr benutzbar. In meinem Seminar waren fast alle Fenster entzwei und andere kleinere Schäden vom Luftdruck. (Frl. Johanna Jung regiert alles mit ungeheurer Tatkraft.) Ich konnte gestern doch in meinem weniger beschädigten Zimmer ein kurzes Seminar abhalten. Und heute habe ich in der Universität Ostseite ein Auditorium mit fast intakten Fenstern gefunden, wo ich für 100 Leute (darunter immer noch den General v. Rabenau) wenigstens eine Stunde lesen konnte."124 Bei Kriegsende fehlen also schon die institutionellen Voraussetzungen für einen ordentlichen Lehrbetrieb. Doch die Gleichschaltungen und Selbstgleichschaltungen mit dem erstaunlichen Niveauverlust des Durchschnitts haben die relative Selbständigkeit und Freiheit philosophischer Kultur längst erodiert und zerstört, als nach der Nazifizierung und Entnazifizierung nun die Stalinisierung der Berliner Philosophie einsetzt. Im
123 Eduard Spranger, Briefe 1901-1963, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 215. 124 Ebd., S. 216.
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Teil IV: Krise
Sommer 1945 reißen die SMAD, die sowjetische Militäradministration, sowie der „Kulturbund" unter der Leitung von Johannes R. Becher (1891-1958) die Initiative an sich. Es ist selbstverständlich, daß Nationalsozialisten wie Baeumler untragbar sind. Welche Stunde aber geschlagen hat, macht die Gängelung Sprangers schnell klar.125 Spranger wird im Mai 1945 zunächst vom damaligen Prorektor, dem Ägyptologen Hermann Grapow (1885-1967), mit der Führung der Geschäfte beauftragt und am 8. Juni vom - unter russischer Kommandantur stehenden - Berliner Magistrat als „kommissarischer Rektor" bestätigt. Seine erste Initiative einer Selbstreinigung durch das interne „Ehrengericht" eines „Spruchkollegiums" wird bei den Belasteten nicht gerade willkommen aufgenommen 126 und durch eine Verfügung des Magistrats zur Absetzung aller Parteimitglieder sowie offizielle Fragebogenaktionen bald obsolet. Die Lage ändert sich, als Berlin unter die Verwaltung der Siegermächte kommt. Das Hauptproblem der Raumfrage für die zerstörte Universität erhält dadurch strategische Bedeutung. Die Hauptgebäude Unter den Linden gehören zwar zum russischen Sektor, Teile der Universität, wie der Botanische Garten oder die Kaiser-WilhelmGesellschaft, befinden sich jedoch im amerikanischen Sektor in Dahlem. Durch Carl Diem (1882-1962), den Organisator der Olympiade von 1936, erhält Spranger die Aussicht auf einen Neuanfang und eine Neueröffnung des Vorlesungsbetriebs in geeigneten unzerstörten Gebäuden im Olympiagelände innerhalb der britischen Zone. Sprangers Erinnerungsbericht erzählt es so, daß der Plan eines Umzugs der Universität in den Westsektor zunächst rein pragmatisch ohne politischen Hintersinn erfolgt. Erst in den Verhandlungen geht Spranger die politische Bedeutung dieser Fragen in der Morgendämmerung des Kalten Krieges auf. Es gelingt ihm aber nicht, die Amerikaner für den Plan einer Wiedereröffnung der Universität auf dem Olympiagelände zu interessieren. Bei der Planung des Vorlesungsverzeichnisses für die im Januar 1946 dann wiedereröffnete Universität wird ihm vollends klar, daß eine Wiedereröffnung nach russischem Muster mit fixierten Studienplänen beabsichtigt ist: „Den traurigen Auftrag, die Totengräberarbeit am echten akademischen Geist zu organisieren, anders gesagt, die deutsche Universität hinter den Stand des 18. Jahrhunderts zurückzuschrauben, konnte ich nicht übernehmen" 127 . Spranger tritt nicht zurück. Im Zuge des Übergangs der Verwaltung vom Berliner Magistrat auf die zentrale Landesregierung wird er entlassen. Der Versuch einer Reorganisation der universitären
125 Hier nach dem detaillierten Erinnerungsbericht von Spranger, Die Universität Berlin nach Kriegsende 1945, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 2 7 3 - 3 2 1 ; vgl. ders., Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert, ebd., S. 3 4 2 - 3 6 0 . 126 Vgl. dazu Carl Schmitt, Gespräch mit Eduard Spranger (Sommer 1945), in: ders., Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 9 f f . 127 Spranger, Die Universität Berlin nach Kriegsende 1945, S. 311 f.
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Selbstverwaltung ist damit gescheitert. Spranger wechselt Mitte 1946 nach Tübingen. Hartmann ist 1945 schon nach Göttingen gegangen. Damit hat die Stunde Null der Berliner Philosophie geschlagen.
h.
