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German Pages 350 Year 2015
Gabriele Klocke Über die Gleichheit vor dem Wort
Gabriele Klocke (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der Universität Regensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Kriminologie, Strafvollzugsforschung und Erwachsenenbildung im Kriminaljustizsystem.
Gabriele Klocke
Über die Gleichheit vor dem Wort Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2004 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Diss. Univ. Bielefeld, Fak. f. Linguistik u. Literaturwissenschaft, 2003 Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gabriele Klocke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-201-5
Inhalt
I Einleitung
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II Entstehungszusammenhang Entdeckung des Forschungsthemas Interdisziplinarität: zwischen Linguistik und Kriminologie
11 11 13
III Begründungszusammenhang und theoretischer Hintergrund Hannah Arendt: sprachliches Handeln in einer Anerkennungsgemeinschaft Jean François Lyotard: Rechte der Sprecherhörer Jürgen Habermas: kommunikatives Handeln in der Lebenswelt Norman Fairclough: Kritische Diskursanalyse Zusammenfassung
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IV Der Forschungsgegenstand Die soziolinguistische Perspektive Die kriminologische Perspektive Interdisziplinarität im Rahmen des ökologischen Kulturkonzepts
29 30 33 34
V Das Forschungsfeld Zugang zum Forschungsfeld Die Forschungspartner
39 42 43
VI Die Methode Datenerhebung Teilnehmende Beobachtung Themenzentrierte Interviews Datenauswertung
47 48 49 51 56
18 20 22 25 28
Ergebnisdarstellung
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VII Über die Gleichheit vor dem Wort: die Ergebnisse Oralität Phänomenologie des Rederechts im Gefängnis Gesprächsanlässe Sprachvarietäten des Gefängnisses Gefängnisjargon 92 | Interkulturelle Kommunikation 100 | Strafvollzugliche Fachsprachen 112 | Gerücht 118 Humoristische Kommunikation Beleidigungen Einflussnahme in der Sprachgemeinschaft Distanziertes und vertrautes Sprechen Sprache und Sicherheitstechnik Von der Zwangsgemeinschaft zur Sprachgemeinschaft Sprechen über Zukunft und Vergangenheit 189 | Versprechen geben 197 Phänomenologie des Hörerrechts im Gefängnis Lügen Rechtfertigungen Anonyme Rede Mythos Geheimsprache Literalität Rechtschreibschwäche als allgemeines Problem Literarische Formen des Strafvollzugs Anträge Meldungen Gefangenenbriefkontakt Gefangenenpersonalakte Allgemeinverfügungen Tagebuch Grenzen des Daseins als Sprecherhörer Sprachliche Isolation Sprachlosigkeit Sprachhandeln und physische Aggression Zwei Exkurse Der Täter-Opfer-Ausgleich als Gesprächskultur Tiere als Ansprechinstanzen im Strafvollzug
63 64 68 75 89
201 203 221 234 237 244 246 249 250 256 260 265 269 274 277 278 291 297 302 302 327
VIII Fazit
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130 143 154 169 176 184
Vorw ort
Bedanken möchte ich mich bei all denjenigen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in vielerlei Hinsicht zum Entstehen meiner Arbeit beigetragen haben: Zuvorderst spreche ich allen Forschungspartnern meinen großen Dank und meine Anerkennung aus. Ich darf sie an dieser Stelle aus Anonymitätsgründen nicht namentlich benennen. Daneben danke ich meinem Lehrer Herrn Professor Dr. phil. Peter Finke herzlich für die fruchtbare inhaltliche und organisatorische Begleitung der Arbeiter. Von der Umsetzung meiner ersten Ideen bis zur Begutachtung hat er mir immer wieder angeraten, mich auf das Wagnis der Interdisziplinarität einzulassen. Des Weiteren bin ich dankbar dafür, in Herrn PD Dr. phil. Heiner Bielefeldt einen engagierten und kompetenten philosophischen Berater und Zweitgutachter meiner Arbeit gefunden zu haben. Den mir damals noch unbekannten Weg in die Rechtsphilosophie hat er für mich gangbar gemacht. Ich gedenke auch Herrn Prof. Dr. jur. Detlev Frehsee, der mir das für diese Arbeit unverzichtbare kriminologische Wissen vermittelt hat. Leider lebt er nicht mehr. Seit nunmehr über drei Jahren führt mich Herr Prof. Dr. jur. Henning Ernst Müller insbesondere an das Strafvollzugsrecht und das Jugendstrafrecht heran. Viele Teile dieses Wissens habe ich in meiner Arbeit verwendet. Auch hierfür und für die Bereitschaft zur inoffiziellen Begutachtung aus strafrechtlicher Perspektive sage ich ihm meinen aufrichtigen Dank. Meinem Kumpel Herrn Regierungsrat z. A. Bill Borchert sei vielmals Dank gesagt für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts aus strafvollzugspraktischer Perspektive. Die Regierungsangestellte Frau Carla-Christina Sievers sowie die Lehrstuhlsekretärin Frau Ines Jaworowski-Jeikner haben mir geholfen, indem sie streckenweise den Tele-
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
fon- und Schriftverkehr mit einzelnen Justizvollzugsanstalten regelten. Danke! Der Gustav-Radbruch-Stiftung danke ich herzlich für die finanzielle Zuwendung, mittels derer ich die Reisekosten und Unterkunftgebühren an den einzelnen Gefängnisorten aufbringen konnte. Herrn Gero Wierichs vom transcript Verlag Bielefeld meinen Dank für die angenehme Zusammenarbeit! Herzlichen Dank sage ich auch meinen Eltern, die mich in allen Forschungsphasen sowohl privat als auch organisatorisch nach Kräften angefeuert und begleitet haben. Meinem Freund Tilman bin ich dankbar dafür, dass er sich vor allem gegen Ende der Doktorarbeit sowohl als Vater unserer kleinen Tochter Johanna als auch als Korrektor und unverbildeter Kritiker meiner Zeilen besonders ins Zeug gelegt hat. Schließlich möchte ich allen meinen Nächsten danken, die den, wenn auch eigenwilligen, so doch positiven Wert meines Forschungsfeldes anerkannt haben. Damit war mir sehr geholfen. Gabriele Klocke, Regensburg im Dezember 2003
Wenn wir Gefangene oder Gefängnisbeamte reden hören, so sind wir geneigt, ihr Sprechen für ein ehrloses Gurgeln zu halten. Einer, der den Gefängnisjargon versteht, wird darin Sprache vorfinden. So können manche nicht den Menschen im Menschen erkennen. (frei nach Ludwig Wittgenstein) 8
I Einle itung
Titel und Untertitel des Buches bezeichnen zwei unterschiedliche wissenschaftliche Ansprüche, denen meine Forschungsarbeit genügen soll. Die Ausführungen „Über die Gleichheit vor dem Wort“ drücken ein normatives Erkenntnisinteresse aus: Der Forschungsarbeit liegt die sozial- und sprachphilosophisch begründete Annahme zugrunde, dass jeder Mensch ein Recht auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft hat, in der er sowohl sprechen als auch Zuhörer vorfinden kann. Die „Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug“ bildet den empirischen Forschungsgegenstand der Arbeit. In Kapitel II erfolgt zunächst eine kurze Darstellung des Entstehungszusammenhangs des Forschungsthemas. In Kapitel III erläutere ich anhand der Werke von Hannah Arendt, Jean-François Lyotard, Jürgen Habermas sowie Norman Fairclough das Zustandekommen des normativen Erkenntnisinteresses, welches darin besteht, dass die Sprachkultur des Gefängnisses daraufhin zu untersuchen ist, inwiefern sämtliche Sprecher1 der strafvollzuglichen Sprachgemeinschaft zu Wort kommen
1 In den folgenden Ausführungen verwende ich bei Personenbezeichnungen aus verschiedenen Gründen durchgehend das männliche Genus: Im Strafvollzug arbeiten und leben mehrheitlich Männer, so dass es der Realität widerspräche, hier durchgängig das weibliche Genus zu wählen. Hätte ich eine Beschreibung etwa des Krankenhauses als Institution unternommen, so hätte ich aus wohl bekannten Gründen durchgehend das weibliche Genus verwenden können. Des Weiteren war ich zum Zeck der Anonymisierung meiner Forschungspartner darauf angewiesen, die wenigen weiblichen Befragten in der Benennung zu maskulinisieren. Im engeren Sinne sind durch die maskulinisierten Benennungen die Frauen in meiner Arbeit nicht mitgemeint, denn diese verhalten sich im Strafvollzug meiner Ansicht nach häufig in einer spezifischen Weise. Auf diesen Punkt werde ich hier jedoch 9
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
und gehört werden. Kapitel IV beinhaltet eine interdisziplinäre Annäherung an den Forschungsgegenstand, in dem über die Bezugsdisziplinen Linguistik und Kriminologie hinaus der kulturökologische Ansatz als erkenntnistheoretischer Rahmen eingeführt wird. Kapitel V liefert eine knappe Beschreibung des Forschungsfeldes. In Kapitel VI wird erläutert, warum und wie ich die teilnehmende Beobachtung sowie das themenzentrierte Interview als für die Linguistik eher ungewöhnliche Erhebungsmethoden eingesetzt habe. Außerdem wird im gleichen Kapitel näher erläutert, in welcher Weise die Datenauswertung „nahe am Text“ stattgefunden hat und wie die Ergebnisse schließlich präsentiert werden. Das Kapitel VII nimmt den größten Raum der Arbeit ein. Hier werden die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt, indem in den jeweiligen Unterkapiteln einschlägige Teile des Datenkorpus sowie entsprechende linguistische Theorien einander ergänzend dargestellt werden. Die Beschreibungskategorien erfassen sowohl die Oralität als auch die Literalität des Strafvollzugs. Zur oralen Sprachkultur des Gefängnisses zählen zweifelsohne etwa die Lüge, das Gerücht, die Beleidigung sowie die Rechtfertigungstechniken – um exemplarisch nur einige zentrale Themen zu nennen. Die Beschreibung der literalen Sprachkultur umfasst in erster Linie die für die Verwaltung typischen schriftlichen Vorgänge wie Anträge und Verfügungen; sie nimmt aber auch das allgemeine Problem der Rechtschreibung im Gefängnis und die Kultur des Briefverkehrs in den Blick. Am Schluss steht als Fazit eine knappe Rückschau auf die Gesamtarbeit.
nicht näher eingehen, da das Thema „Geschlechtsspezifität und Strafvollzug“ eine eigene Forschungsarbeit wert wäre. 10
II Ents te hungs z us a mme nha ng
Die folgenden zwei Unterkapitel geben Auskunft darüber, in welchem alltäglichen und wissenschaftlichen Rahmen das Forschungsthema entstanden ist.
Entdeckung des Forschungsthemas Während meiner Tätigkeit als ehrenamtliche Organistin im Gefängnisgottesdienst fiel mir die institutionenspezifische Sprechweise der Gefängnisangehörigen auf. Sowohl Beamte als auch Gefangene verständigten sich untereinander in einer Weise, die mich einerseits häufig vom Gespräch ausschloss, die mich als Linguistin jedoch auch neugierig werden ließ. Meine ersten Literaturrecherchen im Jahr 1999 zum Thema „Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug“ ergaben, dass soziolinguistische Forschung zu diesem Thema so gut wie nicht vorhanden ist. Die Bedeutung der Sprachkultur für das Gefängnis wurde allerdings bereits mit dem Beginn der 1970er Jahre von der allgemeinen Soziologie erkannt. Donald Clemmer stellte in seiner Studie zur Gefängniskultur fest, Sprache sei „probably also the most important medium by which a culture is expressed, therefore it is necessary for us to understand those aspects of language which are characteristic of our prisoners since by its use various contacts and relations develop and the culture is reflected.”2
2 Donald Clemmer: The prison community, New York: Holt, Rinehart and Winston 1968, S. 88. 11
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Steffen Harbordt resümierte entsprechend für die deutschsprachige Strafvollzugskultur: „Die Sprache reflektiert die Kultur – auch im Gefängnis.“3 Mit Abschluss meines Projektes im Jahr 2003 liegt bereits eine weitere Arbeit zur Kommunikationskultur des Strafvollzugs vor. Der Strafrechtler Klaus Laubenthal hat ein Lexikon der Gefangenensprache verfasst.4 Seine Arbeit, die sich ebenfalls mit einem Teilaspekt der Sprachkultur des Gefängnisses beschäftigt, entspricht aus folgenden Gründen jedoch nur am Rande meinem Forschungsgegenstand: Nach meiner ersten teilnehmenden Beobachtung in einem Gefängnis fasste ich meine Eindrücke, darunter eine Liste mit Wortschatzelementen des Gefängnisjargons, in einem Aufsatz zusammen.5 Die Resonanz aus der strafvollzuglichen Praxis darauf zeigte mir jedoch, dass es aus areallinguistischer Perspektive unmöglich ist, ein für den deutschen Sprachraum allgemeingültiges Lexikon der Gefängnissprache zu erstellen.6 Der norddeutsche Gefängnisjargon etwa entspricht nur sehr bedingt dem süddeutschen. Ich entschied mich also, in meinen Forschungen hauptsächlich makrolinguistische bzw. soziolinguistische Fragestellungen zu entwickeln und weniger das Thema des Gefängnislexikons abzuhandeln.
3 Steffen Harbordt: Die Subkultur des Gefängnisses: eine soziologische Studie zur Resozialisierung, Stuttgart: Enke 1972, S. 48. Zu den Begriffen „Sprachkultur“ und „Strafvollzugskultur“ sowie zu einer allgemeinen Konzeption des in dieser Arbeit verwendeten Kulturbegriffs vgl. meine Ausführungen im Kapitel „Interdisziplinarität“. 4 Vgl. Klaus Laubenthal: Lexikon der Knastsprache. Von Affenkotelett bis Zweidrittelgeier, Berlin: Lexikon Imprint Verlag 2001. 5 Vgl. Gabriele Klocke: „Geschlossener Sprachvollzug? Erfahrungen einer Linguistin im geschlossenen Strafvollzug“, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 49 (2000), S. 17-24. 6 Die Areallinguistik beschäftigt sich mit „sprachlichen Phänomenen unter dem Aspekt ihrer räumlichen Verteilung“. Die Ergebnisse dieses Forschungszweiges werden hauptsächlich sprachkartographisch dargestellt. Hinsichtlich der Verteilung besonderer Wortschatzelemente des Gefängnisses könnte man auf einer solchen Karte etwa ersehen, dass die meisten Begriffe nur in Teilbereichen der bundesdeutschen Sprachgemeinschaft zu finden sind und dass die wenigsten sich überall finden. Die Bezeichnung für ein großes Glas mit Bohnenkaffee, „Bombe“, findet sich meines Erachtens nach bundesweit, während sich etwa die Bezeichnungen für denjenigen Gefangenen, der auf den Haftabteilungen hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernimmt, regional unterscheiden: „Hausl“ (Bayern), „Reiniger“ (Württemberg), „Schänzer“ (Baden), „Hausarbeiter“ (Norddeutschland), „Kalfaktor“ (Ostdeutschland). Vgl. zum Begriff „Areallinguistik“ auch Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Auflage, Stuttgart: Alfred Körner 2002, S. 163. 12
ENTSTEHUNGSZUSAMMENHANG
Interdisziplinarität: Zwischen Linguistik und Kriminologie Sowohl für den kriminologischen als auch für den linguistischen Laien scheinen diese beiden Fächer kaum interdisziplinäre Forschungsbereiche zu eröffnen.7 Der Forschungsanspruch der Linguistik, überall dort forschend tätig zu werden, wo gesprochen und zugehört bzw. gelesen und geschrieben wird, lässt sich jedoch problemlos auch auf originär kriminologische Forschungsgegenstände anwenden – angefangen beim (verbalen) Hergang eines Verbrechens über seine (De)konstruktion durch die Gesellschaft bis hin zur Bearbeitung des Verbrechens durch das Kriminaljustizsystem. In jedem Fall sind Sprecherhörer beteiligt.8 Für die Linguistik stellt sich schließlich die Frage, welche Methoden sie zur Erfassung ihres kriminologischen Gegenstandes wählt.9 Explorative Forschung zum Thema Sprachkultur im Gefängnis sollte meines Erachtens im Idealfall auf interdisziplinärem Wege stattfinden. Ich halte dies aus folgendem Grund für sinnvoll: Das Forschungsfeld ist stark durch dasjenige Normsystem geprägt, welches der Institution ihren Namen gibt. Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) mit all seinen ihm zugehörigen Richtlinien und Verordnungen schafft grundlegende strukturelle Vorgaben, unter denen im Gefängnis gelebt und gesprochen wird. Viele Sprechhandlungen können nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung des strafvollzuglichen Kontextes verstanden werden. Ähnlich verhält es sich mit dem intersubjektiven Verständnis von Forscherin und Forschungspartnern: Mit wachsender Kenntnis strafrechtlicher und kriminologischer Themenbereiche wurde ich von meinen Forschungspartnern zunehmend ernst genommen. Dies hatte zur Folge, dass die Beforschten sich mir gegenüber spontaner äußern konnten, ohne sich stets fragen zu müssen, inwiefern ich über ihre Lebens- bzw. Arbeitswelt vorinformiert war. Meine Heimatdisziplin Linguistik lieferte mir Grundlagentheorien, die ich bereits während und nach der Datenerhebung auf die Daten anwendete. Den Katalog linguistischer Theorien und Methoden kombinierte ich mit kriminologischen Theorien, die mir einerseits dazu verhalfen, das Forschungsfeld systematisch zu erschließen und zu beschreiben, die andererseits aber auch einen für meine Zwecke unerwartet erhellenden Wert aufweisen. 7 Abgesehen von der Kriminalistik, die sich zu kriminaltaktischen und kriminaltechnischen Zwecken der Linguistik bedient. 8 Der linguistische Terminus „Sprecherhörer“ bezeichnet im Singular einen bzw. im Plural mehrere Teilnehmer eines Gesprächs, die während des Verlaufs desselben wechselweise die Rollen der Sprecher und Hörer übernehmen. 9 Vgl. hierzu Kapitel VI. 13
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Die kriminologische Rahmung meiner linguistischen Arbeit bietet sich zudem zur Lösung eines weiteren Problems an: William Cupach und seine Mitautoren weisen in ihrem Herausgeberband „The dark side of interpersonal communication“ darauf hin, dass den Formen bedrohlicher interpersoneller Kommunikation bislang wenig Forschungsaufmerksamkeit zugekommen ist. Duck beschreibt dieses Problem wie folgt: „To acknowledge that real people really do have to deal not only with liking and loving but also with hate and dislike is to ask very serious questions about the social management and psychological consequences of the range of relational experiences, rather than simply to note that a negative side exists and then move on like a research butterfly to a new and richer topical flower.”10
Die Autoren gehen davon aus, dass dunkle Seiten der Kommunikation wie etwa Lüge, Beleidigung oder sprachliche Ausgrenzung nicht nur als Fehler oder Versehen zwischenmenschlicher Beziehungen anzusehen sind, sondern dass diese einen fundamentalen und somit normalen Teil aller Kommunikation ausmachen.11 Das Gefängnis stellt in der Wahrnehmung seiner Angehörigen und seiner externen Beobachter einen Ort dar, an dem reichlich zwischenmenschliches Konfliktpotential vorhanden ist. Die Gesellschaft hat mittels ihres Sanktionssystems einen Ort geschaffen hat, an dem die Straftäter und ihre Betreuer bzw. Bewacher zwangsversammelt sind. Welche Rolle die „dunkle Seite der Kommunikation“ dort spielt, ist einer meiner forschungsgegenständlichen Teilaspekte. Eine kritisch-kriminologische Forschungshaltung bringt meiner Ansicht nach eine besondere Eignung für die Erforschung dieses Teilaspektes mit sich, denn die Kriminologie beschäftigt sich bekanntlich hauptsächlich mit einer der dunklen Seiten des Lebens: dem abweichenden, gemeinhin als „böse“ bezeichneten Verhalten von Menschen sowie den Reaktionen anderer Menschen darauf. Das Anliegen der jüngeren, kritischen Kriminologie ist es, sich wertneutral mit dem kriminologischen Forschungsgegenstand auseinander zu setzen, das Phänomen der Kriminalität zu entdramatisieren, und die Kategorie des „Bösen“ außen vor zu lassen. Diese Erkenntnishaltung wird in meiner Arbeit ebenfalls interdisziplinär mit dem allgemeinen linguistischen Erkenntnisinteresse verbunden. 10 Steve Duck: „Statements, spoils, and serpent’s tooth: on the delights and dilemmas of personal relationships”, in: William R. Cupach/Brian H. Spitzberg (Hg.): The dark side of interpersonal communication, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1994, S. 3-24, hier: S. 11. 11 Vgl. William R. Cupach/Brian H. Spitzberg (Hg.): The dark side of interpersonal communication. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum 1994, S. 4. 14
ENTSTEHUNGSZUSAMMENHANG
Meine Ausführungen zu Methodik und Beschreibung des Strafvollzugs und seiner Sprachkultur gehen über die originären Gegenstandsbereiche der Linguistik und Kriminologie hinaus. Dies wird überall dort deutlich werden, wo es etwa um Ethologie geht, wie im Kapitel über Tiere (und Pflanzen) im Strafvollzug, wo sicherheitstechnische Aspekte des Strafvollzugs erläutert werden, und nicht zuletzt überall dort, wo der juristischen Perspektive Rechnung getragen wird, indem explizit auf Rechtsnormen Bezug genommen wird. Die Disziplinen Linguistik und Kriminologie bilden insofern lediglich zwei erkenntnistheoretische Pole, zwischen welchen sich anderen Fachdisziplinen Raum zur Erfassung und Erklärung des Forschungsgegenstandes auftut.
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III Begründungszusammenhang und theoretischer Hintergrund
Das folgende Kapitel liefert den normativen Begründungszusammenhang, in welchen die Erforschung der strafvollzuglichen Sprachkultur eingebettet ist. Habermas wies bereits 1968 darauf hin, dass keine Forschung stattfindet, ohne dass nicht ein mit ihr verbundenes Interesse den Gang und die Ergebnisse der Forschung maßgeblich beeinflusst.12 Meiner Ansicht nach lässt sich die angewandte linguistische Forschung häufig in den Dienst der Praxis stellen, ohne dabei Angaben über ihr eigenes Erkenntnisinteresse zu machen. Beispielhaft seien hier Arbeiten zur Erforschung der Unternehmenskommunikation genannt. Während in diesem Forschungszweig ursprünglich der Zugewinn an linguistischer Erkenntnis im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten stand, ist für die gegenwärtige Forschungstätigkeit in diesem Bereich festzustellen, dass sie offenbar schwerpunktmäßig wirtschaftlichen Interessenmaximen gehorcht, freilich ohne dass dies zugegeben wird. Als beispielhaft für meine hier formulierte Kritik nenne ich den jüngsten Herausgeberband zum Thema linguistische Unternehmenskommunikation von Michael BeckerMrotzek und Reinhard Fiehler.13 Darin sind eine Reihe von Beiträgen gesammelt, die sämtlich nur sporadisch angeben, zu welchem Zweck Forschung zur Unternehmenskommunikation betrieben wird. Ich habe gegen eine praxisorientierte Ausrichtung des Erkenntnisinteresses grundsätzlich nichts einzuwenden – Wissenschaft muss sich, so sie keine Grundlagenforschung betreibt, auch in den Dienst der Praxis stellen las12 Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. 13 Vgl. Michael Becker-Mrotzek/Reinhard Fiehler (Hg.): Unternehmenskommunikation, Tübingen: Narr 2002. 17
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
sen. Meine Kritik ist nicht auf den Forschungsgegenstand oder die Methode bezogen, sondern richtet sich auf das Fehlen eines wichtigen Kriteriums für wissenschaftliche Güte: den nicht benannten Entstehungsund Begründungszusammenhang des jeweiligen Forschungsprojekts. Die theoretische Rahmung meine Arbeit entspricht in dieser Hinsicht nicht den gängigen linguistischen Arbeiten zur Unternehmenskommunikation, da ich anhand sozial- und sprachphilosophischer Theorien zu Beginn explizit darlege, welches Erkenntnisinteresse ich in meiner Arbeit verfolge.
H a n n a h Ar e n d t : s p r a c h l i c h e s H a n d e l n i n e i n e r An e r k e n n u n g s g e m e i n s c h a f t Hannah Arendt erkennt unter den drei menschlichen Tätigkeitsformen Arbeiten, Herstellen und Handeln das sprachliche Handeln als die für menschliches Zusammenleben wichtigste Handlungsform. Die Sprache ermöglicht Intersubjektivität, in der die Verschiedenheit menschlichen Daseins zutage tritt: „Denn was immer Menschen tun, erfahren, wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann [...]. Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können.“14
Für Arendt liegt in der gemeinschaftlichen Sprechhandlungsfähigkeit das Kriterium für menschenwürdiges Leben begründet. Menschen kommt die Fähigkeit zu, sich im sprachlichen Miteinander des geistigen Überlebens in der Welt und damit der eigenen Identität zu versichern. Für Arendt ist die Sprachfähigkeit des Menschen gleichbedeutend mit der „schieren Gelegenheit“ das zu „artikulieren und zu aktualisieren“, was sonst nur erlitten oder erduldet würde.15 In einer solchen Anerkennungsgemeinschaft kann der Mensch sich seinem Gegenüber erzählend offenbaren und sein Anderssein biographisch begründen. Er bildet durch seine Sprechhandlungen Identität aus. Menschen haben zudem mit dem Mittel der Sprache die Möglichkeit, sich zu erklären, wenn sie sich in ihrer Pluralität gegenseitig im Wege stehen und aneinander existentiell scheitern. Was Schuld ist, wird darum im Gespräch ausgehandelt. Arendt entwirft das Konzept einer Gemeinschaft, die, um überleben zu können, Beziehungs- und Konfliktarbeit leisten muss. Sie geht davon aus, dass 14 Hannah Arendt: Vita activa, 10. Auflage, München: Piper 1998, S. 12. 15 H. Arendt: Vita activa, S. 264. 18
BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG
der Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder Handlungen vollzieht, die ihn an anderen Menschen schuldig werden lassen. Der Mensch kann anhand der Pluralität seiner Biographie- und Erfahrungswerte die Zukunft nur vage voraussehen und Auswirkungen gegenwärtiger Handlungen nur schwer einschätzen. Was geschieht, wenn ein Mitglied einer Anerkennungsgemeinschaft sich in seiner Selbst- und Zukunftseinschätzung irrt? Was sind die Folgen, wenn seine Lebenslage aus subjektiver Perspektive zu einer Notlage geworden ist, wenn ein Mensch schlicht einer anderen Handlungslogik folgt als seine Mitmenschen dies tun?16 Der Bestand der Anerkennungsgemeinschaft wäre gefährdet, könnten Menschen einander nicht gegenseitig, vermittelt über das Medium Sprache, diese unterschiedlichen Positionen erzählen und erklären, bevor oder nachdem sie handelnd tätig werden oder wurden. Eigens zum Zweck der Bewältigung dieser Verhaltensanforderung haben sich innerhalb der Anerkennungsgemeinschaft verbale Aktionsformen herausgebildet, die den Menschen im Fall einer Fehlleistung vom absoluten Schuldigwerden gegenüber anderen entbinden: Durch aufrichtiges biographisches Erzählen können alle Beteiligten ihre Lage erläutern. Mit dem aufrichtigen Versprechen, sein Bestes zur Wiedergutmachung zu geben, signalisiert der Schuldige, dass er sein Unrecht einsieht und bearbeiten will; über das Verzeihen bzw. Vergeben wird ihm der Wiedergutmachungskredit gewährt.17 Das Gelingen des Versprechensaktes hängt nun nicht nur von der Authentizität des Versprechens ab, sondern auch von der Bereitschaft des Gegenübers, zu verzeihen. „Das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, [...] – liegt in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten.“18
Damit ist der Blick des Aktionsorientierten nach vorn auf die Optionenvielfalt der Gegenwart und Zukunft gerichtet, während der Blick der Lageorientierten rückwärts in Richtung Verfehlungsmoment gerichtet ist. Nach Arendt macht das Versprechen den Menschen „für sich selbst berechenbar und die Zukunft verfügbar.“19 16 In der Kriminologie gibt es eine ganze Reihe von Kriminalitätstheorien, die sich mit solchen Lebenslagen beschäftigen. Vgl. eine aktuelle und knappe Zusammenfassung sämtlicher wichtiger Kriminalitätstheorien in Karl-Ludwig Kunz: Kriminologie, Bern: Haupt 2001, S. 99 ff. 17 Vgl. H. Arendt, Vita activa, S. 300-317. 18 Vgl. H. Arendt, Vita activa, S. 301. 19 Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 314. 19
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Hören und Gehörtwerden sowie Versprechen und Verzeihen als essentielle Merkmale der sprachlichen Anerkennungsgemeinschaft liefern für die vorliegende Arbeit einen Teil der normativen Basis. Eine Erweiterung des arendtschen Konzeptes, welche einem linguistischen Verständnis von der Sache näher kommt, liefert Jean François Lyotard.
J e a n F r a n ç o i s L yo t a r d : Rechte der Sprecherhörer Lyotard geht von der Existenz universeller Strukturmerkmale der menschlichen Sprache aus. In seinem Aufsatz „The rights of the other“ zeigt er anhand der sprachlichen Kategorie der Personalpronomen die Universalität des Menschenrechts auf Sprecher- und Hörerschaft in einer Sprachgemeinschaft. Auf der Grundlage linguistischer Überlegungen entwirft er eine Begründung dafür, warum Sprecher ein Recht auf Zuhörerschaft haben.20 Seine Ausführungen hierzu besagen Folgendes: Lyotard verweist auf die kategoriale Unterscheidung der Personalpronomina „ich“ und „du“, welche seiner Meinung nach nicht verschmelzen können, da sie die Grundlage für das bilden, was in der Konversationsanalyse auch als „Redeübergabe“ bezeichnet wird.21 Lyotard fasst die Personalpronomina ebenso als deiktische Ausdrücke22 auf, wie das Wort „jetzt“, welches die Gegenwart der Zeit bezeichnet, von der ausgehend Zukunft und Vergangenheit entfaltet werden. Bezogen auf die Personalpronomina, welche in der sprecherdeiktischen Matrix poten20 Mit dem Recht auf Zuhörerschaft ist hier das normativ festgelegte Recht gemeint, wonach Sprecher Zuhörer für die eigene Rede beanspruchen dürfen. Vgl. zum linguistischen Konzept des Rederechts Franz Hundsnurscher: „Dialog-Typologie“, in: Fritz Gerd/Franz Hundsnurscher (Hg.), Handbuch der Dialoganalyse, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 203-238, hier: S. 215 ff. 21 Vgl. Jean-François Lyotard: „The rights of the other“, in: Stephen Shute/Susan Hurley (Hg.), On human rights, New York: Basic Books 1993, S. 135-148, hier: S. 137 f. Der linguistische Terminus „Redeübergabe“ bezeichnet den Vorgang, bei dem das Rederecht (im empirischen Sinne) von einem Gesprächsteilnehmer auf den anderen übergeht. 22 Lyotard übernimmt in seinen Ausführungen den linguistischen Begriff „Deixis“. Dieser bezeichnet nach Michael Dürr/Peter Schlobinski: Einführung in die deskriptive Linguistik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1994, S. 301 „die Bezugnahme auf Eigenschaften der Sprechsituation. Deiktisch sind jene Ausdrücke, die auf die personellen, temporalen oder lokalen Charakteristika der Sprechsituation verweisen.“ Nach H. Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 149 ist der Referenzgegenstand deiktischer Ausdrücke ohne die pragmatisch situierten Sprechsituation nicht erkennbar. 20
BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG
tielle Sprecher bzw. Hörer bezeichnen, bedeutet das temporaldeiktische Wort „jetzt“, dass ein Sprecher, der zum Zeitpunkt x eine Äußerung tätigt, zu noch unbestimmten Zeitpunkten der Zukunft y, z, ... Hörer sein wird.23 „Persons capable of speech alternately occupy the instance I and the instance you. When they say I, they are a past or future you, and when they are in the position of you, they are so because they have spoken or will speak as I. [...] the human we does not precede but results from interlocution.”24
Die Linguistik verfügt über einen Terminus, der eben diese Aussage veranschaulicht. Mit dem Begriff „Sprecherhörer“ wird angezeigt, dass jeder Sprecher auch ein potentieller Hörer und jeder Hörer auch ein potentieller Sprecher ist. Menschen sind in natürlichen Kommunikationssituationen gleichzeitig als potentielle Sprecher und Hörer, d. h. als Sprecherhörer vertreten. Personalpronomina als universalgrammatikalische sprachliche Einheiten repräsentieren die dem Menschen auferlegte Pflicht zur sprachlichen Reziprozität, das heißt die Pflicht zur wechselseitigen Anerkennung:25 Aus der Sprachfähigkeit des Menschen leitet Lyotard ab, dass diesem als potentiellem Sprecher das Recht auf eine Zuhörerschaft zukommt. In der Paarigkeit von Sprecherhörern, dem universellen Merkmal sprachlicher Reziprozität, liegt nach Lyotard die Gleichheit vor dem Wort begründet. Er bestimmt: „Let us take it, that the capacity to speak to others is a human right, and the most fundamental human right. If the use of this capacity is forbidden, [...] a harm is inflicted on the speaker thus constrained.”26
Die Verletzung („harm“) besteht darin, dass man nicht länger Teil der Sprachgemeinschaft und für niemanden mehr der Andere ist. Lyotard entwirft das Konzept der Reziprozität, um damit gegen die Todesstrafe 23 Vgl. J.-F. Lyotard: The rights of the other, S. 138. 24 J.-F. Lyotard: The rights of the other, S. 138. 25 Lyotard übersieht an dieser Stelle, dass die Verwendung von Personalpronomen jenseits des indoeuropäischen Sprachstammes nicht die Regel ist. Allerdings sind in jeder Sprache grammatikalische Kategorien vorgesehen, die funktionsanalog zu den Personalpronomen eingesetzt werden können z. B. durch grammatikalische, personendeiktische Affigierung, Infigierung oder Suffigierung. In solchen sogenannten agglutinierenden Sprachen wie etwa dem Türkischen kann sprachliche Reziprozität ebenso angelegt sein. Vgl. hierzu die einführende Literatur von David Crystal: The Cambridge encyclopedia of language, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 294 ff. und S. 90 ff. 26 Vgl. J.-F. Lyotard: The rights of the other, S. 140 f. 21
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
zu argumentieren. Was die Menschen einander ähnlich macht, ist die Tatsache, dass jeder das Bild des anderen in sich trägt: „To kill a human being is not to kill an animal of the species Homo sapiens, but to kill the human community present in him as both capacity and promise. And you also kill it in yourself.“27 Entwickelt man Lyotards Ansatz konsequent fort, ist er meiner Ansicht nach auf sämtliche Situationen anwendbar, in denen einem Menschen dauerhaft das Recht auf Sprecher- und Zuhörerschaft genommen wird. Für die vorliegende Arbeit ergibt sich daraus folgende Fragestellung: Inwiefern wird der sprachlichen Reziprozität des Menschen als anthropologischer Konstante im Strafvollzug Rechnung getragen?
Jürgen Habermas: kommunikatives Handeln in der Lebenswelt Die Theorie des kommunikativen, Handelns von Jürgen Habermas lässt sich mit Hannah Arendts Phänomenologie menschlichen Sprachhandelns in vielen Punkten verbinden. Habermas nimmt sogar explizit Bezug auf Arendts Werk, indem er ihren Machtbegriff rezipiert und ihn entsprechend seiner Vorstellung von Kommunikativität der Lebenswelt erweitert: Ähnlich wie Arendt betrachtet er Macht nicht als sozialschädliches Phänomen, sondern „als die Fähigkeit, sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen.“28 Gemäß dieser Vorstellung kann man sich auf die Suche nach Situationen begeben, in denen Macht in Gewalt umschlägt. Gewalt ist im Gefängnis bisweilen auf physischer Ebene direkt beobachtbar. Häufig ist sie jedoch erst Ergebnis struktureller Gewalt, die als solche nicht direkt beobachtbar ist, sondern sich nach Habermas derart manifestiert, dass sie solche Kommunikationssituationen verhindert bzw. zerschlägt, in denen sich Menschen sprachgemeinschaftlich konsensual und damit machtvoll formieren.29 Nach Habermas lässt sich der menschliche Interaktionsraum in ursprünglich lebensweltlich strukturierte und in systemisch steuerungsmedial gestaltete Räume einteilen: In der Lebenswelt handeln Menschen kommunikativ. Das heißt, dass lebensweltliche Rede propositional, illokutionär und expressiv auf wahrhaftige Geltung und Verständigungsori-
27 J.-F. Lyotard: The rights of the other, S. 140 f. 28 Jürgen Habermas: Politik, Kunst, Religion, Stuttgart: Reclam 1978, S. 103. 29 Vgl. J. Habermas: Politik, Kunst, Religion, S. 104 f. 22
BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG
entierung Anspruch erhebt.30 Kommunikatives Handeln findet im Mikrobereich des sozialen Raumes statt, an dem der Einzelne durch Redebeiträge am Diskurs beteiligt ist. Habermas schreibt dem kommunikativen Handeln das Potential zu, zwischen Gesprächspartnern Konsens erzeugen und Konflikte schlichten zu können. Bedingungen hierfür sind ein herrschaftsfreier Diskursraum sowie die Wahrhaftigkeit in der Rede aller in ihm Beteiligten.31 An dieser Stelle weise ich auf ein dem Gegenstand dieser Arbeit anhängendes Problem hin: Das Gefängnis ist ein Ort, an dem Herrschaft ausgeübt wird und an dem häufig sprachlich getäuscht wird. Darum ist eine diskursethische Analyse lohnend. Im Bereich der Systemwelt wird die Umgangssprache als lebensweltgestaltendes Kommunikationsmedium durch nichtsprachliche Kommunikationsmedien ersetzt. Für das Rechtssystem bedeutet dies, dass der Machtcode zwischen Menschen vermittelt. Dieser findet seine strafrechtliche institutionelle Manifestation in der Administration von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafvollzug. Dadurch werden System- und Lebenswelt entkoppelt. Bis zu einem gewissen Grad der Rationalisierung erkennt Habermas die Funktion der systemweltlichen Kommunikationsmedien als nützlich an. Ab dem Punkt allerdings, an welchem diese nicht mehr nur zur Mediatisierung der Lebenswelt beitragen sondern darüber hinausgehen, spricht Habermas von der Kolonialisierung der Lebenswelt.32 Unter Zuhilfenahme der Theorie des kommunikativen Handelns und der entsprechenden habermasschen Diskursethik ist für den Strafvollzug zu fragen, inwiefern dieser als Teil des Rechtssystems die Lebenswelt der in ihm lebenden Menschen bereits kolonialisiert hat. Recht interveniert machtmedial in die Lebenswelt, trennt die Konfliktpartner künstlich voneinander, indem es ihre ihnen eigene lebensweltliche Fähigkeit zur mikrosozialen Konfliktschlichtung nicht beachtet und verkümmern lässt. Hierbei ist zu beachten, dass der Rechtsbegriff in zweierlei Weise verwendet wird: Aus systemtheoretischer Perspektive dient er der Benennung eines Systemtyps und erfüllt damit eine deskriptive Funktion. Rechtstheoretisch betrachtet kommt dem Rechtsbegriff eine normative Funktion zu. Ich interpretiere Hannah Arendts Konzept der Anerken30 Der linguistische Begriff „Proposition“ bezeichnet eine sprachliche Bedeutungseinheit, die „durch einen Aussagesatz ausgedrückt wird und die wahr oder falsch sein kann.“ Der Begriff „Illokution“ bezeichnet das Handlungspotential eines Sprechaktes. Vgl. M. Dürr/P. Schlobinski: Einführung in die deskriptive Linguistik, S. 303, 306. 31 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bde. I + II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 141-151, 562 ff., Bd II. 32 Vgl. J. Habermas: Theorie des Kommunikativen Handelns, S. 229-293, Bd. II. 23
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
nungsgemeinschaft so, dass der Rechtsbegriff auch jenseits der Grenzen des Rechtssystems Anwendung finden sollte und zwar überall dort, wo Recht nicht allein positiv, d. h. in Form von Gesetzestexten, sondern auch in Form von universellen Kernnormen wie den Menschenrechten relevant wird. Ich vertrete des Weiteren die Auffassung, dass der Begriff „Kolonialisierung durch Recht“ nicht allein auf das habermassche Lebensweltkonzept, sondern auch auf das arendtsche Konzept der Anerkennungsgemeinschaft und, wie ich sie bezeichne, auf das Konzept einer Sprachgemeinschaft angewendet werden kann. Wenn Recht die Anerkennungs- bzw. Sprachgemeinschaft kolonialisiert, geht damit meiner Ansicht nach eine Einschränkung des (Menschen-)rechts auf Zuhörerschaft einher.33 Aus Habermas’ Theorie leite ich zwei Fragenkomplexe ab. Erstens: Wenn die Faktizität von Macht positiv als kommunikatives Miteinander und Gewalt als Zerschlagung dieses Miteinanders gesehen werden kann – in welcher Ausprägung finden sich dann diese beiden Interaktionsformen im geschlossenen Strafvollzug wieder? Zweitens: Inwiefern ist strafrechtlich strukturierter Strafvollzug überhaupt ein Ort, an dem lebensweltliches Handeln möglich ist? Verlernen Häftlinge bzw. die Bediensteten kommunikatives Handeln, indem sie ausschließlich machtmedial miteinander kommunizieren? Welche Folgen hat das für den Einsatz nichtstrafrechtlicher Instrumente der Konfliktschlichtung wie dem TäterOpfer-Ausgleich, bei dem die Konfliktparteien gerade das kommunikative Handeln beherrschen müssen? In dieser Arbeit wird jedoch kein habermasscher Vernunftoptimismus verfolgt, der den Forschungspartnern die uneingeschränkte Fähigkeit zu kommunikativem Handeln unterstellt und von der Existenz herrschaftsfreier Diskursorte ausgeht. Vielmehr soll geprüft werden, inwiefern eine Annäherung an dieses empirische Ideal im geschlossenen Strafvollzug unter der Vorgabe strafvollzugsrechtlicher Einschränkungen möglich ist und wie diese faktisch zu errei33 Der Begriff „Menschenrecht“ wird meiner Ansicht nach inflationär verwendet. Aus diesem Grund ist an den meisten entsprechenden Stellen meiner Arbeit „nur“ von einem „Recht auf Zuhörerschaft“ die Rede. Heiner Bielefeldt spricht in diesem Zusammenhang von einer „neue[n] Unübersichtlichkeit im Verständnis der Menschenrechte. [...] Die Aufwertung der Menschenrechte zum konstitutiven Bestandteil des gegenwärtigen Völkerrechts, ihre zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften und ihre Aufnahme in die sozialethische Verkündigung der christlichen Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften – dies alles hat zur Folge, daß von Menschenrechten tagtäglich auf ganz unterschiedlichen Ebenen und mit ganz verschiedenen und nicht selten einander widersprechenden Stimmen gesprochen wird.“ Heiner Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt: Primus 1998, S. 4 ff. 24
BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG
chen ist. Zu diesem Zweck sollen einschlägig Situationen aufgespürt werden, in denen Merkmale kommunikativen Handelns beobachtbar sind bzw. in denen der Kommunikationskontext kommunikatives Handeln verunmöglicht.
N o r m a n F a i r c l o u g h : K r i t i s c h e D i s k u r s a n a l ys e Aus den drei geschilderten theoretischen Ansätzen von Arendt, Lyotard und Habermas ergibt sich für das Forschungsprojekt eine kritische Forschungshaltung gegenüber dem Forschungsgegenstand. Aus linguistischer Perspektive habe ich mich dafür entschieden, die Kritik mittels des Konzepts von Norman Fairclough umzusetzen. Er favorisiert die Kritische Diskursanalyse. Fairclough kommt es als kritischem Linguisten darauf an, dass die Forschungsbeiträge seiner Disziplin nicht nur ein allgemeines Sprachbewusstsein sondern ein reflexiv-kritisches Sprachbewusstsein wecken. Dieses soll es den Sprecherhörern ermöglichen, zunächst eine Rollendistanz gegenüber dem eigenen Sprachhandeln sowie dem Sprachhandeln anderer vorzunehmen und sich dadurch der eigenen Sprecher- bzw. Hörersituation klar zu werden. Solche Situationen sind nach Fairclough immer eingebettet in größere Diskurszusammenhänge, die institutioneller oder gesamtgesellschaftlicher Art sind. Die kritische Linguistik nach Fairclough hat es sich zum Ziel gesetzt, den Einzelnen für die in der Gesellschaft sprachlich etablierten Machtverhältnisse zu sensibilisieren. Fairclough meint, „that there is an intimate relationship between the development of people’s critical awareness of language and the development of their own language capabilities and practices.“34 Diese Herangehensweise an den Forschungsgegenstand wird exemplarisch anhand der Varietätenlinguistik erläutert. Fairclough assoziiert mit dem Forschungsgegenstand dieses linguistischen Teilbereichs eine „soziolinguistische Hegemonie“.35 Er unterstellt, dass die zentralen Ergebnisse dieses Forschungszweigs auf unterschiedliche Weise verwendet werden können, je nachdem welche Deutung den Ergebnissen durch die Forscher zugeschrieben wird. Die Dokumentation etwa von schichtspezifischen Soziolekten führte zu der Frage, wie mit den einzelnen sprachlichen Varietäten in der Praxis, etwa in Schulen, umzugehen sei.36 Fairc34 Norman Fairclough: Critical discourse analysis, Harlow, England: Longman 1995, S. 27. 35 N. Fairclough: Critical discourse analysis, S. 248. 36 Ein Beispiel zur Veranschaulichung dieses forschungsethischen Themenfeldes ist die Codetheorie von Basil Bernstein, welche die Existenz eines „elaborierten“ Oberschichtcodes sowie eines „restringierten“ Unterschichtcodes postuliert. Entscheidend dabei ist, dass dieses theoretische 25
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
lough meint, dass die soziolinguistische Hegemonie sich dadurch entfaltet, dass den entsprechenden Soziolekten und damit auch ihren Sprecherinnen und Sprechern gesellschaftlicher Wert bzw. Unwert zugeschrieben wird. Dies äußert sich unter anderem darin, dass man das Sprachverhalten der Unterschichten als defizitär kennzeichnet und in diesem Bereich spracherzieherische Maßnahmen verordnet, die zu einem sprachlich angemessenen Verhalten führen sollen. Fairclough kritisiert, dass mit solchen Eingriffen nicht nur das Sprachverhalten verändert wird, sondern dass die als defizitär gekennzeichneten Personen in ihrem sprachlichen Verhalten der Gesamtgesellschaft angepasst werden sollen. Innerhalb dieser Debatte über die Angemessenheit37 von Sprachverhalten lässt sich die Soziolinguistik in den Dienst gesellschaftlicher Machtverteilung stellen. Nach Fairclough kommt es jedoch vielmehr darauf an, die Menschen unterschiedlicher Schichten über ihr eigenes Sprachverhalten aufzuklären und ihnen aufzuzeigen, in welcher Weise sie anhand ihrer Sprache in benachteiligte gesellschaftliche Positionen geraten. Fairclough sieht es darum nicht als das Ziel der Spracherziehung an, Sprechern eine Form der sprachlichen Äußerung abzugewöhnen, um ihnen eine andere zu vermitteln. Sprecher sollten vielmehr ein Bild davon haben, welches Sprachverhalten in der eigenen bzw. in anderen für sie signifikanten Schichten bzw. Sprachgemeinschaften angemessen oder praxisnotwendig ist. Sprecher sollten diese Varietäten zumindest teilweise kennen, um nicht systematisch aus gesellschaftlichen Kommunikationskontexten ausgeschlossen zu sein.38 Ich deute Faircloughs Paradigma für mein Forschungsthema so, dass kritisches Sprachbewusstsein im Gefängnis nur dann erschaffen werden kann, wenn die Angehörigen dieser Institution sich darauf einlassen, ihr eigenes Sprachverhalten und das Sprachverhalten ihrer Gesprächspartner kritisch auf diejenigen Situationen hin zu hinterfragen, in denen sie sich gerade befinden. Es gibt nicht das angemessene Sprachverhalten im Gefängnis. Forschungsleitend ist einzig die Frage, welche verschiedenen Formen von Sprachverhalten zur Wahrung der Sprecher- und Hörerrechte im Gefängnis beitragen und welche sie verhindern. In meiner Arbeit wird der Ansatz Faircloughs allerdings nicht unverändert übernommen. Konzept zu einer „Defizitthese“ ausgebaut wurde, welche sprachkompensatorische Bildungsmaßnahmen für die Unterschichtangehörigen veranlasste. Die Kritik an diesem bildungspolitischen Effekt bestand auf linguistischer Seite insbesondere in der „Differenzierungshypothese“, die auf den funktionalen Eigenwert der verschiedenen Soziolekte in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten hinweist. Vgl. H. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 349. 37 Vgl. N. Fairclough: Critical discourse analysis, S. 236. 38 Vgl. N. Fairclough: Critical Discourse analysis, S. 251 f. 26
BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG
Ich möchte Faircloughs kritisch-linguistisches Konzept insofern erweitern, dass ich nicht wie sein kritisch-kriminologischer Kollege Howard Becker parteimethodologisch die Frage „Whose side are we on?“ stelle und ausschließlich nach zweiwertiger Machtverteilungen zwischen Gefangenen und Beamten bzw. Mitarbeitern und deren Vorgesetzten frage.39 Eine solche Forschungshaltung spielt die einzelnen Angehörigengruppen des Gefängnisses gegeneinander aus. Mir ist darum weniger daran gelegen, eine ausschließlich offensiv-kritische Soziolinguistik zu betreiben als vielmehr eine vermittelnd-kritische Beschreibung dessen zu liefern, was in gefängnisspezifischer Weise Ungleichheiten vor dem Wort produziert. Dabei sollen die Forschungspartner selber mit ihren kritischen Gedanken oder innovativen Vorschlägen zu Wort kommen.40 Dieser Richtungswechsel zeichnet sich in der kritischen Linguistik allerdings bereits ab. Fairclough meint: „There have recently been proposals that Critical Discourse Analysis should partly shift its emphasis from critique of existing discursive practices to exploration of alternatives.“41 Sämtlichen Ansätzen innerhalb der kritischen Linguistik ist gemeinsam, dass in ihnen von einem Konfliktgeschehen innerhalb von Sprachgemeinschaften ausgegangen wird. Jill Woodilla, die aus der Perspektive der Organisationssoziologie einzelne diskursanalytische Forschungszweige auflistet,42 definiert den Diskursbegriff aus kritisch-linguistischer Perspektive wie folgt: „Conflicts arise when words chosen by the speaker to be understood in one Discourse are interpreted by the listener from within the ideology of another Discourse.“43 Konflikte gibt es im geschlossenen Strafvollzug zur Genüge, dies zuvorderst zwischen Insassen und Personal. Aber auch innerhalb der Gruppen kommt es zu nicht unerheblichen Interessengegensätzen. Wie diese sprachlich ausgehandelt werden, soll auf kritischem Wege ermittelt werden. Die Anwendung der in der Soziolinguistik entstandenen Kritischen Diskursanalyse bedeutet nicht, dass deren Prinzipien ausschließlich auf soziolinguistische Phänomene angewendet werden. Im weitesten Sinne geht es darum, eine kritische Kognitionsanalyse in Bezug auf den Strafvollzug zu betreiben, was letztlich alle den Strafvollzug betreffenden Disziplinen betrifft. 39 Vgl. Howard Becker: „Whose side are we on?”, in: Social problems 14 (1967), S. 239-247. 40 Der Begriff „Forschungspartner“ bezeichnet im Folgenden all diejenigen Personen, die mir während der Datenerhebungsphase als Beobachtete oder Befragte zur Verfügung standen. 41 N. Fairclough: Critical discourse analysis, S. 231. 42 Vgl. Jill Woodilla: „Workplace Conversations: The Text of organizing”, in: David Grant/Tom Keenoy/ Cliff Oswick (Hg.), Discourse and organization, London: Sage Publications 1998, S. 31-50, hier: S. 35. 43 J. Woodilla: Workplace conversations, S. 40. 27
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Zusammenfassung Meiner strafvollzuglichen Forschungsarbeit liegt aus sozialphilosophischer Perspektive die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch ein uneingeschränktes Recht auf Zuhörerschaft hat, das durch nichts verwirkt werden kann. Vor dem Wort sind alle Menschen des Gefängnisses gleich. Um diese normative Bestimmung für das empirische Thema „Sprachkultur im Gefängnis“ kompatibel zu machen, bedarf es einer Methode, die bei der Datenerhebung, bei der Datenauswertung und bei der Ergebnispräsentation die genannte Grundannahme berücksichtigt und gleichzeitig dem komplexen Forschungsgegenstand gerecht wird. Hierzu wird die Kritische Diskursanalyse herangezogen, die ein Abrücken von den traditionellen linguistischen Forschungsmethoden erlaubt. In Kapitel VI stelle ich meine an Richard Rortys Vokabularkonzept orientierte Methode der Ergebnisdarstellung vor, welche die kritische Form der Datenerhebung um eine sinnvolle Auswertungs- und Darstellungsmethode ergänzt.
28
IV Der Forschungsgegenstand
Ich will schon sagen, dass ich irgendwo auch was nicht verstehe. Wenn Sie mir gesagt hätten, das ganze ist eine Forschungsarbeit, die sich über Psychologie auslässt oder irgendwelche Dinge, ja, dann würde ich sagen, ja gut, das ist da mit drin. Sie wollen aber eigentlich, denke ich, über Sprache forschen. Nun können Sie sagen: ‚Mit irgendeinem Thema muss ich dich ja zur Sprache holen. Und die kriege ich nun jetzt auf das Band und kann ich jetzt analysieren, was du da gesagt hast. Und der Inhalt spielt für mich eigentlich gar keine Rolle. Ob du jetzt über Strafvollzug redest oder über Fußballspiele. Hauptsache ich kriege Sprache und kann die analysieren.’ Und das ist das, was ich fragen würde: ‚Was ist das, was da jetzt rauskommt? Ist es Sprache oder ist es eben doch Strafvollzug? (ein Anstaltsleiter nach dem Interview)
Der Forschungsgegenstand meiner Arbeit ist die Sprachkultur des Gefängnisses. Die von mir entworfenen Skizzen dieses Forschungsgegenstandes unterscheiden sich voneinander durch die jeweilige fachwissenschaftliche Perspektive, aus welcher man sich ihm nähert. Der soziolinguistische Aspekt der Herangehensweise bringt es mit sich, dass ein Schwerpunkt der Gegenstandsbeschreibung und -erfassung auf dem Phänomen der Sprache liegt. Der kriminologische Anteil der Empirie ermöglicht daneben eine Beschäftigung mit kontextuellen Fragestellungen wie etwa der Instanzenforschung, den Kriminalitätstheorien, der Si29
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
cherheit und Ordnung in Strafanstalten und dergleichen mehr. Viele Teile der Arbeit reichen jedoch über diesen zweifach abgesteckten Rahmen hinaus und beziehen noch weitere Disziplinen mit ein. Die folgenden drei Abschnitte dienen dazu, die thematische und methodologische Schnittmenge dieser Perspektiven aufzuzeigen und somit eine interdisziplinäre Annäherung an den Forschungsgegenstand im Rahmen der kulturökologischen Erkenntnistheorie plausibel zu machen.
Die soziolinguistische Perspektive Die Soziolinguistik ist in erster Linie eine empirische Wissenschaft: Sie beschreibt das mündliche und schriftliche Sprachgeschehen, welches in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten steht.44 Der Forschungsgegenstand meiner soziolinguistischen Studie ist die mündliche und schriftliche Sprachkultur des Gefängnisses unter besonderer Berücksichtigung der Verteilung des Rede- und Hörerrechts. Beschäftigt sich die Soziolinguistik aus systemtheoretischer Perspektive mit dem Gefängnis, so erfasst sie die funktionale Variation sprachlicher Äußerungen. Betrachtet sie das Gefängnis unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten, so erfasst sie die linguale Interaktion der Gefängnisangehörigen. In den folgenden Ausführungen kommen beide Perspektiven zum Einsatz. Der systemische Ansatz dient hauptsächlich dazu, das Gesamtsystem des Gefängnisses in seinen Teilbereichen zu analysieren. Dabei wird von den kriminologischen oder strafvollzugsrechtlichen Kategorisierungen teilweise Abstand genommen, indem, metaphorisch ausgedrückt, das Gefängnis vor dem Hintergrund eines anderen Koordinatensystems beschrieben und analysiert wird. Ergebnis dieses Vorgehens ist zum Beispiel die für Vollzugspraktiker befremdliche Beschreibungskategorie der Sprechergemeinschaft des Gefängnisses, die die Grenze zwischen Personal und Insassen aufhebt. Vielen meiner Überlegungen liegt demnach die Annahme zugrunde, das Gefängnis mit seiner Zwangsgemeinschaft aus Insassen und Personal bilde ein (sprach)kulturelles System. Der handlungstheoretische Ansatz der folgenden Kapitel ermöglicht es hingegen zu beschreiben, wie die Elemente des Systems, die ich als die Sprecherhörer auffasse, sich sprachhandelnd ihre Position erarbeiten, diese erhalten oder sich von ihr entfernen. Für Praktiker des Strafvollzugs mag diese Herangehensweise eher nachvollziehbar sein, denn sie erlaubt die Identifizierung des Einzelnen im strafvollzuglichen Kontext. 44 Modifiziert nach Werner H. Veith: Soziolinguistik, Tübingen: Narr 2002, S. 1. 30
DER FORSCHUNGSGEGENSTAND
Die Erforschung von Kommunikationskulturen und Diskursen in Unternehmen bringt einige definitorische Probleme mit sich. Im Folgenden erläutere ich knapp, wie die Begriffe „Sprachkultur“ und „Diskurs“ von mir verwendet werden.45 Unter Sprachkultur im Gefängnis verstehe ich die Gesamtheit aller sprachlichen Interaktions- und Kognitionsmuster, die regelmäßig oder auch nur vereinzelt von den Sprecherhörern des Gefängnisses eingesetzt werden. Die Unterscheidung von Interaktion und Kognition berücksichtigt die Tatsache, dass jeder verbalsprachlichen Kommunikation Kognition im Sinne von Denken vorausgeht und dass einerseits der Kognitionsraum festlegt, welche sprachlichen Begriffen und damit Handlungen der Einzelne findet und dass andererseits die zur Verfügung stehenden sprachlichen Begriffe die Grenzen der Wahrnehmung des Einzelnen abstecken. Um die beiden genannten Muster erfassen zu können, bedarf es der Konstruktion von Beschreibungskategorien, mittels derer die Sprachkultur erfasst werden kann. Die Kategorie „Ausländerregister“ ist zum Beispiel eine solche Kategorisierung, die es ermöglicht, all jenes Sprachverhalten zu erfassen, welches von Sprechern einer Erstsprache gegenüber Sprechern einer fremden Sprache eingesetzt wird.46 Während es mir relativ leicht fällt, den Begriff Sprachkultur zu definieren, besteht in der Forschung zur Unternehmenskommunikation Uneinigkeit darüber, was der Diskursbegriff bezeichnet. David Grant und seine Mitautoren stellen fest, dass „organizational discourse is poorly defined. Despite numerous theoretical antecedents, it has few clear parameters and, as a field of study, it incorporates a variety of diverse perspectives and methodologies reflecting its multidisciplinary origins.“47
Für die Zwecke der Unternehmenskommunikation wird darum festgelegt, dass Diskurse in den Organisationsprozess eines Unternehmens eingebettet sind. Über Diskurse werden Rollen ausgehandelt und festgeschrieben. Grant und Kollegen definieren den Diskursbegriff weit und behaupten, der Diskurs erst konstituiere das Unternehmen, sprich: er sei das Unternehmen. In Anlehnung an Fairclough bestimmen die Autoren 45 Für eine umfassendere Erläuterung des in dieser Arbeit verwendeten allgemeinen Kulturbegriffs im Sinne der Kulturökologie vergleiche das Kapitel „Interdisziplinarität“. 46 Vgl. hierzu das Kapitel „Interkulturelle Kommunikation“. 47 David Grant/Tom Keenoy/Cliff Oswick: „Introduction: Organizational discourse: of diversity, dichotomy and multi-disciplinarity“, in: David Grant/Tom Keenoy/Cliff Oswick (Hg.), Discourse and organization, London: Sage Publications 1998, S. 1-13, hier: S. 1. 31
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Diskurse gleichzeitig als Texte, Momente diskursiver Praxis sowie Momente sozialer Praxis.48 In meiner Forschungsarbeit übernehme ich dieses Konzept, was bedeutet, dass nicht nur die Sprechhandlungen Gegenstand meiner Erhebungsmethoden sind, sondern dass ich auch den nonverbalen Kontext in meine Datenerhebung einbeziehe, sofern dieser zum Verständnis der Sprachkultur beiträgt. Der soziolinguistischen Institutionenforschung haben sich erstmals Konrad Ehlich und Jochen Rehbein im Jahr 1980 auf theoretischer Ebene gewidmet. Sie liefern darin eine Geschichte zum Begriff der Institution und seiner Interpretation und stellen schließlich fest, dass es bis zum damaligen Zeitpunkt in der Sprachwissenschaft keine Bemühungen gegeben habe, die Institution zum Forschungsgegenstand werden zu lassen.49 Diesbezüglich hat sich während der vergangenen Jahrzehnte einiges getan: In der linguistischen Forschung haben Studien zur Kommunikation in Institutionen mittlerweile Tradition: So liegen etwa für das Krankenhaus50, die Schule51 und das Altenpflegeheim52 linguistische Institutionenstudien vor. Diese verwenden allerdings in der Regel die Methode der mikrolinguistisch ausgerichteten Gesprächsanalyse. Insofern sind die genannten Arbeiten unter methodischen Gesichtpunkten mit meiner Vorgehensweise nicht vergleichbar.
48 Vgl. Fairclough zit. n. David Grant/Tom Keenoy/Cliff Oswick: „Introduction: Organizational discourse: of diversity, dichotomy and multidisciplinarity“, in: David Grant/Tom Keenoy/Cliff Oswick (Hg.), Discourse and organization, London: Sage Publications 1998, S. 1-13, hier: S. 3. 49 Vgl. Konrad Ehlich/Jochen Rehbein: „Sprache in Institutionen.“, in: Hans P. Althaus/Helmut Henne/Herbert E. Wiegand (Hg.), Lexikon der Germanistischen Linguistik, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 338-345, hier: S. 309 50 Vgl. etwa Florian Menz: Der geheime Dialog: medizinische Ausbildung und institutionalisierte Verschleierungen in der Arzt-Patient-Kommunikation: eine diskursanalytische Studie, Frankfurt/Main: Lang 1991. 51 Vgl. etwa Konrad Ehlich (Hg.): Kommunikation in Schule und Hochschule: linguistische und ethnomethodologische Analysen, Tübingen: Narr 1983. 52 Vgl. etwa Svenja Sachweh: „Schätzle hinsitze!“: Kommunikation in der Altenpflege, Frankfurt/Main: Lang 2000. 32
DER FORSCHUNGSGEGENSTAND
Die kriminologische Perspektive Die Kriminologie ist eine empirische Wissenschaft, die sich mit der Erforschung, Verfolgung, Vorbeugung und Sanktionierung strafbaren Verhaltens beschäftigt. Dabei fragt sie insbesondere in jüngerer Zeit auch nach der Bearbeitung von Kriminalität durch das Kriminaljustizsystem, zu dem als eine der Instanzen auch das Gefängnis zählt. Die Kriminologie widmet sich also ebenfalls Institutionen, bezeichnet ihren Forschungsgegenstand jedoch als Instanzen. Sie betrachtet Mitarbeiter des Kriminaljustizsystems ebenso als ihre Forschungspartner wie auch dessen Beschuldigte. Johannes Feest etwa untersuchte mittels teilnehmender Beobachtung das polizeiliche ermessensbedingte Verhalten bei der Anzeigenentgegennahme.53 Erhard Blankenburg und Kollegen stellten in Interviews und Aktenanalysen fest, welchen Kriterien die Staatsanwälte in ihrem Entscheidungsverhalten folgen.54 Rüdiger Lautmann und Dorothee Peters untersuchten in teilnehmenden Beobachtungen und Befragungen das richterliche Entscheidungsverhalten.55 Der kritisch ausgerichtete Zweig der Kriminologie begegnet den Institutionen unvoreingenommen und wagt es immer wieder, grundlegende strafrechtliche Kategorien wie das strafvollzugliche Resozialisierungsprinzip oder sogar das Strafrecht als solches in Frage zu stellen. Ich folge diesen Positionen insofern, als sie einen heuristischen Wert für das Forschungsvorgehen haben: Die Grundhaltung, nicht alle Phänomene des Strafvollzugs als selbstverständlich hinzunehmen, eröffnet neue Perspektiven auf jeden potentiellen Forschungsgegenstand des Strafvollzugs.
53 Vgl. Erhard Blankenburg/Johannes Feest: Die Definitionsmacht der Polizei: Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf: Bertelsmann 1972. 54 Vgl. Erhard Blankenburg/Klaus Sessar/Wibke Steffen: Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin: Duncker und Humblot 1978. 55 Vgl. Rüdiger Lautmann: Justiz – die stille Gewalt: teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse, Frankfurt: Athenäum 1972. Vgl. Dorothee Peters: Richter im Dienste der Macht: zur gesellschaftlichen Verteilung von Macht, Stuttgart: Enke 1973. 33
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Interdisziplinarität im Rahmen des ökologischen Kulturkonzepts Das, was wir heute mit einem vagen, aber unentbehrlichen Begriff ‚Kultur’ nennen, hat mit natürlichen Verhaltens- und Kommunikationsformen begonnen. Kulturen sind auf diese Weise als Kulturelle Ökosysteme analysierbar und verraten durch ihre interne Organisation ihre Herkunft aus den Natürlichen Ökosystemen. (Peter Finke)
Der Untertitel meiner Arbeit sowie eine Reihe von Ausführungen in den einzelnen Unterkapiteln beinhalten den Begriff „Kultur“. Eine konzeptionelle Erklärung desselben erscheint mir an dieser Stelle notwendig, denn nur zu wenigen wissenschaftlichen Konzepten gibt es derart viele und voneinander abweichende Auffassungen. Im Folgenden soll kurz erläutert werden, warum ich mich im Rahmen meiner interdisziplinär angelegten Arbeit für ein ökologisch ausgerichtetes Kulturkonzept entschieden habe.56 Die Kulturökologie ist insbesondere in den Nichtnaturwissenschaften ein Minderheitenthema. Gregory Bateson hatte dieses Thema erstmalig Anfang der 1980er Jahre in seiner Ökologie des Geistes angesprochen.57 In den Folgejahrzehnten wurde die Kulturökologie von wissenschaftstheoretisch interessierten Forscherinnen und Forschern, darunter auch Linguisten, weiterentwickelt. Zu wichtigen gegenwärtigen Vertretern der an kulturökologischen Prinzipien ausgerichteten Ökolinguistik zählen etwa Alwin Fill, Peter Finke, Peter Mühlhäusler und Wilhelm Trampe. Dem ökolinguistischen Konzept von Sprachkultur liegt die Annahme zugrunde, dass die Kultur und mit ihr die Sprache des Menschen stets im evolutionären Zusammenhang mit dessen natürlicher Herkunft zu denken und nach ökologischen Prinzipien zu erfassen sind. Der Ökologiebegriff der Biologie steht bekanntlich für die Beschreibung und Er56 Eine ausführlichere Beschreibung der in diesem Abschnitt äußerst kurz zusammengefassten wissenschaftstheoretischen Überlegungen findet sich im Herausgeberband von Alwin Fill/Peter Mühlhäusler (Hg.): The ecolingusitics reader, New York: Continuum 2001. Einige der in diesem Kapitel angeführten strafvollzugsbezogenen Gedanken haben sich unter anderem im Gespräch mit meinem Lehrer Peter Finke ergeben. 57 Vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 34
DER FORSCHUNGSGEGENSTAND
klärung natürlicher Vielfalt in von Wechselwirkung geprägten Systemen. Auch für die Kultur lässt sich eine solche Vielfalt feststellen. Neben dem natürlichen Ökologiebegriff, der sich vornehmlich mit der Physis der Natur auseinandersetzt, ist insbesondere unter Bezugnahme auf die Evolution des handelnden Menschen, aber auch bezüglich einiger Bereiche tierischen Verhaltens, eine Beschäftigung mit der psychischen Komponente der Natur und damit der Kultur denkbar. Der Ökologiebegriff wird dabei nicht in metaphorischer Weise auf die Kultur angewendet. Nach Peter Finke wird vielmehr die konventionell physische Dimension der Ökologie um die psychische Dimension erweitert. Dies bedeutet für die Nichtnaturwissenschaften, die sich mit der geistigen Dimension des Menschen befassen, to „meet again certain organizing patterns familiar to us from the ecosystems.“58 Das Konzept der Kulturökologie fasst demnach den Geist als der Natur zugehörig auf. Beschreibungskategorien der herkömmlichen Ökologie, wie etwa die Unterscheidung von Ökosystemen, die füreinander wechselwirksame Umwelten bilden, lassen sich prinzipiell auch auf Kultur anwenden. Das Gefängnis stellt ein kulturelles Ökosystem dar, das in Wechselwirkung mit seiner Umwelt steht: Die Umwelt wirkt in Form von öffentlicher Meinung oder ehrenamtlicher Straffälligenhilfe auf das Gefängnis ein. Umgekehrt hat das Gefängnis Auswirkungen auf seine Umwelt: Nachlässigkeiten bezüglich Sicherheit und Ordnung, aber auch krasse Missachtungen des Menschenwürdeprinzips werden häufig nach außen bekannt und rufen wiederum Resonanz in Politik und öffentlicher Meinung hervor. Hier wird deutlich, dass das Gefängnis Anlass zu Wechselwirkung im ökologischen Sinne gibt: Ähnlich wie natürliche Ökosysteme Biomasse produzieren, bringen kulturelle Ökosysteme Kulturgüter hervor. Beide Produkte unterliegen dem ökologischen Kreislauf aus Produktion, Konsumtion und Reduktion. Das kulturelle Ökosystem Gefängnis produziert etwa die Kulturgüter der schuldausgleichenden Bestrafung und Resozialisierung. Die Produzenten dieses Kulturgutes sind die Organisatoren von Gefangenschaft, sprich: die Angehörigen des Kriminaljustizsystems. Die Gruppe derer, auf die das Kulturgut ausgerichtet ist, d. h. die es durchleben müssen, sind die Gefangenen, die Konsumenten. Die Gruppe derer, die es bewerten, kommentieren, kritisieren und negieren, sind die Reduzenten in Gestalt der kritischen Öffentlichkeit, der Politik oder etwa der Kritischen Kriminologie sowie der allgemeinen Strafvollzugswissenschaft.
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Vgl. Peter Finke: „Identity and manifoldness. New perspectives in science, language and politics”, in: Alwin Fill/Peter Mühlhäusler (Hg.), The ecolinguistics reader, London: Continuum 2001, S. 84-90, hier: S. 86. 35
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Doch was hat das mit Sprachkultur zu tun? Die heutigen kognitiven Subsysteme von Kultur haben sich im Rahmen der allgemeinen Evolution ausdifferenziert. Das für den Menschen wohl bedeutsamste kognitive und kommunikative Subsystem ist die Sprache. Sprache vermittelt zwischen Natur und Kultur. Mehr noch: Mit der Evolution der Sprache wurde eine Ausdifferenzierung der Kultur erst möglich. Dennoch ist die sprachliche Komponente der Kultur nicht denkbar ohne ihre schweigsame Schwester: die Kognition. Was in unseren Köpfen vorgeht, kann nicht ohne die Begriffe erklärt werden, welche sich aus der Wechselwirkung des Denkens und Sprechens ausbilden. Worüber und wie die Menschen im Gefängnis sprechen, hängt entscheidend davon ab, wie sich ihre Umwelt auf sie auswirkt. Es macht einfach einen Unterschied, ob man als Gefangener bzw. Beamter in seiner Zelle oder in seinem Dienstzimmer dumpf vor sich hinbrütet und in keiner Richtung kommunikative Kontakte aufbaut oder ob man an Freizeitgruppen teilnimmt und das eine oder andere Wort mit den Kollegen oder Mitgefangenen wechselt. Sprachliches Handeln und kognitive Begriffsbildung bedingen sich gegenseitig. Im Kapitel „Interdisziplinarität“ ist von der „dunklen Seite der Kommunikation“ die Rede, welche etwa die sprachliche Täuschung, Beleidigung oder üble Nachrede umfasst. In meiner Arbeit soll zudem von der dunklen Seite der Kognition die Rede sein: Unangenehmen oder aggressiven Sprachhandlungen gehen meistens unangenehme oder aggressive Gedanken, d. h. Kognitionen voraus. Ein Beamter, der einen Gefangenen nicht siezt sondern duzt, hat möglicherweise (aber nicht immer!) schon seit geraumer Zeit die Kognition der Geringschätzung und Herabwürdigung von Gefangenen im Kopf. Meine Arbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit den dunklen Seiten der Gefängniskultur. Das Gefängnis überhaupt als Kulturgut zu erfassen, mag manchem als ungehörig erscheinen. Ich gehe jedoch davon aus, dass Kultur nicht nur das Gute und Schöne beinhaltet, sondern dass es auch all das umfasst, was Menschen schreckt und ärgert. Im Interesse der verträglichen Funktionsfähigkeit eines kulturellen Ökosystems wie des Gefängnisses sollten, vergleichbar den natürlichen Ökosystemen, ökologische Gleichgewichte herrschen: So sollten etwa die Mitarbeiter stets darum bemüht sein, sowohl dem Sicherheits- und Ordnungsaspekt als auch dem Resozialisierungsziel gleichermaßen gerecht zu werden, oder es sollten Gleichgewichte in den Beziehungen zwischen Gefangenen und Beamten, aber auch innerhalb dieser Gruppen herrschen. In der vorliegenden Arbeit geht es in erster Linie um die verletzten Sprachgleichgewichte des Gefängnisses. Sprachgleichgewichte kann man unter grammatikalisch-syntaktischen, semantischen oder pragmatischen Gesichtspunkten beschreiben. Wie sind die Sprecher36
DER FORSCHUNGSGEGENSTAND
Hörer-Gleichgewichte im Gefängnis verteilt? Wie ist das Verhältnis zwischen Reden und Zuhören, Fragen und Antworten? Ich vermute, dass abnorme äußere Rahmenbedingungen, wie sie auch im Strafvollzug vorliegen, die Wahrung solcher sprachlicher Gleichgewichte stören oder verhindern. Im Hinblick auf den normativen Rahmen meiner Arbeit kann man die Behauptung wagen, dass die Erfüllung elementarer Bedingungen zur Gewährleistung der Sprachgleichgewichte ein Beitrag zur Achtung der Sprecher- und Hörerwürde ist. Für die Wissenschaft als einem weiteren kognitiven Subsystem der Kultur stellt sich die Frage, wie sie in Grundlagen- und Anwendungsforschung auch den widersprüchlichen Aspekten des Strafvollzugs in ausgewogener Weise gerecht werden kann. Freilich können sich Forscher auf eines ihrer methodischen oder theoretischen Paradigmen, wie etwa den Rationalismus oder den Empirismus, zurückziehen und von dessen Warte aus den Strafvollzug mehr oder weniger kritisch beschreiben. Dabei bleiben jedoch viele Facetten des Forschungsfeldes unbeleuchtet. Insbesondere die Tatsache, dass man im Forschungsfeld auf eine ganze Reihe unauflösbarer Widersprüche stößt, wird bei ausschließlicher Anwendung eines einzigen Forschungsparadigmas unterschlagen. Eine Anwendung des Konzepts der natürlich-ökologischen Nische auf die Kultur des Menschen zeigt jedoch, dass es müßig ist, den Forschungsgegenstand als einen roten Faden zu beschreiben, der sich durch das Forschungsfeld zieht. Eine Schilderung der Sprachkultur des Gefängnisses fällt darum nicht minder plural aus als eine ökologische Beschreibung der Natur. Finke bemerkt hierzu: „Unser Wissen hängt nicht nur mit anderem Wissen zusammen, sondern mit der Welt insgesamt. Zur Umwelt unserer Wissenssysteme gehören nicht nur andere Wissenssysteme, sondern auch alles andere, insbesondere ihre sprachlichen, kulturellen und natürlichen Rahmenbedingungen.“59
Aus diesem Grund umfasst meine Arbeit eine lose zusammenhängende Beschreibung unterschiedlichster Facetten des Strafvollzugs – von der Kommunikation mit Tieren im Gefängnis bis hin zur Gerüchteküche unter Gefangenen und Beamten. Man kann dieses Vorgehen auch gerne als eklektizistisch bezeichnen, wenn der Eklektizismus in diesem Fall zur Defetischisierung einiger wissenschaftlicher Paradigmen beiträgt. Ich denke darum, dass Wissenschaft nicht umhinkommt, sich an den unter59 Vgl. Peter Finke: „Das logische und das ökologische Netz. Gedanken zur Neuorientierung der Metalinguistik im Rahmen der feedback theory of science“, in: András Kertész (Hg.), Metalinguistik im Wandel. Die ‚kognitive Wende’ in Wissenschaftstheorie und Linguistik, Frankfurt/Main: Peter Lang 1997, S. 99-130, hier: S. 103. 37
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
schiedlichsten methodologischen und theoretischen Töpfen zu bedienen.60 Als einziges und letztes, aber immerhin verlässlich erfüllbares Kriterium für Wissenschaftlichkeit steht mir in meiner Forschungsarbeit dann noch die explizite, intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung jeder der zum Einsatz kommenden Methoden und Theorien zur Verfügung. Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass das Konzept der systemisch orientierten Kulturökologie nicht identisch ist mit der Allgemeinen Systemtheorie luhmannscher Prägung. Während letztere unter Auslassung von wissenschaftspragmatischer Wertung Systemtypen entwirft und ein – für meine Begriffe erschreckendes – allumfassendes Wissenschaftsparadigma aufbaut, ermöglicht der Ansatz der kulturellen Ökosysteme es dem Forscher, unter Akzeptanz unauflösbarer Widersprüche und unhintergehbarer epistemischer Horizonte, Beschreibungen von Forschungsfeldern zu liefern, die auch praktisch von Interesse sind, wenngleich sie den Leser möglicherweise im Zustand der kognitiven Dissonanz zurücklassen. Die Theorie kultureller Ökosysteme geht von der Politizität ihrer Forschungsfragen aus und erlaubt im Gegensatz zu Luhmanns Systemtheorie die Diskussion von Werten, weshalb sie sich für meine normativ gerahmte Forschung besonders gut eignet.
60 Eine radikale Konzeption „Wider den Methodenzwang“ hat Paul Feyerabend in seinem gleichnamigen Werk entworfen. Vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. 38
V Das Forschungsfeld
Also es ist nicht so, dass wir hier auf einem anderen Planeten sind. (ein Gefangener)
Das Gefängnis existiert in seiner heutigen Form deshalb, weil das Strafvollzugsgesetz und einige andere strafrechtliche Normen einen Ort für den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung sowie für die Unterbringung von Untersuchungshaftgefangenen vorsehen. In den Gesetzen, Verwaltungsrichtlinien und in weiteren Vorschriften ist das geregelt, was in der Rechtssoziologie als „geltendes Recht“ (engl: „law in the books“) bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um Erwartungen, die das Rechtssystem, in diesem Fall das Strafrecht, den Insassen und Mitarbeitern des Strafvollzugs entgegenbringt. Wie das Strafvollzugsrecht in der Praxis implementiert wird, hängt von den Personen ab, die am Strafvollzug in aktiver Weise als Beamte aber auch als Gefangene beteiligt sind. Diesen Gegenstandsbereich der strafvollzuglichen Wirklichkeit bezeichnet die Rechtssoziologie als „lebendes Recht“ (engl.: „law in practice“).61 Um dem strafvollzuglichen Laien einen systematischen Überblick über das Forschungsfeld zu geben, werde ich zunächst kurz beschreiben, in welcher Weise das Gesetz das Forschungsfeld etabliert. Danach wird auf die Akteure eingegangen, die den Strafvollzug durchführen oder erdulden und ihn sozusagen „mit Leben füllen“ und damit das Strafvollzugsrecht implementieren.
61 Vgl. Manfred Rehbinder: Rechtssoziologie, München: Beck 2000, S. 2, 45. 39
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Die für den Strafvollzug relevanten Gesetzestexte sind das Strafvollzugsgesetz (StVollzG), die Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (VVStVollzG), die bundeseinheitlich geregelten Dienst- und Sicherheitsvorschriften zum Strafvollzug (DSVollz), die Strafvollstreckungsordnung (StrVollstrO), die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO), verschiedene Gesetzestexte des Verwaltungsrechts, sowie in unterschiedlichem Umfang das anstaltsspezifische Verfügungsrecht.62 Von außen betrachtet scheint einem Laien angesichts der Regelungsfülle jeder Bereich des strafvollzuglichen Geschehens eindeutig bestimmt zu sein. In der Tat regeln die kodifizierten Normen einen erheblichen Teil des Umgangs miteinander. Allerdings sind gerade im Gefängnis, wo Menschen nicht nur arbeiten sondern auch leben, Rechtssystem und Lebenswelt wechselseitig aufeinander bezogen. Eine eindeutige Trennung beider Bereiche erscheint mir gerade für den Strafvollzug weder forschungskonzeptionell noch praktisch machbar. Das Strafvollzugsgesetz regelt im groben, wie die Strafe vollzogen wird. Es ist so allgemein gehalten, dass sich den jeweiligen Ausführenden erheblicher Ermessensspielraum bei ihrer Tätigkeit eröffnet. Das Strafvollzugsgesetz trat im Jahr 1977 in Kraft und löste ein Strafvollzugsrecht ab, das offiziell noch völlig an den Strafzwecken der negativen Spezialprävention, der positiven und negativen Generalprävention sowie am Vergeltungsgedanken orientiert war.63 Das neue Strafvollzugsgesetz macht es jedem Strafvollzugsbediensteten zur Aufgabe, in der Vollzugspraxis den Resozialisierungsgedanken umzusetzen. Gemeint ist damit ein Behandlungsvollzug. In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist es die ganz überwiegend herrschende Meinung, dass die Resozialisierung des Gefangenen das alleinige Vollzugsziel ist und dass die
62 Wird im Folgenden auf Rechtsnormen Bezug genommen, so werden diese in der Fußnote zitiert. Zum Nachschlagen insbesondere der strafvollzuglichen Gesetzestexte empfehle ich dem Rechtslaien aktuelle Kommentare zum Strafvollzugsgesetz etwa von Rolf-Peter Calliess/Heinz MüllerDietz: Strafvollzugsgesetz, 9. Auflage, München: C. H. Beck 2002, welcher auch die Strafvollstreckungsordnung sowie die Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug enthält; des Weiteren empfehle ich den sogenannten Alternativkommentar, herausgegeben von Johannes Feest/Kai Bammann: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 4. Auflage, Neuwied: Luchterhand 2000, welcher das Strafvollzugsgesetz in weiten Teilen abweichend von der herrschenden Meinung auslegt und bewertet. 63 Diese straftheoretischen Konzepte zielen auf die Abschreckung des einzelnen Straftäters, der Gesamtheit aller potentiellen Straftäter sowie auf die Bestätigung der Normgeltung gegenüber der beobachtenden Rechtsgemeinschaft ab. Vgl. für eine kurzen Überblick über die Strafgründe und Strafzwecke Franz Streng: Strafrechtliche Sanktionen, 2. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer 2002, S. 6-25. 40
DAS FORSCHUNGSFELD
Sicherung der Allgemeinheit daneben auch Aufgabe des Strafvollzugs sei. § 2 StVollzG besagt: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“
Blicke in die Medienlandschaft und in die Vollzugspraxis einzelner Gefängnisse belegen jedoch, dass Teile der Bevölkerung und der Politiker den Verwahrvollzug fordern und dass in der Praxis immer noch oder bereits wieder eben dieser vollzogen wird. Die Dienst- und Sicherheitsvorschriften beschreiben vergleichsweise präzise, wie die Arbeitsaufgaben im Strafvollzug verteilt sind, wie die Arbeitsaufteilung unter den einzelnen Diensten des Gefängnisses stattfindet und wie der Tagesablauf geregelt ist. Erläutert wird auch, wie die zentralen Sicherungsvorkehrungen auszusehen haben. Der Resozialisierungsgedanke des § 2 StVollzG ist in den DSVollz in seiner Bedeutung reduziert auf eine der „Aufgaben des Vollzuges.“ Im März des Jahres 2002 waren laut Angaben des Justizministeriums 197 Anstalten des geschlossenen Strafvollzugs in Betrieb.64 Anstalten des offenen Strafvollzugs sind nicht Gegenstand meiner sprachkulturellen Analyse. Die Beschreibung der am Strafvollzug beteiligten Personen findet sich im Kapitel „Die Forschungspartner“. Sie gibt gleichzeitig Auskunft darüber, in welcher Weise die Durchführung des Strafvollzugs vom Gesetz vorgesehen ist.
64 Schriftliche Mitteilung des Statistischen Bundesamtes am 23.12.2002. 41
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Zugang zum Forschungsfeld Sehr geehrte Frau Klocke, Ihr Schreiben [...] habe ich erhalten; das von Ihnen gewählte Thema erscheint mir für die Fortentwicklung unserer Anstalt nicht zielführend, daher sehe ich von einer Teilnahme an dem Forschungsvorhaben ab. (ein Anstaltsleiter) Wir stehen dem Forschungsvorhaben positiv gegenüber, da die Ergebnisse gegebenenfalls in die Aus- und Fortbildung der Vollzugsbediensteten eingebracht werden könnten. (Mitteilung eines Justizministeriums an seine Anstaltleiter)
Das Gefängnis ist ein von der Öffentlichkeit abgeschlossener Ort, zu dem Fremde nur sehr selten und nur nach eingehender Sicherheitsprüfung Zutritt erhalten. In einem Beitrag zur Methodologie der justizunabhängigen Gefängnisforschung habe ich erläutert, worin die formellen und praktischen Schwierigkeiten beim Zugang zu einem solchen Forschungsfeld liegen.65 Mein Weg in die Gefängnisse führte über Justizministerien und Anstaltsleiter, die mir nach ihrer Bewertung meines Forschungsdesigns Zutritt zu ihren Anstalten gewährten. Die aus meiner Perspektive wichtigsten Voraussetzungen, die zu einem Zugang zum Forschungsfeld gewährleistet sein müssen, sind die Zusicherung von Anonymität66 für die gesamte Anstalt sowie ein verstehender Forschungszugang, bei dem die Perspektive des Einzelnen übernommen wird. Dies führt fraglos zu dem Problem, nicht dem Phänomen des „going native“ zu verfallen und Teil des Forschungsfeldes zu werden. Mir ist es nicht immer gelungen, diese Distanz zum Forschungsfeld zu wahren, weshalb ich einige Passagen aus Forschungstagebüchern oder Interviewtexten streichen musste.