Wiederanknüpfungen und erste Berufiingen
Nach dem „kommissarischen" Rektor Spranger wird der Altphilologe Johannes Stroux (1886-1954) der erste gewählte Nachkriegsrektor, der auch die Leitung der Akademie übernimmt. Wie Spranger ist er als Ordinarius und Akademiemitglied bis zuletzt ein Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft, 128 der einige Schlüsselfiguren des 20. Juli 1944 angehören; schon deshalb ist er politisch als Gegner des Nationalsozialismus bekannt. Spranger entsetzt damals die Bereitschaft von Stroux, mit den neuen Machthabern zu kooperieren. Der Organisator des Neuaufbaus der Philosophischen Fakultät ist Alfred Meusel (1896-1960) 129 . Meusel habilitiert sich 1923 mit einer soziologischen Arbeit an der TH Aachen und wird dort 1925 außerordentlicher, 1930 ordentlicher Professor. In der Emigration leitet er zusammen mit Liebert die Freie deutsche Hochschule in Großbritannien. Durch diese Tätigkeit ist er für die Neugestaltung der Fakultät politisch eindeutig qualifiziert. 1946 wird er nach Berlin auf einen Lehrstuhl für „Politische und Soziale Probleme" berufen und hält als erster Dekan der Philosophischen Fakultät die obligate Pflichtvorlesung „Einführung in das politische und soziale Verständnis der Gegenwart". 1947 wechselt er auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte; 1949 wird er Volkskammerabgeordneter. Die ersten Berufungsentscheidungen sind Wiedergutmachungsversuche. Dadurch gibt es wenigstens den Versuch einer Wiederanknüpfung an die Berliner Tradition. Nachdem Hartmann und Spranger gegangen sind, gibt es personell aber nur wenige unbelastete Alternativen von Dozenten, die vor 1933 schon in Berlin lehrten. Die Fakultät hat mit ihren Bemühungen kein Glück. Liebert verstirbt wenige Wochen nach seiner Berufung am 5. November 1946. Auch Hofmann verstirbt nach längerer Krankheit im März 1947. Baumgardt lehnt eine Rückkehr vorläufig ab. Und Vierkandt ist damals bereits fast 80 Jahre alt, bietet aber bis 1949 - neben Richard Thurnwald - soziologische Veranstaltungen an. Nur Delekat und Kuhn kommen als nationalsozialistisch nicht belastete, sondern verfolgte Dozenten noch in Betracht. Es wurde nicht ermittelt, ob sich die Fakultät um sie bemüht hat. Die Psychologie vertritt Kurt Gottschaidt nunmehr als Ordinarius. Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt
128 Dazu vgl. Klaus Scholder (Hrsg.), Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944, Berlin 1982. 129 Meusel, Untersuchungen über das Erkenntnisobjekt bei Marx, Jena 1925; Thomas Müntzer und seine Zeit, Berlin 1952.
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fi900-1974), ein Nachfolger Werner Jaegers, lehrt damals Pädagogik. Neu hinzu kommt Liselotte Richter (\906-1968), die erste weibliche Dozentin in der Philosophie.130 Richter promoviert über Kierkegaard131 und arbeitet dann die nationalsozialistische Zeit hindurch in der Preußischen Akademie an der Leibniz-Ausgabe mit. Wissenschaftlich ist sie vor allem von dem Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann (1881-1958) beeinflußt, der 1935 von Berlin nach Frankfurt wechselt und damals eine politische Geistesgeschichtsschreibung prolongiert. Während Brinckmann jedoch den Geist der Nationen132 primär kultursoziologisch und kunstgeschichtlich darstellt, begreift Richter die Theologie- und Philosophiegeschichte nationalpolitisch. In Brinckmanns Reihe „Geistiges Europa" publiziert sie 1942 eine schmale Broschüre René Descartes, die das „Kreuzfeuer der deutschen Gegenargumente"133 gegen Descartes aus Zitaten montiert. Richter konfrontiert „französische Methodik und deutsche Geistigkeit" am Beispiel der Descartes-Rezeption von Leibniz bis Nietzsche. Die deutsche „Geistigkeit" charakterisiert sie dabei als „große Einsfühlung von Gott und Welt" seit den deutschen Mystikern und Luther: „Dieses Philosophierenmüssen aus dem Glauben und das Glaubenmüssen aus Philosophie, unsere große metaphysische Einsfühlung von Gott und Welt, findet im Kampfe mit Descartes zu immer klareren und bewußteren Ausdrucksformen unseres eigenen Wesens." 134
In den nächsten Jahren veröffentlicht sie weitere philosophisch wenig anspruchsvolle Broschüren zur deutschen Mystik, zum Gestaltwandel des religiösen Denkens seit der Reformation sowie Zur philosophischen Weiterbildung reformatorischer Denkmotive. Zeitgenössisch setzt sie sich dann mit der Existenzphilosophie Satres auseinander.135 Für die neue Universität empfiehlt Richter sich 1946 durch eine prächtig aufgemachte, philosophisch irrelevante Monographie über Leibniz und sein Rußlandbild136, 130 Dazu vgl. C. Wenzel, Lieselotte Richter. Leben und Werk der ersten deutschen Professorin für Philosophie und Theologie, Diss. Berlin 1997. 131 Richter, Der Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard. Ein Beitrag zur christlichen Existenzdarstellung, Würzburg 1934. 132 Brinckmann, Geist der Nationen. Italiener, Franzosen, Deutsche, Hamburg 1938. 133 Richter, René Descartes. Dialoge mit deutschen Denkern, Hamburg 1942, S. 12. 134 Ebd., S. 88. 135 Vgl. Richter, Philosophie der Dichtkunst. Moses Mendelssohns Ästhetik zwischen Aufklärung und Sturm und Drang, Berlin 1947; Immanenz und Transzendenz. Zur philosophischen Weiterbildung reformatorischer Denkmotive, Berlin 1948; Jean Paul Sartre oder Die Philosophie des Zwiespalts, Berlin 1949. 136 Richter, Leibniz und sein Rußlandbild, Berlin 1946, S. 21: „In der Philosophie von Leibniz war der Gedanke der Synthese und Harmonie das Höchste. Deshalb wollte er Rußland ganz besonders damit ehren, daß er ihm diese für ihn ehrenvollste Aufgabe für die Entwicklung der Menschheit zuerkannte. West-östliche Synthese wirklich gemacht in vernünftiger Planwirtschaft auf jungfräulichem Neuland [...], dies ist dem Philosophen Lebenserfüllung [...] Die Akademie zu Berlin stellt gleichsam das im kleinen dar, was er in Rußland im größten Ausmaße
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Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
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die sich, laut eigenen Angaben, „die besondere Anerkennung der russischen Behörden erwarb" 137 . Im Lebenslauf ihres Bewerbungsbogens verweist sie auf ihre aktive Mitarbeit in der kommunistischen Hochschulgruppe in Marburg seit 1930 sowie ein Lehrverbot und illegale Tätigkeit nach 1933. 138 Seit Kriegsende arbeitet sie als Volksbildungsdezernentin an der Volkshochschule Charlottenburg. Zum Habilitationsantrag schreibt Stroux, Sprangers Nachfolger, am 13. November 1945 an den damaligen Dekan der Philosophischen
Fakultät, den Altphilologen Ludwig
Deubner
(1877-1946): „Ihr Gesuch hat, wie ich unter uns bemerken möchte, etwas politischen Anstrich, da sie nach ihrer Aussage dem Zentralausschuß der Kommunistischen Partei Deutschlands angehört und dort Beraterin für Philosophische- sowie Kulturfragen ist". 139
Am 24. Juli 1946 habilitiert Richter sich lediglich „mit einem Lehrvortrag über .Englisches Philosophieren und kontinentales Denken'" 1 4 0 . Spranger 141 unterstützt diese Habilitation im März 1946 trotz gravierender Einschränkungen. Etwas positiver fällt das Gutachten von Paul Hofmann 142 aus, der auch die Umstände als Motiv der Zulassung erwähnt. Beide, Spranger wie Hofmann, betrachten Richter als Lutheranerin. Sofort erhält sie einen besoldeten Lehrauftrag und lehrt zeitweilig als der „einzige Vertreter für ,Philosophie' an der Berliner Universität" 143 . 1947/48 lehrt neben ihr für zwei Semester der junge Hans-Joachim Lieber (geb. 1923) 144 , der noch im März 1945 bei Spranger und Hartmann mit einer Arbeit über Dilthey promoviert, sich 1950 an der neugegründeten Freien Universität habilitiert und dort bald Ordinarius wird. 1948 verwirklichen möchte. Und wie Rußland die Mitte ist zwischen China und Europa, so ist Deutschland und Berlin die Mitte zwischen Westeuropa und Rußland. Und in der Mittlerstellung beider liegen die fruchtbaren Möglichkeiten der Synthese". 137 138 139 140 141
So Richter, Lebenslauf vom 7.9.1948, UAHU, PA R 409, Bd. 2, Bl. 9. UAHU, PA R 409, Bd. 2, Bl. 6. UAHU, PA R 409, Bd. 1, Bl. 19. UAHU, PA R 409, Bd. 2, Bl. 9. Gutachten vom 12.3.1946, in: UAHU, PA R 409, B d . l , Bl. 8. Sachlich ist Spranger geneigt, „zu einer Habilitation in der Theologischen Fakultät zu raten". Keiner einzigen Publikation bescheinigt er Habilitationsniveau. „Die eigentlich philosophische Legitimation der Bewerberin ist vermutlich in dem hauptsächlich von ihr bearbeiteten Leibnizband zu suchen. Dieser ist aber z. Z. nicht zugänglich". 142 UAHU, P A R 4 0 9 , B d . l , Bl. 9 - 1 2 . 143 So der Dekan Meusel in seiner Antragsbegründung vom 28.10.1947, UAHU, PA R 409, Bd. 2, Bl. 23. 144 Auf Antrag Sprangers vom 10.12.1944 wurde die Promotion als Notexamen durchgeführt (Promotionsakten UAHU, Phil. Fak. 940/941, Bl. 86-102); Dissertationsschrift: Die psychische Struktur. Untersuchungen zum Begriff einer Struktur des Seelenlebens bei Dilthey, Diss. Berlin 1945; Publikationen Liebers: Wissen und Gesellschaft. Die Probleme der Wissensoziologie, Tübingen 1952; Die Philosophie des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung, 1957.