65 Vgl. Gabriele Klocke: „‚Pain can be instructive, however...’. Justizunabhängige teilnehmende Beobachtung im geschlossenen Strafvollzug“, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 84 (2001), S. 177190. 66 Aus diesem Grund werden sämtliche Bundesländer, Justizvollzugsanstalten sowie Personen, die an dieser Forschungsarbeit teilgenommen haben, anonymisiert. 42
DAS FORSCHUNGSFELD
Die Forschungspartner „Ich bin Sprachforscherin.“ – „Ich bin auch Forscher: Höhlenforscher.“ (Anspielung eines Gefangenen auf seine Unterkunft)
Im Folgenden wird beschrieben, welche Personengruppen am Strafvollzug beteiligt sind. Den größten Anteil der Gefängnisangehörigen bilden die Gefangenen in der Strafhaft. Im Strafvollzugsgesetz sieht der Differenzierungsgrundsatz vor, die Insassen nach Alter, Geschlecht, Haftdauer und Deliktsart zu trennen.67 Diese vom Gesetzgeber vorgesehene Homogenisierung der Insassen soll dem Anspruch nach eine bessere Behandlung ermöglichen. In den meisten Gefängnissen findet jedoch keine wirklich strikte Trennung dieser Gefangenengruppen statt, lediglich die Frauen werden in wenigen reinen Frauenanstalten oder in gesonderten Hafthäusern des Gefängnisses untergebracht. Die Sprachkultur im Frauenstrafvollzug unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Sprachkultur der Männeranstalten. Da die Frauen aber nur einen geringen Teil der bundesdeutschen Insassenpopulation ausmachen, sind sie, wenn überhaupt, nur am Rande meiner Phänomenologie der strafvollzuglichen Sprachkultur zu finden.68 Des Weiteren trifft man in geschlossenen Strafvollzugsanstalten auf Gefangene in Untersuchungshaft,69 an denen noch keine Strafe vollzogen wird, die aber faktisch unter ähnlichen Bedingungen hinter Gittern leben, wie ihre Mitgefangenen der Strafhaft. Schließlich leben in geschlossenen Strafvollzugsanstalten sicherungsverwahrte Per-
67 Vgl. § 141 I StVollzG: „Für den Vollzug der Freiheitsstrafe sind Haftplätze vorzusehen in verschiedenen Anstalten oder Abteilungen, in denen eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung gewährleistet ist.“ 68 Laut der Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2002 (Stichtag der Zählung: 31.03.2002) von ca. 60600 Strafgefangenen bzw. Sicherungsverwahrten ca. 2500 weiblichen Geschlechts. Der Anteil der Frauen im Strafvollzug macht also einen Anteil von ungefähr 2 % an der Gesamtpopulation der Gefangenengemeinschaft aus. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Rechtspflege. Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.03.2002, Wiesbaden: Metzler 2003, S. 8. 69 Auch hier ist vom Gesetzgeber eine gesonderte Unterbringung der Untersuchungshäftlinge vorgesehen, die angesichts mangelnder Raum- und Vollzugskapazität selten durchführbar ist. 43
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
sonen, das heißt Häftlinge des Maßregelvollzugs.70 Jugendliche und heranwachsende Gefangene, die eine Jugendstrafe verbüßen, sind in der Regel in Jugendjustizvollzugsanstalten untergebracht. Aber auch hier sind die Grenzen unklar. In Anstalten für den Strafvollzug sind neben nach allgemeinem oder Jugendstrafrecht verurteilten jungen Erwachsenen teilweise auch ältere Erwachsene nach dem Erwachsenenstrafrecht untergebracht. Diese faktische Heterogenität der Gefangenenpopulation in fast jeder Hinsicht führte dazu, dass ich während meiner teilnehmenden Beobachtungen Untersuchungshäftlinge gemeinsam mit Strafhäftlingen auf einer Abteilung vorfand, dass sich junge Verurteilte und ältere Lebenslängliche im Freistundenhof gleichzeitig mit mir unterhielten und dass Sicherungsverwahrte in direkter Nachbarschaft zu Häftlingen lebten, für die das Ende ihrer Haftzeit in gedanklicher Reichweite war. Nahezu alle in einem Gefängnis arbeitenden Bediensteten sind Beamte der Justiz. An der Spitze der Hierarchie stehen ein Anstaltsleiter sowie seine Vertreter. Diese sind in der Regel Juristen, vereinzelt finden sich auf diesen Posten insbesondere im Jugendstrafvollzug auch Psychologen, Soziologen oder Pädagogen. Der Anstaltsleiter ist allen Bediensteten des Gefängnisses gegenüber weisungsbefugt. Er kann und muss angesichts der Komplexität der Verantwortungsbereiche einen großen Teil seiner Aufgaben an seine Mitarbeiter delegieren. Die Verantwortung für alles, was im Gefängnis geschieht, liegt jedoch in jedem Fall bei ihm. Die einzelnen Gefängnisflügel bzw. Hafthäuser werden ebenfalls von Juristen oder ranghohen Beamten des allgemeinen uniformierten Vollzugsdienstes (AVD-Beamten) geleitet. Letztere stellt zahlenmäßig die stärkste Berufsgruppe im Gefängnis dar. Sie ist mit der Betreuung und Sicherung der Gefangenen befasst und arbeitet als einzige Bedienstetengruppe im Schichtdienst. Der AVD gliedert sich in unterschiedliche Dienstgrade und verfügt über Abteilungsleiter, Bereichsdienstleiter und Vollzugsdienstleiter. Daneben gibt es noch die vergleichsweise kleine 70 Der Unterschied zwischen einem Gefangenen in Strafhaft und einem Sicherungsverwahrten besteht darin, dass der Strafhäftling aufgrund seiner Schuld eine Freiheitsstrafe verbüßt, während der Sicherungsverwahrte zu reinen Präventionszwecken im Gefängnis untergebracht wird. In diesem Unterschied erkennt man die Zweispurigkeit des bundesdeutschen Strafrechts: Die straforientierte Spur ist an der Tat ausgerichtet und damit vergangenheitsorientiert. Die maßregelorientierte Spur des Strafrechts ist am Täter sowie an der Prävention und Sicherung orientiert und somit zukunftsorientiert. Beachtenswert hierbei ist, dass den Sicherungsverwahrten, anders als den Strafgefangenen, kein Übel zugefügt werden soll. Sie sollen lediglich sicher untergebracht werden. Dennoch sind Strafgefangene und Sicherungsverwahrte gleichermaßen in Justizvollzugsanstalten anzutreffen. Die Sicherungsverwahrung kann gemäß § 66 StGB vom Gericht für die Zeit nach der Verbüßung einer Strafhaft angeordnet werden. 44
DAS FORSCHUNGSFELD
Gruppe der Fachdienste, bestehend aus Sozialarbeitern, Psychologen und Pädagogen bzw. Lehrern und Ärzten. Die Sozialarbeiter organisieren Haftentlassungsvorbereitung, betreiben Schuldnerberatung oder kümmern sich um die Angehörigenbetreuung. Die Psychologen sind in erster Linie mit der systematischen Behandlung und Therapie der Gefangenen befasst, erstellen aber auch Bewährungsprognosen für Gefangene und sollen auch für Bedienstete, die Probleme bei der Arbeit haben, zur Verfügung stehen. Die Pädagogen und Lehrer sind hauptsächlich in der Schule der Anstalt tätig und gewährleisten, dass die Gefangenen einen Schulabschluss machen können, oder vermitteln ausländischen Gefangenen Deutsch als Fremdsprache. Der Arzt arbeitet in der Krankenabteilung des Gefängnisses, in der es je nach Gefängnisgröße sogar richtige Krankenzimmer gibt. In der Krankenpflege arbeiten allgemeine, in Weiß „uniformierte“ Vollzugsbeamte, die zusätzlich über eine Sanitäter- oder Krankenpflegeausbildung verfügen. Eine Sonderstellung nehmen die Gefängnisseelsorger der beiden großer Konfessionen ein, die je nach Gefängnisgröße entweder ihre volle Arbeitszeit in der Anstalt verbringen oder nur eine Teilzeitstelle haben und auch noch eine andere, „freie“ Gemeinde betreuen. Die Gefängnisseelsorger sollen zunächst den religiösen Bedürfnissen der Gefangenen entsprechen und z. B. Gottesdienste abhalten und Beichtgespräche führen. Darüber hinaus organisieren sie Theatergruppen oder führen seelsorgerliche Gespräche. Der Anstaltsseelsorger ist als einziger Mitarbeiter des Gefängnisses sozusagen zwei Dienstherren verpflichtet, nämlich dem Anstaltsleiter und der Aufsichtsbehörde einerseits und dem Landeskirchenamt bzw. des (Erz-)bischöflichen Ordinariats andererseits.71 Die meisten Gefängnisse verfügen über Arbeitsbetriebe, in denen Werkdienstbeamte arbeiten. Diese haben in der Regel Ausbildungen und teilweise auch Meisterprüfungen etwa in den handwerklichen Bereichen Schreinerei, Schlosserei, Druckerei, Gärtnerei und dergleichen abgelegt sowie die Ausbildung zum AVD-Beamten abgeschlossen. Sie teilen die Gefangenen für die Arbeit ein und betreuen diese dabei. Die Meister unter den Werkdienstbeamten bilden Gefangene in einem Beruf aus. Das Strafvollzugsgesetz erhebt mit der Einrichtung einer Strafvollzugskonferenz und mit der Erwartung, der Gefangene solle an seiner Resozialisierung aktiv mitwirken, einen kommunikativen Anspruch. Der Begriff „Konferenz“ bezeichnet die Zusammenarbeit der Mitarbeiter des Strafvollzugs: Sämtliche Bedienstete des Strafvollzugs sind dazu an71 Strafvollzugskonzeptionell gehören Seelsorger nicht der Gruppe der Fachdienste an. Auch in deren Selbstverständnis wird die Autonomie der seelsorgerlichen Tätigkeit betont. In meiner Arbeit zähle ich aus Gründen der methodischen Vereinfachung die Seelsorger zur Gruppe der Fachdienste. 45
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
gehalten, zum Zweck der besseren Zusammenarbeit unter Anhörung des Gefangenen regelmäßig zu Vollzugskonferenzen zusammenzukommen, um jedem Gefangenen eine Resozialisierung zu ermöglichen.72 Wie regelmäßig diese Konferenzen stattfinden, hängt einerseits davon ab, wie das Vollzugsverhalten und Eingabeaufkommen des Gefangenen ist und ob die Mitarbeiter sich andererseits ernsthaft um die Resozialisierung des Gefangenen bemühen. So kann es passieren, dass bei langjährig Inhaftierten ausführliche Vollzugskonferenzen nur alle paar Jahre stattfinden, während für Jugendliche, Kurzstrafengefangene oder für Gefangene von sozialtherapeutischen Abteilungen Vollzugskonferenzen sogar im wöchentlichen Rhythmus einberufen werden.
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Vgl. §§ 154 I, 159 StVollzG: „Alle im Vollzug Tätigen arbeiten zusammen und wirken daran mit, die Aufgaben des Vollzuges zu erfüllen.“ [...] „Zur Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplanes und zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen im Vollzuge führt der Anstaltsleiter Konferenzen mit an der Behandlung maßgeblich Beteiligten durch.“ Siehe auch § 4 I StVollzG: „Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern.“
VI Die Methode
Ich weiß, „Menschlichkeit“ ist ein sehr unklarer Begriff, aber man kann ihn erklären. Und da frage ich, was ist besser: ein Dasein als ein nicht zu kluger, aber auch nicht zu dummer Alltagsmensch mit der Fähigkeit zu Liebe, Trauer, Sympathie oder ein Dasein als Superwissenschaftler mit dem Gefühlsleben einer Bettwanze? (Paul Feyerabend)
In den folgenden Kapiteln wird beschrieben, mit welchem methodischen Vorgehen die Datengrundlage dieser Arbeit erhoben wurde und in welcher Weise deren Auswertung erfolgte.
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Datenerhebung Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr und schrieb, noch des nachts, die Gesänge der Vielfalt vor. (Ingeborg Bachmann)
Die Datenerhebung führte ich mit den für die Linguistik seltener üblichen Instrumenten der teilnehmenden Beobachtung und dem themenzentrierten Interview durch. Ich begründe meine Methodenwahl wie folgt: Das Gefängnis ist ein für sozialwissenschaftliche oder geisteswissenschaftliche Forschung schwer zugänglicher Ort, an dem aus meiner Sicht insbesondere die klassischen Forschungsmethoden der Soziolinguistik, wie etwa die Gesprächsanalyse, nicht durchführbar sind. Sämtliche Forschungsmethoden, bei denen während der normalen Vollzugspraxis ein Aufnahmegerät läuft, würden meines Erachtens zu besonders stark ausgeprägter sozialer Erwünschtheit im Verhalten der Forschungspartner führen. Diese Feststellung wird dann einsichtig, wenn man berücksichtigt, dass nahezu alle Angehörigen des Gefängnisses ein Interesse daran haben, selber in gutem Licht dazustehen und sich in der Praxis vor anderen keine Blöße zu geben: Gefangene sind daran interessiert, dass nichts – auch nicht die Inhalte einer zu wissenschaftlichen Zwecken aufgenommenen Tonbandaufnahme – in der Vollzugsplanung gegen sie verwendet werden kann. Beamte hegen ähnliche Bedenken hinsichtlich ihrer eigenen beruflichen Karriere im Strafvollzug. Das Tonband als Instrument der situativen und spontanen Datenerhebung verkommt in den Augen der Strafvollzugsangehörigen wohl allzu schnell zu einem gegen sie gerichteten Beweismittelmedium. Als teilnehmende Beobachterin übernimmt man hingegen eher die Rolle einer Praktikantin. Mit der Funktion eines Praktikanten sind Gefängnisangehörige vertraut, denn Praktikantinnen der Psychologie, Sozialarbeit oder Rechtswissenschaft treten häufig in Justizvollzugsanstalten in Erscheinung. Der Einwand, auch beim themenzentrierten Interview laufe ein Tonband mit, erscheint zunächst berechtigt. Beim näheren Betrachten der Interviewsituation zeigt sich jedoch, dass die Voraussetzungen, unter denen der Forschungspartner am Interview teilnimmt, völlig andere sind als in der situativ angesetzten spontanen Tonbandaufnahme zum Zweck der Gesprächsanalyse: Die Befragten stellen sich dem Interview freiwillig zur Verfügung und werden vorab über das Forschungsthema informiert. Sie können zu jedem Zeitpunkt der Befragung oder Datenauswertung ihre Teilnahme zurückziehen. Da sie zum Zeitpunkt der Datenauswertung 48
DIE METHODE
mit der Interviewerin allein sind und die Daten anonymisiert werden, sind sie zumindest auf das Verhalten der sozialen Erwünschtheit gegenüber ihren Kollegen oder Mitgefangenen nicht angewiesen. Sie haben als Befragte kein kritisches Publikum. Die Wahl der teilnehmenden Beobachtung und des themenzentrierten Interviews als Erhebungsinstrumente hat neben den praktischen feldforschungstechnischen Überlegungen allerdings auch den theoretischen Grund, dass dieser Arbeit das erkenntnistheoretische Forschungsparadigma von Norman Fairclough zugrunde liegt. Nach Fairclough soll nicht primär das objektive sprachliche Geschehen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sondern vielmehr die Positionierung der einzelnen Sprecherhörer in der Sprachgemeinschaft.73 Was strafvollzugliche Sprachkultur ist, wird nicht nur aus meinen, sondern in erster Linie aus den Beschreibungen der Gefängnisangehörigen hervorgehen.74 Das gelingt am besten mittels der klassischen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden der teilnehmenden Beobachtung und des Interviews. Jill Woodilla erklärt, warum sich gerade Norman Faircloughs Konzept besonders gut dazu eignet, die Makrolinguistik von Organisationen zu erfassen: Der Forscher identifiziert im Gespräch mit seinen Forschungspartnern problematische Momente, in denen Bedeutungen rivalisieren. Damit werden verschiedene Ebenen des Diskursgeschehens verbunden. Die für die Forscherin kleinste informative Dateneinheit ist damit das Argument des jeweiligen Forschungspartners.75 Im Folgenden wird näher erläutert, wie die teilnehmende Beobachtung und das themenzentrierte Interview zum Einsatz kamen.
Teilnehmende Beobachtung Ethnography literally means writing about the others. (Frederick Erickson)
Die teilnehmende Beobachtung kann für eine justizfremde Person im Gefängnis nur in geringem Maß „teilnehmend“ im engeren Wortsinne sein: Ein Forscher darf sich etwa aus datenschutzrechtlichen oder Sicherheitsgründen weder im gesamten Haftbereich teilnehmend bewegen, noch darf er die hoheitlichen Aufgaben der Beamten übernehmen. Für Forschungen auf Männerabteilungen gelten insbesondere für Forsche73 Vgl. das Kapitel „Gesprächsanlässe“. 74 Mit dem Begriff „Gefängnisangehörige” bezeichne ich im Folgenden sämtliche Personen, die sich regelmäßig oder immer im Gefängnis aufhalten. 75 Vgl. J. Woodilla: Workplace conversations, S. 34. 49
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
rinnen Einschränkungen, welche sich aus der Geschlechterdifferenz ergeben. Die teilnehmende Beobachtung bedeutete im vorliegenden Fall, dass ich bisweilen mit Gefangenen in Hafträumen, bei Freizeitveranstaltungen oder im Freistundenhof zwanglos ins Gespräch kam und dass ich für Beamte kleine Botengänge übernahm oder bisweilen die Essensausgabe begleitete. Dabei führte ich für die Forschungspartner offen ersichtlich ein Forschungstagebuch. In dem ersten von mir beobachteten Gefängnis führte ich zunächst ein unstandardisiertes Tagebuch, um Eindrücke von den strafvollzuglichen Situationen vor Ort zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt war auch noch nicht klar, welche Forschungsmethode ich letztendlich zu meinen Forschungszwecken einsetzen würde. Nach einigen Tagen in diesem Gefängnis wurde deutlich, dass das Gefängnis für eine forschende Fremde immer ein besonders exotischer Ort bleiben würde. Die Erstellung von standardisierten Fragebögen inklusive einer Operationalisierung von Variablen wäre zu diesem Zeitpunkt ein nutzloses Unterfangen gewesen, da sich mir das Gefängnis auch nach der ersten Beobachtung als fremder Ort darstellte. Die möglichen linguistischen Themen sollten also zunächst weiter exploriert werden. Für die darauffolgenden teilnehmenden Beobachtungen in Justizvollzugsanstalten anderer Bundesländer erschien mir die Methode der ethnographischen Beschreibung am sinnvollsten: Mit ihr konnte ich den situativen Kontext des Sprachhandelns und das Sprachhandeln als solches gleichzeitig in meinen Beobachtungen berücksichtigen. Daneben war es mir aus ethnographischer Sicht jederzeit möglich, mich den Strukturen, die den einzelnen Sprechsituationen übergeordnet sind, zu widmen. Anhand der ethnographischen Beschreibung dokumentiert die Forscherin die Sprachkultur einer Gesellschaft wie der des Gefängnisses auf qualitativ-deskriptive Weise.76 Dabei ist sie nicht an strenge Vorgehensmuster gebunden, sondern kann ihr Vorgehen flexibel an den Bedingungen des Forschungsfeldes ausrichten. Häufig wird in der ethnographischen Forschung die teilnehmende Beobachtung mit der Methode der Befragung kombiniert.77 Diese Forschungsfreiheit kam mir insofern entgegen, als ich mehrere Gefängnisse besuchte und bei weitem nicht in allen zu einer teilnehmenden Beobachtung kam. Des Weiteren erlaubt die ethnographische Beschreibung eine enge Verzahnung von Datenerhebung und -auswertung: Bereits während der Erhebung ist es möglich, die gewonnen Daten zu interpretieren und aus den Erkenntnissen eine Veränderung etwa des thematischen Erhebungsfokus vorzunehmen oder 76 Vgl. Frederick Erickson: „Ethnographic description“, in: Ulrich Ammon (Hg.), Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society, Berlin: de Gruyter 1988, S. 1081-1095, hier: S. 1081. 77 Vgl. F. Erickson: Ethnographic description, S. 1083; siehe zur Methode der Befragung das folgende Kapitel. 50
DIE METHODE
neue Erhebungsinstrumente zu erstellen. Während der Zeit nach der ersten explorativen Beobachtungsphase erstellte ich darum ein halbstandardisiertes Forschungstagebuch: Dies geschah einerseits inhaltlich orientiert an den Aufzeichnungen der ersten Beobachtungsphase. Ich hatte bereits im ersten Gefängnis erkannt, dass ich angesichts mancher Fremdheit oder Bedrohlichkeit des Forschungsfeldes mein eigentliches Forschungsziel aus den Augen verlieren könnte. Für jeden Tag der Beobachtung war darum in den Forschungstagebüchern eine Liste von linguistischen Arbeitshypothesen in stichpunktartiger Form enthalten. Im Forschungsfeld las ich dann immer wieder die Hypothesenliste durch, um mich während der Beobachtung sozusagen an meinen Forschungsgegenstand zu erinnern. Das Tagebuch umfasst in erster Linie Beobachtungskategorien, die thematisch zusammengefasst in etwa den Bereich abdecken, der im Ergebnisteil dieser Arbeit durch die Überschriften bezeichnet wird.78 Ich verbrachte 107 Beobachtungseinheiten in sechs Gefängnissen dreier verschiedener Bundesländer. Die Beobachtungseinheiten dauerten durchschnittlich acht Stunden und deckten sämtliche Tages- und Nachtzeiten ab.
Themenzentrierte Interviews Sie dürfen alles, Sie dürfen auch einen Handstand machen. (die Verfasserin im Interview zu einem unsicheren Befragten)
Ein wesentliches Merkmal sprachkulturellen Miteinanders ist das Phänomen der „language attitude“ – d. h. der Spracheinstellung der Sprecherhörer. Diese Spracheinstellung besteht unter anderem aus der individuellen Meinung von Sprechern über Sprachwirklichkeiten und Sprachnormen ihrer Umgebung sowie aus den Sprecherselbst- und Sprecherfremdkonzepten, die wiederum Teil der Sprecheridentitäten sind.79 Die Messung von Spracheinstellungen erfolgt in der Regel mittels standardi-
78 Zu genaueren Angaben des recht umfangreichen Forschungstagebuchs vergleiche den unveröffentlichten Rohdatenband II dieser Arbeit. Gabriele Klocke: Über die Gleichheit vor dem Wort: Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug, unveröffentlichte Dissertationsteilbände II und III, Universität Bielefeld 2003. 79 Vgl. Joanna Thornborrow: „Language and identity”, in: Linda Thomas/Wareing Shân (Hg.): Language, society and power, London: Routledge 1999, S. 136-149. 51
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
sierter Erhebungsinstrumente wie etwa Fragebögen.80 Allerdings ist es auch möglich, Spracheinstellungen im Rahmen offener Interviews abzufragen. Hier ist jedoch zu beachten, dass die erfragten Spracheinstellungen keine konstanten Größen sind wie etwa die Anzahl der Stunden, die einem Gefangenen pro Monat als Besuchszeit zur Verfügung stehen: „Language attitudes are not like minerals there to be mined and unearthed, they are social constructions constantly changing to meet the demand of the situation in which they are expressed.”81
Um also die subjektive Wahrnehmung der Gefängnisangehörigen bezüglich ihrer Sprachkultur abzufragen, erstellte ich einen themenzentrierten Interviewleitfaden. Dieser war inhaltlich an den Kategorien meines halbstandardisierten Beobachtungsschemas sowie an meinen vorangegangenen Beobachtungserfahrungen orientiert und war in seiner Erstfassung von mir alleine erstellt worden. Ein mir bekannter ehemaliger Gefangener nahm interessehalber Einsicht in den Fragebogen und gab mir schließlich einige Ratschläge bezüglich der Formulierung und des Aufbaus des Interviewleitfadens. Der Leitfaden diente den Befragten dazu, sich im Vorfeld des Interviews gedanklich auf das Thema vorzubereiten. Der Interviewleitfaden enthielt genügend Raum für eventuelle, von den Befragten schriftlich zu notierende Stichpunkte. Der Zweck des Interviewleitfadens sollte nicht die Erhebung von sauber operationalisierten Variablen sein. Das einzige Ziel des themenzentrierten Interviews war es, die Forschungspartner zu einer Selbstbeschreibung hinsichtlich ihres Sprachverhaltens sowie zu einer Einschätzung der wahrgenommenen gesamten Sprachkultur im Gefängnis zu bringen. Die Interviewleitfäden wurden den Befragten einige Zeit vor der Befragungssituation ausgehändigt. Dabei waren mir in Gefängnissen, in denen ich nicht selber teilnehmend beobachtete, Angehörige der Fachdienste beim Auswählen der Befragten und beim Austeilen der Interviewleitfäden behilflich.82 Ich wies dabei ausdrücklich darauf hin, dass das Thema abstrakt sei und dass man ein Gespräch dazu mit mir 80 Vgl. hierzu den Überblicksaufsatz von Ellen B. Ryan/Howard Giles/Miles Hewstone: „The measurement of language attitude”, in: Ulrich Ammon (Hg.), Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society, Berlin: deGruyter 1988, S. 1068-1081. 81 Kas Deprez/Yves Persoons, zit. n. Ellen B. Ryan/Howard Giles/Miles Hewstone: „The measurement of language attitude”, in: Ulrich Ammon (Hg.), Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society, Berlin: deGruyter1988, S. 1068-1081, hier: S. 1076. 82 Freilich ist bei einer Probandenvermittlung durch die Beamten in Rechnung zu stellen, dass diese bei der Wahl der inhaftierten Befragten eigenen, von mir nicht kontrollierbaren Auswahlkriterien folgten. 52
DIE METHODE
ohne vorheriges kurzes Reflektieren der Themen nicht problemlos würde führen können. Zum Zweck des Interviews reiste ich persönlich an und führte Befragungen in den Räumlichkeiten der Anstalten durch. In Gefängnissen, in denen ich als Beobachterin anwesend war, wählte ich meine Interviewpartner selber aus. Es war die Durchführung von vierzig Interviews geplant. Aus forschungsethischen Gründen wurde jedem Befragten nach der Befragung das ihm zugehörige komplette Inteviewtranskript zur kommunikativen Validierung zu Verfügung gestellt. In neun Fällen erhielt ich eine Rückantwort, in der jeweils um Anonymisierungen, Streichungen oder Verbesserungen in den Daten gebeten wurde. Dem bin ich nachgekommen. Von den 40 geplanten Interviews führte ich in zwölf verschiedenen Justizvollzugsanstalten dreier Bundesländer 38 Interviews durch, von denen 35 transkribiert wurden und 34 schließlich zur Auswertung gelangten. Zwei geplante Interviews musste ich gegen Ende meiner Feldforschung aus gesundheitlichen Gründen absagen. Ein Interviewpartner kündigte mir infolge meiner einjährigen Mutterschaftspause die Forschungsteilnahme auf, bevor das entsprechende Interview transkribiert wurde. Die Interviews mit zwei weiteren Interviewpartnern schloss ich wegen Befangenheit infolge persönlicher Konflikte von der Transkription und Auswertung von vornherein aus. Ein weiterer Interviewpartner zog sein Einverständnis für die Auswertung seines bereits transkribierten Interviews zurück. Ein Interview (AL II) ist aufgrund eines technischen Bedienungsfehlers nur halb aufgezeichnet worden. Drei Interviews waren sehr schwierig zu transkribieren, da die Akustik des Raumes, in denen die Befragungen stattfanden, schlecht war und ich den Zieldialekt der Region kaum verstand. Schließlich sind mit folgenden Gefängnisangehörigen Interviews durchgeführt worden: Interviewpartner
Bemerkungen
AVD I
Allgemeiner Vollzugsdienst (AVD): Vollzugsdienstleitung Leitender Abteilungsbeamter AVD-Beamter auf der höheren Leitungsebene AVD-Beamter auf der höheren Leitungsebene AVD-Beamter Vollzugsdienstleitung Leitender Abteilungsbeamter AVD-Beamter Vollzugsdienstleitung
AVD II AVD III AVD IV AVD V AVD VI AVD VII AVD VIII AVD IX
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
GEF I GEF II GEF III GEF IV GEF V GEF VI GEF VII FD I FD II FD III FD IV FD V WD I WD II WD III WD IV WD V AL I AL II AL III AL IV AL V AL VI AL VII AL VIII
Ausländischer Gefangner, Herkunftssprache: nicht deutsch, Jugendstrafvollzug Lebenslange Haftstrafe Langstrafengefangener Kurzstrafengefangener Kurzstrafengefangener, Jugendstrafvollzug Lebenslange Haftstrafe Langstrafengefangener Freizeitpädagoge Seelsorger Lehrer Psychologe Sozialarbeiter Werkdienstbeamter in leitender Funktion Werkdienstbeamter Werkdienstbeamter Werkdienstbeamter in leitender Funktion Werkdienstbeamter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter Anstaltsleiter
Der Interviewleitfaden und die tatsächlichen Gesprächsthemen waren schließlich an folgenden Themen und Fragen ausgerichtet:83 • Möglichkeiten des Einzelnen zum biografischen Erzählen • Reden über Gefühle, Schuld, Wiedergutmachung, Rechtfertigung • Reden über Träume und Pläne, Zukunft und Vergangenheit • Orte des Erzählens • Sprachliche Täuschung im Gefängnis • Strafvollzugliche Bedingungen der Kommunikation • Das Recht eines Menschen auf Zuhörerschaft • Witze, Beleidigungen, Ausländerregister und Sprache der Ausländer, Gerüchte, Geheimsprachen • Gegensprechanlage und Lichtrufanlage 83 Vgl. eine Abbildung des kompletten Interviewleitfadens im unveröffentlichten Teilband II meiner Arbeit: G. Klocke, Unveröffentlichte Dissertationsteilbände I und II. 54
DIE METHODE
• • • • • •
Nichtsprachliche Zeichen des Strafvollzugs Sprachliche Isolation und Einsamkeit Sprachlosigkeit Gefängnisjargon Oralität vs. Literalität, Rechtschreibung, Gefangenenbriefverkehr, Behördentexte Täter-Opfer-Ausgleich
Diese Themen berücksichtigen hauptsächlich Erkenntnisse, die ich während meiner ersten teilnehmenden Beobachtung im Gefängnis gemacht hatte. Während der Interviews lösten sich die thematischen Grenzen allerdings teilweise auf und es wurden von den Befragten oder mir neue thematische Schwerpunkte gesetzt. Dies bedeutet, dass sich die inhaltliche Systematik des Interviewleitfadens nicht völlig mit der Systematik der Ergebnisdarstellung deckt. Zudem sieht der Interviewleitfaden ein weiteres Befragungsthema vor, welches ich in dieser Arbeit jedoch nicht diskutiere: Die Befragten erzählten mir zwar einiges zum Thema Tätowierungen. Da mir die Antworten allerdings heterogen und für den Kontext meiner übrigen Ausführungen unpassend erscheinen, werde ich auf dieses Thema an anderer Stelle gesondert eingehen. Insbesondere solche Befragte, die meinem Hinweis folgten und sich vor dem Interview einige Gedanken zu den im Interviewleitfaden genannten Texten gemacht hatten, beschäftigten sich während des Interviews auf unkomplizierte und konstruktive Weise mit den verschiedenen Themen.
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Datenauswertung Ich denke, Sie werden bei dem, was ich Ihnen alles palavert habe, die liebe Mühe haben, was aus diesem Riesenhaufen herauszufiltern, woraus Sie dann Ihre Schlüsse ziehen. (ein Anstaltsleiter)
Noch während der Phase der Datenerhebung wurden von den Texten der Tagebücher und der Interviews Transkripte angefertigt. Im Sommer 2002 lagen sämtliche Rohdaten in Transkriptform vor. Wenn es auch aus linguistischer Sicht an dieser Stelle unerlässlich erscheinen mag, sich eingehend über die Wahl der Transkriptionsmethode zu äußern, so weise ich nochmals darauf hin, dass ich ein linguistisches Phänomen mittels der sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Form des themenzentrierten Interviews durchgeführt habe. Dies bedeutet, dass auch die Interviewtranskripte äußerst schlicht gestaltet sind: So habe ich weder die Intonation noch die Schnelligkeit der Rede im Transkript kenntlich gemacht, geschweige denn, dass ich eine Partiturnotation vorgenommen hätte. Die Interviewtranskripte enthalten die parasprachlichen Merkmale Husten, Räuspern, Lachen und Redepausen an denjenigen Stellen, wo es nach meiner Auffassung zu Auswertungszwecken angezeigt erscheint. Kommata dienen in den Transkripten nicht nur der grammatikalischen Kennzeichnung von Satzstrukturen, sondern finden sich überall dort, wo die Befragten zwar kurze, doch auffällige Redepausen einlegten. Sämtliche Änderungen des gesprochenen Textes sind in eckigen Klammern verzeichnet. Auf Wunsch der Befragten oder aufgrund allgemeiner Anonymisierungsregeln wurden manche Textpassagen komplett gestrichen, was mit der Notationsweise „[anonymisiert]“ kenntlich gemacht ist. Um ein höchstes Maß an Anonymisierung zu erreichen, habe ich dialektale Äußerungen in den Interviews der Standardsprache angeglichen; außerdem habe ich die Datumsangaben darüber, wann welche Beobachtung oder Befragung gemacht wurde, in sämtlichen Druckversionen der Rohdaten sowie insbesondere in der vorliegenden Arbeit aufgelöst. Die Tonbänder wurden nach Beendigung aller nötigen Auswertungen gelöscht. Die Daten der handschriftlich verfassten Forschungstagebücher wurden ebenfalls transkribiert. Zum Zweck der Anonymisierung mischte ich die zunächst chronologisch angeordneten Untersuchungseinheiten nach einem bestimmten Zählsystem und nummerierte die Untersuchungseinheiten anschließend neu durch.84
84 Aussagen und Zitate meiner Arbeit sind im Falle der Interviews also nur bis auf die Ebene der transkribierten Rohdaten, bei den Forschungstage56
DIE METHODE
Die qualitative Auswertung erfolgte „nah am Text“: Nachdem ich mir ein Bild des gesamten Datenkorpus gemacht hatte, versuchte ich, unter Berücksichtigung meiner im Interview und Tagebuch notierten Sinneinheiten wie etwa Gefangenenpersonalakte oder Lüge, möglichst große Teile des Textes in die Auswertung einfließen zu lassen. Eine teilweise Neuordnung der Analysekategorien erschien mir angezeigt, da die gewonnenen Daten hier und da von den Beobachtungshypothesen abwichen und sogar neue Sinneinheiten dazukamen. Auf der ersten Verarbeitungsstufe der Auswertung habe ich die Daten thematisch den zuvor erstellten linguistischen Kategorien zugeordnet. Ich sammelte z. B. sämtliche Aussagen zum Thema Gefangenenpersonalakte bzw. Lüge in den gleichnamigen linguistischen Kategorien.85 Die zweite Verarbeitungsstufe bestand darin, aus der Summe aller Textfragmente der jeweiligen Kategorien entweder regelmäßig oder einzigartig auftretende Aussagemuster zu ziehen und für diese jeweils ein oder mehrere repräsentative Zitate für die Ergebnisdarstellung auszuwählen. Die Menge dieser Zitate auf der zweiten Verarbeitungsstufe liefert die Textbausteine in Form von Originaläußerungen für die Ergebnisdarstellung. Letztere stellt die dritte Verarbeitungsstufe dar.86 Die Textbausteine repräsentieren dabei eine größere Menge sinngleicher Aussagen in den zugrundeliegenden thematischen Kategorien. Meiner Schätzung nach ist ungefähr die Hälfte des Äußerungsumfangs meiner Befragten nicht in die Auswertung eingegangen. Es handelt sich hierbei um Abschnitte des Datenkorpus, in welchen die Befragten oder ich als Interviewerin bzw. Beobachterin deutlich vom forschungsrelevanten Thema abkamen.
büchern hingegen bis auf die handschriftliche Tagebuchebene zurückzuverfolgen. 85 Vgl. hierzu die Angaben im Teilband II meiner Arbeit: G. Klocke: Unveröffentlichte Dissertationsteilbände I und II. 86 Die Ergebnisse der zweiten und dritten Verarbeitungsstufe sind im Text der vorliegenden Arbeit enthalten. 57
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Ergebnisdarstellung Mich interessiert das Ergebnis und was nun bei der Sache rauskommt. Mich interessiert auch, kann man nachher tatsächlich für den Vollzug, für uns hier drinne jetzt insgesamt Schlussfolgerungen ziehen? Was muss anders werden? Ich weiß es nicht. Kann man was machen? Weiß ich nicht. Wenn so was rauskommen würde, wärs schön. Wenn man nur feststellt, es ist so – jetzt als Wissenschaftlerin – auch dagegen hab ich nichts. Aber das Ergebnis interessiert mich. (ein Anstaltsleiter)
In der Ergebnisdarstellung sind solche Kategorien angeführt, zu denen die Befragten sich entweder auf mein Nachfragen hin oder eigeninitiativ häufig geäußert haben. In jedem Unterkapitel wird eine Kategorie diskutiert. Die Anordnung der Unterkapitel folgt theoretischen Überlegungen, die in den strukturgebenden übergeordneten Kapiteln knapp erläutert werden. Die einzelnen Unterkapitel enthalten unterschiedlich ausführliche Erläuterungen des entsprechenden theoretischen linguistischen Hintergrundes. Die Ausführlichkeit dieser Darstellung bemisst sich daran, wie bedeutend mir der jeweilige theoretische Hintergrund für die Bearbeitung der einzelnen sprachkulturellen Phänomene erschien. An dieser Stelle ergibt sich erstmals die Frage, welches der linguistische Ertrag dieser Arbeit ist und ob überhaupt von einem linguistischen Ertrag gesprochen werden kann. Meine Absicht war es, die Methoden der Kriminologie, der Linguistik und einiger weiterer Nachbardisziplinen sowie deren theoretischen Fundus in den Dienst der strafrechtsphilosophisch motivierten Frage zu stellen, wie es um die Rechte der Sprecherhörer im Gefängnis bestellt ist. Die Linguistik schweigt darum an den Stellen, wo sie dieser Sache nicht dienen kann. Die eigenwillige Form meiner Ergebnisdarstellung begründe ich anhand eines Konzepts von Richard Rorty, welches zusammengefasst etwa Folgendes besagt: Menschen können Solidarität mit anderen Menschengruppen praktizieren, indem sie sich ein eigenes Vokabular erschaffen, das den Blick und das Mitgefühl von Dritten auf besagte Menschengruppe richten soll. Unter einem Vokabular versteht Rorty nach meinem Verständnis nicht allein die Wahl eines bestimmten Wortschatzes und eines individuellen Stils, sondern zudem die Wahl eines sprachlichen Genres. In den Sozialwissenschaften scheint das Spektrum der Möglichkeiten zur Ergebnispräsentation eng zu sein. Ein Abweichen von den 58
DIE METHODE
herkömmlichen Präsentationsmethoden muss offenbar gerechtfertigt werden, erst recht die Schaffung eines neuen „Genres“ zu diesem Zweck. Meine Art und Weise der Datenerhebung rechtfertige ich anhand der Methode der ethnographischen Beschreibung. Diese zählt zu den „Disziplinen, die sich auf eine dichte Beschreibung des Idiosynkratischen und Privaten spezialisiert haben. Diese Arbeit müssen vor allem Romane und Ethnographien leisten, die den Leser für die Schmerzen derer, die unsere Sprache nicht sprechen, sensibilisieren.“87
Übertragen auf die qualitative Sozialforschung bedeutet das meiner Ansicht nach, dass es insbesondere anlässlich eines normativen Begründungszusammenhangs durchaus statthaft ist, in der Ergebnisdarstellung von den herkömmlichen sozialwissenschaftlichen methodologischen Gepflogenheiten abzuweichen. Ich eigne mir das Vokabular meiner Forschungspartner in Form von Zitatbausteinen an, um diese zu einer anschaulichen Schilderung der Sprachkultur des Gefängnisses zu verknüpfen. Mit meiner Ergebnisdarstellung möchte ich in erster Linie die Aufmerksamkeit auf den lebensweltlichen Aspekt des Gefängnisses richten. Die Zitate der Befragten erfahren auf dieser dritten Bearbeitungsstufe nur so viel grammatikalische bzw. lexikalische Bereinigung, als es mir zum Zweck der Verständlichkeit und Übersichtlichkeit notwendig erschien. Um die Art der Zitatbereinigung zu veranschaulichen, sei ein Beispiel angefügt. Das Zitat eines Abteilungsbeamten lautete im Original: „Weil ich muss mir überlegen, grad das, was ich ihm androhe, muss ich auch durchsetzen. Weil sonst mache ich mich lächerlich, wenn ich zu einem in der Kirche sag, noch einen Ton oder ich schmeiß dich raus. Dann, wenn er einen Ton macht und dann, wenn ich dann sag, na ja, ich schmeiß dich doch nicht raus, dann mach ich mich lächerlich. Also muss ich mir überlegen, was sag ich ihm, äh. Damit ich mich nicht lächerlich mache, ne?“ AVD III 1431-1436
Die grammatikalisch, stilistisch und lexikalisch bereinigte Version lautet wie folgt: „Ich muss mir überlegen: Was ich ihm androhe, muss ich auch durchsetzen. Weil sonst mache ich mich lächerlich. Wenn ich zu einem Gefangenen in der Kirche sage: ‚Noch einen Ton oder ich schmeiße dich raus.’ Wenn er dann einen Ton macht und wenn ich dann sage: ‚Na ja, ich schmeiße dich doch nicht
87 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, 3. Auflage, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 161. 59
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
raus’, dann mache ich mich lächerlich. Also muss ich mir überlegen, was ich ihm sage, damit ich mich nicht lächerlich mache.“ AVD III 1431-1436
Das Beispiel zeigt, dass die Zitatbereinigung nicht darin besteht, den Sinngehalt der Äußerungen zu verändern, sondern dass Satzumstellungen bzw. Ergänzungen auf grammatikalischer Ebene sowie Auslassungen redundanter oder unbrauchbarer Satzelemente einzig eine Erhöhung der Verständlichkeit bezwecken. Jedes Zitat enthält Angaben über den Forschungspartner sowie über die Zeilennummern der Quellen im Interview- bzw. Tagebuchtranskript. Referieren die Befragten in ihren Ausführungen namentlich auf signifikante Andere, so werden diese anonymisiert, indem sie neue Namen erhalten. Diese Namen ermöglichen es strafvollzugsunerfahrenen Lesern, die Personen auch nach deren Anonymisierung in ihrer spezifischen Funktion zu erkennen. Die grün uniformierten AVD-Beamten werden in den Interviews „Herr Grün“ genannt. „Herr Schlips“ meint den Anstaltsleiter, denn Angehörige dieser Berufsgruppe tragen häufig Krawatten. Der Name „Herr Blaumann“ kennzeichnet, basierend auf der entsprechenden Arbeitskleidung, Angehörige des Werkdienstes. Mit „Herr Hilfreich“ sind Mitglieder des Fachdienstes gemeint. Auf eine namentliche Benennung eines Gefangenen war ich an keiner Stelle angewiesen, weshalb ich für diese Gruppe keinen Decknamen erschaffen musste. Auf der Inhaltsebene wird dem Leser die Bilanz meiner Forschungsarbeit unbequem heterogen erscheinen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass ich auch in meiner Ergebnisdarstellung einem Prinzip der ethnographischen Beschreibung folgte: „It is thus desirable to search the research corpus carefully for discrepant cases [...] the tendency to ignore discrepant cases is a problem in ethnographic analysis [...] it leads to what can be called the fallacy of hypertypification.”88
Um eine übermäßige Vereinheitlichung des Datenkorpus zu vermeiden, lasse ich die Widersprüchlichkeiten des Forschungsgegenstandes auch im Ergebnisteil unaufgelöst fortbestehen. Die Bezugnahme von linguistischen Theorien auf die Daten erfolgt ebenfalls nicht einheitlich. Ich habe solche Theorien immer dort eingefügt, wo sie meine Daten am besten ergänzten. In den einzelnen Kapiteln stehen die theoretischen Ausführungen darum einmal zu Beginn, ein anderes Mal am Ende des Kapitels, oder sie sind über den gesamten Text verteilt. Es wird auch nicht in jedem Kapitel gesondert ein Bezug zum normativen Kontext der „Gleichheit vor dem Wort“ hergestellt. Die im theoretischen Teil dieser 88 Vgl. F. Erickson: Ethnographic description, S. 1090. 60
DIE METHODE
Arbeit vorgestellte normative Erkenntnisausrichtung soll dem Leser vielmehr dazu dienen, die Ergebnisdarstellung selbständig daraufhin zu bewerten, wie es um das Rederecht im Gefängnis bestellt sein mag.
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VII Über die Gleichheit vor dem Wort – die Ergebnisse
Alle Menschen tragen ein Sortiment von Wörtern mit sich herum, das sie zur Rechtfertigung ihrer Handlungen, Überzeugungen und ihres Lebens einsetzen. Es sind die Wörter, in denen wir das Lob unserer Freunde, die Verachtung für unsere Feinde, unsere Zukunftspläne, unsere innersten Selbstzweifel und unsere kühnsten Hoffnungen formulieren. Mit diesen Wörtern erzählen wir, manchmal vorausgreifend, manchmal zurückgewandt, unsere Lebensgeschichte. (Richard Rorty)
Die folgenden Kapitel beschreiben den Strafvollzug unter dem Gesichtspunkt, inwiefern er seinen Angehörigen eine Gleichheit vor dem Wort ermöglicht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Folgendes deutlich machen: Das Konzept der Gleichheit vor dem Wort thematisiert den normativen Anspruch eines Menschen auf Rede- und Hörerrechte. Es beschreibt gleichsam ein empirisches Ideal, dem eine Sprachgemeinschaft auch unter günstigsten Bedingungen nicht entsprechen kann. Sowohl anhand der Stimmen aus der Praxis als auch anhand linguistischer Überlegungen zeigt sich, welch unterschiedliche Perspektiven auf die Sprachgemeinschaft des Gefängnisses möglich sind.
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Oralität Sie haben von allen die dickste Akte und die größte Klappe. (ein Beamter zu einem Häftling)
Das linguistische Konzept der Oralität, umfasst all diejenigen sprachlichen Phänomene, die mündlicher Natur sind, d. h. die im Kontext verbaler Textproduktion und -rezeption auftreten. Das linguistische Komplement zur Oralität ist die Literalität, welche sämtliche schriftsprachliche Phänomene umfasst. Literale Kulturen sind solche, die über ein Schriftsystem verfügen und mit diesem wesentliche Abläufe des Zusammenlebens regeln. Literalität ist sprachevolutionär aus der Oralität entstanden. Dies lässt sich unter anderem daran nachweisen, dass die rein oralen Gesellschaften bei weitem in der Mehrzahl sind, während literale Gesellschaften sprachgeschichtlich jung und deren Mitglieder zudem nicht alle schriftsprachlich kompetent sind. Man kann vergleichende Analysen dahingehend anstellen, welche Bedeutung der Oralität und Literalität in einzelnen Sprachgemeinschaften zukommt und wie das Vorhandensein von Literalität die Merkmale einer Sprachgemeinschaft prägt. In den meisten literalen Kulturen der Gegenwart finden sich große Bevölkerungsanteile, die aus verschiedenen Gründen nicht an der Schriftlichkeit der Mehrheit teilhaben. Hierzu zählen etwa Kinder im Vorschulalter, Menschen mit hirnorganischer Schädigung oder Analphabeten. Es wird vermutet, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen sich in literalen Kulturen anders gestalten als diejenigen in rein oralen Kulturen. Alwin Fill hat mit seinem Konzept des bandstiftenden Sprechens gezeigt, dass in oralen Kulturen dem Miteinandersprechen eine sehr hohe gesellschaftsstrukturierende Bedeutung zukommt. Sprecher verfolgen dabei einen Erzählstil, welcher die Hörer nicht nur auf der Inhalts- sondern auch auf der Beziehungsebene an sie bindet. Folgt man Fill, so lockern sich in literalen Kulturen die zwischenmenschlichen Bande deshalb, weil der Einzelne aus der Perspektive seiner Mitmenschen einen erheblichen Teil der Zeit hinter seinem Buch, seiner Zeitung oder seiner Akte verbringt und sich dadurch vom mündlichen Sprachgeschehen der Gemeinschaft distanziert.89 Das Gefängnis ist meines Erachtens als eine literale Kultur anzusehen, in der allerdings insbesondere auf Gefangenen- aber auch auf Mitarbeiterseite der Oralität breiter Raum zukommt. Über den literalen Teil des Gefängnisses gibt das Kapitel „Literalität“ Auskunft. Die Oralität wird in den folgenden Unterkapiteln geschildert. Bevor ich auf die ein89 64
Vgl. Alwin Fill: Ökolinguistik, Tübingen: Narr 1993, S. 41 ff.
DIE ERGEBNISSE
zelnen Phänomene der Oralität des Strafvollzugs eingehe, werde ich anhand der Unterscheidung oral und literal geprägter Biographiearbeit sowie anhand des homileïschen Diskurses zeigen, dass Literalität und Oralität einer Gesellschaft einander wechselseitig beeinflussen. Die aktenmäßige Kommunikationsweise des Strafvollzugs erzeugt unterschiedliche Biographieformen. Institutionelle Akten sind ein zentrales Merkmal arbeitsteiliger Gesellschaften. Auch und gerade im Gefängnis kommt der Akte als Referenztext eine hohe Bedeutung auch bei der Gestaltung der Diskurse zu. Die Möglichkeit, Merkmale von Menschen über die Zeit hinweg immer wieder zu notieren, bedeutet für den Einzelnen, dass er seine Biographie nicht stets aufs neue ändern und umbewerten kann, ohne damit in Widerspruch zu den Inhalten der behördenschriftlich fixierten Biographie zu geraten. Jede biografische Erzählung, die von einer aktenmäßig erfassten Biographie abweicht, wird dann zwangsläufig unglaubwürdig. Ich stimme Walter Ong zu, der hierzu festgestellt hat, dass Erzählungen in oralen Kulturen relativ wenig kausal motiviert sind. In unseren literal geprägten Kulturen soll mittels einer Autobiographie erklärt werden, wie jemand so geworden ist, wie er ist. Individualität ist dabei das Produkt einer solchen Autobiographie. Zu diesem Zweck finden bestimmte erzählerische Stilmittel Verwendung.90 Das Erstellen einer kausal motivierten Biographie ist meines Erachtens nur dann möglich, wenn es Schriftstücke gibt, welche die markanten Punkte der eigenen Biographie enthalten. Die Akte des Kriminaljustizsystems ist ein solches Schriftstück. Justizvollzugsbeamte sind nach meiner Erfahrung kaum noch in der Lage, die Biographie eines Inhaftierten jenseits seines sogenannten strafrechtlichen Werdegangs zu erfassen. Die Akte eines Gefangenen etwa beschreibt, wie es zur Straftat und schließlich zur Verurteilung kam. Wenn Gefangene dennoch versuchen, gegenüber den Gefängnismitarbeitern eine Kultur der Oralität zu leben, die nicht an den Strukturmarken ihrer Akten ausgerichtet ist, scheitern sie schon bald an den Erwartungen, die an Erzählungen von Gefangenen aus funktional-juristischer Perspektive gerichtet werden: Die Straftat sowie das Gefangenenverhalten im Vollzug bilden häufig die einzigen akzeptierten Gesprächsthemen. Äußerungen des Gefangenen finden Eingang in andere schriftliche Textsorten (Akten) und Gesprächsabläufe (Beratungsgespräch, Vollzugskonferenz), wenn sie auf das Identitätsmerkmal der Täterschaft des Gefangenen oder auf dessen angestrebte Legalbewährung bezogen sind. Im Gefängnis findet diejenige Erzähl-
90 Vgl. Walter Ong:. Oralität und Literalität, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1987, S. 138 ff. 65
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
form ihre Fortführung, welche Ludger Hoffmann für das Gericht beschrieben hat:91 „Im Rahmen institutioneller Verfahren verliert der Erzähler endgültig seine Unschuld: gesagt ist gesagt, wer offen- und aktenkundig [Hervorh. G. K.] die Unwahrheit sagt, kann sich um Kopf und Kragen reden, was relevant ist, bestimmt jemand anderes. Der Fremdbestimmung entgeht nicht einmal, wer schweigt. [...] Das Gericht ist die letzte Instanz der sozialen Kontrolle. Hier wird endgültig entschieden, wer als ‚abweichend‘ zu kategorisieren ist und wen es zu strafen gilt; [...] Überdies wird die Darstellung in jedem Fall auch zur Selbstdarstellung, zur Repräsentation von Identität, die vom Gericht in eine Kategorisierung des Erzählers umgemünzt wird.“92
Das institutionelle Muster der literalen Relevanzsetzung prägt immer dann die Gesprächsinhalte, wenn die Gefangenengruppe sich mit der Bedienstetengruppe austauscht. Sobald die Mitglieder der jeweiligen Gruppen jedoch unter sich sind, wird mehr über Privates geredet, wobei wenig auf literale Komponenten zurückgegriffen wird. Hier findet sich ein weiteres wichtiges Merkmal der Oralität einer Gesellschaft: der homileïsche Diskurs. Konrad Ehlich bestimmte diesen Diskurstyp als ein erzähltheoretisches Konzept, nach dem eine bestimmte Erzählsituation einen bestimmten Erzähltypus einfordert.93 Die homileïsche Situation und damit der sich in ihr entwickelnde Diskurs lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Es ist der Ort, an dem zwei oder mehr Personen zufällig oder/und unfreiwillig für eine bestimmte Zeit zusammen sind. Es ist des Weiteren ein Übermaß an unausgefüllter Zeit, das den Einzelnen zur Verfügung steht, weil sie keiner Pflicht nachgehen, Feierabend haben oder auf etwas warten. Es ist schließlich eine Situation, die dazu einlädt, miteinander über Erlebnisse ins Gespräch zu kommen, die durch eine deutliche zeitliche Kluft von der Erzählsituation getrennt sind. Auf den Strafvollzug angewendet, bedeutet dies Folgendes: Gefangene sind unfreiwillig für eine bestimmte Zeit im Ort „Gefängnis“ beisammen. Ihnen steht insbesondere während der Verschlusszeiten im Haftraum ein 91 Beachtenswert ist hier der Verfahrensgrundsatz der Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung gem. § 250 StPO: „Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder eine schriftliche Erklärung ersetzt werden.“ Es orientieren sich jedoch sämtliche Beteiligte des Verfahrens auch und gerade an den Inhalten der Anklageschrift. 92 Ludger Hoffmann: „Zur Pragmatik von Erzählformen vor Gericht“, in: Konrad Ehlich (Hg.), Erzählen im Alltag, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 11-28, hier: S. 28. 93 Vgl. K. Ehlich/J. Rehbein: Sprache in Institutionen, S. 343. 66
DIE ERGEBNISSE
Übermaß an Zeit zur Verfügung, die sie wartenderweise hinter sich bringen wollen.94 Gefangene befinden sich, wenn auch für längere Dauer, ebenso in einer Wartehaltung, wie Ehlich sie für die Teilnehmer des homileïschen Diskurses nachgewiesen hat: Es wird gewartet in Autoschlangen, Wartezimmern und eben auch in Gefängniszellen. Dieses Warten findet häufig gemeinschaftlich statt. Gespräche bieten sich dann zum Zweck der Kurzweil an. Entsprechend meinen Beobachtungen wählen Gefangene für ihre Erzählungen dann Geschehnisse, die entweder weit in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen: Es wird häufig über begangene Straftaten gesprochen und darüber, wie man die Vertreter der Behörden zum Narren gehalten hat und bei welcher „Sauftour“ man nach der Entlassung „am Start“ sein wird. Nicht anders verhält es sich bei Bediensteten, die sich, im Gegensatz zu Gefangenen, freiwillig für den Beruf des Gefängnismitarbeiters entschieden haben. Während des Dienstablaufs ist zwar ein Großteil ihrer Zeit mit Arbeitstätigkeiten angefüllt. Es kommt jedoch auch während des Dienstes im Gefängnis immer wieder zu Leerzeiten, in denen die Beamten etwa auf den Feierabend warten.95 Auch sie unterhalten sich dann angeregt über Geschichten, die ihren Ursprung oft weit jenseits ihrer eigenen Diensttätigkeit haben. Homileïsche Diskurse haben meiner Ansicht nach ebenfalls bandstiftende Funktion, da sie den Diskursteilnehmern gemeinschaftliches Wohlbefinden und gegenseitige Bestätigung ermöglichen. Die Ausführungen zum Konzept der oralen und literalen Biographiearbeit sowie zum Konzept des homileïschen Diskurses haben gezeigt, dass die situative Oralität immer auch in eine mündliche Erzähltradition sowie in den Kontext einer Erzählsituation eingebunden ist. Welche Umgangsformen in den gefängnisspezifischen Erzähltraditionen und Erzählsituationen entstehen, wird in den folgenden Kapiteln erläutert. In Anlehnung an den normativen Rahmen dieser Arbeit soll dabei auch berücksichtigt werden, inwiefern gegenseitiges Verstehen im Gefängnis möglich ist und ob aus einer zwangsweise versammelten Sprachgemeinschaft eine Anerkennungsgemeinschaft werden kann.
94 Was ist Freiheitsstrafe faktisch anderes, als primär das Warten auf den Tag der Entlassung? Nicht umsonst benennen angloamerikanische Gefangene ihr Dasein im Gefängnis mit den Worten „to do one’s time“. 95 Vgl. das Kapitel „Gesprächsanlässe“. 67
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Phänomenologie des Rederechts im Gefängnis ‚Schluss, aus, zack!’ ‚Nein, klipp und klar!’ ‚Nichts, Schluss aus, Ende der Fahnenstange!’ (letzte Worte von Abteilungsbeamten gegenüber Gefangenen)
Bevor ich in der Darstellung meiner Ergebnisse auf die Verwirklichung einzelner Aspekte des Rederechts eingehe, schildere ich, welche Meinung die Befragten zu dem allgemeinen Thema „Rederecht eines Menschen“ haben. Zu der Frage, ob ein Mensch das Recht darauf habe, dass ihm jemand zuhört, äußerten sich fünfundzwanzig der vierunddreißig Interviewpartner. In den restlichen neun Interviews finden sich aus zwei Gründen keine Aussagen zu diesem Thema: Entweder vergaß ich, diese im Interviewleitfaden eher beiläufig angeführte Frage zu stellen oder die Beantwortung der von mir gestellten Frage blieb aus verschiedenen Gründen auf Seiten des Interviewpartners aus. Achtzehn der fünfundzwanzig Befragten sind der Ansicht, ein Mensch habe ein Recht auf Zuhörerschaft. Acht dieser Befragten, unter ihnen nahezu ausschließlich Werkdienst und AVD-Beamte, äußerten diese Ansicht, ohne länger zu überlegen und präsentierten mir ihre Antwort, ohne dabei eine zusätzliche Begründung zu liefern. Auf meine Frage, ob ein Mensch ein Recht auf Zuhörerschaft habe, äußerte sich der überwiegende Teil der Befragten in etwa wie folgt: „Ja eindeutig. Also es geht nicht, dass Leute Probleme haben und können es nicht darstellen oder verbalisieren.“ (WD III 406-407) „Ja natürlich. Also völlig ohne Zweifel.“ (AVD VII 265-281) „Auf alle Fälle.“ (AVD VI 346-349) „Sicher. Jeder Mensch hat das Recht, dass er eine Zuhörerschaft hat.“ (AL VI 257-265) Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass die Forschungspartner die normative Grundlage meiner Arbeit nicht kannten und ich sie mit dieser Frage unvermutet nach ihrer Meinung fragte. Ich war insbesondere während der Interviewsituation sehr erstaunt darüber, dass die Befragten sich ihrer Position derart sicher waren: I
„Hat ein Mensch Ihrer Meinung nach ein Recht auf Zuhörerschaft? Hat er ein Recht darauf, dass ihm Leute zuhören?“ AVD „Logisch.“ I „Hmhm. Da sagen nicht alle ‚ja’.“ AVD „Kann man da nicht ‚ja’ sagen?“ (AVD II 360-366)
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DIE ERGEBNISSE
Im Gegensatz zu Werkdienst- und AVD-Beamten liefern Anstaltsleiter und Fachdienste eine Reihe von Begründungen dafür, warum ein Mensch in jedem Fall ein Recht auf Zuhörerschaft habe. Dabei entsprechen diese Überlegungen überraschend häufig den bereits in Kapitel III dargelegten sozialphilosophischen Aussagen. Ein Anstaltsleiter weist darauf hin, warum es gerade aus juristischer Sicht sinnvoll ist, von einem Recht auf Zuhörerschaft zu sprechen. Ohne dass ich ihn darum gebeten hatte, bezieht er sich in seinen Ausführungen auf die Rechte der Gefangenen: „Es hat eigentlich jeder ein Recht auf Zuhörerschaft. Es ist sogar gesetzlich normiert. Wobei Zuhörerschaft natürlich ein schillernder Begriff ist. Ich kann Ihnen zuhören in dem Sinn, dass ich Informationen von Ihnen wünsche, Anregungen und ähnliches aufnehme. Dann habe ich Ihnen zugehört. Aber eigentlich auch gar nicht. Ich habe es höchstens entgegengenommen. Was ich damit mache, ist ein anderes Thema. Aber ich denke, wenn man es richtig verstanden hat, heißt ein Recht auf Zuhörerschaft durchaus auch, dass sich der Zuhörer ernsthaft mit dem auseinandersetzt, was ich gesagt habe. Es gibt eine ganze Reihe von Funktionen in der Anstalt, die eigentlich neben anderen Aufgaben vielleicht gerade dafür da sind. Nicht nur Fachdienste, auch genauso der Stationsbedienstete oder auch der Bedienstete des gehobenen Dienstes, der quasi über Anträge von Gefangenen zu entscheiden hat, der Sprechstunden macht. Bis hin zu mir. Wobei ich weiß, dass ich da, wie viele Kollegen von mir, die große Anstalten leiten, ziemlich ausfalle, was Gespräche angeht. Weil ich einfach kaum die Zeit dazu finde.“ (AL VIII 437-471) Dass die Umsetzung des gesetzlichen Anspruchs auf Anhörung des Gefangenen in der Vollzugspraxis nicht immer stattfindet, wird im Interview mit einem anderen Anstaltsleiter deutlich:96 AL
I
„Ich denke, dass der Mensch ein Recht auf Zuhörerschaft hat. Sonst könnte er sich eigentlich gar nicht mitteilen. Zuhörerschaft ist die Grundlage der Kommunikation. Eine Grundlage. Einmal ist es natürlich das Erzählen, das Sprechen, aber es muss ja auch jemand da sein, der zuhört. Sonst hat das ganze ja keinen Sinn. Insofern besteht sicherlich ein Recht darauf, meine ich schon.“ „Okay, dann kann ich es mal konkretisieren. Über den Freiheitsentzug hinaus soll dem Gefangenen kein weiteres Übel zugefügt werden. Freiheitsentzug bedeutet in dem Zusammenhang aber auch, dass Verunmöglichen von sprachlichem Austausch über bestimmte Zeiten hinweg. Wie vereinbaren Sie das jetzt mit Ihrer Meinung, ein Mensch hat ein Recht
96 Vgl. exemplarisch für den kommunikativen Anspruch des Strafvollzugsgesetzes etwa § 6 III StVollzG: „Die Planung der Behandlung wird mit dem Gefangenen erörtert.“ 69
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auf Zuhörerschaft. Weil das sollte er ja eigentlich in jedem Moment haben oder gilt das nur für bestimmte Zeiten? Wie vereinbaren Sie die eine Aussage mit der anderen?“ „Das ist eine interessante Frage, ja. Das ist eine interessante Frage. Der Gefangene hat natürlich keine Möglichkeit, den Zuhörer unmittelbar anzusprechen, den er sich gerade wünscht. Also er hat, er ist sehr eingeschränkt in dem was die Zuhörerschaft betrifft. Das ist wahr. Aber er hat natürlich hier innerhalb der Anstalt eine Menge anderer Zuhörer, mit denen er reden kann. Die er ansprechen kann und die ihm auch zuhören. Das sind die Mitgefangenen, das sind die unmittelbar um ihm herum Befindlichen. Um ihn rum befindlichen Bediensteten. Er hat natürlich auch die Möglichkeit, vermittelt zu kommunizieren, mit denen, die er wünscht. Nämlich über Telefon, über Briefverkehr und über Besuche und dann schließlich, zum späteren Zeitpunkt, über Lockerungen.97 Und mein Recht auf Zuhörerschaft ist gelegentlich auch etwas eingeschränkt, wenn ich meinetwegen drei Tage oder eine Woche auf einer Tagung bin, da fehlt mir die Zuhörerschaft meiner Frau beispielsweise.“ (AL IV 443-471)
Die meisten Begründungen dafür, warum ein Mensch ein Recht auf Zuhörerschaft habe, sind im sozialphilosophischen Bereich angesiedelt. Ein Fachdienstmitarbeiter entwirft ähnlich wie Lyotard ein Konzept der Reziprozität des menschlichen Sprachhandelns: „Ein Mensch ist auf das Gegenüber ausgerichtet. Ein Mensch, der keinen Gegenüber hat, der würde verkümmern, das geht nicht. Also ich denke, wir haben sogar die Pflicht, einem Menschen zu ermöglichen, dass er sich austauschen kann.“ (FD II 618-623 ) Lyotard entspricht mit seinem Konzept der Reziprozität einer zentralen Grundannahme der Linguistik, nämlich derjenigen, welche sich auch im von mir verwendeten Konzept des Sprecherhörers, im sogenannten turn-taking der Gesprächsteilnehmer oder im Konzept der sogenannten adjacency-pairs widerspiegelt.98 97
Vgl. § 11 StVollzG: „(I) Als Lockerung des Vollzuges kann namentlich angeordnet werden, dass der Gefangene 1. außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Freigang) nachgehen darf oder 2. für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Ausgang) verlassen darf. (II) Diese Lockerungen dürfen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde.“ 98 Vgl. hierzu anschaulich M. Dürr/P. Schlobinski: Einführung in die Linguistik, S. 202: „Redebeiträge [können] über einen Sprecherwechsel hinweg größere Einheiten bilden, die nach Handlungsmustern organisiert sind. Diese sequentiellen Muster sind in ihrer minimalen Form paarweise strukturiert wie im Falle des Handlungsmusters ‚Begrüßung’: 70
DIE ERGEBNISSE
Ein Anstaltsleiter sieht die menschliche Sprachfähigkeit und das Bedürfnis nach Zuhörerschaft als Kriterium des Menschseins an: „Der Mensch ist ein Wesen, das auf Kommunikation angelegt ist. Wenn er nicht mehr kommunizieren könnte, weder reden noch jemand haben, mit dem er reden kann, dann würde ein ganz wesentlicher Teil seines Menschseins nicht mehr funktionieren und damit würde er nicht mehr existieren können auf Dauer. Ich denke, dass es dann im persönlichen Bereich solche Verwerfungen gäbe, die zu Verformungen des Charakters und damit der Seele, Verbiegungen bis hin zur Entmenschlichung kommt. Damit ist die Frage, ob jemand ein Recht auf Zuhörerschaft hat, für mich keine Frage des Rechts, des Rechthabens, sondern eine Frage des Menschseins. Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass er jemand hat, der ihm auch zuhört.“ (AL V 659-668) Ein AVD-Beamter meint, dass nicht nur der Einzelne benachteiligt ist, wenn er kein Recht auf Zuhörerschaft hat. Er vertritt eine ähnliche Meinung wie Hannah Arendt, die von der Unverzichtbarkeit des Miteinanderredens für eine Anerkennungsgemeinschaft ausgeht: „Eine Gesellschaft an und für sich [kann] nur funktionieren, wenn die Leute miteinander reden und miteinander arbeiten. Und Miteinander setzt sozusagen immer eine Kommunikation in irgendeiner Art und Weise voraus.“ (AVD I 760-500) Ein Fachdienstmitarbeiter befindet sich mit seiner Meinung ebenfalls in unmittelbarer Nähe zu dem arendtschen Konzept der Zuhörerschaft. Er glaubt, dass ein Mensch sein Recht auf Zuhörerschaft durch kein Fehlverhalten verwirken kann: „Wenn ich ignoriert werde, gehe ich irgendwann zu Grunde. Und so, kann ich mir vorstellen, geht das jedem Menschen. Wenn er niemanden mehr hat, der ihm zuhört oder mit dem er sich aussprechen kann, unterhalten kann. Das ist eine Geschichte, die vielleicht auch viele der Bediensteten lernen müssen. Dass der Gefangene trotz dem Bruch, was er gemacht hat, egal was er gemacht hat, ein Mensch ist und auch jemanden braucht, der ihm zuhört. Zuhört. Sonst kann er auch wieder so rückfällig werden. Weil das braucht jeder irgendwo: einen Ansprechpartner. Und den sollen die Gefangenen sich doch bitte schön frei wählen können. Ich halte zum Beispiel nicht viel davon, bestimmte Referate – ob das Sozialdienst ist, oder die Psychologen oder Vollzugsgeschäftsstellen – nach Buchstaben Gefangene aufzuteilen: Der macht A bis D, der macht D bis – ja, bis wohin? Sondern es sollte jeder sagen Sprecher A: Hallo! Sprecher B: Hallo! Paarsequenzen oder adjacency pairs bestehen aus einem ersten Teil, auf den ein anderer Sprecher direkt im Anschluß mit dem zweiten Teil reagieren muß. Prototypische Paarsequenzen sind z. B. Gruß – Gegengruß, Entschuldigung – Annehmen der Entschuldigung, Danken – Annehmen des Dankes – Gegendank, Frage – Antwort.“ 71
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können: ‚Jawohl, dem Menschen kann ich vertrauen, mit dem rede ich.’“ (FD III 476-498) Die meisten Gefangenen und manche Vertreter der gefangenennahen Dienste befürworten zwar das Konzept des Rechtes auf Zuhörerschaft, zweifeln jedoch an seiner Umsetzbarkeit. Der nachstehende Satz eines Gefangenen spielt auf die im Kapitel „Einflussnahme in der Sprachgemeinschaft“ näher beschriebene Käuflichkeit der Zuhörerschaft an. „Aber hier im Gefängnis verschieben sich die Werte. Wer weiß schon, weswegen man ihm zuhört.“ (GEF IV 379-390) Ein anderer Gefangener pflegt eine Einstellung, die zeigt, wie sich der gute Vorsatz des Zuhörens in der Situativität des Gefängnislebens auflöst. Auf meine Frage nach dem Recht eines Menschen auf Zuhörerschaft meint er: „Na klar“, fährt dann in nahezu widersprüchlicher Weise jedoch fort: „Aber das Recht, auch wenn es irgendwo geschrieben wäre, das interessiert keinen. Wenn ich dem nicht zuhören will, höre ich dem nicht zu. Dann sage ich dem: ‚Geh weg.’ Oder ich gehe weg. Oder ich höre es mir halt an. Und dann geht es halt da rein, da raus.“ (GEF V 306-316 ) Folgender Beamter scheint diesen wechselhaften Umgang mit den Rechten von Sprecherhörern ebenfalls zu kennen. Er unterscheidet unterschiedliche Rezeptionsweisen von Redebeiträgen: „Ein großer Teil sucht sich irgendeinen Ansprechpartner. Nein. Ansprechpartner vielleicht nicht, einen Zuhörer. Ansprechpartner wäre dann ja wieder einer, der sich damit auseinandersetzt. Ich denke einen Zuhörer. Und dann möglichst einen Schwächeren oder einen, den man halt beeindrucken kann.“ (AVD I 938-941) Nur wenige Befragte wenden das Konzept des Rederechts und der Zuhörerschaft explizit auf die Gruppe des Personals an: „Wie es unter den Gefangenen eine Hierarchie gibt, so gibt es unter den Bediensteten auch eine. Also der Anstaltsleiter, es kommt mir immer so vor, der ist so der König. Der hockt da auf dem Thron. Es wird einfach das Gefühl vermittelt: ‚Ihr habt mir zu hören. Ich bin derjenige, wo hier sagt, was gemacht wird.’ Das ist, was ich mit Struktur meine. Es gibt bestimmt Leute, die haben sehr gute Ideen, aber die werden nicht gehört, weil Sie einfach halt irgendwo in einem Bereich sind [unverständlich]. Das kommt mir dann so vor, wie wenn das dann nicht nötig wäre, dass man so jemandem zuhört.“ (WD II 497-525 ) Nur wenige der Befragten äußern kein eindeutiges „Ja“ oder „Nein“ auf die Frage nach dem Recht eines Menschen auf Zuhörerschaft. Folgender uneindeutiger Antwortstil ist nicht repräsentativ für die Gruppe der Beforschten: I AL I 72
„Und hat ein Mensch Ihrer Meinung nach ein Recht auf Zuhörerschaft?“ „Ein Recht juristisch? Hä?“ [lacht] [lacht]
DIE ERGEBNISSE
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„Einklagbares Recht?“ „Oder.“ „Bedürfnis nach Zuhörerschaft? Ein Bedürfnis.“ „Das ist jetzt Rechtsphilosophie. Das ist nicht mehr Dogmatik oder sonst was. Ihre Meinung. Hat ein Mensch ein Recht auf Zuhörerschaft? [Pause] Ein Bedürfnis, gut. Okay.“ „Ein Bedürfnis.“ „Punkt?“ „Punkt.“ (AL III 497-507)
Der zitierte Anstaltsleiter lehnt es offenbar ab, sich hinsichtlich des Rechts auf Zuhörerschaft normativ festzulegen. Ähnlich vorsichtig in seiner Äußerung ist folgender Fachdienstmitarbeiter, der ein Recht auf Zuhörerschaft mit gewissen Sprachpflichten gekoppelt wissen möchte, die es im Interesse von Hörerrechten zu wahren gilt. In folgendem Zitat wird das Recht auf Zuhörerschaft an Bedingungen geknüpft und folglich als verwirkbar angesehen: „Ich finde auch, das der Zuhörer ein Recht auf Schutz hat. So wie jetzt in einem Beispiel, bei dem jemand schriftlich Druck auf mich ausübt und ich dann schon vorwegnehme, was gedanklich da mit mir geschieht, wenn ich da dort sitze und was der für einen Druck auf mich ausübt und ich mir das nicht antun will. Also ich denke, grundsätzlich ist das Recht auf Zuhörerschaft da. Aber ich würde sagen, nicht ohne Einschränkungen.“ (FD IV 113-127) Diese Meinung wird auch auf Seiten der Gefangenen erwähnt: „Ich finde das Recht auf Zuhörerschaft ganz wichtig. Aber dazu musst du bereit sein, selber auch zuzuhören. Sonst hat das ja keinen Wert.“ (GEF II 410-415) Das Zitat leitet zur Beschreibung derjenigen Befragtengruppe über, die ein Recht auf Zuhörerschaft verneinen. Hierzu zählen hauptsächlich Gefangene. Die häufigste Begründung ist hier, dass das Phänomen der Zuhörerschaft nicht garantiert ist, sondern dass es als Ergebnis von gelungener Sprechertätigkeit anzusehen ist. Kurz: Eine Zuhörerschaft muss man sich erarbeiten, wie folgender Gefangener meint: „Also ‚Recht’ ist das falsche Wort. Da muss er sich die Möglichkeit einer Zuhörerschaft erarbeiten. Wenn ich mich einfach nur hinsetze und bla bla mache, hört mir irgendwann keiner mehr zu, das ist normal.“ (GEF VI 293-300 ) Ein anderer Gefangener weist darauf hin, dass dem Recht auf Zuhörerschaft nur dann genüge geleistet wird, wenn der oder die Zuhörer authentisch zuhören. Da diese Voraussetzung jedoch nicht überprüft und auch nicht erzwungen werden kann, lehnt er dieses Recht ab: „Ich sage es mal so: Man kann die Zuhörerschaft nicht erzwingen. Also es ist schön, wenn jemand zuhört. Aber wenn jetzt Leute zuhören und denen macht das keinen Spaß, dann macht das keinen Sinn, was zu erzählen. Das Recht hat 73
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keiner, meiner Meinung nach.“ (GEF VII 388-402) Ein Gefangener erklärt, wodurch das Recht auf Zuhörerschaft verwirkt wird: „Man kann nicht sagen, dass jemand das Recht auf Zuhörerschaft hat, sozusagen das Recht auf Zuhören. Manche Leute haben es nicht, weil es Blödmänner sind. Weil es Einunddreißiger sind.“99 (GEF I 459-476) In den Antworten der Befragten deutet sich an vielen Stellen an, dass sie ihre Meinung zum Thema Recht auf Zuhörerschaft an gewisse Erfahrungswerte koppeln, die sie im Strafvollzug über die Zeit gesammelt haben. Was die Gefängnisangehörigen aus diesen Erfahrungen und Meinungen im Alltag der strafvollzuglichen Kommunikationspraxis machen und welche Konsequenzen sich daraus für die gesamte Sprachgemeinschaft ergeben, wird in den folgenden Kapiteln dargestellt.
99 Ein anderes gefangenenspezifisches Synonym für den Begriff „31er“ ist „Verräter“. Der Begriff „31er“ leitet sich ab aus § 31 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). Hier ist geregelt, in welcher Weise eine Informationsweitergabe von Gefangenen an Beamte des Kriminaljustizsystems zu einer Strafmilderung, zu einem Absehen von Strafe oder zum Absehen von der Verfolgung führen kann. Dieser Paragraph beinhaltet die sogenannte Kronzeugenregelung: „§ 31 Strafmilderung oder Absehen von Strafe. Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern [...] oder von einer Bestrafung [...] absehen, wenn der Täter 1. durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgedeckt werden konnte, oder 2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass Straftaten [...], von deren Planung er weiß, noch verhindert werden können.“ 74
DIE ERGEBNISSE
Gesprächsanlässe Die Abgrenzung zwischen diesen einzelnen Arbeitsbereichen – sei es jetzt durch eine Uniform oder durch räumliche Abgrenzung. Der Anstaltsleiter, der hockt ganz oben. Wenn ich in den ersten Stock hoch fahre, dann hab ich schon das Gefühl, dann muss ich anders schwätzen, wie wenn ich jetzt zum Beispiel von mir aus in einem Stockwerk mit einem Abteilungsbeamten rede. So habe ich das Gefühl. Es ist alles so ein bisschen abgegrenzt. Und wenn ich jetzt jemandem auf dem Gang begegne, habe ich auch das Gefühl, da kann ich nicht so viel reden, wie wenn ich jemand draußen auf dem Feld begegne, wo ich dann stehen bleibe und mit dem schwätze. Es ist einfach halt, da hab ich schon gedacht, irgendwas. Aber was das ist, kann ich jetzt auch nicht so genau sagen. Es ist halt irgendwas, was nicht so befreiend ist, dass man sagen kann: ‚Ja, dann bleibt man jetzt mal gern stehen und redet jetzt mit dem.’ (ein Werkdienstbeamter)
In diesem Kapitel möchte ich zeigen, inwiefern lebensweltliches Sprechen nach Habermas insbesondere von offiziellen aber auch von inoffiziellen strafvollzugsspezifischen Strukturen kolonisiert wird. Ein spontanes und zwangloses, nicht zweckgebundenes Gespräch im Gefängnis zu führen, ist in der Regel nur dann möglich, wenn sich die Sprecherhörer lebensweltliche Nischen erschaffen, in denen sie sich ungeachtet strafvollzuglicher Regelungskataloge entfalten können. Es werden nun strafvollzugliche Orte und Anlässe geschildert, in denen es regelmäßig zu verbalsprachlichem Austausch der Gefängnisangehörigen kommt. Die Oralität des Gefängnisses ist an bestimmte Orte bzw. Anlässe gebunden, die sich beispielsweise materiell aus der Architektur des Anstaltsgebäudes ergeben können, die organisationsstrukturell auf den Vorgaben von Gesetzen, Richtlinien oder Hausordnungen basieren oder die sich entlang eines informellen Regelwerks auf Beamten- oder Personalseite bilden. Einige offiziell erwünschte bzw. erlaubte Gespräche sowie inoffiziell entstandene jedoch offiziell untersagte Gesprächsanlässe werden exemplarisch geschildert. Eines der ersten offiziellen Gespräche, welches der neuinhaftierte Gefangene führt, ist das Aufnahmegespräch mit einem Vertreter der Leitungsebene der Anstalt oder, wie es inzwischen gängige Praxis gewor75
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den ist, mit einem hierfür als zuständig erklärten Sozialarbeiter. In diesem Gespräch wird dem Gefangenen erklärt, welchen Regeln das Zusammenleben und Arbeiten in der Anstalt folgt und welche Verhaltensweisen erlaubt und verboten sind. Der Gefangene wird über seine Rechte, in erster Linie jedoch über seine Pflichten aufgeklärt.100 Nachdem der Gefangene seinen Haftraum bezogen hat, wird er im Erstkontakt mit seinen Abteilungsnachbarn zu einem erneuten inoffiziellen Aufnahmegespräch durch die Gefangenengruppe gebeten: „Über Verpflichtungen als Gefangener wird nur am Anfang geredet. Ganz am Anfang, wenn man in die Strafhaft kommt. Zum Beispiel ein Albaner oder ein Russe, wenn er kommt. Oder ich erzähle es von einem Türken, dann weiß ich es hundertprozentig. Kommt ein Türke, wird er gleich eingewiesen: ‚Das ist unser Türkenleader, das ist unser Platz. Da hängen wir herum. Das ist unser Platz. Wir laufen so rum. Das sind unsere Freunde, das unsere Feinde. Die können wir nicht leiden. Wenn du das und das brauchst, kannst du zu dem hingehen.’ Dann wird der eingewiesen, sozusagen. Wir tun das wie die vorne bei der Verwaltung. Sozusagen die einweisen. ‚In diesem Stock bist du, das ist dein Stockwerkssprecher.’ Solche Einweisungen gibt es unter Gefangenen auch. Sozusagen bestimmte Regeln: ‚Wenn das und das passieren tut, tu das. Wenn es eine Schlägerei gibt: Schlägereipunkte dort und dort. Es gibt bestimmte Plätze, wo man nur schlägern tut. Im Hofgang wird das ungern gemacht. Nur auf bestimmten Plätzen, wo die Beamten nichts sehen.’ Dass die Neuen das auch wissen, dass sie sich darauf vorbereiten können. Zusammenhalt, dass das hier sehr wichtig ist. Dass es hier sehr starke Gruppierungen gibt. Unterstützung, gegenseitige Unterstützung beim Einkauf: ‚Hast du was? Brauchst du was? In welchem Stock bist du? Bringst du es dann mit dem oder mit dem da? Sachen abchecken, vielleicht Drogen.’“ (GEF I 353374 ) Erving Goffman hat bereits 1973 nachgewiesen, dass sich in totalen Institutionen parallel zu den offiziell durch die Anstalt initiierten Kommunikationsforen Gesprächsinstitute in der „Unterwelt“ der Anstalt bilden.101 Um ein solches Kommunikationsforum scheint es sich hierbei zu handeln.
100 Vgl. § 5 StVollzG: „Aufnahmeverfahren. (I) Beim Aufnahmeverfahren dürfen andere Gefangene nicht zugegen sein. (II) Der Gefangene wird über seine Rechte und Pflichten unterrichtet. (III) Nach der Aufnahme wird der Gefangene alsbald ärztlich untersucht und dem Leiter der Anstalt oder der Aufnahmeabteilung vorgestellt.“ 101 Vgl. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 171 ff. 76
DIE ERGEBNISSE
Eines der am meisten standardisierten Kommunikationsforen auf Mitarbeiterseite sind die von der Anstaltsleitung einberaumten oder selbstorganisierten Dienstbesprechungen. Diese Dienstbesprechungen sind unterschiedlich groß und finden je nach Gefängnis mehr oder weniger häufig in regelmäßigen Abständen statt. Bei großen Dienstbesprechungen sind so viele Gefängnisbeamte wie möglich anwesend und folgen den Berichten oder Anweisungen des Anstaltsleiters. Dienstbesprechungen dienen unter anderem auch dazu, neue ministerielle Erlasse sowie Verfügungen von der Leitungsebene zu erläutern und nötigenfalls zu rechtfertigen. Ein AVD-Beamter beklagt sich, dass in großen Dienstbesprechungen keine dialogische Besprechung sondern eine monologische Anweisung stattfindet: „Dann gibt es eine weitere Sprechergruppe. Das sind die sogenannten Dienstbesprechungen oder überhaupt Besprechungen. Dienstbesprechung ist eigentlich nie Dienstbesprechung. Dienstbesprechung ist eigentlich immer Befehl und Gehorsam. Steht einer vorne dran und monologisiert über irgendwelche Ereignisse über Anforderungen oder Erwartungen, teils mit erhobenem Zeigefinger. Und das läuft dann unter dem Deckmantel Dienstbesprechung. Das ist aber keine Besprechung, das ist Befehlsempfang oder Informationsweitergabe. Mehr ist das nicht. Eine Besprechung setzt ja immer Kommunikation zwischen mehreren voraus. Bei Dienstbesprechungen hört man zwangsläufig zu.“ (AVD I 654-663, 719-723) Auch die Zugangs- bzw. Vollzugsplankonferenz, an der in der Regel ein Vertreter der Anstaltsleitung, ein Psychologe, ein Soziologe sowie mancherorts ein Abteilungsbeamter teilnehmen, ist gesetzlich vorgeschrieben. In ihr wird mit dem neuinhaftierten Gefangenen unter anderem darüber gesprochen, welche Maßnahmen der Behandlung und Unterbringung auf ihn angewendet werden. Diese Konferenz kann zu jedem Zeitpunkt anlassbezogen wieder einberufen werden.102 „Es gibt be102 Vgl. § 7 StVollzG: „Vollzugsplan. (I) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) wird ein Vollzugsplan erstellt. (II) Der Vollzugsplan enthält Angaben mindestens über folgende Behandlungsmaßnahmen: 1. die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug, 2. die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt, 3. die Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen, 4. den Arbeitseinsatz sowie die Maßnahmen der beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung, 5. die Teilnahme an Veranstaltungen der Weiterbildung, 6. besondere Hilfs- oder Behandlungsmaßnahmen, 7. Lockerungen des Vollzuges und 8. Notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung. (III) Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten. Hierfür sind im Vollzugsplan angemessene Fristen vorzusehen. [...]“; § 159 StVollzG: „Konferenzen. Zur Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplanes und zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen im Vollzuge führt der Anstalts77
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stimmte Konferenzen, wo der Sozialdienst da ist. Diese Erstkontaktaufnahme zum Gefangenen zum Beispiel. Und da wird auch über Straftaten gesprochen. Ob es Schulden gibt, ob es eine Kontaktaufnahme zum Opfer gab und solche Sachen.“ (AVD IX 111-114) Das Institut der Sprechstunden – auch Anhörungen oder Rapport genannt – gestaltet sich in den jeweiligen Gefängnissen unterschiedlich. Hier wird ein Gefangener in Begleitung eines AVD-Beamten einem entscheidungsbefugten leitenden Gefängnisbeamten, in der Regel einem Juristen vorgeführt. Anlass für das Gespräch sind häufig Beschwerden über den Gefangenen von Seiten der Beamten bzw. Mitgefangenen aber auch Anträge des Gefangenen. Ein Anstaltsleiter trifft seine Gefangenen zu solchen Gesprächen „beim Rapport meistens immer dann, wenn der Gefangene wieder etwas angestellt hat. Das ist fast die typische klassische strafrichterliche Tätigkeit.“ (AL III 33-37) Ein Fachdienstmitarbeiter typisiert den Gesprächsablauf in solchen Sprechstunden, die anlässlich einer Beschwerde stattfinden: „Der Beamte sieht den Gefangenen mehr oder weniger nur zum Rapport: ‚Ich habe gesehen, dass Sie das das das das gemacht haben, und ich habe dem Chef vorgetragen bla bla bla bla bla und aus dem Grund fordere ich das das das als Sanktion. Was haben Sie dazu zu sagen?’ Der Gefangene steht dann da wie das arme Würstchen.“ (FD II 370-374) Sprechstunden stellen für den Gefangenen eine sich selten ergebende Möglichkeit dar, mit einem Juristen sprechen zu können. In vielen Anstalten ist diese Praxis jedoch tendenziell rückläufig: Häufig sind es nun nicht mehr die Juristen sondern Verwaltungsfachwirte, welche sich in den Sprechstunden mit den Gefangenen und deren Anliegen und Auffälligkeiten auseinandersetzen Weitere offizielle Gesprächsanlässe sind die entsprechend dem Resozialisierungsauftrag stattfindenden Beratungen oder Therapien mit Psychologen und Soziologen. Die Mehrzahl der Gefangenen nimmt die Angebote der Psychologen und Soziologen jedoch nur sporadisch und nur dann ernsthaft in Anspruch, wenn mit solchen Gesprächen Vorteile wie etwa vorzeitige Lockerungen aus der Haft verbunden sind. Psychologen und Sozialarbeiter werden immer dann ernsthaft kurzfristig in Anspruch genommen, wenn „Not am Mann ist“, weil etwa die Freundin den Gefangenen verlassen hat oder ein Angehöriger gestorben ist. Nur wenige Gefangene sind ernsthaft an einer langfristigen Therapie interessiert. Aus der Perspektive einiger Gefangener sind jedoch die Psychologen und Sozialarbeiter diejenigen, die um eine Zuhörerschaft werben und nicht die Gefangenen: „Als Psychologe habe ich von vornherein den leider schlechten Ruf, dass man mich in Haftanstalten als Dachdecker beleiter Konferenzen mit an der Behandlung maßgeblich Beteiligten durch.“ 78
DIE ERGEBNISSE
zeichnet. Da geht man ja nur hin wenn man wirkliche Probleme hat. Aus dem Grund gibt es wenige Leute, die den Psychologen wirklich zuhören oder sich die Mühe machen, da zuzuhören. Sozialdienst ist auch so eine Geschichte, die wird angenommen, aber immer wieder nur von Gefangenen, die wirklich kurz vor ihrer Entlassung stehen. Bis dahin kümmert sich niemand um die, um diese sogenannten Sozialdienste.“ (GEF VI 4150) Diese Aussage widerspricht der Tatsache, dass gerade Sozialarbeiter des Gefängnisses ihr Arbeitspensum kaum bewältigen können, da sie Tag für Tag mit einer Fülle von Anträgen konfrontiert werden. Es scheint also doch eine erhebliche Anzahl von Gefangenen zu geben, die sich um den Kontakt zu ihrem Sozialarbeiter bemühen. Auch Anstaltsleiter verlieren offenbar die Tatsache aus dem Blick, dass die Angehörigen des Fachdienstes faktisch überlastet sind und darum nur in unvollkommener Weise ihrer Arbeit nachkommen können. Der Anstaltsleiter ist der Auffassung, im Gefängnis sei man, was die psychosoziale Betreuung betrifft, in den besten Händen: „Ich glaube, dass diejenigen, die das Bedürfnis haben, irgend etwas loszuwerden, irgend eine innere Not loszuwerden, ein Problem, eine Angst loszuwerden, dass die es im Gefängnis besonders gut haben. Denn hier gibt es eigentlich professionelle Zuhörer, die darauf reagieren können. Vom Seelsorger, der ja unter seiner Schweigepflicht steht, dem man eigentlich alles erzählen kann, bis zum Psychologen oder Sozialarbeiter. Ich denke, draußen haben die Menschen das ja gar nicht. Zumindestens nicht so qualifiziert.“ (AL I 817826 ) Meiner Erfahrung nach suchen Gefangene eher den Seelsorger zu vertraulichen Gesprächen auf als den Psychologen oder Sozialarbeiter. Der Grund dafür mag darin liegen, dass die Seelsorger beider Konfessionen im Unterschied zu den anderen Fachdienstmitgliedern die Möglichkeit haben, Gesprächsinhalte im Rahmen des Beichtgeheimnisses für sich zu behalten. Psychologen unterliegen in wichtigen Fällen der Berichtspflicht. Dies wissen auch Gefangene und wählen darum die Anstaltsseelsorger als ihre Vertrauten. Die obige Aussage des Anstaltsleiters lässt jedoch auch außer acht, dass infolge des Personalmangels auf Seiten der Fachdienste und infolge der Überbelegung der Gefängnisse regelmäßig unzumutbare Betreuungsrelationen herrschen. Nicht selten ist ein Psychologe für zweihundert Gefangene zuständig.103 Für qualitativ hochwertige therapeutische sowie beratende Gespräche bleibt unter diesen Umständen gar keine Zeit. Insofern kann die Teilnahmslosigkeit mancher Gefangener den überlasteten Fachdiensten aus arbeitsökonomischen Gründen nur zupass kommen.
103 Vgl. Michael Walter: Strafvollzug, Stuttgart: Boorberg 1999, S. 213. 79
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Eine weitere gesetzlich geregelte Gelegenheit für die Gefangenen, vor den leitenden Vertretern der Anstalt zu Wort zu kommen, ist die sogenannte Gefangenenmitverantwortung. Hier schließen sich von Mitgefangenen gewählte Gefangene zu einem Gremium zusammen, das der Anstaltsleitung Wünsche und Kritik aus den Reihen der Insassen vorträgt.104 Entsprechend meinen Beobachtungen wird diese Möglichkeit zur Meinungsäußerung von den meisten Gefangenen mit wenig Engagement betrieben. In den Selbstbeschreibungen der Gefangenen wird die Gefangenenmitverantwortung wenig thematisiert. Dies mag ein Grund dafür sein, warum diese Institution auch auf Mitarbeiterseite nur selten erwähnt wird. „Bei den Gefangenen beschränkt sich das als Gruppe sich zu äußern auf die Möglichkeit der Gefangenenmitverantwortung. Die ist vom evangelischen Pfarrer betreut. Da können sie ihre Anliegen als Gruppe artikulieren. Da ist der Anstaltsleiter dabei und der entscheidet dann über die Dinge. Ob sie machbar sind, sinnvoll und so weiter. Weil die Anzahl der unsinnigen Vorschläge, die da rein kommen, die ist natürlich schon extrem hoch.“ (AVD II 209-216) Der Angehörigenbesuch stellt aus der Perspektive des Behandlungsvollzugs ein unentbehrliches Instrument zur Aufrechterhaltung der Sozialkontakte nach draußen dar.105 Letztere sind in manchen Fällen Voraussetzung für die Gewährung von Urlaub aus der Haft. Es wird davon ausgegangen, dass Gefangene, die nach der Haftentlassung über gute Kontakte zu ihren Angehörigen verfügen, weniger von Rückfälligkeit bedroht sind als Gefangene, die auf kein sozial hilfreiches Netz hoffen können. Der Angehörigenbesuch soll ungezwungene Gespräche zwischen den Gefangenen und Besuchern ermöglichen. Die Rahmenbedingungen schränken die Umsetzung dieses Vorhabens jedoch massiv ein. Die Besuchszeiten sind von der Anstalt festgelegt. Laut Gesetz muss es pro Monat mindestens eine Stunden sein. Die meisten Gefängnisse liegen bei der durchschnittlich gewährten Besuchsdauer um ca. eine Stunde darüber. Nachdem der Besucher auf dem Weg in den Besuchstrakt des 104 Vgl. § 160 StVollzG: „Gefangenenmitverantwortung. Den Gefangenen und Untergebrachten soll ermöglicht werden, an der Verantwortung für Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse teilzunehmen, die sich ihrer Eigenart und der Aufgabe der Anstalt nach für ihre Mitwirkung eignen.“ 105 Vgl. § 24 StVollzG: „Recht auf Besuch. (I) Der Gefangene darf regelmäßig Besuch empfangen. Die Gesamtdauer beträgt mindestens eine Stunde im Monat. Das Weitere regelt die Hausordnung. (II) Besuche sollen darüber hinaus zugelassen werden, wenn sie die Behandlung oder Eingliederung des Gefangenen fördern oder persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten dienen, die nicht vom Gefangenen schriftlich erledigt, durch Dritte wahrgenommen oder bis zur Entlassung aufgeschoben werden können. [...]“ 80
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Gefängnisses einige Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen über sich hat ergehen lassen, wird ihm an einem reservierten Tisch der Gefangene vorgeführt. Von den Beamten werden die Besuche daraufhin beobachtet, ob unerlaubte Gegenstände wie etwa Drogen übergeben werden. Da die Gefangenen und die Besucher sich längere Zeit nicht gesehen haben und die jeweiligen Lebenswelten einander sehr unähnlich sind, gestalten sich viele Besuchsgespräche zäh. „Es ist immer eine kleine Spannung bisher gewesen. Die Mutter erzählt dir vielleicht. Und du denkst bei dir selbst: ‚Ach Gott, so ein Quatsch, Banalität.’ Also ernsthafte Gespräche kommen da eigentlich kaum zustande. Beim Besuch da sprichst du halt so oberflächlich und jeder versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Weil der Gegenüber der will dich ja auch nichts spüren lassen. Also der ist ja bemüht, dich vergessen zu machen, dass du im Gefängnis bist und du wiederum willst rüberbringen: ‚Ha, so schlimm ist das doch gar nicht.’ Es kommt immer auf die Tagesform an. Also manchmal hast einfach keinen Bock zum Reden. Dann vergeht die Zeit überhaupt nicht. Dann hoffst du, dass der Besuch rum ist und manchmal dann bist du gut drauf, dann ist die Zeit weg.“ (GEF III 1011-1026) Die meisten Gefangenen freuen sich trotzdem maßlos über jeden Besuch. Wenn sie auch mehrheitlich den oben genannten Klagen zustimmen, so stellt der Besuch dennoch eine willkommene Abwechslung dar. Bezeichnenderweise wird in einem der von mir besuchten Bundesländer der Angehörigenbesuch im Gefängnisjargon als „Sprecher“ bezeichnet. Die einzigen von offizieller Seite her erwünschten Gesprächsanlässe, in denen häufig lebensweltliche Kommunikation ermöglicht wird, stellen die Besuche ehrenamtlicher Mitarbeiter dar.106 Dies sind meistens Personen, die, organisiert über einen Verein für Straffälligenhilfe, Einzelbesuche von Gefangenen durchführen oder im Gefängnis Freizeitgruppen anbieten. Insbesondere die Freizeitgruppen, in denen die Gefangenen kochen, Spiele machen, Theater spielen oder an Diskussionsrunden teilnehmen, eröffnen die Möglichkeit, sich spontan mit gefängnisexternen Personen zu unterhalten. Dies wird meines Erachtens dadurch sehr erleichtert, dass die gegenseitigen Erwartungen zwischen Besuchern und Gefangenen in solchen Fällen weitaus niedriger angesetzt sind als beim Angehörigenbesuch und es keine gemeinsame konfliktreiche Vorgeschichte gibt. Ein Anstaltsleiter preist die Vorzüge, welche die Pflege der ehrenamtlichen Arbeit und die Öffentlichkeitsarbeit allgemein für das geschlossene System Strafvollzug auf kommunikativer Ebene haben kann: „Die Mauer ist dazu da, dass unsere Gefangenen nicht ausbrechen. Das ist der gesetzliche Auftrag. Die Mauer ist auch dazu da, dass die Be106 Strafvollzugsrechtlich werden die ehrenamtlichen Mitarbeiter nur indirekt in § 154 II 2 StVollzG erwähnt. 81
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völkerung nicht reinkommt. Deswegen machen wir an sich Matinées, Künstler rein, Veranstaltungen mit der Bevölkerung zusammen, mit Gefangenen, um das zu erreichen. Also in dem Bereich ist sicherlich der Vollzug ein Sonderwesen. Das ist eine Gemeinde. Und das ist auch draußen üblich: Ich gehe mit einer Gemeinde zur anderen. Ich lerne dort jemand kennen oder dergleichen. Das kann ich hier nicht. Also kann ich nur versuchen, einen Teil der Bevölkerung hier reinzukriegen. Sei es durch Ehrenamtliche. Das ist der eine Bereich. Sei es durch ganz normale Veranstaltungen, dass man von der Bevölkerung, sei es auch nur durch Neugierde, zunächst mal sechs bis acht Leute, hier hinter die Mauern bekommt. Und an Veranstaltungen teilnimmt, wo Gefangene auch teilnehmen, wo man auch anschließend auch zusammensteht. Wo Gespräche stattfinden, um ein bisschen diese kleine Gemeinde auf einer Insel im Ozean, wo man nur selten erreicht. Um diese Kontakte herzustellen.“ (AL III 417-431) Neben den offiziell erwünschten Gesprächsanlässen finden weitere Gespräche zu Gelegenheiten statt, in denen sich die Gefängnisangehörigen ebenfalls zu Gruppen zusammenfinden. Dies tun sie dann jedoch nicht primär aus Gründen der anstaltserwünschten Kommunikativität, sondern aus unterschiedlichen anderen offiziell genehmigten oder vorgeschriebenen Gründen. Ich gehe im Folgenden nur auf zwei solche Gelegenheiten zur offiziell erlaubten zweckfreien Kommunikation näher ein. Es handelt sich hierbei um den Nachtdienst und den Hofgang. An welchen Stellen bei diesen Gesprächskontakten die Sprecherhörer die Grenze zur unerwünschten oder verbotenen Kommunikation überschreiten, wird ebenfalls erläutert. Während des Nachtdienstes halten sich nur sehr wenige Beamte in der Anstalt auf. Zählt man die Beamten des Aufsichtsdienstes und des medizinischen Bereichs zusammen, so kommt man auf ein gutes Dutzend Beamte, denen teilweise über fünfhundert Gefangene in ihren Hafträumen gegenüberstehen. Während des Nachtdienstes ist das Gefängnis schließsystematisch besonders gesichert. Beamte dürfen die Zellen nur dann aufmachen, wenn sie zu mehreren sind und in der Gruppe die Gesamtzahl der Gefangenen im Haftraum übersteigen. In manchen Gefängnissen, vor allem in Anstalten ohne Gegensprechanlage in den Hafträumen, gibt es bestimmte Einrichtungen an den Türen, die eine Kommunikation zwischen einem einzelnen Beamten und Gefangenen dennoch ermöglichen: Die Kostklappe ist eine schachbrettgroße, verschließbare Klappe, durch die Essen bzw. Medikamente durchgereicht werden können und durch die der Beamte sich mit dem Gefangenen unterhalten kann. Solche Versorgungsgespräche finden jedoch kaum statt. In der Regel halten sich die Nachtdienstbeamten selten auf den einzelnen Abteilungen auf. Sie treffen sich häufig in einem Büro, wo dann 82
DIE ERGEBNISSE
geredet und meistens auch gegessen wird. Wenn der Nachtdienst von Beamten versehen wird, die sich untereinander sehr gut verstehen, weil sie etwa tagsüber in einer Schicht arbeiten, kann der Nachtdienst förmlich zu einer Mitternachtsparty werden, wo unter Umständen sogar gekocht wird. In manchen Gefängnissen lassen sich die Beamten von Imbissbringdiensten ihr Essen liefern. Dabei läuft manchmal ein Radio mit Musik oder es wird der Fernseher eingeschaltet, was aus Anstaltsperspektive streng verboten ist. Ich habe in zwei Anstalten solche Feste miterlebt. In anderen Anstalten wurde mir (mit leuchtenden Augen) davon berichtet. Ich behaupte, dass solche Foren für Kommunikation und Festivität den Beamten gut tun, da sich dabei viele Gelegenheiten zum zwanglosen Gespräch ergeben. Sie können auch durch keine noch so gut gemeinte Dienstbesprechung oder betriebliche Weihnachtsfeier ersetzt werden. Diese Gespräche sind meiner Erfahrung nach in zweifacher Hinsicht für ein angenehmes Arbeitsklima bedeutsam: Anders als eine Nachtdienstschwester im Krankenhaus hat der Nachtdienstbeamte im Gefängnis nicht „alle Hände voll zu tun“, sondern wartet darauf, dass die Zeit vergeht. „Im Nachtdienst gibt es oft gar nicht viel zu tun, sondern man muss halt da sein und im Ernstfall eben sich bereithalten. Da kann man eben Geschichten erzählen.“ (AL I 272-275) Die Gespräche in der Beamtengruppe verhindern darum möglicherweise, dass der Beamte alleine auf seiner Abteilung sitzt und vor lauter Langeweile einschläft. Anstaltsleiter wissen offenbar um diese Situation und gestehen ihren Beamten gerne solche nächtlichen Gesprächsgemeinschaften zu: „Mann, bin ich froh, dass ich da keinen Nachtdienst machen muss. Das wäre ja so grauenhaft langweilig. Das würde ich nicht aushalten. Da täte ich lieber rumlaufen und gucken ob ich Kontakt mit einem aufnehmen kann.“ (AL II 234-238) Im übrigen dient das gemeinsame Feiern von „Festen“ der Pflege kollegialer Beziehungen. Diese finden nicht selten im Herzen der Anstalt, in der sogenannten Zentrale bzw. Innenwache statt. Dort sitzt ein Beamter, der für die gesamte Sicherheit der Anstalt zuständig ist und einen Großteil der Überwachungstechnik kontrolliert. Dieser Beamte darf seinen Arbeitsplatz auf keinen Fall verlassen. Er darf sich auch nicht durch einen Kollegen vertreten lassen. In solchen Zentralräumen darf sich aus Gründen der Sicherheit keine unübersichtliche Zahl von Personen gleichzeitig aufhalten. Gerade dieser Raum wird in vielen, auch in den „ordentlich geführten“ Anstalten nachts manchmal zum Festsaal umfunktioniert. Seine schwere Sicherheitstüre steht dann häufig offen und jeder Beamte, der gute Stimmung und viel interessanten Gesprächsstoff mitbringt, ist willkommen. Während der Anstaltsleiter daheim nichtsahnend schläft, macht seine kleine Nachtbelegschaft für ein bis zwei Stunden nicht nur die Nacht zum Tag sondern auch die Dienstzeit zur Freizeit. Meiner Ansicht nach bedeutet dieses Geschehen keine 83
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Einschränkungen für die Sicherheit der Anstalt, denn in sämtlichen Fällen, in denen ein Gefangener über die Gegensprechanlage mit den Beamten Kontakt aufnahm, wurde dieser postwendend freundlich und korrekt behandelt. Er bekam auf verbalem Wege sogar etwas von der guten Laune zu spüren. In manchen Gefängnissen sind Beamte während des Nachtdienstes abwechselnd dazu abgeordnet, zu zweit Kontrollgänge durch die Anstalt und entlang der Außenmauer zu machen. Hierbei bietet sich nicht nur die Gelegenheit zum Gespräch. Es entsteht auch ein Zwang zur Kommunikation. Einige Beamte klagen darüber, nicht mit allen Kollegen, die ihnen zum Kontrollgang zugeordnet sind, kommunikativ etwas anfangen zu können. Dennoch haben sie die Weisung, diesen Teil des Dienstes gemeinsam zu versehen. Die schweigsamen, stundenlang andauernden Außenrunden sind bei AVD-Beamten äußerst unbeliebt. Man weiß sich währenddessen entweder nichts zu sagen oder man leidet darunter, dass der Kollege aus einem rücksichtslosen Monologisieren nicht herauskommt. Der Aufenthalt im Freien für Gefangene, auch Hofgang, Freistunde oder Rundgang genannt, ist gesetzlich vorgeschrieben. Es handelt sich dabei um diejenige Zeit des Tages, zu der sich die Gefangenen in Gruppen auf den verschiedenen Innenhöfen des Gefängnisses aufhalten. Noch heute hat der Hofgang gem. § 64 StVollzG das primäre Ziel, den Gefangenen aus gesundheitlichen Gründen den Kontakt mit dem Sonnenlicht zu ermöglichen. Früher liefen die Gefangenen unter Aufsicht der Beamten in diesen Innenhöfen hintereinander im Kreis, wobei Redeverbot herrschte. Diese Vorgabe wurde spätestens mit der Einführung des Strafvollzugsgesetzes 1977 abgeschafft. Der Hofgang der Gegenwart gestaltet sich so, dass manche Gefangene Ballspiele machen, andere im Gras oder auf Bänken sitzen und sich unterhalten. Nicht wenige Gefangene bevorzugen nach wie vor das Gehen im Kreis, wobei kleinere Gruppen von Gefangenen dann nebeneinander laufen und sich ebenfalls unterhalten. Gespräche während des Hofgangs sind sozusagen als Nebenprodukte des gemeinschaftlichen „Sonnenbades“ anzusehen. Aus der Perspektive der Anstalt steht man diesen Gesprächen neutral gegenüber. Inzwischen werden die Gefangenen sogar darin unterstützt, in der Gruppe die kommunikative Kompetenz zu üben. Aus diesem Grund wurde in den letzten Jahren auf immer mehr Abteilungen der Aufschluss eingeführt, bei dem sämtliche Hafträume für mehrere Stunden geöffnet sind und die Gefangenen sich gegenseitig oder den Beamten im Dienstzimmer besuchen können. Die meisten Gefangenen wissen die Gelegenheit zum Gespräch im Hofgang und während des Aufschlusses zu schätzen. Ein kleinerer Teil von Gefangenen verzichtet aus unterschiedlichen Gründen jedoch darauf: Ältere oder Langstrafengefangene wollen der 84
DIE ERGEBNISSE
Unruhe in der großen Gefangenengruppe entgehen. Nicht selten kommt es sogar vor, dass Gefangene während des Aufschlusses den Beamten bitten, er möge sie doch wieder einschließen, weil sie ihre Ruhe haben wollen. Möchte man aus Gründen der Sicherheit und Ordnung verhindern, dass spezielle Gefangene im Hofgang mit bestimmten anderen Gefangenen in Gesprächskontakt treten, ordnet man sie anderen Freistundengruppen zu oder veranlasst Einzelfreistunden, die freilich für das Personal einen Mehraufwand bedeuten. Ob diese Maßnahmen wirklich wirksam sind, möchte ich bezweifeln. Glaubt man den Worten eines Gefangenen, dann besteht immer die Möglichkeit, Mittelsmänner zur Informationsweitergabe zu nutzen: „Wenn ich nicht hofgehe und die anderen gehen in den Hof, erfahren die, was in anderen Stöcken passiert ist. Was die gehört haben. Ob was Schlechtes passiert ist oder was Gutes. Und dann kommt man wieder zurück und dann erzählt man: ‚Heute hat der geschlägert, den haben sie in den Bunker gesteckt.’ Man redet, dass man immer auf dem neuesten Stand ist.“ (GEF I 208-215) Jede Freistunde wird von mehreren Beamten überwacht. Die Beamten sollen währenddessen einzeln am Rand des Freistundenhofs in eigens dafür vorgesehenen Glashäuschen stehen, die die Form von Telefonzellen haben. Für diese Hofbeamten bietet sich darum scheinbar nicht die Gelegenheit, Beamte von anderen Stockwerken zu treffen und während der Stunde Gespräche zu führen. In der Praxis habe ich jedoch kein Gefängnis erlebt, in dem die Beamten durchgehend auf ihren Plätzen stehen bleiben und auf Gespräche verzichten. Sie finden sich zu mehr oder weniger großen Gruppen zusammen und verschwinden in manchen Gefängnissen nicht einmal dann in ihren Glashäuschen, wenn ein leitender Beamter des Weges kommt. „Dann gibt es die Gruppe der Beamten, die Hofaufsicht macht. Normalerweise müssen zwei unten stehen. Meistens stehen dann immer noch ein paar andere dabei. Da wird dann immer viel getratscht und gehechelt. Da habe ich auch schon die Erfahrung gemacht, wenn dann ein Gefangener daherläuft und irgendwas will, was weiß ich, sei es, dass er zur Toilette muss oder dass er irgend etwas fragen will: Der stört. Das ist der Störenfried. Also der sprengt dann da die Gruppe. Der stört die bei ihrem Getratsche und Gespräch. Bei diesen Tratschereien ist es dann eigentlich ähnlich wie bei den größeren Gefangenenansammlungen. Also da ist dann auch immer einer, der schön erzählt und das malerisch unterstreicht. Und die anderen hören aufmerksam zu. Wo dann aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird.“ (AVD I 643-654) Ein Anstaltsleiter scheint bereits völlig vergessen zu haben, dass Beamte sich während des Hofgangs aus Sicherheitsgründen nicht zueinander gesellen und ihren Beobachtungsposten nicht verlassen dürfen. Er spricht im Interview von „Phasen, wo die Beamten so ein biss85
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chen funktionsfrei sich begegnen können. Also das mag zum Beispiel während des Hofganges der Gefangenen sein, wenn zwei Beamte beieinanderstehen. Wenn die Aufsicht haben, dann können die sich was erzählen.“ (AL I 260-265) Der Anstaltsleiter widerspricht mit dieser Aussage schlicht den Vorschriften, die auch in seiner Anstalt gelten. In welchem Ausmaß erlaubte zweckfremde Kommunikation im Dienstzimmer zwischen Beamten und Gefangenen im Gefängnis stattfindet, konnte ich während meiner Beobachtungszeit nicht verlässlich ermitteln. Es gibt Beamte, die sich zu jeder Gelegenheit gerne mit Gefangenen unterhalten. Ebenso gibt es aber Beamte, die über die strafvollzugsbezogenen Themen hinaus keine Gespräche mit Gefangenen führen. Ebenso ist es aus Gefangenenperspektive nicht immer gleichermaßen erwünscht, mit den Abteilungsbeamten einen Plausch zu führen. Gefangene, die sich eingehend mit Beamten auseinandersetzen, machen sich unter Umständen bei den Mitgefangenen als „Zinker“ oder „31er“ unbeliebt.107 Trotz dieses uneinheitlichen Bildes möchte ich darauf hinweisen, dass es ihn gibt: den Beamten, der sich mit aufrichtigem Interesse mit Gefangenen auch über vollzugsfremde Themen unterhält. Solche Gespräche finden dann in der Regel im Abteilungsflur oder zwischen Türe und Angel des Dienstzimmers statt. Im Haftraum halten sich Beamte nur ungern auf, da sie von dort aus keinen Überblick darüber haben, was hinter ihnen auf ihrer Abteilung passiert. Das zweckfremde Gesprächsaufkommen zwischen Beamten und Gefangenen bemisst sich im Einzelfall auch daran, welche Vorstellungen Beamte von angemessener Nähe und Distanz zum Gefangenen haben.108 Für manche Vollzugsbeamte stellt sich aus ihrer Perspektive als Betreuer der Gefangenen auch die Frage, inwiefern sie schweigsames oder gesprächiges Verhalten von Gefangenen als indikativ für den Behandlungsaspekt ansehen sollen: „Der Gefangene selbst erzählt mir täglich Lebensgeschichten, wenn ich mich mit einem unterhalte. Und das muss ich auch in meiner Funktion als zuständiger der Betreuungsbeamter in der U-Haft muss ich das ja quasi täglich machen. Muss auch zwangsläufig mit dem einen oder anderen, wenn es Probleme gibt, dann reden. Und grundsätzlich ist es so: Wenn ich den einen oder anderen nicht gut kenne, dann ist es für mich ein Zeichen, dass es mit dem keine Probleme gibt. Egal ob es jetzt vollzugliche oder persönliche sind. Einer, der im Vollzug mitläuft und keine Sorgen und Probleme hat, mit dem werden wir auch keine haben.“ (AVD III 31-40) Diese gesprächsökonomische Strategie ist mir in den Gefängnissen mindestens ebenso häufig begegnet wie die Bereitschaft
107 Vgl. zum Begriff „31er“ FN 99. 108 Vgl. hierzu das Kapitel „Distanziertes und vertrautes Sprechen“. 86
DIE ERGEBNISSE
von Beamten, aus regelmäßigen Gesprächen mit Gefangenen Schlüsse auf deren Wohlbefinden zu ziehen.109 Zu den offiziell nicht gern gesehenen Kommunikationsforen zählen die vielen kleinen Kaffeepausen während der Arbeitszeit: Wenn die Abteilungsarbeit fürs erste erledigt ist und die Gefangenen sicher hinter ihren Zellentüren eingeschlossen sind, besuchen die Beamten sich gegenseitig. Dabei sitzen dann Beamte mehrerer Abteilungen für mindestens eine Zigarettenlänge in einem Dienstzimmer versammelt und unterhalten sich. Ähnlich verhalten sich die Werkdienstbeamten, die sich, sobald es die betriebliche Situation zulässt, bisweilen zu Gesprächen in den Dienstzimmern der Betriebe treffen. Die Dauer solcher Treffen sowie die Anzahl der beteiligten Beamten hängt davon ab, inwieweit die Abwesenheit vom Dienstplatz aus Gründen der Sicherheit und Ordnung verantwortet werden kann: „Ich sage mal, dort wo sich Bedienstete treffen, um gemeinsam Kaffee zu trinken, das ist unterschiedlich. Die Stationsbediensteten, in kleineren Gruppen, weil die dürfen sich ja eigentlich von ihrem Ort nicht entfernen. Die haben auf ihrer Station Dienst zu machen, können mal zu einer Tasse Kaffee zu jemand anders gehen. Wenn sie ihren Dienst wirklich pflichtbewusst durchführen, dann haben die den ganzen Tag eigentlich wenig Zeit, mit anderen Bediensteten zu sprechen.“ (AVD IV 338-342) Es gibt meiner Beobachtung nach durchaus auch Beamte, die sich sogar während des Aufschlusses gruppenweise in ihr Dienstzimmer zurückziehen und die Tür hinter sich zumachen. Gefangenen, die sich während dieser Zeit mit einem Anliegen an die Beamten wenden, wird nicht selten zu verstehen gegeben, dass sie die Beamten stören. Völlig anders als während des Nachtdienstes, wo der Beamte sich nicht in dieser Weise ein paar arbeitsfreie Minuten erkämpfen muss, wirkt hier die Kontaktaufnahme als unerwünschter Einbruch eines Gefangenen in die Privatgespräche der Beamten. Wie bereits für die unerlaubte Hofgang- und Nachtdienstkommunikation der Beamten gezeigt wurde, scheinen die Anstaltsleiter auch kaum daran interessiert zu sein, informelle Gesprächsgruppen unter den Beamten zu unterbinden. Ein Anstaltsleiter schmunzelt: „Und dann gibt es hier natürlich auch ein paar informelle Orte des Informationsaustausches. Das erfährt niemand, was ich jetzt sage? [Antwort der Interviewerin: Nein, nein, iwo]. Denn sonst sind ein paar Mitarbeiter beleidigt, weil ich es schon rausgekriegt habe. Ein beliebter Ort, wo sich unsere Werkbeamten treffen, ist [Ort anonymisiert]. Wahrscheinlich, weil man da schön über Autos reden kann und [Gesprächsstoff anonymisiert]. Und so gibt es auch sonst natürlich das eine 109 Vgl. eine hiervon vollständig abweichende Meinung eines anderen Befragten im Kapitel „Sprachliche Isolation“ (AL VIII 542-550). 87
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
oder andere Büro. Beispielsweise bei unseren Schreibdamen stehen also viele rum. Es gibt da eine ganze Anzahl informeller Versammlungsorte. Und man könnte auch beschreiben, welche Gruppe sich dort bevorzugt trifft und welche auf keinen Fall hingeht.“ (AL II 276-278) Auf Gefangenenseite stellen Fenstergespräche eine häufig stattfindende, von Anstaltsseite jedoch unerwünschte Kommunikationsform dar. Dabei postieren sich Gefangene in ihren Hafträumen nah am geöffneten Fenster und rufen anderen benachbarten Gefangenen laut durch die Gitter Nachrichten oder Fragen zu. Während Gespräche über zwei Fenster hinweg noch problemlos zu führen sind und auch eine ganze Weile dauern können, sind die Gespräche über weitere Distanzen der Fensterfront hinweg oder gar in Richtung anderer Hafthäuser eher selten und zudem knapp gehalten. Angemessener wäre das Phänomen der Fensterkommunikation mit den Worten Fensterrufen bzw. Fenstergeschrei bezeichnet, denn es bedarf einiger Lautstärke des gesprochenen Textes, um diesen im wahrsten Sinne des Wortes „um die Ecke“ zu vermitteln. Häufig sind die Kontaktaufnahmen über das Fenster damit verbunden, an langen Schnüren Gegenstände von einer Zelle zur nächsten zu „pendeln“. Aus Anstaltsperspektive ist der Fensterhandel verboten. „Also beispielsweise, wenn ein neuer Gefangener im Zugangsbereich oder im Hafthaus ist und schreit dann aus dem Fenster raus, um sich mit seinem Nebenmann in der Nebenzelle zu unterhalten, dann ist das halt nicht möglich. Es ist immer manchmal ein Bedürfnis. Ich erlebe es: Der Zugang ist hier bei mir im Fenster genau gegenüber. Da habe ich neulich einen gehabt, war ich gerade bei einem Brief und hab gesagt: ‚Ah, jetzt schon wieder.’ Und dann fing der plötzlich an und hat Gospels gesungen. Und dann fingen die Nachbarzellen an, zwei oder drei Englischsprechende, die singen dann mit. Und da hab ich gedacht: ‚Ja, das ist eine tolle Sache.’ Wurde aber dann unterbunden, weil es halt verboten ist.“ (FD II 542-554) Da die Sprecher der Fensterkommunikation allerdings aus der Anonymität ihrer Zelle heraus agieren, ist es für einen Beobachter schwierig, den Sprecher zu identifizieren. Aus dem Grund findet tags und nachts eine rege Kommunikation über die Fenster statt. Eine Ausnahme bilden solche Hafthäuser, in denen wenig Neuinhaftierte und keine Untersuchungshäftlinge sondern Langstrafengefangene untergebracht sind. Letztere gehen ihren geregelten Vollzugsgang, sind unter Umständen schon länger in schulische oder betriebliche Maßnahmen integriert und brauchen darum nachts ihren Schlaf. Darum wird in Langstrafenhafthäusern insbesondere während der Nacht weniger über die Fenster kommuniziert. In Hafthäusern mit hoher Fluktuation sind die Gefangenen meist nicht zur Arbeit eingeteilt, treffen folglich nur wenige Mitgefangene und sind somit auf jede informelle Kommunikationsmöglichkeit angewiesen. Weil sie tagsüber nicht beschäftigt sind, können sie nachts 88
DIE ERGEBNISSE
nicht schlafen und kommunizieren stundenlang an den Fenstern miteinander. Ein wichtiger Nebeneffekt der Fensterkommunikation ist es, dass die Gefangenen der umliegenden Hafträume im Gegensatz zu den Beamten nach kurzer Zeit sehr wohl genau wissen, welcher Stimme welche Person zugeordnet werden kann und in welcher Richtung der Rufer zu verorten ist. Wegen der mangelnden Anonymität ist es für die nun von Mitgefangenen identifizerten Gefangenen angezeigt, bestimmte Nachrichten auf einem anderen als dem Fensterweg zu versenden.110
Sprachvarietäten des Gefängnisses Nie mehr sprechen. Keine Wörter mehr. Dieses akustische Ungeziefer. Den Mund spülen. Pfefferminz, bitte, Ingwer. Oder gleich Pfeffer, Paprika, Jod, Lysol, ja Lysol und dann Blei in den Schlund, basta, ein für allemal ... (Martin Walser)
Im Gefängnis trifft man auf eine Vielzahl von Sprachvarietäten. Die meisten Angehörigen des Gefängnisses betrachten diese Tatsache mit Missmut, da, wie in Freiheit, so auch im Gefängnis, Abweichungen von der Standardsprache negativ bewertet werden. In diesem Kapitel wird erläutert, in welcher Weise sich durch Sprache im Gefängnis Sprechergruppen bilden. Diese sind beispielsweise durch den Gebrauch eines Jargons, eines Ausländerregisters111 oder einer Fachsprache markiert. Für das Forschungsvorgehen ist hierbei die Vielfalt an linguistischen Konzepten zu berücksichtigen, mittels derer eine Sprachgemeinschaft auf ihre Varietäten hin untersucht werden kann. Im Folgenden werden diejenigen zentralen Begriffe erläutert, welche auch in der weiteren Schilderung der strafvollzuglichen Sprachgemeinschaft von Bedeutung sind. Das Sprachsystem des Gefängnisses kann in mehrere sprachliche Subsysteme unterteilt werden, die man in der Linguistik als Varietäten 110 Hier besteht etwa die Möglichkeit, einen sogenannten „Kassiber“ zu versenden, d. h. einen kleinen Zettel mit einer Nachricht, den häufig ein vertrauenswürdiger Mittelsgefangener überbringt. 111 Der Begriff „Ausländerregister“ bezeichnet hier nicht das Ergebnis einer Registrierung, wie dies etwa für die Begriffe „Strafregister“ oder „Erziehungsregister“ zutrifft, sondern meint die Varietät im sprachlichen Umgang mit Ausländern. 89
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
bezeichnet. Was eine sprachliche Varietät ist, hängt davon ab, welche außersprachlichen Parameter als Kriterien für das Vorliegen einer Varietät herangezogen werden. Bei areal definierten Varietäten handelt es sich um Dialekte (Mundart). Funktional definierte Varietäten werden als Funktiolekte (Fachsprache oder Standardsprache) und sozial definierte Varietäten als Soziolekte (Jargon) bezeichnet.112 Ethnisch definierte Varietäten umfassen einerseits das von Ausländern gesprochene Deutsch gegenüber deutschen Erstsprachlern sowie den von Deutschen verwendeten Xenolekt (Ausländerregister bzw. Foreigner-Talk). Im Gefängnis bilden diejenigen Personen eine gemeinsame sprachliche Varietät heraus, die in dieser Organisation mit derselben Aufgabe betraut sind (Fachsprache), die aufgrund der Statushierarchien im Gefüge der Organisation vergleichbare Positionen einnehmen (Jargon) oder die sich im Rahmen interkultureller Kommunikation für bestimmte Arten der Verständigung entscheiden (Ausländerregister). Rollentheoretisch kann man es im Bezug auf die Kategorie „Sprachgemeinschaft“ auch so formulieren, dass zur Rolle einer bestimmten Dienst- oder Klientengruppe einer Organisation ein bestimmtes Sprachverhalten gehört, welches den einzelnen Sprechern eine Sprecheridentität verleiht.113 Sprachliche Gemeinschaften und Untergemeinschaften bilden sich, indem mittels Sprache die Kohäsion der eigenen Gruppe gesteigert wird, was mit einer Abgrenzung der Sprachgemeinschaft gegenüber anderen Gruppen einhergeht. Diese Abgrenzung kann einerseits aktiv geschehen, indem besondere Formen von Sprachhandlungen gezielt dem Ausschluss anderer dienen. In erster Linie bilden sich Grenzen zwischen Sprachgemeinschaften allerdings dadurch, dass die Sprecher sich über die Verwendung eines besonderen Wortschatzes oder Stils eine eigene markante Identität verleihen. Dies wird in der Linguistik als soziolinguale Abgrenzung bzw. soziolinguale Ausgrenzung bezeichnet. Beide Phänomene möchte ich unter dem Begriff der soziolingualen Grenzziehung zusammenfassen, denn in vielen Fällen ist nicht eindeutig ersichtlich, ob eine bestimmte Art von Sprechhandlung der Aus- oder Abgrenzung dient. Um eine Grenzziehung handelt es sich aber in jedem Fall. Die Mittel der handlungstheoretischen Grenzziehung im Strafvollzug werden mittels unterschiedlicher linguistischer Kategorien erfasst.114 In der vorliegenden Arbeit verwende ich den Begriff Grenze im Sinne von Übergangszone: Eine Grenze kann nicht festgemacht werden an einer trennscharfen Linie, die sich zwischen zwei Bereichen ergibt, sondern die Übergangszone ergibt sich vielmehr aus einem Nebeneinander von 112 Vgl. W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 14. 113 Vgl. J. Thornborrow: Language and identity, S. 136 ff. 114 Vgl. W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 65 ff. 90
DIE ERGEBNISSE
Phänomenen aus beiden Bereichen. Ein solches Konzept des Übergangs ist der Realität angemessen, da sich solche Formen der Grenze sowohl örtlich als auch qualitativ als flexibel erweisen.115 Als Jargon bezeichnet Werner Veith eine situationsabhängige Sprachform mit gemeinschaftlicher Grammatik, saloppem Stil, emotionalen Wörtern und Wendungen.116 Fachsprachen hingegen dienen aufgrund einer domänenspezifischen Terminologie der „fachspezifischen Kommunikation unter Fachleuten.”117 Unter einem Ausländerregister versteht man die simplifizierte Verwendung der eigenen Herkunftssprache gegenüber einem Ausländer.118 Der Begriff Dialekt bezeichnet ein regional gebundenes sprachlich-orales System, das benachbarten sprachlichen Systemen in hohem Maße ähnlich ist, „so daß eine – zumindest partielle – wechselseitige Verstehbarkeit möglich ist.“119 Um zu veranschaulichen, in welcher Weise sich die einzelnen Varietäten des Gefängnisses anordnen, wähle ich das Konzept des Dialektkontinuums, welches man analog auf das Vorkommen von Funktio-, Soziound Xenolekten anwenden kann: Das klassisch-linguistische Konzept des Dialektkontinuums erfasst regionale sprachstilistische Differenzen und besagt, dass sich zu Zeiten der geringen Sprechermobilität und der geographischen Trennung von Dörfern die jeweiligen Dialekte von Dorf zu Dorf graduell unterscheiden. Die einzelnen Sprachgemeinschaften bilden dann verschaltete Kommunikationsketten, deren Enden selten direkt miteinander in Kontakt treten, was zu einer Sprachbarriere führt. Das Beispiel des Dialektkontinuums eignet sich auch für den deutschen Sprachraum: Sprecher der nord- und süddeutschen Dialekte verstehen einander kaum oder gar nicht, obwohl sie beide der deutschen Sprachgruppe zugeordnet werden. Die Sprecher leben weit voneinander entfernt, und einige dialektale „Stufen“ sind geographisch dazwischengeschaltet. Im Zuge zunehmender Sprechermobilität und dem Einfluss der Standardsprache befinden sich die klassischen Dialektkontinuen jedoch in Auflösung.120 Meiner Annahme zufolge bestehen im geschlossenen 115 Das Konzept entstammt den Überlegungen zur Kulturökologie. Diese wiederum macht Anleihen bei der Ökologie, welche ebenfalls davon ausgeht, dass etwa Wälder und Seen nicht abrupt enden, sondern in Strauch bzw. Krautschichten oder Verlandungszonen übergehen, bevor sie enden. Auch die Grenzen dieser natürlichen Ökosysteme sind flexibler als die landschaftsplanerisch gezogenen klaren Grenzen, wie man sie heute etwa von Grenzen zwischen Wald und Acker kennt. 116 Vgl. W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 28. 117 W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 27. 118 Modifiziert nach W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 212. 199 H. Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 177. 120 Vgl. David Crystal: The Cambridge encyclopedia of language, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 25. 91
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Strafvollzug funktiolektal, soziolektal und xenolektal bedingte Sprachbarrieren, die jeweils zur Entstehung von Varietätenkontinuen führen. Das Kontinuum des Soziolekts etwa besitzt an seiner einen Seite etwa den Anstaltsleiter oder andere Mitarbeiter der Verwaltung, während die andere Seite insbesondere von den ausländischen Angehörigen der Gefangenengruppe besetzt wird. Die Häufigkeit und Qualität des Sprachkontakts ist eher selten, und die Sprecher begegnen sich mit einer um bestmögliche Verständigung bemühten Haltung. Die analoge Anwendung des Kontinuums auf Dialekt und Soziolekt halte ich darum für bemerkenswert, weil dadurch auch der Unterschied beider Sprachbarrieren deutlich wird. Nord- und Süddeutschland liegen hunderte Kilometer voneinander entfernt. Diese geographische Sprachbarriere ist naturgegeben. Die Hafträume von Gefangenen liegen in der Regel weniger als 500 Meter von dem Büro des Anstaltsleiters entfernt. Die Sprachbarriere zwischen beiden Sprechergruppen wird hier künstlich aufrecht erhalten. Im Folgenden wird geschildert, was den Jargon (Soziolekt), das Ausländerregister (Xenolekt) und die Fachsprache (Funktiolekt) des Gefängnisses auszeichnet und wie sich die Gefängnisangehörigen dieser Sprachvarietäten bedienen.
Gefängnisjargon Alle Befragten stimmen meiner Aussage zu, es gebe im Gefängnis einen Jargon: „Ja, im Knast herrscht eine eigene Sprache. Da gibt es ‚Koffer mit Blatt’121, da gibt es eine ‚Bombe’122. Aber das ist weniger Sprache. Das sind eher so eigene Ausdrücke, die man bildet. Das geht dann zum Teil auch eher in so eine gewisse Vulgärsprache über.“ (WD III 494-503) Der Werkdienstbeamte weist darauf hin, dass es gewisse Ausdrücke des Gefängnisjargons gibt, die in ihrer Auswahl und Summe bei den Sprecherhörern eine bestimmte Atmosphäre schaffen. Ein Anstaltsleiter erläutert, in welcher Weise etwa die vulgär-beleidigende Komponente des Gefängnisjargons nicht ausschließlich gruppenspezifisch, d. h. gefangenen- oder beamtenspezifisch ist, sondern sich in allen Sprechergruppen des Gefängnisses quer zu den strukturell vorgegeben Statusgruppen findet: „Egal, Mitarbeiter oder Gefangener, da differenziere ich auch nicht. Also es sind genauso Gefangene wie Beamte, teilweise von der gleichen Schicht, aus dem gleichen Milieu, aus dem gleichen sprachlichen Muster, wo auch teilweise beleidigende Worte, Beleidigungen als normal betrachtet werden. Gehört halt mit dazu.“ (AL III 529-536) 121 Gemeint ist ein Päckchen Tabak mit Zigarettenpapier. 122 Gemeint ist ein großes Glas mit Kaffee darin; meistens ein umfunktioniertes Marmeladenglas. 92
DIE ERGEBNISSE
Warum es sich beim Gefängnisjargon, anders als herkömmlich angenommen, offenbar nicht um eine Geheimsprache handelt, wird im Kapitel „Mythos Geheimsprache“ erläutert. Der Gefängnisjargon ist nicht exklusiv mit einer gefangenenspezifischen Gebrauchskompetenz verbunden. Er wird vielmehr von nahezu sämtlichen Gefängnisangehörigen zumindest passiv beherrscht. Zudem hat das theoretische Konzept des Gefängnisjargons gegenüber dem Konzept des Gefangenenjargons einen höheren Erklärungswert: Hiermit kann etwa ein anderes linguistisches Phänomen, das jargonbezogene Codeswitching, erklärt werden: Viele Gefangene beherrschen Teile des Beamtenvokabulars, während der Großteil des Abteilungs- und Werkdienstpersonals wiederum Kenntnis vom Gefangenenvokabular hat und dieses sogar bisweilen einsetzt. Es ist freilich so, dass bestimmte Jargonmerkmale bei Gefangenen häufiger vorkommen und dass Beamte immer wieder bemüht sind, sich nicht aktiv dem Sprachgebrauch des Gefängnisses anzupassen. Allerdings beherrscht jeder Beamte nach kurzer Zeit im Dienst den gängigen Sonderwortschatz sowie die entsprechenden nonverbalen Merkmale des Gefangenenjargons. Viele Beamte machen aus ihrer Jargonkompetenz immer dann eine Jargonperformanz, wenn sie bei Gefangenen damit etwas erreichen wollen. Der Einsatz des Gefangenenjargons wird dann jedoch fein auf die Situation bzw. auf den Gesprächspartner hin abgestimmt. Ein Beamter macht dies deutlich: „Ich mache es manchmal ganz bewusst, dass ich ein bisschen im Gefangenenslang rede, wenn die sich da unterhalten und sagen: ‚Hey Alter komm, rück mal einen Aschenbecher her.’ Oder zu denen sage ich immer: ‚Hey Alter, was willst du?’ Wenn ich das das ganze Jahr über hätte, diesen Slang oder diese Redewendungen, die es da gibt, würde ich mich auf ein Niveau herunterbegeben, wo ich dann den Respekt verlieren würde von denen. Das würde nicht funktionieren. Da hätte ich mit Sicherheit große Nachteile. Während, wenn ein Gefangener versucht: Wir haben einen da, der immer so einen auf Professor macht. Der ist zu mir gekommen und ich habe versucht ihm beizubringen, dass er den Schmarrn bleiben lässt. Da macht er sich lächerlich bei den Kollegen. Den nimmt keiner mehr für voll. Der formuliert und spricht in den höchsten Tönen.“ (AVD II 701-714) Der Gefangenenjargon wird also von den Beamten auch dazu verwendet, Gefangene, die sich vergleichsweise elaboriert ausdrücken, an dieser Sprechweise zu hindern, indem sie sie auf ihre vermeintliche soziolektale Zugehörigkeit verweisen. Manchmal haben Beamte, die sich selber als nicht besonders redegewandt einstufen und um ihren eigenen mittleren bis niederen Bildungsstand wissen, ein Problem im Umgang mit eloquenten Gefangenen: „Das waren die Ärzte, natürlich in der Kaste weiter oben, weil Akademiker. Und wir die Schließer. Wie will man mit so einem ein vernünftiges Gespräch aufbauen? Der sieht uns als primitiven Schließer, der 93
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
ihn jetzt einschließt. Und jetzt will ich mich bemühen, mit ihm da ein Gespräch anzufangen. Wenn er nicht will, muss er das nicht. Und der wird auch draußen nach der Entlassung mich nicht kennen. Aber da kann ich dann auch drauf verzichten. Ist mir im Prinzip auch egal. Aber ich finde es traurig.“ (AVD III 641-656) Es gibt aber auch Beamte, die sich von vornherein darauf einstellen, Häftlingen gegenüber den Gefängnisjargon zu verwenden. Folgende Worte eines Werkbeamten zeigen insbesondere die beleidigende Komponente des Gefängnisjargons auf und beschreiben, dass dieser Jargon nicht nur regelmäßig auf Seiten der Gefangenen, sondern auch häufig auf Seiten der Beamten zu beobachten ist. „Das sprachliche Niveau: Es gibt einige, wo man sagt, mit denen kann man sich auch vernünftigerweise unterhalten. Aber der Rest, die wollen an sich im Gossenjargon behandelt werden. Da muss man dann auch mal sagen: ‚Du Arsch’ auf Deutsch. Und das versteht der und das braucht der auch und dann arbeitet der auch. Der braucht mal einen richtigen Tritt, einen Worttritt, um seine Leistung auch zu bringen. Das brauchen die. Das verlangen die auch oder sind es nicht anders gewöhnt. Und wenn man das nicht macht, dann schlumpert das so vor sich hin, dann ist irgendwie der Effekt raus, die Arbeit ordentlich zu machen. Das sollte man dann schon so machen. Auch als Bediensteter. Und dann feixt der da drüber. Und dann weiß der genau: ‚Der Meister versteht mich.’“ (WD IV 527-539) Auf der Leitungsebene wird das Thema Gefängnisjargon aus einer etwas anderen Perspektive bewertet. Auch hier ist man zwar ebenfalls davon überzeugt, dass der Gefangenenjargon originär auf Seiten der Gefangenen zu finden ist. Auch gibt es eine Informiertheit über den strategischen Einsatz des Gefangenenjargons gegenüber Häftlingen durch Bedienstete. Allerdings steht für die Vorgesetzten dabei die Gefahr im Vordergrund, dass über die sprachliche Assimilation die Distanz zwischen Beamten und Insassen aufgehoben wird. Ein Anstaltsleiter spricht von einem „ausgewogenen Verhältnis von Nähe und Distanz. Man muss auch auf den Gefangenen zugehen können und in dem Moment dem seinen Sprachgebrauch anwenden, wenn man merkt, er versteht es anders nicht. Ihn erst mal irgendwo einzuholen. Und wenn das dann funktioniert, dann kann man sicherlich auch wieder anders sprechen. Aber das dann so klar zu trennen, dass man dann wieder in den korrekten Sprachgebrauch wieder zurück findet, das ist im Zweifelsfall nicht so einfach.“ (AL VI 285-294) Aus der Perspektive der Gefangenen gibt es keine einheitliche Meinung zu diesem Thema. Einerseits gibt es Gefangene, die das Vorhandensein eines eigenen Gefangenenjargons zu schätzen wissen, da sie sich damit gegenüber Beamten sprachlich distanzieren können. Andererseits gibt es Stimmen wie die folgende, die hauptsächlich in den Reihen der 94
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Hausarbeiter123 zu finden sind. Auf meine Frage, ob Gefangene manchmal andere Worte benutzen als Bedienstete, antwortet der folgende Gefangene wider Erwarten: „Also überhaupt nicht. Wir haben keine anderen Worte. Ich glaube eher, dass der Beamte unsere Sprache, die Sprache der Gefangenen spricht. Durch die Ablehnung von denen durch uns müssen die eher den Schritt auf uns zu machen.“ (GEF II 1025-1031) Dieser Gefangene hat offenbar diejenigen Beamten im Auge, die sich sprachlich, aus welchen Gründen auch immer, häufig des Gefängnisjargons bedienen. Beamte, aber auch insbesondere Gefangene beklagen den Verlust an Sprachgewandtheit, den sie im Laufe des Gefängnisaufenthalts erleiden. Am häufigsten sind es die Gefangenen, die Verluste auf der Ebene ihrer ehemaligen Wortschatzpalette feststellen. Aber auch auf der Ebene des allgemeinen zwischenmenschlichen Umgangs verzeichnen die Gefangenen offenbar Kompetenzeinbußen. Dies wird für viele Gefangene im Umgang mit ihren Angehörigen beim Besuch deutlich. Insbesondere ausländische Gefangene, die ohnehin vielfach nur ein gebrochenes Deutsch sprechen und sich zusätzlich den Gefängnisjargon aneignen, sind in dieser Hinsicht doppelt betroffen: „Da merkt man eben, dass man in ganz verschiedene Welten leben tut. Und dass das äußere Leben ganz anders ist als wie hier. Dass das im Knast ganz ganz anders ist als wie hier. Härter. Wenn ich zum Beispiel Besuch habe oder ich rufe jemanden an, dann sagen die: ‚Hey, hey, bleib doch locker. Wie bist du?’ Viel mit Schimpfwörtern. Und es ist sehr einseitig das Gespräch im Gefängnis. Mein Wortschatz war draußen sehr, sehr groß sozusagen. Ich konnte gut diskutieren. Sehr viele Fremdwörter124 auch benützen zu meinem Gespräch. Aber hier das ist so mit Ausländern oder so mit Leuten. Die können das nicht. Dann muss man das lernen, mit anderen ganz normalen Wörtern. Da redet man ganz anders. Ganz andere Welt. Oder wenn ich Besuch habe von meinen Schwestern und die sind dann auf einmal zu mir sauer. Und ich habe das ganz anders gemeint, ich wollte gar nicht die verletzen. Und die sind dann sauer auf mich. Und denen muss ich das dann erklären, wie ich das gemeint habe. Das ist schon eine fremde Situation.“ (GEF I 921-934) Ein lebenslanger Gefangener hat nach der langjährigen Hafterfahrung ebenfalls einen distanzierten Blick auf die Veränderung seines Wortschatzes entwickelt. Er meint: „Als ich eingeliefert wurde, verlor ich die Sprache. Seitdem ist es eine andere. Zum Beispiel nach der bestimmten Zeit, so nach zwei Jahren sprach ich eine andere 123 Hausarbeiter sind Gefangene, welche von der Anstalt im Rahmen der Arbeitsvermittlung dafür eingeteilt werden, auf den Abteilungen hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu übernehmen. 124 Der Gefangene meint die für ihn fremden Wörter der Zielsprache Deutsch. 95
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Sprache. Und zwar, wo mir damals meine Frau [unverständlich] da habe ich solche Ausdrücke benutzt. Ich sage jetzt mal ein Beispiel: ‚Mach den Hals zu.’ Und so gibt es etliche andere. Dem Umfeld von mir draußen ist es aufgefallen, so dass die dann gesagt haben, ja, was ist denn mit dir? Also da ist ein Wandel in mir vorgegangen. Das können andere wahrscheinlich eher bewerten wie ich selbst.“ (GEF II 1038-1050) Dass es häufig die Angehörigen aus dem psychosozialen Umfeld der Gefängnisangehörigen sind, die sich über die veränderte Ausdrucksweise beschweren, bestätigen auch Beamte. Denn auch diese können sich, wie die Mehrzahl der befragten Bediensteten zugibt, dem Gebrauch des Gefängnisjargons nur teilweise entziehen. Auf meine Frage, ob man im Gefängnis die Kontrolle über die angemessene Verwendung von Standardsprache einerseits und Jargon andererseits verliere, antwortet mir folgender Beamter: „Da ist was dran. Also ich habe das auch schon selber an mir bemerkt. Das sind so bestimmte Worte, die gewöhnt man sich dermaßen an. Und dann ertappt man sich, wo man sich hinterher denkt: ‚Das hättest du auch anders sagen [können]’. Zum Beispiel: Die Gefangenen leben auf einer ‚Station’, das ist eine ‚Station’. Die Gefangenen nennen es die ‚Piste’. Aber irgendwann da habe ich dann wirklich auch gesagt: ‚Ja, Sie müssen doch wissen, auf welche Piste Sie gehören.’ Da kann man auch zappeln und machen wie man will, sich bemühen wie man will. Das kommt automatisch, übernimmt man automatisch diesen Wortschatz. Sicherlich sind bestimmte Äußerungen oder Worte dabei, die würde man auch nie gebrauchen. Beschimpfungen oder so. Da gibt es schon Grenzen. Aber so einfache wie eben ‚Piste’ oder der ‚Knacki’. Dass man das auch nicht ablegt, wenn man draußen ist. Und sicherlich gibt es auch einen bestimmten Tonfall. Befehlston würde ich nicht mal sagen. Aber dass man sich in einer bestimmten Situation, wo man merkt, dass man ruhig nicht weiterkommt, dass man dann schon einen strengeren Ton anschlägt. Und dass man das dann auch zu Hause beim Kind auch macht, habe ich auch schon gemerkt. Da muss man sich dann sagen: ‚Mensch, du bist zu Hause. Bist nicht mehr auf der Arbeit.’ Und das tut mir dann auch immer mächtig leid. (AVD IX 241-289) Ein langjährig vollzugserfahrener Beamter weiß Ähnliches zu berichten wie der oben zitierte lebenslänglich Inhaftierte: „Die Umgangssprache der Gefangenen ist etwas derber, deutlicher. Aber Beamte passen sich mit der Sprache eigentlich auch an. Meine Frau hat schon des öfteren früher gesagt: ‚Du, wie redest du eigentlich mit mir?’ Oder zum Beispiel, wenn ich irgendwie was gesagt habe, was ich gar nicht so gemeint habe, aber irgendwie mir eingewöhnt habe. Oder auch manche Wörter benutzt habe, wo eigentlich normal in meinem Sprachschatz oder Gebrauch gar nicht drin waren. Also man nimmt schon was an oder redet lauter oder deutlicher oder bestimmter. Das gewöhnt man sich an.“ (WD I 1073-1081) 96
DIE ERGEBNISSE
Sogar ein Anstaltsleiter gibt indirekt zu, zumindest über einen passiven Wortschatz des Gefängnisjargons zu verfügen, den er auch bei anderen ranghohen Dienstkollegen wiedererkennt: „Gefangene und Vollzugspersonal versuchen oft, durch Sprachgebrauch die Reihen einigermaßen dichter zu schließen. Also es gibt schon einen ganz bestimmten Sprachgebrauch und den gibt es übrigens auch in der Hierarchie.“ (AL II 117129) Nach Aussage eines Fachdienstmitglieds haben sich manche Beamte die Ausdrucksweise der Gefangenen nahezu vollständig zu eigen gemacht: „Bei manchen ist die Knastsprache so weit verinnerlicht, dass die die selbst so sprechen als Bedienstete und dann daheim stehen vor ihrer Familie und dort erst mal wieder ein Relais umschalten müssen, dass sie wieder normal reden.“ (FD III 717-722) Andere scheinen kein Problem mit unfreiwilliger Assimilation an den Gefängnisjargon zu haben. Folgender Beamter schätzt sein Sprachverhalten nach Dienstende so ein: „Wenn ich heim gehe, dann schalte ich ab eigentlich. Dann schalte ich um auf Privat. Die Distanz muss man dann schon haben. Dann ist Dienstende und dann verlässt man die Anstalt. Also so mache ich es.“ (AVD VIII 161-168) Entsprechend meinen Beobachtungen waren es nicht wenige Abteilungsbeamte, die diese Überzeugung zwar ähnlich formulierten, sie jedoch in der Praxis nicht umsetzten. Mit mir sprachen diese Beamten im Dienstzimmer und auch noch außerhalb der Anstalt im gängigen Gefängnisjargon. Es gibt in dieser Hinsicht nur sehr vereinzelt Ausnahmen, die vor allem in den Kreisen der Fachdienste oder im Bereich der Verwaltung zu finden sind. Ich vermute, dass die Beamten mit Äußerungen wie der obigen nicht die Realität ihres Sprachgebrauchs beschreiben, sondern vielmehr eine Idealvorstellung desselben zeichnen, die sie gerne in die Realität umsetzen würden. Der Jargon bestimmter Milieus, seien dies nun Bettler-, Gauner- oder auch Schülerjargons, wird häufig defizittheoretisch beschrieben und erklärt. Milieujargons seien, ähnlich der wertenden Kodeunterscheidung Basil Bernsteins in einen elaborierten und einen restringierten Code, minderwertig.125 Die obigen Ausführungen belegen, dass Sprecher in einen bestimmten Jargongebrauch entweder absichtlich oder ungewollt hineindriften, dass sie sich dieser Drift in der Regel durchaus bewusst sind und dass ihnen der Gebrauch des jeweiligen Jargons aus Nützlichkeitserwägungen für ihre Zwecke durchaus auch legitim erscheint. Mit einer wertenden Sprachkritik muss man daher vorsichtig sein. Aus linguistischer Perspektive wird kritisiert, dass der Jargon bestimmter Milieus einseitig dargestellt wird, wenn ausschließlich auf seine synchronen Merkmale abgehoben wird, ohne dass dabei die diachronen Merkmale berücksichtigt werden. Eine derart selektive Beschreibung von Sprach125 Vgl. FN 36. 97
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
gebräuchen führt schließlich zu einem verzerrten Bild der Sprecher und deren Sprache: Der Jargon einer jeweiligen Szene wird als zeitlich statisch betrachtet. Dabei wird übersehen, dass auch der Jargon einem Sprachwandel unterliegt, dass seine Sprecher sich nicht ohne Notwendigkeit dieser Ausdrucksweise bedienen und dass viele Sprecher in dieser Hinsicht varietätenlingual mehrfach kompetent sind – wie sonst könnten etwa manche Gefangene im therapeutischen Gespräch nahezu perfekt den Funktiolekt des Fachdienstes einsetzen? In jedem Fall ist festzuhalten, dass der Gefängnisjargon einem Wandel unterliegt. Folgende Beobachtungen eines Anstaltsleiters bestätigen diese Vermutung: „Was mir immer wieder aufgefallen ist, dass Spezialausdrücke aus der Subkultursprache des Gefängnisses in die Jugendsprache draußen eindringen und nicht umgekehrt, wie es früher war. Früher waren diese Welten viel stärker voneinander getrennt. Der Normalbürger hat den Gefängnisjargon überhaupt gar nicht verstanden. Und hat auch niemals solche Ausdrücke übernommen. Oder zumindest sehr selten. Heute scheint es mir aber so zu sein, dass durch diesen Zwang in der Werbung und immer wieder neue Wortschöpfung oder Wortschöpfung, die für uns im Gefängnis uralt sind, in dieser Bedeutung eindringen. Also zum Beispiel ‚jemanden ablinken’ oder ‚linken’. Das ist ein Begriff, den ich seit 25 Jahren kenne und der aber dennoch älter ist. Der ist erst vor vielleicht zehn, zwölf, fünfzehn Jahren erst in die Jugendsprache eingedrungen.“ (AL II 110-120) Auch in die Gemeinsprache der Öffentlichkeit haben einige Wortschatzelemente des Gefängnisses Eingang gefunden: Es ist nicht von Beamten, sondern von „Schließern“ die Rede, von „Knackis“ oder „Knastis“, die in die „grüne Minna“ gesteckt werden, um ihre Jahre fortan hinter „schwedischen Gardinen“ zu verbringen. Die Beamten des AVD etwa halten wenig von dieser außerstrafvollzuglichen Verwendung des Gefängnisjargons. Ein Beamter ist „sauer eigentlich nicht. Das kennt man dann eigentlich mit der Zeit. Naja, was solls? Man tut die dann manchmal darauf hinweisen, dass man eben kein Schließer ist. Oder: ‚Ich sehe hier keinen Schließer auf der Station.’ Das ist mir auch schon manchmal rausgerutscht. Wir sind ‚Beamte’ oder ‚Vollzugsbedienstete’.“ (AVD VIII 508-519) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im Gefängnis einen nahezu allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft bekannten Jargon gibt, der in unterschiedlichem Maß von den einzelnen Sprechergruppen und Sprechern beherrscht wird. Der Gefängnisjargon teilt sich auf den zweiten Blick eben gerade nicht entlang einer scharf gezogenen Grenze in einen Beamten- und Gefangenenjargon auf, da beide Seiten zumindest in passiver Weise über einen Wortschatz der jeweils anderen Sprechergruppe verfügen. Die Befragten sind geteilter Meinung darüber, in welcher Weise man sich dem Jargon des Gefängnisses als Sprecherhörer 98
DIE ERGEBNISSE
entziehen kann und ob dies überhaupt sinnvoll ist. Ein Beamter beklagt, dass Außenstehende den Gefängnisjargon nicht nur als irritierend einstufen, sondern dass man draußen damit teilweise nicht verstanden wird. Er führt dies darauf zurück, dass die Justiz und speziell das Gefängnis eine ab- und ausgeschlossene Welt bilden: „Wenn ich draußen bestimmte Begriffe verwende, wenn ich vielleicht von meiner Arbeit rede: Zum Beispiel ‚Kalf’, das sind ‚Hausarbeiter’. ‚Kalfaktoren’. Das ist so ein Relikt. Die Hausarbeiter heißen bei uns ‚Kalf’: ‚Wer ist bei dir Kalf?’ Wenn ich draußen sagen würde: ‚Bei uns die Kalfs, die machen das und das und das.’ da käme die erste Frage: ‚Was ist denn das?’ Und da denkt man eigentlich gar nicht drüber nach, wenn man mit dem anderen drüber redet, wenn der nicht nachfragen würde. Also es gibt dann schon so ein paar Begriffe, die halt nur hier drinnen existieren und die ein Unbeteiligter gar nicht deuten könnte. Gibt schon eine eigene Sprache irgendwo. Sicherlich aber auch der Tatsache geschuldet, dass eigentlich so die Justiz oder die Anstalten an sich, so offen nach draußen eigentlich nicht sind. Erstens, dass vielleicht die Anstalten nach draußen nicht so viel preisgeben wollen, andererseits dass das Interesse daran auch so groß vielleicht doch nicht ist.“ (AVD IV 310-322) In Anlehnung an die Ausführungen dieses Kapitels sowie im Vorausblick auf die Ergebnisse der folgenden Kapitel stelle ich bereits an dieser Stelle eine eigene Definition des Begriffs „Gefängnisjargon“ auf: Der Gefängnisjargon bezeichnet denjenigen Sprachgebrauch, • der die Gemeinsprache als seine Grundlage hat, • der dabei zusätzlich über einen gefängnis- oder ‚gaunerspezifischen’ Sonderwortschatz verfügt, dessen Elemente hauptsächlich von allen Gefängnisangehörigen und nur vereinzelt von einer Teilgruppe verwendet und verstanden werden, • der über die gehäufte Verwendung insbesondere von beleidigenden, täuschenden, fachsprachlichen, sarkastisch-humoristischen, imperativen sowie xenolektalen Sprechakten verfügt, • der auf der expressiven Ebene darum insbesondere eine Kultur des Missverständnisses und des Konflikts sowie der Vulgarität vermittelt, • der dabei gefängnisexternen Sprecherhörern als fremd und sogar unverständlich erscheint und • dem sich Gefängnisangehörige auf längere Sicht im eigenen Sprachgebrauch jedoch kaum entziehen können.126
126 Vgl. zu den bis hier noch nicht näher erläuterten Merkmalen des Gefängnisjargons die entsprechend betitelten Kapitel meiner Arbeit. 99
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Interkulturelle Kommunikation Es ist wichtig, das Verbindende der Sprachen zu erkennen. (ein Fachdienstmitglied)
Der Ausländeranteil in der gesamten Gefangenenpopulation ist je nach Gefängnis und Haftabteilung unterschiedlich hoch. Das Statistische Bundesamt gibt in der Strafvollzugsstatistik für die Gruppe der Sicherungsverwahrten und Strafgefangenen für das Jahr 2002 einen Ausländeranteil von ca. 22 % an. Hinzu kommen auf manchen Abteilungen der Gefängnisse noch die ausländischen Untersuchungs- und Abschiebehäftlinge, so dass der Anteil der ausländischen Gefangenen in vielen Gefängnissen noch höher liegt.127 Eindrücke von interkultureller Kommunikation habe ich sowohl in Gefängnissen mit hohem als auch mit niedrigem Ausländeranteil beobachten können. Auch hier kam es mir nicht darauf an, eine detaillierte Gesprächsanalyse interkultureller Kommunikation vorzunehmen. Ich schildere in diesem Kapitel einerseits meine Eindrücke, die ich in vielen interkulturellen Kommunikationssituationen während der teilnehmenden Beobachtung gewonnen habe. Andererseits soll anhand der Interviewbefragungen verdeutlicht werden, wie die Befragten interkulturelle Kommunikation im Gefängnis wahrnehmen und wie sie diese sprachhandelnd gestalten. Meine Ausführungen zur interkulturellen Kommunikation weisen eine große Lücke auf: Da es sich bei meinen Befragten mit einer Ausnahme ausschließlich um deutschsprachige Gefangene handelt, wird das Thema schwerpunktmäßig aus der Perspektive deutscher Erstsprachler behandelt. Dass ich während meiner teilnehmenden Beobachtung auch viel Kontakt mit fremdsprachigen Gefangenen hatte, ändert wenig an dieser Einseitigkeit. Zunächst soll jedoch geklärt werden, was im Folgenden unter dem Begriff „interkulturelle Kommunikation“ zu verstehen ist. Sigrid Luchtenberg stellt fest, dass sich interkulturelle Kommunikation nur schwer von intrakultureller Kommunikation unterscheiden lässt, da zunächst ein Kriterium für die Verschiedenheit zweier Kulturen gegeben sein muss.128 Neben der Staatsangehörigkeit oder der kulturspezifischen Sozialisation des Einzelnen sind eine Reihe weiterer solcher Kriterien denkbar. Ein Türke der dritten Einwanderergeneration mit der Erstsprache Deutsch und ein russischsprachiger Aussiedler deutscher Staatsangehörigkeit können aus linguistischer Perspektive anhand des Kriteriums Staatsangehörigkeit nicht angemessen eingeordnet werden: 127 Vgl. Statistisches Bundesamt: Rechtspflege, S. 9. 128 Vgl. Sigrid Luchtenberg: Interkulturelle kommunikative Kompetenz, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 20. 100
DIE ERGEBNISSE
Der Türke als Nichtdeutscher spricht möglicherweise besser Deutsch als der Deutschrusse. Folgt man dem Kriterium der Staatsangehörigkeit, so wird ein Gespräch eines deutschen Erstsprachlers mit einem Türken als interkulturelle Kommunikation angesehen, ein Gespräch eines Deutschen mit einem Deutschrussen hingegen nicht. Auch zwischen Angehörigen verschiedener Lebensstile oder gesellschaftlicher Schichten kann trotz gemeinsamer Erstsprache ein Unterschied hinsichtlich des allgemeinen kulturellen Wissens vorliegen, was eine reibungslose Verständigung ebenfalls erschwert. Das Phänomen der Interkulturalität hängt demnach davon ab, welche Kriteriumsvariablen für den Betrachter relevant sind. Die Frage nach der Bedeutung interkultureller Kommunikation ist nach Luchtenberg auch für die Kommunikation in Institutionen von Bedeutung: Institutionelle Kommunikation ist sowohl in intra- wie auch in interkulturellen Kontexten durch die hierarchische Struktur belastet. Man könnte sogar teilweise annehmen, dass Kommunikation zwischen Institutionenvertretern und ihren ‚Kunden’ aufgrund der Distanz und Fremdheit zwischen diesen beiden Sprechergruppen bereits als interkulturell in diesem Sinne gelten könnte.129 Überlegungen dazu, wie zwischen dem Personal und den Insassen bzw. zwischen den Fachdiensten und dem uniformierten Personal Verständigung stattfindet, werden allerdings in anderen Kapiteln angestellt und sollen darum an dieser Stelle keine Berücksichtigung finden. Um für die folgenden Ausführungen den Begriff „interkulturelle Kommunikation“ zu definieren, nehme ich ausschließlich einen linguistischen Standpunkt ein. Dies schränkt interkulturelle Kommunikationen auf solche Kommunikationen ein, die zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erstsprachen stattfinden.130 Meine Studie erfasst sowohl Gespräche zwischen Menschen mit deutscher Erstsprache und Migranten nichtdeutscher Erstsprache (auch Aussiedlern) und kurzfristig in Deutschland anwesenden Menschen anderer Erstsprache. Gespräche unter ausschließlich fremdsprachigen Gefangenen (u. U. Verwendung von Deutsch als Drittsprache) habe ich zwar bisweilen auch beobachten jedoch nicht regelmäßig erfassen können, so dass mir verlässliche Aussagen hierzu nur schlecht möglich sind. Interkulturelle Kommunikation findet laut Luchtenberg stets im Rahmen einer „Bedingungsmatrix“ statt: Hierzu zählen unter anderem Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand und berufliche Stellung, Alter und Geschlecht, religiöser Hintergrund, Herkunftsmilieu sowie schließlich die Sprach- und Kulturerfahrungen. Des Weiteren lässt sich eine interkulturelle Kommunikationssituation daraufhin untersuchen, wie mögli129 S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 212. 130 Vgl. S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 24. 101
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
cherweise die sogenannten „Dominanzfaktoren“ verteilt sind. Zu diesen zählen: Sprachbeherrschung, Kultursouveränität, Kenntnis der Situation und Status der gegebenen Situation.131 Gesprächspartner in interkulturellen Kommunikationssituationen sind nicht auf einen bestimmten Verständigungstyp festgelegt. Insbesondere die Sprecher der Zielsprache (hier: Deutsch) können ihr Sprachhandeln modifizieren. Aber auch die Zweitsprachler verfügen meistens über einen sprachlichen Verhaltensspielraum: Wenngleich Missverständnisse als der Normalfall bei der interkulturellen Kommunikation angesehen werden müssen, so besteht auch die „Möglichkeit des gewollten Missverstehens“, dass zu strategischen Zwecken eingesetzt wird.132 Die Gründe für die jeweilige Sprachwahl richten sich daran aus, wie die Kompetenzen der Sprecherhörer verteilt sind, wie eventuelle Machtstrukturen den Kontext der Kommunikation gestalten und welche Ziele die jeweiligen Sprecherhörer verfolgen.133 Zu Beginn jeder Kommunikation müssen sich die Gesprächspartner darauf einigen, welche Sprache als Ziel- bzw. Herkunftssprache gilt, d. h. in welcher der beiden Sprachen gesprochen werden soll oder ob eventuell sogar eine Drittsprache als Kode gewählt wird. Im Gefängnis habe ich nur sehr selten Kommunikationen zwischen Mitarbeitern und Gefangenen erlebt, in denen die Zielsprache nicht Deutsch war oder in denen sich die Sprecherhörer einer Drittsprache wie etwa dem Englischen bedienten. Diese Feststellung berechtigt zu der Frage, warum in einer sprachpluralen Gesellschaft wie dem Gefängnis das Deutsche der absolute Standard zu sein scheint, hinter den sogar weit verbreitete Sprachen wie Englisch zurücktreten. Eine mögliche Erklärung ist, dass große Teile des Vollzugspersonals nur über mangelhafte Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Zudem stammen die meisten ausländischen Inhaftierten aus Ländern, in denen während der Schule oder Ausbildung nicht Englisch sondern eine andere bzw. sogar keine Fremdsprache erlernt wurde. Eine weitere Erklärung liegt in der Tatsache begründet, dass die Anerkennung einer fremden Sprache als Zielsprache einen symbolischen Akt der Anerkennung des Gegenübers und des Entgegenkommens bedeutet, der zumindest auf Seiten der Bediensteten in vielen Fällen nicht angestrebt wird. Möglicherweise ist das Beharren auf der eigenen Erstsprache als Zielsprache eines der Merkmale des Bedienstetenverhaltens. Luchtenberg merkt hierzu kritisch an: „Die Wahl der Sprache ist nicht unabhängig von der Frage der hierarchischen Struktur einer Kommunikation und der Gleichberechtigung bzw. ihres Fehlens zwischen den Gesprächspartnern. [...] Auch die Bedeutung der Situation muss 131 Vgl. S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 40. 132 S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 21. 133 Vgl. S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 126. 102
DIE ERGEBNISSE
neben der Sprachwahl berücksichtigt werden, da auch sie wesentlich für eine gleichberechtigte bzw. hierarchische Kommunikation ist, denn man kann davon ausgehen, dass die hierarchischen Strukturen einer institutionellen Kommunikation sich verstärken können, wenn der ‚Kunde“ [...] sich nicht oder nur eingeschränkt der Sprache des Vertreters der Institution bedienen kann.“134
Interkulturelle Kompetenz zeichnet sich nach Luchtenberg hingegen dadurch aus, dass neben einer flexiblen Aushandlung von Ziel- und Herkunftssprache noch andere Fähigkeiten von den Sprecherhörern beherrscht werden. Hierzu gehört unter anderem die Akzeptanz sprachlicher Fehler, die Fähigkeit, alternative Formulierungen zu wählen sowie angemessen reparativ tätig zu werden. Schließlich ist interkulturelle Kommunikation insbesondere im Gefängnis davon bedroht, in ein konfliktbelastetes Verhalten abzugleiten. Hier kommt es dann auf metakommunikative Fähigkeiten der Verständnissicherung und Konfliktvermeidung an sowie auf die Bereitschaft, fremde und ambige Deutungsmuster zu akzeptieren.135 Häufig werden Mitglieder einzelner Gefangenenethnien, die über vergleichsweise gute Deutschkenntnisse verfügen, vom Personal nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Sprachrohre eingesetzt, mit deren Hilfe man Einfluss auf das Gefangenenverhalten in der Ausländergruppe nehmen kann: „Wir hatten einen extremen gläubigen Moslem. Das habe ich also irgendwann erkannt. Wir haben ja viele Moslems. Und ich habe dann den mehr oder weniger benutzt. Da habe ich auch keinen Hehl draus gemacht. Ich hab ihm das ausdrücklich so gesagt, dass er sich für seine Moslems, die sich Moslems schimpfen, schämen soll und denen ins Gewissen reden soll, dass das eine oder andere nicht geht.“ (AVD III 316-323) Eine weitere häufige Form der interkulturellen Kommunikation zwischen Gefängnispersonal und Insassen besteht darin, einen Dolmetscher zur Verständigung heranzuziehen. Dieser ist dann allerdings nicht wie vor Gericht ein professioneller Übersetzer, sondern es handelt sich in der Regel um einen Gefangenen mit der gleichen Herkunftssprache wie der Anzusprechende. Wenn der Gefangene gar kein oder fast kein Wort Deutsch beherrscht, werden also Dolmetscher eingesetzt, die selber ebenfalls Gefangene sind. Diese verfügen jedoch auch nur über eingeschränkte Kenntnisse der Zielsprache Deutsch, so dass eine starke Verzerrung der inhaltlichen Aussage des Übersetzungstextes zu erwarten ist. Dies ist insbesondere bei solchen Übersetzungen der Fall, bei denen über mehr als eine Sprachgrenze hinweg übersetzt wird: „Jetzt habe ich zum Beispiel bei mir im Haus drei Litauer. Die sind also rübergekommen, haben 134 S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 11. 135 Vgl. S. Luchtenberg: Interkulturelle Kommunikation, S. 208. 103
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geklaut im Kaufhaus, minimale Dinge, eingesperrt. Sprechen kein Wort Deutsch. Wenn ich mit denen reden will, muss ich über drei Gruppen reden. Da hole ich mir einen Russen, dann einen Litauer und einen Estländer. Und so versucht man das zu verklickern.“ (AVD II 460-464) Man sollte meinen, dass das hier beschriebene translatorische Handeln durch Gefangene auf solche Lebenszusammenhänge beschränkt bleibt, in denen ein ausländischer Gefangener in den Dingen des lebenspraktischen Alltags eingewiesen wird. Meine Befragungen und Beobachtungen haben jedoch ergeben, dass in sämtlichen Gefängnissen Gefangene auch dann als Dolmetscher herangezogen werden, wenn es um mehr geht als den Wäschetausch oder die Essensausgabe. Dies geschieht häufig auch dann, wenn dem ausländischen Gefangenen etwa Eröffnungen auf vollzugsrechtlicher Basis gemacht werden, die also dessen Vollzugsplan oder seine rechtliche Lage allgemein betreffen. Ein Anstaltsleiter gibt zu, „Mitgefangene zu nehmen und dolmetschen zu lassen. Also wenn einer gar nicht Deutsch kann und ein anderer aus dem selben Sprachkreis kann etwas Deutsch, dass man die also dann, um keinen Dolmetscher beschäftigen zu müssen, den Gefangenen bittet zu übersetzen. Kommt nicht oft vor, kommt aber gelegentlich vor.“ (AL IV 523-528) Das translatorische Handeln eines nicht neutralen Gefangenen birgt Vor- und Nachteile: Die Zugehörigkeit des Übersetzers zur Insassengruppe lässt diesen zum parteiischen Aktanten in der Kommunikationssituation werden. Der Bedienstete hat keine Kontrolle darüber, ob die von ihm in Auftrag gegebene Übersetzung in seinem Sinne stattfindet. Auch sein indirekter Kommunikationspartner kann nicht sicher sein, ob der Mitgefangene seine Äußerungen angemessen übermittelt. Die Praxis des informellen translatorischen Handelns durch Gefangene ist insbesondere aus rechtsstaatlicher Perspektive fragwürdig: Zum einen ist diese Praxis aus datenschutzrechtlicher Perspektive zu kritisieren, denn der übersetzende Gefangene erhält Kenntnis von den Gesprächsinhalten zwischen dem Bedienstetem und seinem eigentlichen Kommunikationspartner. Zum anderen sollte auch hier der Grundsatz gelten, dass der Gefangene persönlich, d. h. nicht über Dritte gehört wird.136 Meinen Beobachtungen zufolge werden Gefangene, die als Übersetzer herangezogen werden, stets ausschmückend und kommentierend tätig. In vielen Fällen ist dies den Bediensteten jedoch ganz recht, da nun bereits der Übersetzer den fremdsprachigen Gefangenen über Dinge informiert, die sie selber noch hätten erwähnen müssen. In Gefängnissen mit besonders hohem Ausländeranteil versucht man, dem translatorischen Handeln durch Gefangene dadurch entgegenzuwirken, dass man den ausländischen Gefangenen die wichtigsten Informationen etwa über den anstaltsspezifi136 Vgl. FN 96. 104