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Teil IV: Krise
erhält Richter eine „Professur mit vollem Lehrauftrag für Philosophie". Schon im selben Jahr steht sie, ihrerseits SED-Mitglied, mangels ideologischer Linientreue unter politischem Verdacht.145 Diesem Druck entzieht sie sich durch einen Wechsel der Fakultät. Nachdem die Theologische Fakultät einen Lehrauftrag für Religionsphilosophie 1949 beantragt hat, wechselt Richter 1951 förmlich auf einen „Lehrstuhl für Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät" 146 ; 1966 wird sie wegen schwerer gesundheitlicher Leiden vorzeitig entpflichtet. Die Pflichtvorlesung zur politischen Bildung übernimmt bald Ernst Niekisch (1889-1967). Sein Leben ist ein Roman für sich, an dem der Autor fleißig strickt. Niekisch ist ein politischer Abenteurer. Schon in der Münchner Räterevolution spielt er eine fragwürdige Rolle. Als die Landtagswahlen vom 12.1.1919 eine Niederlage für die revolutionäre Regierung bringen und Eisner auf dem Weg zur ersten Landtagssitzung am 21.2.1919 erschossen wird, nullifiziert der Rätekongreß unter dem Vorsitz Niekischs die Wahlergebnisse. Daraufhin kommt es zu Turbulenzen, zu einer rein kommunistischen Räteherrschaft und einer bürgerkriegsartigen Reichsintervention. 147 Niekisch wird verhaftet. Als Nationalbolschewist, der für ein Bündnis Deutschlands mit der kommunistischen Sowjetunion plädiert, gehört er dann zu den profiliertesten antiliberalen Publizisten der Weimarer Republik. Eng befreundet mit Ernst Jünger (1895-1998), warnt er schon vor 1933 vor Hitler. Eindringlich charakterisiert er dann Das Reich der niederen Dämonen und sitzt von 1937 bis Kriegsende im KZ. Man kann ihn als ein Haupt des Weimarer Nationalbolschewismus ansehen. SPD-Mitglied seit 1917, ist er aber auch kein linientreuer Marxist. Aus dem KZ befreit, kritisiert Niekisch die Deutsche Daseinsverfehlung. Seit dem Dezember 1946 hält er die obligatorische Pflichtvorlesung „Politische und soziale Probleme der Gegenwart". Für das Sommersemester 1947 erhält er einen bezahlten Lehrauftrag. Damals wird er auch von den Universitäten Halle und Leipzig umworben. 148 Am 8. Januar 1948 beantragt Meusel als Dekan der Philosophischen Fakultät die Einrichtung einer ordentlichen Professur sowie einer Honorarprofessur für diese politische Pflichtvorlesung. Für Niekisch ist dabei die Honorarprofessur vorgesehen, während Heinz Herz als ordentlicher Professor in Vorschlag gebracht wird.149 Daraufhin wird Niekisch am 4. März 1948 zum Professor mit Sitz und Stimme ernannt. 150 Durch Fakultätsentscheidung vom 27. Juli erhält er im Herbst 1949 den Lehrstuhl. 150a 1954 wird er emeritiert.
145 Negatives Gutachten von Genösse N. Theuerkauf vom 8.10.1948, in: UAHU, PA R 409. 146 Schreiben vom 25.9.1951 mit Wirkung vom 1.10.1951, UAHU, PA R 409, Bd. 2, Bl. 50. 147 Eingehend Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S.1014ff„ 1113 ff. 148 UAHU, UK, PA Ν 110, Mappe 2, Bl. 19-23. 149 UAHU, U K , P A N 110, Mappe 1, Bl. 25. 150 UAHU, UK, P A N 110, Mappe 1, Bl. 22. 150aUAHU, UK, P A N 110, Mappe 1, Bl. 52.
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Liquidierung durch Politisierung und das Vermächtnis einer Tradition
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Im Sommersemester 1949 - die FU-Berlin ist inzwischen eröffnet - tauchen erstmals reine Kaderphilosophen im Vorlesungsverzeichnis auf. Walter Hollitscher (1911-?), als „Professor mit vollem Lehrauftrag", Klaus Zweiling (1900-1968), ab 1955 Professor für dialektischen und historischen Materialismus und Direktor des Instituts für Philosophie, sowie Kurt Hager (1912-1998). Hager ist 1946 zunächst stellvertretender Chefredakteur des Vorwärts und wird mit der Gründung der DDR 1949 zugleich Leiter der Abteilung Parteipropaganda in der SED und ordentlicher Professor, ohne eine Promotion oder Habilitation absolviert zu haben. 1954 steigt er ins Zentralkomitee der Partei auf. Er wird der Chefideologe der Partei, eine Rolle, die zum Philosophieprofessor nicht gerade qualifiziert.
i.