DIE ERGEBNISSE
schen Tagesablauf anhand einer in mehreren Sprachen formulierten schriftlichen Hausordnung aushändigt. Die Informationen stehen „auf einem DIN A 4-Blatt. Das ist das Wichtigste, so ein Blatt, wenn einer noch nie im Knast war. Und das erste Mal, wo er halt eingesperrt ist. Dann habe ich auch verschiedene bis zu Arabisch, ich glaube also elf oder zwölf verschiedene Sprachen. Damit decken wir so das Gröbste ab. Weil der momentane Tagesablauf, der ihn von heute auf morgen bis irgendwann interessiert, haben wir da draufstehen. Und den drücken wir jedem Zugang in die Hand. Ob er es will oder nicht. Und dann weiß er wenigstens, wo er dran ist. Die müssen wissen, wann ist früh Wecken, wann ist unter Umständen Aufschluss, wann kann er duschen, wie ist das mit dem Essen, wie machen wir das mit dem heißen Wasser, kann ich mal Sport machen, wann ist Kirche? Und dann ist er schon mal informiert. So. Und weiß Bescheid, was da bei uns für ein Tagesablauf ist. Der ist zumindest mal informiert und eine gewisse Sicherheit ist da. Und man kann schon mal, zumindest was das betrifft, ruhiger schlafen.“ (AVD III 817-837) Nicht alle Beamte setzen sich gerne mit dem Problem der interkulturellen Kommunikation auseinander. Die Berücksichtigung solcher Vorlieben insbesondere von AVD-Beamten bei der Zuteilung der Dienstorte trägt fraglos zu einem friedlicheren Miteinander von ausländischen Gefangenen und Abteilungsbeamten bei: „Es gibt allerdings auch Bedienstete, gerade jetzt bei der Neueinrichtung habe ich das gemerkt, die konnten sich halt so ein bisserl eintragen, was sie bevorzugt für eine Station bedienen wollen. Warum soll ich nicht die Leute, die auch dort arbeiten wollen, dort arbeiten lassen. Es gibt halt auch eine Station mit Ausländern, wo eben manche sagen: ‚Also mag ich nicht.’ Ein anderer sitzt dort mit einem Enthusiasmus und mit Händen und Füßen redet der und versucht denen das in einer Arschruhe begreiflich zu machen, was ist.“ (AVD IV 546-552) Während Beamte sehr häufig von massiven interkulturellen Verständigungsproblemen berichten, zeichnen deutsche Gefangene insgesamt ein weniger kompliziertes Bild der interkulturellen Verständigung. Auf meine Frage, wie ein Gefangener die Kommunikation mit den Ausländern seiner Abteilung einschätzt, meint dieser: „Unproblematisch. Was ich erlebt habe: Die konnten ausreichend gut Deutsch. Auf unserer Station. Also die haben alles, was sie erledigt haben wollten, im Dialog auf Deutsch gebacken bekommen. Und zwar so, dass man es auch versteht.“ (GEF IV 436-443) Gründe für ein besseres Gelingen der interkulturellen Kommunikation innerhalb der Gefangenengruppe mögen darin liegen, dass einerseits die ausländischen Gefangenen ihr Nichtverstehen oder Missverstehen gegenüber Beamten bisweilen auch strategisch einsetzen, um speziell nur das selektiv zu verstehen, was ihnen von Vorteil erscheint, dass aber auch die Beamten ihrerseits mit erhöhter Ungeduld 105
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den Gefangenen mit fremder Erstsprache begegnen, weil sie keine Zeit haben, sich des Langen und Breiten zu unterhalten. Deutsche Gefangene beklagen sich jedoch häufig darüber, dass sie sich gegenüber den ausländischen Gefangenen in der Minderheit befinden. Das Personal von Gefängnissen mit hohem Ausländeranteil ist darum nicht nur damit beschäftigt, die Sprachbarrieren und interkulturellen Grenzen zwischen Deutschen und der jeweiligen Ausländergruppe zu überwinden. Häufig müssen sie auch darüber wachen, dass die verschiedenen Ethnien der Ausländergruppe sich nicht untereinander das Leben schwer machen. Ein Anstaltsleiter klagt: „Das passiert bei sehr vielen Völkerschaften hier zum Beispiel. Die Südosteuropäer, insbesondere eine kleine Völkerschaft in dem Bereich, die also bisher noch nie aus diesem Ding rausgekommen sind, weil sie sehr abgeschottet waren, mögen die Neger nicht. Das sind für sie Untermenschen, Menschen zweiter, vielleicht schon dritter Klasse. Zum Teil also Halbaffen. Das versuchen die auch zu vermitteln.“ (AL V 742-748) In manchen Gefängnissen wundern sich Anstaltsleiter und Personal über die Gruppe der deutschen Gefangenen, die, sobald sie auf den Abteilungen als kleinere Gruppe mit einer multiethnischen größeren Ausländergruppe konfrontiert werden, einen Verlust der eigenen Gruppenkohäsion verzeichnen: „Die deutsche Gefangenengruppe ist sehr heterogen. Also es ist nicht so, wie man sich das vielleicht als Außenstehender vorstellen könnte, dass es ein starkes Gefühl der Solidarität aller Gefangener allen Gefangenen gegenüber gibt. Aber bemerkenswert ist schon, dass ausländische Gefangene sehr homogene Gruppen nach ihren Herkunftsländern bilden. Und ob das jetzt mit der Sprache zusammenhängt oder mit einem kulturellen Hintergrund, weiß ich nicht. Aber jedenfalls ist das ungewöhnlich, wenn man sich dagegen die deutschen Gefangenen anguckt.“ (AL VII 444-451) Insbesondere auf Abteilungen der Untersuchungshaft ist der Ausländeranteil hoch. Dort ist die interkulturelle Verständigung besonders auffällig beeinträchtigt: „Was ich aus der U-Haft her kannte oder kenne: Ich sage mal zwanzig Prozent waren wir deutsch und der Rest waren, na ja, alle Welt.“ (GEF V 367-375) Wenn man von denjenigen Gefangenen absieht, die einem rechtsextremen Milieu angehören, verfügen Gefangene teilweise über mehr interkulturelle Kompetenzen und über eine größere Kenntnis im Umgang mit Fremdheit als ihre Landsleute unter den Beamten: „Ich habe mit allen möglichen Leuten zu tun. Zum Beispiel Marokkaner, die ja nun schon wieder Arabisch sprechen, was lustig ist. Die singen ja den ganzen Tag. Das ist denen ihre Sprache. Aus der heraus singen die. Und das Problem ist aber bei Marokkanern, wenn die sich zum Beispiel nett unterhalten, schreien die sich an. Das liegt aber an ihrer Sprache, an ihrer Artikulierung. Denen ihre Sprache ist anders.“ (GEF VI 401-411) Ein Beamter sieht die ausländischen Gefangenen als 106
DIE ERGEBNISSE
eine benachteiligte Gefangenengruppe an. Meiner Erfahrung nach sind es tatsächlich die Ausländer, die bei den meisten Beamten das im Gefängnis seltene Gefühl des Mitleids aber auch der Betreuungsresignation hervorrufen: „Gerade in den Anliegen, die sie dann manchmal vorbringen wollen oder ein Schreiben, Anträge zu schreiben, also mit denen macht man ja jetzt keine andere Vollzugspraxis, bloß weil sie jetzt nicht Deutsch können, als mit anderen. Die werden ja genauso, also sie haben einen Antrag zu stellen. Und wenn sie mit dem Leiter sprechen wollen, dann müssen sie halt Deutsch sprechen. Weil das halt nicht anders geht und für die ist es natürlich ein großes Handicap. Die sich dann oftmals überhaupt nicht da irgendwie artikulieren können. Und ich denke mal, da sind sie auch mal ein bissel, ich will nicht sagen, in ihren Rechten eingeschränkt. Aber die kennen halt einfach viele nicht. Und das lässt man halt auch ziemlich so laufen. Manche haben dann jemand, der ein bissel übersetzt und. Aber ich denke, die haben schon kein leichtes Los so im Vollzug. Wo dann auch so diese Sprachbarrieren bestehen. Der eine oder andere würde sich vielleicht auch ganz gerne mal ausschütten, aber es geht halt nicht.“ (AVD VI 410-426) Besonders problematische Auswirkungen hat die sprachliche Barriere nicht nur auf den Abteilungen, sondern auch bei der Arbeit in den Betrieben, wo eine ganze Reihe von Tätigkeiten abgesprochen werden muss. Ein Werkdienstbeamter berichtet davon: „Der Ausländer sagt dann immer: ‚Scheiße, ich nix verstehen und Chef, du sprechen ich arbeiten.’ Der wird ganz verrückt, wenn ich zum Beispiel mit dem Hubwagen rumfahre und ich ihm das jetzt nicht gesagt habe, dass man das von a nach b stellen soll. Und dann kommt er jedes Mal her und sagt: ‚Chef, warum du nicht mit mir sprechen? Ich arbeiten, du sprechen. Du sagen und ich arbeiten, nicht umgekehrt.’ Und dann wird er immer ganz wild. Und der tut mir jetzt zum Beispiel leid. Der zeigt mir das auch immer, dass es ihn schier verrückt macht. Ich bin jetzt zu der Lehrerin gegangen und habe die gefragt, ob man dem nicht ab und zu mal so ein bisschen so Deutsch für Ausländer oder irgendwie sprachlich so ein bisschen beibringen könnte, so dass man es ein bisschen leichter hat.“ (WD II 617-627) In der Äußerung des Werkdienstbeamten erkennt man ein xenolektales Sprachverhalten. Der Werkdienstbeamte verwendet zur Darstellung des Sprachverhaltens des ausländischen Gefangenen die direkte Rede, mittels derer er zeigen möchte, wie der Gefangene sich ausdrückt: Mit dem Satz „Scheiße, ich nix verstehen und Chef, du sprechen und ich arbeiten“ möchte er die defizitäre Sprechweise des Ausländers anschaulich machen. Dabei bedient er sich des Ausländerregisters. Dieses ist ein wichtiges Thema, das in der Vollzugspraxis für die interkulturelle Kommunikation von Bedeutung ist. Das Ausländerregister kann durch bestimmte Merkmalsmuster eindeutig beschrieben und somit von 107
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anderen sprachlichen Registern abgegrenzt werden. Dabei verändern deutsche Muttersprachler gegenüber Menschen, die Deutsch offenbar nur als ihre Zweitsprache oder sogar gar nicht beherrschen, ihr eigenes Sprachverhalten. Ein Anstaltsleiter nimmt diese Form des sprachlichen Geschehens ebenfalls wahr: „Es muss genau das eintreten, dass natürlich auch teilweise Mitgefangene und Beamte im Umgang mit diesen ausländischen Gefangenen Distanz wahren, weil die Kommunikation nicht ganz möglich ist, oder einfach versuchen, in Kindersprache zu sprechen. ‚Du darfst machen.’ Das ist dieses Typische, was einem immer wieder auffällt.“ (AL III 540-545) Es muss allerdings deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Verwendung solcher xenolektaler Äußerungen nicht notwendigerweise Ausdruck einer ausländerfeindlichen Haltung ist. Vielmehr ist es so, dass die Mehrzahl der von mir befragten und beobachteten Beamten bei allen Vorbehalten, die sie gegenüber kultureller Fremdheit haben, auch immer wieder Verständnis für die doppelte Benachteiligung der Ausländer aufbringen. Darum bezeichnet Athanasia Jakovidou das Ausländerregister als ein Anpassungsregister. Der Begriff Anpassungsregister bedeutet, dass standardsprachliche Sprecher im Umgang mit Personen, die aufgrund psychosozialer, medizinischer oder ethnischer Einschränkungen die Standardsprache nicht so gut beherrschen, den Bedarf vermuten, ihr eigenes Sprachverhalten ändern zu müssen. Ein weiteres Anpassungsregister neben dem Ausländerregister ist etwa der Baby-Talk.137 137 Athanasia Jakovidou: Funktion und Variation im „Foreigner-Talk“, Tübingen: Narr 1993, S. 11 ff. In der vorliegenden Arbeit soll es nicht um die Merkmale des Ausländerregisters gehen, sondern darum, welche Auswirkungen das Ausländerregister auf das Sprachhandeln im Gefängnis hat. Dennoch schildere ich in Anlehnung an Athanasia Jakovidous Arbeiten zum Ausländerregister dessen linguistisches Merkmalsprofil. Auf grammatikalischer Ebene beobachtet man einen Ausfall von Wortklassen wie z. B. Artikel, Pronomen, Nomen, Verb und Hilfsverb oder ganzer Elemente der Äußerung wie Verbalphrasen sowie längere Subjekt- oder Objektkonstruktionen; des Weiteren finden sich häufig Satzumstellungen wie Adverbienverrückungen, Verbendstellungen sowie die Nichtanwendung der Inversionsregel in Fragesätzen; weitere grammatikalische Merkmale sind Wortneuschöpfungen wie z. B. die Doppelnennung des Subjekts durch pronominale Wiederholung; außerdem ist ein grammatikalischer Regelverlust bei gleichzeitiger grammatikalischer Regelhinzufügung zu beobachten (Verlust des Passivs, Verwendung des Infinitiv Präsens, ausschließlicher Gebrauch des Singulars, direkte Rede anstelle der indirekten). Auf morphologischer Ebene finden sich morphophonemische Reduktionen wie z. B. Ausfall, Einebnung und Erstarrung von Flexionsendungen. Auf lexikalischer Ebene fällt eine Verarmung des Wortschatzes auf bei gleichzeitiger Beschreibung von Gegenständen durch analytische Paraphrasen; es findet sich häufig eine Generalisierung mancher logischer Operatoren wie z. B. „nix“ und 108
DIE ERGEBNISSE
Athanasia Jakovidou hat in ihrer empirischen Arbeit ermittelt, in welchen Überzeugungs- und Bedingungskontexten die Verwendung des Ausländerregisters entsteht:138 Generell ist die Einstellung der Befragten zu Ausländern positiv. Probanden mit höherem Bildungsabschluss tendieren zu einem geringeren Gebrauch des Ausländerregisters. Befragt zu ihrem eigenen Sprachverhalten äußern die Befragten, dass sie dieses als angemessen betrachten. Der Verwendung des Ausländerregisters liegt folgende Überzeugung zugrunde: „Wenn wir genauso wie die Ausländer reden, verstehen sie es am besten.“ Aber auch das Ausländerregister ist kein einheitliches Register. Sprecherinnen und Sprecher verwenden es in unterschiedlichem Ausmaß. Aktuelle Auslöser für das Ausländerregister variieren je nach den folgenden Parametern:139 Bereits das äußere Erscheinungsbild wie etwa die dunklen Haare oder die dunkle Haut einer Person können die Verwendung des Ausländerregisters auslösen. Hinzu kommen die Merkmale der Sprache des Gegenübers sowie das parasprachliche und sprachliche Verständnis des Zielsprachlers von seinem Gegenüber. Nur wenige Beamte des Gefängnisses sind aufgrund ihres Aufgabenbereichs nicht ausschließlich auf eine gelingende sprachliche Kommunikation mit den Ausländern angewiesen. Sie können ihr Augenmerk auf andere Verhaltensmerkmale dieser Gefangenen richten und erschließen sich daraus Informationen über deren Befinden: „Ich nehme bei den ausländischen Gefangenen halt mehr die Stimmung wahr. In jeder Sprache kannst du erfassen, geht es jetzt um ein Thema, wo jemand provoziert werden soll? Oder ob der selber anmacht? Das ist wahrnehmbar. Vom Inhalt her weiß ich natürlich nicht, um was es genau ging. Aber das Emotionale ist die Ebene, wo ich die Leute auch einschätzen kann. Ich erlebe es im Sport, wo sie sich zeigen. Und man kann kein Spiel machen, wo du dich raushältst. Sie kommen ja, um sich einzubringen und in den Spielen passiert ja genau das wieder: ‚Da tut mir was weh oder ich bin eigensinnig oder was.’ Und da kommt der persönliche Charakter sehr deutlich auf den Tisch. Und deshalb kann ich sehr viele gut einschätzen. „viel“; zudem werden Elemente anderer Sprachen verwendet. Schließlich zeichnet sich das Ausländerregister auf artikulatorischer Ebene durch Überdeutlichkeit in der Formulierung aus. Auf diskursanalytischer Ebene beobachtet man häufig Wiederholungen des Gesagten, Anhängselfragen sowie ein Klärungsverlangen auf Sprecherseite. Die grundlegende soziolinguistische Einstellung ist dadurch geprägt, dass ein ständiger Wechsel in der Anredeform von „Sie“ zu „Du“ stattfindet. Vgl. A. Jakovidou: Funktion und Variation im „Foreigner-Talk“, S. 12 ff. 138 Vgl. A. Jakovidou: Funktion und Variation im „Foreigner-Talk“, S. 259 ff. 139 Vgl. A. Jakovidou: Funktion und Variation im „Foreigner-Talk“, S. 19 ff. 109
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Und deswegen ist das völlig zweitrangig, wenn die jetzt sich in ihrer Muttersprache unterhalten.“ (FD I 257-271) Der Gefängnissport scheint demnach ein Bereich zu sein, in dem auf eine rein verbalsprachliche Verständigung am ehesten verzichtet werden kann, ohne dass dabei die Gemeinschaftlichkeit aufgelöst wird. Ähnliche Ausweichmöglichkeiten stehen meiner Meinung nach den Seelsorgern des Gefängnisses zu Verfügung. Von der Beichte über Gesprächsgruppen bis hin zu interkulturell organisierten Gottesdiensten beinhaltet ihr kommunikatives Handeln im Gefängnis erhebliche Freiheitsgrade, in denen auch noch solche Gefangenen Ausdrucksmöglichkeiten finden, die kein Wort Deutsch sprechen. Der folgende Anstaltsgeistliche setzt hierzu folgende Mittel ein: „Beispielsweise im Gottesdienst: Wenn ich lateinische Ausdrücke habe, wird das also sehr geschätzt. Wenn einer kommt und ich habe dann ein lateinisches Gebet, das finden sie gut. Ich habe dann mal gefragt: ‚Warum?’ [Die Gefangenen]: ‚Du musst nicht alles erklären. Gott kann man nicht erklären. Und wenn Sie dann mal so was sagen, das ist dann so ein bisschen geheimnisvoll.’ heißt es dann. Gleiches bei meinen Moslems. Ich mache also hier eine islamische Gruppe, weil hier kein islamischer Geistlicher herkommt. Die leite ich. Und wenn ich beispielsweise jetzt Neue habe und die beginnen ihr Gebet und ich fange das dann also an: ‚[Gebet auf Arabisch]’ dann ist das für die eine Sache, die sie nicht verstehen. Dann sage ich: ‚Ja bist du Moslem oder bin ich Moslem?’ Und dann lernen sie Arabisch, um praktisch ihren Traum leben zu können, weil ohne Arabisch kann man nicht Moslem sein, das geht nicht. Weil das Arabische ist die Bedingung. Das gleiche jetzt wieder auf das Katholische bezogen. Es gibt katholische Gebete, also beispielsweise das Vaterunser oder Ave Maria bete ich auf lateinisch, ganz bewusst. Und da sagen sie: ‚Das ist interessant.’ Da hat mal einer gesagt: ‚Ja, jetzt bin ich daheim.’ Sage ich: ‚Wieso?’ Das ist katholisch hier. Das andere hat er nicht verstanden, weil er ein Russe war. Und das ist auch der Grund, warum ich den Gottesdienst grundsätzlich in mindestens vier Sprachen gestalte. Der Gottesdienst läuft dann also ab in Deutsch, Englisch, Französisch mit der Predigt oder Lesung, und dann in Russisch, Polnisch, was ich nicht kann, von anderen. Das heißt, ich frage dann einen Gefangenen: ‚Bist du so lieb und liest die Lesung?’ Ich habe also die Bibel in allen Sprachen da. Und dann kommen die also nach vorne und lesen dann für ihre anderen Gottesdienstbesucher das Stückchen dann in der Landessprache. Und dann beim Vaterunser, das habe ich in hundert Sprachen da. Da frage ich dann vorher schon, was für Nationen wir da haben. Das sagen sie mir dann. Und dann bitte ich die nach vorne, je einen Vertreter jeweils. Und dann stehen da meinetwegen zehn Leute und dann beten wir das Vaterunser jeder in seiner Sprache. Ich fange also in Deutsch an. Und dann geht es durch und dann 110
DIE ERGEBNISSE
sagen sie auch: ‚Das ist unser Gottesdienst.’ Also ich denke, es ist wichtig, das Verbindende der Sprachen zu erkennen. Neulich hab ich einen Chinesen gehabt. Das war für mich besonders interessant, weil ich kein Wort Chinesisch konnte und der auch kein Englisch konnte, gar nichts. Er konnte nur Chinesisch. Der hat dann nur gesehen: Ich gehe dann immer durch den Zellentrakt mit meinem Messgewand, und dann hat er gesehen: ‚Aha, da ist Gottesdienst.’ Ist er mitgekommen, hat sich hingesetzt. Und dann habe ich dann drei, vier Worte auf Chinesisch gesagt. Da gingen bei dem die Augen auf. Und da habe ich gemerkt, jetzt war er da. Jetzt haben wir zusammen Gesamtgottesdienst gefeiert. Und dann habe ich ihm das Vaterunser gegeben in Chinesisch. Er war zwar der Einzige. Und dann hat er gewusst, um was es geht. Das hat dann wirklich verbunden. Also ich denke, dass es eine sehr wichtige Sache ist, die Leute da abzuholen, wo sie sind in ihrer Sprache.“ (FD II 782-841) Diese ausführliche Schilderung der interkulturellen Arbeit eines Seelsorgers macht deutlich, welche Möglichkeiten auch im Gefängnis bestehen, die einzelnen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien auf sprachlichem Wege interkulturell zu vergemeinschaften. Ich habe allerdings auch Praktiken im Strafvollzug beobachtet, die sprachliche intrakulturelle Vergemeinschaftung verhindern sollen. In den von mir besuchten Gefängnissen werden die Angehörigen der verschiedenen Ethnien nach unterschiedlichen Gesichtspunkten auf die einzelnen Hafträume verteilt. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei das Ermöglichen bzw. Verhindern eingehenden sprachlichen Austauschs. In einigen Gefängnissen lässt man die Angehörigen einer Ethnie nur so lange gemeinsam einen Haftraum bewohnen, bis Nachteile aus dieser Situation erwachsen. In anderen Gefängnissen stellt man hingegen von Beginn an folgende Überlegungen an: „Zu wem tue ich ihn hin? Tue ich ihn zu einem Landsmann hin? Da muss ich auch sagen, wenn ich ihn zu einem Landsmann hintue: Geiselnahme. Wenn zu viele zusammen sind, da habe ich in der Regel keine Geiselnahme zu befürchten, weil die sich nicht einig werden. Wenn aber in einer Stockwerkzelle – wir haben leider Einzelzellen wo zwei Betten auf einmal drin sind, weil wir überbelegt sind – wenn ich da zwei reintue, wo ich befürchten muss, die sind sich zu schnell einig und haben beide gleich wenig zu verlieren, ist die Wahrscheinlichkeit einer Geiselnahme groß. Und das muss ich erkennen. Tu ich zwei Landsleute zusammen, um ihnen zu helfen? Oder muss ich befürchten, wenn ich ihn mit einem Landsmann zusammentue, dass ich da genau das Gegenteil, dass die da dann sich einig sind und gegen uns was machen können? Und das muss ich erkennen.“ (AVD III 711-723) Ein Anstaltsleiter erklärt, inwiefern schon allein die gemeinsam geteilte Erstsprache ein wichtiges Kriterium für intrakulturelle Gruppenbildung und -festigung ist. Haben sich solche Gruppen erst einmal gebildet, kön111
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nen sie unter Umständen eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt darstellen: „Die ausländischen Gefangenen bilden dann unter Umständen, wenn andere da sind, die ihre Muttersprache sprechen, eine Gruppe. Auch wenn sie sich sonst nicht verstehen [i. S. v. miteinander auskommen, G. K.] würden. Also man sieht es bei dem Deutschrussenanteil momentan, wo Russisch die Muttersprache ist. Ich bin überzeugt, die würden draußen teilweise sich untereinander nicht verstehen. Aber hier drin sind sie zusammen. Russisch ist die Einheit, das verbindet sie. Was auch Probleme bereitet, auch Angst bereitet, weil man sie nicht mehr versteht. Andere Gruppen teilweise auch, Albaner. Aber die Russen sind momentan im Vollzug sicher mit eines der großen Probleme. Plötzlich kommen die Leute rein, die kennen sich nicht, stellen fest: ‚Deutschrusse, schön, aha, wir gehören zusammen.’ Zusammengehörigkeitsgefühl.“ (AL III 454-456) Es gibt allerdings auch genau gegenteilige Strategien, wie auf Seiten der Anstaltsleitung mit der Vielsprachigkeit der Insassen umgegangen wird: „Davon wird auch in vielen Anstalten Gebrauch gemacht, dass, wenn Ausländer da sind, die die gleiche Sprache haben, alles getan wird, um diese Leute zusammenzubringen, um der Vereinsamung im Gefängnis entgegen zu wirken.“ (AVD VII 403-407)
Strafvollzugliche Fachsprachen Ich muss im Vollzug notgedrungen mit so vielen Leuten in unterschiedlichster Art kommunizieren. Da sitzt der Arzt da, der kommt mit seinem Blutkörperzählgerät daher. Dann kommt der Psychiater und erzählt mir was über den Gefangenen und sein Borderline-Syndrom. Dann erzählt mir der Schreinermeister, warum er jetzt den Schrank für das Gericht so bauen muss und nicht anders. Dann kommt der Schlosser daher und sagt, er braucht unbedingt noch die neue Fräsmaschine, weil die jetzt mit 150 kW nicht mehr ausreicht. Er braucht jetzt eine mit 200 kW. Die kostet 200 was tausend Mark mehr. Also das sind meine Gespräche. (ein Anstaltsleiter)
Nach Theodor Ickler schafft die Gemeinsprache einen überregionalen und schichtübergreifenden Ausgleich zwischen allen Sprechergruppen. Fachsprachen hingegen werden zum Zweck der Übermittlung von Fachwissen verwendet. Grundlage einer Fachsprache ist immer die Gemeinsprache, der dann Elemente einer bestimmten Fachterminologie
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hinzugefügt werden. Sind bestimmte Teile der Gemeinsprache normiert, werden sie als Standardsprache bezeichnet.140 Am Thema Fachsprache entfacht sich der Streit, inwiefern ihr Gebrauch legitimiert werden kann. Es stellt sich die Frage, ob Fachsprachen auch für die Laien allgemeinverständlich sein sollten und ob es überhaupt möglich ist, Fachwissen angemessen in allgemeinverständlichen Begriffen zu vermitteln. Ickler meint hierzu, dass sich die Aufmerksamkeit der Fachsprachenkritik nicht gleichmäßig gegen die einzelnen Fachdisziplinen richtet, sondern dass für bestimmte Domänen des Fachwissens von Seiten der Öffentlichkeit kein Bedarf nach Verständlichkeit besteht. Dies gilt etwa für die Astrophysik und viele Naturwissenschaften. „Beim Recht ist das anders und bei der Psychologie auch, zumal sich letztere in ihrer mentalistischen und nicht-behavioristischen Ausprägung an der alltagssprachlichen Terminologie orientiert.“ 141
Ickler weist darauf hin, dass sich dieser Streit innerhalb der Fachsprachenforschung jedoch dahingehend entschieden hat, dass Fachtexte dort eine natürliche Verständnisgrenze haben, wo selbst beim Gebrauch der Gemeinsprache Fachwissen erforderlich ist. „In solchen Fällen nützt die rein äußerliche (‚ausdrucksseitige’) Annäherung an die Allgemeinsprache nichts; sie schadet unter Umständen sogar, weil sie ein Scheinverständnis schafft, das bedenklichere Folgen hat als ein offen zutage liegendes und eingestandenes Nichtverstehen.“142
Gerade Recht und Psychologie sind jedoch diejenigen Disziplinen, welche den strafvollzuglichen Fachsprachengebrauch in erster Linie bestimmen. Das Empören über unverständliche fachsprachliche Kommunikation bleibt jedoch in der Regel aus, da sowohl Recht als auch Psychologie vermeintlich verständliche Fachbegriffe verwenden. Infolge einer Verständnisillusion fühlt man sich als fachsprachlicher Laie im Gefängnis zunächst nicht völlig vom Gespräch ausgeschlossen. Insbesondere die Rechtssprache ist nach Ickler darum „eine besondere Quelle enttäuschenden Nicht- und Missverstehens.“143 Ein erheblicher Anteil der strafvollzuglichen Fachkommunikation findet auf schriftlichem Wege statt. Gutachterschreiben oder juristische 140 Vgl. Theodor Ickler: Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit, Tübingen: Narr 1997, S. 2. 141 T. Ickler: Die Disziplinierung der Sprache, S. 322. 142 T. Ickler: Die Disziplinierung der Sprache, S. 329. 143 T. Ickler: Die Disziplinierung der Sprache, S. 337. 113
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Stellungnahmen zeichnen sich durch einen komplexen Satzbau aus, da schriftliche Kommunikation häufig schwierigere Ausdrucksweisen beinhaltet als mündliche. Dies liegt daran, dass nur in der gesprochenen Rede, jedoch nicht in der Schriftlichkeit das Normalmaß menschlicher Textverarbeitungskapazität erkennbar wird.144 Schriftlich verfasste Fachsprache ist folglich immer dann ein Problem, wenn sie mündlich vorgetragen wird. Dies ist in der Tat in Vollzugskonferenzen manchmal der Fall. Fachsprache wird zur Imponiersprache, wenn nicht eine Übermittlung von Fachwissen dahintersteckt, sondern ein Sprecher für sein Fachwissen Anerkennung ernten möchte.145 Dieses Verhalten habe ich im Gefängnis vergleichsweise selten beobachtet. Im Gefängnis ist der Fachsprachengebrauch nicht nur an die Sprechergruppe der akademisch gebildeten Bediensteten gebunden, sondern findet sich auch auf Seiten des Werkdienstes. Psychologen, Sozialarbeiter, Ärzte, Lehrer, Juristen sowie Werkdienstmeister der unterschiedlichsten Berufe kommunizieren ihr Fachwissen, indem sie auf eine fachspezifische Terminologie zurückgreifen. Die Sprache des Werkdienstbeamten richtet sich, anders als die Fachsprache des Fachdienstes, auch und gerade an Gefangene bei der Arbeit oder in der Ausbildung, sofern diese in ein Handwerk eingearbeitet werden sollen. Der Werkdienst ist der einzige Ort des Gefängnisses, in dem Fachsprache nicht nur verwendet, sondern auch lehrend vermittelt wird. „Ja, in meiner Sprache gibt es auch Fachsprache. Und der Umgang mit der Fachsprache muss einfach sein, da sollte man keinen Unterschied machen. Ich sehe das mal aus fachlicher Sicht her. Also wenn ich die Situation sehe, ich bin eingesperrt, drei Jahre, und ich spreche eine andere Sprache, auch fachlich gesehen, dann verlerne ich irgendwas. Und dann komme ich wieder raus, dann wird [am Arbeitsplatz, G. K.] wieder anders gesprochen. Das fällt dann schwer. Im Knast wird eine andere Sprache gesprochen. Das ist klar, das ergibt sich. Aber in Bereichen, wo das Fachliche eine Rolle spielt, sollte man auch diese Begriffe nehmen.“ (WD II 915-924) Die Gruppe des allgemeinen Vollzugsdienstes sowie die Gefangenen verfügen nicht über eine Fachsprache im engeren Sinne. Die Ergebnisdiskussion zum Thema Fachsprachen im Gefängnis fällt wider Erwarten schmal aus. Während der Datenerhebung richtete ich mein Augenmerk insbesondere auf die Fachsprachen der Fachdienste und Juristen, ohne dabei in Betracht zu ziehen, dass auch im Bereich des Werkdienstes fachsprachlich kommuniziert wird.
144 Siehe hierzu auch die Unterkapitel „Briefkontakt“, „Allgemeinverfügung“ und „Tagebuch“. 145 Vgl. T. Ickler: Die Disziplinierung der Sprache, S. 338. 114
DIE ERGEBNISSE
Von den Fachdiensten stammt meinem Eindruck nach nicht nur der größte Anteil der im Strafvollzug produzierten Fachsprache, sondern auch derjenige Teil des gesamten fachsprachlichen Geschehens, der über die eigenen Fachgrenzen hinweg auch andere an der Resozialisierung beteiligte Mitarbeiter betrifft. Bereits die Benennung dieser Sprechergruppe zeigt an, dass sie „vom Fach“ ist. Im Folgenden stelle ich nicht die Frage, ob und in welchem Maße aus der Perspektive der Gefängnisangehörigen Fachsprache im Strafvollzug auftritt. Vielmehr soll geschildert werden, inwiefern die von Fachsprache betroffenen Sprecherhörer ein Problem mit Fachsprache oder Formulierung von Fachwissen haben. Seitens der AVD-Beamten ist es meiner Erfahrung nach eine Minderheit, die sich, wie der im Folgenden berichtende Beamte, vor einem fachsprachlichen Gespräch fürchtet: „Wenn ich dann weiß, ich habe ein paar Fachleute dabei, dann bin ich da immer sehr zurückhaltend, weil ich dann auch denke: ‚Oh Gott, irgendwo sagst du danach einen Müll und die kriegen sich schier nicht mehr, weil du dann da was total verdreht hast oder so. Weil man vielleicht das Gefühl hat: ‚Ich könnte mir die Blöße geben.’“ (AVD I 496-513) Wenn aus der Furcht, sich eine Blöße vor Fachleuten zu geben, ein kommunikatives Vermeidungsverhalten etwa in Vollzugskonferenzen resultiert, sehe ich darin die Erfüllung des Behandlungsauftrags, dem auch Abteilungsbeamte unterstellt sind, in Gefahr. Erfreulicherweise treten die meisten Beamten gegenüber unverständlichen fachsprachlichen Äußerungen selbstbewusst auf. „Schwer sind die Fachdienste. Die haben das jahrelang studiert und das ist ja denen ihr normales Vokabular, was die da ablassen. Vergessen aber manchmal, dass andere Leute das nicht studiert haben und dann halt wahnsinnig Schwierigkeiten haben, das zu verstehen, was die da erzählen. Und dann stelle ich mich da hin und dann sage ich immer: ‚Und jetzt noch mal auf Deutsch.’ Wenn man sie dann daran erinnert: ‚Jetzt mal bitte so, dass man es versteht.’ dann nimmt es einem auch keiner von denen übel.“ (AVD IX 972-981) An dieser Stelle halte ich es für wichtig zu erwähnen, dass nichtakademische Bedienstete nicht die Fachsprache als solche kritisieren oder für unnötig erklären. Die meisten Beamten nehmen lediglich eine pragmatische Haltung ein, die von den Fachdiensten einen angemessenen Einsatz ihrer Fachsprache je nach Gesprächspartner fordert. Damit folgen sie nicht der landläufigen Meinung von Laien, Fachsprachen seien insgesamt überflüssig und gehörten abgeschafft. Langjährige Beamte, die im Sinne des Behandlungsauftrags häufig kommunikativen Kontakt mit den Fachdiensten pflegen, erlernen nach einiger Zeit wichtige Teile der Fachsprache und verfügen damit über ein semiprofessionelles Wissen, das in eine semiprofessionell-fachsprachliche Kommunikation mündet. Verständigungsprobleme treten dann offenbar seltener auf oder 115
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werden zumindest nicht als solche erkannt.146 „Von Psychologen oder Sozialarbeitern den Slang habe ich quasi drauf. Das merke ich zum Teil schon gar nicht mehr. Dadurch, dass ich sehr eng mit Fachdiensten zusammengearbeitet habe, durch die Therapie, wo jeder teilnehmen muss, wo jeder beitragen muss, hat man in viel größerem Maße Kontakt zu Sozialarbeitern, Psychologen, Psychiatern. Und da nimmt man schon ein gewisses Vokabular auf und benutzt es zum Teil dann auch selber.“ (WD III 967-995) Dieser Effekt des Erlernens einer Fachsprache durch den Laien lässt sich allerdings auch für manche Angehörige der Gefangenengruppe nachweisen. Wie auch im Kapitel „Lügen“ erläutert, passen sich Gefangene dem Gutachterslang an, um aus behandlerischer Sicht in einem besseren Licht dazustehen und um möglicherweise das Gefühl zu haben, verbale Kontrolle auszuüben. Ein Anstaltsleiter ist verblüfft über diese Lernfähigkeit: „Das ist eine interessante Erscheinung: Je öfter Gefangene in einer Begutachtung waren, desto mehr haben sie diesen Gutachterslang drauf. Den kennen sie dann schon. Da wissen sie genau, wie sie sich bei bestimmten Testverfahren verhalten sollen, was man wann wo sagt und so weiter. Den ganzen sozialen Background haben sie gelernt, mit dem man gut durchkommt.“ (AL IV 113-118) Es sind allerdings nicht nur die Abteilungs- und Werkdienstbeamten, die darauf angewiesen sind, sich mit dem immer wieder auftretenden fachsprachlichen Verhalten zu arrangieren. Auch Juristen stehen den Fachdiensten häufig mit einem Unverständnis auf der Wortbedeutungsebene gegenüber: „Ich würde sagen, dass unsere verschiedenen Berufe, die wir hier drinne haben, natürlich auch ihre eigene Sprache haben. Der Sozialarbeiter hat seine Sprache, der Psychologe hat seine Sprache. Und da sehe ich an sich noch viel mehr Probleme drin, in der Behandlung: Dass die Sprache teilweise nicht verstanden wird, dass der Jurist den Psychologen nicht versteht, umgekehrt genauso.“ (AL III 618647) Im weiteren Gesprächsverlauf zeigt sich, dass der Anstaltsleiter sich für das Gefängnis eine einheitliche Fachsprache wünscht, mittels derer man einerseits effektiv die Belange des Behandlungsvollzugs kommunizieren kann, die aber andererseits auch für jeden Bediensteten in fachübergreifender Weise verständlich ist.147 Ein anderer Anstaltsleiter beklagt, dass die juristische Fachsprache, da sie, wie bereits erläutert, keine Fremdwörter im klassischen Sinne, sondern bestimmte deutsche 146 Insbesondere während der letzten Jahre nimmt insbesondere das Fach Psychologie in der Ausbildung der AVD-Beamten einen immer höheren Stellenwert ein, was eine erhöhte fachsprachliche Kompetenz auf Seiten der jüngeren AVD-Beamten erwarten lässt. 147 Eine Erfüllung dieser Forderung ginge allerdings damit einher, strafvollzugsspezifische, interdisziplinär ausgerichtete Fortbildungen für sämtliche Mitarbeiter anzubieten. 116
DIE ERGEBNISSE
Wörter mit etwas abweichenden Bedeutungen verwendet, erst auf den zweiten Blick als Fachsprache erkennbar wird. Der Anstaltsleiter warnt seine Kollegen davor, die eigene juristische Textproduktion als alltagssprachlich einzustufen, da dies eine Verständnisillusion bei den juristische Laien hervorrufen könnte: „Die juristische Fachsprache ist natürlich eine Sprache, die oftmals überhaupt nicht verstanden wird. Ich bin ja auch Jurist. Es gibt auch viele juristische Darstellungen oder Urteile mit juristischer Sprache, die ich überhaupt nicht verstehe, weil das so eine entsetzliche Sprache ist, die die Juristen, die Schrecklichen, verwenden, dass selbst ich die nicht verstehe. Klar ist, dass man als Jurist einfach wissen muss, dass wir eine Fachsprache haben. Und dass das Gegenüber die oft nicht versteht. Ich will mal als Beispiel sagen: Der ‚Betrug’ ist im Juristischen hochkomplex besetzt, ein außerordentlich schwieriger Vorgang, der Betrug. Und in der Laiensphäre wird also jede bessere Lüge als ‚Betrug’ bezeichnet. Und ich denke, das muss man als Jurist einfach wissen, dass Leute diesen Begriff ganz anders verwenden und dementsprechend muss man sich auch in der Sprache darauf einstellen. Oder auch in seinem Verständnis des Gegenübers. Das hängt sicher damit zusammen, dass diese ganze juristische Sprache sich Jahrhunderte lang so entwickelt hat. Man wird sie nicht abschaffen können und die irgendwie einfacher machen können, weil hinter diesen juristischen Begriffen nun sehr viel Gedankenwelt ist und das ist ja von mir aus auch gut so. Aber wir Juristen müssen uns darüber im Klaren sein, dass das so ist und dass das eben vielmals nicht verstanden wird.“ (AL I 937-961) Ein Anstaltsleiter löst mit seiner Äußerung die recht scharfe und enge definitorische Grenze dessen, was eine Fachsprache ist, auf. Für ihn finden Praktiker des Strafvollzugs, je nachdem, worin ihre Fachkompetenz besteht, zu ihren persönlichen Bezeichnungen von Phänomenen. Meiner Ansicht kann man hier analog zum Soziolektkontinuum von einem Funktiolektkontinuum ausgehen.148 „Ich würde niemals von ‚Rauschgift’ reden, weil es gar kein Rauschgift gibt, juristisch gesehen. Das heißt ‚Betäubungsmittel’. Das sind tausende von Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Hingegen Vollzugsbeamte oder auch Kriminalbeamte, die reden von ‚Rauschgift’. Wobei dann kein Mensch wissen will, wieso das giftig ist oder wieso das immer Rausch erzeugt. Beides muss ja überhaupt nicht der Fall sein. Das sind solche Begrifflichkeiten, die wohl auch dazu gehören, dass man sie in bestimmten Bereichen benützt und dass damit auch Inhalte transportiert werden. Also der ‚Giftler’ zum Beispiel ist die Kurzform für den Rauschgiftsüchtigen, typische Vollzugseinfachredeweise. Ein ‚Giftler’ hat halt so Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz begangen. Oder ist zwar nicht 148 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Sprachvarietäten des Gefängnisses“. 117
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deshalb verurteilt, aber hat eben mit Drogen zu tun. Und so gibt es dann so kurze Typisierungen, die auf den Ebenen nicht gleich häufig und nicht gleich intensiv benützt werden. Wahrscheinlich im Justizministerium, in der Strafvollzugsabteilung, wo man von uns ganz weit weg ist, von dem, was da geschieht, könnte es sein, dass der eine oder andere den Begriff noch nicht mal kennt.“ (AL II 145-167) Ich interpretiere die Aussage des Anstaltsleiters so, dass er den Dienstjargon des Abteilungspersonals funktional mit der Fachsprache gleichsetzt. Meiner Ansicht nach zeichnet sich strafvollzugliche Fachsprachenkompetenz dadurch aus, dass Mitarbeiter sich im Falle ausbleibender Verständigung mit gegenseitigem Verständnis für das Zustandekommen dieser Situation begegnen, d. h. über flexible und ausgleichende Verständigungsgeduld verfügen. Auf die Verwendung psychologischer und juristischer Fachsprache kann meiner Ansicht nach im Gefängnis nicht verzichtet werden.
Gerücht Da erfährt man von Sachen, bevor sie passiert sind [lacht]. (ein Werkdienstbeamter)
Es gibt eine Form der Kommunikation, die dem Gefängnis ein entscheidendes Moment an Gnadenlosigkeit hinzufügt und sämtliches Bemühen um eine Gesprächskultur der Anerkennung des Anderen untergräbt: Das Gerücht als wilde Erzählform. Es findet aufgrund seines besonderen soziolinguistischen Merkmalsprofils in totalen Institutionen ideale Entstehungs- und Wirkungsbedingungen vor und tritt darum im Gefängnis in einer extremen Ausprägungsform auf. Bereits die folgende nach Hans-Jörg Neubauer erstellte Charakterisierung des Gerüchts macht dessen sozialdestruktives Potential deutlich: Gerüchte sind nicht notwendigerweise falsch, denn sie sind nicht nach den Regeln der Aussagenlogik, sondern lediglich aus der Perspektive des Einzelnen definiert. Aus der Sicht des Sprechers sind sie darum keine Lügen. Häufig sind sie wandelbarer Ausdruck eines vorschnell formulierten Urteils, über dessen Wahrheitsgehalt kaum nachprüfbare Aussagen vorliegen.149 Das Gerücht ist ein „Hörensagen“, dessen einzelne Sprecherhörer nicht ausgemacht werden können: „Denn die Kunst der indirekten Rede taugt nur so lange, wie es dem Sprecher gelingt, sich selber angesichts der im Zitat übermittelten Botschaft vergessen zu machen. Wer ein Gerücht aufnimmt und weitergibt, reiht sich ein in die Se149 Vgl. Hans-Jörg Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 14. 118
DIE ERGEBNISSE
quenz der ‚Leute‘, die das ‚man‘, den Agenten der kollektiven Rede, ausmachen. Es verweist auf das, was ‚die Leute‘ sagen; es ist vermittelte, abhängige Rede, das Zitat vom Zitat. Deswegen haben es Dementis schwer; den Hauptsatz des Gerüchts - ‚die Leute sagen‘ – können sie nicht widerlegen, und die Gerüchtebotschaft [...] bleibt gegen das Dementi immun, weil die Aussagenlogik des gesamten Satzes nicht von ihm berührt wird. Ein Gerücht läßt sich schwer dingfest machen, es ist die heiße Kartoffel, an der sich jeder die Hände wärmt, bevor er sie schnell weiterreicht.“150
Ein Gerücht ist nicht aufzuhalten. Die negative Rhetorik des Abstreitens zeitigt oft genau den gegenteiligen Effekt: Sie verhilft dem Gerücht durch wiederholte Benennung seines Gegenstandes zu einem ontologischen Status.151 Neubauer schreibt dem Gerücht autopoietische Regelhaftigkeit zu.152 Im Bezug auf die Institution Gefängnis kann ich das bestätigen. Gerüchte beziehen sich weniger auf die Gefängnisangehörigen als Personen als vielmehr auf die Gefängnisangehörigen als dienstoder insassenrangige Repräsentanten einer Organisation: Während die Sprecher wechseln, bleiben das Gespräch und sein Inhalt sich selbst organisierend bestehen. Gerüchte transportieren Inhalte, über die gelacht, mit denen anderen geschadet, auf die gehofft wird oder die gefürchtet werden. Der Tagesablauf in Gefängnissen bietet manche Gelegenheit, sich mit der Weitergabe eines Gerüchts die Zeit zu vertreiben. Das besondere Merkmal des Gerüchts ist, dass es auf Gemeinschaftlichkeit angewiesen ist. Je mehr Sprecherhörer an ihm teilhaben, desto wirkungsvoller wird es: „Insofern gleicht das Gerüchtekollektiv dem der gemeinsam Lachenden. Auch im Gerücht ist man nicht allein; das ist sein ambivalentes Versprechen.“153 Weil das Gerücht oft eine aus Sicht der Mehrheit oder aus Sicht von Machthabern sanktionswürdige Begebenheit schildert, stellt es meiner Ansicht nach auch eine rigorose Form der sozialen Kontrolle dar. Die unfreiwilligen Protagonisten des Gerüchts – ein bestimmter Gefangener oder Bediensteter – machen die unangenehme Erfahrung, in aller Munde zu sein, ohne sich wehren zu können. Gerüchte finden sich überall in der Gesellschaft: sowohl in Nachbarschaften als auch in Unternehmen oder staatlichen Behörden. Da sie aber offenbar 150 Vgl. H.-J. Neubauer: Fama, S. 15. 151 Die Ontologie ist die Lehre vom (Da-)Sein der Dinge und deren Wesen. 152 Vgl. H.-J. Neubauer: Fama, S. 50. Aus systemtheoretischer Perspektive bezeichnet der Begriff „Autopoiesis“ die „Eigenart selbstorganisierter Systeme, die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst [zu] produzieren und fortlaufend [zu] reproduzieren. [...] Autopoietische Systeme sind geschlossene und immer zugleich auch offene Systeme. Sie sind selbstreferentiell geschlossen durch rekursive Zirkulation.“ Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Körner 1994, S. 63 f. 153 H. J. Neubauer: Fama, S. 15. 119
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vor allem in monotonen Umgebungen menschlicher Deprivation besonders gut gedeihen, stellt sich für das Gefängnis die Frage, in welchem Maß die Betroffenen vom Gerüchtegeschehen profitieren oder darunter leiden, wie sie damit umgehen und was sie davon halten. Die folgenden Ausschnitte aus meinem Datenkorpus geben darüber Auskunft. Mit meiner Frage, wie es im Gefängnis um die Gerüchteküche stehe, habe ich bei den Befragten mehr als mit allen anderen Themen meiner Studie nicht nur inhaltliche sondern auch emotionale Äußerungen hervorgerufen: Spontane Reaktionen wie der Ausruf „Ui, ui.“ eines Fachdienstmitarbeiters (FD III 618-619) sowie die im Folgenden dargestellte kurze Sprachlosigkeit eines Gefangenen zeigten mir, dass ich mit der Wahl dieses Themas sozusagen ins Schwarze getroffen hatte. I GEF
„Gerüchte im Gefängnis?“ „Oh.“ [Pause] (GEF V 383-384)
Die Befragten bestätigten mir jedoch auch in expliziter Weise, dass ihnen an der Klärung des Themas gelegen sei. „Also, wenn ich das wüsste, wenn Sie mir das nach Ihrer Doktorarbeit sagen könnten, wie die Gerüchteküche funktioniert, dann wäre ich Ihnen wirklich dankbar, dann hätte es einen Enderfolg. Ich weiß nur, dass sie phantastisch funktioniert, weiß aber nicht, warum.“ (AL V 758-760) Sein Kollege bestätigt: „Also ich will erst mal sagen, dass es eine wahnsinnige Gerüchteküche gibt. Und was man manchmal an Gerüchten hört, das ist un- un- unglaublich.“ (AL VII 529-530) Meiner Erfahrung nach befindet sich vor allem die Gruppe des AVD in unmittelbarstem Kontakt zum Gerüchtgeschehen. Ein Mitarbeiter wählt zur Erweiterung des metaphorischen Ausdrucks „Gerüchteküche“ die Metapher: „Oh, die kocht. [Pause] Das kocht.“ (AVD IV 561-562) Aus diesen ersten Reaktionen vieler Befragter schloss ich, dass dem Gerüchtegeschehen im Gefängnis mehr Bedeutung zukommt als außerhalb des Gefängnisses und dass diese Form der Kommunikation in besonders ausgeprägter Weise vorliegt. Die Mehrzahl der Befragten bestätigt dies. So etwa ein Werkdienstmitarbeiter, der meint, die Vorkommenshäufigkeit von Gerüchten im Gefängnis sogar quantifizieren zu können: „Die funktioniert sehr gut. Hundertmal besser wie draußen.“ (WD I 711) Ein Anstaltsleiter misst die Ausprägung der gefängnisspezifischen Gerüchtekultur an der Gerüchtekultur anderer Institutionen: „Sicherlich ist die landläufig Meinung so: Das Schlimmste sind so Wohnheime, wo nur Frauen untergebracht sind. Für mich war das wirklich eine sehr große Erfahrung zu sehen, im Vollzug, wie schwatzhaft und vertratscht Männer sein können. Männliche Bedienste-
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te. Die Gefangenen natürlich genauso, wenn die etwas aufschnappen. Und dann wird das verbreitet.“ (AL VI 320-331) Das Gerücht ist eines der wenigen Forschungsthemen, zu dem die Gruppe der Befragten nicht geteilter Meinung ist. Nur wenige Stimmen geben zu bedenken, es gäbe keinen Unterschied zwischen der Gerüchteküche diesseits und jenseits der Mauer. Lediglich ein Gefangener antwortet auf meine Frage, ob es im Gefängnis mehr Gerüchte als draußen gebe, schlicht mit: „Nee, nee.“ (GEF IV 459-460) Nur ein Anstaltsleiter hält das Gerücht für ein universelles Phänomen, das nicht vollzugstypisch sei, sondern ab einer bestimmten Organisationsgröße vorliege. (AL VIII 809-814). Ein AVD-Beamter sieht das ähnlich: „Aber ich denke, das ist bestimmt in jedem großen Betrieb so.“ (AVD IX 555) Allein die Tatsache, dass sich die Gefängnisangehörigen bereits einige Gedanken zum Thema Gerücht gemacht haben, ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, dass sie häufig damit konfrontiert werden und sich zum Zweck eines rationalen Umgangs bereits einige Merkmalsbeschreibungen zurechtgelegt haben. Erstaunlicherweise ähneln diese Beschreibungen einander. Nicht wenige Befragte weisen etwa darauf hin, dass an einem Gerücht immer ein Körnchen Wahrheit sei. Ein Beamter und ein Gefangener wählen beide das Bild des Funkens Wahrheit, der das Gerücht auflodern lässt: „Ein Fünklein Wahrheit ist immer dran an den Geschichten. Du kannst vielleicht fünfzig Prozent davon glauben. Je länger sie im Umlauf ist, desto weniger sind sie glaubhaft.“ (GEF III 274-276) „Weil ein bisschen Funke Wahrheit ist ja immer dran.“ (AVD I 814-821) Die Befragten berichten auch von Bedingungen, unter denen ihrer Meinung nach die Entstehung und der Umlauf von Gerüchten besonders gut funktionieren. Die am häufigsten genannte Erklärung betrifft die räumliche Enge, in der die Gefängnisangehörigen leben. „Die Wege sind für Gerüchte hier aber viel kürzer. Und aus dem Grund ist das ein ganz heikles Thema, also zum Teil sind Sachen noch gar nicht so richtig passiert, da wissen das 600 Mann im Haus.“ (GEF VI 350-354) Meines Erachtens bieten sich aber auch Technologien des Gefängnisses wie etwa Kameraüberwachungssysteme oder Beobachtungsposten in Freistundenhöfen dazu an, andere Menschen zu beobachten. Da man deren Gespräche nicht hören, sondern nur ein Zusammentreffen und Miteinandersprechen beobachten kann, werden über das Beobachtete Vermutungen angestellt. Vielleicht ist sogar der Platz vor einem Überwachungsmonitor eine der besten Gerüchteküchen, sobald mehrere Personen davor sitzen und sich langweilen. Meine Vermutung findet Bestätigung in der Aussage eines Anstaltsleiters: „Und viele Gerüchte werden über die Torwache zum Beispiel verbreitet. Bei uns, weil man halt die Kameras hat. Man kann mit der Kamera alles beobachten. Man sieht, wer kommt, wer geht 121
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und dichtet sich dann natürlich einige Sachen dazu.“ (AL VI 377-380 ) Gerüchte auf Gefangenenseite entstehen allerdings auch auf den Abteilungen der Gefängnisse. Wie im Kapitel über „Distanziertes und vertrautes Sprechen“ noch verdeutlicht wird, ist es insbesondere für Abteilungsbeamte schwierig, den Gefangenen gegenüber eine angemessene Distanz zu wahren. Während leitende Beamte darüber erschrecken, wie viel Gefangene über Beamte und deren Privatleben wissen, sehen die betroffenen Abteilungsbeamten dies eher mit einem zwinkernden Auge: „Die Gefangenen interessiert das Privatleben ihrer Bediensteten mindestens genauso wie ihr eigenes. Die wollen auch über alles mitinformiert sein, wenn es geht. Die sperren da auch ihre Löffel auf, wo sie können. Also wenn sich da zwei Bedienstete unterhalten, da wird man immer einen Gefangenen mit dem Ohr an der Wand kleben sehen. Dass der da auch versucht, irgendwas mitzukriegen.“ (AVD V 395-400) Bisweilen ist aber auch der Fluss der Neuigkeiten in umgekehrte Richtung von den Beamten gern gesehen: „Aber das meiste erfährt man eigentlich durch die Gefangenen. Am Wochenende ist wieder das und das im Haus passiert. Das kommt dann mehr durch die Gefangenen rüber als durch die Kollegen.“ (WD IV 180-184) Einige der Befragten wissen auch, dass Gerüchte in einer bestimmten Umgebung, je nach thematischem Schwerpunkt, einen nahezu vorgezeichneten Weg haben, dessen Verlauf man sich zunutze machen kann: „Also ich wüsste schon, wenn ich ein Geheimnis verrate, ein Gerücht weitergebe, wem ich das sagen würde.“ (AVD VII 474-480) Ähnlich vorgezeichnet ist der Weg von Gerüchten auf dem Transportweg, bei dem Gefangene aus strafverfahrensrechtlichen Gründen von einem Gefängnis in das andere gefahren werden, wo sie wieder auf neue Anschlussmöglichkeiten für ihre Gerüchteerzählung treffen (WD I 64-73). Die aus Befragtensicht unheimlichste Eigenschaft des gefängnisspezifischen Gerüchts ist dessen Schnelligkeit in der Verbreitung. Diese lässt sich einerseits erklären, indem man sich die Aussagen zur räumlichen Nähe noch einmal vor Augen ruft. Teilweise ist es so, dass der Inhalt des Gerüchts seiner Entsprechung in der Wirklichkeit weit voraus ist, wie folgende Berichte einiger Befragter zeigen. Ein Anstaltsleiter wundert sich: „Vorgestern ist das Bewerbungsverfahren Abteilungsdienstleiter abgeschlossen worden. In der Form, dass es halt öffentlich gemacht werden konnte. Seit voriger Woche gibt es hier schon Listen in der Anstalt, wo genaue Kenntnis darüber herrscht, wer genommen worden ist, wer welchen Bereich übernimmt. Zu diesem Zeitpunkt habe ich das noch nicht einmal gewusst.“ (AL VI 358-362) Ein Beamter erklärt sich das hohe Verbreitungstempo von Gerüchten so: „Kurios ist allerdings, dass man manchmal von den Gefangenen Informationen kriegt, die man als Bediensteter noch gar nicht hat, die tatsächlich eintreten. Das 122
DIE ERGEBNISSE
ist zum Teil bedingt durch Post, von Gefängnis zu Gefängnis. Da gab es bei uns zum Beispiel mal einen Fall eines Vollzugsinspektors. Die Gefangenen wussten, das wir einen neuen Vollzugsinspektor kriegen. Ich sage: ‚Wie kommen Sie denn darauf?’ ‚Das ist so.’ Das war dann auch tatsächlich so. Weil die Gefangenen aus der anderen Anstalt wussten schon, dass der geht.“ (AVD IV 616-621) Dass Informationen zwischen zwei Anstalten zunächst den inoffiziellen Weg über Gefangene gehen, bevor sie die Mitarbeiter offiziell erreichen, halte ich für unproblematisch, da es zunächst einmal nur die Bedienstetengruppe innerhalb ein und derselben Anstalt ist, die eine zügige Informationsweitergabe pflegen sollte. Klappt allerdings noch nicht einmal eine zügige gefängnisinterne Informierung der Mitarbeiter, so wird das Gerücht unter Gefangenen in diesem Fall zum Anzeiger dafür, dass die Zusammenarbeit der Beamten nicht gut ist. Im folgenden Fall kommt der Befragte nicht umhin, sich vor einem Gefangenen als uninformiert bloßgestellt zu fühlen. „Ist auch komisch. Manche Sachen, so Zeug, Verfügungen oder so was wissen Gefangene vor uns. Ist schon oft ein Gefangener angekommen: ‚Ach, das kommt auch bald und das kommt bald.’ Und dann sage ich: ‚Woher weißt du denn das? Das weiß ja nicht einmal ich.’“ (WD I 713718) Der Gefangene kann in dieser Situation sogar einen Zugewinn an kommunikativer Macht verzeichnen, da er über eine dienstlich relevante Sache weiß, die er an den unwissenden Beamten weitergibt. Meiner Beobachtung nach ist der Werkdienst derjenige Teil der Beamtenschaft, dessen Kenntnisstand ständig von den Gerüchten der Gefangenen „überholt“ wird: „Meistens ist es so, dass die Gefangenen immer wieder Sachen eher wissen als wir. Und das ist dann immer putzig.“ (WD IV 483488) Ich habe in den Interviews und während der Beobachtungsphasen auch nach der Funktion gefragt, die das Gerücht im Gefängnis erfüllt. Einige der Antworten enthalten plausible Erklärungen: Ein Fachdienstmitarbeiter erkennt in den Gerüchten die verborgenen Wünsche, die „Wolkenkuckucksheime“ (FD II 746) der Sprecher, insbesondere der Gefangenen. Auch für einen Anstaltsleiter verbergen sich hinter Gerüchten der Gefangenen Wünsche, deren Erfüllung allerdings in weiter Ferne liegt. Die Beispiele für solche Wunschgerüchte sind gleichzeitig Beispiele für besonders häufig vorkommende Gerüchtethemen. Dazu zählt auf Gefangenenseite zum Beispiel die Amnestie: „Zu Weihnachten kommt immer dieses Gerücht auf, weil es in unserem Bundesland keine Weihnachtsamnestie gibt. Wenn es die Amnestie gäbe, dann bräuchten die auch keine Gerüchte. Aber im Prinzip in anderen Ländern und so weiter gibt es Weihnachtsamnestien. Und es kommt dann immer wieder zu Weihnachten das Gerücht auf, dass unser Bundesland jetzt auch eine Weihnachtsamnestie einführt.“ (AL VII 560-573) Ein Beamter erwähnt 123
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das Gerücht „‚der Anstaltsleiter geht.’ Damit verbindet jeder, es kommt ein Neuer und der macht es dann hoffentlich besser oder der wird vielleicht uns mehr einbeziehen oder vielleicht auch mehr auf uns hören oder für uns wird sich die Arbeitssituation ändern oder wir werden vielleicht dann nicht mehr so viele Überstunden haben. Das sind so Sachen, die man mit dem Thema ‚der Anstaltsleiter geht’ verbindet.“ (AVD V 427-433) Manchmal versuchen Mitarbeiter des Fachdienstes gegen dieses Wunschdenken zu argumentieren: „Zum Beispiel auch Gerüchte über Juristen und darüber, wie lange sie noch bleiben. Und dann höre ich oft noch Gerüchte wie ‚Ach, der soll doch jetzt abgesetzt werden. Ich habe gehört, der ist nur noch bis Januar da.’ Und dann staune ich immer und sage: ‚Nee, nee, der ist doch jetzt erst gekommen, der Jurist.’“ (FD IV 258-262) Während Anstaltsleiter, was das allgemeine Gerüchtegeschehen betrifft, Außenseiter dieser Kommunikationsform sind, werden sie beim Gerücht, welches ihr eigenes Fortgehen thematisiert, in das wilde Erzählen mit einbezogen. Ein Anstaltsleiter gibt zu: „Das höre ich ständig so was, ja.“ (AL VII 578) „Das Gerücht, wer geht als nächstes aus Karriere- oder sonstigen Gründen an welche Stelle. Also ich bin schon x-mal im Ministerium gewesen. Also ich habe schon Termine gehabt, wann ich gehe, oder was ich alles noch übernehme, und welche Anstalten ich noch dazu geschlagen bekomme, bloß weil ich mal für eine kurze Zeit drei Anstalten interimsweise komplett hatte. Also da geht es rund.“ (AL VIII 828-840) Die befragten Anstaltsleiter schreiben Gerüchten folgende Funktion für das Gefängnis zu: „In erster Linie macht Gerücht im Gefängnis Spaß.“ (AL V 777-778) Dies trifft meiner Meinung nach zu, denn wie bereits Neubauer erklärte, ist man in der Gerüchteverbreitung niemals allein sondern kann sich der gegenseitigen Bestätigung und zwischenmenschlichen Bandstiftung bei gleichzeitiger Brandstiftung sicher sein: „Also das läuft bei uns so nach dem Motto ab: ‚Ich versichere mich deiner Gewogenheit, indem ich dir etwas sage, was jetzt mit dem Dienst überhaupt nichts zu tun hat. Aber du bist mir so wichtig, ich sage es dir.’ Und der andere macht das genauso. Und weil jeder hier dem anderen so wichtig ist, funktioniert das auch.“ (AL V 819-823) Es sind jedoch nicht nur die Anstaltsleiter, welche Gegenstand von Gerüchten werden können. Wenn es, wie so oft, um das Thema Beförderung von Bediensteten geht, hört auch hier der Spaß für die jeweiligen Gerüchteopfer auf. „Jeder will sich so gut darstellen, dass er schneller befördert wird, dass er auch eine Planstelle kriegt und so. Und da wird schon kräftig gearbeitet. Das sind schon richtige Beleidigungen, dass man ein Gerücht in die Welt setzt.“ (WD III 454-457) Auch Gerüchte, die persönlich-private Themen, Liebesbeziehungen oder Wohnortwechsel der Mitarbeiter behandeln, sind im Gefängnis häu124
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fig anzutreffen. Da ich sie jedoch in keiner Weise für strafvollzugsspezifisch halte, gehe ich hier nicht weiter darauf ein. Unter Gefangenen kursieren in regelmäßiger Abfolge ebenfalls gewichtige Gerüchtethemen, die ich aufgrund ihrer schweren Folgen, die sie auf Opferseite zeitigen, für erwähnenswert halte: Die Unterstellung, ein Gefangener habe Verrat an anderen Gefangenen geübt, ist ein fast nicht mehr aus der Welt zu schaffendes Gesprächsthema, das jedem Hafthaus bzw. jeder Abteilung einen Sündenbock verschafft. „Wenn jemand vorzeitig entlassen wird, wo ich sowieso weiß oder erfahren habe, der hat sowieso eine längere Haftstrafe und geht auf Halbstrafe154 und hat sich aber nicht weiter so bemüht, dann entsteht auch die Gerüchteküche, dass er gequatscht hat, dass er hier drinne irgend jemand angeschissen hat. Und dadurch sich bei den Beamten einen kleinen Vorteil zugespielt hat.“ (GEF V 407-411) Ein weiterer gängiger Gegenstand von Gerüchten in der Gefangenengruppe ist die Vermutung, ein Mitgefangener habe vor der Inhaftierung Kinder sexuell missbraucht. Der Betreffende wird hierdurch ebenfalls zum Außenseiter in der Gefangenengruppe gestempelt. „Normalerweise, wenn jemand ins Gefängnis reinkommt, stellt er sich nicht auf die Station hin und sagt: ‚Ich habe eine Frau vergewaltigt, ich habe ein Kind missbraucht.’ Sondern dort werden aus dem Verhalten vielleicht von dem neuen Gefangenen Schlüsse gezogen. Dadurch kann ein Gerücht entstehen.“ (FD III 641-649)155 Gefangene, von denen 154 Das Strafvollstreckungsrecht kennt zwei Institute der vorzeitigen Entlassung aus der Haft. Die häufigere Form ist die sogenannte „Zweidrittelentlassung“ bei der ein Gefangener unter günstigen Bedingungen nach zwei Dritteln der gesamten Haftzeit auf Bewährung entlassen wird. In besonders günstigen Ausnahmefällen wird einem Gefangenen eine „Halbstrafenentlassung“ gewährt, d. h. der Gefangene wird bereits nach der Hälfte seiner Haftverbüßung auf Bewährung entlassen. (Vgl. § 57 StGB.) 155 In vielen Ausführungen von Werk- und AVD-Beamten sowie von Gefangenen zu diesem sowie auch zu anderen sprachkulturellen Themen finden sich überzufällig häufig Bezüge auf die Deliktsform des sexuellen Kindesmissbrauchs. Insgesamt ist für alle mir bekannten Gefängnisse festzustellen, dass straftheoretische und strafvollzugspraktische Überlegungen immer wieder exemplarisch an genau dieser Deliktsform abgehandelt werden. Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird damit gleichsam zur prototypischen Deliktsform des Gefängnisinsassen erhoben. Entsprechend wird nahezu jeder Diskurs über den Strafvollzug von diesem Thema dominiert und in einseitiger Weise emotionalisiert. Aus der Perspektive der Behandlungsbefürworter im Strafvollzug mag dies ebenso ärgerlich sein wie aus meiner Perspektive als Forscherin. Bisweilen war es gar nicht möglich, sich im Gespräch anderen Deliktsformen oder sprachwissenschaftlichen Phänomenen thematisch zu nähern, da die Rede immer wieder auf den sexuellen Kindesmissbrauch kam. Ich weiß nicht, inwiefern diese einseitige thematische Ausrichtung auch 125
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bekannt wird, dass sie tatsächlich ein Kind missbraucht haben, werden von den anderen Gefangenen scharf sanktioniert. Aber auch die Abteilungsbeamten müssen sich in ihrer Haltung gegenüber Sexualstraftätern davor in Acht nehmen, nicht an der Stimmungsmache der Gefangenen teilzunehmen, wenn sie es als Privatmenschen auch gerne täten: „Ich kann sagen: ‚Okay, Sexualstraftäter. Das geschieht ihm gerade recht, wenn es ihm schlecht geht. Wenn er von anderen Druck kriegt.’ Aber ich sehe ja meine Aufgabe darin, dass ich einigermaßen eine Lebenskultur hier in der Wohngruppe schaffe, dass auch der Schwache hier vernünftig leben kann und nicht 24 Stunden am Tag gepiesackt wird. Erstens das. Und zweitens: ‚Wenn ich das laufen lasse, dann habe ich nur Schwierigkeiten, weil der sagt dann irgendwann: ‚Ich hänge mich jetzt auf .’ Dann muss ich ihn in die Beruhigungszelle stecken, muss ihn überwachen lassen. Also, solche Gerüchte, muss man halt schauen, dass es anders, dass die gar nicht erst entstehen.“ (AVD II 507-514) Die Beamten sind in jedem Fall daran interessiert, dass von keinem Inhaftierten weder berechtigter- oder unberechtigterweise angenommen wird, dass er ein Kindesmisshandler ist. Es gibt auf Seiten der Insassen jedoch auch Gerüchte, die nahezu allen Beteiligten wie eine kleine Komödie erscheinen müssen, wie der Bericht eines Fachdienstmitarbeiters zeigt. „Beispielsweise war einmal die Kirche proppevoll. Ich denke: ‚Was ist denn jetzt los?’ Also die Leute, die hätte ich beinahe stapeln können. Man konnte fast keinen Gottesdienst feiern. Ich sage: ‚Was ist denn jetzt kaputt hier?’ Bis ich dann mitgekriegt habe, irgendeiner hat erzählt, es wäre ein hoher kirchlicher Feiertag. Und an diesem Feiertag gäbe es Geschenke. Ja und nun waren sie alle da. Weil die gedacht haben, heute könnten sie was abstauben. War natürlich nicht der Fall, ist klar.“ (FD II 723-726) Dieses Beispiel leitet zu dem Thema über, wie sich Angehörige des Gefängnisses die Möglichkeit zur Teilnahme an der Gerüchteküche zunutze machen. Ein Anstaltsleiter machte sich Gedanken darüber, wie er seine Gefangenen für den Besuch einer gefängnisinternen Theaterveranstaltung motivieren könne:156 „Und dann habe ich bei meiner Sprechmeine soziolinguistischen Ergebnisse verändert. Redlicherweise möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Anteil der sog. „Kinderschänder“ einen kleinen Teil der gesamten Gefangenenpopulation ausmacht: Laut der Insassenstatistik 2002 des Statistischen Bundesamtes (Stichtag der Zählung: 31.03.2002) verbüßten zum genannten Zeitpunkt insgesamt 1693 Gefangene in bundesdeutschen Gefängnissen eine Haftstrafe infolge (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dies entspricht ca. 2 % der Gesamtgruppe aus Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten. Vgl. Statistisches Bundesamt: Rechtspflege, S. 16. 156 Hierzu muss man wissen, dass nicht alle Gefangenen derart interessiert an Freizeitprogrammen sind, wie man vielleicht meinen könnte. Insbe126
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stunde, wo die Gefangenen kamen, das einem, den ich für einen Multiplikator gehalten habe, der also in der Gefangenengruppe was zu sagen hat, da habe ich mich absichtlich versprochen und ihm mitgeteilt, dass da wahrscheinlich irgendwelche Sauereien vorkommen, aber dass er es bloß nicht weitersagen soll. Waren sie alle da.“ (AL II 67-90) In meinen Gesprächen mit den Anstaltsleitern hatte ich den Eindruck, dass diese sich anhand ihres eigenen Personals und ihrer einigen Machtposition das eigene Anstaltsleiterdasein beweisen und bekräftigen: „Also ich kann das auch steuern, hier in der Anstalt. Ich kann das auch unheimlich steuern. Das ist überhaupt kein Problem. Ich brauche bloß zu einem der unteren Mitarbeiter in der Ebene jetzt der Verwaltung zum Beispiel sagen: ‚Ich überlege mir jetzt gerade, ob wir hier Umschichtung im Verwaltungsbereich machen. Davon sind Sie ja im Augenblick nicht betroffen. Na ja, ich überlege es mir einmal.’ Garantiere ich Ihnen: ‚In dem Augenblick, wo ich den Satz sage, ist hier: ‚Be, ba.’ Geht es schon los und die Telefone glühen [lacht]. (AL V 828-844) Ein anderer Anstaltsleiter lacht sich ins Fäustchen: „Man kennt dann auch seine besonderen Bediensteten, wo man das auch für sich nutzen kann, indem man den Bediensteten holt und einfach eine Andeutung fallen lässt und schaut, wie lange es dauert, bis die zurückkommt. Und dann sieht man, wie gut der gearbeitet hat.“ (AL VI 332-336) Interessant wird es immer dann, wenn Gerüchtethemen sprechergruppenübergreifend gestreut werden, d. h. dass Beamte die Gerüchtethemen von Gefangenen erfahren oder umgekehrt. Ein langjähriger Gefangener, der seine Anstalt und alle potentiellen Gerüchtebeteiligten gut kennt, verschafft seinem Machtbedürfnis gegenüber Beamten auf folgende subtile Weise Befriedigung:„Ich mache das ja auch. Zum Beispiel: Ich weiß, ein Beamter kann mit dem anderen nicht. Ich streue ein Gerücht, um dem Betreffenden zu schaden. Und zwar ohne dass der mich je sieht. Diese Macht kriegt man, wenn man solche Beziehungen kennt, nach einer Zeit. Und da kann man das Gerüchtestreuen ganz bewusst einsetzen. Nächste Frage.“ (GEF II 684-699) Beamte können von Gefangenengerüchten jedoch auch profitieren, wenn diese Gerüchte das Thema „Sicherheit und Ordnung“ der Anstalt betreffen. „Wegen Denunzianten, dass da die einen den anderen denunzieren wollen. Und dann müssen wir wissen, wie richtig jetzt die Inforsondere seit im Jahr 1998 das Strafvollzugsgesetz dahingehend geändert wurde, dass Gefangene einen Fernseher im Haftraum haben dürfen, hat die Nachfrage nach ehrenamtlich veranstalteten Gruppen und Veranstaltungen rapide nachgelassen. Vgl. § 69 StVollzG: „ Hörfunk und Fernsehen. (I) Der Gefangene kann am Hörfunkprogramm der Anstalt sowie am gemeinschaftlichen Fernsehempfang teilnehmen. [...]“ Inzwischen verfügen viele Gefangene auch über ein eigenes Fernsehgerät im Haftraum, dessen Betrieb sie selber finanzieren. 127
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
mation ist, die der mir gibt. Wie setze ich die jetzt um, um den, den es betrifft, nicht herausfinden zu lassen, von wem ich die Informationen habe?“ (AVD III 874-879) Diese Strategie verfolgen manche Beamte nicht nur in der beschriebenen reaktiv-passiven Weise, sondern bemühen sich aktiv darum, an die Gefangenengerüchte Anschluss zu finden: „Oder man nimmt mal einen raus aus dem Kreis und sagt: ‚Mit dem kann ich mich mal unter vier Augen unterhalten. Der weiß ein bisschen mehr.’ Solche Leute muss man im Betrieb auch haben. Dass man eben auch intern ein bisschen mitkriegt, was hier so gespielt wird.“ (WD IV 497-500) Insbesondere während der teilnehmenden Beobachtungen ist mir aufgefallen, dass Gefangene häufig Gerüchte in die Welt setzen, um nicht selber Gegenstand eines Gerüchts zu werden. Diese Beobachtung findet Bestätigung in der Aussage eines Beamten, der es für besonders schwierig hält, von außen ein Gerücht innerhalb der Gefangenengruppe aufzuhalten. Es geschieht bisweilen, „dass ein Sexualtäter, von dem nicht bekannt ist, dass er Sexualtäter ist, einen anderen anschwärzt und sagt: ‚Das ist ein Sexualtäter.’ Und meistens ist es so bei den Gerüchten, dass derjenige, der zuerst zu dieser Sache was erzählt, auch am meisten Recht hat. Ich habe es in einer anderen Anstalt beispielsweise erlebt, dass ein Mittäter den anderen gemobbt hat. Hat gesagt: ‚Das ist ein Sexualstraftäter.’ Und der dann gesagt hat: ‚Ja, aber der auch.’ Und das hat ihm [dem letzteren, G. K.] dann keiner mehr geglaubt.“ (AVD VII 501522) Während Beamte sich im Zentrum des Gerüchtegeschehens wähnen, sind Anstaltsleiter, abgesehen von dem Gerücht ihres eigenen Fortgehens, nur „am Rande, am Rande, ganz am Rande“ (AL III 592-595) des Geschehens vorhanden. Entsprechend bekommen sie auch „wenig, unmittelbar wenig“ (AL IV 543) von den Inhalten der Gerüchte mit. Ein anderer Anstaltsleiter erklärt sich das so: „Da gibt es, glaube ich, auch so ein bisschen eine Phalanx von Kollegialität, wo man sagt: ‚Also untereinander können wir da alles reden aber dem Alten geben wir das nicht. Das gehört da nicht hin. Das erzählen wir dem nicht. Weil der dann ja vielleicht weiter nachfragt und am Ende steht man nun als einer da, der nun das Gerücht verbreitet hat oder es gar dem Chef erzählt hat und muss da Rede und Antwort stehen.’ Und das wollen die Leute dann eben nicht. Und deswegen kommt bei mir da gar nicht so furchtbar viel an.“ (AL I 463-473) Sein Kollege verweist ebenfalls auf seine herausragende Position in der Hierarchie und stellt zudem seine zeitliche Isolation hinsichtlich des Gerüchtegeschehens fest: „Wenn ich solche Gerüchte mitkriege, kommen die eigentlich zeitverzögert. Das heißt also, vielleicht nach einem halben Jahr oder nach einem Dreivierteljahr. Und wenn man da noch mal nachbohren will, ist das viel zu schwammig geworden, zu unbestimmt geworden. Da erinnert sich mancher nicht mehr so recht, 128
DIE ERGEBNISSE
oder der erinnert sich gar nicht mehr oder er sagt: ‚Das war gar nicht so.’ So dass also dieser Wahrheitsgehalt, der in einem Gerücht irgendwo drin steckt, gar nicht mehr festgemacht werden kann. Ich bin sicher, dass der Herr Schlips in der anderen Anstalt noch viel weniger an Gerüchten mitkriegt, weil die Anstalt größer ist. Und dann sind auch in der Organisationsstruktur sicherlich so Filter. Wobei die Mitarbeiter die Filter sind. Die Leute, die da in der mittleren Position sind, die noch vielleicht mehr an Gerüchten mitkriegen, die dann aber sortieren: ‚Was sagen wir dem Chef?’“ (AL IV 543-567) Es gibt also Hinweise darauf, dass man sich mit steigendem Dienstgrad vom aktuellen Gerüchtegeschehen entfernt. Der oben zitierte Anstaltsleiter VI bedient sich bewusst eines Beamten der Basis, wenn er ein Gerücht streuen möchte. Ein ehemaliger Beamter der Basis berichtet entsprechend: „Als Hausdienstleiter rückt man schon mehr nach oben auf. Und plötzlich werden die Leute etwas vorsichtiger einem gegenüber, während man früher auch da in der Suppe mitgerührt hat, mehr oder weniger aktiv. Und dann wird man schon ein bisschen vorsichtiger.“ (AVD II 484-487) Für eine Analyse der Gefängniskultur ist die Kenntnis von Gerüchteentstehung und -verbreitung unerlässlich. Aufgrund der Unfasslichkeit des Gerüchts argwöhne ich allerdings wie der Soziologe Edgar Morin, ob eine fundierte Gerüchteanalyse ohne eigene Betroffenheit des Forschers überhaupt möglich ist oder ob ihr bei der Außenschau „[...] nicht das Wesentliche durch die Maschen schlüpft [...], diese phantastische, fabelspinnende Poesie [...], die Traum und Wirklichkeit vermengt und auf mystische Weise das eine mit dem anderen verknüpft, eine Poesie, die der soziologischen Studie immer entgeht.“157
In welcher Weise können Angehörige des Gefängnisses oder speziell Opfer von Gerüchten dazu beitragen, dass es weniger Gerüchte gibt? Von Spezialisten wird die paradoxe Intervention empfohlen: Man solle alle potentiellen Gerüchtteilnehmer vom Inhalt des Gerüchts informieren. Dann gebe es keinen Veranlassung mehr, das Gerücht weiterzutragen. Darum gilt als „Notbremse gegen das Gerücht manchmal seine totale Verbreitung.“158 Dieser Vorschlag mag zwar für manche Unternehmen, in denen es gerüchteweise „nur“ um Liebesaffären oder Beförderungen geht, hinnehmbar sein. Für das Gefängnis wäre diese Form der Notbremse allerdings nicht praktikabel: Die Ausweisung eines Gefangenen als Verräter bzw. Kinderschänder erklärt diesen innerhalb der Gefangenengemeinschaft als vogelfrei im traditionellen Bedeutungssinn. 157 Morin, zit. n. H.-J. Neubauer: Fama, S. 137. 158 H.-J. Neubauer: Fama, S. 212. 129
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Sinnvoller erscheint mir hier die Einrichtung einer Schutzhaftabteilung oder einer Abteilung, auf der ausschließlich gefährdete Gefangene untergebracht sind. Ein weiterer Weg zur Eindämmung der Gerüchte scheint mir eine größere Achtsamkeit im Umgang mit dem thematischen Material zu sein, das Anlass zu Gerüchten bietet. Hierzu gehört das Material von Gesprächen, die auf Mitarbeiterseite nur hinter verschlossenen Dienstzimmertüren und hinter schalldichten Fenstern stattfinden sollten. Denn meines Erachtens ist das gekippte Fenster eine der Hauptursachen für die Genese von Gerüchten, die nicht für Gefangenenohren bestimmt sind. Dies bestätigt auch ein Abteilungsbeamter: „Wenn ich an die nächste Schicht übergebe, muss ich halt da darauf warten, bis die Fenster zu sind. Gerade die Fenster: Viele vergessen das Fenster zuzumachen. Dann sind die Fenster gekippt und daneben liegen Gefangene. Ich gehe davon aus, dass Gerüchte über Fenster laufen.“ (AVD IX 661-665) Zusätzlich zu den glasummantelten modernen Dienstzimmern der Abteilungsbeamten sollte diesen ein abgeschlossener Büroraum zur Verfügung stehen, in dem sämtliche schriftliche Arbeiten zum Beispiel an den Gefangenenpersonalakten erledigt werden kann. Dies ist aus dem Grund wichtig, da Gefangene den Beamten bei ihrer Arbeit im Dienstzimmer immer wieder geflissentlich über die Schulter schauen. Selbiges geschieht durch die Hausarbeiter, die beamtennahe Reinigungsarbeit sowohl in Dienstzimmern, Fachdienstbüros und sogar in der Verwaltung versehen und dort oft nebenbei Einblick in offen daliegende Akten erhalten oder Zeuge von für sie interessanten Gesprächen über signifikante Andere werden.
Humoristische Kommunikation Wenn Sie sich oben herum bitte freimachen würden [lacht]. (ein scherzender Torwachenbeamter bei der Besucherkontrolle)
Frank Dievernich bezeichnet Humor in Institutionen in seinem gleichnamigen Buch, als „Kommunikationsausbrüche“.159 Mir erscheint dieser Begriff insbesondere für das Gefängnis angemessen, da Scherzkommunikation in dieser Institution den Scherzteilnehmern zur Distanz gegenüber ihrer eigenen Rolle sowie gegenüber den Rollen anderer Gefängnisangehöriger verhilft. Das Gefängnis ist in den Augen vieler ein Ort des „Bösen“, des „Traurigen“, des „Hoffnungslosen“. Dass man dort Zeugin schallenden Gelächters werden kann, hätte ich vor meinen teil159 Vgl. Frank E. P. Dievernich (Hg.): Kommunikationsausbrüche: vom Witz und Humor in Organisationen, Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft 2001, S. 183-204. 130
DIE ERGEBNISSE
nehmenden Beobachtungen nicht angenommen. Ich beschreibe in den zwei folgenden Kapiteln die Kommunikationsausbrüche „Witz“ und „Ironie“. Den Ausführungen zur Ironie liegen hauptsächlich die Annahmen von Helga Kotthoff sowie Michael Hartung zugrunde. Der scherzhaften Kommunikationsform des Witzes nähere ich mich später aus der Perspektive Frank Dievernichs. Es wird dargelegt, dass Scherzkommunikation im Gefängnis gleichermaßen der Kooperation, Beziehungspflege, Aggressionsabfuhr und der Hierarchisierung dienen kann. Ironische Kommunikation kann aus unterschiedlichen linguistischen Perspektiven bewertet werden. Entsprechend der griceschen Konversationsmaximen wird etwa mittels der Ironie gegen die Maxime der Aufrichtigkeit verstoßen, da das Gesagte nicht dem Gemeinten entspricht.160 Damit verstößt ein Ironiker offenbar gegen das Kooperationsprinzip menschlicher Kommunikation. Kotthoff wendet gegen diese Sichtweise jedoch ein, dass anhand von humoristischer Kommunikation sowohl kooperativ als auch konfrontativ gehandelt werden kann: Basierend auf den Annahmen der interaktionalen Soziolinguistik nimmt sie an, dass Scherzkommunikation in formellen Situationen hierarchische Beziehungen der Sprecherhörer eher stützt, während sie in Situationen privater Diskurse den Anschlussmotiven der beteiligten Personen genügt.161 Übersetzt in den soziolinguistischen Kontext des Gefängnisses bedeutet dies, dass an denjenigen Orten, die im Kapitel „Gesprächsanlässe“ bereits als Orte des homileïschen Diskurses bezeichnet wurden, Humor und Ironie eher der zwischenmenschlichen Verbundenheit dienen, während sie in offiziellen Dienstbesprechungen oder bei den Machtverhandlungen der Gefangenen eine hierarchisierende Funktion haben. Ähnlich mehrdeutig ist laut Kotthoff das Verhältnis zwischen Scherzkommunikation und Höflichkeit. Scherzkommunikation kann dann bandstiftend sein, wenn gemeinsam über etwas gelacht wird, das nicht das Image 160 Die dem Kooperativitätsprinzip zugeordneten griceschen Konversationsmaximen besagen folgendes: Gestalte entsprechend der Maxime der Quantität deinen Beitrag so informativ wie möglich, jedoch nicht informativer als nötig. Versuche gemäß der Maxime der Qualität, deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist und dir angemessen erscheint. Äußere entsprechend der Maxime der Relation nur Relevantes. Halte dich entsprechend der Maxime der Modalität kurz, spreche der Reihe nach, vermeide unklare Ausdrücke sowie Mehrdeutigkeiten. Vgl. Grice in modifizierter Weise zit. n. Günther Grewendorf/Fritz Hamm/Wolfgang Sternefeld: Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 402. 161 Zur „sozialdiagnostischen Potenz von Scherzkommunikation“ vgl. Helga Kotthoff: Spaß verstehen: zur Pragmatik von konversationellem Humor, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 285 ff. 131
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eines der Scherzteilnehmer bedroht. Scherzkommunikation kann entzweiend wirken, wenn der Gegenstand des Gelächters das Wohlbefinden einer anwesenden Person empfindlich beeinträchtigt. Sowohl Helga Kotthoff als auch Michael Hartung sehen Ironie als Bewertungskommunikation an. Was dies bedeutet, wird anhand des Ironiekonzeptes von Hartung erläutert: Jeder ironischen Äußerung liegt nach Hartung eine Inkongruenz des Wissens von Sprecher und Hörer zugrunde. Das heißt, dass der Sprecher sein Wissen dergestalt äußert, so dass dieses offensichtlich mit dem Wissen des Hörers unvereinbar ist. Es gibt auch noch andere Formen der inkongruenten Wissensäußerung, wie z. B. die Lüge, bei der Wissen von Sprecher und Hörer ebenfalls unvereinbar sind. Merkmal der Lüge ist es jedoch, dass die Unangemessenheit der Wissensdarstellung in einer für den Hörer nicht erkennbaren Weise vorgebracht wird. Im Fall der Ironie soll der Hörer hingegen merken, dass die inkongruente Darstellung des Wissens auf Sprecherseite beabsichtigt ist. Um dies zu gewährleisten, müssen Sprecher und Hörer folgende kognitive Leistung erbringen: Sie müssen beide über ein gemeinsam geteiltes Wissen verfügen, das Sachkenntnis, kulturelle Werte, eine gemeinsame Interaktionsgeschichte, Personenkenntnis des Gegenübers, Gruppenwerte sowie Wissen über den Gesprächsverlauf umfasst.162 Was das heißt, soll anhand eines Beispiels erläutert werden. In folgender strafvollzuglicher Sprechsituation wird Ironie angewendet: Ein Beamter des AVD öffnet im Winter im Frühdienst um 6.15 Uhr alle Hafträume einer Langstrafenabteilung kurz, um die Gefangenen zu wecken und den Morgenstand zu machen.163 Beim Öffnen eines mit zwei Männern belegten Haftraums schlägt ihm ein unangenehmer Geruch entgegen und ein Gefangener schaut ihn an. Zu diesem sagt der Beamte mit gerümpfter Nase und kraus gezogener Stirn in mittlerer Lautstärke: „Das riecht hier aber lecker.“ Danach verschließt er ohne den gewohnten morgendlichen Gruß „Guten Morgen, alle da? Aufstehen.“ den Haftraum schnell wieder.