Kontinuitätsbruch
nach 1945: Verpflichtung aufs Vermächtnis?
Die Universitätsgeschichtsschreibung der DDR betonte den radikalen Bruch der neuen Bildungs- und Universitätspolitik mit den Verhältnissen unter dem Faschismus sowie zunehmend auch mit der bürgerlichen Wissenschaftskultur. Aus DDR-Perspektive betrachtet, hatte die anfängliche Kooperation mit den verbliebenen bürgerlichen Gelehrten in der Übergangszeit bis zur Gründung der DDR lediglich taktischen Sinn.151 Demgegenüber lassen sich „liberale Ansätze" und Möglichkeiten der Stunde Null betonen.152 Die Fakultät hatte mit ihren Bemühungen aber kein Glück. Liebert und Hofmann verstarben, Baumgardt sagte ab. Die Berufung von Lieselotte Richter war aus Sicht der Philosophie kein Gewinn. Die Funktionäre der Humboldt-Universität sahen dies bald ähnlich. Eine eingehendere Untersuchung der objektiven Möglichkeiten des Neubeginns ist hier ebenso wenig zu schreiben wie die Geschichte der Stalinisierung der Universität, die sich 1949 quasi kompensatorisch nach ihrem Gründer (und dessen Bruder) umbenannte. Da es damals noch manche gab, die an eine historische Koalition von Sozialismus und Kommunismus glaubten, mag die Umbenennung der Friedrich-WilhelmsUniversität in Humboldt-Universität nicht nur ein Akt der Tarnung gewesen sein. Viele vertriebene Mitglieder der alten Berliner Universität sahen darin aber einen Akt dreister Usurpation. Spranger soll in Tübingen vor Zorn erblichen sein, als er von der 151 Dazu vgl. z.B. die DDR-Darstellung: Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn, Berlin 1987, bes. S. 599 bzw. 648; vgl. die ausführlichere Darstellung von Gerhard Keiderling, Die Berliner Universität zwischen Fortschritt und Reaktion 1945-1948, in: Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin Nr. 23: Die Humboldt-Universität und ihre Geschichte, Berlin 1989, S. 31-51. 152 Vgl. dazu Gerd Irrlitz, Ein Beginn vor dem Anfang. Philosophie in Ostdeutschland 1945-1950, in: Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945?, hrsg. v. Walter H. Pehle u. P. Sillem, Frankfurt/M. 1992, S. 113-124, hier: 124.
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Teil IV: Krise
Namensänderung hörte. Aus heutiger Sicht erscheint sie als die klügste hochschulpolitische Maßnahme jener Jahre überhaupt. Dem steht die im Marx-Jahr 1953 auf ausdrücklichen Wunsch der SED erfolgte Anbringung der 11. Feuerbach-These im Foyer des Hauptgebäudes entgegen. 153 Es ist eine von Engels redigierte Fassung, und sie wird auf dem dunkelrotem Marmor angeschlagen, der aus Hitlers Reichskanzlei stammt. Marx mit Engels auf Hitler gebaut: Das ergibt wohl Stalin. Stalin verstirbt zwar im gleichen Jahr; die Stalinisierung und Liquidierung des philosophischen Erbes jedoch geht weiter. 1955 wendet sich der hochbetagte Greifswalder Ordinarius Günther Jacoby (1881-1969) in einer internen, an das Staatssekretariat für Hochschulwesen sowie an den Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften gesandten „Denkschrift über die gegenwärtige Universitätsphilosophie in der Deutschen Demokratischen Republik" 1 5 4 gegen den ideologischen Bruch mit der Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftlichkeit. 1956/57 demonstriert die Verhaftung und Verurteilung Wolf gang Harichs (1921-1995) 1 5 5 dann die Intoleranz der Partei gegenüber jeder Dissidens. Mit der Hochschulreform des Jahres 1969 wird die Verpflichtung auf den MarxismusLeninismus amtlich. Aus der Philosophischen Fakultät gehen Sektionen für marxistisch-leninistische Philosophie und Marxismus-Leninismus hervor. Eine andere Philosophie gibt es offiziell nicht. Die Sektion für Marxismus-Leninismus entlastet die philosophische Sektion kaum vom dogmatischen Zwang. Die Abgänger gelten offiziell als „Propagandisten" der Partei. Die Geschichte dieser Kaderphilosophie ist inzwischen in einigen Kapiteln geschrieben. 156 Eine Debatte um die philosophische Kultur in der DDR hat begonnen. Grundsätzlich muß gesagt werden, daß philosophische Arbeit im Rahmen des Marxismus-Leninismus kaum möglich war. 157 Zwar hat es bei einzelnen Personen, vor allem
153 Vgl. dazu die Berliner Ringvorlesung: Volker Gerhardt (Hrsg.), Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996. 154 Jacoby, Denkschrift über die gegenwärtige Universitätsphilosophie in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Günther Jacoby (1881-1969): Zu Werk und Wirkung, Greifswald 1993, S. 72-83. 155 Harich, Jean Pauls Kritik des philosophischen Egoismus, Berlin 1968; Zur Kritik der revolutionären Ungeduld, Bern 1971; Jean Pauls Revolutionsdichtung, Reinbek 1974. 156 Norbert Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie der DDR 1945 bis 1988, 1990; Guntolf Herzberg, Abhängigkeit und Verstrickung. Studien zur DDR-Philosophie, Berlin 1996. Zum DDR-Alltag in der Honecker-Ära jetzt vorzüglich: Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998. Es folgen die Ergebnisse einer im März 1999 an der Humboldt-Universität durchgeführten Konferenz über die „Anfänge der Philosophie in SBZ und DDR". 157 Vgl. dazu Volker Gerhardt, Philosophieren nach dem Marxismus, in: Information Philosophie Heft 5 (1996), S. 5-23; ders., Die Asche des Marxismus, in: Jahrbuch Politisches Denken 1998, S. 17-46.