Im Folgenden erläutere ich, inwiefern der Beamte sich der Ironie bedient hat: Die Inkongruenz der Wissensbestände bei Sprecher (Beamter) und Hörer (Gefangener) kommt dadurch zustande, dass es in dem Haftraum des Hörers faktisch unangenehm riecht, obwohl der Sprecher wortwörtlich das Gegenteil feststellt. Der Sprecher sagt offenbar intentional etwas Unangemessenes. Der Hörer kann dies aus der widersprüchlichen Bezie162 Vgl. Martin Hartung: Ironie in der Alltagssprache, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 150 ff. 163 Abzählen, ob auch noch alle Gefangenen da sind. 132
DIE ERGEBNISSE
hung zwischen der Wortbedeutung von „lecker“ und der gerümpften Nase entnehmen. Aber auch aus folgenden Wissensbeständen ist die Sprecherintention herzuleiten: Die Sachkenntnis beider Interaktanten besteht darin, dass beide feststellen können, dass es nach einer langen Winternacht, in der das Fenster wegen der Kälte nicht geöffnet wurde, im Haftraum unangenehm riecht. Der gemeinsam geteilte kulturelle Wert von Deutschen besteht darin, dass Menschen es in der Regel nicht mögen, wenn sie in den unangenehmen „Dunstkreis“ ihrer Mitmenschen geraten. Die gemeinsame Interaktionsgeschichte besteht darin, dass der Abteilungsbeamte und der langjährig inhaftierte Gefangene sich schon länger kennen, da Beamte in der Regel nicht die Abteilungen wechseln. Gefangene und Beamte haben darum fast jeden Tag Kontakt und kennen einander. Zur Personenkenntnis gehört, dass der Beamte von dem Gefangenen weiß, dass dieser sich scheut, im Winter die Haftraumfenster zu öffnen, weil er im Haftraum die Heizung nicht selber regulieren kann. Zudem weiß der Gefangene, dass die Beamten es nicht mögen, morgens einen muffeligen Haftraum nach dem anderen öffnen zu müssen. Beide Interaktanten gehören jeweils einer Gruppe an. Der Gefangene zählt zur Gruppe der Inhaftierten, der Beamte zur Gruppe der AVDBeamten. Mitglieder beider Gruppen verfügen in Bezug auf die jeweilige sogenannte „Outgroup“ über ein bestimmtes Wissen. Das bedeutet, dass der Gefangene auch bei einem anderen Beamten mit derselben Bemerkung rechnen kann bzw. dass der Beamte auch in anderen Hafträumen Geruch zu erwarten hat. Einzig der Gesprächsverlauf ist in diesem Fall untypisch für das Äußern von Ironie: In vielen Fällen ist Ironie in eine längere Gesprächssequenz eingebettet, vor deren Hintergrund sie verstanden werden kann. Im vorliegenden Fall ist es wegen der Eindeutigkeit der Situation jedoch nicht vonnöten, weitere Worte zu verlieren, um die Ironie verständlich zu machen. Das Beispiel macht deutlich, dass es sich bei Ironie um eine Kommunikation unter „Eingeweihten“ handelt. Der illokutive Erfolg der Ironie basiert auf der Tatsache, dass ein geteilter Wissensbestand nicht damit einhergehen muss, dass die Geltungsansprüche der Wissensbestände von beiden Interaktanten gleichermaßen akzeptiert werden müssen.164 Oft wissen die Rezipienten einer ironischen Äußerung zwar, was der Sprecher für wahr, richtig und gut hält und können deshalb eine davon abweichende Äußerung als ironisch erkennen. Sie stimmen ihm aber
164 Vgl. die Definition des Begriffs „Illokution“ in FN 208. 133
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keineswegs immer zu.165 Mittels Ironie wird demnach zunächst nur negativ bewertet, nicht jedoch schon argumentativ überzeugt. Anhand von ironischen Äußerungen wird aber auch Humor vermittelt. Diese Tatsache ermöglicht es, Ironie im Gespräch zum Zweck der Kritik oder Anspielung einzusetzen. Bleibt die Frage, warum Sprecher in solchen Situationen überhaupt Ironie verwenden und nicht direkte Kritik üben. Der Grund liegt darin, dass mittels Ironie die entsprechende Kritik modifiziert vermittelt wird, wobei zusätzlich weitere Effekte erzielt werden: Ironie thematisiert eine Bewertung auf indirekte Weise, was bedeutet, dass die Kritik abgeschwächt wird und der kritisierte Hörer sein Gesicht wahrt. Im angeführten Beispiel wäre eine Bemerkung wie: „Hier stinkt es aber!“ für den Gefangenen sehr viel gesichtsbedrohender gewesen. Andererseits kann Kritik mittels Ironie aber auch verstärkt werden, indem der Hörer vor anderen nicht nur kritisiert sondern zudem lächerlich gemacht wird. Hartung sieht Ironie als eine ästhetisierte Form des Kritisierens an, da sie höhere kognitive Leistungen erfordert und bei ihren Hörern bisweilen ein Schmunzeln erzeugt.166 Da mittels Ironie Kritik formuliert werden soll, liegt es im Interesse des Sprechers, dass seine Äußerung vom Hörer als Ironie verstanden wird. Dabei muss er darauf achten, dass alle oben genannten Bedingungen erfüllt sind.167 Falsch verstandene, d. h. etwa wörtlich verstandene Ironie kann das Gegenteil von dem bewirken, was der Hörer beabsichtigt. In unserem Fall würde anlässlich der falsch verstandenen Äußerung „Hier riecht es aber lecker“ das Fenster gerade nicht geöffnet. Meines Erachtens, kann angemessen eingesetzte Ironie im Gefängnis ein wertvolles Mittel zur Krisenschlichtung sein. Im Fall des Nichtverstehens verschlimmert sie die Zustände jedoch, indem sich der Kritisierte in seinem Handeln nicht angesprochen fühlt und weiter verfährt wie gehabt. Das kann wiederum gesteigerten Unmut auf Seiten des Ironikers hervorrufen, der nun möglicherweise nicht mehr die Form der Ironie wählt, sondern „richtig böse“ wird. Welchen Hörergruppen gegenüber ist ein vorsichtiger Umgang mit Ironie angebracht? Da zur Verwendung und zum Verständnis von Ironie kognitive Leistungen auf hohem Niveau erbracht werden müssen, sind manche Hörergruppen als nicht ironiefähig einzustufen. Hierzu zählen zum Beispiel Kinder und teilweise auch noch Jugendliche bis zum Eintritt in die
165 M. Hartung: Ironie in der Alltagssprache, S. 153. 166 Vgl. M. Hartung: Ironie in der Alltagssprache, S. 180 ff. 167 Vgl. M. Hartung: Ironie in der Alltagssprache, S. 186. 134
DIE ERGEBNISSE
(Spät)pubertät.168 Ironieunfähigkeit liegt übrigens nicht nur dann vor, wenn der Bedeutungsgehalt einer ironischen Äußerung nicht dekodiert werden kann, sondern auch dann, wenn eine Bedeutung nicht höreradäquat encodiert werden kann.169 Im Gefängnis verfügen manche Sprechergruppen möglicherweise über nicht ausreichende Wissensbestände, um Ironie angemessen zu decodieren: Erstverbüßern, die am Anfang ihrer Haftzeit stehen, ist das gefängnisspezifische Wissen fremd. Sie verfügen weder über Sach- oder Personenwissen, noch über gemeinsam geteilte kulturelle Werte mit den Mitgefangenen bzw. Beamten. Ähnlich verhält es sich mit Besuchern und anderen gefängnisexternen Personen. Ausländern ist in manchen Fällen die spezielle Kultur deutscher Gefängnisse fremd. Wie das Kapitel über die interkulturelle Kommunikation zeigt, sind ihre kognitiven Kapazitäten allein schon mit der Bewältigung wortwörtlicher Äußerungen überfordert, so dass die Bearbeitung von Ironie für sie eine zusätzliche fremdsprachliche Überforderung darstellt. Meine folgenden Ausführungen zur Ironie in der strafvollzuglichen Praxis betreffen insbesondere die Kommunikation in formellen Situationen, in denen Vertreter des Gefängnisstabes mit Vertretern der Insassen kommunizieren. Dieser Bereich fällt einer teilnehmenden Beobachterin sicherlich in erster Linie auf. Wie groß der Anteil freundschaftlicher, nichtprovokativer Kommunikation im Gefängnis sein könnte, bleibt im „linguistischen Dunkelfeld“. Es haben sich in meiner Anwesenheit nur wenige Situationen ergeben, in denen von freundschaftlicher Ironisierung gesprochen werden kann. Ironie unter Freunden kann laut Kotthoff sogar dann als witzig empfunden werden, wenn sie einen Teil der Person ironisiert, der dieser Person als nicht (mehr) wichtig für sein Selbstkonzept erscheint. Ironie ist im Gefängnis allgegenwärtig. Ich habe dieses sprachliche Phänomen nicht im Interview erfragt, sondern war bemüht, die Beamten in der Praxis zu diesem Thema zu beobachten und zu befragen. Darum habe ich ironische Äußerungen mitsamt ihrem Kontext festgehalten. Insgesamt scheint es sich im Gefängnis hauptsächlich um eine solche Form der Ironie zu handeln, die es den Beteiligten ermöglicht, Kritik anzubringen, ohne dabei eine gesichtsbedrohende Äußerung zu tätigen. Die Mehrzahl der Äußerungen aller Gefängnisangehörigen zum Thema Ironie gehen dahin, dass Ironie einerseits als Mittel zur Bewertungskommunikation eingesetzt wird. Andererseits ermöglicht sie es den Einzelnen, sich in schwierigen Situationen Luft zu verschaffen und die Ar168 Vgl. Ulf Abraham: Übergänge, Literatur, Sozialisation und literarisches Lernen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 33. 169 Es handelt sich hier sozusagen um den Unterschied zwischen passiver und aktiver Ironieunfähigkeit. 135
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beitsruhe zu bewahren. Beamte bearbeiten psychisch belastende Situationen, indem sie diese ironisierend kommentieren. Ein Beamter berichtete mir darüber während der teilnehmenden Beobachtung: „Man braucht das als Bewältigungsstrategie, sonst kommt man nicht klar. Da muss man mal ironisch und sarkastisch werden.“ (FTB 4209-4212) Ein Fachdienstmitglied zum Beispiel versucht mit Hilfe von Ironie, den Gebrauch von Pin-ups in Hafträumen auf indirekte Weise humorvoll zu kritisieren, ohne dass er dabei den Gefangenen in gesichtsbedrohender Weise bloßstellt: „Weil die Jungs haben dann ihre Familienecke, wo dann also Bilder von der Familie sind. Und dann hängt da meistens noch ein Rosenkranz dabei. Da fragen sie, ob sie einen haben können. Das heißt, man will dann auch irgendwo so eine Atmosphäre dann schaffen, so ein bisschen. Und das ganze hängt dann links neben der nackten Dame da. Da muss ich dann immer lachen über diesen Dualismus. [Interviewerin: Sieht ja keiner von denen, die draußen sind.] Ja, wobei ich zu den Gefangenen dann immer sage: ‚Ich glaube, dass die Karies hat.’ Und weil es so intensiv von unten da so war, habe ich gesagt: ‚Da kann man ja durchgucken. Hältst du das denn aus? Würde ich ja verrückt werden hier.’“ FD II 1200-1216 Das Beispiel zeigt, wie Ironie im Gefängnis sowohl dazu dient, auf indirekte und entschärfte Weise Kritik zu vermitteln. Des Weiteren stellt sie eine Form des Humors dar, der alle beteiligten Lachenden aneinander bindet. Frank Dievernich stellt in Bezug auf seine theoretischen Überlegungen zur Funktion von Witzen in Institutionen folgende Frage: „Müssen empirische Ergebnisse, dass man im Unternehmen keine Witze macht, weil man sich der Institution gegenüber loyal verhält, beunruhigen? [...] Sollte dem so sein, so würde die Organisation einen wichtigen Beobachtungsmodus verlieren, der sie vor sich selbst warnen kann.“170
Gemeint ist mit dieser Bemerkung, dass das Erzählen von organisationsbezogenen Witzen für eine gelingende Reflexion über die eigene Organisation unverzichtbar ist. Dievernich meint, dass der Witz eine Form der Selbstbeobachtung darstellt, bei welcher der Witzerzähler den eigenen Handlungskontext, in diesem Fall die Organisation, sowie das eigene Handeln auf humoristische Weise beschreibt. Normalerweise beschreiben Organisationen sich selber, indem sie Erläuterungen ihrer Arbeitsteilung, sogenannte Organigramme liefern, Erklärungen hinsichtlich Mitbestimmung abgeben und Aussagen zu Rationalität und Absatzzah170 Frank E. P. Dievernich: „Witz und Humor in Organisationen – Zur Konstruktion einer weiteren Wirklichkeit“, in: F. E. P. Dievernich (Hg.), Kommunikationsausbrüche, Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft 2001, S. 183-204, hier: S. 202. 136
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len machen. Zu einer vollständigen Beschreibung gehören nach Dievernich jedoch auch „Gewalt, Liebe, Sex und Humor“ dazu.171 Dievernich geht es um solche Witze, [...] die als Thema Beobachtungen über die eigene Organisation aufweisen und diese Themen anders beobachten und beschreiben als es bislang im organisationalen Kontext der Fall war.172 Voraussetzung dafür, dass ein Witz über die Organisation gemacht wird, ist, dass ein bestimmter Zustand dieser Organisation zuvor zum Gegenstand einer Beobachtung wurde. Der Witz beschreibt das Beobachtete dann in einer unkonventionellen Weise, die die Zuhörer zum Lachen veranlasst.173 Der Witz besitzt also das Potential, dass mit ihm Kritik an Zuständen der Organisation geübt wird. Dabei gehen die Kritiker jedoch weniger als bei ernsthaft formulierter Kritik das Risiko ein, für mögliche Unangemessenheiten bis ins Letzte zur Verantwortung gezogen zu werden, denn der Witz ist nach Dievernich „ein Spielfeld, welches man ohne weiteres wieder abbauen kann, ein Spielfeld, von dem man sich zumeist ohne größeren Schaden zurückziehen kann: Alles was gesagt wird und gesagt wurde, ist und war sowieso nur ein Witz!“174 Witze werden darum, ähnlich wie die Ironie auch, häufig in schwierigen Arbeitssituationen erzählt, mit dem Zweck, besser mit diesen umgehen zu können.175 Die Datenbasis zur Witzkultur im Gefängnis ist ebenso schmal wie diejenige zur Ironie. Ich wage dennoch zu behaupten, dass sich die Witzkultur wie folgt gestaltet: Das Erzählen von gefängnisbezogenen standardisierten Witzen im klassischen Sinne ist fast ausschließlich Sache der älteren Bediensteten. Diese Witze handeln dann in erster Linie von Gefangenen und deren Lebensbedingungen. Der folgende Witz spielt auf die Tatsache an, dass ein Gefangener im Fall eines Brandes in seinem Haftraum kaum eine Chance hat, rechtzeitig von den Beamten gerettet zu werden, außerdem kann er ja auch nicht aus dem Fenster springen. „Advent, Advent, ein Knacki brennt: Ein Bein, ein Arm und langsam wird die Zelle warm.“ (FTB 592, 1041) In einem anderen Gefängnis erzählte mir ein Beamter mehrere Witze, die hauptsächlich die Tatsache betreffen, dass Gefangenen während ihrer Haftzeit kein Sexualkontakt mit einer Frau möglich ist. Einer davon lautet wie folgt: „Wachen zwei Knackis morgens auf. Sagt der ei171 172 173 174 175
F. E. P. Dievernich, Witz und Humor, S. 184. F. E. P. Dievernich, Witz und Humor, S. 186. Vgl. F. E. P. Dievernich: Witz und Humor, S. 188 ff. F. E. P. Dievernich: Witz und Humor, S. 190. Dievernich liefert hierfür ein Beispiel, „in dem Polizeibeamte in England die Anfangsstrophen eines populären Kinderliedes singen, während sie die Überreste eines Selbstmörders einsammeln. Das Lied startet mit folgendem Text: „One finger, one hand, one foot, one leg ...“: F. E. P. Dievernich: Witz und Humor, S. 192. 137
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
ne: ‚Du, was ich geträumt habe: Die Haftraumtür steht offen, die Stockwerktür auch, die anderen Türen auch, die Tür in der Innenwache auch, die in der Außenwache auch. Alle Türen offen. Und draußen steht ein Fahrrad und ich fahre los in die Freiheit.’ Sagt der andere Gefangene: ‚Das ist doch gar nichts: Ich träumte, dass die Haftraumtür aufgeht und zwei nackte Models reinkommen.’ Sagt der Erste: ‚Mensch, warum hast du mich denn nicht gerufen?’ Sagt der Zweite: ‚Ja, du warst doch mit dem Fahrrad unterwegs.’“ (FTB 2922-2935) Ein häufiges Thema der strafvollzuglichen Scherzkommunikationen ist in der Tat das sexuelle Witzeln. Ein Anstaltsleiter erklärt sich dies wie folgt: „Witze im Gefängnis drehen sich hauptsächlich um Sex. Häufig jedenfalls. Das ist also ein ganz zentraler Punkt, weil ja hier eine starke Verknappung existiert: Es gibt keine Frauen hier, jedenfalls unter den Gefangenen nicht.“ (AL IV477-479) Gefangene erzählen auch Witze über Beamte. Angeführt werden dann jedoch stets allgemeine Beamtenwitze, die auch die Beamten anderer staatlicher Behörden mit einschließen. Keiner der befragten Beamten ist unzufrieden mit der humoristischen Form der Selbstbeschreibung. Ein Beamter des Werkdienstes ging im Interview so weit, mir lachend von den Witzen zu berichten, die ihm die Gefangenen über Beamte erzählen: WD „Zum Beispiel fragt mich ein Gefangener, warum Beamte nicht tanzen können.“ [lacht] I [lacht] „Warum?“ WD „Weil es keine Band gibt, wo so langsam spielt.“ [lacht] I [lacht] WD „Über Beamte werden also genauso Witze gemacht.“ I „Hmhm?” WD „Die werden ja auch im Stehen begraben, Beamte.“ I „Ja und warum?“ WD „Dass niemand sagen kann: ‚Da liegt sie, die faule Sau.’“ I [lacht] WD „Also, das sind Dinge, das sagen Gefangene über [Beamte].“ (WD II 544-554)
Standardisierte Witze über Beamte und Gefangene kursieren eher auf schriftlichem Weg. In vielen Gefängnissen wird auf Initiative der Gefangenen eine Gefangenenzeitung erstellt. Diese enthält unter anderem auch Witzeseiten, in denen Zustände im Gefängnis ins Lächerliche gezogen werden. Das kollektive Witzgedächtnis insbesondere der Beamtenschaft scheint auf diese Form des Memorierens angewiesen zu sein. Zwei Beamte weisen darauf hin: I 138
„Kennen Sie denn Witze, Gefängniswitze?“
DIE ERGEBNISSE
AVD I AVD I AVD I AVD I AVD I AVD
„Kenne ich nicht. Die habe ich meistens nur gelesen in diesen gefängnisinternen Zeitungen, da gibt es ja so Gefangenenzeitungen. „Gefangenenzeitungen.“ „Bestimmte Einrichtungen geben da welche aus, und ab und zu kriegt man mal eine in die Hand und liest auch mal.“ „Und sind dann da Witze über Bedienstete oder über Gefangene drinne?“ „Ha, schon Beamtenwitze. Aber dann welche, wo man selber auch drüber lachen kann.“ [lacht] „Ja.“ „Mehr so solche, die nicht bösartig sind, eher drollige Sachen. So niedliche Sachen.“ „Ja. Das ist auch eine Kunst, über sich lachen zu können.“ [lacht]. „Ich finde das gut.“ (AVD IX 482-497)
Im Falle schriftlicher Witzkultur in Gefangenenzeitungen sind es die Anstaltsleiter, die diese auf eventuelle strafbare Äußerungen durchsehen und darüber entscheiden, welche Form und Inhalte des Scherzens in ihrer Anstalt zugelassen werden und welche nicht: „Wir haben eine Gefangenenzeitung hier. Da haben wir erst neulich auch so Witze, die veröffentlicht werden sollen, äh, habe ich zensieren176 müssen, weil ich Be176 Aus den Reihen der juristischen und nichtjuristschen Mitarbeiter des Strafvollzugs liegen mir widersprüchliche Auffassungen zum Thema „Zensur“ von Gefangenenschriftgut vor. Die Mehrheit der Mitarbeiter, darunter auch Volljuristen, behaupten, eine Zensur „im eigentlichen Sinne“ fände nicht statt. (Was die Zensur im „eigentlichen Sinne“ von einer Zensur im „uneigentlichen Sinne“ unterscheidet, ist mir nicht klar.) Eine Minderheit spricht hingegen unumwunden von der „Zensur“ von Gefangenenpost und Gefängniszeitungen als gängiger Praxis in ihrer eigenen Anstalt. Folgt man den Kommentierungen des Grundgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes, so spricht einiges dafür, dass Zensur im Strafvollzug stattfindet und bei enger Auslegung der Rechtsnormen gesetzlich legitimiert werden kann. Die grundlegende Rechtsnorm in Artikel 5 des Grundgesetzes lautet wie folgt: „(I) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort und Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (II) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre.“ In Gefangenenzeitungen, welche der Anstaltsleiter oben erwähnt, dürfen nach alternativer Kommentierung des § 67 StVollzG, welcher die Freizeitbeschäftigungen der Gefangenen und damit auch die Gefangenenpresse umfasst, nur im Ausnahmefall Zensuren vorgenommen werden, vgl. J. Feest / K. Bammann – A. Boet139
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
fürchtungen gehabt hätte, also wenn die so rausgehen, draußen in der Anstalt ankommen, dass da dann irgendwelche Anzeigen kommen. So schlimm waren die.“ (AL IV 485-489) Bei vielen Gefängnisangehörigen stellt sich nach kurzem Reflektieren über das Thema Witzkultur im Gefängnis ein Unwohlsein dahingehend ein, dass das Witzeln über andere bald das noch witzige Maß überschreitet und in den Augen aller Beteiligter eine beleidigende Form annimmt. Häufig wird dann über einen nicht anwesenden Dritten gelästert. Zwei Anstaltsleiter beanstanden: „Ich fürchte, dass es viel häufiger ist, dass man sich in gar nicht witziger, negativer Weise bösartig über andere hermacht. Also dass man böse Vorurteile kolportiert oder üble Einschätzungen, die mit Auslachen oder Witz überhaupt gar nichts zu tun haben.“ (AL II 13-16) „Weil eben ja so viele Menschen hier zusammen sind. Und da gibt es eben sehr unterschiedlich Große und Starke, Kleine und Schwache, und es gibt eben auch eigentümliche Persönlichkeiten und Persönlichkeiten, die natürlich auch allen Anlass bieten, sich über die lächerlich zu machen.“ (AL I 450-457) Auch Beamte fürchten das Abgleiten des Scherzens in böses Lästern und unterstellen in dieser Hinsicht den eigenen Kollegen mehr Boshaftigkeit als den Gefangenen: „Da habe ich jetzt schon den Eindruck, dass das auf der Beamtenseite stärker ist als auf der Gefangenenseite. Also manchmal denke ich fast, dass da bei Gefangenen dann die Solidarität noch ein bisschen größer ist als auf der Beamtenseite.“ (AVD I 800-812) Ein Fachdienstmitglied bewertet Witze im Gefängnis als eine „kühlere Form der Beleidigung“ (FD IV 192-193). Er meint, Witze, die in gewisser Weise den Gegenüber auf scherzhafte Weise provozieren, seien ein „Ventil für uns alle, die hier arbeiten und das mache ich also manchmal auch. Und entweder mit Uniformierten, oder aber auch mit anderen Fachdiensten. In der Regel aber nur mit Personen, denen ich ziemlich viel Vertrauen entgegenbringe oder mit denen ich eng zusamticher: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, S. 434 f. Roman Herzog erklärt in seiner Kommentierung des Artikel 5 I S. 3 GG, dass sich das Zensurverbot „entwicklungsgeschichtlich allein auf das Grundrecht der Pressefreiheit“ bezieht. Theodor Maunz/Günter Dürig – Roman Herzog: Grundgesetz. Kommentar, 41. Ergänzungslieferung, München: C. H. Beck 2003. Art. 5 GG, Rn 297, S. 91 ff. Mit dem Zensurverbot werde ein „uraltes, liberales Gedankengut“ geschützt: T. Maunz/G. Dürig - R. Herzog: Grundgesetz, Art. 5 GG, Rn 296, S. 91. Eine Pressefreiheit im grundgesetzlichen Sinne liegt im Strafvollzug laut alternativer Kommentierung des StVollzG dann vor, wenn die Gefangenenzeitschrift über ein vom Anstaltleiter genehmigtes Redaktionsstatut verfügt, an das die Vollzugsverwaltung gebunden ist. Vgl. hierzu J. Feest/ K. Bammann – A. Boetticher: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, S. 434 f. Letzteres ist aber nur in sehr wenigen Anstalten der Fall. In der Mehrzahl der Gefängnisse stellt der Anstaltsleiter selber den verantwortlichen Chefredakteur. Somit findet wohl eine „Zensur im uneigentlichen Sinne“ statt. 140
DIE ERGEBNISSE
menarbeite. Wenn wir dieselben Insassen betreuen oder behandeln. Dann empfinde ich mich selber dann auch als zynisch oder wende schwarzen Humor an. Oder bin mehr oder weniger auch beleidigend. Ich sehe das so als Ventil für mich und für uns.“ (FD II 197-203) Es wird deutlich, dass das Witzgeschehen des Gefängnisses nicht immer deutlich von dem strafvollzuglichen Beleidigungsgeschehen abgegrenzt werden kann. Beamte verorten sich selber in der Regel auch inmitten des scherzhaften Geschehens, wobei sie jedoch in der Regel verschiedene Orte des Scherzens ausmachen. Gescherzt wird einerseits unter den Gefangenen und andererseits innerhalb der Beamtengruppe: „Es wird gelacht über Kollegen, die jetzt irgendwie eine Eigenart haben, es wird aber auch hinter dem Rücken gemacht. Weil es ja sicherlich Witze sind, wo der, um den es eigentlich geht, sicherlich nicht mitlachen würde. Ganz einfach, also es wird getratscht sicherlich, es wird sich lustig gemacht über Bedienstete. Ich würde auch denken, da kann man keine Gruppe ausschließen.“ (AVD IV 727-476) Ein Gefangener bestätigt dies und weist dabei auch auf die Probleme hin, die entstehen können, wenn von Beamtenseite Versuche unternommen werden, gemeinsam mit Gefangenen humoristisch zu kommunizieren: „Manchmal kommen auch Beamte und versuchen, uns Witze zu erzählen. Dann müssen wir manchmal mitlachen, obwohl wir es gar nicht witzig finden. Dass die dann nicht blöd dastehen. Mitlachen ist Arschkriechen sozusagen.“ GEF I 659-662 Ebenso wie die meisten Bediensteten kennen auch viele Gefangene keine speziellen feststehenden Witzformeln über Gefangene oder Beamte. Dies behauptet sogar ein Gefangener, der als Hausarbeiter sowohl viel Gefangenen- als auch Beamtenkontakt hat und folglich genügend Gelegenheit haben müsste, Witze mitzuhören: „Ich habe noch keinen Beamtenwitz von einem Gefangenen gehört und ich habe auch noch von keinem Beamten einen Witz über einen Gefangenen gehört. Ja. Ist so, ich habe es noch nicht gehört. Ich sitze auf einer geschlossenen Station. Ich bin dort Hausarbeiter, kann mit Beamten reden.“ (GEF IV 405-408) In der Gefangenenhierarchie kann man sich neben einer gewissen intellektuellen Haltung und purer physischer Kraft auch dadurch eine höhere Stellung im Rederecht verschaffen, indem man seine eigene Person als Gegenstand der Belustigung anbietet. Dies trifft insbesondere auf Insassen des Jugendstrafvollzugs zu. Ein türkischer Gefangener berichtet hierzu: „Wer spricht viel? Hohe Leute, Witzige und Jokers. Ja, wie ich gesagt habe. Meistens die Leute, die viel Erfahrung haben. Die viel zu erzählen haben. Dann gibt es die Witzigen, die sozusagen Spaß daneben machen, dass man sozusagen Spaß machen tut. Man kann ja sagen, in jeder Gruppe gibt es doch so Jokers. Wie die Kaiser früher gehabt haben. Die einen haben, der in das Auge fallen kann. ‚Ach der hat das gemacht, 141
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
guck dir den Blödmann an.’ Der hat immer etwas auf dem Lager sozusagen. Denen hört man zu und mit denen spricht man auch. Ja, kann man sagen.“ (GEF I 401-408) Langjährig hafterfahrene Gefangene nehmen bösartige Witze als die gefängnisspezifische Standardvariante humoristischer Kommunikation wahr: „Witze über andere im Gefängnis gibt es sehr viele. Die sind zum Teil aus der untersten Schublade, hundsgemein. Hier drin macht man sie ganz gern über alles, was mit dem Beamtentum zu tun hat.“ (GEF II 661-223) Es scheint in der Tat so zu sein, dass der Anteil an vergleichsweise „harmloser“ witziger Kommunikation im Gefängnis schmal ist. Es sind die Angehörigen der Leitungsebene des Gefängnisses, die sich selber in Bezug auf das humoristische oder sarkastische Geschehen in ihrem Gefängnis jenseits von lustig und boshaft verorten. Einige Anstaltsleiter stellen aus ihrer Vogelperspektive immerhin noch sachlich die Existenz von Witzen fest. So auch der folgende: „Alle lachen über alle. In aller Regel aber nur, wenn die anderen nicht da sind.“ (AL VIII 774-776 ) Drei Anstaltsleiter hingegen geben den Anschein, als seien sie nicht Angehörige ihres Gefängnisses. Auf meine Frage, wie es um die strafvollzugliche Witzkultur bestellt sei und wer im Gefängnis über wen Witze mache, antwortet ein Anstaltsleiter: „Ich weiß es nicht.“ (AL III 524) Aussagen von Anstaltsleitern über die Witzkultur ihres Gefängnisses sind häufig nur durch harte Fragetechniken erhältlich: I
AL I
AL
„Jetzt noch mal zu den Witzen. Kennen Sie Beamtenwitze über Gefangene oder Gefangenenwitze über Beamte oder Beamtenwitze über Anstaltsleiter oder Anstaltsleiterwitze über Beamte?“ „Also, ich sage mal, diese Sachen sind für mich eigentlich nicht wichtig. Wenn ich es merke.“ „Kennen Sie es? Kennen Sie es nicht? Ob Sie das wichtig finden für sich, ist hier egal. Ob Sie welche kennen, ob Sie wissen, dass welche im Umlauf sind?“ „Also es sind schon welche im Umlauf. Welche? Weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass Witze gemacht werden. Also die Witze werden von Gefangenen gemacht. Die Witze werden von Bediensteten gemacht. Und ich sage mal, im Zweifelsfall kommt der Anstaltsleiter dann immer ganz schlecht weg.“ [lacht] (AL VI 304-316)
Andere Anstaltsleiter betonen ihre Position des kopfschüttelnden Unbeteiligten: „Zu mir kommt eigentlich wenig dieser Art von Witzen oder so hämische Storys. So der eine Kollege über den anderen. Oder gar Beleidigungen. Das kommt eigentlich wenig zu mir. Und das mag einmal mit dieser Funktion zusammenhängen, aber auch mit meiner Art. Ich mag das nicht, dass man über die anderen irgendwie herzieht oder über die 142
DIE ERGEBNISSE
blöde Witze macht. Weil ich einfach denke, jeder hat so sein Päckchen zu tragen und sich dann irgendwo so lustig zu machen, finde ich nicht so schön. Und das, glaube ich, wissen die Leute auch und deswegen dringt das auch an mich nicht so richtig hin.“ (AL I 438-449) Lediglich ein Anstaltsleiter gibt zu, im Dienst auch manchmal Witze (über andere) zu machen und „Tränen zu lachen“ (AL 677-690). Einen Gefangenen möchte ich hier zu Wort kommen lassen, da seine Theorie über die soziale Funktion von Witzen über andere meiner Annahme entspricht, es bildeten sich Gruppen, die jeweils gegenseitig übereinander lachen und sich dadurch voneinander abgrenzen: „Ja, ich denke schon, dass wir eigentlich hier in einem Riesenzirkus sind, weil die lachen uns aus. Würde ich vielleicht auch so machen, wenn ich in der Position wäre. Ja, man kann das vielleicht so erklären. Die Beamten lachen über uns, und wir Häftlinge lachen über andere Häftlinge. Das ist wie so eine kleine Leiter. Also ich denke auch, dass der Chef über die kleinen Beamten lacht oder jemand, der ein bisschen höher steht als der kleine Bedienstete. Der lacht den kleinen Bediensteten aus. Einfach alles, was niedriger ist, alles, was du selber einschätzt als niedriger als du, ja da drüber wird gelacht und verspottet und verhöhnt.“ (GEF V 355363) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Scherzkultur eines Gefängnisses einiges über den Zustand der Arbeits- und Lebensbedingungen aussagt. Es stellt sich nun die Frage, aus welchen Gründen der Humor in das Wahrnehmungs- und Informationsfeld der Gefängnisangehörigen rücken sollte. Elmar Koenen stellt diesbezüglich fest, dass Versuche, die vermeintlich unproduktiven Kommunikationsanteile wie etwa die humoristische Kommunikation aus Organisationen zu beseitigen, dazu führen können, dass damit ein Abnehmen der Arbeitsplatzzufriedenheit, sowie daraus resultierend sogar eine schlechtere Produktivität resultiert.177
Beleidigungen Wir sind kein Mädchenpensionat hier. (ein Fachdienstmitglied)
Die sprachliche Leistung der Beleidigung wird in der Rechtswissenschaft kontrovers diskutiert. Für meine Zwecke und im Bezug auf den normativen Erkenntnisrahmen dieser Arbeit sind einige dieser Überlegungen als theoretischer Hintergrund brauchbar:
177 Vgl. Elmar J. Koenen: „Organisationskomik“, in: Kommunikationsausbrüche: vom Witz und Humor in Organisationen, Konstanz: UVKVerlagsgesellschaft 2001, S. 143-181, hier: S. 147. 143
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Die Beleidigungsstraftatbestände sind in den §§ 185 ff. StGB geregelt.178 In den Gesetzeskommentaren nähert man sich der Semantik des Begriffes Beleidigung über die Definition des Begriffs „Ehre“, denn die Ehre ist das dementsprechend zu schützende Rechtsgut. Dabei sind bislang folgende Ehrbegriffe unterschieden worden: Der „faktische“ Ehrbegriff bezeichnet einerseits das subjektive Gefühl einer Person, ihr komme Ehre zu. Andererseits meint der Ehrbegriff den guten Ruf dieser Person „in seiner realen Existenz“. Da diese beiden Aspekte in der Faktizität sprachlicher Aushandlungen jedoch auseinander driften können, wurde der „normativ-faktische“ Ehrbegriff eingeführt, der die Perlokution einer Beleidigung dualistisch erfasst:179 Beide im faktischen Ehrbegriff enthaltenen Aspekte werden anerkannt und müssen gleichzeitig zutreffen, d. h. eine Person muss sich subjektiv beleidigt fühlen und ihr guter Ruf muss in der realen Existenz geschädigt sein. Entsprechend der ‚normativen’ Ehrauffassung, die der derzeit herrschenden juristische Meinung entspricht, gründet die Ehre einer Person in der einem jeden Menschen zukommenden Personenwürde, deren Geltungswert nicht ohne Grund geschmälert werden darf. Aus letzterem Konzept ergab sich die Zusatzbezeichnung des ‚interpersonellen’ Ehrbegriffs, der die Grundlage für meine linguistischen Ausführungen ist: Hiernach ist die Ehre „das von der Würde des Menschen geforderte und seine Selbständigkeit als Person begründende Anerkennungsverhältnis mit anderen Personen.“180 Heiner Bielefeldt erachtet in Anlehnung an Kants Konzept der Menschenwürde und sittlichen Autonomie höfliche Umgangsformen als ein „soziales Medium“, mittels dessen der Einzelne Kraft seines sittlichen Willens anderen Anerkennung zollen kann: „Die sozialen Medien, in denen sich die gegenseitige Anerkennung ausdrückt, sind vielfältig. So schätzt Kant die allgemeinen gesellschaftlichen Verkehrsformen, in denen Menschen sich wechselseitig ihrer Ehrerbietung versichern.“181
Bielefeldt merkt entsprechend der kantischen Diskursethik zudem an, dass höfliche Umgangsformen ihren anerkennungsgemeinschaftlichen Wert nicht allein dadurch verlieren, dass sie in ritualisierter oder ober178 Vgl. für Kommentierungen des Strafgesetzbuches etwa Adolf Schönke/Horst Schröder: Strafgesetzbuch: Kommentar, 26. neub. Auflage, München: C. H. Beck 2001. 179 Vgl. die Erläuterung des Begriffs „Perlokution“ in FN 208. 180 Hervorhebung durch G. K.; Adolf Schönke/Horst Schröder – Theodor Lenckner: Strafgesetzbuch, S. 1537 f. 181 H. Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte, S. 159. 144
DIE ERGEBNISSE
flächlicher Weise angebracht werden. Vielmehr liege es „auf der Hand“, dass die konventionalisierten Höflichkeitsformen „nicht immer wortwörtlich ernst gemeint sind.“ Allein das „Rollenspiel“, welches Menschen miteinander zum Zweck der gegenseitigen Ehrerbietung betreiben, indiziert den Willen zur wechselseitigen Anerkennung.182 Dass Höflichkeit im Gefängnis auch darin bestehen kann, einer beleidigenden Äußerung nicht mit einer Gegenbeleidigung zu begegnen oder eine eigene Beleidigung in abgeschwächter Form zu formulieren, bedarf eines wohlwollenden Interpretationswillens, denn die Beleidigung stellt nach juridischem Verständnis zunächst einmal das Gegenteil einer ehrerbietenden Umgangsform dar. So stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln im Strafvollzug trotz eines hohen Beleidigungsaufkommens die Würde des jeweiligen Gegenüber gewahrt bleibt. Wie die unten ausgeführten Beispiele aus der Praxis belegen, bleibt auch mitten im Beleidigungsgeschehen der jeweiligen Gefängnisangehörigen oft ein Rest gegenseitiger Anerkennung bestehen. Bedeutsam hierbei ist wiederum die Frage, welche Rolle die Berufung der Gesprächspartner auf das Recht spielt: Da es sich bei der Beleidigung nicht um ein Offizialdelikt, sondern gemäß § 194 Abs. S. 1 StGB um ein Antragsdelikt handelt,183 wird den Sprecherhörern, die von dieser sprachlichen Leistung Gebrauch machen oder von ihr betroffen sind, je nach Sprechsituation eine eigene Bewertung derselben auch rechtlich zugestanden. Wie im Gefängnis Beleidigungen stattfinden, wie die Gefängnisangehörigen solche Beleidigungen wahrnehmen, wie sie darauf reagieren und welche Funktion das Phänomen Beleidigung in dieser Institution hat, wird im Folgenden erläutert. Danach wird gezeigt, in welcher Weise linguistisch-empirische Theorien zu akommunikativer ehrverletzender Rede das beleidigungsreiche Sprechen und beleidigungstolerante Hören im Gefängnis erklären könnten. Ab wann Hörer in der Äußerung eines Gegenübers eine Beleidigung wahrnehmen und ab wann Sprecher ihre eigene Äußerungen als Beleidigung einstufen, hängt von der Zugehörigkeit der Sprecherhörer zu bestimmten Sprachgemeinschaften und deren Vorstellungen über Beleidigungen ab. Die Sprachgemeinschaft des Gefängnisses ist meiner Erfah182 H. Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte, S. 66. 183 Beim Offizialdelikt gem. § 152 StPO müssen die Ermittlungsbehörden unabhängig vom Strafantrag eines Opfers ermittelnd tätig werden, während das Antragsdelikt gem. § 158 StPO dem Wortsinn entsprechend in der Regel nur auf Antrag des Opfers strafrechtlich verfolgt wird. Die Beleidigung zählt darüber hinaus auch zu den sogenannten Privatklagedelikten gem. § 374 StPO. Das heißt, die öffentliche Klage wird von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben, wenn gem. § 376 StPO ein öffentliches Interesse besteht . 145
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
rung nach besonders beleidigungstolerant. Der raue Umgangston im Gefängnis ist selbstverständlicher Teil des Gefängnisjargons, an dem, wie bereits im gleichnamigen Kapitel gezeigt wurde, alle Gefängnisangehörigen in unterschiedlichem Ausmaß Anteil haben. „Der Umgangston im Gefängnis ist halt rauer, als man das von außerhalb der Anstalt gewöhnt ist. Also ein bisschen ein rauer Ton gehört dazu.“ (AL VII 582-585) Mein intuitiver Eindruck ist, dass Beleidigungen von den Befragten am häufigsten innerhalb der Gefangenengruppe verortet werden. Für alle Gefängnisangehörigen scheint festzustehen, dass beleidigendes Verhalten von Gefangenen und durch Gefangene nahezu normal ist. Auf Beleidigungen treffe man „im Gefangenenbereich sowieso.“ (AL VII 432). Beleidigungen werden hier in der Regel zu Zwecken der Eigen- und Fremdpositionierung in der Hierarchie verwendet: „Und da werden halt Leute beleidigt, die ziemlich weit unten stehen, die halt nichts zu melden haben. Das ist so, als wenn ich zu Hause meinen Hund beleidige. Das ist genauso. Und da macht man sich auch keine Vorwürfe.“ (GEF V 85-88) Ein Anstaltsleiter weiß, dass Beleidigungen unter Gefangenen nicht nur häufig vorkommen, sondern auch in besonders einschneidender Weise wirksam werden können. Beleidigungen evozieren unter Umständen ein hohes Maß gruppendynamischer Prozesse. „Ein Gefangener beleidigt den anderen Gefangenen und der muss dann diese Schmach rächen, indem er den Beleidiger verprügelt. Oder aber der Beleidiger wird vorgeschickt, größere Gruppe dahinter, der beleidigt einen anderen Gefangenen, dann beleidigt der einen ausgesuchten Gefangenen, um sich dann in dieser Gruppe als Aufnahmeritus, Ritual einzukaufen. Und wenn sich der Beleidigte dann rächen will, geht die ganze Gruppe auf den anderen los.“ (AL IV 489-500) Ich habe mich während der teilnehmenden Beobachtung immer wieder gefragt, wie man sich als Gefangener im Beleidigungsdickicht der eigenen Gruppe zurechtfinden kann. Auch hier ist auffällig, dass insbesondere die Anstaltsleiter sich im Interview einerseits viele Gedanken zur Beleidigungstätigkeit der Gefangenen machen, von der sie andererseits angeblich selber gar nicht betroffen sind. Die Anstaltsleiter sind, wie im Fall der Gerüchte und Witze auch, fernab des Beleidigungsgeschehens zu finden. Sie meinen, dass nur wenige direkte Beleidigungen oder Nebenwirkungen von Beleidigungen bei ihnen ankommen. „Ansonsten muss ich sagen, ich werde so gut wie niemals beleidigt. Gegen mich hat in 27 Jahren kein Gefangener auch nur ein mal die Hand erhoben oder wirklich was Bösartiges zu mir gesagt.“ (AL II 23-25) Folgenden Anstaltsleiter möchte man gerne fragen, welcher Art denn die beleidigungsfreie Wirklichkeit ist, in der er lebt: „Ich kriege das schon manchmal mit. Aber bestimmt nicht so deutlich oder so breit oder so häufig, als es auf der anderen Seite wohl in der Lebenswirklichkeit ist.“ 146
DIE ERGEBNISSE
(AL I 447-450) Einigen beiläufigen Bemerkungen einzelner Mitarbeiter und Anstaltsleiter zufolge gehe ich davon aus, dass auch Anstaltsleiter bisweilen beleidigt werden, wenn auch bei weitem nicht so häufig und intensiv wie andere Gefängnisangehörige. Möglicherweise haben insbesondere die diensterfahrenen und älteren Anstaltsleiter Techniken entwickelt, um das beleidigende Geschehen auszublenden. Die oben zitierten beleidigungsresistenten Anstaltsleiter waren denn auch die am längsten dienenden in dieser befragten Beamtengruppe. Einer von ihnen beschreibt etwa, wie er mit Beleidigungen umgeht, die ihm aus den Fenstern der Hafträume zugerufen werden. „Ich persönlich habe mir angewöhnt, das völlig zu ignorieren. Wie ich auch ignoriere, wenn ich durch die Anstalt gehe und mir ein Gefangener was in meine Richtung ruft.“ (AL II 42-44) Beleidigungen von Gefangenen gegenüber Abteilungsbediensteten scheinen hingegen häufig und auch nicht gerade unerheblich zu sein. Erstaunlicherweise berichten hiervon insbesondere Gefangene, die sich über die Friedfertigkeit der beleidigten Beamten wundern. Während die Anstaltsleiter weit entfernt vom Abteilungsgeschehen die Häufigkeit der Beleidigungen gegenüber ihren Beamten meistens als „gelegentlich“ bezeichnen (AL IV 511), meint ein Gefangener es gehe „viel gegen Beamte“ (GEF III 455). Eigentlich erwarten die Gefangenen von ihren Beamten etwas anderes als Duldsamkeit: „Das Personal lässt sich eher was bieten, statt angemessen zu kontern. Alles in allem sehr beherrscht, finde ich. Wundert mich. Ich könnte es nicht. Die lassen sich manchmal ganz schöne Texte reindrücken. Und bleiben da dann trotzdem auf dem Sockel. Wenn die sich jetzt so einen Spruch reindrücken lassen, dass die, um einen Spruch zurückzugeben, dann auch so was bringen müssten, auf dem gleichen Level? Da lassen sie sich lieber so einen Text reindrücken. Also ich als Beamter täte da eher das Brett hoch machen und den Riegel runter.184 Aber da ist jeder anders und auch jeder anders belastbar. Kann sein: Viele Jahre Dienst oder durch Schulungen.“ (GEF IV 414-434) Häufig haben Beleidigungen von Beamten durch Insassen den Zweck, von den Mitgefangenen Anerkennung zu erlangen: „Aber sie gehen halt auf den Bediensteten zu und beleidigen den. Und das ganz massiv und denken dann, sich damit zum Beispiel eine Position erarbeiten zu können bei anderen Gefangenen, die dann so: ‚Oh.’“ (GEF VI 331-334) Wie die Zitate zeigen, machen sich hauptsächlich diejenigen Gefängnisangehörigen über die angeblich so häufige Beamtenbeleidigung Gedanken, die selber nicht zu der am häufigsten beleidigten Gruppe zählen. Die Beamten selber mussten von mir schon eindringlich nach diesem Problem gefragt werden, bevor sie sich verhalten dazu äußerten. 184 Die Haftraumtür zumachen und abschließen. 147
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Bedienstete hingegen beleidigen Gefangene weniger häufig bzw. weniger stark, wobei man angesichts der Antworten den Eindruck bekommt, die Bediensteten würden ihre Häftlinge gerne ab und zu mal beleidigend angreifen, um sich zu wehren. Dies findet jedoch selten statt, und zwar aus Gründen einer möglichen Beschwerde der Gefangenen beim Anstaltsleiter, der es seinerseits nicht gerne sieht, wenn Beamte die höfliche Fassung verlieren. „Ich denke mal, dass ein Beamter einen Gefangenen beleidigt, das kommt eher selten vor. Es würde ja auch Folgen haben, wenn der Gefangene sich darüber beschwert, dann muss ich Stellungnahme machen, muss beim Chef antanzen, muss mich rechtfertigen etc. p.p. Und dann kriege ich Schwierigkeiten. Also das will ja in der Regel jeder vermeiden.“ (AVD II 400-404) Die Mehrzahl der Beamten beißt sich sogar lieber auf die Zunge, bevor ein gewagter Kommunikationsinhalt die Lippen passiert: „Abgesehen davon muss man da erst recht vorsichtig sein, dass einem nicht einmal was Lockeres rausrutscht. Weil man dann befürchten muss, dass die sich sofort gegen uns beschweren. Beziehungsweise Anzeigen gegen uns erstatten. Das machen die natürlich teilweise bis zum Exzess, weil sie meinen, sich gegen alles und jeden beschweren zu müssen. [Zu einem imaginären Gefangenen]: ‚Ich habe jetzt noch zwanzig oder dreißig Dienstjahre da vor mir. Ich muss jeden Tag da reinkommen. Ich habe Familie daheim. Also erstens möchte ich gesund heim und wieder reinkommen. Und zweitens versetz dich in meine Lage. Ich bin nicht daran interessiert, mir Ärger einzuheimsen, weil ich weiß, wenn ich eine Anzeige gegen mich laufen habe und mein Vorgesetzter sagt, da scheint was dran zu sein, dann wäre ich doch dumm. Oder halten Sie mich für so dumm, dass ich das mache?’“ (AVD III 770-790) Das wahrgenommene Ausmaß der Beleidigung auf Seiten der Beamten bestimmt dann auch seine Reaktion gegenüber dem Gefangenen. Da ja eine Gegenbeleidigung, wie gezeigt wurde, ausgeschlossen ist, greifen die Beamten zu anderen Methoden, die einen sehr breiten Auslegungsspielraum ausfüllen.185 Folgender Beamter erläutert, ab welchem Punkt für ihn eine reaktionsnotwendige Beleidigung vorliegt: „Wobei es sicherlich auch Beleidigungen gibt, die einfach so vom Jargon her schlechte Wörter sind. Also wenn jetzt ein Gefangener sagt ‚Du alte Fotze’, nur mal so, dann ist das, als ob es irgendwie [sic!] eine Schmerzgrenze erreicht. Da würde es jeder machen, da sagt niemand: ‚Na ja gut, morgen ist wieder alles in Ordnung.’ Da ist das schon irgendwie doch eine Beleidigung, denke ich.“ (AVD IV 514-518)
185 Gegenbeleidigungen können sich Beamte nur bei Gefangenen mit vergleichsweise niedriger Beschwerdemacht erlauben. Darum kommen Beleidigungen gegenüber ausländischen Gefangenen häufiger vor als gegenüber deutschen Gefangenen. 148
DIE ERGEBNISSE
Die Beamten haben die Möglichkeit, eine Meldung über die Beleidigung durch einen Gefangenen, sprich: über eine Beamtenbeleidigung zu schreiben und damit ein Disziplinarverfahren und Strafverfahren gegen den Gefangenen einzuleiten. Meinem Eindruck nach wird von diesem Mittel, obwohl es in vielen Fällen durchaus angebracht wäre, unerwartet wenig Gebrauch gemacht. Manche Beamte greifen zum Beispiel zum Disziplinarbogen, um dort auf schriftlichem Wege ihre Wut zu kanalisieren bzw. abzubauen. Diese Maßnahme wird häufig, jedoch mit einer gewissen Verzögerung ergriffen, was dann in erster Linie den Zweck hat, dem Gefangenen die Möglichkeit für eine Entschuldigung offen zu halten: „Da gibt es auch zwei verschiedene Sachen. Ich habe es oft so gemacht, dass ich, wenn ich eine Auseinandersetzung hatte, mit der Meldung manchmal zwei, drei Stunden gewartet habe. Ich habe es dann erst mal setzen lassen. Vor vierzehn Tagen. Da haben die Gefangenen mich so geärgert. Da hatte ich echt Frust und da habe ich gedacht: ‚So, die kriegen ihre Meldung gleich.’ Dann habe ich das später gelesen. Da hat man die Wut rausgelesen. Das muss man echt setzen lassen, weil man sich ansonsten den Frust von der Leber schreibt. Da hat man den Abstand nicht. Das ist nicht emotionslos, was man da schreibt.“ (AVD IX 877-890) Ähnlich verfährt ein Kollege, wenn er beleidigt wird und den Disziplinarbogen als Drohung einsetzt: „Ich tu ihm erst mal androhen, dass gegen ihn hier eine Disziplinarmaßnahme, also ein gelber Zettel heißt das, geschrieben wird. Oder ich habe es auch schon gehabt, dass er sich entschuldigt hat im Nachhinein. Das kam auch vor. Aber eben auch selten. Das ist dann meist auch bei Sachen, wo wir dann als Bedienstete, wenn der Gefangene irgendwas geklärt haben will und wir konnten das nicht klären, dass die dann aufbrausend sind. Dann kommt dann schon mal eine Beleidigung raus. Also, ich schreibe auf jeden Fall dann einen Gelben. Wenn er sich dann aber entschuldigt hat, am selben Tag noch, dann nicht. Aber sonst muss man es schon machen, würde ich sagen.“ (AVD VIII 288-298) Andere Beamte bewegen sich bereits gar nicht mehr innerhalb des Ermessensspielraums, der sich zwischen dem Tolerieren der Beleidigung und dem sofortigen Schreiben einer Meldung ergibt. Diese Beamten greifen auf eigene informelle Sanktionsformen zurück, die jedoch auch hier nicht in einer Gegenbeleidigung bestehen: „Und ich habe da gar keine große Handhabe, wenn einer ‚Idiot’ oder ‚Arschloch’ zu mir sagt. Was soll ich da machen mit denen? Ich kann den anzeigen, privat anzeigen. Aber das gibt so eine Rattenschwanz. Da tut man sich selber auch nichts Gutes. Dann überhört man es halt. Sicher, man kann sich schon ein bisschen – rächen will ich nicht sagen – aber wenn mich einer besonders beleidigt hat, den habe ich schon ein bisschen im Auge. Wenn ich bei dem irgendwann einmal eine Schwachstelle sehe, ja oder wenn ich den dann mal vielleicht nicht für Arbeit einteile. 149
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Wenn ich ihn nicht einteile, dann verdient er in der Zeit nichts. So kann ich mich eigentlich ein bisschen rächen [lacht]. Nicht gut, aber das sind halt die menschlichen Schwächen, die halt so jeder hat. Weil beleidigen lassen tut man sich halt nicht so gern.“ (WD I 693-705) Die Befragten erklären sich das häufige Auftreten von Beleidigungen auf unterschiedliche Weise. Am weitesten verbreitet ist die Auffassung, dass neuinhaftierte Gefangene die Grenzen der Abteilungsbeamten austesten wollen. „Um auszuprobieren, also jetzt von Seite der Gefangenen: ‚Schreibt der Bedienstete jetzt eine Disziplinaranzeige? Oder macht er das nicht? Wie weit kann ich den dann versuchen so zu lenken?’“ (AL VII 589-591) Eine andere plausible Erklärung bezieht sich wie im Fall des Gerüchts auf das zwangsweise enge Zusammenleben aller Beteiligten: „Gerade in so einer Zwangsgemeinschaft, wie wir ja hier leben. Dass wir nach acht Stunden oder zwölf Stunden nach Hause gehen können, lebt eigentlich viel davon, dass die Umgangsformen gewahrt werden. Dass auf kleine Befindlichkeiten nicht übertrieben hart reagiert wird.“ (FD V 333-344) Der Fachdienstbeamte sieht sich gegenüber den Gefangenen im Vorteil, da er der Enge nur während der Dienstzeit ausgesetzt ist, und schließt daraus, dass den Gefangenen Beleidigungen teilweise nachgesehen werden sollten. Ein Abteilungsbeamter vertritt die These, dass viele langjährig Inhaftierte nichts mehr zu verlieren hätten und sich daher vor einer möglichen Sanktion infolge einer Beleidigung kaum fürchten: „Die grundsätzliche Bereitschaft bei Gefangenen ist sicherlich dadurch erhöht, dass die in einer Position sind, Freiheitsentzug: Viel mehr kann man nicht nehmen, also mit der Freiheit ist das höchste Gut genommen. Was kann es da noch Schlimmeres geben? Ich denke, dass solche Überlegungen aber nicht offen da sind, sondern so innen schlummern.“ (AVD VII 371-377) Häufig werden Äußerungen von Ausländern auf Seiten der deutschen Gefängnisangehörigen fälschlicherweise als Beleidigungen eingestuft, obwohl es sich dabei nur um Missverständnisse handelt: „Die sagen mir was und ich fasse das ganz anders auf. Der will was ganz anderes von mir. Aber ich höre es eben so, wie der andere das rüberbringt in seinen drei Worten, die er irgendwo mal gelernt hat. Und da ist ganz schnell mal eine Beleidigung passiert, die der Ausländer gar nicht will.“ (FD III 612-615) Ein anderer Fachdienstmitarbeiter berichtet, wie ein solches Missverständnis sich zwischen den Angehörigen dreier Kulturen und Herkunftssprachen entsponnen hat: „Oder eine lustige Geschichte dazu, wo es missverstanden wurde: Ich fahre also ein Motorrad, also einen Chopper. Ich kam in die Gruppenstunde rein. Die war international, zig Nationen. Ich setze mich also hin und einmal sagte ein Türke zu mir: ‚Du Pfarrer, was machen Chopper? Brummt er noch?’ Sage ich: ‚Ah, super läuft, ne?’ Da sprang ein Russlanddeutscher auf und ging direkt 150
DIE ERGEBNISSE
auf den zu und wollte dem gerade eine reinhauen. Sag ich: ‚Hey, was ist denn jetzt los? Setz dich hin, ich glaube du hast einen Vogel. Was ist denn jetzt kaputt?’ [Antwort des Russen:] ‚Das muss nicht sein, dass er beleidigt Pfarrer.’ Sage ich: ’Wieso? Der hat mich doch nicht beleidigt. Ich habe doch ein Motorrad.’ [Antwort des Russen]: ‚Wieso Motorrad? Hat doch gesagt žopa.’186 Sage ich: ‚Ja und?’ Und da fingen die anderen schon an zu lachen. Ich denke: ‚Was lachen sie jetzt?’ Sage ich: ‚Jetzt musst du mir das erklären.’ [Antwort des Russen:] ‚Žopa heißt Arsch.’ Das war für den: ‚Also wie kann man den Pfarrer beleidigen? Das geht nicht.’ [lacht] Also, so was passiert dann, Missverständnisse oft.“ (FD II 680-698) Offenbar wissen Ausländer ihre für den deutschen Beamten kryptische Fremdsprachigkeit auch zum Zweck der Beleidigung zu nutzen: „Wenn sie dann in ihrer Sprache was sagen, da weiß ich, er sagt etwas. Aber ich kann es halt nicht deuten. Das ist bei uns zum Beispiel wenn die Gefangenen von der Arbeit auf ihre Zelle gehen, dann müssen sie halt durch diesen Metalldetektor. Oder nur stichweise gehen die Leute raus und durchgehen das Metallsuchgerät. Und viele wollen eigentlich nicht das machen. Und man muss halt bestimmen: ‚Du gehst jetzt durch und du gehst durch, oder Sie gehen durch.’ Und manche wehren sich dagegen. Aber Sie können sich nicht wehren. Also murmeln sie irgendwie vor sich hin. Bei einem Deutschen würde ich das verstehen. Dann würde ich dem schon sagen: ‚Was hast du gesagt? Sag das noch mal.’ Aber ich höre viele Ausländer, wo ich einfach weiß, das ist was Beleidigendes. Ich kann die nicht belangen. Ich kann nichts machen. Da sagt der nachher, das war ganz was anderes.“ (WD I 671-689) Meine Beobachtungen ergaben, dass das Verhalten von Gefangenen, aber auch von Beamten, gegenüber ausländischen Gefangenen, die nur schlecht Deutsch sprechen, durch Ungeduld im Umgang gekennzeichnet ist. Hier vermischt sich dann das im Kapitel „Interkulturelle Kommunikation“ erörterte Ausländerregister mit einem bestimmten beleidigenden Vokabular, was die beleidigende Kraft der Aussage potenziert.187 Ein Anstaltsleiter stimmt mir dahingehend zu: „Und zwar gerade auch, weil das ja schon der nächste Punkt ist, wo es um ausländische Gefangene geht, um Kulturfremde. Dass also einer, der Türke ist, als ‚anatolischer Kameltreiber’ oder ‚Hottentotte’ oder ‚Kanake’ oder sonst irgendwas beschimpft wird. Oder umgekehrt die ausländischen Gefangenen die Deutschen als ‚Kartoffel’ bezeichnen.“ (AL II 27-31) Im Gespräch mit den Anstaltsleitern zeigte sich deutlich, dass sie auf beleidigende Tendenzen der Gefangenen mit Gelassenheit reagieren, während sie beleidigendes Verhalten auf Seiten ihrer Beamten scharf 186 Transliterale Widergabe des russischen Wortes Arsch(loch). 187 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Beleidigungen“. 151
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kritisieren und sanktionieren. „Direkte Beleidigungen kommen häufig, wesentlich häufiger von Gefangenen vor gegenüber Bediensteten. Umgekehrt sicher weniger. Vor allen Dingen deshalb, weil jeder Bedienstete weiß, dass ich dann ziemlich ziemlich giftig reagiere.“ (AL VIII 800801) Meinen Beobachtungen zufolge sollte man das Beleidigungsgeschehen im Gefängnis differenziert betrachten und den Kontext, innerhalb dessen beleidigt wird, in jedem Fall in Rechnung ziehen. Ich unterscheide zwei Auftretensformen der beleidigenden Äußerung: Bei der ersten Form äußert ein Gefangener oder Beamter im Wortgefecht eine direkt an den Gegenüber adressierte Beleidigung, indem er zum Beispiel sagt: „Du Arschloch.“ Hier bestehen für den Hörer kaum Freiheitsgrade, den geäußerten Satz umzudeuten oder dessen Adressierung zu ignorieren. Vom Hörer wird in solch einer Situation darum eine Stellungnahme, d. h. eine direkte Reaktion erwartet. Findet eine solche Reaktion jedoch nicht statt, kann der Hörer sein duldsames Verhalten im Nachhinein nur durch Eröffnung eines situationsbezogenen Ermessensspielraums rechtfertigen. Die Rechtfertigung dafür, sich eine Beleidigung in all ihrer Schärfe gefallen zu lassen, vertreten meiner Erfahrung nach nur solche Hörer des Gefängnisses, die sich bereits mit ihrer Opferrolle hinsichtlich der Kultur der Beleidigung abgefunden haben. Bei der zweiten Form der Beleidigung äußert ein Sprecher potentiell beleidigende Worte, die jedoch nicht eindeutig an den Gegenüber adressiert sind. Die Worte werden von dem Sprecher vielmehr in akommunikativer Weise geäußert. Das heißt, dass der Sprecher eine Beleidigung vor sich hinmurmelt und dabei den Hörer nicht anschaut. Der Sprecher sendet dabei Signale aus, die dem Hörer anzeigen, dass dieser sich nicht angesprochen fühlen muss und die Bemerkung ignorieren kann. In der Praxis der Gefängnisarbeit ist mir insbesondere die zweite Form der Beleidigung begegnet. Hierbei sind in der Regel die Gefangenen die Sprecher und die Abteilungsbeamten die Hörer indirekter Beleidigungen. Eine prototypische Situation, die mir während der teilnehmenden Beobachtung immer wieder aufgefallen ist, ist das Beleidigungsgeschehen während der Gefangenenversorgung: Während der Essensausgabe treten die Beamten in kurzen kommunikativen Kontakt mit Gefangenen. Bisweilen geht es dabei auch um Eröffnungen kleinerer Entscheidungen, die zuungunsten des Gefangenen gefällt wurden. Der Gefangene nimmt dann etwa sein Essen entgegen, scheint mit seinem Teller beschäftigt zu sein und äußert dabei im Abwenden mit dem Blick auf seinen Teller das Wort: „Blödmann.“ Der Beamte sowie möglicherweise auch andere umstehende Gefangene hören diese Äußerung. Es liegt nun am Beamten, ob er sich als Angesprochener zu erkennen gibt oder den Satz ignoriert. Die Funktion solcher unklar adressierter Beleidigungen ist, dass einerseits Sprecher ihrem Är152
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ger Luft verschaffen können, indem sie nicht unerhebliche Beleidigungen formulieren, während andererseits dem Hörer ein breiter Auslegungsspielraum eröffnet wird, der es ihm ermöglicht, das Gesicht zu wahren und von einer folgenreichen ahndenden Reaktion abzusehen. Reinhard Fiehler fasst ein solches akommunikatives Beleidigungsgeschehen wie folgt zusammen: Die Technik der nichtpartnergerichteten Äußerung „läßt sich natürlich auch taktisch einsetzen. Mit ihr kann erreicht werden, dass man die Verantwortung für bestimmte Äußerungen nicht voll zu tragen hat. Die akommunikative Äußerung ist zwar adressiert, sie wird aber im Übergangsfeld von Interaktion zu Nichtinteraktion bewusst ‚fehlerhaft’ platziert. Solche Äußerungen sind inhaltlich nicht auf den Hörer zugeschnitten, sie sind aber soweit kommunikativ absichtlich, dass sie dem Hörer signalisieren sollen, dass man mit etwas befasst ist, was einen im Moment hindert, partnerbezogen zu interagieren. Sie können so auch einen demonstrativen Charakter haben.“188
Sprecher und Hörer befinden sich im geschilderten Beispiel in einer gemeinsamen Wahrnehmungssituation sowie in einem interaktiven Kontext. Äußerungen erfolgen dabei in indirekt kommunikativer Absicht und haben durchaus einen kommunikativen Effekt. Im Gefängnis als einem Ort, an dem Beleidigungen an der Tagesordnung sind und insbesondere Beamte bei einem strengen Umgang mit Beleidigungen mit dem Verfassen von Meldungen gar nicht mehr fertig würden, hat sich hier offenbar eine konfliktschlichtende, kommunikative Strategie bewährt, die es allen Beteiligten ermöglicht, mit dem eigenen Ärger angemessen umzugehen. Meiner Ansicht nach ist es auch nicht angezeigt, im Gefängnis Beleidigungen abzuschaffen. Brian Spitzberg behauptet, dass das Aufkommen konfliktträchtiger Kommunikationsstile kontextspezifisch verteilt ist. Er meint damit, dass jeder Kontext ein normales Maß an „dunklen“ Kommunikationsweisen wie Beleidigung oder Lüge beherbergt und dass ein Abweichen von diesem Maß sogar als unangemessen empfunden wird. Ich belege diese Behauptung anhand der Tatsache, dass Beamte sich von Gefangenen, die sich stets höflich, korrekt und zuvorkommend verhalten, auf einer anderen Ebene belästigt fühlen: Sie bezeichnen diese Gefangenen dann etwa als „Schleimer“ oder „clevere“ Gefangene, die etwas im Schilde führen oder die mit ihrem Verhalten etwas erreichen wollen. Starke Abweichungen im Sprachver-
188 Reinhard Fiehler: „Formen des Sprechens mit sich selbst“, in: Gisela Brünner/Gabriele Graefen (Hg.), Texte und Diskurse, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1994, S. 179-198, hier: S. 187 f. 153
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halten auf die dunkle oder helle Seite der Kommunikation sind nur unter Berücksichtigung ihrer Kontextspezifität einzustufen.189 Wie die konfliktschlichtende Bewältigung von beleidigendem Verhalten in der Praxis aussehen kann, schildert anschaulich ein Werkdienstbeamter: „Ich kann zum Beispiel, wenn der rumschreit, wenn der sich so benimmt in dem Moment, dann kann ich auf der einen Seite sagen: ‚So hat man sich nicht zu benehmen.’ Aber kann auch sagen: ‚Den bring ich jetzt da hin [aus der Situation raus, G. K.] und dann soll er wieder runterkommen. Und dann mache ich wieder weiter.’ Also er will was von mir und ich will was von ihm und zusammen wollen wir irgendwas erreichen. Sein Problem ist, dass er halt diese Anwandlungen hat. Aber ich muss auch andere Seiten an ihm sehen können. Das ist ganz wichtig. Wenn ich es aber so mache, dass ich sage: ‚Wenn sich jemand so benimmt, dann hat er nichts bei mir zu suchen’ und ich schmeiße ihn raus, dann habe ich meinen Job falsch gemacht in dem Fall. Und so gehört das einfach dazu, dass man einfach ehrlich zu sich selber und zu den anderen ist und dass man halt auch jedem irgendwo eine Chance gibt und nicht bloß eine erwartet.“ (WD II 368-397)
Einflussnahme in der Sprachgemeinschaft Es gibt sicher Leute, die noch keinen Status haben, die noch keine Anerkennung haben, die man nicht mag. Und die können erzählen, was sie wollen. Da hört dann eben keiner zu. Es gibt so diese Underdogs, die so gar nichts zu sagen haben. Das mag ein Kleinkrimineller sein, das mag ein Sexualstraftäter sein. Das mag im Kreise von hochdekorierten Vollzugsmitarbeitern ein Dienstanfänger sein. Es ist schon ein bisschen davon abhängig, in welcher hierarchischen Ordnung jemand steht. (ein Anstaltsleiter)
Die Angehörigen der strafvollzuglichen Sprechergruppe sind stets damit beschäftigt, interaktiv die Verteilung des Rederechts auszuhandeln. Nicht selten wird das Rederecht im Gefängnis erzwungen bzw. gewalt189 Spitzberg spricht in diesem Zusammenhang von einer kurvelinearen Verteilung der Angemessenheit von Höflichkeit oder Beleidigung bezogen auf den Kontext, in dem sie angewendet werden. Vgl. Brian Spitzberg: „The dark side of (in)competence”, in: William R. Cupach/Brian H. Spitzberg (Hg.): The dark side of communication, Hillsdale/NJ: Lawrence Erlbaum 1994, S. 25-50, hier: S. 38 f. 154
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sam unterbunden. Die folgenden Beispiele sollen dies veranschaulichen. Ich werde für die einzelnen Teilgruppen der Sprachgemeinschaft nachweisen, wie hoch der Einfluss auf andere ist, mittels welchem die Rede des anderen unterbunden oder die eigene Rede ermöglicht wird. Auf Seiten der Gefangenen und Beamten bestimmt sich der Grad der kommunikativen Einflussnahme auf andere nach der Stellung des Einzelnen in der Gefangenen- oder Beamtenhierarchie. Ein Beamter meint: „Der Chef sagt seine Dinge bei den Referatsleiterkonferenzen und bei den Dienstbesprechungen. Das sind also die Dinge, wo sich das dann nach unten multipliziert, durch die verschiedenen Führungsebenen hindurch. Und wenn ich zum Beispiel hier im Hause bei einer Teambesprechung was sage, dann hat das da Gültigkeit. Weil ich hier der Chef bin. Meine Mitarbeiter müssen das dann umsetzen. Bei den Gefangenen gibt es natürlich auch diese Hierarchie. Gangsprecher, der Fernsehhausl, die Funktionsposten innerhalb der Gruppe, die man sich verdienen muss, beziehungsweise für die man gewählt werden muss. Der Gangsprecher zum Beispiel. Wenn der was sagt, dann hat das mehr Gewicht, als wenn jemand was sagt, der jetzt drei Wochen neu im Hause ist. Und jeder Gefangene, der länger da ist, hat mehr zu sagen als ein neuer, ob er jetzt stärker ist, klüger oder sonst was, das spielt eigentlich weniger eine Rolle. Der eine schafft es halt etwas schneller zur Hierarchiespitze, dafür kommen andere dann überhaupt nicht zur Sprache.“ (AVD II 219-233) Aus der Perspektive eines Gefangenen findet diese Aussage Bestätigung: „Man muss bekannt sein. Wenn man nicht bekannt ist, hat man es unverschämt schwer im Gefängnis, sich diese Basis zu schaffen, damit irgend jemand einem zuhört. Man muss diese Basis bewusst ständig ausbauen. Das wären aus Gefangenensicht meiner Meinung nach grundsätzlich die Punkte, die wichtig sind. Aus Bedienstetensicht gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich bin ein sehr korrekter Bediensteter, dann habe ich die Möglichkeit, dass mir jemand zuhört. Dann funktioniert das auch noch auf beiderseitigem Einvernehmnis. Oder ich bin ein Bediensteter, der Stress verbreitet. Die gibt es auch. Dann wird ihm von Gefangenen zwar zugehört, aber das ist dann mehr so eine Hassliebe. Das hat ja dann mit einer normalen menschlichen Beziehung nichts zu tun. Oder aber ich bin ein Bediensteter, der alles durchgehen lässt. Dann wird mir auch zugehört, kurzzeitig. Aber eben leider nur kurzzeitig. Weil dann werde ich benutzt als Bediensteter.“ (GEF VI 18-36 ) Im Folgenden wird zunächst geschildert, wie sich Sprecher und Hörer in der Gefangenenhierarchie ihren Platz verschaffen und gegenseitig streitig machen. Das wichtigste Kriterium für das Erlangen einer kommunikativ einflussreichen Position in der Gefangenenhierarchie scheint mir die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Deliktsgruppe zu sein. Ein Fachdienstmitarbeiter benennt nachfolgend, was mir gegenüber die 155
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Mehrzahl der Befragten geäußert hat: „Gefangene, die schlimme Straftaten begangen haben, stehen in der Hierarchie teilweise höher als kleine Diebe oder Landstreicher oder was es da so alles gibt. Dass also der Mörder in der Hierarchie im Gefängnis höher angesiedelt ist. Ganz unten, sicherlich in jedem Gefängnis das gleiche, sind die Sexualstraftäter. In der Mittel- oder in der Grauzone befinden sich die Straftäter, die bis zu 6 Monate, bis zu einem Jahr da sind. Ich denke, dass die schweren Straftaten, die Körperverletzungen teilweise, dass die das Zepter in der Hand haben. Die organisierte Kriminalität wird sicherlich auch irgendwo eine Rolle spielen, dass die auch Einfluss auf andere Bereiche ausüben.“ (FD V 283-293) Ein Kollege des Fachdienstes konkretisiert, in welch kommunikativ randständiger Position sich Sexualstraftäter befinden: „Es gibt Leute, die aus der Gruppe ausgeschlossen werden. Da ist hauptsächlich die Deliktrichtung Sexualdelikte einzuordnen, die ja wirklich ganz unten in der Hierarchie stehen. Eigentlich Keller schon. Die werden in der Regel unterdrückt, auch massiv körperlich angegriffen. Und ich kann mir vorstellen, dass denen nicht unbedingt zugehört wird, wenn die eine Rechtfertigung bringen wollen für ihr Handeln. Die werden aber auf alle Fälle massivst unterdrückt.“ (FD III 368-373) Ein wegen Mordes verurteilter Gefangener hingegen erklärt, warum er sich im Vollzugsalltag gar nicht sonderlich um sein Rederecht bemühen muss: „Aufgrund meiner Verurteilung projiziere ich Angst. Ich habe jemanden getötet: ‚Er ist ein Mörder, den geht man nicht an, weil da weiß man ja nicht, wie er reagiert.’ Und das ist Macht. Ich kann das zwar, wenn mir der in der Rede passt, dann kann ich mit dem streiten. Aber ich weiß ganz genau, dass er einen ganz bestimmten Punkt nicht überschreitet.“ (GEF II 125-131) Die Aussage des folgenden Gefangenen bildet in diesem Kontext der deliktspezifischen Rederechtsverteilung eine Mindermeinung: „Es wird nicht unterschieden, ob das nun ein Räuber ist, ob das ein Dieb ist oder ein Sittich, ein Kinderschänder oder so was ähnliches. Sondern wir sind alles Knackis und wir sitzen im gleichen Boot. Es werden da keine Unterschiede gemacht vom Delikt her.“ (GEF V 219-223) Diese Aussage spiegelt vielmehr eine Form sozialromantischer Einstellung der Gefangenen wider, welche zwar von dem bedingungslosen Zusammenhalt aller Gefangenen ausgeht, welcher in dieser Form aber in der Realität nicht anzutreffen ist. Für Gefangene ist außerdem von Bedeutung, ob ein Mitgefangener auch außerhalb des Gefängnisses viel Einfluss in seiner sozialen Umwelt hatte. Aus Anstaltsperspektive stellt es ein häufiges Problem dar, dass einzelne Gefangene anstaltsübergreifend unter den Insassen bekannt sind und sich folglich von vornherein ihre einflussreiche Position sogar unter Gewaltandrohung sichern. Der „Import“ kommunikativ einflussreicher Gruppenführer ist insbesondere bei bestimmten ausländischen Gefange156
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nengruppen zu beobachten, was den Umgang mit diesem Problem noch verschärft, da man die Sprache dieser Gefangenen nicht versteht und somit allenfalls verspätet oder gar nicht intervenieren kann: „Es gibt bestimmte Gruppen, die man so als Subkultur bezeichnet, was dann auch so ein paar führende Köpfe in der Anstalt sind. Das muss nicht mal sein, dass die lange da sind. Es ist auch oftmals, dass sie öfters wieder kommen und auch im Umfeld draußen schon so eine Position eingenommen haben. Die sind bekannt und haben dann natürlich auch hier das Sagen. Und denen hört man natürlich zu.“ (AVD VI 290-397) Folgende Bedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass junge Gefangene in der Gleichaltrigengruppe Zuhörer finden: „Die Straftat, die Länge der Strafzeit, wie viel er noch hocken muss und die Position in der Gruppe. Welche Position die Leute haben. Und manchmal auch einem gut gebauten, einem starken Mann sozusagen, hört man auch eher zu.“ (GEF I 424-429) Aus der Perspektive älterer Gefangener, die unter Umständen sogar über langjährige Hafterfahrung verfügen, münden der Generationenunterschied sowie die strafvollzugliche Erfahrung in eine einflussreiche Position: „Und auch da spielt dann natürlich die Erfahrung eine Rolle. Vor meiner Inhaftierung bringe ich natürlich Berufserfahrung mit, die natürlich mit reinspielt. Da drin sind es unter anderem Junge, die sind in einem Alter, in dem meine Kinder sind. Wenn sie es sehen: ‚Der kann.’ ist ein Respekt vorhanden. Und da passiert es zum Beispiel, dass die Jungen mich mit ‚Sie’ anreden.“ (GEF II 33-38) Mir erschien es zudem häufig so, dass insbesondere lebenslang Inhaftierte, die bereits viele Jahre ihrer Haft verbüßt haben, „jenseits von Gut und Böse“ standen und an der Rangelei um Macht und Einflussnahme nicht mehr ausgiebig teilnahmen. Ein Aufstieg in der Gefangenenhierarchie und damit eine Erhöhung der kommunikativen Einflussnahme sind oft auch damit verbunden, dass Gefangene über körperliche Kraft, erkennbar durch einen entsprechenden Körperbau, oder über geistige Wendigkeit im Sinne von Intelligenz und verbaler Ausdrucksfähigkeit verfügen, die sie auch für andere einsetzen. „Großer Punkt ist hier körperliche Kraft. Also wenn einer körperlich ein starker Mann ist, dann ist er in erster Linie erst mal der große Mann. Das heißt also, die meisten Gefangenen machen ja auch gern so Krafttraining. Die gehen also da hin und machen also dann so ein bisschen Schwarzenegger, so in der Richtung. Mit dem möchte man halt gerne sprechen. Oder Outfit: Das heißt, man legt also sehr großen Wert darauf, dass man hier von Adidas oder von Nike oder was das alles ist, dass man da Klamotten anhat.190 Weil das hebt dann den Einzelnen. Und 190 Der mit gestreiften Anzügen gekleidete Gefangene gehört seit langem der Vergangenheit an. Gefangene tragen entweder Anstaltskleidung, die 157
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mit dem will man sich dann auch unterhalten, weil dann ist man ja wer. Man hat also hier Markenkleidung, und die Markenkleidung macht den Menschen. Wie im übertragenen Sinne die Uniform, wie ich vorhin gesagt habe, den Menschen macht, so macht bei den Gefangenen die Markenkleidung und die Muskeln. Das macht den Menschen aus. Und mit dem will man dann auch reden. Eine Sonderstellung haben praktisch die Intellektuellen, die wir auch haben. Die brauchen das oben Genannte nicht. Weil da reicht es halt aus, wenn also einer sich artikulieren kann und wenn einer Briefe schreiben kann für einen anderen an den Rechtsanwalt und so.“ (FD II 499-514, 522-529) Eine weitere Möglichkeit, sich Zuhörer zu verschaffen, besteht im Anbieten materieller Wertgüter, zu denen im Gefängnis der heißbegehrte Bohnenkaffe, Tabak oder auch verbotene Drogen gehören. Dieses „Erkaufen“ von Zuhörerschaft erweist sich allerdings langfristig gesehen als wirkungslos, wie folgender Gefangener erklärt: „Achtzig Prozent der Leute, die zu den Freizeitgruppen reden gehen, die gehen doch wegen dem Kaffee hin. Da hängt dann nämlich draußen ein schwarzes Brett: ‚Gruppengespräch bla, bla, bla’. Dann ist da eine Kaffeetasse mit drauf und dann steht da: ‚Tasse mitbringen.’ Und überall, wo so was steht, da kommen die alle. Du kannst da drinne reden, über was du willst. Solange eine Kanne Kaffee daneben steht, hören viele zu. Aber eben nur bis dann, bis sie leer ist. Das ist halt der Knast. Viele dumme Abträger hören noch dümmeren zu, weil diese beim Erzählen noch Kaffee und Zigaretten ausgeben, im Glauben, Akzeptanz zu bekommen für den Augenblick. Das kriegen die aber nicht mit. Da hat man beim Aufschluss auf dem Haftraum dann einen, da denkt man: ‚Das gibt ein Gespräch.’ Das ist aber nicht so. Da ist einer nur drinne, der redet und redet. Und irgendwann gesellen sie sich dazu und hören sich irgendwelchen Unfug an. Hocken aber dort und trinken bloß Kaffee. Und man kann wirklich die Uhr danach stellen: Wenn der Kaffee leer ist, dann gehen die. Und zwar auf die nächste Bude.“ (GEF IV 191-203, 364-375) Hierarchiebedingte Machtspiele und –kämpfe sind auch auf Seiten der Mitarbeiter zu beobachten. Folgt man den Aussagen einiger Anstaltsleiter, so befinden diese sich, wie die lebenslang verurteilten Gefangenen, in einer besonders einflussreichen Position: „Im Gefängnis zu Wort kommen ist in der Position Anstaltsleiter überhaupt kein Problem. Wenn ich mich melde, hören mir in der Regel alle zu. Und meine Worte sind eigentlich sehr verbindlich und werden auch sehr verbindlich aufzwar einfarbig ist, die jedoch ein vollzugsfremder Betrachter jenseits der Anstaltsmauer nicht als Anstaltskleidung erkennt. In den meisten Gefängnissen ist es heute sogar gestattet, dass Gefangene eine bestimmte Anzahl von privaten Kleidungsstücken tragen dürfen. Vgl. hierzu auch das Recht des Untersuchungshaftgefangenen in Nr. 52 UVollzO. 158
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genommen. Was ich sage, ist Gesetz.“ (AL VI 20-23) „Also, ich komme ja gerade in meiner Funktion sehr gut zu Wort, weil alle mir zuhören müssen.“ (AL VII 40-41) Meinen Erfahrungen entsprechend nehmen tatsächlich viele Anstaltsleiter in ihren Gefängnissen eine solch unangetastete Position ein. Der Schein des geruhsamen Dienstes auf diesem Posten trügt allerdings. Die Kehrseite der Medaille besteht in der Einsamkeit des Anstaltsleiters auf seinem machtvollen Posten.191 Das System des für sämtliche Teile eines Gefängnisses alleinverantwortlichen Anstaltsleiters wird von der Strafvollzugsforschung seit langem kritisiert. Das hierarchische Gefälle in einer Anstalt ist steil, und so setzt sich die Einflussnahme von oben nach unten bis ins letzte Dienstglied fort. Ein Beamter auf der mittleren Leitungseben berichtet über seine Stellung: „Also grundsätzlich ist es so, dass das Rederecht mit der Stellung innerhalb der Hierarchie zu tun hat. Und je höher die Stellung in der Hierarchie, das Rederecht steigt. Wenn es darum geht, dann letztlich, die Rede so zu verstehen, als wenn am Ende dieser Rede eine Entscheidung stehen muss. Beim beiläufigen Reden, was ja auch sehr häufig ist, zwischen Bediensteten und Gefangenen, weil die ja nun arbeitstäglich acht Stunden miteinander leben, da spielt das keine Rolle. Da ist es gleich verteilt. Nur wenn es darum geht, zu reden, am Ende so eine Entscheidung, dann gibt es tatsächlich mit steigender Hierarchie mehr Rederecht. Also das ist auch so ein Mechanismus in Gesprächsrunden: Das merke ich selber als Abteilungsleiter, wenn ich den Kopf etwas hebe und die Lippen öffne, werde ich angeguckt, teilweise werden Gedanken sogar unterbrochen, was ich gar nicht will, um mir dann sofort dieses Rederecht einzuräumen.“ (AVD VII 157-180) Die Verteilung von Einfluss regelt sich nicht nur innerhalb der Teilkulturen eines Gefängnisses. Auch zwischen Gefangenen und Beamten laufen Prozesse ab, die auf die Gefügigmachung des Anderen gerichtet sind. Beamte bevorzugen in ihrem Dienst folgende lautere und unlautere Methoden, um Gefangene im kommunikativen Griff zu haben. Einerseits versuchen manche Beamte, gemäß Art. 3 I GG das Gleichbehandlungsprinzip gegenüber den Gefangenen strikt einzuhalten. Mit dieser Methode erhoffen sich die Beamten, dass ihr Handeln weniger Diskussionen provoziert, als es ein Ermessenshandeln tun würde (AVD III 333-337). Andere Beamte wollen aber gerade nicht gerecht sein. Sie setzen eine Ungleichbehandlung der Gefangenen etwa mittels privater Sanktionierung ein, und erhoffen sich dadurch, in Ruhe gelassen zu werden. „Wenn einer mit mir offen redet und spricht mich an, dann werden wir uns auch über ein gewisses Thema einigen können. Aber der Anfang muss von demjenigen, also ich rede jetzt von Gefangenenseite, kommen. Und dann 191 Vgl. hierzu auch Kap. 7.3.1. 159
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sucht man sich auch die Leute aus, mit denen man redet. Denn ich werde mich nicht mit irgendeinem in irgendwelche Reden einlassen, der eine schlechte Arbeitsleistung hat und eine schlechte Disziplin und schlechte Moral und so weiter. Mit dem werde ich dann nicht über irgendwelche Sachen reden, so wie mit einem, der gut ist.“ (WD V 204-211) Eine strenge Gleichbehandlung ist im Gefängnis nicht möglich, da die Situationen hierfür zu vielfältig sind und der einzelne Beamte in konkreten Kommunikationssituationen nicht mehr den Überblick darüber hat, welches sprachliche Verhalten gegenüber Gefangenen nun noch als angemessen eingestuft werden kann und welches nicht. In solchen Momenten setzen Ermessenshandlungen wie die folgende ein:192 I
„Beim Angehörigenbesuch in der U-Haft zum Beispiel, da muss ja ein Beamter dabeisitzen. Wie ist das dann? Das ist ja im Grunde genommen eine doofe Situation.“ AVD „Ja man sitzt da - unnütz kann man vielleicht auch nicht sagen - die erzählen da hin und her, du hörst zu. Dann sehen die, dass du zuhörst. Dann flüstern sie vielleicht, weil die was erzählen, was du nicht hören sollst. Ist schon ein komisches Gefühl, daneben zu sitzen, finde ich.“ I „Sitzen Sie denn dann so richtig mit am Tisch oder?“ AVD „Nee, meistens weiter weg.“ I „Und wenn die flüstern, kommen Sie näher her?“ AVD „Nö, eigentlich nicht.“ (AVD VIII 569-583)
Hätte der Beamte Wert auf seine Einflussnahme gelegt, so hätte er ohne weiteres das Gespräch unterbrechen können. Ein Werkdienstbeamter mit AVD-Erfahrung findet die Überwachung des U-Haftbesuches „eine peinliche Sache eigentlich. Das ist oft außer den Briefen der einzige persönliche Kontakt, den die Leute haben. Und da bin ich ein bissel zwiespältig. Auf der einen Seite, wenn man es nicht macht, ist dann der Schmuggelei hier Tür und Tor geöffnet. Und da geht es an unsere Sicherheit. Es kommt Rauschgift rein, es kommen Gegenstände rein, es können Waffen reinkommen. Schwieriges Thema. Also mir wäre es lie-
192 Hierbei ist zu beachten, dass Ermessensspielraum und Gleichbehandlungsgrundsatz keine Gegensätze darstellen. Allerdings ist bei Anwendung des Ermessens der Grundsatz zu beachten, dass Gleiches in gleichen Situationen gleich zu behandeln ist. Allerdings bezieht sich wiederum ein Teil der Beurteilung des Ermessensspielraums auch darauf, was an einer Situation gleich und was ungleich ist. Vgl. zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen im Strafvollzug M. Walter: Strafvollzug, S. 338; ferner: mündliche Mitteilung von Henning Ernst Müller, Regensburg, 16.6.2003. 160
DIE ERGEBNISSE
ber, man müsste es nicht machen. Aber um so eine Anstalt funktionsfähig zu halten, muss man es einfach machen.“ (WD III 943-960) Beamte haben im Rahmen ihrer dienstlichen Handlungsspielräume das Recht, der Gefangenengruppe anlassbezogen die Möglichkeit zur sprachlichen Vergemeinschaftung zu nehmen. Der folgende Fall zeigt deutlich, wie flüchtig kommunikatives Miteinander unter Umständen sein kann, wenn Beamte die Vergemeinschaftung oder Vereinzelung steuern: „Auf den Gängen, wenn Aufschluss ist, haben wir ja an den jeweiligen Außentüren Doppelbartschlösser. Das heißt also, noch ein spezielles zusätzliches Schloss. Und das sind ja nicht nur Flucht- sondern Rettungswege. Und da hat einer seine Zigarette rein gesteckt. Fünf Minuten nachdem der Aufschluss begonnen hatte. Da habe ich die Durchsage gemacht: ‚Einer Ihrer Vollzugspartner hat hier den Rettungsweg, das Schloss verstopft. Und weil es jetzt so ist und weil es ja jetzt in einer halben Stunde oder in zehn Minuten brennen könnte und wir Ihnen das Leben retten müssen durch diese Tür, ist jetzt Einschluss.’ So. Und das habe ich dann also durch die Rufanlage gesagt. Und dann war Einschluss. Und dann hab ich so argumentiert. Konnten Sie nichts dagegen machen. Und dann war eben der Aufschluss beendet. Nach fünf Minuten.193 Und das war zwar eine Sache von fünf Minuten, dann haben wir das Ding wieder draußen gehabt. Aber das ist eine sicherheitsrelevante Angelegenheit, das Schloss unter Umständen wieder rauszubauen. ‚Und dann bedanken Sie sich,’ hab ich gleich dazugesagt, ‚bei dem, der es gemacht hat. Sie wollen als erwachsene Menschen behandelt werden. Bitte, verhalten Sie sich auch so.’ Muss man machen. Denn nur dann werden sie solche Kindereien sein lassen. Und dann werden die gegenseitig sich erziehen. Und werden das dann auch tun. Also eigentlich ganz normal, also. Ich meine, da brauchen wir eigentlich gar nicht drüber zu reden. (AVD III 953-993) Einerseits soll aus strafvollzuglicher Perspektive Selbstjustiz unter den Gefangenen vermieden werden. Andererseits werden Gefangene mit der hier beschriebenen Maßnahme gerade dazu angehalten. Wie gezeigt wurde, ist es für Beamte ein Leichtes, auf die Qualität der Gefangenensprachgemeinschaft Einfluss auszuüben. Die Erklärung dafür ist trivial: Gefängnisse existieren zu dem Zweck, über Gefangene zu bestimmen. Allein die Tatsache, dass Beamte über die Schlüsselgewalt im Gefängnis verfügen, macht sie zu der privilegierten Gruppe innerhalb der Sprachgemeinschaft „Sie können die schönste Diskussion haben. Aber sobald ein Beamter auftaucht, egal ob mit oder ohne Uniform. Sobald der Schlüssel klappert, ist das Gespräch zuende. In jeder 193 Die Länge täglicher Aufschlusszeiten beträgt nach meiner Schätzung zwischen und einer und drei Stunden. 161
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Form. Ob das Psychologe, Pfarrer oder wer es auch immer ist. Gespräche unter Gefangenen werden durch das Schlüsselklappern oder das Erscheinen eines Beamten beendet.“ (GEF II 562-568) Ein anderer Gefangener bestätigt dies: „Das ist halt so, die haben die Schlüsselgewalt.194 Und können jetzt sagen: ‚Du gehst jetzt rein, ich schließe dich jetzt ein.’ Die haben das Recht, das zu machen. Ich kenne inzwischen viele, die dann da einen Abstand halten. Da tut sich weniger mit Beamten. Also man unterhält sich weniger mit Beamten.“ (GEF VII 188-192) Manche Mitarbeiter, unter ihnen insbesondere die Fachdienste, reflektieren das Gewaltverhältnis, welches zwischen Gefangenen und Mitarbeitern besteht, zum Beispiel so: „Die Beamten sind natürlich die Gruppe, die in erster Linie was erzählen und der Gefangene hat zuzuhören. Logisch. Weil es ist ja ein Dienstablauf da. Der Beamte gibt das vor. Man kann sagen, es ist ein bisschen militärisch strukturiert. Das heißt, es ist das gleiche Leben wie beim Militär, nämlich Befehl und Gehorsam. Die Grundrechte des Gefangenen sind ja eingeschränkt, zwangsläufig. Das heißt also, der Beamte sitzt im Regelfall am längeren Hebel.“ (FD II 337-342) Die Einflussnahme auf das Rederecht findet zwischen den beiden Gruppen Personal und Gefangene jedoch nicht nur in einer Richtung statt. Auch Gefangenen gelingt es immer wieder, auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß ihren Interessen bei den Bediensteten Geltung zu verschaffen und die aus Anstaltsperspektive erwünschte klare Trennung zwischen Insassen und Mitarbeitern unscharf werden zu lassen: Insbesondere Gefangene, die unter der Mitgefangenenhierarchie einen rangniederen Platz einnehmen, sehen als einen Ausweg aus ihrer machtlosen Lage nur den Weg über die Beziehung zu den Beamten. Ein Gefangener, der in der eigenen Gruppe bereits zu den Unterdrückten zählt, hat nichts zu verlieren. Er kann allerdings versuchen, sich insbesondere über bestimmte kommunikative Handlungen bei den Beamten unentbehrlich zu machen. Dies geschieht häufig derart, dass solche Gefangene ein gesprächiges Verhältnis zu Beamten aufbauen und gleichzeitig ihre Mitgefangenen dahingehend verpetzen, dass diese etwa unerlaubt Alkohol brauen, tätowieren, Drogen konsumieren oder in anderer verbotener Weise handeln. Dem Sprechakt des Verrats kommt im Gefängnis eine hohe Bedeutung zu. Ich war mehrfach Zeugin von Situationen, in denen ein Gefangener nur für einen kurzen Moment unter vorgehaltener Hand den Beamten ansprach, um diesem etwas über seine Mitgefangenen mitzuteilen. Auffällig war für mich dabei immer, welch weite kommunikative Kreise diese dezente Kommunikation stets zog: 194 Vgl. Gabriele Klocke: „Schlüsselträger als Zeichenträger. Überlegungen zur Semiotik des Gefängnisses“, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 52 (2003), S. 136-142. 162
DIE ERGEBNISSE
zog: Beamte wurden plötzlich sehr geschäftig in allem, was sie taten. Durch große Teile der Gefangenengruppe wanderte eine Welle der Empörung über den Verräter, dessen Identität nicht gleich bekannt wurde. Das allgemeine Gesprächsaufkommen stieg an. In den Interviews wird deutlich, dass Beamte einerseits über das nicht nur in der Gefangenenkultur gepflegte Gebot „Du sollst nicht petzen.“ informiert sind und ihm grundsätzlich auch zustimmen. Andererseits ist aus der Perspektive der Sicherheit und Ordnung der Anstalt jedoch jeder Gefangene, der von Beamten einer verbotenen Handlung überführt wird als ein Diensterfolg zu verbuchen. Verräter sind aus der Perspektive der Abteilungsbeamten nützlich. Zwei AVD-Beamte schildern dies anhand mehrerer Beispiele eindrücklich: „Wenn ich dann einmal näher und öfter mit einem Gefangenen zu tun habe, dann wird er offener und dann vertraut der einem auch was an. Und es ist auch so, dass dann auch solche Leute einem Sachen anvertrauen, die die allgemeine Sicherheit betreffen. Das heißt, wenn irgendwelche Planungen auf Gefangenenseite am laufen sind. Denunzianten und so weiter. Man muss dann natürlich wissen, wie man es einschätzt. Denn der eine will sich entweder nur beweisen oder will nur uns sagen: ‚Mensch, jetzt habe ich irgendwas gesagt.’ weil er irgendein Ziel damit verfolgt. Oder der andere will tatsächlich irgend einen Mitgefangenen nicht insofern ins Messer laufen lassen, sondern uns schützen vor irgendwelchen kriminellen Planungen. Sprich Geiselnahme oder solche Sachen. Was wir natürlich täglich befürchten müssen. Oder wir von einem Hausarbeiter gesagt bekommen: ‚Die Russen haben irgendwelche Angesetzten195. Dann geben die sich die Kante. Kann damit natürlich auch mit dem Leben oder mit der Gesundheit da spielen. Und so was muss man natürlich im Keim ersticken. Und je besser und vernünftiger das Verhältnis zu verschiedenen Gefangenen ist, desto mehr vertraut sich einer uns da auch an. Damit will er nicht denunzieren und will auch nicht andere verraten. Das muss man klipp und klar so sehen. Sondern er will einfach, weil er sagt, er will sich damit nicht identifizieren, sondern er will ganz einfach irgend einen Schaden verhüten. Und dann sagt der uns das. Denn da dran scheitert es noch oftmals: Die Information an uns. Weil die natürlich auch sagen, dass Repressalien drohen. Das ist jetzt die Kunst. Wenn das so ist, generell jetzt das Vertrauen zu schaffen, dass der Gefangene sich jetzt mit so was auch an uns wenden kann. Also ich bin auch so ein Gegner von ‚es lebe der Verrat’ und so. Da muss man schon aufpassen. Man will das ja auch nicht züchten. Aber da muss man schon aufpassen. Aber wenn es dann so was ist, wo wir tatsächlich sicherheitsrelevante oder gesundheitlich relevante Sachen im Keim ersticken können, dann ist es für mich kein Verrat und kein Denunzianten195 Gemeint ist ein selbstgebrautes, alkoholisches Getränk. 163
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
tum, sondern dann ist das Menschenpflicht.“ (AVD III 569-607, 881890) Ein Kollege sieht das ähnlich: „Es gibt Situationen, wo ein Gefangener dem Bediensteten zuhören muss, ob er das will oder nicht. Dann muss er einfach zuhören. Es gibt Situationen, wo er zuhören will, weil er einen Rat oder eine Hilfe braucht. Und umgedreht ist es sicherlich auch so, dass der Gefangene zum Bediensteten kommen kann – wenn Zeit ist, muss ich immer wieder dazusagen – und dann der Bedienstete zuhört, sich die Sorgen und Nöte anhört und dann auch mal Informationen zur Kenntnis nimmt, die für seine Situationen wichtig sind. Es gibt ja nun auch schon Situationen, wo der Gefangene sagt: ‚Herr Grün, ich weiß was.’ [lacht leise] So Informationen, die vom Dienstgang her und von der Sicherheit her wichtig sind. ‚Da hat einer einen angesetzt oder da laufen Drogensachen.’“ (AVD IX 355-373) Ein Gefangener erläutert, inwiefern ein Verräter durch sein Verhalten seinen untersten Stand in der Gefangenenhierarchie zusätzlich zementiert. Er zählt für die Gefangenen dann zu den „Leuten, die nichts davon Ahnung haben dürfen. Die sind Einunddreißiger sozusagen. Abgewiesene Leute, mit denen keiner was zu tun haben sollte.“ (GEF I 391-399) Meines Erachtens sind Hausarbeiter, auch „Reiniger“ oder „Kalfaktoren“ genannt, Wandler zwischen den Welten von Gefangenen und Bediensteten. Der Hausarbeiterposten ist wegen seines hohen Kommunikationswertes unter den Gefangenen sehr begehrt. Hausarbeiter sind für die Erledigung der Abteilungsarbeit zuständig. Sie reinigen die Abteilung (Flur, Küche, Toiletten), organisieren den Wäschetausch, geben in Begleitung eines Beamten das Essen aus, erledigen gemeinsam mit dem Beamten Transporte durch die Anstalt hin zur Kammer196, Wäscherei oder Küche. Dieses Aufgabenfeld bringt es einerseits mit sich, dass der Hausarbeiter mit vielen Gefangenen Kontakt hat und weit in der Gesamtanstalt herumkommt. In der Wäschekammer etwa treffen sich die Hausarbeiter untereinander und können so abteilungsübergreifend Nachrichten austauschen. Hausarbeiter sind jedoch nicht nur innerhalb der Gefangenengruppe einflussreiche Kommunikationspartner. Sie üben auch auf den Beamten einen viel höheren Einfluss aus, als dies alle anderen Gefangenen tun: Da der Hausarbeiter so viel auf der Abteilung zu erledigen hat, ist er nur für kurze Zeit des Tages in seiner Zelle eingesperrt. Er hält sich häufig vor dem Dienstzimmer oder darin auf, wenn der Beamte zugegen ist. Insbesondere wenn der Bedienstete alleine im Dienst ist und für einen längeren Zeitraum die Abteilung nicht verlassen kann, lädt die Anwesenheit des Hausarbeiters zu Gesprächen über Gott und die Welt, aber eben auch über die heißen Themen des Strafvollzugs 196 Die Kammer ist derjenige Bereich einer Strafvollzugsanstalt, in der die Habe des Gefangenen bis zu seiner Entlassung aufbewahrt wird. 164
DIE ERGEBNISSE
ein. Nicht selten bekommen Hausarbeiter von anderen Gefangenen die Aufgabe übertragen, dem Beamten Informationen zu entlocken oder zu einem unbemerkten Zeitpunkt Einblick in die auf dem Schreibtisch des Dienstzimmers liegenden Schriftstücke zu nehmen. Aus Gefangenenperspektive ist es hingegen nicht möglich zu erkennen, ob der Hausarbeiter, wenn alle anderen in ihren Hafträumen eingesperrt sind, nicht auch verräterisch tätig wird. Für Beamte hat ein guter Hausarbeiter eine hohe Bedeutung. Er fungiert als zeitvertreibender Gesprächspartner, als Informationsquelle oder sogar als Prestigeobjekt gegenüber Beamten anderer Abteilungen. In manchen Gefängnissen ist mir aufgefallen, dass Hausarbeiter Beamte während der inoffiziellen Kaffeepausen auf andere Abteilungen begleiten, wo sich dann die Beamten für eine Zigarettenlänge im Dienstzimmer versammeln, während die Hausarbeiter vor der Tür sozusagen abgestellt werden und dort ihrerseits Selbstgedrehte rauchen und in der Teeküche eventuell Kaffee trinken. Beamte heben vordergründig allein auf den dienstlich-strategischen Nutzwert eines Hausarbeiters ab: „Wenn ein Gefangener Hausarbeiter werden will, dann sage ich ihm klipp und klar von Anfang an: ‚Sie machen das nicht, um mir einen Gefallen zu tun. Sie machen es vermutlich auch nicht in erster Linie wegen Geld, sondern Sie machen es, damit Sie aus dem Haftraum heraußen sind. Das weiß ich. Deswegen können Sie jetzt Hausarbeiter werden. Aber sollte was schief laufen, ist das wieder vorbei. Ich bin auf Sie nicht angewiesen. Wir brauchen gute Leute. Ich halte Sie für einen guten Mann.’ Aber alle drei Monate wechseln wir sie durch. Sofern wir es uns leisten können. Es hat sicher seinen Grund, dass das gemacht wird. Aber es ist übertrieben. Man sollte es nicht so generell machen, weil es tatsächlich Gefangene gibt, da profitieren wir davon, wenn wir das länger machen.“ (AVD III 896-911) Andere Beamte geben zu, dass sie „ihren“ jeweiligen Hausarbeitern in besonderer Weise Vertrauen und Anerkennung schenken. „Es gibt da schon eine Hierarchie unter den Gefangenen. Und auch sicherlich wird die Hierarchie so von Bediensteten zu Gefangenen fortgesetzt. Wenn ein Gefangener kommt und sagt: ‚Der Flur ist schmutzig.’ und das ist halt so eine dubiose Gestalt, dann sag ich halt [leiert]: ‚Ja, ja, der Flur ist dreckig.’ Wenn jetzt der Hausarbeiter kommt und sagt: ‚Also es ist wieder dreckig und das ist nicht in Ordnung.’ dann hört man dem eher zu sicherlich. Sollte aber nicht so sein.“ (AVD IV 394-400) Gute Beziehungen zwischen Gefangenen und Beamten sind jedoch nicht zwangsläufig an den Posten des Hausarbeiters gebunden. Ein Werkdienstbeamter berichtet, dass sich das kommunikative Netz der Gefangenen eng um einen Beamten schließen kann, wenn er sich thematisch auch nur an einer Stelle in den Maschen verfängt und etwas Unerlaubtes tut. Dies nehmen manche Gefangene zum Anlass, den Beamten 165
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zu erpressen. Ein Werkdienstbeamter berichtet: „Man hat es ja auch in der Zeitung gelesen, dass ein Beamter bestochen wird von einem Gefangenen, dass er Alkohol oder Drogen oder so ins Gefängnis reinbringt. Das ist sehr wichtig [i. S. v. bedeutsam, G. K.], weil die Gefahr, dass er erpresst wird, ist hier drinnen eigentlich sehr groß. Das wissen bloß die wenigsten. Und die Gefangenen kriegen recht gut mit, auch übers Private von jedem einzelnen Beamten. Ob er Geldschwierigkeiten hat oder so. Die kriegen das mit. Kriegen sie halt mit die Gefangenen. Die können telefonieren, die können Briefe schreiben, die können unbeaufsichtigt telefonieren, wenn ein Beamter oder ein Gefangener weiß, dass ich in X wohne und da kennt er einen und sagt: ‚Du, was ist das für einer?’ Ein Gefangener hat eigentlich das Bestreben, möglichst viel über seine Bewacher zu erfahren. Das ist ganz wichtig, das kann er ja zu seinem Vorteil ausnutzen. Da haben sie natürlich, wenn ein Beamter in Geldschwierigkeiten ist und ein Gefangener kriegt das mit. Da werden größere Geldbeträge an ihn herangetragen: ‚Bring mal das meinem Mann mit,’ zum Beispiel von der Ehefrau, ‚und ich schicke Ihnen fünfhundert Mark zu oder tausend oder die Summe.’ Und sagt: ‚Bringen Sie das meinem Mann mit oder meinem Bekannten oder meinem Freund.’ Ist schon vorgekommen. Oder ich lasse mir draußen etwas zuschulden kommen und das ist hier drinnen bekannt. Und der Gefangene weiß das also durch irgendeinen anderen Bekannten und der macht es publik irgendwie oder sagt: ‚Wenn du mir nicht das und das reinbringst, bringe ich das an die Öffentlichkeit.’ Und wie halt so die Erpressungen vor sich gehen. Das sind so die großen Gefahren. Die Bestechung.“ (WD I 809-846) Eine wichtige Erfahrung, die ich insbesondere zu Beginn meiner Gefängnisforschung machte, war, dass mir Gefangene häufiger als von mir vermutet, sehr souverän mit ihren zugegeben wenigen Möglichkeiten zur Rederechtsgestaltung umgehen. Meiner Ansicht nach stehen hinsichtlich des strafvollzuglichen Geschehens nämlich nicht die Gefangenen, sondern deren Angehörige auf der untersten Stufe der strafvollzuglichen Machttreppe. Angehörige, denen an einer regelmäßigen Kontaktpflege zu ihrem inhaftierten Familienmitglied gelegen ist, werden von diesem mitunter auch abgewiesen: „Die Kommunikation mit den Eltern ist natürlich eingeschränkt. Erstens mal durch die Besuchszeiten. Die Besuchszeiten werden vorgegeben. Es ist eine bestimmte Stundenzahl. Die kann man nicht überschreiten. Das heißt, der Gefangene muss sich also wirklich überlegen: ‚Mit wem will ich reden? Für wen habe ich Zeit?’ Ich Zeit wohlgemerkt. Er ist der Entscheidende, der vorgibt: ‚Mit dem rede ich, mit dem rede ich nicht.’ Und er ist derjenige, der sagt: ‚Dem höre ich eine halbe Stunde zu und dem höre ich eine Stunde zu.’ Also, er gibt vor. Und das ist auch eine gewisse Sache, wo ich meine, dass das ganz ordentlich ist, weil er endlich mal bestimmt und nicht immer ir166
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gendwas aufs Auge gedrückt kriegt. Das war für mich also auch eine interessante Erfahrung, dass der Gefangen dann sagt hier: ‚Nö, nö, meine Sprechzeiten hier, mit dem will ich gar nicht reden, der sabbelt sowieso nur einen Scheiß.’ Beispielsweise.“ (FD II 393-404) Der Angehörigenbesuch eines Gefangenen kann in vielen Anstalten nicht spontan stattfinden. Er muss entweder schon Tage oder Wochen vorher über die Besucherabteilung des Gefängnisses und kann nur in selteneren Fällen direkt am Besuchstag angemeldet werden. Da der Gefangene monatlich nur eine begrenzte Anzahl von Besuchen haben darf, muss von ihm die Zustimmung eingeholt werden. Manchmal kommt es vor, dass Gefangene ihren Angehörigen aus unterschiedlichen Gründen den Besuch versagen. In der Regel haben die Absagen ihren Grund in einem Konflikt, den der Gefangene mit dem Angehörigen während des Besuchs möglicherweise auszutragen hätte. Andere Gefangene, die in der Drogenhändlerszene des Gefängnisses Schmuggelverpflichtungen haben, müssen eine bestimmte Anzahl von Besuchen zum Zweck des Drogenschmuggels reservieren und weisen darum manche der Angehörigenbesuche ab. In manchen Fällen werden die Angehörigen also vom Gefangenen selber daran gehindert, einen kommunikativen Kontakt aufzubauen. Dies mag in manchen Fällen sogar einen positiven Wert für das Befinden aller Beteiligten haben, nämlich immer dann, wenn beim Besuch schließlich Konflikte beschwiegen oder zerredet würden. Eine für gefängnisunerfahrene Laien unerwartete kommunikative Einflussnahme mag dann auftreten, wenn Gefangene, denen man zunächst eine Abhängigkeit vom Wohlwollen der Anstaltsleitung, eben diesen Personen das Gespräch versagen und das kommunikative Feld verlassen: „Ein Gefangener kam vor kurzem bei mir rein. Er kommt rein: ‚Grüß Gott, Herr Schlips.’ Guckt mich an: ‚Ich möchte wieder auf die Zelle, ich spreche nicht mit Ihnen.’ Dann versucht man, ihn zu beschwichtigen. Da ist man natürlich auch niedergeschlagen irgendwo, dass man sagt: ‚Habe ich versagt? Habe ich was falsch gemacht? Lag es an meiner Art, wie ich ihn empfangen habe? An der Situation? Woran lag es?’“ (AL III 390-400) Auch ich selber habe es bisweilen erlebt, dass Gefangene mich im Rahmen eines Wortgefechts auf dem Abteilungsflur haben stehen lassen und sich mit zugeknallter Tür in ihren Haftraum zurückzogen. Solche Begebenheiten haben auf das Personal in der Tat teilweise die Wirkung eines ethnomethodologischen Krisenexperimentes: Die selbstverständliche Annahme des Personals, gegenüber einem Gefangenen jederzeit das Rederecht durchsetzen zu können, wird untergraben. Ich habe im Gefängnis stets nach Gesprächssituationen Ausschau gehalten, in denen sich in meiner Anwesenheit zwischen Gefangenen und Beamten kommunikatives Handeln im lebensweltlichen Sinn entfal167
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tet. Mir sind kaum solche Begebenheiten begegnet, noch wurde mir von ihnen berichtet. Eine Ausnahme bildet die Aussage eines Werkdienstbeamten: „Man muss persönliches Entgegenkommen zeigen, sonst hat es überhaupt keinen Wert. Wir machen es zum Teil auch so, dass wir uns raussetzen an den Arbeitsplatz hin und schaffen dann mit. Dann ist es am Anfang ruhig. Aber so nach einer halben Stunde taut das auf und dann sind wir dann mitten im Geschehen. Und dann geht es los. Dann ist das so eine rege Kommunikation, wo man merkt: ‚Aha, die wollten das eigentlich, dass man das vielleicht ein bisschen öfters macht.’ Die nehmen das dann richtig dankbar an. Und man ist da mitten im Gespräch. Dann durch irgendwelche Telefonate unterbrochen. Aber dann knüpft es sofort wieder an und es geht sofort wieder weiter. Die sagen: ‚Oh, der schafft sogar bei uns mit. Das muss er eigentlich gar nicht machen. Beamte schaffen ja eigentlich nichts und der schafft mit da.’ Und das hebt einen schon ein bisschen. Leider hat man nicht genug Zeit, das zu machen. Durch die ganzen administrativen Aufgaben kann man das nicht machen.“ (WD III 367-783) An dieser Stelle möchte ich an die habermassche Definition des Machtbegriffs erinnern: Macht entsteht überall dort, wo Sprecherhörer dazu in der Lage sind, sich zu zwanglosen Kommunikationsgemeinschaften zusammenzufinden. Meines Erachtens bietet sich in der Praxis des Strafvollzugs häufig die Gelegenheit, mit oben genanntem „persönlichen Entgegenkommen“ machtvolle Gesprächsgruppen zustande kommen zu lassen. Mir ist insbesondere ein strafvollzugliches Institut aufgefallen, das lebensweltliche, d. h. herrschaftsfreie Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Insassen ermöglicht. Es handelt sich dabei um die originär kirchenzugehörige Schweigepflicht des seelsorgerlichen Gesprächs: Was der Gefangene dem Seelsorger (nicht dem Psychologen oder Sozialarbeiter!) offenbart, muss der Anstaltsleitung nicht weitergegeben werden. Zwei Fachdienstmitarbeiter verwenden unabhängig voneinander den Begriff des Vertrauens, der mit dieser kommunikativen Praxis verbunden ist: „Letztendlich brauchen die Gefangenen die Beamten, um was zu erreichen. Also muss man ihnen bestimmte Dinge zuarbeiten, und in einer Therapie passiert das immer wieder, dass Leute natürlich zur Therapie oder Psychologin gehen. Aber mit einer Absicht auf ihren Vorteil. Damit ist dieses System einfach auch ein fragliches System. Und die wenigen neutralen Personen, das sind nun halt mal die Pfarrer oder irgendwelche externen Leute. Geschichten erzählen basiert auch nur auf Vertrauen. Ohne Vertrauen läuft nichts.“ (FD I 140-152) „Sonst kommt ja immer so der Eindruck auf: ’Der macht alles für die Gefangenen und für uns macht der nichts.’ De facto ist es so, ich bin Gefangenenseelsorger und kein Gefängnisseelsorger. Aber ich denke mal, dass beide Seiten wichtig sind. Weil wir arbeiten alle mit den Gefange168
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nen zusammen, und aus diesem Grunde ist es wichtig, meine ich, dass der Seelsorger ein ehrlicher Makler ist, irgendwo, dem man vertrauen kann, von beiden Seiten.“ (FD II 307-318) Dabei darf nicht übersehen werden, dass dem Schweigepflichtigen infolge seiner Möglichkeiten ebenfalls Macht zukommt. Wissensbestände, die aus einem Beichtgespräch resultieren, können für den Seelsorger allerdings auch zu einer Bürde werden, wie das abschließende Beispiel zeigen soll: „Ein Riesenproblem war: Ein Gefangener hat mir erzählt, er bricht also aus. Hat mir auch erzählt, wie. Und Menschenleben standen auf dem Spiel. Das ganze unter dem Beichtgeheimnis. Da sitzt du jetzt dann da und denkst: ‚Was machst du denn jetzt? Nichts. Beichtgeheimnis.’ So. Und dann muss ich natürlich nach Lösungen suchen und irgendwas machen. Und ich weiß dann manchmal nicht, wie ich damit umgehen soll. Also ich weiß es schon, es [lacht] ist klar vorgeschrieben, aber ich suche dann nach Möglichkeiten, um das vielleicht abzumildern oder sonst was.“ (FD II 10901101) Die empirischen Belege zeigen, welch unterschiedlicher Einfluss den einzelnen Gefängnisangehörigen in der hierarchisch aufgebauten Sprachgemeinschaft zukommt.
Distanziertes und vertrautes Sprechen Nichts Persönliches an Gefangene. (ein Abteilungsbeamter) Und auf einmal klemmt die Säge und dann fragt man natürlich: ‚Was ist denn los? Hast du Schwierigkeiten irgendwo, was?’ (ein Werkdienstbeamter)
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass ich in meiner Arbeit zur linguistischen Bezeichnung aller Gefängnisangehörigen den Begriff „Sprachgemeinschaft“ verwende. Dieser Begriff ist in mancherlei Hinsicht jedoch irreführend: Das Lexem „-gemeinschaft“ suggeriert ein konsensuelles Beisammensein von Menschen, die Dinge gemeinsam haben oder tun. Das Lexem „Sprach-“ reduziert den Gemeinschaftsaspekt auf das Sprachhandeln. Ich möchte mit dieser Begriffswahl nicht davon ablenken, dass sich die Beamten und Gefangenen selber aus ihrer eigenen Perspektive als Zwangsgemeinschaft definieren.197 Während dieser 197 Aber allein die Tatsache, dass sie gemeinsam diesen Begriff zur Selbstbeschreibung wählen, lässt sie zumindest in dieser Hinsicht zur Sprachgemeinschaft werden. 169
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Begriff für die Beamten nur bedingt zutrifft – niemand, der sich für die Arbeit als Beamter im Gefängnis entschied, wurde dazu gezwungen –, beschreibt er die Situation der Gefangenen angemessen: Sie können sich nicht aussuchen, ob sie inhaftiert werden und welcher Beamte auf ihrer Abteilung arbeitet. Gefangene sind gezwungen, sich mit der Anwesenheit von Beamten abzufinden. Beamte hingegen haben sich mit dem Betreten des Gefängnisses für ein Berufsfeld entschieden, das einerseits die Unterstützung und Resozialisierung der Gefangenen zum Ziel hat, andererseits jedoch die Wahrung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt sowie die Sicherheit der Allgemeinheit beinhaltet. Der Resozialisierungsauftrag ist damit verbunden, zu den Gefangenen so viel Nähe aufzubauen, wie für die Behandlung notwendig erscheint. Der Sicherheitsauftrag bringt es mit sich, den Gefangenen als potentiellen Täter, Ausbrecher oder sogar Geiselnehmer anzusehen. An keiner anderen Berufsgruppe wird diese Doppelbindung im Arbeitsauftrag deutlicher als an der Gruppe der AVD-Beamten: Sie sind es, die in konkreten Gefahrensituationen Maßnahmen zur Sicherung der Insassen treffen müssen. Alle anderen Berufsgruppen der Verwaltung, der juristischen Leitungsebene sowie der Fachdienste werden dezidiert dazu angehalten, sich in konkreten Gefahrensituationen zunächst im eigenen Büro einzuschließen oder sich zumindest vom aktuellen Geschehen zunächst fernzuhalten. Keiner Berufsgruppe des Gefängnisses stellt sich die Frage nach Nähe oder Distanz gegenüber den Gefangenen häufiger und dringlicher als den Abteilungsbeamten. Die Erwartungsdichte hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber Gefangenen ist komplex und durch Widersprüche gekennzeichnet. Im Folgenden wird aus linguistischer Perspektive geschildert, wie Beamte gleichzeitig versuchen, resozialisierungsnotwendige Nähe wie auch sicherheitsnotwendige Distanz gegenüber den Gefangenen zu leben. Der Grad der zwischenmenschlichen Nähe bemisst sich im Gefängnis daran, wie viel man von seinem eigenen Privatleben preisgibt. Viele Beamte bilden nach Ablauf einer gewissen Dienstzeit eine Vorstellung darüber aus, welche Wissenselemente über sich selber sie Gefangenen zugestehen und welche nicht. Die Beziehung zu Gefangenen ist erwartungsgemäß asymmetrisch, da letztere gegenüber Beamten offenbar mehr über ihre Gefühle und ihr Privatleben äußern als Beamte dies gegenüber Gefangenen tun. Ein Beamter schildert das Verhältnis zwischen Gefangenen und AVD-Beamten wie folgt: „Ich denke, dass das von uns aus mehr eine einseitige Geschichte ist. Also ich würde wahrscheinlich nie persönliche Sachen preisgeben von mir gegenüber Gefangenen. Aber sicherlich ist das so: Die Gefangenen wollen ja da mit jemandem reden. Besuche, die die von ihren Angehörigen haben, das ist ja schon mal nur ein ganz geringes Maß. Wenn man mal die Zeit bedenkt, wie lange die 170
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dann da sind. Das sind ja nur drei Stunden im Monat. Deswegen ist das dann auch naheliegend, dass die sich bestimmte Bedienstete rauspicken: ‚Also mit dem rede ich gerne mal.’ Aber dann ist es halt Zeug, was die loswerden wollen, was man sich anhört, wo man ein paar Ratschläge gibt. Aber von uns zum Gefangenen geht persönlich selten was. Höchstens, dass mal was rausrutscht. Dass man mal sagt: ‚Ja, das ist bei mir auch so gewesen.’ Direkt wissentlich, dass man jetzt was erzählt, nee. Würde ich eigentlich auch nicht wollen.“ (AVD IX 46-60) Dass dieses Vorhaben, im Gespräch Distanz zu wahren, regelmäßig seine Grenzen sogar bei sicherheitsorientierten Beamten findet, zeigt eine Bemerkung von demselben Beamten wenige Redeminuten später: „Und manchmal sicher auch, wenn die Zeit dazu da ist, sicher auch der Stationsbedienstete dann dem Gefangenen zuhören tut. Dass die da hinkommen. Ich habe das schon oft erlebt, wenn ich dann dazukomme, dass dann der Gefangene schon da drinne im Dienstzimmer saß, einfach zwanglos zum Gespräch, zum Gespräch.“ (AVD IX 159-164) Der Einlass von Gefangenen in das Dienstzimmer der Abteilung stellt als solcher bereits ein Zeichen von Nähe dar, das der Beamte gegenüber dem Gefangenen etabliert. Hierzu muss man wissen, dass es aus Anstaltsperspektive nicht gern gesehen wird, wenn Gefangene sich im Dienstzimmer aufhalten. Es stellt für den einzelnen Beamten mitunter ein großes Problem dar, eine einheitliche Linie der angemessenen Abgrenzung gegenüber Gefangenen zu finden, denn nicht alle Gefangenen werden von den Beamten als abgrenzungswürdig eingestuft: „Von meinen Gefühlen und so weiter rede ich nur, was jetzt das Dienstliche anbetrifft mit dem Gefangenen. Vielleicht muss man auch noch unterscheiden, mit wem ich über persönliche Sachen rede. In der Regel mit keinem. Weil wir müssen ja befürchten, dass die das dann gegen uns verwenden. Und man weiß ja nie, mit wem man das zu tun hat. Aber ich denke auch, dass, je offener ich einem Mitmenschen generell, speziell dann aber auch einem Gefangenen gegenüber wirke, desto leichter tut er sich dann auch im Umgang mit mir. Wir wollen aber keine Freunde unter den Gefangenen.“ (AVD III 75-83) Meines Erachtens sind persönliche Gespräche mit Gefangenen spätestens dann kritisch zu bewerten, wenn sie die persönlichen Gespräche mit Kollegen ersetzen sollen: „Ja, ich habe auch schon eine Menge Gespräche mit Gefangenen geführt, die auch eigentlich oftmals viel interessanter sind, als wenn man sich von Bediensteten zu Bediensteten unterhält, weil dort eine ganze Menge rüberkommt. Die lassen nämlich oftmals auch ihre Gefühle raus. Vor allen Dingen, wenn man dann so länger mit ihnen zu tun hat und auch öfter mal die Gelegenheit hat, solche Gespräche zu führen. Und es steckt eigentlich ein ganz anderer Mensch dahinter, als den man sich da überhaupt vorgestellt hat. Und das sind so recht interessante Sachen, wo man dann wirklich sich recht zusammenreißen 171
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muss, dass man nicht zu viel von sich selber rauslässt. Das ist dann auch wieder so ein Phänomen: ‚Was kann ich jetzt dem von mir selber erzählen und was lasse ich lieber stecken?’ Das ist dann nicht immer so einfach zu trennen.“ (AVD VI 35-50) Ein Anstaltsleiter scheint sich selber ebenfalls nicht ganz im Klaren darüber zu sein, was er denn nun von seinen Beamten im Bereich der Sicherheit erwartet: „Die ganzen technischen Sicherheitsanlagen. Die führen nur dazu, dass die Atmosphäre im Gefängnis noch angespannter wird. Indem man sich alle Löcher verbaut, sucht man sich dann halt andere Wege, um raus zu kommen. Ob das nun Geiselnahme oder ähnliche Sachen sind. Und die größte Sicherheit, die ein Bediensteter da haben kann, ist eigentlich die Nähe zum Gefangenen. Und das ist ja die Gratwanderung, die man halt auch im täglichen Umgang zu bewältigen hat: So ein ausgewogenes Nähe-Distanzverhältnis.“ (AL VI 629-644) Meine bei den Gefangenen erfragten Daten bestätigen mir jedoch nicht, dass Inhaftierte sich auffällig häufig in vertraulichen Angelegenheiten an die Beamten wenden. Gefangene suchen die zwischenmenschliche Nähe eher unter ihresgleichen. Aber auch dies geschieht eher selten, denn es muss sich zunächst einmal ein geeigneter und vertrauenswürdiger Ansprechpartner finden: „Es gibt Gefangene, die sehr intensiv ihr Herz nach außen tragen. Aber die Masse der Gefangenen schließt eigentlich zu und es bilden sich ganz, ganz kleine Gruppen, also Leute die sich über Jahre kennen. Die reden dann über Gefühle.“ (GEF VI 63-66) Beamte des Werkdienstes haben häufig ein vertrauteres Verhältnis zu den Gefangenen als die Abteilungsbeamten.198 Offenbar können es sich erstere eher leisten, sich Gefangenen anzunähern. Die Mehrzahl der befragten und beobachteten Werkdienstbeamten vermittelte mir eine solche entspannte Nähe zu den Insassen: „Ich spreche eigentlich viel mit Gefangenen. Ich habe bei uns hier im Vollzug zwei Gefangene, wo mir eigentlich ein bisschen näher stehen. Mit denen habe ich Unterricht gemacht beim Berufsschulabschluss für die Schreinerlehre. Und habe die Leute eigentlich so kennen gelernt, dass sie ehrlich sind, offen sind, und da reden wir eigentlich auch viel Privates. Der eine Gefangene hat lebenslänglich. Der hat seine Frau umgebracht und privat rede ich mit dem eigentlich solche Sachen und andersrum, er erzählt mir von sich aus immer wieder, wie er darunter leidet, über den Mord, wo er an seiner Frau begangen hat. Und wir haben uns schon viel unterhalten. Ich versuche ihn auch manchmal zu trösten. Und er spendet mir zwischendurch auch 198 Die Gründe liegen laut Michael Walter darin, dass die Gefangenen in den Werkdienstbeamten eher Vorgesetzte sehen, die ihnen als Meister etwas beibringen oder ihnen Arbeit vermitteln, während die Abteilungsbeamten in erster Linie Freiheitsentzug vollziehen. Vgl. hierzu M. Walter: Strafvollzug, S. 217. 172
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ein bisschen Trost. Und das freut mich eigentlich, dass das so ist.“ (WD I 18-41) Werkdienstbeamte setzen sich häufig auch für die Probleme ihrer Gefangenen ein und schaffen in ihrem Dienstzimmer noch häufiger als Abteilungsbeamte Platz für ein vertrautes Gespräch: „Es kommt relativ selten vor, dass über private Geschichten gesprochen wird hier. Wir merken das, wie sie arbeiten. Manchmal geht einer voll aus sich raus und auf einmal klemmt die Säge und dann fragt man natürlich: ‚Was ist denn los? Hast Du Schwierigkeiten irgendwo, was?’ Dann hol ich den für ein Vieraugengespräch hier ins Dienstzimmer rein und dann erzählt der mir dann seine Geschichte. Aber das ist eigentlich ganz selten, dass die sich uns ein bisschen offenbaren. Und dann muss ich auch sagen, kommt man schlecht hin. Schlecht an die Leute ran. Wollen wir mal sagen, man hat, was weiß ich, eine viertel, halbe Stunde Zeit, über irgendwelche privaten Sachen, wo es eben draußen absolut nicht mehr geht, wo er keinen Ansprechpartner mehr hat und überhaupt keiner mehr an den rankommt. Auch nicht der Sozialdienst oder Pfarrer oder sonst irgendwer. Obwohl wir dann auch in unserer Ausbildung begrenzt sind, das psychologisch und so zu betreuen.“ (WD IV 14-33) Gefängnismitarbeiter, die darüber informiert sind, dass die Bereitschaft zum vertrauten Gespräch auch kulturbedingt ist, können besser mit emotionalisierter oder distanzierter Rede von Gefangenen umgehen. Ich habe es während meiner teilnehmenden Beobachtung selber erfahren, dass bestimmte Kulturgruppen unter den Gefangenen mittels ihrer unterschiedlichen Weise der zwischenmenschlichen Annäherung unterschiedliche Grade an Nähe bei mir evozierten. „Also das Entscheidende ist, inwieweit der Einzelne noch zu seiner eigenen Emotionalität eine Verbindung hat. Je mehr die da ist, desto leichter kann hier eine Öffnung passieren. Je weniger die hier vorhanden ist, desto größer ist die Vorsicht oder überhaupt das Wagnis, sich einzulassen auf Emotionalität. Und da gibt es sicher in den Kulturgruppen riesige Unterschiede. Arabische Kultur, türkische Kultur, die Italiener, die einfach viel emotionaler mit sich selber schon zugange sind als vielleicht die russische Kulturgruppe, die eine ganz große Distanz lebt und aufbaut gegenüber allem. Gegenüber unserer westlichen Gesellschaft oder Struktur. Und wenn da eine Oberskepsis da ist und so gut wie keine Vertrauensbasis geschaffen werden kann, braucht es sehr, sehr hohen Aufwand, eine Brücke zu schlagen, damit das passieren kann.“ (FD I 164-177) Welches sind nun die Faktoren, die es den Angehörigen des Vollzugs erleichtern, kommunikative Nähe zu leben? Ein Maximum an Nähe wird sicherlich im Bereich der Seelsorge erreicht, wo die Schweigepflicht dem vertrauten Gespräch einen schützenden Rahmen eröffnet. „Es gibt Gefangene, wo eine Beziehung wächst, wo auch Nähe entsteht. Und die Nähe geht so weit, dass es keine Geheimnisse mehr gibt. Und 173
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die Geheimnisse sind sowohl also auf den Vollzugsalltag bezogen, zum Beispiel es bereitet einer seine Flucht vor. Das ist ein großes Geheimnis. [lacht]” (FD I 22-26 ) Ebenso wie der Gefangene VI es oben beschrieben hat, sehen auch die Beamten die gemeinsam verbrachte Zeit als einen Grund dafür an, warum sie zu manchen Gefangenen im Gespräch eine zwischenmenschliche Nähe aufbauen: „Je länger man, das ist aber ganz menschentypisch, mit einem Gefangenen im Haus zu tun hat, desto intensiver sind auch deren Gespräche mit uns oder vertraulicher, was das Privatleben betrifft.“ (AVD III 479-482) Aus der Perspektive der Anstaltsleitung ist eine Nähe zwischen Gefangenen und Beamten meist nicht gern gesehen. Einzig das Duzen oder Siezen von Gefangenen geben auf sprachlich Ebene Auskunft darüber, ob sich ein Beamter Gefangenen möglicherweise über das normale Maß hinaus genähert hat. Das Duzen von Gefangenen ist aus mehrerlei Gründen untersagt. Die entsprechende Anweisung in den DSVollz lautet: „Der Gefangene wird mit ‚Sie’ angesprochen. Die im bürgerlichen Leben üblichen Anreden sind zu gebrauchen.“199 Einerseits soll damit gewährleistet werden, dass das „Du“ nicht zu eventuellen Degradierungszwecken gegenüber dem Insassen eingesetzt wird. Andererseits will man verhindern, dass das Du im sprachlichen Umgang die Grenzen zwischen Gefangenen und Beamten aufweicht. Ein Beamter sieht das Problem wie folgt: „Ich kenne unheimlich viele Kollegen und Kolleginnen, die Gefangene duzen. Ich muss nicht, wenn ich zu jemandem eine gewisse Beziehung aufbauen will, unbedingt auf das Du kommen. Also jetzt nur speziell auf Gefangene bezogen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn mir jemand sein Herz genauso ausschüttet, tolle Dinge erzählt, auch wenn ich den nicht duze, und der mich auch nicht. Dass bleibt auf der Sie-Schiene. Derjenige weiß aber trotzdem, dass ich ein Zuhörpartner bin. Weil meistens geht es ja darum, dass die jemand möchten oder jemanden suchen, der zuhört. Der einfach nur da ist und dem sie ihre Geschichte erzählen können. Der auch nicht groß drüber wertet oder urteilt, sondern einfach zuhört. Und der sich ihre Sichtweise über eine bestimmte Situationen anhört. Und ich denke, da machen viele den Fehler, dass sie dann meinen, diese vermeintliche Nähe müsste automatisch mit dem Du gekoppelt sein, damit, dass man sich gegenseitig duzt. Da bin ich eben anderer Meinung. Ich habe dann halt auch die Erfahrung gemacht, dass es dann schwierig wird, dass sich die Leute dann halt auf diese Du-Schiene begeben, dass die dann zum Teil auch die Gefangenen
199 Wortgleich formuliert in Nr. 19 UvollzO. 174
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schon fast so als Ansprechpartner haben.“ (AVD I 67-85)200 Manchmal sind es aber einfach auch individuelle Vorlieben oder dienstliche Methoden einzelner Beamter, die sie dazu bringen, zu bestimmten Gefangenen mehr Nähe aufzubauen als zu anderen. Für einen Anstaltsleiter zum Beispiel zählen die Raucher zu denjenigen Gefangenen, denen man anhand einer angebotene Zigarette das Gefühl der Ruhe und des Aufgehobenseins vermitteln kann. Er nutzt das gemeinsame Rauchen als Mittel zur Gesprächsführung: „Zigaretten sind im Umgang mit den Gefangenen ein hervorragendes Krisenreaktionsmittel. Wenn ein Gefangener sehr erregt ist, dann ist es auch mir schon häufig vorgekommen, dass es dann ausreicht, wenn man zu dem Gefangenen sagt: ‚Hier, nehmen Sie mal eine Zigarette, rauchen Sie erst mal eine oder rauchen wir erst mal eine.’ Und dann entspannt sich schon dadurch die Situation ganz erheblich. Und häufig geht es ja gar nicht so sehr um sachliche Auseinandersetzungen, sondern um atmosphärische Spannungen.’“ (AL VII 19-26) Manche jüngere Beamte sind der Auffassung, insbesondere zu alten Gefangenen könne man Vertrauen haben. Ein Abteilungsbeamter gestattet sich und einem Insassen immer dann eine besonders vertraute Form der Gesprächsbeziehung, wenn dieser altersmäßig weit von ihm entfernt ist: „Ich habe da einen, der ist [Alter des Gefangenen anonymisiert]. Der könnte mein Vater sein. Wenn ich mich mit dem unterhalte und ich merke, warum er da ist, und der erzählt mir so ein bissel was. Und er merkt, dass ich auf ihn eingehe, das heißt, ich lege ihn extra auf einen Stock, wo auch ein anderer älterer Mann ist, ich lege den nicht zu einem jüngeren hin, ich will den nicht zu viel Jungen oder zu viel Ausländern hin. Wenn, er irgendwann einmal merkt, dass wir schon auf ihn speziell jetzt so als älteren Menschen eingehen. Er war nie straffällig, hatte nicht einmal einen Strafzettel. Und dann war er lange Jahre mit der Frau verheiratet und die wurde tot bei ihm gefunden. Und jetzt habe ich solch einen Mann bei mir, der mein Großvater sein könnte. Mit so einem kann ich natürlich anders reden. Mit so einem kann ich auch mal offener reden, auch wenn das jetzt – in Anführungszeichen, das ist schlimm, was ich jetzt sage – ein Totschläger ist.“ (AVD III 541-560)
200 In meiner Arbeit finden sich an vielen Stellen Zitate von Beamten, die zur Darstellung ihrer Gedanken in direkter Rede ihre eigenen ehemaligen Auseinandersetzungen mit Gefangenen schildern und dabei den betreffenden Gefangenen duzen. Meines Erachtens zeigen bereits diese Zitate, dass es mit dem Vorsatz, Gefangene zu siezen, zumindest bei den genannten Beamten nicht weit her ist. Entsprechende Zitate finden sich in den Kapiteln „Distanziertes und vertrautes Sprechen“ (WD IV 14-33), „Sprache und Sicherheitstechnik“ (AL V 958-970) und (AL V 921-926), „Rechtfertigungen“ (WD II 288-318), „Der Täter-Opfer-Ausgleich als Gesprächskultur“ (AL VIII 941-958). 175
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Dass Nähe zwischen Beamten und Gefangenen auch dem Zweck der Behandlung von Gefangenen dienen kann oder dass das Empfinden von Nähe zu einem Menschen im Gefängnis den Einzelnen vor gefühlsmäßiger Isolation und Resignation bewahren kann, wird von den Befragten allenfalls in den Reihen der Fachdienste explizit bestätigt. Beamte äußern sich bis auf folgende Ausnahme in dieser Hinsicht gar nicht: „Wir müssen mit den Leuten reden, wir müssen die behandeln. Nicht bloß bearbeiten, wie eine Maschine. Da fehlt einfach die Zeit, da fehlt das Personal, weil da sind tausend Aufgaben, die wichtiger sind, als ein Gespräch. Oder wenn jetzt ein Gefangener ein Problem hat, wenn der sagt: ‚Ich werde damit nicht fertig, ich tu mir was an.’ Also mit solchen Leuten muss man schon reden. Da ist Reden ganz wichtig, weil man da auch viel Power rausnimmt, dass der hinterher sagt: ‚Jetzt habe ich darüber geredet. Jetzt ist mir wohler, jetzt lasse ich das erst mal.’“ (AVD IX 125130, 420-425)
Sprache und Sicherheitstechnik: die Gegensprechanlage Trennender gehts nimmer mehr. (ein AVD-Beamter) Dieses Vertrauen, wenn ich drücke. Dann kommt jemand. (ein Gefangener)
Gegensprechanlagen werden in Gefängnissen zu folgenden Zwecken eingesetzt: Wer schon einmal eine Justizvollzugsanstalt besucht hat, weiß, dass im Eingangsbereich aber auch in Bereichen der Sicherheit, wie z. B. der Zentrale, der Zugang nur möglich ist, indem man Schleusen bzw. elektrisch verschließbare Türen passiert und mit einem Beamten des Aufsichtspersonals Kontakt aufnimmt, der den Durchgang von bestimmten Kriterien abhängig macht. So muss man am Eingang als Besucher etwa einen Personalausweis vorzeigen und einen Grund für das eigene Kommen angeben. Auch Rechtsanwälte müssen sich ausweisen. Das eigene Gefängnispersonal muss das nicht. Die Gesprächskontakte mit den Beamten der Außenwache sind kurz und ihr Inhalt ist auf das Notwendige reduziert. Der Beamte spricht in der Regel anhand einer Gegensprechanlage mit der um Durchlass bittenden Person und ist für diese durch eine dicke Panzerglasscheibe sichtbar. Zum Zweck des Austauschs von Dokumenten bzw. Ausweisen dient eine Durchreiche. Auf den Abteilungen funktioniert die Gegensprechanlage über technische Bauteile, die sowohl im Dienstzimmer der Beamten als auch in jedem Haftraum angebracht sind. Die Möglichkeiten, sich zu Wort zu melden, 176
DIE ERGEBNISSE
sind unterschiedlich verteilt: Gefangene können sich mittels Knopfdruck im Dienstzimmer melden, wo auf einem Monitor die Haftraumanordnung der Abteilung abgebildet ist und wo an der Stelle des entsprechenden Haftraums ein Licht aufleuchtet. Der Beamte fragt den Gefangenen dann nach seinem Wunsch, dieser antwortet wiederum darauf. Die Beamten haben die Möglichkeit, entweder nur mit einem Gefangenen Kontakt aufzunehmen oder gleichzeitig zu mehreren bzw. zu allen Gefangenen gleichzeitig zu sprechen. Bei allen Formen der Kommunikation mit der Gegensprechanlage ist zu beachten, dass die Gesprächspartner bei den meisten Anlagen nicht gleichzeitig sprechen können, sondern dass nur diskrete Redebeiträge möglich sind. Nach meinem Kenntnisstand hat der Beamte die Möglichkeit, den Gefangenen mittels Ausschalten der Anlage in seinem Redefluss zu unterbrechen, während die Anlage im Haftraum für die Mitteilung des Beamten immer empfangsbereit ist. Während der Nacht werden alle Anlagen der Hafträume auf die Zentrale umgeleitet, wo sich Nachtdienstbeamte um die Anliegen der Gefangenen kümmern. Der Vorläufer der Gegensprechanlage in Gefängnissen ist die Lichtrufanlage, wie es sie auch in Krankenhäusern gibt. Wenn ein Gefangener von dem Beamten etwas möchte, drückt er einen Knopf, und an der Außenwand über seinem Haftraum leuchtet ein Licht, auf das der Abteilungsbeamte reagiert. In der Mehrzahl der von mir besuchten Gefängnisse sind Gegensprechanlagen auf den Abteilungen und im Eingangsbereich vorhanden. Im Folgenden möchte ich Sinn und Zweck dieser technischen Einrichtung ebenso beleuchten wie deren Nachteile. Dabei liegt der Schwerpunkt meiner Darstellung bei der Gegensprechanlage auf den Abteilungen. Die meisten Befragten halten die Gegensprechanlage für nützlich, obwohl sie auch über deren Nachteile reflektieren, wie sich weiter unten zeigen wird. Anstaltsleiter verweisen darauf, dass man auf die Gegensprechanlage bei all ihren Nachteilen nicht verzichten kann, denn sie bringe unter dem Strich bedeutende Vorteile mit sich: „Man [kann] sehr schnell Durchsagen machen. Denken Sie an Sonntag früh: Die meisten schlafen noch. Mache ich halt eine kurze Durchsage: ‚Gottesdienst beginnt um neun Uhr dreißig. Also wenn jemand mit möchte, bitte schön in fünf Minuten seid ihr fertig, weil sonst geht es nicht mehr, wir führen nicht nach.’ Das kann ich mit der Zellenrufanlage unisono sofort und sehr schnell machen, ohne dass ich also jetzt wieder an jeden Haftraum hingehen muss. Oder bei der Lichtrufanlage wieder klopfen und sagen: ‚Bist du jetzt soweit?’ Dann weiß es aber der andere eine Viertelstunde eher, der andere eine Viertelstunde später, dann schreit der andere: ‚Ich habe es ja jetzt erst erfahren.’“ (AL V 958-970) Die Beamten müssen nun nicht mehr wegen jeder Anfrage zum Haftraum laufen. Ein entscheidender daraus resultierender Vorteil davon ist die Einsparung von 177
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Personal. Diese Sichtweise wird nicht nur von den meisten Beamten vertreten, sondern auch von einigen Gefangenen geteilt: „Für den Bediensteten bedeutet das, dass der dasitzt. Die haben ihren Computer im Dienstzimmer. Dass der mit mir reden kann. Also der muss da nicht erst rumrennen im Hafthaus, an meine Türe rammeln und zu mir kommen.“ (GEF IV 596-598) Ein weiterer Vorteil der Anlage wird darin gesehen, dass sich Gefangene bereits bei der Signalisierung ihres Bedürfnisses auch zu diesem äußern können, d. h. der Beamte ist bei seinen Reaktionen bereits vorinformiert: „Vorteile insoweit: Wenn sich ein Inhaftierter meldet von seinem Haftraum, eine Situation schildert, wo er Hilfe braucht, kann dann die Hilfe effektiver gestaltet werden, weil die Bediensteten, sofort eingerichtet auf diese konkrete Situation, bestimmte Hilfsmittel mitnehmen können.“ (AVD VII 890-893) Auch bei Notfällen kann infolge der prompten Kontaktaufnahme durch die Anlage auch schnelle Hilfe geleistet werden. Dies wissen ebenfalls beide Seiten zu schätzen: „Mit Gegensprechanlage ist natürlich schon besser, wenn irgend ein Notfall ist. Du kannst dem Beamten sofort mitteilen: ‚Mein Zellenkollege hat sich geschlitzt.’ oder ‚Der will sich weghängen.’ oder sonst irgendetwas.“ (GEF III 600-602) Kein Befragter äußert sich jedoch dahingehend, dass die Gegensprechanlage auf den Abteilungen unverzichtbar sei. Vielmehr kommen sie neben der Aufzählung der Vorteile ohne meine Aufforderung zur Aufzählung der Nachteile einer solchen Kommunikationsform. Aus der Perspektive der Anstalt birgt die Anlage auch eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung: „Sie hat natürlich den Nachteil, dass der Beamte nicht mehr wie ehedem an die Haftraumtüre kommt. Und birgt deswegen enorme Gefahren. Gefahren sind hauptsächlich, dass man Stimmungen, also zum Beispiel autoaggressiver Art sowie Suizidgefahr nicht mehr erkennt. Aber auch das Gegenteil, Aggressionen, dass sich da zwei an den Hals gehen oder so was, das kann man nicht merken. Die Gegensprechanlage hat sich in den Hafträumen, die ja häufig jetzt infolge Überbelegung doppelt belegt sind, auch als eine gewisse Gefahr dargestellt. Es muss sich nämlich der Stärkere, der den anderen irgendwie drangsaliert, eben nur so aufhalten, dass der nicht an die Gegensprechanlage kommt. Dass der also Hilfe nicht herholen kann. Und das wird auch ständig gemacht.“ (AL II 180-190) Fast alle Befragten nennen Nachteile, welche die Gegensprechanlage für zwischenmenschliche Beziehung mit sich bringt: „Ist doch blöder mit so einem Kasten an der Wand zu reden, wie wenn ich jemandem ins Gesicht gucken kann.“ (FD III 765-766) „Ich würde mir lieber auf der Station zwei Bedienstete mehr wünschen und diese Anlage weg. Weil dann die Verpflichtung für die Bediensteten besteht, hinzugehen und mit dem 178
DIE ERGEBNISSE
Gefangenen selber von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Weil es fehlen wesentliche Elemente der Kommunikation, wie Gestik und Mimik, die ja von dem einen oder anderen mehr oder weniger bewusst auch aufgenommen wird, während des Gesprächs.“ (AVD VII 916-925) „Eine richtige Sprachbeziehung ist das nicht.“ (GEF V 453) „[Die Gegensprechanlage] ist ein toter Gegenstand.“ (GEF VII 420) Die Worte eines Abteilungsbeamten belegen, in welcher Weise die Gegensprechanlage ungezwungene Gespräche zwischen Beamten und Gefangenen verhindert: „Ich laufe bei der Lichtrufanlage natürlich auch Gefahr, dass das Gespräch nicht mehr um die Sache geht, was der Gefangene eigentlich wollte, sondern dass der noch mal Luft holt und es geht weiter. Oder auch, dass ich dort kleben bleibe. Einfach auch, weil ich es vielleicht auch ganz angenehm finde, mit dem zu reden, obwohl ich aber vielleicht doch mal einfach eine andere Aufgabe habe. Mit einer Sprechanlage kann ich sagen: ,Das Gespräch ist jetzt beendet.’ Und drück auf den Knopf und gut ist. Wie mit dem Telefon auch.“ (AVD IV 638-644) Aus den Reihen des Personals kommen Bedenken hinsichtlich des Missbrauchs der Gegensprechanlage. Solcher kann sowohl auf Seiten der Gefangenen als auch auf Seiten des Personals stattfinden: Es ist allen Beteiligten des Gefängnisses bekannt, dass sowohl die Gegensprech- als auch die Lichtrufanlage nur dann eingesetzt werden sollte, wenn es unbedingt notwendig ist. Einige Mitglieder des Personals beklagen jedoch, dass Gefangene mit dem diensthabenden Beamten ihr Spielchen treiben und ihn wegen Nichtigkeiten über Gebühr beanspruchen. Dieser Nachteil wird insbesondere im Falle der Lichtrufanlage wirksam, da hier der Beamte nicht nur zum Dienstzimmer an das Mikrofon laufen, sondern sich auf den Weg zum Haftraum machen muss. „Man kann ja auch sehr schnell mit der Gegensprechanlage reagieren. Das heißt, wenn er jetzt sagt: ‚Ich will Kopfschmerztabletten.’ Dann kann der ihm vom Dienstzimmer die Kopfschmerztabletten gleich mitbringen und es ihm gleich geben. Bei der Lichtrufanlage müsste er zunächst einmal zu seinem Haftraum, müsste ihn fragen: ‚Was willst du lieber Mann?’ Dann sagt der: ‚Ich will Kopfwehtabletten.’ Dann sagt der: ,Klappe zu, okay, ich komme hernach wieder vorbei.’ Das dauert also ein paar Mal eine Viertelstunde länger.“ (AL V 921-926) Nicht in allen Anstalten wird die Maxime der sparsamen Verwendung der Anlage verfolgt. Möglicherweise bildet sich erst über die Zeit ein anstaltsspezifischer Konsens unter den Gefängnisangehörigen darüber heraus, welches die angemessene Anwendungshäufigkeit solcher Anlagen ist: „Es ist eine Verantwortung auf beiden Seiten. Der Gefangene muss wissen, wenn er die Anlage betätigt, dass es einen Grund hat, und der Beamte muss es ernst nehmen, wenn er gerufen wird. Und das ist natürlich die Gefahr, wenn das jetzt aufgeweicht wird, von beiden 179
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Seiten, dass es dadurch gefährlich werden kann.“ (FD II 914-918) Leider wird insbesondere die Gegensprechanlage auch von den Beamten häufig missbraucht. Während man es einem vielbeschäftigten Beamten noch nachsehen kann, wenn er aus Gründen des Arbeitsablaufs nicht sofort auf einen Lichtruf reagieren kann, so ist meiner Ansicht nach eine Nichtreaktion auf ein Signal der Gegensprechanlage fragwürdig. In jedem Fall kritikwürdig ist die Verwendung der Gegensprechanlage, um dem Gefangenen bei der Überbringung unangenehmer Nachrichten nicht gegenübertreten zu müssen. Dieses Verhalten ist jedoch keine Seltenheit. „Es gibt ja auch Leute, die sind sehr gewalttätig. Wo es vielleicht auch ein gewisser Schutz ist, dem etwas mitzuteilen, ohne dass ich mich jetzt in eine Situation bringe, wo es vielleicht gefährlich werden kann. Wobei ich ihm ja bloß was mitteilen will, das ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Wenn der Anstaltsleiter irgendwas sagt, ich muss dem Gefangenen was eröffnen. Es gibt halt aus der Erfahrung Leute, die lassen halt nicht so mit sich reden. Und dann hat man dann trotzdem die Möglichkeit, dass man ihm was mitteilt durch die Sprechanlage. Wenn einer einen Ausraster kriegt, dann ist halt gut, wenn man da vielleicht durchs Mikro spricht, als wenn man da vor ihm steht.“ (WD II 676-686) Manche Anstaltsleiter haben anscheinend auch bereits auf diesen Missstand reagiert: „Der Bedienstete kann durchaus über die Gegensprechanlage zunächst mal kurz formal abklären, worum es geht. Oder kann kurze formale Informationen weitergeben. Er kann das tun. Dann ist es in Ordnung. Will der Gefangene was und er kommt über Gegensprechanlage, dann kann der Bedienstete zunächst kurz per Gegensprechanlage vorchecken: ‚Um was geht es? Er muss aber, will er vermeiden, von seinem Vorgesetzten gefragt zu werden, was da los war, er muss aber an diesen Haftraum dann anschließend jedenfalls hingehen. Er muss dort diese Ansprache, die der Gefangene gewollt hat, quittieren. Also auf Deutsch: Ich zwinge ihn dazu, auch dann doch noch zum Haftraum hinzugehen.“ (AL VIII 679-688) Beamte nutzen die Anlage bisweilen zum Zweck der Scherzkommunikation. Ein Beamter etwa kündigte über die Sprechanlage das Essen mittels folgender Ansage an: „Das Tafelsilber wird ausgeteilt.“ (FTB 3244) Die Gefangenen haben sich meiner Erfahrung nach bislang über solche Beamtenwitze nicht empört. Manchmal ist die Nutzung der Gegensprechanlage durch Beamte schlicht durch Gedankenlosigkeit geprägt. Die Beamten nennen in der Regel nicht ihre Namen, wenn sie mit den Gefangenen sprechen. Dies führt nach einem Schichtwechsel aus Sicht des Gefangenen zu einer asymmetrischen, anonymen Gesprächssituation, da der Gefangene infolge der schlechten Tonqualität der Anla-
180
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gen nicht weiß, mit welchem Beamten er nun spricht:201 „Wenn der Gefangene beispielsweise nach einem Dienstwechsel anruft und irgendeine Auskunft haben will, dann bekommt er diese Auskunft anonym, er hört nur eine Stimme, die sein Anliegen bearbeitet.“ (AVD VII 899-902) Anstaltsleiter, die es zu verantworten haben, dass in ihrer Anstalt noch keine Gegensprechanlage installiert ist, und eine Installation in absehbarer Zeit nicht einplanen, sind offenbar einem gewissen Gruppendruck ihrer Kollegen ausgesetzt: „Wir haben ja keine Gegensprechanlagen in den Zellen sondern einen Zellenlichtruf. Und damit gelten wir irgendwie als furchtbar altertümlich. Das sind wir eigentlich gar nicht. Denn damals, als wir gebaut haben, da gab es das als Technik natürlich auch alles bereits. Aber ich wollte das nicht. Ich habe gesagt: ‚Wir machen das nicht.’ Und zwar war die Überlegung: Wenn eben tatsächlich da einer seinen Notruf absetzt, in der Zelle, dann soll der Beamte da ruhig hingehen und gucken. Also den leibhaftig erleben, als menschliches Gegenüber eben auch sehen. Und das ganze eben nicht nur über eine Technik machen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie andere Anstalten immer weiter der Ansicht sind, man muss also solche Gegensprechanlagen haben. Es wird überall gebaut, es ist selbstverständlicher Standard in anderen Anstalten. Ist auch vorgeschrieben mittlerweile in Baurichtlinien für Vollzugsanstaltsbauten. Ich halte es für völlig unnötig und glaube auch überhaupt nicht daran, dass das dann furchtbar viel bequemer wäre.“ (AL I 533-550) Erstaunlicherweise äußern sich einige seiner von mir befragten Kollegen zum Thema Gegensprechanlage zunächst ebenfalls in eher kritischer Weise: „Gegensprechanlage bin ich eigentlich ein strikter Gegner davon. Als ich hier herkam, waren die Umbaumaßnahmen bereits im Gange, diese Anlage einzubauen. Und ich habe das nicht mehr stoppen können.“ (AL II 175-177) „Vor- und Nachteile, Vor- und Nachteile. Lieber nein.“ (AL III 458) „Hat jedes seine Vor- und Nachteile.“ (AL IV 639) „Also für mich, ich möchte eigentlich solche technischen Einrichtungen in der Vollzugsanstalt nicht haben.“ (AL VI 598599) Interessanterweise verfügen aber alle der hier soeben zitierten Anstaltsleiter in ihren Anstalten über eine Gegensprechanlage. Als Handlungsmaxime im Umgang mit der Gegensprechanlage sollte meiner Meinung nach gelten, was ein Anstaltsleiter griffig wie folgt formuliert hat: „Eine Gegensprechanlage ist ein funktionales Hilfsmittel, das mir unter verschiedenen organisatorischen Personalressourcen ermöglicht, möglichst schnell vorab abzuklären, worum es im Groben geht, aber kein Gespräch ersetzt und auch keine Feinabklärung über ir201 Beleidigungen können im Gefängnis insbesondere zu solchen Gelegenheiten stattfinden, bei denen der Sprecher sich aus der Perspektive des Hörers im Schutz der Anonymität befindet. Vgl. hierzu das Kapitel „Anonyme Rede“. 181
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gendwelche Probleme.“ (AL VIII 691-697) Eine bewährte flankierende Maßnahme zum Erhalt der normalen neben der technisch vermittelten Kommunikation scheint es zu sein, die Aufschlusszeiten der Hafträume zu verlängern: „Wir hatten am Anfang große Bedenken, ob dann die Kommunikation zwischen den Bediensteten und den Hafträumen nur noch auf dieser technischen Schiene läuft. Ist nicht eingetreten. Und zwar schon deswegen, weil wir parallel dazu die Aufschlusszeiten verlängert haben, so dass die Kommunikation zwischen den Gefangenen und den Bediensteten ja immer läuft, auch laufen kann und auch laufen muss. Weil der Bedienstete in dieser Situation auch immer dann mit den Gefangenen konfrontiert ist, kann man da nicht aus. Und wir haben ja auch hier bestimmt, es muss, wenn hier Aufschluss ist, ein Beamter hier auf der Station sein. Der kann nicht weg.“ (AL V 942-951) Diese Aussage findet in folgender Feststellung eines Gefangenen seine Bestätigung: „Das Problem ist, wenn ich Gespräche führen will, brauche ich keine Gegensprechanlage. Weil diese Haftanstalt zum Beispiel hat genug offene Zeiten, dass ich meine Gespräche führen kann, ganz ohne Gegensprechanlage.“ (GEF VI 268-271) Die Gesamtmeinung der Befragten zur Gegensprechanlage an der Eingangsschleuse ist weitaus weniger datenfundiert, dafür aber vielschichtiger. Für die Gefangenen ist dieser Bereich thematisch irrelevant, da sie die Außenschleuse nur im Fall von Lockerungen oder Urlaub sowie bei der Entlassung passieren. Sie äußern sich darum nicht zu diesem Thema. Für Bedienstete ist das Passieren des Eingangsbereichs eine Gewohnheit, die sie wenig belastet. Darum machen sich die Befragten lediglich darüber Gedanken, wie sich der Umgang von Aufsichtspersonal mit Besuchern oder Rechtsanwälten an der Torwache gestaltet. Der Pfortenbeamte sitzt sicherheitstechnisch abgeschirmt hinter der Panzerglasscheibe und seinem Mikrofon. Ein Anstaltsleiter fasst diese Kommunikationssituation anschaulich zusammen: „Wir haben diese Gegensprechanlage nur in der Torwache. Und das ist auch nötig, weil die Torwache ja hermetisch abgeriegelt ist mit Panzerglas. Also eine unmittelbare Kommunikation der Beamten drin und der Menschen draußen kann nicht stattfinden. Es muss ein technisches Medium benutzt werden. Ich halte das für gar nicht schön und für unglücklich, dass das so ist. Weil die Menschen, insbesondere die draußen, die sind das natürlich überhaupt nicht gewohnt. Und bei dieser Anlage, die wir haben, ist das so, dass immer nur einer sprechen kann. Und das heißt also, dass erst der eine sprechen kann und dann muss der andere. Also man kann nicht so direkt kommunizieren, wie man das ja sonst so gewohnt ist. Da wartet man ja auch nicht immer brav ab, bis der andere seine Rede nun beendet hat, sondern fängt dann eben schon vorher an. Das macht die Kommunikation schwierig, vor allen Dingen für die Leute draußen, die zum ersten 182
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Mal das so erleben. Das gibt auch Spannungen, und die fühlen sich vielleicht auch nicht verstanden. Die werden vielleicht auch manchmal nicht verstanden, weil der Beamte so früh sein Knöpfchen gedrückt hat. Und das ist gar nicht gut, finde ich.“ (AL I 508-525) Nicht nur die Besucher sind mit den Kommunikationsbedingungen an der Pforte teilweise überfordert. Insbesondere das Pfortenpersonal ist immer wieder konfliktlastigen Situation ausgeliefert. Es ist offenbar erforderlich, dass Pfortenbeamte sich wie im nachfolgenden Beispiel gegen unkooperatives Verhalten mancher strafvollzugserfahrener Besucher wehren: „Mein [Personal]ausweis, das ist doch meine Identität! Das muss ich den Leuten dann irgendwie zeigen, wenn sie mir ihren Ausweis da einfach so hinschmeißen. Ich schmeiße dann entsprechend die Besuchermarke hin, so über die Schulter.“ (FTB 2021-2023) Vor allem das Verhältnis zwischen Rechtsanwälten und Pfortenbeamten ist manchmal durch gegenseitige Ablehnung gekennzeichnet. Der bereits oben zitierte Pfortenbeamte schildert seine Erfahrungen mit einigen Anwälten wie folgt: „Die kommen sich vor, wie kleine Rechtsgötter, weil sie rechtskundig sind. Und man muss es beherrschen, denen auch mal was abzulehnen. Dann muss ich ihm das verklickern, warum das und das nicht geht. Vielleicht liegt das an deren Berufsbild, dass sie eine Absage als solche nicht stehen lassen können, sondern immer gleich anfechten. Die sind immer gleich fordernd. Die werfen dann ihren Ausweis hin, ohne ein Wort zu sagen und wursteln dann in ihrer Akte. Dann sage ich immer: ‚Was wollen Sie denn? Eine Wurst oder ein Ei?’ ‚Ja, sieht man denn nicht, dass ich Rechtsanwalt bin?’ ‚Nicht jeder, der in Akten wühlt, ist Rechtsanwalt.’“ (FTB 223-230) In solchen konftliktträchtigen Situationen wirkt sich die Gegensprechanlage nachteilig auf die Kommunikation zwischen Passanten und Pfortenbeamten aus. „Manchmal ist es gut, dass diese Trennscheibe da ist, weil sonst wäre ich vielleicht schon hinausgehüpft vor Wut. Weil man in der Pforte von Besuchern aber auch Kollegen wie ein Schuhabstreifer behandelt wird. Die Kommunikation ist allgemein schlecht. Das liegt aber an den Lautsprechern. Manchmal muss man ein paar Mal nachfragen. Man merkt das echt, ob jemand zum ersten Mal kommt. Die wollen dann oft die Kamera drücken, damit die Tür aufgeht. Die fragen nach, was sie machen müssen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Ein Konfliktpotential ist dieser Ausweis. Aber wenn sie dann vor einem stehen und heulen und am Ende noch zwei kleine Kinder dabeihaben, da gehts mir dann doch an die Substanz.“ (FTB 136-143) Anders als bei der Kommunikation durch die Gegensprechanlage auf den Abteilungen ist an der Pforte von Gefängnissen aus einer solch unangenehmen Situation kein spontanes Ausweichen möglich, da beiden Gesprächsparteien vorübergehend die Bewegungsfreiheit entzogen ist: Der Besucher befindet sich in der Schleuse zwischen der ersten und 183
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zweiten Eingangstüre. Es liegt beim Pfortenbeamten, ob sich eine der beiden schweren Türen öffnet. In vielen Gefängnissen ist es den Pfortenbeamten auch untersagt, ihren Raum zu verlassen, wenn sie alleine im Dienst sind. Es kann also keiner der beiden Gesprächspartner die unangenehme Kommunikationssituation entschärfen, weder durch Ausweichen noch durch persönliche Begegnungen in der Schleuse. Aus diesem Grund halte ich es für erforderlich, dass in all jenen Bereichen des Gefängnisses, wo das Passieren einer Schleuse unter Zuhilfenahme einer Gegensprechanlage koordiniert wird, der Personalschlüssel großzügig ausgestaltet wird.
Die strafvollzugliche Zwangsgemeinschaft als Sprachgemeinschaft Eigentlich sind die Beamten ganz okay. (ein Gefangener)
In Folgenden erläutere ich, inwiefern Gefangene und Gefängnispersonal anhand bestimmter Sprechhandlungen beständig für einen gewissen Zusammenhalt nahezu aller Gefängnisangehörigen sorgen und dabei auch der eigenen Biographie und Identität Kontinuität über die Zeit verleihen. Zum Verständnis dieses ungewöhnlichen und auch äußerst schwer greifbaren Phänomens ist es unerlässlich, die Genese des Gefängnisses sowohl als staatliche Institution aber insbesondere auch als einzelne Organisation zu berücksichtigen. Gefängnisse sind über Jahrhunderte gewachsene Organisationen. Die Freiheitsstrafe, wie wir sie heute kennen, wurde auf unterschiedliche Weise bereits vor zweihundert Jahren in Holland, England und den USA vollzogen. Zu dieser Zeit der Gefängnisgeschichte, wurden besonders viele Anstalten gebaut. Das panoptisch konzipierte Gefängnis von Jeremy Bentham zählt noch heute zu den häufigsten alten Anstaltsgebäuden. Viele davon sind noch heute im Gebrauch. Andere alte Gefängnisgebäude sind ehemalige Klosteranlagen, die zu Justizvollzugsanstalten umfunktioniert wurden. Insbesondere während der letzten dreißig Jahre wurden allerdings eine ganze Reihe dieser alten Gefängnisse zugunsten neuer Anstaltsgebäude, die meist außerhalb der Stadt liegen, verlassen. Man erhöhte die Zahl der Haftplätze und erhoffte sich durch den Gebäude- und Ortswechsel eine Verbesserung der resozialisierenden und sichernden Strafvollzugspraxis. Das Vorhaben, mit einem Umzug in ein modern konzipiertes Anstaltsgebäude einen strafvollzuglich-reformerischen Neuanfang zu machen, ist in mancherlei Hinsicht gescheitert. Allein durch einen Gebäudewechsel erschafft man noch keine neue Organisation. Nicht wenige Gefängnisangehörige fragen sich, warum auch 184
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nach dem Umzug sowohl bei Gefangenen aber mehr noch bei Mitarbeitern immer noch der „alte Wind“ der ehemaligen Anstalt durch die Flure weht. Dafür gibt es nach meinem Vermuten folgenden Grund: Ein Gefängnis besteht in erster Linie aus seinen Mitarbeitern und Insassen, die auf ihren Positionen durch interaktionales Handeln die Organisation am Laufen halten. Die materielle Manifestation einer Anstalt als Gebäude ist meiner Ansicht nach nur einer von vielen Faktoren, die den sprachkulturellen Charakter eines Gefängnisses ausmachen.202 Welche sprachkulturellen Merkmale ein Gefängnis letztlich aufweist, wird nicht zuletzt durch den Einfluss verschiedener Sprechergruppen erzielt. Sprachhandeln muss diesbezüglich aus einer diachronen und nicht aus einer synchronen Perspektive betrachtet werden. Eine in ihren Einflussmöglichkeiten nicht zu vernachlässigende Sprechergruppe umfasst die älteren und langjährig diensterfahrenen AVD-Beamten, die teilweise bereits vor der Reform des Strafvollzugs im Jahr 1977 im Gefängnis arbeiteten. Auch unter den Gefangenen gibt es einen beachtlichen Anteil von langjährig oder wiederholt Inhaftierten, die bereits zu Zeiten die Anstalt bevölkerten, als es das neue Strafvollzugsgesetz und ein neues Anstaltsgebäude noch nicht gab. Die Aussagen vieler Befragter zeigen deutlich, dass konservative Kräfte des Strafvollzugs eine sprechergruppenübergreifende Interessengemeinschaft bilden, die eine Reform des Strafvollzugs verhindern. Das Motto „Das war schon vor fünfzehn Jahren so und das wird auch in fünfzehn Jahren so sein.“ ist mir in allen von mir besuchten Anstalten überzufällig häufig begegnet. Ein Beamter meint, es gäbe diesen Leitspruch unter den Bediensteten aus zwei Gründen, nämlich einerseits, „um damit zu dokumentieren, da verändert sich doch sowieso nichts. Aber vielleicht auch ein Stück weit, um sich selber zu schützen: ‚Das war doch immer so und das lassen wir doch bitte so. Dann muss ich ja wenigstens nichts anders machen.’ Ich denke mal, dass das nicht nur daraus resultiert, dass man ein Stück weit resigniert. Son202 Die panoptische Architektur eines Gefängnisses etwa bedeutet für seine Sprachkultur, dass diese sozusagen mit wenigen Sprechern auf Beamtenseite auskommt, die eine große Zahl von Gefangenen überwachen. Es bedarf nur weniger Beamter, die infolge ihrer panoptischen Position in der Gefängniszentrale sitzen und das Geschehen auf den Abteilungen von Ferne durch die Gittertüren betrachten. In kammförmigen Gefängnissen jedoch, in denen die Haftabteilungen voneinander getrennt sind und jeweils über eigene Beamte verfügen, besteht rein zahlenmäßig eine gesprächsfreundlichere Betreuungsrelation. Vgl. für eine anschauliche jedoch knappe Beschreibung der älteren Gefängnisarchitektur HansDieter Schwind: „Kurzer Überblick über die Geschichte des Strafvollzugs“, in ders. (Hg.), Strafvollzug in der Praxis: eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe, Berlin: de Gruyter 1988, S. 1-16. 185
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dern das ein Stück weit auch die eigene Trägheit mit dokumentiert, indem man nämlich sagt: ‚Wenn da jetzt etwas geändert wird, dann muss ich ja umdenken, dann muss ich ja was Neues lernen, dann muss ich ja was anders machen, muss ich mich ja rühren.’“ (AVD I 435-456) Die Mehrzahl derer, die als neue Mitarbeiter das Gefängnis betreten, werden von den mit älteren Sprecherrechten ausgestatteten Personen, den „alten Hasen“ des Vollzugs, auf die traditionelle Linie gebracht, unabhängig davon, wie reformerisch die theoretische Herkunft eines Justizvollzugsschülers oder eines Rechtsassessors zuvor gewesen sein mag: „Vor vielen Jahren saß und stand ich einem Anstaltsleiter als ganz junger stellvertretender Anstaltsleiter gegenüber, der so ein bisschen meine [jetzige] Erfahrungsklasse war. Und da war es dann so, dass man gegen diese geballte Detailerfahrung, die dieser Mann hatte, auch dann, wenn ich oft der Meinung war, der hat gar nicht Recht, nicht aufkommen konnte, weil er eben für alles, was er angeführt hat, drei, vier, fünf Beispiele zack, zack, zack auf den Tisch gehauen hat, wo man gar nichts dazu sagen konnte. Im Gegenteil, die alle plausibel waren und wo man zugeben musste: ‚Ja da gibt es nichts mehr zu sagen.’ Also in der Tat, wird man da vielleicht ein bisschen mundtot gemacht, auch bisschen denktot gemacht, indem man dann kapituliert.“ (AL II 1069-1077) Neben den Beamten gibt es wider Erwarten auch unter Gefangenen sowohl junge als auch ältere Häftlinge, die den traditionellen Strafvollzug dem kommunikationsaufwändigen neuen Strafvollzug vorziehen und diese Meinung auch offen vertreten. Ein häufiges Schimpfwort über den Behandlungsvollzug, das mir während meiner Beobachtung wiederholt auffiel, ist das Wort „Psychoknast“. Solche Gefangene ziehen einen sichernden und straff organisierten Vollzug der Freiheitsstrafe dem pädagogisierenden Behandlungsvollzug vor. Gefangene, die sich in dieser Richtung äußern, werden dann auch von Beamten zitiert: „Die alten Ganoven, die schimpfen über den neuen Vollzug. Denen geht es im Grunde genommen wie mir. Im alten Vollzug, da war noch Zug da. Da hat es ja noch das Wort ‚büßen’ gegeben.“ (FTB 1383-1385) „Da gibt es auch so unterschiedliche Gefangenenorden. Es gibt welche, die dann auch früher gerade im Osten vor der Wende eingesessen haben, die dann sagen: ‚Also was jetzt in dem Knast los ist, das kann ja wohl nicht wahr sein, das hätten wir uns früher nicht getraut und so eine Unordnung und so ein Dreck.’ Und es gibt halt manche, die relativ neu da sind. Die würden sagen: ‚Ist eigentlich gar nicht schlecht hier. Meinen Fernseher habe ich, mein Radio habe ich, dies kann ich, das kann ich, Arbeit habe ich auch und mein Essen habe ich auch. Aber der Knast ist halt trotzdem Scheiße.’“ (AVD VI 128-150) Ähnlich den zwei geschilderten Fällen kommt es immer wieder zu demonstrativer Einigkeit unter traditionsbewussten Abteilungsbeamten und Gefangenen. Insbesondere die explizit mit der Behandlung be186
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auftragten Fachdienste stehen diesen Stimmen freilich äußerst skeptisch gegenüber. Auch eine moderne Gefängnisarchitektur ändert häufig nur wenig an dem Wunsch vieler Beamter und Gefangener, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Die Beobachtung, dass ein gewisser Teil der Gefängnisangehörigen einer Intensivierung der behandlerischen Kommunikationspflege ablehnend gegenübersteht, habe ich in allen von mir besuchten Gefängnissen gemacht. Anstaltsleiter bewerten solche Einstellungen ihrer dienstälteren Beamten als ein personalpolitisches Problem. „Es gibt aber auch eine Gruppe von Angestellten, die vielleicht auch traditionell in diesen überlieferten Ordnungskategorien denken, wo Hierarchien eine Rolle spielten. Und wo der Anstaltsleiter als das oberste Heilige angesehen wird. Spielt halt auch in unseren ostdeutschen Gebieten eine Rolle, wo noch der Vollzug durchaus recht militärisch gewesen ist, wo es halt üblich war, dass man, wenn der Chef den Raum betrat, dass man aufsteht und die Grundstellung einnimmt und solche Geschichten. Also das spielt sicherlich auch noch eine Rolle. Weil halt viele dieser älteren Bediensteten auch noch hier drinnen sind. Und das ist für die zum Teil sehr schwer.“ (AL VI 49-68) Den Worten dieses Anstaltsleiters ist hinzuzufügen, dass der Strafvollzug auch in den alten Bundesländern ehemals militärisch strukturiert war. Die Führungskräfte in Gefängnissen sowie weite Teile der Fachdienste sind also eher reformerisch orientiert, während ein erheblicher Anteil der AVD- und Werkdienstmitarbeiter sich in oben genannter Weise gegenüber reformfreundlichen Veränderungen als widerständig erweist: „Von Zukunft wird mehr auf Leitungsebene gesprochen. Von der Vergangenheit wird mehr seitens der Bediensteten in der mittleren Ebene gesprochen. Weil es ist halt so, dass der Vollzug irgendwo gewachsen ist, dort viele Kollegen noch da sind, die auch bestimmt guten Dienst machen, aber sich doch bestimmte Geschichten aus der früheren Zeit zurückwünschen. Weil dort einfach mehr Reglement drin war. Von Zukunft wird deswegen mehr auf Leitungsebene berichtet. Und da wird natürlich immer nach Alternativen gesucht, wie man das ausbauen kann. Was man Gefangenen anbieten kann, um die sinnvoll zu beschäftigen, um die sinnvoll auf ein späteres Leben in Freiheit vorzubereiten. Oder ob die neuen Kollegen vielleicht auf die Schiene der alten Kollegen rückfallen und sagen: ‚Da war es doch noch ein bisschen strenger reglementiert und da habe ich einfach noch ein leichteres Arbeiten.’“ (FD III 175-195) Wie schwer es dann manchmal neue Beamte insbesondere auf Funktionsstellen haben, veranschaulicht der Bericht des folgenden Fachdienstbeamten: „Ich kam dann hierher und wurde erst mal in einen Topf geschmissen mit meinem Vorgänger, klar: ‚Der Pfarrer der macht das so, der Pfarrer macht das nicht so, dieser Pfarrer macht das so.’ Dann war so das Bild da: ‚Ah, jetzt kommt der Himmelskomiker wieder.’ Und dann 187
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habe ich angefangen mit meinen Gruppen. Es gab vorher keine Gruppen hier, es waren nur Einzelgespräche. Und da gab es ernste Konflikte, und zwar aus dem Grund, weil die Beamten das bisher nicht gewohnt waren: ‚Jetzt bringt der uns alles in Unordnung.’“ (FD II 252-281) Wenngleich man für manche Aspekte der Sprachkultur anstaltsübergreifende Regelmäßigkeiten ausmachen kann, so bildet doch jede Anstalt mit dem in ihr über viele Jahrzehnte gewachsenen Angehörigenstamm eine einzigartige, nach außen hin abgeschlossene Organisation, die sich gegen ihre Umwelt behaupten muss und nach innen vereinheitlichende Tendenzen produziert. Gefangene gelten in der Öffentlichkeit als Außenseiter; auch die allgemeinen Justizvollzugsbediensteten versehen eine Arbeit, die über wenig Ansehen verfügt. Im Gefängnis treffen Menschen aufeinander, die eines gemeinsam haben: Sie werden jenseits der Mauern skeptisch beäugt. Ich meine, dass Mitarbeiter und Gefangene aus genau dieser gemeinsamen Not heraus hin und wieder die gemeinsame Tugend des „frontübergreifenden“ Zusammenhalts pflegen.203 Hierfür weist jede Anstalt spezielle Diskursmuster auf, mittels derer sie ihre Identität bewahrt. Hierzu zählen zum Beispiel anstaltsspezifische Mythen über besonders charismatische AVD-Beamte oder außerordentlich clevere Gefangene. Aus diesem Grund erscheint es mir kaum möglich, ein einheitliches Merkmalprofil aller Anstalten zu erstellen. Vereinzelt finden sich in meinen Daten Hinweise darauf, dass Beamte und Gefangene nicht selten Sympathie füreinander empfinden und dass sich die aus Anstaltsperspektive beabsichtigten Grenzen zwischen den beiden Sprechergruppen auflösen. Dass dem so ist, fiel mir auch erst recht spät während meiner teilnehmenden Beobachtungen auf, obwohl ich früher auf dieses Phänomen hätte aufmerksam werden können.204 Im Folgenden werde ich anhand der sprachlichen Referenzkategorien Zukunft und Vergangenheit unter anderem aufzeigen, inwiefern sich die Angehörigen des Gefängnisses der deiktischen Kategorie „Zeit“ bedienen und damit der eigenen Karriere sowie dem Gefängnis als ganzem Kontinuität des Daseins verleihen.205 Anhand des Sprechaktes „Versprechen“ soll gezeigt werden, inwiefern das Gefängnis eben doch auch eine Sprachgemeinschaft beherbergt, innerhalb derer die Sprecherhörer gegenseitige Verbindlichkeiten aufbauen. Damit kennzeichne ich das Ge203 Insbesondere AVD-Beamte wählen zur Beschreibung ihrer gefangenennahen Tätigkeit auf den Abteilungen häufig den Begriff der „Arbeit an der Front“. Die „Front“ bezeichnet konzeptionell die Grenze zwischen Gefangenen und Beamten. 204 Vgl. hierzu die Kapitel „Gefängnisjargon“ und „Distanziertes und vertrautes Sprechen“. 205 Vgl. die Definition des linguistischen Begriffes „Deixis“ in FN 22. 188
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fängnis nicht als einen Ort, an dem sich zwei unversöhnliche Gruppen von Menschen – Verbeamtete und Verurteilte – stets unvereinbar gegenüberstehen. Diese Behauptung ist gewagt, denn sie widerspricht einerseits den Aussagen der Kritischen Kriminologie, die anhand ihrer zumeist justizkritischen Instanzenforschung das Vorhandensein zweier ungleich mächtiger Interessengruppen, den Insassen und den Beamten, postuliert. Meine Behauptung liegt andererseits auch quer zu dem vom Justizsystem verfolgten Interesse, dass diese saubere Trennung zwischen Gefangenen und Beamten fortzubestehen habe und ein Dasein aller Gefängnisangehörigen als Gemeinschaft nicht wünschenswert ist. Weder die traditionelle, noch die kritische Kriminologie weichen forschungskonzeptionell von der Grundannahme ab, dass die Gruppe der Gefängnisangehörigen in Mitarbeiter und Insassen zu teilen sei. Auch mir fällt es nicht leicht, diese Einteilung aufzulösen, da auch ich mich immer wieder innerhalb dieses Paradigmas bewegen muss und möchte.