14.
Die goldenen Zwanziger
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in den Jahren des „Aufbaus", schier unglaubliche Anstrengungen gegeben. Wolfgang Harich und nach ihm Wolfgang Heise (1925-1987) 158 waren durch intellektuelle Brillianz und größten persönlichen Einsatz in der Lage, ihr akademisches Publikum zu begeistern. Doch der Idealismus der philosophierenden Marxisten stand in einem unausweichlichen Widerspruch zum Partei- und Staatsapparat. So wurde jede Begeisterung für die großen emanzipatorischen Ideale des Marxismus, der hier weniger die Erbschaft Hegels, als diejenige Fichtes antrat, entweder abgefälscht oder erstickt. Blickt man auf den Ideenflug der jungen Dozenten, die sich nach 1949 den Stoff, den sie in ihren Lehrveranstaltungen zu vermitteln hatten, schnell selbst anzueignen hatten und die dennoch durch ihre theoretischen Leistungen die Bewunderung ihrer Studenten auf sich zogen, dann wird schon in der Anfangsphase der Humboldt-Universität deutlich, wie die Zukunft hier vernichtet und wie viel Idealismus hier verraten wurde. Die Zerstörung der philosophischen Vernunft datiert nicht erst seit Engels, Lenin und Stalin: Schon Marx verstellt den Zugang zur Philosophie, indem er deren Ausgang beim Individuum negiert. Diese generelle These kann für unsere historische Studie abgeschwächt werden: Die Ignorierung des Ausgangspunkts beim Individuum negiert das individualistische Profil der Berliner Tradition, wie Dilthey es formulierte. Georg Lukács (1885-1971) 159 gab die Stichworte aus, diese Lebensphilosophie als irrationalistisch und imperialistisch zu verwerfen. Baeumler erschien darin als getreuer Erbe Diltheys, Nietzsche und Dilthey als Erbe des „Irrationalisten" Schelling. Die DDRPhilosophie buchstabierte diese Linien aus, ohne das bessere Wissen, das Lukács hatte. Schon Heise distanzierte sich dabei von Lukács' „Revisionismus" und kritisierte die „bürgerliche Philosophie" nach Hegel als „Remythisierung" und „Retheologisierung", als „Wendung zur Religion".160 Die nahezu bedenkenlose Absage der auf Marxismus-Leninismus - nicht bloß auf Marx! - verpflichteten DDR-Kaderphilosophie an die Selbstbesinnung des Individuums bedeutete den denkbar radikalsten Bruch mit der Berliner Tradition. Und dieser „revolutionäre Bruch" wurde in Lehre und Forschung auch praktiziert. Bei den geringsten Zweifeln gab es Schwierigkeiten. So mußte sich Gerd Irrlitz, heute Ordinarius am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität, dort Anfang der Achtziger Jahre vor der Parteileitung dafür verantworten, daß er in seiner Vorlesung einleitend erwähnt hatte, in der Philosophie komme es auf das eigene Denken an.161 Denn der DDR ging es ja um Veränderung: allerdings nicht um die realhistorisch vollzogene Wende, die das Volk auf die Straße
158 Heise, Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964; Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin 1988; Die Wirklichkeit des Möglichen, Berlin 1990. 159 Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1953. 160 Heise, Aufbruch in die Illusion, S. 11 f., 30ff. 161 Vgl.Volker Gerhardt, Es kommt darauf an. Nachtrag zu einem Anschlag, in: ders. (Hrsg.), Eine angeschlagene These, S. 283-291, hier: 283.
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Teil IV: Krise
brachte, sondern um die marxistisch-leninistisch interpretierte und legitimierte Revolution. Diese Revolution hat sich selbst verschlungen. Sie hat, längst bevor ihr Machtapparat zusammenbrach, alle jene zerstört, die eine Zeit lang begeistert an sie glaubten. Daß dieser Glaube an die Ideale der marxistischen Revolution, vor allem an das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, gute philosophische Argumente für sich in Anspruch nehmen kann, macht einen nicht geringen Unterschied zur nationalsozialistischen Revolte. Es gibt daher auch philosophische Gründe, zwischen den Ereignissen nach 1933 und nach 1945 zu unterscheiden. Um so ernüchternder ist die Feststellung, daß sich die 12 Jahre Naziherrschaft und die 45 Jahre sozialistischer Parteidiktatur im Effekt summiert haben: Die philosophische Tradition wurde restlos abgebaut. Natürlich wurde weiterhin philosophisch gearbeitet. Man bemühte sich nicht ohne Erfolg um die Gesamtausgaben von Aristoteles, Leibniz, Marx oder Feuerbach. Es gab auch beachtenswerte Beiträge zur Geschichte der Philosophie; mit Hegel, Schleiermacher und dem Linkshegelianismus kamen dabei auch Vertreter der Berliner Tradition in den Blick. In Fragen der Wissenschaftstheorie gab es eigene Ansätze und einen behutsamen Gedankenaustausch mit dem Westen. Die ideologische Distanz ließ überdies eine produktive Entwicklung auf dem Gebiet der Logik zu. Schließlich wird niemand bestreiten, daß es in der Nischenkultur der DDR auch philosophische Zirkel gegeben hat. Da hat mancher sein marxistisches „Pulver trocken gehalten" (W. Harich), und mancher sozialistisch-humanistische Jugendtraum wurde so vor der Realität bewahrt. Mit der Konsolidierung der DDR habe einige jüngere Philosophen dem System auch ihr Interesse aufgekündigt. Aus vereinzelten Zeugnissen wissen wir, daß sich natürlich auch im Stasi-Staat die consolatio philosophiae, der „Trost der Philosophie", bewährte. Doch daraus wurde bestenfalls Belletristik oder Tagebuchliteratur. Philosophische Theorien oder auch nur Texte von einer über den Anlaß hinausreichenden philosophischen Einsicht hat es nicht gegeben. Die natürlich auch hier vorhandenen Talente, wie etwa Harich oder Heise, wurden in der Selbstrechtfertigung des Systems verschlissen. Entweder mußte man den Sozialismus verteidigen oder sich selbst gegen dessen Machthaber wehren. Kein Wunder, daß von solchen „Theorien" nach dem Ende des Sozialismus nichts mehr übrigblieb. Welches Desaster darin liegt, kann man nur ermessen, wenn man das Scheitern der DDR-Philosophie vor dem historischen Anspruch des Marxismus begreift, eine „wissenschaftliche Weltanschaung" und damit im Kern die wahre Philosophie zu sein. Dabei hätte es zumindest in einem Punkt eine originäre philosophische Frage gegeben, in der sich das Erkenntnisinteresse des Marxismus mit dem Anliegen der idealistischen Tradition verband: Es ist die Frage nach der „Selbstschöpfung des Menschen durch Arbeit". Dieser „materialistischen" Frage merkt man ihr idealistisches Erbe an. Sie wurde in der DDR als ureigenes Anliegen angesehen und in ihren anthro-
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Die goldenen Zwanziger
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pologischen, psychologischen, soziologischen und ökonomischen Aspekten in Angriff genommen. Aber die Anthropologie stand sogleich im Odium der Abweichung von der ökonomistischen Parteilinie; die soziologische Analyse hätte ein individualtheoretisches Vorgehen erfordert und sich somit ebenfalls sofort verdächtig gemacht. Blieben also nur psychologische und ökonomische Untersuchungen, die sich jedoch alsbald von der philosophischen Ausgangsfrage entfernten und lediglich nach ideologischer Brauchbarkeit beurteilt wurden. Einzig in den ökonomischen Ansätzen von Peter Ruben (geb. 1933)162 ist sie lebendig geblieben. Da aber auch dessen wissenschaftlicher Lebensweg wesentlich aus dem Kampf gegen die Kaderphilosophie bestand, liegt noch kein abschließendes Ergebnis vor. Gleichwohl bewahren seine in mehr als zwanzig Jahren im Schutz der Akademie der Wissenschaften der DDR entwickelten Überlegungen eine Erinnerung an eine Problemkonstellation, in der die Berliner Philosophie groß geworden ist. Die Formel von der „Selbstschöpfung des Menschen durch Arbeit" hat heute wohl eher einen melancholischen Klang. Wer könnte - zwei Jahrhunderte nach dem einst von Philosophen proklamierten „Tod Gottes" - noch die damals mitschwingenden antitheologischen Hoffnungen teilen? Wer hegt noch die ersatzweise vorgenommene theoretische Investition in die menschliche Arbeit? Gleichwohl bleibt richtig, daß der Mensch nicht nur sein eigenes Leben zu führen, sondern auch seine Lebensbedingungen selbst zu sichern hat. Sein Leben ist, so paradox es klingt, seine eigene Leistung. Sein Dasein ist in seine eigene Verantwortung gestellt, und seine wachsende technische Verfügung über die Konditionen seiner Lebenswelt bringt ihn der Fähigkeit zur Selbstproduktion immer näher. Also bleibt das von Kant aufgeworfene, von Fichte, Schleiermacher, Hegel und Feuerbach verschärfte, von Marx schließlich politisch radikalisierte Problem der „Selbstschöpfiing" des Menschen nicht nur virulent: Es ist - und zwar mit wachsendem Zeitdruck - das zentrale Problem der Gegenwart. Damit bleibt die Leitfrage der alten Berliner Universität bestehen. Und vielleicht ist es kein Zufall, daß sich die ersten systematischen Arbeiten der neuberufenen Berliner Professoren auf Fragen aus diesem Zusammenhang beziehen: Herbert Schnädelbachs „Theorie der Rationalität" sucht die Vernunft in den elementaren Verständigungsleistungen des Menschen. Oswald Schwemmers Anthropologie wie Kulturphilosophie umfassende Fragestellung zielt auf die „kulturelle Existenz des Menschen". Und das Problem der „Selbstbestimmung" als „Prinzip der Individualität" nimmt einen seit Kant, Fichte und Hegel tragenden Terminus auf, um ihn mit dem Anspruch von Diltheys „Selbstbesinnung" zu verbinden. Daß die historischen Arbeiten des neuen Instituts für Philosophie gar nicht anders können, als sich wesent-
162 Ruben, Dialektik und Arbeit der Philosophie, Berlin 1978; Philosophie und Mathematik, Leipzig 1979; vgl. H.-Chr. Rauh (Hrsg.), Gefesselter Widerspruch. Die Affaire um Peter Ruben, Berlin 1991.