Sprechen über Zukunft und Vergangenheit Steht noch dahin Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben’s gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertig bringen mit der Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin. (Marie Luise Kaschnitz)
Bislang stand im Vordergrund der Betrachtung, wie im Gefängnis kommuniziert wird. Eine weitere Frage ist, worüber im Gefängnis kommuniziert wird. Im Folgenden fasse ich einige häufig auftretende Diskursthemen des Gefängnisses in der temporaldeiktischen Kategorie „Zukunft und Vergangenheit“ zusammen. Dabei zeigt sich, dass über Zukunft und Vergangenheit nicht nur geredet sondern auch mit ihr argumentiert wird. Auf die Frage, worüber im Gefängnis mehr geredet wird – über die Vergangenheit oder die Zukunft – gibt es keine einheitliche Antwort. Eher ist es so, dass anlässlich bestimmter Themen mehr über das eine oder das andere gesprochen wird. Es ist zum Beispiel dem Strafvollzugsgesetz 189
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geschuldet, dass die häufige und systematische Referenz auf Vergangenheit oder Zukunft in Vollzugsplankonferenzen gebräuchlich ist. Auch in der Gefangenengemeinschaft gibt es die Gewohnheit, sich in bestimmten Situationen sprachlich der zeitlichen Deixis zu bedienen. Bemühungen um Resozialisierung beinhalten auch immer das Reden über Vergangenheit und Zukunft. Im Bereich der Tataufarbeitung wird Vergangenheit relevant, während für das Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten die Zukunft besprochen werden muss. Darum ist es für ein Gefängnis bedeutsam, in welcher Gewichtung in ihm die Vergangenheit und Zukunft der Gefangenen thematisiert wird. Insbesondere den Interviews mit Fachdienstmitarbeitern und Anstaltsleitern lässt sich entnehmen, dass Zukunft und Vergangenheit zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Haftverbüßung in unterschiedlicher Weise von den Gefangenen und vom begleitenden Personal thematisiert werden. In Gefängnissen mit Gefangenen der Untersuchungshaft oder Kurzhaft ist die Fluktuation hoch, und die Sozialarbeiter und Psychologen werden immer wieder mit der Betreuung von Neuankömmlingen beauftragt, deren Reden über Zukunft und Vergangenheit sich wie folgt gestaltet: „Wir sind also eine riesengroße Untersuchungshaftanstalt. Und viele Probleme, die dort besprochen werden, hängen natürlich mit der aktuellen Situation zusammen. Also die Verhaftung, die Verlustängste, die da dabei entstehen, Beziehungsängste, die entstehen, Ängste über die Erhaltung des Wohnraumes, Verlust des Arbeitsplatzes, wenn vorhanden. Dann die Wegnahme der liebgewonnenen Dinge, wie zum Beispiel Rauschgift oder Alkohol. So dass das Gespräch sich in der ersten Zeit der Haft darauf konzentriert, diese zu organisieren, die Haft erträglich zu gestalten.“ (FD V 29-39) Für Neuinhaftierte spielen demnach Themen der Gegenwart eine große Rolle. Auch während meiner teilnehmenden Beobachtung ist mir aufgefallen, dass auf Untersuchungshaft- oder Kurzhaftabteilungen eine viel größere Unruhe herrscht als auf Abteilungen mit Langstrafengefangenen. Während man sich als Gefangener auf ersteren zunächst Informationen über den gegenwärtigen Gefängnisalltag und über die besten augenblicklichen Überlebensstrategien in der Subkultur einholen muss, sind diese Modalitäten bei länger Inhaftierten bereits geklärt, und das Gewöhnliche muss nicht mehr immer wieder benannt werden. Zudem ist das Redebedürfnis bei frisch Inhaftierten besonders hoch, da sie sich, in welcher Weise auch immer, häufig über den Grund ihrer Inhaftierung unterhalten wollen. Ein Fachdienstbeamter bezeichnet diese Phase der Haft sowie die dazugehörige Phase der Betreuung als eine „sachliche Zeit“ (FD V 41). In der Zeit danach werden von den Gefangenen mehr und mehr Themen angeschnitten, die dann auch die fernere Zukunft oder Vergangenheit betreffen. „Was unser eigenes Aufgabengebiet, die Ar190
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beit mit den Gefangenen, angeht, würde ich sagen, dass sich die Gewichtung verlagert entsprechend der Strafzeit des Gefangenen. Wenn der Gefangene gerade in der Anstalt aufgenommen wird, dann spielt die Vergangenheit, also das, was er gemacht hat, weswegen er da ist, eine größere Rolle. Während, je mehr sich seine Haftzeit dem Ende zuneigt, die Zukunft, also seine zukünftige Unterbringung, eine eventuelle Arbeit, seine sozialen Kontakte eine größere Rolle zu spielen beginnen.“ (AL VII 153-160) Die Gefangenen sprechen mit ihresgleichen manchmal freilich über andere Zukunftspläne als mit dem Betreuungspersonal: „Aber so Zukunftspläne, wenn man hier allgemein sitzen tut, da wird schon über connections geredet. Banden- und Cliquenbildung draußen. Wie könnte man das machen und das so machen. Man redet schon so Sachen, illegale. Positive Sachen manchmal auch, aber selten. Ja. Parties zu machen, wenn man entlassen wird. Zusammen zu treffen, auf Parties. Puffs zu gehen. Solche Sachen.“ (GEF I 276-282) Die Insassen bewerten auch die Vergangenheit nicht so, wie es aus der Perspektive des Sozialdienstes für eine Tataufarbeitung angemessen wäre. Dies wissen auch die Gefangenen: „Also eigentlich geht es immer um dasselbe. Die Geschichten von draußen sind auch immer relativ simpel gestrickt. Bullenschweine, aufgemischt, gesoffen, gekifft. Einen Scheiß. Also wenn man das mal zehn Tage gehört hat, dann muss man es sich eigentlich nicht mehr anhören. Weil dann weiß man schon, was am nächsten Tag gesagt wird. Das ist so der Eindruck, den ich gewonnen habe.“ (GEF IV 33-40) Ein vollzugserfahrener Beamter des Werkdienstes hat es angesichts solcher Aussichten inzwischen aufgegeben, besonders viel Gesprächsmotivation in zukunftsorientierte Resozialisierungsbemühungen zu investieren. Das Bild des immer wieder ins Gefängnis zurückkehrenden Gefangenen gehört nach einigen Jahren Diensterfahrung einfach zum allgemeinen Vollzugswissen dazu: „In meinem langen Berufsleben habe ich viele Gefangene schon erlebt, wo ich das fünfte oder sechste Mal wieder gesehen habe. Und da zweifle ich eigentlich ein bisschen auch an meinem Resozialisierungsgedanken. Da haben wir so Leute gehabt mit sechs sieben Monaten oder mal ein Jahr Freiheitsstrafe oder so. Und die habe ich immer, immer wieder gesehen. Die sind immer wieder gekommen. ‚Ich komme nie mehr hier rein.’ Und sind dann eigentlich doch gekommen. Und andere haben wieder gesagt: ‚Meister, halt mir meine Stelle offen, ich komme wieder.’ Ja, da haben wir immer gelacht und gesagt: ‚Nein, so einfach geht das nicht.’ Aber es hat gestimmt. Sie sind dann irgendwie wieder gekommen. Aber nicht solche Gefangenen, wo man denkt, wo es kalt wird, da ist es im Gefängnis am schönsten, da hat man Wärme und Essen und alles. Eigentlich nicht die, sondern ganz normale Gefangene, wo einfach dann wieder Diebstähle gemacht haben oder was weiß ich, so ihr Delikt immer. Also nicht die 191
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Vagabunden, die, wo man so auf der Straße sieht, so Penner. Die nicht. Andere, die auch ein Zuhause hatten. Und das ist eigentlich frustrierend. Oder ich kann mich noch so erinnern an die Anfangszeiten, wo ich noch ein bisschen jung und unbedarft war. Ich habe viele [Arbeitskollegen draußen] gehabt. Und da habe ich am Anfang einmal Gefangenen Arbeit vermittelt nach dem Vollzug. Also ich kann mich an mindestens drei, vier erinnern und alle drei, vier sind dort wieder gegangen. Alle. Nicht einer hat es länger wie ein halbes Jahr oder ein Jahr ausgehalten von denen. Und ich war, ich habe das wirklich nur mit Gefangenen gemacht, wo ich überzeugt war, dass die das schaffen und dass die das auch anerkennen, dass sie letztlich eine Arbeit kriegen. Aber es ging nicht. Alles schiefgelaufen. Der eine hat dann die Kollegen nach zwei Tagen bestohlen und ging ab. Der andere ist zum Saufen gegangen mit Kumpels abends. Am nächsten Tag natürlich nicht aus dem Bett gekommen. Und so ging das, dass ich mir eigentlich gesagt habe, das mache ich nicht mehr. Also ich tue keinen mehr vermitteln an andere.“ (WD I 213-254) Seinem Kollegen aus einem anderen Gefängnis geht es ähnlich: „Die Gefangenen reden nicht groß über die Zukunft, weil sie ja teilweise gar nicht wissen, was sie erwartet draußen. Mehr oder weniger freuen sie sich alle, wenn sie rauskommen. Aber wir haben jetzt schon wieder einen, der ist das dritte Mal da. Es ist schwer. Und ich habe ja selber schon drei Mann mit einer Lehrstelle draußen versorgt und die sind nicht gegangen. Und ich bin schon lange hier. Man gewöhnt sich das dann ab, über die Zukunft zu sprechen.“206 (WD V 74-89) Mit der Vergangenheit verbinden sich hauptsächlich Gefühle der Schuld oder Rechtfertigung, angesichts der Zukunft verfällt so mancher Gefangene ins Träumen und Planen. Für die meisten verbindet sich die Zukunft jedoch im besseren Fall mit Ungewissheit und im schlechteren Fall mit Hoffnungslosigkeit: „Die Masse der Gefangenen, sagen wir siebzig oder achtzig Prozent der Gefangenen, hat eigentlich Angst vor der Entlassung. Jeder freut sich auf seine Entlassung. Und jeder hat irgendwann eine Phase, wo er Angst hat vor der Entlassung. Aus dem einfachen Grund, weil er nicht weiß, was kommt. Was ich gewesen bin, weiß ich. Das kann ich erzählen. Das kann ich belegen oder auch nicht. Oder ich kann eine Geschichte darum spinnen. Das geht und ist ganz einfach. Aber Zukunft ist schwer. Das ist eine Sache, die ist nicht greifbar. Weil all die Kontakte, die man hatte, sind ja weg. All die Freunde oder die meisten der sogenannten Freunde sind weg. Also alle Bezugs206
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Geht man vom Rückfall als einer neuerlichen Verurteilung zu Freiheitsstrafe ohne Bewährung aus, so beträgt hier die Rückfallquote im Erwachsenenstrafvollzug ca. 40 %. Im Jugendstrafvollzug liegen die Rezidivismusraten regelmäßig noch darüber. Vgl. F. Streng: Strafrechtliche Sanktionen, S. 139 ff.
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punkte, ob es geschäftlich, ob es privat war, sind ja alle weg. Je länger die Haft ist, je mehr ist weg. Und dann sind am Ende auch die persönlichen Klammerpunkte, die da sind, alle weg. Und dann sieht es schlecht aus, also ist Zukunft ein ganz, ganz heikles Thema in der Haft.“ (GEF VI 143-160) Einem Fachdienstmitarbeiter ist der Zukunftspessimismus von Gefangenen aus Beratungsgesprächen bekannt: „Es gibt eine ganze Menge Leute, die sagen: ‚Ich werde nie wieder arbeiten, ich bekomme nie wieder Arbeit, meine Schulden werde ich auch nicht mehr los, die ich habe. Also richte ich mich auf ein Leben mit der Sozialhilfe ein und werde meinen Tag so gestalten.’“ (FD V 88-91) Das Reden über die Zukunft ist aber auch auf Seiten der Behandler von Pessimismus geprägt: „Wobei grade bei den Jugendlichen, die Träume eigentlich recht einfach sind: ‚Ich wünsche mir eine Frau, eine Familie, Kinder, Arbeit.’ Wobei die Voraussetzungen bei einzelnen, all diese Dinge zu kriegen, eher gering sind. Wir müssen also feststellen, dass das Durchschnittsbildungsniveau zwischen der sechsten und siebten Klasse ist, Drogenkonsum zwischen zwölf und vierzehn Jahren einsetzt. Und dann kombiniert mit Tabletten, was also auch schon zur Veränderung von Persönlichkeiten führt. Das Niveau der einzelnen betroffenen Jugendlichen ist, das klingt hart, ist sehr niedrig, und da wird nur aus wenigen noch irgendwas werden im Leben.“ (FD V 50-61) Nun stelle ich vorsichtig die Frage, ob es nicht doch zur Professionalität von Vollzugsmitarbeitern gehören sollte, trotz aller hohen Rückfallzahlen behandlungsoptimistisch zu sein und die Gefangenen bei ihrer Entlassung nicht, wie es so oft geschieht, mit der Formel „Bis bald“ zu verabschieden. Die Antwort „Meister, halt mir meine Stelle offen“ zeitigt möglicherweise die Wirkung einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Bezüglich der Schuldbearbeitung lassen die meisten Gefangenen ihre Vergangenheit unerwähnt. Einige verlagern den Schwerpunkt ihres Weltentwurfs dann doch auf die Zukunft: „Über die Vergangenheit weniger. Das ist selten, sehr selten. Viele verdrängen es und sagen: ‚Ich habe das gemacht, ich muss damit klarkommen.’ Die versuchen, es zu vergessen. ‚Das muss dann halt besser werden draußen. Dazu muss man vorwärts schauen, um was Neues auf die Beine zu stellen. Mein Leben in geordnete Bahnen kriegen und so.’ Über das vergangene Leben, da redet fast keiner gerne drüber. Vielleicht für sich selber mal. Also, wie gesagt, das war nicht gut. Aber so offiziell redet da keiner drüber. Lieber wird da so geredet: ‚Oder ich mache eine Pferdezucht.’ Solche Vorstellungen halt. Was die Zukunft betrifft. Oder viele reden darüber, eine Firma zu machen. Und für viele ist es letztlich eine Traumwelt. Und ob das letztlich dann so wird, das weiß man nicht.“ (GEF VII 104-118) Wie bereits erwähnt, ist es Teil des Konzepts der Resozialisierung, dass der Gefangene die Anbahnung und das Geschehen der Tat, über193
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denkt. Diese sogenannte Tataufarbeitung als Thematisierung der Vergangenheit ist vielen Gefangenen unangenehm: „Wenn sie [die Vergangenheit, G. K.] nicht ganz arg toll war, wird in der Regel nicht darüber gesprochen. Und da ist immer was passiert. Sonst wären sie ja nicht da drin. Vergangenheit ist das, was gestern passiert ist. Und vorgestern. Und deswegen wird über die Vergangenheit weniger, also wenn ich das jetzt ins Verhältnis setze zu der Zukunft, geredet.“ (WD II 204-216) Aus der Sicht von Bediensteten sind sowohl vermeintliche Tataufarbeitungen als auch Zukunftspläne für die Bewährungszeit nach der Haft eingebettet in die sprachliche Täuschungsstrategie von Gefangenen: „Gefangene reden viel über die Zukunft und wenig über die Vergangenheit eigentlich. Weil sie teilweise auch zu ihrer Vergangenheit nicht stehen. Und weil sie denken, sie können dem Beamten teilweise auch einen Bären aufbinden. Will ich mal so sagen. Also da wird verschönert, da wird weggelassen und die Zukunft die malen sie sich meistens immer in den buntesten Farben aus: ‚Also ich werde nie wieder straffällig, ich habe Arbeit, wenn ich rauskomme, und meine Freundin, die wartet auf mich und alles. Die versuchen dann schon das teilweise zu verschönern, also leben so ein bisschen an der Realität vorbei.“ (AVD V 136-144) Ein Fachdienstmitarbeiter schildert, wie ein Gespräch, das eine Tataufarbeitung beinhaltet, abläuft: „Und wenn die Insassen Geschichten erzählen, dann kommt es schon vor, dass jemand über Vergangenes erzählt. Doch auch da steht es meistens so, dass das Aktuelle im Vordergrund steht. Die kommen dann mit einem gewissen Anliegen zu mir, in einer Gesprächssituation, die Insassen, und [Pause] von der Vergangenheit [Pause]? Wenn es Geschichten sind, dann weniger so, dass einer von sich aus die ganze Geschichte gleich erzählt, die mit der Tat zu tun hat. Er erzählt aber vielleicht, wie er aufgewachsen ist, die familiären Bedingungen, in welchen Heimen er gewesen ist. Er tut dies aber meist schon mit dem Hintergrund, bewusst oder unbewusst sich zu rechtfertigen oder sich in einem gewissen Licht darzustellen. Mein Denken geht dann auch gleich in die Richtung: ‚In welchem Licht will er sich darstellen? Warum sagt er mir das, warum sagt er mir was in welchem Tempo? Warum sagt er mir das im ersten Gespräch?“ (FD IV 76-90) Wenn Gefangene über die Vergangenheit reden, kommen demnach regelmäßig die im Kapitel „Rechtfertigungen“ erwähnten Rechtfertigungstechniken zum Einsatz. Meine Ausführungen zum Thema Gerüchte im gleichnamigen Kapitel haben bereits deutlich werden lassen, dass man sich im Gefängnis auf Seiten der Beamten sprachlich häufig mit dem Thema Beförderung oder Dienstkarriere beschäftigt. Wenn über Beförderungen gesprochen wird, so geschieht dies häufig unter Verwendung der Kategorien Zukunft und Vergangenheit. Beamte schauen auf eine Phase ihrer Dienstzeit zurück 194
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und rechtfertigen mit dieser vor sich selber oder vor anderen ihren Wunsch nach Beförderung:: „Die Zukunft und die Vergangenheit der Bediensteten ist ganz wichtig, wesentlicher Bestandteil auch sämtlicher Gespräche. Zum Beispiel jemand kommt zu mir und sagt: ‚Wie schaut es mit meiner Beförderung aus?’ Ist ein ganz typischer Standardfall. Das hat Geschichte, hat auch Zukunft. Das heißt, hier muss man sagen: ‚Wie war es in der Vergangenheit? Warum kommst du jetzt dran? Vielleicht sogar da vorgezogen. Weil du eben in der Vergangenheit bestimmte Leistungen erbracht hast. Und wie geht es jetzt in der Zukunft mit dir weiter?’“ (AL V 204-209) Der Anstaltsleiter ist im vorliegenden Fall nicht nur Verwalter von dienstlicher Zukunft und Vergangenheit. Er muss sich im Gespräch auch mit den privaten Plänen seiner Beamten auseinandersetzen: „Das heißt, es beinhaltet auch eine gewisse Personalplanung, die wir treffen müssen, wo wir jedem eigentlich schon sagen können müssten: ‚Okay, dein Lebensweg hier, wenn das und das stimmt, kann dort hin führen.’ Das heißt, dass man auch den Leuten Perspektiven aufzeigt. Das ist ohne Vergangenheit, ohne was weiß ich wie viele Dienstjahre nicht erklärbar. Und deswegen ist auch die negative wie auch die positive Vergangenheit natürlich ganz wichtig für unsere Entscheidung, was mit einem Bediensteten in der Zukunft passiert. Solche Gespräche führe ich natürlich in der Regel mit meinen engsten Mitarbeitern, die sagen: ‚Wie soll ich mich jetzt hier verhalten? Soll ich mich bewerben, für den oder jenen Posten, soll ich mich vielleicht für eine andere Anstalt hier bewerben? Wie schaut es aus? Was halten Sie davon?’ Hier wird man sehr deutlich dann sagen: ‚Okay, dafür bewirb dich oder mach das, weil das passiert ist, weil du das kannst oder weil das für dich vorteilhaft ist.’ Also solche Gespräche beziehen sich aber alle im Prinzip immer auf den dienstlichen Bezug der JVA. Wir sprechen hier nicht so sehr über die persönliche Beziehung oder Vergangenheit oder persönliche Zukunft. Aber auch das kommt vor, Bedienstete, die kommen und fragen: ‚Soll ich jetzt heiraten oder nicht?’ Auch das passiert mir. Das liegt auch daran, dass natürlich mit solchen Sachen vieles verbunden ist. Denken Sie zum Beispiel: Ein Bediensteter ist in einer anderen Anstalt, will unbedingt nach hier herkommen. Für den ist es möglicherweise durchaus vorteilhaft, wenn er jetzt zum Beispiel seine Freundin heiraten würde. Denn als Verheirateter würde er möglicherweise eher hier auf der Versetzungsliste nach oben rücken. Also Sie sehen, auch solche ganz banalen Sachen, die eigentlich gar nicht banal sind, haben natürlich schon auch Auswirkungen. Aber es gibt immer irgendwo den dienstlichen Bezug. Selbst die privaten Sachen sind ja dann irgendwo dienstlich.“ (AL V 204-235) Die Beamten sind sich darüber im Klaren, dass sie das Thema der dienstlichen Karriere vor der Folie von Vergangenheit und Zukunft evaluieren und dass sich daran die Erfüllbarkeit von Träu195
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
men und Plänen bemisst: „Zukunft und Vergangenheit wird bei uns auch sehr ausführlich besprochen, gerade was dienstliche Zukunft und Vergangenheit so anbelangt. Das ist ja eigentlich im Beamtenapparat immer so eine Geschichte: ‚Warum werde ich was oder warum werde ich nichts?’“ (AVD II, 44-48) Ein anderer Kollege meint: „Über Zukunft wird eigentlich auch viel gesprochen. Von mir und von den Kollegen, weil man sich ja doch auch in meinem Alter noch ein bisschen was für die Zukunft, so ein Ziel gesteckt hat, man ein bisschen was erreichen will, dass man halt sagt, ich möchte vielleicht an diesem Lehrgang noch teilnehmen und ich würde mir wünschen, vielleicht das und das zu machen.“ (AVD V 144-149) Ein Werkdienstbeamter, der kurz vor der Pensionierung steht, sieht das Thema Zukunft und Vergangenheit der Dienstzeit nicht etwa so, dass es für ihn bald nur noch die Vergangenheit und die getane Arbeit gibt. Für ihn setzt sich sein Dasein als Beamter dadurch fort, dass er im Ruhestand wohlwollend auf die Vergangenheit zurückblicken möchte: „Das Wichtigste ist eigentlich, dass man einen recht guten Job macht. Dass man gerne zur Arbeit geht und dass man dementsprechend auch belohnt wird. Besoldung oder eine höhere Stellung. Das sind so eigentlich die Träume, die jeder bei uns hat. Schlimm finde ich, wenn ich jetzt so Kollegen, die ich jetzt kenne oder die schon ausgeschieden sind, wenn ich mit denen so geredet habe oder rede, ist es eigentlich sehr frustrierend für mich, wie hier drin die meisten die Tage zählen und sagen: ‚Wenn ich fertig bin, komme ich nie wieder.’“ (WD I 183-209) Die Zitate belegen, was mir auch während der teilnehmenden Beobachtung häufig aufgefallen ist: Über die dienstliche Zukunft und Vergangenheit wird im Stillen und im engeren Kollegenkreis räsoniert. Im Umgang mit Vorgesetzten werden solche Themen häufig mit dem Zweck der Beförderung vorgebracht. Insgesamt haben mir die Beobachtungen und Gespräche im Strafvollzug den Eindruck vermittelt, dass die Gegenwart eine argumentative „Wegkreuzung“ darstellt, auf der die Gefängnisangehörigen Bewertungen der Vergangenheit vornehmen sowie Hoffnungen auf und Entscheidungen für die Zukunft abwägen. Dabei sind sowohl Gefangene als auch Beamte untereinander derart ins Gespräch über die Bemessung von Haftoder Dienstzeiten vertieft, dass sie von Außenstehenden, kaum noch verstanden werden.
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DIE ERGEBNISSE
Versprechen geben Ohne uns durch die Versprechen für eine ungewisse Zukunft zu binden und auf sie einzurichten, wären wir niemals imstande, die eigene Identität durchzuhalten. (Hannah Arendt)
Versprechen zu geben und diese hernach einzuhalten, ist für die meisten meiner Forschungspartner ein konstitutiver Teil ihres Lebens und Arbeitens im Gefängnis. In den Interviews habe ich das Phänomen „Versprechen geben“ nicht explizit abgefragt. Es erschien mir fruchtbarer, dieses Thema in der Praxis zu beobachten und zu erfahren, was die Beteiligten in den konkreten Situationen darüber denken. Insbesondere für die Abteilungsbeamten scheint es wichtig zu sein, dass Versprechen insbesondere gegenüber Gefangenen aber auch gegenüber Kollegen gehalten werden. Ich kann bestätigen, dass in den mir bekannten Fällen nur sehr wenige Beamte ihre Versprechen mutwillig nicht gehalten haben. Ein Beamter berichtet: „Ein guter Bediensteter muss besondere Eigenschaften haben: Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit, Aufgeschlossenheit. Und nicht nachtragend sein. Versprechen gehört für mich zur Zuverlässigkeit. Wenn ich einem Gefangenen was verspreche, dann muss ich das halten. Und wenn ich etwas sage, was der Gefangene als Versprechen wertet, was aber kein Versprechen ist, dann muss ich das deutlich machen, dass das kein Versprechen ist sondern ein Bemühen. Weil Versprechen sind ja selten.“ (FTB 1011-1016) Da Versprechen im Gefängnis schwer zu halten sind, wird mit deren Vergabe sparsam umgegangen, wie ein Fachdienstmitarbeiter erklärt: „Häufig verlassen die sich auf uns, weil wir was versprechen. Und dann können wir es nicht halten. Und dann fühlen sie sich ja total aufgeschmissen. Ich versuche, Versprechen zu vermeiden. Manchmal rutscht mir was raus. Ich sage dem ‚Ich kann es probieren, aber nicht versprechen.’“ (FTB 2629-2632) In der Regel kommt es Gefangenen jedoch nicht primär auf das Ergebnis des Versprechens an, sondern darauf, dass der Beamte sich sichtlich um eine Einlösung des Versprechens bemüht hat. Möglicherweise ist einem Gefangenen also bereits damit Genüge getan, wenn er merkt, dass sein Beamter sich spürbar für ihn eingesetzt hat. Ein AVD-Beamter erklärt: „Das ist im Grunde genommen der Vollzugsspruch: ‚Ich kümmere mich darum.’ Oder ‚Ich schaue danach.’ Aber ob der das dann auch macht? Wenn dann aber einer wirklich danach guckt, und selbst wenn ein ‚Es geht nicht.’ dabei rauskommt, dann ist das okay. Wenn der Gefangene sieht, dass der was macht, dann honoriert der das.“ (FTB 2388-2392) Ein anderer Beamter sagt, er könne manche Verspechen nur geben, wenn der Gefangene seinerseits bestimmte Voraussetzungen erfüllt: „Wenn ich 197
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was verspreche, dann ist der Gefangene auch oft selber schuld, wenn mein Einhalten von seinem Vollzugsverhalten abhängt. Und dann steht er da.“ (FTB 1197-2007) Ein Beamter, der einem Gefangenen etwa verspricht, in ein paar Tagen telefonieren zu dürfen, wird dieses Versprechen nicht einhalten können, wenn der Gefangene im Laufe des Tages infolge eigenen Fehlverhaltens eine Hausstrafe erhält und z. B. für mehrere Tage in die Arrestzelle verbracht wird. Versprechen von Beamten beinhalten in der Regel Zusagen gegenüber Gefangenen, die ein Bemühen um die Erfüllung von Gefangenenwünschen beinhalten. Beamte äußern Gefangenen gegenüber allerdings auch Versprechen, die nicht immer im Sinne des Gefangenen sind. Nicht selten werden Drohungen als negative Variante des Versprechens geäußert: „Ich muss mir überlegen: Was ich ihm androhe, muss ich auch durchsetzen. Weil sonst mache ich mich lächerlich. Wenn ich zu einem Gefangenen in der Kirche sage: ‚Noch einen Ton oder ich schmeiße dich raus.’ Wenn er dann einen Ton macht und wenn ich dann sage: ‚Na ja, ich schmeiße dich doch nicht raus’ dann mache ich mich lächerlich. Also muss ich mir überlegen, was ich ihm sage, damit ich mich nicht lächerlich mache.“ (AVD III 1431-1436) Ebenso wichtig wie die Kontinuität des Wortes „Ja“ muss auch die Kontinuität des Wortes „Nein“ bei einer Absage angestrebt werden. Ein Beamter ergänzt: „Das geht nicht: mal so, mal so. Heute einem Gefangenen sagen ‚Du darfst das nicht’ und morgen sagen, ‚Du darfst das doch’, weil das alles durcheinander bringt. Man muss im Vollzug das konsequente Neinsagen lernen.’ Darauf ein Kollege: ‚Stimmt. Aber gleichzeitig musst du die wenigen Jas, die du gibst, gut überlegen, bevor du sie sagst, denn ein Versprechen im Knast musst du halten. Das ist mit das Wichtigste. Wenn du nur Opern singst, dann hast du schnell den Ruf weg.’“ (FTB 3171-3178) Ein gegenüber einem Gefangenen geäußertes Versprechen sollte ebenso gehalten werden wie ein Versprechen gegenüber einem Kollegen. Ein konsequentes und kontinuierlich-einheitliches Dienstverhalten gegenüber Gefangenen kommt auch indirekt den Kollegen derselben Abteilung zugute. Ein Beamter meint: „Also ich finde das Versprechen hier drin wichtig, sehr wichtig, wichtiger als draußen. Wenn man dem Kollegen was verspricht, dann geht es ja um Gefangene. Und wenn das dann nicht eingehalten wird, dann steht man selber da wie der Depp. Auch gegenüber den Gefangenen muss man Versprechen halten.“ (FTB 730-737) Auch Anstaltsleiter versuchen, ihre Versprechen zu halten. Ein Anstaltsleiter berichtet im Interview folgendes: „Wenn ich über den Flur gehe und mich ein Gefangener anspricht und ganz konkret auf eine Geschichte, wo ich sage: ‚Okay, kann ich dazu nichts sagen, da muss ich in die Akte sehen oder muss mir noch Informationen holen. Aber Sie können davon ausgehen, ich gucke danach. Sie kriegen auch 198
DIE ERGEBNISSE
eine Antwort.’ Aber dann steht man auch im Wort und gerade auch in dieser Position Anstaltsleiter steht man im Wort.“ (AL VI 561-569) Warum gerade Gefangene besonders daran interessiert sind, dass ihnen gegenüber auch unwichtige Versprechen gehalten werden, lässt sich entsprechend der Erklärung eines Abteilungsbeamten wie folgt erklären: „Das ist hier drinne so: die Gefangenen haben hier viel Zeit zum Nachdenken und jeder sieht sein Problem als das Wichtigste an. Und wenn du ihm was versprochen hast, dann wird der das nicht vergessen. Und wenn du das dann vergisst, musst du es auch zugeben. Das kommt besser als irgendwelche Ausreden.“ (FTB 2250-2257) Aus linguistischer Sicht, kann das Phänomen „Versprechen geben“ besonders gut anhand der Sprechakttheorie erfasst werden. Der Sprachphilosoph John Searle hat dargelegt, inwiefern Sprache neben ihrer Beschreibungsfunktion auch eine Handlungsfunktion besitzt. Um diese Aussage in seiner Theorie der Sprechakte zu erläutern, hat er aus der Vielzahl denkbarer Sprechakte den Sprechakt Versprechen exemplarisch herausgegriffen.207 Es ist der ideale empirische Anspruch seiner Theorie, sämtliche sprachliche Äußerungen hinsichtlich ihrer handlungsrelevanten Wirkung zu erfassen und zu klassifizieren. Die Sprechakttheorie besagt in ihren Grundzügen folgendes: Zwei wichtige Kategorien sprachlichen Handelns sind nach Searle die performativen Äußerungen, die den Vollzug einer Handlung darstellen („Ich gehe zum Einkaufen“) sowie konstative Äußerungen, mit denen man Sachverhalte in der Welt feststellt („Der Mond scheint“). Für die hier zu besprechende handlungstheoretische Fragestellung ist die Kategorie der performativen Äußerungen von Interesse. Die Beurteilungsdimension der konstativen Sprechakte ist am Kriterium der objektiv nachprüfbaren Wahrheit (in unserem Beispiel am Mondschein) orientiert, während für die Gruppe der performativen Sprechakte die Beurteilungsdimension die faktische Durchführung ist. Daran lässt sich schließlich die Authentizität der Aussage messen. Der Satz „Ich verspreche dir ...“ ist ebenfalls performativer Art. Mit ihm vollzieht der Sprecher eine Handlung. Sprechakten kommt allerdings nur dann sinnhafte Gestalt zu, wenn sie von einem Hörer vernommen werden und eine Wirkung auf diesen haben. Die Sprechakttheorie bezeichnet diejenigen Äußerungen, die eine Wirkung auf den Hörer ausüben, als perlokutionäre Akte.208 Der 207 Vgl. John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 88-113; vgl. G. Grewendorf/F. Hamm/W. Sternefeld: Sprachliches Wissen, S. 378 ff. 208 Die Sprechakttheorie unterscheidet drei verschiedene Aspekte, unter denen ein Sprechakt betrachtet werden kann. Unter „Lokution“ versteht man den „eigentlichen Akt des lautlichen, grammatischen und lexikalischen Äußerns“. Der Begriff „Illokution“ bezeichnet die „mit der Äuße199
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Sprechakt des Versprechens bedeutet für den Hörer, dass der Sprecher sich an ihn insofern bindet, als er ihm eine zukunftsgerichtete Zusage macht. Das Versprechen bedeutet sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer, dass beide zu Partnern eines verbal abgeschlossenen Vertrages werden. Der Sprechakt Versprechen gibt dem Hörer das Recht, in der Zukunft so lange gegenüber dem Sprecher auf das Thema des Versprechens zu referieren, bis dieses eingelöst ist. Der Sprechakt des Versprechens eröffnet dem Hörer meiner Meinung nach im linguistischempirischen Sinne Sprecherrechte. Das Versprechen kündigt für die Zukunft eine Einheit von Wort und Tat an. Die Annahme eines Versprechens durch den Hörer erfordert auf dessen Seite ein zukunftsgerichtetes Vertrauen und den Glauben an die Kontinuität des Willens seines Gegenüber. Die Zitate haben gezeigt, dass sich besonders unter AVDBeamten viele Anhänger des Versprechens finden. Ich werte dies als einen Indikator dafür, dass diese Beamten dazu bereit sind, sich in die Pflicht nehmen zu lassen und dass sie in den Gefangenen Gesprächspartner erkennen, die ein Recht auf Wahrhaftigkeit der Rede haben. Versprechen zu halten ist als ein Bemühen auf Sprecherseite zu betrachten, welches die Rechte des Hörers berücksichtigt. Dies leitet über zum nächsten Thema: der Phänomenologie des Hörerrechts im Gefängnis.
rung verbundene Handlung“. Der Begriff „Perlokution“ meint die Wirkung einer Äußerung. Vgl. hierzu M. Dürr/P. Schlobinski: Einführung in die Linguistik, S. 197. 200
DIE ERGEBNISSE
Phänomenologie des Hörerrechts im Gefängnis Deckadresse Die Deckadresse der Maria G. lautet Maria G. Es ist die einer freundlichen älteren Frau, die in einer hübschen, mit alten Möbeln ausgestatteten Wohnung lebt und für jeden zu sprechen ist. Die Tee einschenkt, wenig von sich redet, viel fragt, den anderen zu Wort kommen lässt, zu seinem Wort. Während Maria G. jung, zumindest ohne jedes Alter ist, ungeduldig, unduldsam, von Menschen rasch ermüdet, dabei selbst schwatzhaft, geltungssüchtig und voll Zorn. Sie möchte Grimassen schneiden, Schimpfworte gebrauchen, Kosewörter, einen Gast an den Haaren reißen, einen Gast in blinder Liebe umarmen. Mit dem, was sie schreibt, ist sie nie zufrieden, sie glaubt aber, dass sie noch Zeit hat, es besser zu machen, weil sie sich nicht vorstellen kann, dass das Leben zu Ende geht. Sie hat Ängste und furchtbare Träume, lebt deswegen zeitweise unter ihrer Deckadresse, bildet sich dann ein zu sein, wie diese Frau Maria G., gottergeben, todergeben, voller Liebe und Geduld. (Marie Luise Kaschnitz)
In den vorangegangenen Kapiteln wurden schwerpunktmäßig das Handeln des Sprechers und die dazugehörigen Sprechsituationen erläutert. Meine Daten lassen sich darüber hinaus auch Kategorien zuordnen, die einen Einblick in das Handeln des Hörers und seine Hörsituationen erlauben. Die Behauptung, dass Hörer handeln, widerspricht der alltagstheoretischen Vorstellung von den Eigenschaften eines Hörers. Hörer verhalten sich im Gespräch jedoch weder ausschließlich passiv noch stets schweigend. Sie folgen den Ausführungen eines Sprechers in der Regel auf aktive Weise. Sowohl auf der verbalen als auch auf der nonverbalen Ebene senden Hörer Signale an den Sprecher aus, mittels derer sie dem Sprecher Interesse oder Desinteresse, Zustimmung oder Ablehnung und dergleichen mehr signalisieren. Durch ihr Rezipientenverhalten haben Hörer also entscheidenden Einfluss auf den Gesprächsverlauf. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Konversationsanalyse die Konzepte des Rederechts bzw. der Redeübergabe verwendet. Dieses 201
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Konzept impliziert, dass die Sprecher- und Hörerrollen ausgetauscht werden, d. h. das man neben einem Rederecht auch von einem Hörerrecht sprechen kann. Mittels des Konzeptes der Redeübergabe wird beschrieben, wie sich entweder der Hörer das Recht zur Rede nimmt oder wie der Sprecher es ihm erteilt. Die Möglichkeiten des Hörers, das Rederecht zu erlangen, sind dann denkbar schlecht, wenn der Sprecher keine Redeübergabe anbahnt oder sogar den Hörer durch lauteres oder schnelles fortgeführtes Sprechen an der Redeübernahme zu hindern versucht. Der Hörer kann seinerseits das Rederecht des Sprechers beenden, indem er sich während des Gesprächs z. B. die Ohren zuhält oder zu singen anfängt. In der alltäglichen Kommunikation läuft die Verteilung von Rederecht und Hörerrecht meist reibungslos ab, da Angehörige derselben Sprachgemeinschaft auf konventionalisierte Verhaltensweisen zurückgreifen, welche die Rederechtsverteilung regeln. Die Aushandlung des Rederechts wird Gesprächsteilnehmern immer dann bewusst, wenn sie sich als Sprecherhörer ungerecht behandelt fühlen oder wenn die Gesprächspartner in eine Situation geraten, welche die gegenseitigen kommunikativen Erwartungen in Frage stellt.209 Bezüglich des linguistischen Begriffs Rederecht ist zu beachten, dass er keinen rechtsphilosophischen Bedeutungsgehalt transportiert: In einer bestimmten Gesprächssituation das Rederecht zu haben bedeutet nicht, normativ mit Rechten ausgestattet zu sein, die einem den Status eines potentiellen Sprechers verleihen. Aus linguistischer Sicht bedeutet der Begriff, das ‚Rederecht’ (bzw. das ‚Hörerrecht’) zu haben, sich aktuell in einer Situation zu befinden, in der es im empirischen Sinne möglich ist, zu sprechen (bzw. zu hören). In der vorliegenden Arbeit gehe ich von einer rechtsphilosophischen Konzeption des Rederechts aus, die besagt, dass eine Person im normativen Sinne ein Recht auf sprachliches Handeln gegenüber anderen hat. Die Ausführungen sollten zeigen, dass Hörer und Sprecher in ihren wechselnden Rollen empirisch gleichermaßen an der Gesprächsgestaltung beteiligt sind und dass ihnen normativ diese Beteiligung zusteht. Im Folgenden soll anhand der sprachlichen Phänomene anonyme Rede, Lüge und Geheimsprachen gezeigt werden, in welcher Weise im Gefängnis das Recht des Hörers auf sprachliche Kooperation gebrochen wird. Die Ausführungen verdeutlichen gleichzeitig, worin genau das Konzept des Hörerrechts im strafvollzuglichen Kontext stehen kann. Bezogen auf das Gefängnis mag man vermuten, dass die Insassen sowohl bezüglich ihrer Hörer- als auch ihrer Sprecherrechte gegenüber dem Personal benachteiligt sind. Dies ist meiner Ansicht nach tatsächlich häufig der Fall. In 209 Vgl. zum Konzept der Redeübergabe Franz Hundsnurscher: DialogTypologie, S. 215 ff. 202
DIE ERGEBNISSE
manchen Situationen jedoch bietet sich auch den Insassen die Gelegenheit, den Hörern auf Mitarbeiterseite die verbale Kooperativität vorzuenthalten.
Lügen There is nothing like Pinocchio’s nose. (Aldert Vrij)
Nahezu alle befragten Gefängnisangehörigen glauben, dass im Gefängnis die verlogene Gesellschaft par excellence versammelt sei. In meinen folgenden Ausführungen möchte ich das Lügenaufkommen im Strafvollzug jedoch nicht quantifizieren. Ähnlich wie im Fall des Phänomens Kriminalität kann man auch im Fall der Lüge von einem Dunkelfeld ausgehen, welches all diejenigen sprachlichen Täuschungen umfasst, die nicht als Täuschungen erkannt werden. Möglicherweise wird im Gefängnis gar nicht mehr gelogen als jenseits der Mauer. Vielleicht sind die Gefängnisangehörigen nur besonders darauf bedacht, Lügner ausfindig zu machen und deshalb außerordentlich erfolgreich, Lügen aufzuspüren. Im Folgenden möchte ich in erster Linie diskutieren, wie Beamte und Mitarbeiter des Strafvollzugs mit sprachlicher Täuschung umgehen. Daran anschließend wird die Lüge aus wissenschaftlicher Perspektive besprochen. Nach Ansicht nahezu aller Befragter wird im Gefängnis viel gelogen und dies hauptsächlich auf Seiten der Gefangenen. Ein Beamter stellt ohne Umschweife mir gegenüber fest: „Also einem Gefangenen glaube ich grundsätzlich schon mal gar nichts. Das habe ich gelernt. Weil da lässt man sich einfach zu viele Bären aufbinden, wo man dann im Endeffekt vielleicht mal die Akte – da ist dann alles ganz anders gewesen. Seitdem ich hier angefangen habe, bin ich skeptischer und misstrauischer gegenüber anderen geworden.“ (AVD V 257-262) In den Reihen der Gefangenen findet diese Aussage Zustimmung: „ Man wird prinzipiell bloß angelogen zu neunundneunzig Prozent. (GEF II 47-48) „Das sind Storys. Ob das jetzt im Hafthaus stattfindet oder ob das draußen ist. Haben einen Haufen Geld und sitzen wegen Geldstrafe in Haft. Bewegen sich auf dem Gang leise, erzählen aber übelste Storys, was sie auf anderen Pisten losgelassen haben. Unglaubhaft. Schuldfrage: Sitzen selber ein aber sind an nichts schuld. Unglaubhaft. Eigentlich alles.“ (GEF IV 314-323) Während diejenigen Personen, die gefangenennah arbeiten, eine gewisse Abgeklärtheit der Lüge gegenüber an den Tag legen, fühlen sich Bedienstete in Leitungspositionen besonders vom Lügengeschehen betroffen – vielleicht deshalb, weil sie es sind, die sich in der Delegations203
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tätigkeit oder in ihrer Arbeit mit Gefangenen auf die Stimmen von ihren Beamten oder Gefangenen verlassen müssen: „Man macht im Strafvollzug schon nach relativ kurzer Zeit eine Erfahrung, von der ich hoffe, dass sie einen nicht sozial impotent macht. Weil man was feststellt, was man aus der Außenwelt überhaupt nicht kennt. Und zwar geht man in der Außenwelt an Kommunikation mit einem Urvertrauen an den Gegenüber heran. Mit der Folge, dass man eigentlich grundsätzlich geneigt ist, das zu glauben, was der einem erzählt. Es sei denn, es wäre jetzt was völlig Absurdes oder die Person wäre aus irgendeinem Grund nicht glaubwürdig. Aber hier im Vollzug fängt man an, systematisch die Wahrheit dessen, was einem der Gegenüber erzählt, zu bezweifeln. Was daran liegt, dass man schon zu Beginn die Erfahrung gemacht hat, dass sehr vieles von dem, was man hört, aus Böswilligkeit, aus mangelhafter Recherche oder aus irgendwelchen anderen Gründen einfach nicht stimmt. Das gilt aber insbesondere für die Gefangenen und weniger für die Bediensteten. Aber auch im Gespräch mit den Bediensteten merkt man, dass bei denen jedenfalls dieses Misstrauen sich da fast notwendigerweise entwickelt. Dass dieses Misstrauen auch dazu führt, dass die vielleicht in anderer Weise kommunizieren, als sie das vorher gemacht haben.“ (AL VII 267-287) Am einsichtigsten mag einem gefängnisexternen Betrachter die Angst der Behandler, d. h. der Fachdienste, vor der Lüge zu sein. Diese Bedenken werden, wenn auch nur verhalten, so doch häufig genannt. Ein Fachdienstler vermutet bei manchen Gefangenen etwa folgende Grundeinstellung ihm gegenüber: „‚Ich gehe jetzt auf Therapie. Dem laber ich die Ohren zu: Das, was er hören will. Dann habe ich meine Ruhe für neun Monate und ich freue mich schon wieder auf den ersten Schuss.’“ (FD II 148-152) Ein anderer Fachdienstbeamter sieht sich weniger in der Gefahr, platt angelogen zu werden. Er vermutet vielmehr, dass ihm die Bereitschaft zur Mitwirkung an der Behandlung vorgetäuscht wird. Er hält das zunächst störrische Verhalten von Gefangenen für glaubhafter als eine einmütige Compliance. „Manchmal da versucht jemand zu taktieren. Ich bin skeptisch geworden, allgemein, wenn jemand zu offen ist oder zu kooperierend. Wenn jemand kommt: ‚Hier ist mein Lebenslauf, ich will unbedingt behandelt werden, ich will möglichst drei Sitzungen die Woche, weil ich weiß, die Therapie tut mir gut.’ Da habe ich gelernt, drei Schritte zurückzugehen. Weil ich denke, der Mensch will überhaupt nicht an seine Probleme. Mir ist es lieber, es entwickelt sich langsam. So wie ich auch schlecht damit zurechtkomme, wenn jemand intimste Dinge in der ersten Sitzung enthüllt. Ich meine, grundsätzlich gut, wenn jemand darüber reden kann. Aber ich halte es eben auch nicht für normal.“ (FD IV 666-679) Ein Gefangener zählt sich selber sogar stolz zu denjenigen Gefangenen, die sich infolge ihrer undurchsichtigen Äußerungen gegen204
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über dem Personal in der Vollzugskonferenz Vorteile erarbeiten. Seiner Meinung nach ist dieses Verhalten aber auch eine Folge dessen, dass man als Gefangener nahezu gezwungen ist, sich so zu verhalten, um im Gefängnis gut zu überleben:210 „Therapeutische Gespräche, das sind keine Gespräche. Das sind [Aufnahmedefekt] zwangsweise zum Gespräch. Wenn ich ein Gespräch führen muss, ich sage einmal ein Beispiel: Ich brauche ein Gutachten, ich brauche eine Stellungnahme von einem Psychologen hier drin, der das einfach in die Akte schiebt: ‚Der Gefangene hat sich mit der Tat auseinandergesetzt.’ Wie erreiche ich das? Also habe ich das Problem vorgetäuscht, dass der kommt und mich holt. Nur für so ein kurzes Gespräch, das der geplant hat. Sind wir da vorne in sein Büro reingehockt. Nach zwei Stunden sind wir rausgekommen. Der hat eine Stellungnahme geschrieben, dass der Gefangene sich hervorragend mit der Tat befasst hat. Kann man machen. Ich hole den wegen, von mir aus wegen einem Flaschenkorken, der sich gelöst hat, schweife dann dermaßen ab über meine Tat und den Vollzug, wie furchtbar und so weiter und so weiter. Und am Schluss kommt der zu dem Ergebnis, dass ich mich mit der Tat wunderbar auseinandergesetzt habe. In den Akten. Das ist von mir gezielt planmäßig gemacht. Und wenn einer wie ich das macht, das kommt so selten vor, dann ist die Anstalt überfordert. Die Anstalt, diese Anstalt wie ich sie kenne, ist für mich berechenbar.“ (GEF II 754-774) Die sprachlichen Kompetenzen der Gefangenen im Bereich des Resozialisierungsjargons sind nicht zu unterschätzen. Ebenso wenig ist allerdings die Bereitschaft des Personals zu unterschätzen, dieser resozialisierungsparadigmatischen Täuschungsstrategie zu folgen und dem Gefangenen trotz kritischeren bewährungsprognostischen Wissens seinen Ausführungen zu folgen: Gefangene übersetzten ihre verständlichen Wünsche in die Resozialisierungssprache und „so kann es sein, dass die Anstaltsleitung eine Beurlaubung ausspricht, um anstelle eines renitenten einen zugänglicheren Gefangenen wiederzusehen, der Gefangene hingegen den Urlaub für einen kräftigen ‚Zug durch die Gemeinde’ nutzen will.“211
Die Resozialisierungssprache wird demnach auch dazu eingesetzt, unter dem Deckmantel der Resozialisierung für eine reibungslose Stimmung unter den Gefangenen zu sorgen, welche wiederum ein ruhigeres Arbei210 Eine interessante Arbeit über die strafvollzugliche Inszenierung von Tataufarbeitungen liefert Franziska Lamott in ihrem Buch „Die erzwungene Beichte“. Vgl. Franziska Lamott: Die erzwungene Beichte: zur Kritik des therapeutischen Strafvollzugs, München: Profil 1984. 211 M. Walter: Strafvollzug, S. 299. 205
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ten für das Vollzugspersonal zur Folge hat. Diese insbesondere von Michael Walter vertretene These bestätigt meine bereits an anderer Stelle erwähnte Annahme,212 dass es pragmatische Allianzen zwischen Gefangenen und Beamten gibt, welche die Gefängnisangehörigen für Momente zu einer eingeschworenen Gemeinschaft werden lässt. Die Gefängnisbediensteten stellen Überlegungen darüber an, von welchen Gefangenen sie mehr und von welchen sie weniger angelogen werden. Am häufigsten erstellen sie von Betrügern ein sprachliches Fremdkonzept, das sprachliche Täuschung beinhaltet: „Da gibt es also ganz klare Erfahrungswerte. Das ist eigentlich, es wird kein Vollzugsmensch anders erzählen: Ein Betrüger und ein Brandstifter, dem ist immer mit Misstrauen zu begegnen, weil die sich anpassen können. Also wenn der Ihnen was erzählt, dann sollte man lieber die Geschichte hinterfragen. Das ist ganz eklatant. Jeder Brandstifter ist ein hervorragender Hausarbeiter, ein sehr angepasster Mensch, der also im Knast wunderbar funktioniert, aber mit seinem Problem eigentlich nichts zu tun hat.“ (AVD II 238-243 ) Diese Erfahrung scheint sich auch bei den Vorgesetzten der Beamten durchgesetzt zu haben. Zwei Anstaltsleiter meinen: „Wenn nun zum Beispiel ein Betrüger mir erzählt, dass er eigentlich gar nicht diese ganzen Aktienpakete da verkauft habe, sondern dass das eigentlich irgendwie ein ganz anderer Dunkelmann im Hintergrund ist. Und es gibt dann so Leute, die sich da also als betrogene Betrüger auch hinstellen, das gibt es freilich. Aber so sich als Betrogene sich wieder hinstellen, dass man nachher wieder sagen muss: ‚Ganz so dumm kann er gar nicht gewesen sein.’ Da gibt es also Lebensgeschichten, Phasen, wo ich sagen muss, die glaube ich nicht.“ (AL I 408-415) Auch ein anderer Anstaltsleiter weist explizit auf die Betrüger hin: „Wo ich einen Vorbehalt habe, ist bei einer bestimmten Tätergruppe. Bei Betrügern. Das ist für mich eine Tätergruppe, wo ich sehr, sehr misstrauisch bin. Auch wenn es noch so vernünftig zunächst mal klingt. Aber bei allen anderen Tätergruppen oder Mitarbeitern: Wenn man keine Negativerfahrung gemacht hat, dass ich angelogen werde, dann kann es noch so blöd zunächst mal klingen.“ (AL III 345350)Glaubhaft erscheinen den Beamten in der Regel solche Aussagen von Gefangenen, deren Straftaten eher etwas mit einem Versehen zu tun hatten: „Glauben könnte man vielleicht einem Gefangenen, der, aus welchen Gründen auch immer, bei einem Unfall zum Beispiel, und deswegen eben verurteilt wurde. Dem kann man vielleicht manches glauben. Aber auch nicht alles, weil sonst wären sie ja nicht hier. Kann ja jedem passieren. Aber nicht einem, der betrügt.“ (AVD VIII 231-236) Erstaun212 Vgl. meine Ausführungen im Kapitel „Von der Zwangsgemeinschaft zur Sprachgemeinschaft“ am Ende. 206
DIE ERGEBNISSE
licherweise werden bei meiner Frage, wem im Gefängnis am wenigsten geglaubt wird, nicht wie bei anderen Fragen auch, die Sexualstraftäter zuerst genannt, sondern die Betrüger. Von den Kindesmisshandlern wird eher angenommen, dass sie nicht von selber ihre Tat abstreiten, sondern ihre Lügengeschichte erst dann entwerfen, wenn man ihnen die Tat vorwirft: „Der Gefangene kommt ja auch meistens dazu [zur Zugangskonferenz, G. K. ], der berichtet dann auch. Und ich muss feststellen, die Sexualtäter, die mit Kindern, die meisten wissen: Entweder wissen sie nicht, was sie gemacht haben, oder sagen einfach: ‚Das habe ich nicht gemacht, das ist ein Fehlurteil.’ Und wir müssen halt nach dem Urteil gehen.“ (WD I 481-484) Es wird nicht in erster Linie gelogen, indem eine Unwahrheit erzählt wird, sondern indem vom Geschehen Relevantes weggelassen oder teilweise umgedeutet wird. Diese Form der Lüge, die mir bei allen Angehörigen des Gefängnisses begegnet ist, macht besonders den Anstaltsleitern zu schaffen: „Das ist ja auch eines meiner Hauptprobleme, wenn man in einem derart hierarchischen Gebilde an der Spitze steht. Für mich ist ein ganz zentrales Problem: Wie kriege ich Informationen? Von wem kriege ich Informationen? Wie habe ich diese Informationen zu bewerten? Je nachdem, von wem sie kommen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass mir eine gefilterte Information zweckgerichtet vorgelegt wird?“ (AL VIII 212-222) Unter den Gefangenen wird das Lügengeschehen anders wahrgenommen. Für sie steht häufig nicht die Leugnung einer Tat im Vordergrund, sondern das Darstellen einer sagenhaften bisherigen Lebensgeschichte, die so nicht stattgefunden hat, mit der man sich aber möglicherweise Anerkennung in der Gefangenengruppe verschaffen kann. Diese Geschichten „haben weder Hand noch Fuß oder passen nicht zu dem Muster hier drin. Wenn zum Beispiel einer draußen mit seiner [Markenname] unterwegs ist und wenn er nur bei diesen SuperDesignern einkauft, seine Klamotten, seinen Lebenswandel beschreibt und was er so um sich hat. Und dann sitzt der nur wegen Geldstrafe zum Beispiel achthundert Mark die Tagessätze ab. Ich würde das nicht tun, ich hätte [unverständlich] und mir die Haft erspart. Also das passt nicht. Wissen Sie, [ironisiert im Folgenden]: Die sind alle reich, jeder zweite hat eine Firma und haben dann auch alle immer Erfolg. Aber bloß: Dann treffen sie sich hier.“ (GEF IV 107-118) In der Gefangenengruppe wird dann auch dementsprechend denjenigen mehr Glauben geschenkt, die nicht so viel reden: „Also meiner Meinung nach wird den Leuten geglaubt, die ruhiger sind und die auch nachdenklicher sind. Wer viel redet, der macht meistens nur Sprüche und es steckt halt nicht viel dahinter.“ (GEF VII 163-175) Während also die Mitgefangenen zur Entlarvung von Lügen offenbar auf eine sorgfältige Analyse der Worte und des Verhaltens eines Lügners 207
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angewiesen sind, haben Angehörige des Personals es in dieser Hinsicht leichter, unter anderem deshalb, weil sie über einige strafvollzugsrechtlich legitimierte Kontrollinstrumente verfügen: „Ich glaube, dass viele Gesprächsinhalte der Leute eigentlich so sind, dass sie mit dem, was sie haben, prahlen. Dass sie also blenden wollen, andere beeindrucken wollen. Ich habe schon manchen Hausbesuch gemacht, da habe ich dann ganz andere Dinge gefunden.“ (FD V 297-300) Wie im folgenden Kapitel ausführlicher zu zeigen sein wird, werden Rechtfertigungen der Gefangenen zu ihrem kriminellen Tatverhalten vom Personal mit Vorsicht behandelt. Nur in wenigen Fällen wie dem folgenden wird Rechtfertigungstechniken auch mit Verständnis begegnet: „Da gibt es sicher Leute, die sehr einleuchtende, auch mit kriminologischen Erkenntnissen übereinstimmende Lebensgeschichten berichten oder Erklärungen darüber, wie sie nun kriminell geworden sind. Und dann fällt mir das nicht schwer, das zu glauben. Es gibt sicher auch Leute, die ihre Kriminalitätsgeschichte so erzählen, wie sie das eben gerne möchten. Das heißt, dass sie das rationalisieren. Vielleicht nun auch sehr peinliche Phasen ihrer Lebensgeschichte eben so erzählen, dass sie selber dabei noch einigermaßen gut dabei wegkommen. Das ist ja nun psychologisch eine ganz normale Situation, dass man unangenehme Dinge, wo man sich schämt, wo man sich geniert, dass man dafür irgendwelche plausiblen Erklärungen findet. Freilich eben häufig sehr vordergründige Erklärungen.“ (AL I 393-406) Verifiziert bzw. falsifiziert werden Berichte von Gefangenen in vielen Fällen anhand der Eintragungen in der Gefangenenpersonalakte (GPA). Der Wahrheitsgehalt dieser Textsorte wird meiner Erfahrung nach von keinem Gefängnisangehörigen, und wenn es sich nicht gerade um die eigene Akte handelt, auch von Gefangenen nicht in Zweifel gezogen. Interessanterweise wird in den Berichten der Befragten häufig das Phantastische einer mündlichen Gefangenenerzählung in Kontrast zu der Sachlichkeit der GPA gesetzt: „Das ist halt die Verifizierbarkeit durch die Akten. Da kann man sich dadurch oft vergewissern, ob es stimmt oder nicht. Das mache ich dann auch, wenn mir etwas zu phantastisch, zu phantasievoll erscheint.“ (AL IV 379-384)213 Später werde ich in meinen theoretischen Ausführungen zum Thema Lüge zeigen, dass Menschen auf bestimmte Weise versuchen, die Lügentätigkeit des Gegenüber zu entlarven. Gefängnisangehörige verfügen ebenfalls über solche Strategien und bestätigen sogar teilweise, den Umgang mit der Lüge gelernt zu haben. Während Lügen bezüglich der Straftat von den Beamten anhand der Akten entlarvt werden können, müssen sich Gefangene auf ihr zwischenmenschliches Gespür verlassen. 213 Vgl. auch das Kapitel „Lügen“. 208
DIE ERGEBNISSE
Dies tun sie in der Regel durchaus erfolgreich: „Das ist, was positiv im Knast ist: Dass du die Menschen einschätzen lernst. Also heutzutage macht mir da keiner mehr was vor. Ich weiß sofort, wenn der jetzt einen Tabak von mir leiht: ‚Was kann der mir denn zurückzahlen? Kann der mir den nicht zurückzahlen?’ Oder auch: ‚Der sagt mir die Wahrheit.’ Oder nicht. Du achtest auch echt darauf. Du hörst so viele Geschichten. Du bist so oft angelogen worden. Ach, bin ich schon so oft reingefallen, richtig reingefallen. Mit der Zeit lernst du das dann. Du kannst auch viel, wenn einer erzählt, es gibt ja Leute, die sagen: ‚Ich bin ein Millionär, draußen.’ Jetzt kommt der aber schon mit der Anstaltskluft daher. Und hat keine eigenen Schuhe. Und keine eigene Hose. ‚Was bist du? Millionär?’ Ha, wenn er was hätte, dann könnte er sich das locker reinschicken lassen. Es gibt ganz wenige, ganz wenige, die ziehen dann Anstaltskleidung an und haben trotzdem draußen Geld. Aber denen merkst du das dann auch an. Meist widerspricht er sich ja. Du lebst auf so engem Raum zusammen, und irgendwann morgens oder so lässt der eine Bemerkung fallen und dann weißt du, die vorige Geschichte, was er am vorigen Abend erzählt hat, kann nicht stimmen. Du vergleichst auch immer wieder. Du siehst den auch jeden Tag. Da macht es auch die Länge der Zeit, die du mit demjenigen zusammen bist. Vielleicht kann der dich eine Woche täuschen oder zwei. Aber der kann dich nicht über Monate täuschen. Das geht nicht. Und das merkst du. Du siehst die ja immer. Der kann dir ja nicht davonrennen. Du bist ja immer wieder zusammen. Du läufst dir ja immer wieder immer über den Weg, wenn du morgens zur Arbeit gehst, wenn du das Essen holst, wenn du zu irgendwelchen Sportgruppen gehst und so. Dann siehst du ja immer wieder mal die Leute.“ (GEF III 281-304, 351-377) Der überwiegende Teil der Bediensteten beklagt, dass die Gefangenen ihre Straftat mehrheitlich leugnen. Vereinzelt habe ich während der teilnehmenden Beobachtung jedoch auch Situationen erlebt, in denen Gefangene ihre Tat zugegeben haben und mit dem Geschehenen sogar recht selbstbewusst umgehen. „Die Gefangenen sind ja viel offener, meine ich immer, offen gestanden, als ich selber mir das vorgestellt habe. Auch die schauerlichsten Geschichten erzählen die einem im Zugangsgespräch.“ (AL I 68-70) Viele Beamte wissen dann nicht so richtig, wie sie mit dieser unerwarteten Offenheit umgehen sollen und nehmen sie unter Umständen sogar als Bedrohung wahr: „Das erschreckt mich dann total, wenn die so ehrlich sind. Und sagen, das und das habe ich getan, und dann auch plötzlich wollen, dass man ihnen hilft. Das ist so ungewohnt, weil man ja sonst nur die Rechtfertigungstechniken kennt.“ (FTB 4274-4276) Nur sehr wenige Gefangene sprechen dabei über ihre Tat freimütig und ohne jede Reue. Ihnen wird dann allerdings von allen Seiten mit deutlichem Unverständnis begegnet. „Wir haben 209
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jetzt einen ganz schlimmen Fall bei uns im Betrieb. Der hat also ganz grausam [Tathergang anonymisiert]. Und der prahlt noch da mit dem. Der prahlt im Betrieb oder wo er ist, überall, was er gemacht hat, wie er es gemacht hat, dass selbst Gefangene sich abwenden und sagen: ‚Der spinnt.’ Aber der macht einen ganz normalen Eindruck. Der ist auch vom Gericht, vom Sachverständigen als ganz normal bezeichnet worden. Und da haben wir jetzt gerade das Problem, dass der zu einer [Maßnahme] ansteht und meine Mitarbeiter zu mir gekommen sind und sagen, mit dem können sie eigentlich nicht eine [Maßnahme] durchstehen, weil da muss ein bestimmtes Vertrauensverhältnis und so weiter Voraussetzung. Der muss einfach mit den Gefangenen, wo man so was, so was durchzieht, wo man auch Unterricht gibt, wo man viel mehr zusammen ist mit dem Gefangenen, da muss einfach ein Vertrauensverhältnis bestehen. Und den muss man irgendwie ein bisschen gern haben, so salopp einmal aus ausgedrückt. Und da weigern sie sich. [...] Wenn so ein Mensch so etwas gemacht hat, schuldeinsichtig ist und so etwas bedauert. Das wäre dann wieder ein anderer Fall. Aber der prahlt noch damit.“ (Berufsgruppe anonymisiert, Zeilen 490-516) Es bleibt zu fragen, ob die Lügen- und Rechtfertigungskultur des Gefängnisses dessen Angehörige dahingehend behindert, mit einem offenem Schuldeingeständnis eines Menschen, d. h. mit dem Verzicht des Gegenübers auf Lüge angemessen umgehen zu können. Die Mitarbeiter des Gefängnisses sind darauf angewiesen, sich mit den Informationen anderer zu befassen und diese zu bewerten. Dies gilt insbesondere für die Informationen, die von Gefangenen bzw. Beamten gegenüber der Anstaltsleitung gemacht werden. Ein Anstaltsleiter ist sich seiner Position jenseits der Mitarbeiterebenen sehr wohl bewusst und geht wie folgt mit der Frage nach wahrer oder falscher Information um: „Es ist wichtig, die ganz wenige Information sozusagen zu filtern, noch einmal zu filtern, auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen. Und dann nehme ich mir auch manchmal durchaus das Recht heraus, ein Problem, das an mich herangetragen worden ist, von dem aus seiner Sicht jetzt mit einem ganz anderen zu besprechen, um mir zu überlegen, was der eigentlich damit will. Was passiert jetzt, wenn das so ist? Wen berührt es hier im Haus? Und da kommen manchmal unterschiedlichste Dinge raus und manchmal ganz überraschende Dinge. Ich denke, was wahr oder unwahr ist, ist nicht das Problem für mich, weil manchmal diejenigen, die zu mir wollen, das gar nicht aus der Sicht wahr oder unwahr sehen. Sondern die wollen etwas erreichen. Und die sehen aus ihrem Blickwinkel das völlig richtig und logisch. Und damit ist das nicht mein Thema. Mein Thema ist, ob das dann auch für die ganze Anstalt hier Thema sein kann, was der mir vorbringt. Es spielt keine Rolle, ob das, was er sagt, wahr oder unwahr ist. Ich werde nicht angelogen, denke ich nicht. Also jetzt be210
DIE ERGEBNISSE
wusst angelogen, aber das Problem ist, dass ich halt nur die Halbwahrheit kriege. Nur einen Teil der Information kriege. Und dann muss ich halt bei einem Problem mir die anderen Bruchstücke zusammensetzen. Darum hat das gar keinen Sinn, danach zu fragen, ob ich etwas glaube oder nicht glaube. Sondern das Problem ist für mich zu überlegen: ‚Ist das, was an mich herangetragen wird, in dem Gespräch für mich so, dass ich es allein schon für sich hier zur Grundlage für meine Entscheidung machen kann? Und das ist in den allerwenigsten Fällen der Fall. Es ist aber in der Tat so. Wenn ich hier danach urteilen würde, ob jemand eine gefilterte Information mir gibt, dann komme ich ja ins Fahrwasser rein, jetzt ‚wahr oder unwahr’. Wenn ich das jetzt immer im Hinterkopf hätte und sage: ‚Bloß weil er mich jetzt mit der Halbwahrheit bedient hat, hat er mich schon angelogen’, dann kommt ja sofort ein ganz anderer Prozess bei mir hoch. Ich muss das ganze völlig emotionslos sehen. Ich kann mich mit solchen Emotionen wie wahr oder unwahr gar nicht aufhalten. Vielleicht, dann bin ich auf der Schaufel. Ich würde auch dem anderen dann immer das Negative unterstellen: ‚Hat der mich einmal angelogen, lügt er mich immer wieder an.’ Das ist systemimmanent bei uns, dass jemand, der zu mir kommt, etwas berichtet, nur selbst wiederum einen Teil der Wahrheit hat. Und deswegen lügt er nicht, sondern hat ja nur auch wieder einen Teil dieser komplexen Wahrheit. Ich rede von Beamten. Bei Gefangenen ist Wahrheit und Lüge ohnehin uninteressant. Denn hier laufen Mechanismen ab, die sich jenseits von Gut und Böse abspielen. Die im ganz anderen Bereich sich jetzt abspielen. Das ist bei denen hauptsächlich ein Verdrängungsprozess. Weil er nur so mit seiner Wahrheit umgehen kann, wenn er ganz bestimmte Dinge ausblendet. Sonst würde er hier zerbrechen. Das heißt also, auch hier ist es im Prinzip müßig, darüber zu diskutieren, ob das wahr oder unwahr ist. Wir müssen nur schauen, ob das die ganze Wahrheit ist oder ob das nur ein Teilaspekt ist. Ich sehe das bei manchen Diensten, die sich deswegen im Vollzug so schwer tun, insbesondere bei Sozialarbeitern, Pfarrern, Theologen – Psychologen sind da Gott sei Dank weniger anfällig, weil sie das von ihrem Berufsbild her ja schon wissen – aber es ist ganz fatal für diese Berufsgruppen, wenn sie hier mit solchen Begriffen hereinkommen und sagen: ‚Der hat mich angelogen und damit ist der für mich schon weg vom Fenster.’ Damit hat der keine Objektivität mehr dem Gefangenen gegenüber. Manche Dienste die resignieren dann auch und kommen dann eben zu einer Resignation in ihrer Tätigkeit, weil sie ständig immer das Gefühl haben müssten, ich bin der große Zampano Sozialdienst und darf nicht angelogen werden. Das ist eine völlig verkehrte Welt, in die er sich da hineinspintisiert. Und es ist gerade unsere Aufgabe, hier die ganze Lüge oder die ganze Wahrheit zusammen zu suchen. Wenn ich das hier so emotionalisiere das Ganze und sage: ‚Der darf mich nicht anlü211
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gen, ich hab ein Recht auf Wahrheit.’ dann hüpfe ich dem schon auf die berühmte Schaufel und ich resigniere. Und dann hab ich nur noch Misserfolge in meiner Tätigkeit. Viele Mitarbeiter, die gut sind, sind an dieser Frage hier im Vollzug zerbrochen. Pfarrer, die ausgeschieden sind, weil sie gesagt haben: ‚Ich kann das nicht mehr ertragen, dass ich hier missbraucht werde.’ Sozialarbeiter, die gesagt haben: ‚Von allen Seiten werde ich hier angelogen.’ Wenn ich diese Normalität der Teilwahrheit hier nicht akzeptiere, werde ich im Vollzug hier untergehen.“ (AL V 564-641) Ein lange Jahre diensterfahrener Beamter des Werkdienstes sieht die Dinge ähnlich: „Welche Geschichten werden geglaubt? Das ist eine gute Frage. Erst mal glaube ich gar keine Geschichte. Ich höre mir erst mal zwei, drei an, die damit irgendwas zu tun haben. Oder um die es jetzt speziell geht, so wenn es irgendwelche Probleme gibt. Wenn einer mal hier rein kommt und sagt: ‚Der hat das und das.’ Dann lasse ich den das ausreden und höre mir das gut an und sage dann: ‚Gut okay, ich gebe jetzt keine Wertigkeit jetzt da drüber. Und dann hole ich mir den anderen rein, den es auch mit betrifft. Und dann finden wir irgendwo eine Linie. Und wenn es dann so ganz gravierend ist, dann kommen sie alle mit an den Tisch. Dann tun wir das ausdiskutieren, was dran ist. Das habe ich mir hier eigentlich zur Maxime hier gemacht, dass ich mir da mehrere Parteien anhöre. Egal, ob das Gefangene sind oder Bedienstete. Einfach, dass man allen gerecht wird. Da kann man nicht klar sagen, der hat Recht oder der oder der. Das alles muss sich in der Gruppe klären. (WD IV 246-262) Die Aussagen der Befragten zeigen, dass manche Angehörige des Personals genaue Vorstellungen über die Vernichtung der strafvollzuglichen Lügenkultur haben, während sich andere Mitarbeiter in dieser Hinsicht eher gelassen oder resigniert geben. Auf die Frage Steffen Dietzschs, ob es klug wäre, „einem Gemeinwesen den Kampf gegen die Lüge anzuraten“214 antworte ich, dass es zumindest unklug ist, der Gefängnisgesellschaft den Kampf gegen die Lüge anzuraten. Klüger wäre es, den Gefängnisangehörigen Kompetenz im Umgang mit der Lüge oder der Halbwahrheit zu empfehlen. Diese Behauptung möchte ich im Folgenden ausführlich begründen. Ich widme diesem Thema sowohl besonders breite theoretische als auch besonders detaillierte empirische Aufmerksamkeit, da ich den Eindruck habe, dass die Lüge in der Vorstellung aller Gefängnisangehörigen in bedrohlicher Weise omnipräsent und in nahezu greifbarer Weise vorhanden ist. Mit dem Thema „Lüge“ haben sich bereits eine ganze Reihe von Wissenschaften beschäftigt, und dies mit sehr unterschiedlichen Ergeb214 Vgl. Steffen Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte der Lüge, Leipzig: Reclam 1998, S. 14. 212
DIE ERGEBNISSE
nissen. Ich möchte es mir nicht so einfach machen wie der Linguist Harald Weinrich, der vor nahezu vierzig Jahren behauptete: „Ob die (böse) Täuschungsabsicht, die seit Augustin zum Wesen der Lüge gehört, durch irgendeine gute Absicht, die sich mit der Lüge vielleicht verbinden mag, wettgemacht werden kann, [...] mögen die Moralphilosophen entscheiden. Die Linguisten haben hier kein Votum. [...] Die Lüge scheint sich der Zuständigkeit der Linguisten zu entziehen. Denn ob eine Aussage richtig oder falsch ist, muß man am Sachverhalt prüfen. Und ob eine Täuschungsabsicht vorliegt oder nicht, entscheidet sich in der Seele und ist, wenn überhaupt, nur psychologischer Betrachtung zugänglich.“215
Im Folgenden sollen sämtliche der von Weinrich ausgeklammerte Aspekte des Phänomens Lüge angesprochen werden. In seinen philosophischen Abhandlungen zum Thema Lüge unterschied bereits Thomas von Aquin die Scherz-, die Not- und die Schadenslüge. Mit den ersten beiden wird abgewiegelt, mit der zuletzt genannten aufgewiegelt. Der Soziologe Max Weber sprach zudem von Gesinnungs- und Verantwortungslügen, deren Gebrauch ebenfalls zur Situationsentschärfung beitragen können.216 Hieran ist deutlich zu erkennen, dass der Gedanke, Lügen sei nicht in jedem Falle gleich verwerflich, sondern ihr moralischer Wert sei als kontextabhängig zu bewerten, wissenschaftsgeschichtlich alt ist. Menschen setzen Lügen zu mannigfachen Zwecken in unterschiedlicher Weise bei allen denkbaren Gelegenheiten ein. Darum ist das Phänomen der Lüge zu vielschichtig, als dass man nur von einer Form der Lüge ausgehen kann. Neben der oben genannten pragmatischen Unterscheidung von Scherz-, Not-, Schadens-, Gesinnungs- und Verantwortungslügen gibt es die dreifache stilistische Unterscheidung von Aldert Vrij: „Outright lies“ bestehen darin, dass die übermittelte Information der Wahrheit völlig widerspricht. Mit „exaggerations“ werden Fakten derart übertrieben dargestellt, dass man auch hier nicht mehr von der reinen Wahrheit sprechen kann. „Subtle lies“ enthalten zwar die Wahrheit, die Anordnung der Propositionen sowie die verwendeten Stilmittel der Äußerung führen dann letztlich dennoch zur Irreführung der Betroffenen.217 Lügen können gemäß Vrij aber auch danach klassifiziert wer215 Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, Heidelberg: Lambert Schneider 1966, S. 14. 216 Vgl. S. Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte der Lüge, S. 16. Vgl. auch Hans Rott: „Der Wert der Wahrheit“, in: Mathias Mayer (Hg.): Kulturen der Lüge, Köln: Böhlau 2003, S. 7-34, hier: S. 22. 217 Vgl. Aldert Vrij: Detecting lies an deceit. The psychology of lying and the implications for professional practice, Chichester: John Wiley & Sons 2000, S. 10. 213
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den, wie komplex sie sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen.218 Die Versuche, Lügenarten voneinander zu unterscheiden, sind mit den vielfältigen Versuchen, den allgemeinen Begriff der Lüge zu definieren, verknüpft. Nach Robert Mitchell ist eine Lüge schlicht eine falsche Kommunikation, dessen Profiteur der Lügner ist. 219 Robert Krauss unterstellt dem Lügner Intentionalität, die beabsichtigt, beim Zuhörer einen Glauben oder eine Annahme zu etablieren, von der der Lügner weiß, dass sie falsch ist.220 Das Kriterium der Intentionalität sprachlicher Täuschung teilt auch Vrij. Für ihn ist jemand, der aus Versehen nicht die Wahrheit erzählt, kein Lügner, da er seiner eigenen Aussage Glauben schenkt.221 Den folgenden Ausführungen liegt eine Definition Vrijs zugrunde: Eine Lüge ist ein (erfolgreicher oder gescheiterter) Versuch, in einem Hörer ohne Vorwarnung einen Glauben hervorzurufen, den der Sprecher für unwahr hält.222 Die ältere Linguistik hat den Aspekt der Sprecherintentionalität zunächst ausgespart, wie die Definition Weinrichs zeigt: „Die Linguistik sieht [...] eine Lüge als gegeben an, wenn hinter dem gesagten Lügensatz ein ungesagter Wahrheitssatz steht, der von jenem kontradiktorisch, d. h. um das Assertionsmorphem ja/nein, abweicht.“223 Aus sozialpsychologischer und psycholinguistischer Perspektive haben Lügen eine wichtige psychosoziale Funktion.224 Auf die Frage, wie in der Durchschnittsbevölkerung gelogen wird, kann die emprische Lügenforschung detaillierte Ergebnisse vorlegen: Menschen versuchen, an218 219 220 221 222 223 224
214
Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 11. Vgl. Mitchell zit. n. A. Vrij: Detecting lies, S. 5. Vgl. Krauss zit. n. A. Vrij: Detecting lies, S. 5. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 6. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 6. H. Weinrich: Linguistik der Lüge, S. 40. In der empirische Lügenforschung bedient man sich meistens folgender Forschungsmethoden: Eine Methode mit hoher ökologischer Validität ist die schriftliche Befragung. Diese läuft in natürlichen Lebenssituationen ab. Dabei beobachten freiwillige Versuchspersonen sich selbst über einen mehrtägigen Zeitraum hinweg dahingehend, wie oft, warum und in welcher Weise sie lügen. Zudem geben sie an, wie sie sich selber als Lügner sehen. Diese introspektiven Daten tragen die Versuchspersonen in ein vorgefertigtes Tagebuch ein. Die Laboruntersuchungen zum Thema Lügendetektion weisen eine hohe interne Validität der Ergebnisse auf, die allerdings unter entsprechend künstlichen Bedingungen zustande gekommen sind: Die Versuchsperson muss am Verhalten eines Anderen erkennen, ob derjenige lügt oder nicht. Das Lügenverhalten ist dem Versuchsleiter bekannt. Nachteil bei dieser Methode ist, dass die Versuchsperson ihr Gegenüber nicht kennt, weniger auf die Situation vorbereitet ist und im Fall von computerunterstützter Erhebungstechnik weniger Zeit zum Überlegen hat. Vgl. hierzu näher A. Vrij: Detecting lies, S. 70 ff.