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Teil IV: Krise
lieh mit der Geschichte jener Philosophie zu befassen, durch die der Berliner Geist geprägt wurde, namentlich mit Kant, Fichte, Schleiermacher, Hegel, Helmholtz, Dilthey, Simmel und Cassirer, versteht sich nach allem auf den vorstehenden Seiten Gesagten, so hoffen wir, von selbst.
Anhang
Siglen
Bl. HA NL PA (xy) Phil.Fak. RepSekt. Tit. UAHU UBHU UK
Blatt Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Nachlaß Personalakte Akten der Philosophischen Fakultät Repositur Sektion Titular Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität Universitätskurator
Zeittafel1
Jahr Ordinarien
Extraordinarien
Privatdozenten
1810 J.G.Fichte (1810-1814) K.W. F. Solger(1811-1819)
K. C. Krause (1814-1815) 1815 J. F.A. v. Calker (1817-1819) J. Schad (1817-1819) < H. A. Ritter (1817-1823) R. Brodersen (1818-1819) I. H.Fichte (1819-1822) E. Stiedenroth (1819-1825) Η. v. Keyserlingk (1819-1839) A. Schopenhauer (1820-1822) < L . v.Henning (1821-1825) F. E. Beneke (1821-1824)
G.W. F. Hegel (1818-1831)
1820
H.A. Ritter (1823-1833) 1825
< L . v.Henning (1825-1835) A. Schopenhauer (1826-1832) < C. L. Michelet ( 1826-1829) < F. E. Beneke (1827-1832) C. L. Michelet (1829-1893)
1 Angaben (ergänzt und korrigiert) nach J. Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers an der Universität Berlin. Bd. I: 1810-1945, Leipzig 1955. < bezeichnet eine direkte Karriere innerhalb der Berliner Universität (nicht immer in der Philosophie), [...] eine Teilzugehörigkeit oder Herkunft aus der Berliner Philosophie. Die wichtige Unterscheidung zwischen besoldeten und unbesoldeten Extraordinarien konnte hier nicht dargestellt werden. Nicht ermittelt wurden einige Daten des Ausscheidens aus der Fakultät. Es wurde dann einfach das Todesdatum oder Kriegsende angesetzt. Honorar- bzw. Titularprofessuren und Lehraufträge wurden nicht aufgeführt.
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Anhang 1830
F. E. Beneke (1832-1854) H. Steffens (1832-1845) < A. Trendelenburg (1833-1837) H. Ulrici (1833-1834) J. E. Erdman (1834-1836) J. F. L.George (1834-1856) < K . F. Werder (1834-1838) 1835 G. Α. Gabler (1835-1853) [L. v. Henning (1835-1866)] < A. Trendelenburg (1837-1872) Κ. F. Werder (1838-1893)
< K . H. Althaus (1838-1859) K.M. Kahle (1839-1845)
Lesendes Akademiemitglied: F. W. J. Schelling (1842-1848)
K. Fortlage (1842-1846) F. A. Maercker (1842-1889) Th. Mündt (1842-1848) F. Vorländer (1842-1843) < A. Helfferich (1843-1862) J. Glaser (1844-1855)
1840
O. F. Gruppe (1844-1876) 1845
Κ. H. Kirchner (1847-1860)
1850
1855
Κ. H. Althaus (1859-1886) 1860 A. Helfferich (1862-1865)
1865 F. Harms (1867-1880)
1870
J.B. Meyer (1862-1868) E. Dühring (1863-1877) W.Dilthey (1864-1867)
332
Anhang E. Bratuschek (1871-1871) J. Bergmann (1872)
E. Zeller (1872-1894)
1875