DIE ERGEBNISSE
dere mindestens einmal täglich zu täuschen. Gleichzeitig wird versucht herauszufinden, ob man selber angelogen wird oder wurde.225 Allerdings: „Some lies go undetected because observers do not want to detect a lie, because it is not in their best interest to learn the truth […] So why bother trying to discover whether those who make these compliments actually mean what they are saying?”226
Vielleicht bleiben, wie die Befragten der Studie berichten, aus gerade diesem Grund die meisten Lügen unentdeckt. Es wird angenommen, dass man denjenigen Personen ehrlicher gegenüber tritt, denen man emotional verbunden ist. Insgesamt haben die Versuchspersonen der Lügenforschung jedoch kein schlechtes Gewissen dabei, wenn sie lügen.227 Folgt man den Versuchspersonen, so gibt es viele nachvollziehbare Gründe, warum Leute lügen: Zunächst einmal möchte man einen guten Eindruck auf andere machen oder man ist bestrebt, sich selbst vor negativer Kritik oder gar vor Bestrafung zu schützen. Oft wird auch gelogen, um sich selber einen Vorteil zu verschaffen. Es wird aber auch gelogen, um anderen wohl zu tun und andere besser darzustellen. Man unterscheidet demnach in der gegenwärtigen Lügenforschung selbstorientierte Lügen von Lügen, die am anderen orientiert sind. Eine dritte Form der Lüge sind die sozialen Lügen, mittels derer soziale Bande aufrecht erhalten werden; so wird etwa in Gesprächen immer wieder gelogen, um weder langweilig noch rüde zu erscheinen.228 Das Lügenverhalten gestaltet sich geschlechtsspezifisch.229 Frauen fühlen sich beim Lügen unwohler als Männer: Sie empfinden Angst, Schuldgefühle und Aufregung. Als Opfer von Lügen fühlen sich Frauen ebenfalls besonders beeinträchtigt; ihre Beziehung zum Lügner wird schlechter.230 In der Lügenforschung hat man auch versucht, Persönlichkeitsmerkmale mit Faktoren der Lügenkompetenz zu korrelieren: Der machiavellistisch orientierte Lügner täuscht zwar nicht besser, dafür aber öfter als der Durchschnitt. Der Schauspieler findet es weniger schwierig zu lügen, fühlt sich dabei nicht schlechter und gerät in schwierigen Lügensituationen nicht so schnell aus dem Konzept. Sozial ängstliche Leute 225 226 227 228 229
Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 1. A. Vrij: Detecting lies, S. 2. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 7. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 8 f. Dies im Gegensatz zur Lügenentlarvung, die sich nicht durch geschlechtsspezifische Kompetenzmuster auszeichnet. 230 Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 13. 215
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
geben Lügen schneller zu und sind unsicherer in ihrem Lügenverhalten. Anpasser sind unsicher und wollen sich in Interaktionen den anderen anpassen; zu dem Zweck lügen sie.231 Vrij fasst die sozialpsychologischen Forschungsergebnisse zum Thema Lüge wie folgt zusammen: „The conventional view that lying is necessarily bad is simply not true. Conversations could become awkward and unnecessarily rude, and social interactions could easily become disturbed, if people told each other the truth all the time. We tell lies even to people to whom we feel close. We tell many lies to the beginning of a romantic relationship, and we make many untruthful flattering remarks to people we like. Manipulators lie often, but are preferred as partners. Sociable people are considered to be socially skilled, but they lie frequently. Socially withdrawn people are considered to be somewhat socially awkward, possibly due to the fact that they are honest.”232
Die Lüge kann aus psycholinguistischer Sicht als eine sprachliche Leistung angesehen werden, die relativ hohe kognitive und emotionale Ansprüche an den Sprecher stellt. Grundsätzlich ist es schwieriger, nonverbales Verhalten unter Kontrolle zu haben als verbales. Lügner sind bestrebt, sich während der Formulierung einer Lüge auf nonverbaler Ebene normal zu verhalten. Es ist jedoch nicht einfach, nonverbales Verhalten unter Kontrolle zu halten als verbales. Zudem ist es schwierig, sich bewusst nonverbal ‚normal’ zu verhalten, weil die meisten Menschen gar nicht wissen, wie sie sich ‚normalerweise’ verhalten. Aus diesem Grund sind Lügner während der Formulierung ihrer Lügen teilweise auf mehreren Ebenen der kognitiven und emotionalen Verarbeitung tätig, was leicht zu einer Überforderung führen kann, die sich letztendlich doch in auffälligem Verhalten niederschlägt. Vrij behauptet jedoch, es gebe kein typisches körperliches Täuschungsverhalten. Allerdings nimmt er auf Seiten des Lügners bestimmte Verhaltensweisen an, die während einer Täuschung mit größerer Wahrscheinlichkeit auftreten als andere Verhaltensweisen.233 Vrij fasst psycholinguistische Forschungsergebnisse zusammen, die Hinweise darauf ergeben haben, was Lügner während des Täuschungsvorgangs fühlen: Zu den gängigen Emotionen zählen die Angst entdeckt zu werden, das Schuldbewusstsein gegenüber dem Belogenen und Auf231 Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 16 f. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Deborah Kashy und Bella DePaulo in ihrer persönlichkeitspsychologischen Studie „Who lies?“: Deborah Kashy/Bella DePaulo: Kashy: „Who lies?“, in: Journal of Personality and Social Psychology 70 (1996), S. 1037-1051. 232 A. Vrij: Detecting lies, S. 17. 233 Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 24. 216
DIE ERGEBNISSE
regung in Bezug auf das gesamte riskante sprachliche Vorgehen. Solche Emotionen führen häufig zu unkontrollierten Bewegungen, Blickvermeidungen und Stottern. Der Lügner sieht sich zudem mit der Inhaltskomplexität der Lüge konfrontiert: Lügen wird zur kognitiv komplexen Aufgabe, da der Lügner plausible Antworten finden muss, die sich nicht widersprechen und die dem entsprechen, was der Hörer wissen oder ahnen kann. Außerdem muss der Lügner darauf achten, dass er keine Versprecher produziert. Lügner müssen sich langfristig merken, was sie sagen, um die Geschichte gegebenenfalls zu einem anderen Zeitpunkt wiederholen zu können. All diese sprachkognitiven Leistungen machen sich bemerkbar in sprachlichen Pausen, Verzögerungen beim Antworten, Versprechern und langsamem Sprechen. Der Lügner erkennt schließlich die Notwendigkeit, über sich selber Verhaltenskontrolle ausüben zu müssen, um sich nicht zu verraten.234 Das Ausmaß der kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Überlastung ist abhängig sowohl von der Komplexität der Lüge als auch von der Motivation des Lügners. Hochmotivierte Lügner zeigen sich einer Studie von Bella dePaulo zufolge rigider in ihrem Verhalten, was die Wahrscheinlichkeit des Entdecktwerdens erhöht.235 In manchen Fällen verhalten sich Lügner, die glauben, ihr Gegenüber komme ihnen auf die Schliche, in einer Weise, dass sie dem Hörer ungewöhnlich direkt in die Augen schauen.236 All diese Hinweise reichen laut Vrij jedoch nicht dazu, mit ausreichend großer Entdeckungswahrscheinlichkeit Lügen aufspüren zu können. Er warnt sogar davor, eine einmal gemachte erfolgreiche „Lügenfängererfahrung“ auf andere Interaktionen mit misstrauenserweckenden Personen zu übertragen, denn individuelle Unterschiede wie Persönlichkeitsmerkmale oder Intelligenz verzerren das Bild des prototypischen Lügners wieder.237 Mit dieser Erkenntnis können sich Gefängnisangehörige allerdings nicht zufrieden geben, denn es gehört zum Verhaltensrepertoire eines Beamten oder Gefangenen dazu, sich lügendetektivisch zu verhalten. Einen Grund dafür erkenne ich in der Tatsache, dass man im Gefängnis keiner Person in dem Maße nahe steht, dass man von ihr lieber nicht die unter Umständen unangenehme Wahrheit wissen möchte. Und tatsächlich scheint es so zu sein, dass im Gefängnis insbesondere unter den Gefangenen die erfolgreichsten Lügendetektive zu finden sind. Einen Hinweis darauf lieferte bereits das weiter oben genannte Zitat eines Gefangenen. Diese Vermutung legt aber auch eine Studie nahe, in der drei Versuchsgruppen – Laienpersonen, Professionelle des Kriminaljustizsystems und Gefangene – im Experiment am Bildschirm alle mit 234 235 236 237
Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 24 ff. Vgl. DePaulo/Kirkendol zit. n. A. Vrij: Detecting lies, S. 62. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 41 ff. Vgl. A. Vrij: Detecting lies, S. 65. 217
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
denselben Lügengeschichten verschiedener Probanden konfrontiert wurden. Die Versuchspersonen sollten angeben, bei welchen Probanden sie Unstimmigkeit im Verhalten und Reden beobachten und bei welchen Probanden sie eine Lüge als Grund dafür vermuten.238 Ergebnis der Studie war, dass Gefangene genauere Vorstellungen von der tatsächlichen Verbindung von nonverbalem Verhalten und Lügen haben, als dies bei den beiden anderen Vergleichsgruppen der Fall ist. Vrij glaubt, dass es für den Erwerb langfristiger lügendetektivischer Kompetenzen eines adäquaten Ergebnisfeedbacks bedarf. Dies sei bei Gefangenen gewährleistet, da diese sich in einer lügenden Gesellschaft befinden, in der entdeckte Lügen insbesondere von Mitgefangenen durch das Vollzugspersonal unverzüglich bekannt gegeben werden.239 Diese Studie von Aldert Vrij und Guen Semin ist meines Wissens nach die einzige, welche Gefangene als Probanden in die Gruppe der Forschungspartner mit einbezog. Paul Ekman und seine Kollegen bestätigen die Behauptung Vrijs, dass es kaum möglich sei, sich eine ‚natürliche’ Form der Lügendetektion anzueignen.240 Sie weisen allerdings nach, dass lügendetektivisch geschulte Personen, darunter auch nichtkriminaljustiziell orientierte Psychologen, tendenziell besser dazu in der Lage waren, Lügen bzw. wahre Aussagen zu identifizieren. Die Vergleichsgruppe bestand hier aus nicht einschlägig vorgebildeten Angehörigen des Kriminaljustizsystems. Detektionskompetenz sei außerdem nicht geschlechtsspezifisch verteilt. Ein für das strafvollzugliche Fachpersonal interessantes Teilergebnis besagt: „Our study has, for the first time, shown, that accurate judgments are not confined to selected law-enforcement groups. Psychologists with a special interest in deception also showed more accurate performance than other groups of psychologists.”241
Der Titel des hier erwähnten Aufsatzes „A few can catch a liar“ [Hervorhebung G. K.] repräsentiert das statistische Ergebnis dieser Studie, was die Forschungsgruppe dazu veranlasste, ähnlich wie Vrij zu behaupten, es sei unwahrscheinlich, dass Einschätzungen des Lügenverhaltens an238 A. Vrij/G. Semin zit. n. A. Vrij: Detecting lies, S. 47. 239 Vgl. A. Vrij/G. Semin zit. n. A. Vrij: Detecting lies, S. 79 . 240 Eine nichtnatürliche Form der Lügendetektion wäre etwa die technisch vermittelte anhand des Lügendetektors. Vgl. zur Funktionsweise des Lügendetektors Helmut Lukesch: „Erkennbarkeit der Lüge: Alltagstheorien und empirische Befunde“, in: Mathias Mayer (Hg.), Kulturen der Lüge, Köln: Böhlau 2003, S. 121-149, hier: S. 124 ff. 241 Vgl. Paul Ekman/Maureen O’Sullivan,/Mark G. Frank: „A few can catch a liar”, in: Psychological Science 10 (1999), S. 263-265, hier: S. 263 ff. 218
DIE ERGEBNISSE
hand des nonverbalen und verbalen Verhaltens des Lügners jemals besonders erfolgversprechend sein werden.242 Vrij weist auf eine paradoxe Situation hin, in der sich Lügendetektive bzw. Lügner befinden: Aus alltagstheoretischer Perspektive ist zunächst anzunehmen, dass Personenkenntnis bezüglich des Gegenübers eher zu einer Entlarvung führt; denn einander vertraute Personen müssten eigentlich schneller bemerken, wenn einer von beiden ein verräterisches Verhaltensmuster an den Tag legt. Es verhält sich erstaunlicherweise jedoch genau umgekehrt: Gerade bei vertrauten Personen wird lügnerisches Verhalten nicht festgestellt, weil „partners develop a strong tendency to judge the other as truthful, the so called relational truth-bias heuristic.“243Außerdem vermutet Vrij, dass infolge der Ubiquität des Lügens der Unterschied zwischen Lügnern und Ehrlichen oft nur klein ist. Allgemeine Konversationsregelen, wie etwa die von Herbert Grice oder die allgemein erwartete Höflichkeit im gegenseitigen Umgang verbieten es dem Lügendetektiv, effektiv das Verhalten des Lügners zu analysieren.244 Es schickt sich einfach nicht, sein Gegenüber während dessen Äußerungstätigkeit genauestens zu beäugen. Für den Normalfall der Täuschungskommunikation gilt aus genannten Gründen, dass die Lüge vom Hörer unbemerkt bleibt. Paul Ekman und Mark Frank haben sich in ihrem Aufsatz „Lies that fail“ damit beschäftigt, welche Arten der Lüge aus welchem Grund letztlich doch entdeckt werden.245 Lügen etwa über Emotionen sind schwer aufrecht zu erhalten, da es nicht nur der Konstruktion einer neuen Emotion bedarf, sondern auch der Unterdrückung derjenigen Emotion, die gerade aktuell ist.246 Die Autoren glauben auch daran, dass es ein Zweck-Nutzen-Kalkül bei Lügnern gibt, welches folgendes besagt: Lügner, die eine vergleichsweise mildere Strafe für ein geleugnetes Verhalten zu erwarten haben als für die Lüge selber, neigen sogar dazu, die Lüge zuzugeben. Andererseits: „There are actions which are themselves so bad that confessing them wins little approval for having come forward, and concealing them adds little to the punishment which awaits the offender. Such is the case if the lie conceals child abuse, incest, murder, treason, or terrorism. Unlike the rewards possible for some repentant philanderers, forgiveness is not to be expected by those who
242 243 244 245
Ähnlich H. Lukesch: „Erkennbarkeit der Lüge“, S. 133-149. Levine, McCornack/Park zit. n. A. Vrij: Detecting lies and deceit, S. 88. Vgl. meine Darstellung der Kooperationsmaximen in FN 160. Paul Ekman/Mark G. Frank: “Lies that fail”, in: Michael Lewis/Carolyn Saarni (Hg.), Lying and deception in everyday life, New York: Guilford 1993, S. 184-200, hier: S. 184 ff. 246 Vgl. P. Ekman/M. G. Frank: Lies that fail, S. 186 f. 219
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confess these heinous crimes – although confession with contrition may lessen the punishment.” 247
Für die Haltung eines Lügners ist auch entscheidend, ob er sich nur für das geleugnete Verhalten, nur für die Lüge selbst oder für beides schämt. Lügner fühlen sich nach Ekman und Frank gegenüber denjenigen, die selber Übeltäter sind, weniger schuldig.248 An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass im Gefängnis die Mitarbeiter und Insassen einander wechselseitig als Übeltäter ansehen. Möglicherweise wird aus diesem Grund besonders unverblümt gelogen. Das größte Schuldbewusstsein des Lügners sehen die Autoren dann, wenn die Lüge durch nichts zu rechtfertigen ist: Wenn das Lügenopfer gutgläubig ist und nicht annimmt, getäuscht zu werden, weil es von einer vertrauensvollen aufrichtigen Redebeziehung ausgeht.249 Die größte Motivation zu Lügen erkennt Ekman darin, dass der Lügner sich vor anderen mittels seines Lügenverhaltens profilieren kann, weil die anderen sein Verhalten anerkennen.250 Unter Gefangenen findet man immer wieder Lügner, die anhand von dreist ausgeführter sprachlicher Täuschung des Personals Anerkennung bei den Mitgefangenen erheischen. Zusammenfassend stelle ich fest, dass es bei aller subjektiv empfundenen strafvollzuglichen Verlogenheit weder für Gefangene noch Mitarbeiter angezeigt erscheint, eine perfekte Kompetenz in der Lügendetektion anzustreben, da diese aus den unterschiedlichsten Gründen unerreichbar ist. Das Problem der Lüge ist untrennbar mit der Frage nach dem Wert der Wahrheit verknüpft. Manche Wahrheiten sollten um der Geruhsamkeit des strafvollzuglichen Alltags willen vielleicht wirklich unentdeckt bleiben, denn „was wirklich in der Welt geschieht, ist häufig weder gut noch schön, sondern häßlich und schlecht [oder unbedeutend, G. K.]. Und daraus scheint zu folgen, daß das, was wahr ist, nicht um seiner Wahrheit willen positiv besetzt werden 251 kann.“
Das soll nicht heißen, dass die Gefängnisangehörigen fortan vertrauensselig ihre Haft oder ihren Dienst versehen sollen. Ein entspannter Umgang mit dem Lügenverhalten der Umwelt kann so aussehen, dass man im Gefängnis schlicht und einfach rational darauf vorbereitet ist, hier
247 248 249 250 251 220
Vgl. P. Ekman/M. G. Frank: Lies that fail, S. 190. Vgl. P. Ekman/M. G. Frank: Lies that fail, S. 192. Vgl. P. Ekman/M. G. Frank: Lies that fail, S. 193. Vgl. P. Ekman/M. G. Frank: Lies that fail, S. 198. H. Rott: Der Wert der Wahrheit, S. 20.
DIE ERGEBNISSE
und da belogen zu werden.252 Außerdem: Haben nicht auch „Sie heute schon gelogen oder wenigstens geflunkert und geschwindelt, eine faule Ausrede gebraucht oder es mit der Wahrheit nicht ganz genau genommen? Na? Jetzt aber mal ehrlich!“253
Rechtfertigungen Rechtfertigung ist an sich noch nichts Schlechtes. Schlecht ist die Rechtfertigung nur dann, wenn ich ein Problem verlagere auf andere und damit die Schuldzuweisungen auf andere verlagere. (ein Anstaltsleiter)
Der Aspekt der Wahrhaftigkeit der Rede bzw. der Wahrheit von Aussagen wird in meiner Arbeit auch bezüglich eines weiteren Sprechaktes, dem der Rechtfertigung, relevant. Rechtfertigungen haben in der Praxis des Gefängnisses einen hohen kommunikativen Stellenwert. Sowohl auf Gefangenenseite als auch auf Seiten der Beamten bedient man sich der Rechtfertigung, um nicht die volle Verantwortung für ein unangenehmes, selbstverschuldetes Geschehen übernehmen zu müssen. Beamte
252 Dass Menschen sich immer wieder vermittels Sprache zu einer Sprachgemeinschaft zusammenfinden, ist ein beständiger Hinweis darauf, dass das Medium Sprache nur eingeschränkt durch die Sprachhandlung der Lüge parasitiert ist und dass der Bestand der Sprachgemeinschaft nicht als gefährdet anzusehen ist. Vgl. die entsprechenden sprachphilosophischen Grundlagen bei H. Rott: Der Wert der Wahrheit, S. 25. Soziologen stufen das Aufkommen von Lügen als ubiquitär verteilt und damit „normal“ ein. Lüge sei das „Erwartbare“, dass uns „alltäglich vertraut“ sein sollte. Robert Hettlage: „Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge“, in: Mathias Mayer (Hg.), Kulturen der Lüge, Köln: Böhlau 2003, S. 69-98, hier S. 69 ff. diagnostiziert und empfiehlt einen „entspannten Umgang der Gesellschaft mit Lüge“. 253 R. Hettlage: Der entspannte Umgang, S. 69. Auch und gerade die praxisnahen Vertreter der Strafverfolgung sollten sich von dieser Frage angesprochen fühlen: Friedrich-Christian Schroeder: „Der Staat als Lügner. List und Täuschung im Dienste der Verbrechensbekämpfung“, in: Mathias Mayer (Hg.), Kulturen der Lüge, Köln: Böhlau 2003, S. 151166, hier: S. 151 entlarvt den „Staat als Lügner“ und berichtet in seinem prägnanten Aufsatz über „List und Täuschung im Dienste der Verbrechensbekämpfung“: „Können wir uns mit der Annahme beruhigen, der Täter eines Verbrechens habe sein Recht auf Wahrheit verwirkt? [...] Ich habe große Bedenken dagegen, dass ein so grundsätzliches Postulat wie das der Wahrheit dadurch eingeschränkt werden kann, dass es der Partner verwirkt habe. Es geht hier weniger um das Recht des Straftäters auf Wahrheit als um das sittliche Gebot des Staates zur Wahrheit.“ F.-C. Schroeder: Der Staat als Lügner, S. 164. 221
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und Gefangene rechtfertigen sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise, wie im Folgenden erläutert werden soll. Nahezu alle Befragten, darunter auch einige Insassen, sind der Meinung, dass Gefangene sich viel rechtfertigen. „Rechtfertigen tut man sich auf Gefangenenseite recht oft. Jeder Fehler, der da begangen wird, der wird mit irgendwas gerechtfertigt. Es gibt sicherlich auch Gefangene, die kommen und sagen: ‚Okay, es war Mist, was ich gemacht habe.’ Aber viele: ‚Das war schon so, aber...’ Und dann rechtfertigen die sich. Ob das jetzt Einstellungen zur Straftat sind oder irgendwas. Also ich denke, es ist ein ziemlich geringer Prozentsatz, die sagen: ‚Ich habe das gemacht und ich war schuld.’ Es gibt zu vielen Dingen immer eine Rechtfertigung. Das ist schon ziemlich verbreitet im Vollzug.“ (AVD VI 91-100) Meiner Beobachtung nach, sind insbesondere Untersuchungsgefangene damit beschäftigt, die Straftat, derer sie angeklagt sind, entweder abzustreiten oder zu rechtfertigen. Dabei ist zu beachten, dass in den meisten Gefängnissen sowohl U-Haft- als auch Strafhaftgefangene untergebracht sind. Da über die Gefangenen der Strafhaft das Urteil bereits gesprochen wurde, ist für sie die Frage nach der Tat und der Schuld nicht ganz so aktuell wie für Untersuchungsgefangene, deren Urteil noch offen steht und die darum häufig Selbsteinschätzungen ihrer (Un)schuld abgeben. Diese Beobachtung wird von einem Gefangenen mit folgenden Worten bestätigt: „Über Schuld, kann ich mich erinnern, wird intensiv in Untersuchungshaftanstalten gesprochen. Weil da wird ständig mit Schuld umgegangen. Mit dem Gedanken, mit der Sache, mit Taten. Da wird das ganze versucht, zu verarbeiten. Und wenn man recht lang in UHaft sitzt, dann ist es eigentlich auch verarbeitet. In Haftanstalten [ohne U-Haft, G. K.] erlebe ich das ganz selten, dass jemand von Schuld spricht.“ (GEF VI 122-127) Ein Fachdienstmitglied hat jedoch hinsichtlich der Unterscheidung zwischen den Rechtfertigungen der beiden Gefangenengruppen eine andere Meinung: „In der U-Haft wird relativ wenig über die Schuld gesprochen, weil wir ja eigentlich das Ergebnis der Gerichtsverhandlung abwarten müssen, weil es sonst zu einer Vorverurteilung kommen könnte. Wir gehen also in der täglichen Arbeit hier erst mal vom Unschuldsprinzip aus, und nur derjenige Gefangene, der das unbedingt möchte, hat die Möglichkeit, hier bei einem Seelsorger über seine Schuld zu sprechen oder bei uns in Fachdiensten zu sprechen.“ (FD V 146-152) Der Fachdienstbeamte liefert hier eher eine Beschreibung der Perspektive, welche das Personal gegenüber Untersuchungshaftgefangenen einzunehmen verpflichtet ist. In der Praxis fällt es allerdings schwer, das Prinzip der Unschuldsvermutung zu berücksichtigen. Es schleicht sich eben doch immer wieder der Gedanke ein, dass Personen nicht ohne Grund in Untersuchungshaft genommen werden. Faktisch leben Gefangene dieser Haftform unter kärglicheren Bedingungen als 222
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Gefangene der Strafhaft. Sie arbeiten in der Regel nicht und verbringen den größten Teil des Tages im Haftraum. Eine der klassischen Rechtfertigungstechniken der Gefangenen ist die indirekte Schuldzuweisung an andere, deretwegen man letztlich auf die sogenannte „schiefe Bahn“ geraten ist. Laut Aussage eines Fachdienstbeamten gestaltet sich die Schuldaufarbeitung vieler Gefangener folglich „weniger so, dass einer von sich aus die ganze Geschichte gleich erzählt, die mit der Tat zu tun hat. Er erzählt aber vielleicht, wie er aufgewachsen ist, die familiären Bedingungen, in welchen Heimen er gewesen ist. Er tut dies aber meist schon mit dem Hintergrund, bewusst oder unbewusst sich zu rechtfertigen oder sich in einem gewissen Licht darzustellen.“ (FD IV 81-90) Wie vielfältig der Rechtfertigungsfundus an Umständen ist, wegen denen ein Gefangener letztlich eine Straftat begangen haben will, erfahren Fachdienstbeamte immer wieder in den Beratungsgesprächen: Die Gefangenen „suchen die Ursachen in gesellschaftlichen Zusammenhängen: ‚Keine Arbeit, muss ja Saufen. Und wenn ich saufe, dann habe ich eben auch keine Familie. Und wenn ich keine Familie habe, dann lebe ich auf der Straße. Wenn ich auf der Straße lebe, dann muss ich mich verteidigen. Die Schuld wird im Regelfall abgewiesen auf andere.“ (FD V 158-166) Ein Anstaltsleiter schildert, wie Gefangene sich prototypischerweise rechtfertigen: „‚Ich bin ja eigentlich nicht verantwortlich, sondern das waren meine Eltern, es war das Elternhaus, es waren meine Freunde oder es war der Umstand oder ich war in so einer finanziellen Situation oder meine Frau hat mich verlassen, deswegen musste ich an den Suff kommen.’“ (AL V 128-129) Es ist die Frage, warum Gefangene insbesondere die Rechtfertigungstechnik der indirekten Schuldzuweisung an andere so auffallend häufig anwenden. Möglicherweise erlernen Gefangene im häufigen Umgang mit psychologisch und kriminologisch geschultem Fachpersonal einiges über Kriminalitätstheorien. Einige dieser soziologisch orientierten Theorien besagen, Kriminalität entstehe hauptsächlich unter den Bedingungen einer ungünstigen Umwelt.254 Gefangene reproduzieren möglicherweise dieses Wissen bezogen auf ihre eigene Biographie. Aus diesem Problem ergibt sich die Frage, inwieweit eine gutachterliche Tätigkeit von solchen zunächst plausiblen Rechtfertigungstechniken beeinflusst wird: „Häufiger kommen Rechtfertigungstechniken oder Rechtfertigungsgeschichten dann von den Gefangenen, dass sie vielleicht nicht unbedingt schuld waren, dass die Umstände leider so und so waren. Das ist eine interessante Erscheinung: Je öfter Gefangene in einer Begutachtung waren, desto mehr haben sie diesen Gutachterslang drauf. Den ken254 Vgl. für eine Einführung in die Kriminalitätstheorien K. L. Kunz: Kriminologie, S. 99 ff. 223
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nen sie dann schon. Da wissen sie genau, wie sie sich bei bestimmten Testverfahren verhalten sollen. Was man wann wo sagt und so weiter. Den ganzen sozialen Background haben sie gelernt, mit dem man gut durchkommt.“ (AL IV 110-118) Das Gefängnis kann allerdings nicht auf die gutachterliche Tätigkeit und weitere mit dem Resozialisierungsziel verbundene psychotherapeutische und sozialarbeiterische Maßnahmen der Tatbearbeitung verzichten. Das Ausbleiben offensiver Rechtfertigungstechniken im Gespräch mit einem Gutachter kann ausschlaggebend für die weitere Vollzugsplanung sein. Jedenfalls ist es das erklärte Ziel der Leitungsebene eines Gefängnisses, den Gefangenen mit seiner Tat zu konfrontieren, um ihm diesbezügliche Rechtfertigungen auszutreiben. „Also dieser Rechtfertigungsmechanismus ist bei Gefangenen sehr, sehr ausgeprägt. Das ist eigentlich unser Problem, das aufzubrechen. Das ist ja unser Thema hier.“ (AL V 128-130) Dieses Aufbrechen soll im Rahmen der Tataufarbeitung stattfinden: „Das findet natürlich bei uns im Gefängnis ständig statt. Denn das ist ja der eigentliche Schwerpunkt. Das ist das, was man in unserem Jargon ‚Aufarbeiten von Straftaten’ nennt. Wenn es um die Entscheidung geht: Darf ein Gefangener Lockerungen bekommen? Oder ob die Anstalt dafür ist, dass er vorzeitig entlassen wird. Oder wenn er für einen gelockerten Haftbereich fällig werden soll oder so. Ob er eben diese Straftaten aufgearbeitet hat. Darum findet ein intensives Gespräch statt. Erst mal redet der Gefangene regelmäßig mit dem Sozialdienst, mit dem Psychologen. Und dabei ist das natürlich das Schwerpunktthema. Und dann vermittelt der Psychologe oder der Sozialarbeiter diese Erkenntnisse weiter an die Vollzugsplankonferenz, um dieser die Möglichkeit zu geben, sich darüber auch eine Meinung zu bilden.“ (AL VII 109-122) Die Gruppe der Gefangenen stellt allerdings keine homogene Rechtfertigungsgemeinschaft dar. Es scheint von der Deliktsgruppenzugehörigkeit abzuhängen, wie ausdauernd und intensiv Gefangene sich rechtfertigen. Sexualstraftäter bedienen sich laut Aussagen aller Befragten am häufigsten der Rechtfertigung: „Da könnte man ein paar Tätergruppen unterscheiden bei den Gefangenen. Sexualstraftäter tendieren dazu, fast immer von sich zu behaupten, sie seien unschuldig. Und wenn sie nicht sagen, sie seien unschuldig, dann rechtfertigen oder bagatellisieren sie ihre Straftaten mit irgendwelchen Umständen, die eigentlich nicht unbedingt zur Rechtfertigung taugen. Wie zum Beispiel, dass die Ehefrau ihm über einen längeren Zeitraum Sex vorenthalten hat oder so was. Andere Gefangene, die vielleicht Gewaltstraftaten oder Eigentumsdelikte begangen haben, tendieren sehr stark dazu, diese Straftaten zu banalisieren und letztlich zu rechtfertigen, dass ja alle anderen das auch so machen würden. Und die würden bloß halt nicht erwischt werden.“ (AL VII 126-136) 224
DIE ERGEBNISSE
Meiner Ansicht nach ist das Rechtfertigungsaufkommen in der Sexualdeliktsgruppe deshalb so hoch, weil entsprechenden Straftätern auch noch nach der Verurteilung weitere zusätzliche Sanktionen insbesondere von Gefangenenseite angedroht werden. Aber auch Beamte stufen Sexualstraftaten als besonders verabscheuungswürdig ein, so dass es ihnen nicht immer gelingt, einen Dienst nach Vorschrift im Sinne der „Gleichbehandlung“ zu versehen. Das gewohnheitsmäßige Rechtfertigen verabscheuungswürdiger Straftaten liegt nicht nur in der Person des entsprechenden Gefangenen begründet, sondern ist meiner Meinung nach auch als Folge des Überlebenskampfes in der Anerkennungsgemeinschaft und damit als eine Anpassung an die Überlebensbedingungen des Gefängnisses einzustufen. Gefangene rechtfertigen ihre Straftaten auch untereinander. Hierbei spielt es allerdings eine nachgeordnete Rolle, die strafbare Handlung herunterzuspielen. Sie wird vielmehr als Teil einer „Gaunerbiographie“ angesehen. Entsprechend meinen Beobachtungen und den Aussagen mancher Befragter scheint es prototypisierte Konstrukte von Gaunerbiographien zu geben. Eine davon ist die Biographie des professionellen Straftäters, dessen häufiges Tätigwerden im strafbaren Bereich vor anderen Gefangenen dadurch gerechtfertigt ist, dass er der Justiz trotzt. Die andere, offenbar häufigere Biographie ist das milieubedingte Straucheln eines Menschen, der dummerweise bei einer nicht beabsichtigten kriminellen Handlung erwischt worden ist. Ein Gefangener schildert seinen Eindruck davon: „Meistens kommt es in der Zelle, wenn man untereinander in der Gruppe, türkische Gruppe oder bestimmter Freundeskreis zusammensitzen tut. Ja, und dann fängt einer an: ‚Ich habe das und das gemacht.’ Man redet über die Tat, welche Taten man gemacht hat. Wie man dazu gekommen ist. Manchmal antwortet man dann auch: ’Okay, das ist cool, why not?’ Und manchmal versucht man auch, dass man unter den Schwierigkeiten, unter denen er es gemacht hat. Man diskutiert die eigenen Probleme sozusagen miteinander. Der eine erzählt zuerst seine Probleme. Man hört zu. Dann erzählt der nächste seine Probleme, wie und was er gemacht. Und dann sagt man: ‚Ja, war gut. Oder bist eher schuld. Dein Leben.’ Wenn er es halt professionell machen tut, sagt man: ‚Okay, du bist gut gewesen.’ Er ist aber auch wegen einer Dummheit dann hier reingekommen.“ (GEF I 71-89) Im Gegensatz zu solchen Rechtfertigungsmustern finden sich im Gefängnis auch Insassen, die ihre Schuld auf fast unheimliche Weise zugeben und eine Rechtfertigung ablehnen. Ich konnte nicht herausfinden, ob dieses Verhalten ebenfalls deliktspezifisch verteilt ist.255 Ein Mörder berichtet nach vielen Jahren Hafterfahrung über sein Rechtfertigungsverhalten: „Für diese Tat gibt es keine Rechtfertigung. Und in welcher Art sollte das stattfinden? 256 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Lügen“. 225
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Die Tat war so und es wird auch in hundert Jahren, wenn ich dann zurückdenke, immer noch so sein.“ (GEF II 207-217) Das Anstaltspersonal ist in der Regel auch darüber informiert, dass das Rechtfertigen im Gefängnis ein erwartbares Verhalten ist, für das es auf Gefangenenseite psychohygienische Gründe gibt. Insbesondere die mit der Behandlung beauftragten Mitarbeiter versuchen, mit diesem Wissen gegenüber den sich rechtfertigenden Gefangenen ruhig und gleichzeitig behandlungsoptimistisch zu bleiben: „Das scheint mir aber auch ein ganz normales menschliches Bedürfnis zu sein, das Personen zum Zeitpunkt der Begehung einer Straftat haben. Und damit man dann überhaupt damit klarkommt, dass man irgendwas Böses gemacht hat, ist es wahrscheinlich für jeden, der mal eine böse Tat begangen hat, erforderlich, dass er jenseits von sich selber das irgendwie aus den Umständen oder einer besonderen Lage herleitet.“ (AL VII 136-142) Insbesondere das Abteilungs- und Werkdienstpersonal ist in der Regel jedoch unnachgiebig, was die Schuld eines Gefangenen betrifft, und auch in keiner Weise bereit, Verständnis entgegenzubringen. Der hartnäckige Widerspruch von Seiten der Abteilungs- und Werkbediensteten kann nur durch Gespräche mit gleichgesinnten Mitgefangenen kompensiert werden und gestaltet sich aus Gefangenenperspektive wie folgt: „Die Beamten wissen nicht, was für Probleme hier manche haben. Wie zum Beispiel Herr Grün: Der versucht trotzdem, die Schuld dir zuzudrehen, unter dir zu schieben. Aber wenn du mit Freunden redest, die verstehen das. Weil die das ja auch selber erlebt haben. Weil man auch weiß: ‚Aha, der hat auch die gleichen Fehler gemacht.’“ (GEF I 139-144) Es gibt allerdings auch Anstaltsleiter, die in Konfrontation mit den Rechtfertigungstechniken der Gefangenen kaum nachsichtig sind und genaue Vorstellungen über das Ergebnis einer Tataufarbeitung haben. „Da erlebe ich bei der Mehrzahl der Gefangenen, mit denen ich jetzt gesprochen habe, Schuldeinsicht. Jedenfalls mir gegenüber. Wo sagen: ‚Ich bin Schuld, ich habe die Tat begangen, ich weiß, dass ich Schuld begangenen habe.’ Es gibt Rechtfertigungen. Und das ist der zweite Punkt. Dann kommen irgendwelche Erklärungen. Teilweise mehr nachvollziehbar, teilweise weniger nachvollziehbar. Da beginnt das Problem für mich, dem Menschen klarzumachen: ‚Schuld sagst du, da sind wir uns einig, da sind wir d’accord. Aber beim zweiten Punkt, die Rechtfertigung, ist die jetzt zutreffend?’ Denn hier beginnt ja erst die Arbeit. Erst wenn ich sehe: ‚Halt mal, es war nicht gerechtfertigt, entschuldigt, mein Verhalten.’ Erst dann kann ich in Zukunft was anderes machen. Sonst wiederhole ich es und habe im Grunde das gleiche wiederum. Ähnlich vorstellbar bei Beamten. Wenn sie irgendwelche Dienstvergehen begehen: ‚Ich mache es ja sonst immer in Ordnung. Und jetzt ist es einmal danebengerutscht. Einmal habe ich beim Gefangenen nicht aufgepasst. Einmal habe ich die Fessel 226
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nicht angelegt, obwohl es vorgeschrieben war, ich habe es ja gewusst, dass es dran war. Ich habe gewusst, die Sicherungsmaßnahmen haben Vorschrift. Ich muss den Mann fesseln. Aber ich habe es halt in dem Moment geschwind schnell weggelassen.’ Das nützt mir nichts, wenn er nicht erkennt, klar sich dazu bekennt: ‚Ich habe hier nicht nur schuldhaft gehandelt. Ich habe auch keinen Rechtfertigungsgrund, sondern ich habe Fehler gemacht.’ Und jetzt muss man überlegen: ‚Was war mein Fehler? Habe ich mich von anderen bezirzen lassen? War es Bequemlichkeit? Oder was war es? Nur dann kann ich meine Fehler beseitigen.’“ (AL III 138-163) Diese Äußerung weist darauf hin, dass nicht nur Gefangene, sondern auch Bedienstete Schuld rechtfertigen. Die Beamten wissen auch selber von dieser Gewohnheit, wollen sie jedoch nicht derart negativ beurteilt wissen: „Wenn man länger im Vollzug ist, hat man eigentlich schon früher immer mit dem Phänomen gelebt [ironisiert]: ‚Der andere [Beamte, G. K.] ist der, der keine Fehler macht, der nicht schuldig ist und der auch sich nicht zu rechtfertigen hat oder sich nicht rechtfertigen muss.’ Wobei das bei den Gefangenen anders ist. Gerade Beamte, die schon länger im Vollzug sind und das anders kennen und die heutigen Verhältnisse mitmachen müssen, die haben arge Probleme, zu ihren Fehlern zu stehen. Die sie vielleicht auch gegenüber Gefangenen gemacht haben. Der Gefangene macht einen Fehler und wird dafür bestraft. Mit einer Disziplinarmaßnahme, wie auch immer. Und wenn es nur eine Verwarnung ist. Der Beamte, der ist halt, zumindest denkt man, ist es der, der fehlerlos ist. Aber das ist ja Quatsch. Jeder macht irgendwo einen Fehler. Aber ich denke auch hier im Vollzug muss man dann auch soweit sein und sagen: ‚Mensch, habe ich Mist gebaut und habe dem vielleicht zu Unrecht irgendwas da angedichtet.’ Dann sollte man auch hingehen und sagen: ‚Passen Sie auf, das war nicht Recht und so. Ich entschuldige mich dafür. Und das ist natürlich eine Sache, die ist unheimlich schwer. Und das können nicht viele. Oder auch so eine Sache einfach auszudiskutieren, nicht immer sofort eine Disziplinarmaßnahme zu verhängen.“ (AVD VI 63-84) Ein Anstaltsleiter gibt den Worten des Abteilungsbeamten Rückhalt. Auch er möchte von allzu scharfen Disziplinarmaßnahmen gegenüber Beamten Abstand nehmen und entdramatisiert seinerseits das Fehlverhalten seiner Mitarbeiter: „Bei Bediensteten ist das wieder ein bisschen anders. Hier versucht man zwangsläufig, wenn irgendwas schief gelaufen ist, zunächst nach Schuldigen zu suchen. Weil die meisten Fehler, die hier passieren, einfach nicht aus der Absicht heraus oder aus der Fahrlässigkeit heraus, groben Fahrlässigkeit heraus entstehen, sondern eher aus manchen Organisationsabläufen manche überfordert sind und vielleicht manche Organisationsabläufe nicht durchschauen. Aber hier wird zunächst schon immer auch gefragt, auch von sich selber, wenn jemand was schief gelaufen ist, wir dann zu227
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nächst einmal schauen: Ist jemand auch persönlich verantwortlich dafür? Also Schuld suchen ist etwas, was im Vollzug dann sich mittlerweile sehr schlimm auswirkt. Wenn man dann Leute in eine Ecke stellt, weil man sie stigmatisiert und sagt: ‚Der war jetzt an dem Vorgang hier schuld. Da sollte man auch hier noch Lösungen finden, die dem einen oder anderen auch das Gesicht wahren lässt. Dass er auch wieder rauskommt aus dieser Rolle.’“ (AL V 78-109 , 117-130) Sowohl Beamte als auch Gefangene sind also gleichermaßen damit beschäftig, sich für eigenes Fehlverhalten zu rechtfertigen. Zum Berufsethos des Beamten gehört es dazu, einen dienstlichen Fehler unbedingt zu vermeiden. Aus diesem Grund beäugen Beamte gegenseitig ausgiebig ihr Verhalten im Dienst und sind auf ausgefeilte Rechtfertigungstechniken angewiesen, welche die Aufmerksamkeit der anderen von einem selber ablenken. Gefangene sind hingegen doppelt rechtfertigungsbelastet. Sie müssen sowohl vergangenheitsbezogen ihre Tat als auch gegenwartsbezogen ihr vollzugliches Fehlverhalten rechtfertigen. Ein weiterer häufiger Anlass für Beamte, im Gefängnis das eigene Verhalten zu rechtfertigen, hängt nicht damit zusammen, dass der Einzelne falsch oder normwidrig gehandelt hat, sondern dass er stellvertretend für Vorgesetzte gegenüber Gefangenen oder Kollegen unwillkommene Entscheidungen durchsetzen und rechtfertigen muss, für deren Inhalt er tatsächlich nicht selbst verantwortlich zeichnet. Ein Werkdienstbeamter schildert, inwiefern er zwischen zwei Stühlen sitzt, wenn er Sicherheitsvorschriften auf Gefangene anwenden muss, die bei diesen schlecht ankommen und hinter denen er zudem selber nicht steht: „Ich rede mit Gefangenen über meine Pflichten. Ich möchte das an einem Beispiel sagen: Es gibt da so Leute, wenn schönes Wetter ist, wenn ich da die Tür hinten zum Hof raus aufmache. Wenn ich da dabei stehe, ist das ja auch kein Problem, wenn die Tür jetzt mal offen steht und wenn ich das im Auge habe. Wenn da einer rausläuft, dann will ich da hinten drein laufen und der andere steht vielleicht an die Tür hin und lässt sich die Sonne ein bisschen so auf die Nase scheinen und findet das halt einfach gut. Ich sage dann zu denjenigen, sie sollen wieder da zu machen und dann antworten die: ‚Ist doch schönes Wetter, was soll das jetzt eigentlich?’ Dann sage ich halt: ‚Meine Pflicht ist das einfach, auf euch aufzupassen. Das ist meine Pflicht, und dass ist einfach das Schlimmste, was mir passieren kann, dass mir jemand abhaut. Und deswegen muss ich dafür die Verantwortung tragen.’ Und das sage ich denen auch. Das hat aber menschlich mit denen nichts zu tun, es ist immer schwierig, das so rüberzubringen. Aber ich versuche das immer. Aber ich will ihm eigentlich schon auch zeigen, dass ich auch ein Stück weit Vertrauen zu ihm habe. Ich möchte nicht so eine Entwicklung, dass das irgendwo dahin geht, dass ich dem irgendwie zeigen will: ‚Ja, du bist ein Gefange228
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ner, dich muss man einsperren und das zeig ich dir jetzt immer wieder.’“ (WD II 288-318 ) Nach der Auffassung eines Anstaltsleiters wollen Mitarbeiter mit solch einer Haltung „davon ablenken, dass sie derjenige jetzt sind, der eine Entscheidung durchzudrücken hat. Also sondern einfach auch sagen: ‚Ich hab dir zwar das und das zu sagen, aber da sind viele andere noch beteiligt.’ Und im Zweifelsfall: ‚Der Chef hat abgelehnt und ich musste das jetzt einfach so sagen.’ Einfach die sich dann scheuen, um auch die Verantwortung in dem Fall nicht richtig zu übernehmen. Im Zweifelsfall ist der Chef an allem schuld, was Schlimmes passiert. Wenn es um angenehme Entscheidungen geht, dann verkauft man das sicherlich dann auch seinem Gegenüber sehr gern als eigene.“ (AL VI 149160, 201-209) Meinen Beobachtungen entsprechend ist das Rechtfertigen dienstlicher Vorschriften mittels Verweises auf externe Instanzen keine Seltenheit. Ein Fachdienstmitglied kritisiert dieses Verhalten ebenfalls: „Für manche ist es ein Schutzschild, die Verpflichtung. Wenn jemand was Negatives eröffnet kriegt, kann man sich natürlich hinter so einer Verpflichtung verstecken und immer auf einen anderen abschieben: ‚Weil ich bin ja verpflichtet, Ihnen das zu sagen. Der Anstaltsleiter hat festgelegt, nicht ich.’ Also kann Verpflichtung, dienstliche Verpflichtung, schon für mich ein Schutzschild sein. Oder ich setze mich mit bestimmten Verpflichtungen auseinander und übernehme die Verantwortung für die Verpflichtungen. Ganz einfach den Gefangenen an bestimmte Regelnormen zu gewöhnen. Und dort kann ich natürlich sagen, ich halte mich strikt an dieses Strafvollzugsgesetz oder ich nutze den Spielraum, den jedes Gesetz hergibt, optimal aus. Ich kann mich hinter einer Verpflichtung verstecken oder ich kann sie ausleben. Nicht unbedingt als Machtposition ausleben, sondern so, dass ich den Gefangenen wirklich dahinbringen kann, wo er hin soll.“ (FD III 279-296) Der hier empfohlene selbstbewusste Umgang mit den gesetzlichen Vorgaben ist keine rein theoretische Alternative. Ein anderer Beamter versieht seinen Dienst nämlich so: „Das Gesetz können die Gefangenen sich teilweise ausleihen. Das liegt auch im Haftraum aus. Das heißt, die lesen sich da rein. Dafür werde ich bezahlt: Das Gesetz muss ich umsetzen. Es geht einfach nicht anders. Ich versuche es dem auch klipp und klar zu erklären. Damit haben wir auch die besten Erfahrungen gemacht mit verschiedenen Beispielen: Wenn einer eine Sonnenbrille meint zu brauchen, weil er die Augen in der Sonne nicht verträgt. Sonnenbrillen sind bei uns wegen der Vermummungs- und Verdunkelungsgefahr und so weiter verboten, Mützen genauso. Wenn er jetzt zum Arzt geht und der Arzt sagt ‚Es ist empfohlen’ und der Arzt das anordnet, bekommt er sie. Und warum sind wir da so empfindlich oder so genau? Weil, wenn er es will und bekommt, wollen es andere auch. Und um das einheitlich zu machen, muss es eben auch aus ärztlicher Sicht angeordnet sein. Und dann ver229
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steht er das auch, warum er jetzt meint, so eine popelige Mütze oder popelige Sonnenbrille nicht zu bekommen. Es wäre sinnvoll, die zu haben. Aber er kriegt sie nicht, weil das Gesetz es verbietet. Es sei denn, es ist ärztlich angeordnet. Aber dann kann ich es natürlich auch einem anderen genauso aus diesem Grund auch vorenthalten, weil es bei dem nicht ärztlich angeordnet ist. Und muss man mit denen reden und denen das erklären und die Mühe muss man sich halt machen, weil er dann einfach verstanden hat.“ (AVD III 84-117) Forschungen zum kommunikativen und sozialpsychologischen Wert der Rechtfertigung stehen in enger Beziehung zur Erforschung der Sprechhandlung der Lüge. Erfolgreiche Selbsttäuschung geht in vielen Fällen mit gleichzeitiger Täuschung anderer einher. Der Lügner ist darum häufig auch selber Belogener, indem er sich selber etwas vormacht.256 Es gibt sowohl soziolinguistische als auch kriminologische Deskriptionen des Phänomens Rechtfertigung. Sandra Sigmon und Charles Snyder meinen, dass der Sprecher bei einer Entschuldigung bzw. Rechtfertigung abmildernde und beschönigende Umstände angibt, welche die eigene Verantwortung verkleinern; es bleibt in jedem Fall jedoch die Anerkennung der kausalen Verbindung des eigenen Verhaltens und des zu verantwortenden Geschehens in der Rechtfertigung bestehen. Im Fall der Lüge hingegen wird jede Verantwortungsübernahme abgewiesen.257 Den Autoren zufolge sind Rechtfertigungen stets Aktionen oder Erklärungen, die die negativen Implikationen einer Handlung vermindern und die es erlauben, im Nachhinein vor anderen und vor sich selber besser dazustehen.258 Sigmon und Snyder unterscheiden darüber hinaus zwei Formen der Rechtfertigung: In der abwehrenden Rechtfertigung steht die Proposition „Ich war es nicht” im Zentrum der Argumentation. In der moderaten Form der Rechtfertigung wird das vorgeworfene Verhalten zugegeben. In einem Nebensatz, der in unterschiedlicher Breite vorwurfsbezogene Kommentare erhält, wird das eigene Verhalten allerdings gerechtfertigt. Es steht eine Hauptproposition im Aussagezentrum, deren inhaltlicher Wert durch das Anführen weiterer Propositionen modifiziert werden soll: „Ich war es, aber...“. Nach Sigmon ist die moderate Form der 256 Vgl. Robert C. Solomon: „What a tangeled web: Deception and selfdeception in philosophy”, in: Michael Lewis/Carolyn Saarni (Hg.), Lying and deception in everyday life, New York: Guilford 1993, S. 30-58, hier: S. 42. 257 Vgl. Sandra Sigmon/Charles R. Snyder: „Looking to oneself in a rosecolored mirror: the role of excuses in the negotiation of personal reality”, in: Michael Lewis/Carolyn Saarni (Hg.): Lying and deception in everyday life, New York: Guilford 1993, S. 148-165, hier: S. 157. 258 Vgl. C. R. Snyder zit. n. S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 156. 230
DIE ERGEBNISSE
Rechtfertigung erfolgversprechender, da sie den Hörer zunächst dadurch beschwichtigt, dass die eigene Täterschaft nicht abgewiesen wird. Anhand der Propositionen des mit „aber“ eingeleiteten Nebensatzes versucht der Sprecher, die anfängliche Beschwichtigung zu modifizieren, indem er für Verständnis für das eigene Verhalten wirbt.259 Die Kriminologen David Matza und Gresham Sykes (1974) unterscheiden in ihrer Theorie der Neutralisierungstechniken ebenfalls mehrere Arten der Rechtfertigung.260 Sie werden mit ihrer Theorie insbesondere der Tatsache gerecht, dass bei der moderaten Form der Rechtfertigungstechniken Beschwichtigungen auf unterschiedlichste Weise stattfinden können. Die Theorie der Neutralisierungstechniken ist speziell auf Rechtfertigungen von Beschuldigten im Kriminaljustizsystem anwendbar. Die große Bandbreite von Rechtfertigungen alltäglichen Fehlverhaltens kann damit weniger erfasst werden. Die Theorie unterscheidet folgende Formen der Rechtfertigung: Im Falle der Ablehnung von Verantwortung für das Geschehen schieben die Täter anderen Personen ihres Umfeldes die Schuld zu und behaupten für sich selber, dass sie es nicht wollten. Ein anderer Rechtfertigungsgrund ist die Verneinung des Unrechts, wobei sich der Sprecher darauf beruft, dass schließlich niemand zu Schaden gekommen sei. Mittels der Ablehnung des oder der Opfer versucht der Täter die Anklage dadurch zu entkräften, dass er mit Blick auf das Opfer behauptet, es habe die Resultate seines Verhaltens verdient und mit dem Tatgeschehen rechnen müssen. Bei der Verdammung der Verdammenden macht der Täter geltend, dass die Ankläger illegitimerweise über sein Verhalten ein Urteil fällen und sammelt Vorwürfe, anhand derer er die Ankläger als unglaubwürdig darstellen kann. Bei der Berufung auf höhere Instanzen verweist der Angeklagte auf höhere Werte, die für ihn handlungsleitend waren, und behauptet, dass er die Tat somit gar nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse anderer beging. Die Theorie der Neutralisierungstechniken erklärt allerdings nicht, warum Angeklagte sich in bestimmten Rechtfertigungssituationen für eine bestimmte Form der Rechtfertigung entscheiden, warum sie dabei entweder zum Angriff auf den Ankläger oder auf das Opfer übergehen oder warum sie andererseits ihre eigene Verantwortung komplett abstreiten. Roy Baumeister hat hierfür möglicherweise eine Erklärung: Die Wahl der Rechtfertigungstechniken bemisst sich nach der Wahl der Beschuldigungstechniken; je expliziter und direkter eine Anschuldigung gegenüber einem Angeklagten formuliert wird, umso weniger Möglich259 Vgl. S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 158. 260 Vgl. David Matza/Gresham M. Sykes: „Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz“, in: Fritz Sack/René König (Hg.): Kriminalsoziologie, 2. Auflage, Frankfurt/Main: Akademische Verlagsgesellschaft 1974, S. 360-371, hier: S. 360 ff. 231
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keiten bleiben diesem für selbst- und fremdtäuschende Argumente und damit für Rechtfertigungen. Fakten der Anklage könne man weniger leugnen als deren subjektive Begründungselemente, die einen weiten Raum für abweichende Interpretationen eröffnen.261 Meine Daten stützen diese These nicht. Sie lassen vielmehr vermuten, dass Gefangene sich wenig darum kümmern, in welcher Weise ihnen die Schuld vorgeworfen wird. Es deutet einiges darauf hin, dass sich das Rechtfertigungsgeschehen weniger aus der Argumentstärke des Urteilsspruchs in der Strafakte als vielmehr aus dem Deliktstyp ergibt, dem ein Gefangener zuzuordnen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Praxis mancher Beamter, sich im Umgang mit Gefangenen immer wieder auf die Urteilsbegründung der Gefangenenpersonalakte zu berufen, als wenig sinnvoll. Meine Daten bestätigen hingegen die Feststellung Baumeisters, dass Rechtfertigungen in den wenigsten Fällen faustdicke Lügen sind. Es handelt sich hierbei eher um Flunkereien, Übertreibungen, Verharmlosungen und selektive Auslassungen, ‚best-case-scenarios’ und andere Verzerrungen. Es ist auch zu unterscheiden zwischen denjenigen Rechtfertigungen, die ein Täter gegenüber sich selber, das heißt privat pflegt, und solchen Rechtfertigungen, die er gegenüber anderen, also öffentlich formuliert.262 Baumeister meint, dass die öffentlich gemachten Rechtfertigungen nur einen kleinen Teil des gesamten Rechtfertigungskomplexes eines Menschen ausmachen. Dies ist so, da „some self-deceptive strategies that succeed in the privacy of one’s own mind may become useless when other people are involved.”263 Nimmt man ähnlich wie bei der Erforschung des Lügens, nicht ausschließlich die abstrakten moralischen Aspekte, also die Fragen nach ‚Gut oder Böse’, sondern hauptsächlich die sozialpsychologischen Implikationen des Lügens in den Fokus, so stellt sich auch hier heraus, dass Rechtfertigen nicht stets als schlecht zu bewerten ist. Sigmon und Sny-
261 Vgl. Roy F. Baumeister: „Lying to yourself: The enigma of selfdeception”, in: Michael Lewis/Carolyn Saarni (Hg.), Lying and deception in everyday life, New York: Guilford 1993, S. 166-183, hier: S. 167. Über die Frage, was die „Fakten einer Anschuldigung“ sind, besteht allerdings in der Kriminologie Uneinigkeit. Die Strafakte wird spätestens seit dem Aufkommen des Sozialkonstruktivismus in der (Kritischen) Kriminologie nicht mehr als Instanz der Wahrheit angesehen sondern als das Ergebnis eines Geschäftsberichts einer kriminaljustiziellen Behörde, die nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit beschreibt; vgl. hierzu etwa Ulrich Eisenberg: Kriminologie, München: C. H. Beck 2000, S. 106 f. 262 Vgl. R. F. Baumeister: Lying to yourself, S. 168 ff. 263 R. F. Baumeister: Lying to yourself, S. 174. 232
DIE ERGEBNISSE
der behaupten, dass Menschen es bereits im Verlauf ihrer Erziehung lernen, ihr Fehlverhalten eher zu rechtfertigen als zu leugnen: „We are taught the process of excuse-giving as an alternative to lying, even though it is not openly acknowledged by our parents and others. Excuses seem to hold the social fabric together as well as our own.”264
Ausgehend von der Annahme, das Selbstkonzept eines jeden Menschen basiere auf sozialen Konstruktionen, ist die Selbsttäuschung ein gängiges Mittel, mit welchem Menschen ihr positives Selbstbild aufrecht erhalten können. Sisela Bok glaubt, dass Menschen nicht allein deshalb lügen und rechtfertigen, um Bestrafung zu entgehen oder anderen zu gefallen, sondern um ganz einfach mit schwierigen sozialen Situationen umgehen zu können.265 Die Biographie wird an denjenigen Stellen durch sprachliche Selbsttäuschung und Rechtfertigung ergänzt, an denen sie das positive Selbstkonzept massiv bedroht. In psychologischen Studien wurde nachgewiesen, dass Selbsttäuschung, wenn sie wohldosiert eingesetzt wird, aus psychohygienischen Gründen sinnvoller als absolute Wahrhaftigkeit ist: Personen, die ein über die Maße negatives Selbstkonzept entwickelt haben, zeigen später mit höherer Wahrscheinlichkeit ein dysfunktionales oder abnormes Verhalten .266 Folgt man einer Studie von Lauren Alloy und Lyn Abramson, tendieren gerade depressive Menschen dazu, die Dinge akkurater zu bewerten als nicht depressive Menschen.267 Die für meine Studie wichtigste theoretische Feststellung zum Rechtfertigungsverhalten stammt von Charles Snyder und lautet wie folgt: „Giving excuses allows us to recognize our limitations and to take risks.“268 In dieser Behauptung erkenne ich eine Ergänzung zu Hannah Arendts Konzept der Vergebung: Diese gestattet es einem Täter, sich nicht ausschließlich vergangenheitsorientiert mit seiner Tat und der eigenen Schuld beschäftigen zu müssen. Mit dem Sprechakt „ich vergebe dir“, wird es einem Menschen ermöglicht, sich wieder der Zukunftsplanung zuzuwenden. Dies soll freilich nicht heißen, dass die Tat damit ungeschehen gemacht wird. Leider kann ich mich an keine Beobachtungs- oder Befragungseinheit im Gefängnis erinnern, in der einem Gefangenen, der sein Verhalten bereut, explizit vergeben wurde. Im Gefängnis ist meinem Eindruck entsprechend eine 264 S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 156. 265 Vgl. R. C. Solomon: What a tangeled web, S. 43. 266 Vgl. S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 154. 267 Vgl. Lauren Alloy/Lyn Abramson zit. n. R. F. Baumeister: Lying to yourself, S. 177: „In other words, regular doses of self-deception are good for you.” 268 C. R. Snyder zit n. S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 162. 233
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Menschengruppe versammelt, die versucht, sich über den Umweg der Rechtfertigung die Zukunft wieder verfügbar zu machen. Für die Angehörigen des Personals besteht freilich auch kein Anlass dazu, den Gefangenen zu vergeben, da sie sich als Strafvollzugspersonal im Zentrum strafrechtlichen Denkens befinden: Die Freiheitsstrafe wird unter anderem gemäß der Schuld bemessen. Mit ihr soll ein Übel zugefügt werden.269 Von Vergebung ist an keiner Stelle des Strafrechts die Rede – allenfalls im Gnadenrecht.270 Nichts liegt Anstaltsleitern, Anstaltspsychologen oder Abteilungsbeamten ferner, als einem Gefangenen seine Tat zu vergeben.271 Sogar im Gespräch mit Gefängnisseelsorgern wartete ich in allen Anstalten vergeblich auf eine eigeninitiative Erwähnung ihrer Vergebungspraxis. Gefangene sind deshalb umso mehr darum bemüht, ihr Selbstkonzept mittels Rechtfertigungstechniken aufrecht zu erhalten. Dies erlaubt es ihnen „to gaze longer into the mirror and reinforce that cherished image of the ‚good and in control’ person.”272
Anonyme Rede Man kann sich in der Masse gut verstecken. (häufige Aussage von Gefangenen)
Erving Goffman hat in seiner Studie über die totalen Institutionen festgestellt, dass eines ihrer charakteristischen Merkmale die Gruppierung ihrer Angehörigen in Personal und Insassen ist. Dies manifestiert sich unter anderem in der einheitlichen Kleidung der jeweiligen Gruppen sowie in der kasernierten Unterbringung der Insassen.273 Die Bildung solcher homogener Gruppen sowie die damit einhergehende Uniformierung ihrer Mitglieder, aber auch andere strukturelle Merkmale der Institution Gefängnis bringen es mit sich, dass der einzelne Gefangene bzw. AVDBeamte Gefahr läuft, in der Masse der Gefangenen bzw. Bediensteten unterzugehen. Diese Feststellung gilt, wie sich weiter unten herausstellen wird, weniger für die akademischen Berufsgruppen des Gefängnisses wie z. B. die Fachdienste und die Juristen. Auch die Werkdienstbeamten sind von der Angleichung an die Masse der AVD-Beamten aufgrund ihrer werkdienstlichen Spezialisierung weniger betroffen. 269 Vgl. BverfGE 22, 132: „Jede Kriminalstrafe ist ihrem Wesen nach Vergeltung durch Zufügung eines Übels.“ 270 Vgl. hierzu die jeweiligen Gnadenordnungen der Bundesländer. 271 Die Möglichkeit von Seelsorgern zur Vergebung ist mit derjenigen von Anstaltsleitern, Psychologen und Abteilungsbeamten nicht vergleichbar, da sie in der Regel dezidiert nicht in der Kategorie strafrechtlicher Schuld argumentieren. 272 S. Sigmon/C. R. Snyder: Looking to oneself, S. 153. 273 Vgl. E. Goffman: Asyle, S. 27 ff. 234
DIE ERGEBNISSE
Hinsichtlich der Uniformität der Strafvollzugsangehörigen wird allerdings übersehen, dass diese es den Einzelnen auch ermöglicht, sich in der Masse zu verstecken. Die folgenden Beispiele zeigen, in welchen Situationen sich Sprecher im übertragenen Sinne hinter bestimmten Ecken der Strafvollzugskultur verstecken, um nicht als Sprecher identifiziert und zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Möglichkeit für Gefangene, sich anonym zu äußern stellt die Fensterkommunikation dar:274 Das augenfälligste Merkmal einer Hafthausfassade ist die Ähnlichkeit der Fenster, sowohl was ihr Aussehen, als auch was ihre Anordnung betrifft. Die Gefangenen wandeln das Bild etwas ab, indem sie ihre Schuhe oder Lebensmittel auf den Fensterbrettern abstellen. Geht nun ein Mitarbeiter des Gefängnispersonals an einer solchen Hafthausfassade entlang, so hat er so viele potentielle Beobachter, wie es Gefangene hinter den Haftraumfenstern gibt. Hier verkehrt sich das panoptische System Jeremy Benthams in sein Gegenteil: Nicht mehr ein Beamter hat von seinem zentralen Beobachtungsposten aus alle Gefangenen im Blick. Nun haben alle Gefangenen einen Beamten im Blick. Ich habe es immer wieder miterlebt, dass aus diesem Schutz heraus Gefangene das machen, was sie sich in direkter Gegenüberstellung mit einem Beamten nicht trauen würden: Sie lassen ihre Wut an dem jeweiligen Beamten aus, indem sie ihn direkt und lautstark in beleidigender Form ansprechen. Mit der Beleidigung durch einen Sprecher ist es dann aber noch nicht genug: Der Sprecher kann sich der Zustimmung seiner Mitgefangenen in den anderen benachbarten Hafträumen sicher sein. Durch seinen Zuruf erschafft er sich sein Publikum, vor dem der Angesprochene bloßgestellt wird. Zurufe müssen allerdings nicht zwangsläufig beleidigenden Charakter haben. Häufig wird man als Vorbeigehender einfach zum Narren gehalten, indem einem ein Gefangener ein „Hallo!“ zuruft, ohne sich zu zeigen oder indem insbesondere weiblichen Bediensteten schlüpfrige Bemerkungen zu hören bekommen, die etwa ihren Körper betreffen. Ich habe diese Situation mehrfach „am eigenen Leib“ erfahren und weiß, dass man sich dann wie auf dem Präsentierteller den verbalen Anspielungen eines Gefangenen und den Augen der Hafthausnachbarn ausgeliefert sieht. Die gängige Reaktion der Bediensteten auf solche Fensterrufe besteht darin, gar nicht zu reagieren, sondern einfach den eingeschlagenen Weg zur nächsten Tür fortzusetzen: „Andersrum kriege ich eben auch oft Beleidigungen mit. Also nicht oft, aber ab und zu aus dem Fenster. Wenn ich also eben an den Hafthäusern vorbeilaufe, dass dann eben irgendjemand etwas herausschreit. Manchmal ist es nur der Name, manchmal ist es eine Forderung oder die Frage nach der Uhrzeit. Manchmal ist es aber auch beleidigend. Und einige machen sich lustig. Und dann versuche 274 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Gerücht“. 235
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
ich, möglichst gar nicht zu reagieren und das zu ignorieren.“ (FD IV 204-209) Unerfahrene Beamte reagieren meiner Erfahrung nach heftiger auf solche Zurufe, indem sie schneller gehen, böse in Richtung des Sprechers schauen oder sogar peinlich berührt mitlachen. Auch unter den Gefangenen werden bisweilen Versuche gemacht, sich gegenseitig aus dem Schutz der Anonymität heraus etwas zuzurufen. Diese Anonymität innerhalb der eigenen Gruppe ist jedoch ungleich schwerer zu wahren als diejenige gegenüber der Gruppe des Personals, denn die Fensterkommunikation ist ein gängiges Mittel der Verständigung, und mit zunehmender Haftlänge entwickeln die Gefangenen ein feines Gehör dafür, wie weit der jeweilige Rufer entfernt ist, was wiederum Schlussfolgerungen auf die entsprechende Haftraumzugehörigkeit zulässt. Die Rede aus dem Schutz der Anonymität heraus wird auch im Umgang mit der Gegensprechanlage praktiziert. Wie bereits im Kapitel über „Sprache und Sicherheitstechnik“ beschrieben, geschieht dies zum Beispiel immer dann, wenn Gefangene nicht wissen können, welcher Beamte gerade die Gegensprechanlage betätigt und eine Durchsage macht. Diese Form der anonymen Rede habe ich nicht selber beobachtet. Sie wurde mir vielmehr von Beamten berichtet. Ein Werkdienstbeamter und ein Abteilungsbeamter sind der Auffassung, die Gegensprechanlage lade förmlich dazu ein, sich in unangenehmen Gesprächssituationen auf anonyme Weise gegenüber den Gefangenen zu äußern: „Rein vom Zwischenmenschlichen her: Man kann viel rücksichtsloser mit einem Menschen umgehen mit so einer Sprechanlage, als wenn man ihm direkt gegenübersteht. Und das ist schlecht.“ (WD III 540-54) Auch die Insassen von mehrfach belegten Hafträumen nutzen die Gegensprechanlage, um ohne die Nennung ihres Namens in anonymer Weise und teilweise auch beleidigend zu den Beamten zu sprechen. Ein Anstaltsleiter klagt, die Gegensprechanlage sei eine „anonyme Geschichte. Was natürlich erlaubt, Spielchen zu treiben. Man sieht den Anderen nicht so. Da kann der Beamte wie auch die Gefangenen, gerade in einer großen Zelle, sehr böse reagieren. Also mit beleidigenden Worten zum Beispiel. Man kann relativ leicht durch so eine Rufanlage beleidigen. Beweise nachher zu bringen ist natürlich unheimlich schwierig. Jeder streitet es ab.“ (AL III 475-481) Die höchste Form der anonymen Kommunikation im Gefängnis stellt meiner Ansicht nach die Informationsübergabe durch einen Boten dar, der die Identität des Ideengebers oder Einflussnehmers nicht bekannt gibt.275 Diese Anonymität existiert zunächst einmal im Tätigkeitsbereich des Anstaltspfarrers der im Schutz des Beicht- oder seelsorgerlichen Geheimnisses handeln kann: „Jeder akzeptiert hier, dass ich meine Schwei275 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Gerücht“. 236
DIE ERGEBNISSE
gepflicht habe. Ich kann dann auch vermitteln, wenn irgendwas war. Wenn zum Beispiel ethnische Gruppen dann untereinander ihre Gefechte hatten. Irgendeiner kam dann wieder zu mir und sagt: ‚Herr Hilfreich, der Anstaltsleiter muss nicht unbedingt wissen, dass ich das war. Und könnten Sie es ihm nicht beibiegen?’ Sage ich: ‚Ja, mach ich schon.’ Das heißt also, ich nehme so eine Funktion eines ehrlichen Maklers ein.“ (FD II 285-292) Ein lange Jahre diensterfahrener Werkdienstbeamter, der das Geflecht aus verlässlichen und unverlässlichen Kommunikationspartnern kennt, ist sogar in der Lage, auf inoffiziellem Weg und vermittelt über andere Insassen, anonym auf die Gefangenengruppe Einfluss zu nehmen: „In der Schreinerei ist ein Reiniger. Der spricht sehr schlecht Deutsch. Den habe ich gestern mal zu mir ins Büro zum Bodenputzen genommen. Und der hat so ein bisschen geklagt, dass manche Gefangene in der Schreinerei eigentlich ihm so sagen: ‚Das musst du putzen.’ Und auch absichtlich dreckig machen. Zum Beispiel auch mal spucken auf den Boden: ‚Jetzt musst du das putzen.’ Und er kann sich nicht wehren. Und das hat er mir erzählt. Aber ich soll ja nichts machen. Er würde das schon erdulden. Das habe ich dann einem anderen Gefangenen, wo ich auch ein gutes Verhältnis habe, gesagt: ‚Du, versuch mal, das ein bisschen mit deinen anderen Leuten zu klären, ohne dass der Name von mir fällt. Oder dass der sich beschwert hätte.’ Und meinem Denken nach klappt das so am besten. Weil so etwas kann man öffentlich einfach nicht verbieten. Die Gefangenen zusammen holen und sagen: ‚Das dürfte ihr nicht machen.’ Dann lachen die drüber. Im Gegenteil. Dann gehen sie noch auf den mehr los. Da muss man ein bisschen sehr vorsichtig sein.“ (WD I 43-73)
Mythos Geheimsprache Aber ich meine, dass ich nicht unbedingt jede dieser Geheimsprachen hier beherrschen muss, um in diesem Leben in dieser Gemeinschaft hier bestehen zu können. (ein Anstaltsleiter)
In meinen Interviews stellte ich die Frage, ob es in den heutigen Gefängnissen noch Geheimsprachen gibt. Dabei hatte ich den Befragten keine Definition des Begriffes „Geheimsprache“ vorgegeben. Der folgenden Ergebnisdarstellung liegt jedoch eine definitorische Bedeutung des Begriffs „Geheimsprache“ zugrunde: Ich definiere den Begriff „Geheimsprache“ nicht aus diachronischer Perspektive, indem ich auf die Merkmale einer gewachsenen Sondersprache mit eigenem Lexikon und auf eine vergleichsweise eindeutige Zuordnung zu einer Sprechergruppe ab237
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
stelle. Meine Definition des Begriffs „Geheimsprache“ bedient sich synchroner sprachlicher Merkmale und bezeichnet all diejenigen Sprechhandlungen als geheimsprachlich oder verschleiernd, die zu einem beliebigen Zeitpunkt dazu dienen, in spontaner Weise Kommunikationsinhalte in verschleierter Weise zu übermitteln. Nach dieser Definition sind der Gefängnis- bzw. Gefangenen- oder Beamtenjargon immer dann Geheimsprachen, wenn in ihnen absichtlich Begriffe verwendet werden, deren Bedeutung einem fremden Hörer nicht geläufig sind. Der Begriff „Geheimsprache“ lässt sich darum einfacher unter Verwendung des Hörerkonzepts definieren. Eine Geheimsprache liegt nach meinem Verständnis dann vor, wenn sich ein Hörer von den Inhalten einer Kommunikation aktiv ausgeschlossen fühlt. Dies ist immer dann der Fall, wenn die verwendeten Wortschatzelemente für den Hörer eine unbekannte Bedeutung haben und die Sprecher das Unverständnis des Hörers bewusst ausnutzen. Sobald der Jargon zum beabsichtigt ‚unverständlichen Gerede’ wird, liegt demnach eine geheimsprachliche Äußerung vor.276 Ebenso können Fach- und Fremdsprachen des Strafvollzugs zu Geheimsprachen werden, wenn sie zum Zweck der Verschleierung eingesetzt werden. Vor dem thematischen Hintergrund dieser Arbeit steht das Verständnis von Geheimsprachen freilich in deutlichem Gegensatz zu denjenigen Definitionen des Begriffs „Geheimsprache“, die auf komplexe geheimsprachliche Systeme wie etwa das Rotwelsch abzielen. Dieses besteht aus jiddischen, sogenannten „zigeunerischen“ und deutschen Wortschatzelementen. Das Rotwelsch wird im Allgemeinen als „Gaunersprache“ bezeichnet. Auch hier gibt die Etymologie Auskunft über den subkulturellen und verschleiernden Aspekt dieser Sprache: Bereits für das 13. Jahrhundert ist das Wort „rotwalsch“ belegt, was so viel bedeutete wie „betrügerische Rede“.277 Vergleicht man die umfangreiche Liste rotwelscher Wortschatzelemente278, mit dem aktuellen Gebrauch rotwelscher Wortschatzelemente, so fällt auf, dass allenfalls noch die langjährig und mehrfach Inhaftierten von der Existenz dieser Sprache wissen oder sie gebrauchen. Im gegenwärtigen Vollzugsalltag findet das Rotwelsch nur noch vereinzelt Anwendung. Einige wenige Begriffe haben in die allgemeine Umgangssprache des Gefängnisses Eingang gefunden und sind Teil des all276 Der aus dem Französischen entlehnte Begriff „Jargon“ deutet auf die funktionale Nähe des Jargons zur Geheimsprache hin: „unverständliches Gerede“. Etymologisch leitet sich der Begriff nach Kluge aus dem vorrom. Wort „gargone“ her, was soviel bedeutete wie „Gezwitscher, Geschwätz“. Vgl. hierzu Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: deGruyter 2002, S. 450. 277 Vgl. W. H. Veith: Soziolinguistik, S. 77. 278 Vgl. für einen aktuellen inhaltlichen und bibliographischen Überblick Roland Girtler: Rotwelsch – Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden, Wien: Böhlau 1998. 238
DIE ERGEBNISSE
gemeinverständlichen Jargons geworden. Nur selten kommt es vor, dass diese Begriffe dem Personal nicht bekannt sind. Anhand der Aussagen meiner Forschungspartner möchte ich belegen, dass sich die Art und Weise, wie im Gefängnis geheimsprachliche linguale Ausgrenzung von Dritten betrieben wird, gewandelt hat und dass die Vorstellung, es gebe nach wie vor eine geheime komplexe Gaunersprachen, nicht mehr zeitgemäß ist. Mittels eines knapp 1300 Worteinträge umfassenden Lexikons der „Knastsprache“ lässt sich dieser Eindruck bei Laien freilich erwecken.279 Hier fehlt jedoch der differenzierende Hinweis darauf, dass sich die Lexikoneinträge regional unterschiedlich auf die einzelnen Gefängnisdialekte verteilen, was die Anzahl geheimsprachlicher Wortschatzelemente pro Anstalt auf eine sehr viel kleinere Zahl reduziert. Umfangreichere Arbeiten zum Lexikon und zur Pragmatik des Rotwelsch zum Beispiel von Roland Girtler liefern eindeutigere Belege dafür, dass es ehemals eine Geheimsprache in der „Gaunerwelt“ und somit auch im Gefängnis gegeben hat.280 Ein lebenslang Gefangener mit vielen Jahren Hafterfahrung in mehreren Anstalten, der vom früheren Gebrauch des Rotwelschen weiß, verneint für die Gegenwart die Existenz einer solchen Geheimsprache: „Geheimsprachen kenne ich nicht. Kenne ich eigentlich nur von der Literatur her. Was mit den Zigeunern zu tun hat. Und ist mir hier drinne eigentlich nicht bekannt.“ (GEF II 710-714) Auch ein anderer Gefangener, welcher der engen Definition des Begriffs Geheimsprache folgt, meint, komplexe Geheimsprachen gebe es „hier drin gar nicht“ (GEF IV 464). Andere Gefängnismitglieder äußerten sich in für mich verwirrender Weise und meinten mit dem von ihnen verwendeten Begriff „Geheimsprache“ wohl nicht ein ganzes Sprachsystem, sondern eher einzelne Wortschatzelemente, die erst im Kontext des gesamten Satzes oder der gesamten Aussage für Dritte kryptisch werden. Nur sehr vereinzelt gaben Forschungspartner mir gegenüber zu, es gebe eine Geheimsprache. Sie verrieten mir allerdings nichts darüber. Folgender Beamter möchte seine Gefangenen offenbar nicht verpfeifen und meint: I
„Geheimsprachen? Kennst du welche von Gefangenen oder [lacht] von Beamten?“ WD „Ja, das kann ich dir aber nicht sagen.“ I „Nee, musst du nicht.“ WD „Das ist doch geheim.“ [lacht] I [lacht] WD „Sonst tät ich es sagen.“ I „Gibt es denn welche?“ 279 Vgl. K. Laubenthal: Lexikon der Knastsprache. 280 Vgl. Girtler: Rotwelsch. 239
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
WD „Klar gibt es welche.“ (WD II 650-660)
Die Befragten teilen jedoch mehrheitlich meine Vermutung, dass es Geheimsprachen der Gefangenen im engeren Sinne nicht mehr gibt. Vielmehr gehen sie von einer situativen Funktionalisierung des Jargons zum Zweck des geheimnisvollen Sprechens aus. „Ich würde es nicht ganz so als Geheimsprache deklarieren. Ich denke, es gibt eine ganz normale Knastsprache auch unter den Gefangenen, die jetzt viele Begriffe für irgendwas verwenden, um den Beamten, ich sage jetzt einfach mal dumm sterben zu lassen. Ob das jetzt so Drogengeschäfte sind oder ob es irgendwelche anderen Sachen sind. Dann denken die sich schon irgendwelche Begrifflichkeiten oder Sätze dafür aus, dass man wirklich nicht weiß, was der jetzt meint. Das sind manchmal ganz simple Sachen, wo man überhaupt nichts dahinter vermutet. Aber der andere, der weiß genau, was damit gemeint ist. Die Knastsprache an sich ist ja auch geschichtlich gewachsen. Untereinander versteht man sich, die anderen lässt man außen vor oder Neue, die reinkommen, die kann man erst mal testen.“ (AVD VI 468-484) Manche Mitarbeiter bewerten den Begriff „Geheimsprache“ sogar als unangemessen und ziehen den Begriff „Sondersprache“ vor. Ihrer Meinung nach gibt es im Gefängnis nicht viel zu verheimlichen. Angesichts der folgenden Aussage muss man berücksichtigen, dass es gerade die Seelsorger in Gefängnissen sind, vor denen man am wenigsten geheim halten muss, da diese dem Beichtgeheimnis unterliegen. „Eine direkte Geheimsprache würde ich weniger sagen. Ich meine, dass es andere Bezeichnungen gibt, das ist klar. Also dass meinetwegen das Päckchen Tabak dann ‚Koffer’ heißt. Ein Glas Kaffee heißt ‚eine Bombe’. Oder wenn bei mir etwas ganz exzellent gelaufen ist, dann sagen sie: ‚Korrekt, hat der Pfarrer korrekt gesagt.’ Denke ich mir: ‚Na ja, hat so gepasst.’ Ja, Pustekuchen: Dann ist das eine Spitzensache gewesen. So eine Sprache. Aber eigentlich weniger in dem Sinne als Geheimsprache, sondern als Sondersprache im Gefängnis.“ (FD II 758775) Die meisten meiner Befragten liefern Beschreibungen des geheimnisvollen Sprechens, die eher den Eigenschaften des Jargons entsprechen: „Und dann gibt es so eine typische knasteigene Sprache. Die gibt es unter Gefangenen und die gibt es auch unter Bediensteten. Wo man sich verständigt, um den anderen einfach außen vor zu lassen, dass der halt nicht mitkriegt, über was ich jetzt gerade rede.“ (AVD VI 363-368) Ein anderer Beamter spricht ebenfalls von einer „Knastsprache. Die Gefangenen haben für bestimmte Sachen, wie zum Beispiel eine Dose Tabak oder ein Päckchen Kaffee, ihre eigenen Begriffe. Dose Tabak ist eben der ‚Container’. Also es gibt eine Knastsprache. Ausgeprägt ganz besonders unter Gefangenen. Auch vielleicht mit dem Hintergrund, bestimmte Sachen anonym zu machen. Der Bedienstete 240
DIE ERGEBNISSE
Sachen anonym zu machen. Der Bedienstete kriegt das dadurch nicht mit.“ (FD III 703-715) Ein Gefangener, der selber in das sondersprachliche Geschehen eingebunden ist, gibt einen Hinweis darauf, dass verschleiernde Sprechhandlungen tatsächlich spontan aus einer bestimmten Situation heraus entstehen und dass es dazu nicht unbedingt eines bestimmten festestehenden Vokabulars bedarf. Da es die allgemeine Gaunersprache der Gefangenen nicht mehr gibt, sind Teile der Gefangenengruppe selber häufig geheimsprachlich ausgeschlossen und interpretieren die Häufigkeit solcher Situationen dann wie folgt: „Ich würde sogar sagen, die nehmen zu. Die Geheimsprache entwickelt sich einfach aus einer Basis einer Kommunikation zwischen zwei oder drei verschiedenen Gefangenen, die eine Sache abzusprechen haben.“ (GEF VI 388-392) Ich selber habe es in vielen Situationen auf Haftabteilungen erlebt, dass ich Gefangenengesprächen plötzlich nicht mehr folgen konnte, da die Gefangenen situativ angepasste Worte wählten, deren ursprüngliche Bedeutung ich zwar kannte, die jedoch im jeweiligen Verwendungskontext offenbar eine andere Bedeutung trugen. Die Verständigung mittels spontaner Verschleierungstechniken erfordert, anders als beim Erlernen der klassischen Gaunersprachen, keine lange Zugehörigkeit zur Gefangenengruppe. Sogar neuinhaftierte Erststraftäter können, so sie unter den Mitgefangenen Anerkennung finden, meiner Ansicht nach die spontane Verschleierung schnell erlernen. Möglicherweise hat die Gaunersprache deshalb an Bedeutung verloren, da der Ausländeranteil in bundesdeutschen Gefängnissen hoch ist und es keine Möglichkeit mehr gibt, die Solidarität der Gefangenen untereinander auf eine gemeinsame Erstsprache (Deutsch), der eine gemeinsame Geheimsprache beigeordnet ist, zu beziehen. Die ausländischen Inhaftierten müssen sich im Vergleich zu ihren deutschen Mitgefangenen weniger Mühe geben, die Bedeutung ihrer Aussagen vor dem Personal zu verschleiern, da bereits ihre Fremdsprachigkeit diese Funktion übernimmt: „Die ausländische Sprache scheint für viele eine Provokation zu sein. Dass der überhaupt anders ist. Freilich wird sie immer wieder dazu benützt, um Personal aus der Kommunikation aussteigen zu lassen. Also unsere russlanddeutschen Gefangenen rufen natürlich zu den Russen, die von draußen außerhalb der Mauern Drogen reinschmeißen, in russischer Sprache zu, wie es aussieht. Und als mal die Polizei eine riesige Razzia gemacht hat und mit Spezialeinsatzkommando alles abcheckte, hat die Polizei sich gewundert, dass sie nicht einen Gefangenen oder einen Außenstehenden gefunden haben. Die hatten eben das einander zugerufen. Pfiff oder was man da so alles machen kann. Also das geht aber jetzt schon ein bisschen in Richtung Geheimsprache.“ (AL II 49-59)
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Gefängnisse, in denen die Angehörigentelefonate noch durch die Abteilungsbeamten überwacht werden, stehen vor dem Problem, dass die ausländischen Gefangenen am Telefon in ihrer Muttersprache sprechen und der Beamte in den wenigsten Fällen etwas versteht. Ein Gefangener ist zufrieden mit dieser Situation: „Ein verbotener Gesprächspartner ist am Telefon. Der Beamte sitzt ja dabei. Aber scheißegal: geschwind russisch und dann [...]“ (GEF III 64-644) Ein Fachdienstmitarbeiter zeigt, in welch machtlose Position die Beamten infolge solch fremdsprachiger Verschleierung geraten. „Geheimsprachen sind alle ausländischen Sprachen. Weil die so gut wie niemand hier als Beamter oder als Mitarbeiter spricht. Also brauchen die keine besonderen Sprachen, weil Arabisch spricht keiner, Türkisch auch so gut wie keiner. Und da kann man sich auch vor Beamten so gut wie alles erzählen. Auch am Telefon. Der Beamte sitzt zwar dabei, muss also das Telefonat überwachen. Es ist echt oft lachhaft.“ (FD I 243-250) Verschleiernde Äußerungen oder Zeichen werden auch auf dem schriftlichen Weg des Gefangenenbriefverkehrs häufig eingesetzt. Da geschriebene Sprache nicht so schnell vergänglich ist wie gesprochene Sprache, kann sie den Beamten des Gefängnisses als Recherchematerial dienen. Verschleiernde Sprache tritt auf schriftlichem Wege nicht spontan auf, sondern besteht aus einem von Autor und Leser gemeinsam geteilten Wissen aus Wortschatz- und Zeichenelementen, deren Verwendung so lange andauert, bis kriminalistische Behörden von deren Bedeutung Kenntnis erhalten. „Manchmal kriegt man sogar mit, wenn Briefe geschrieben werden, wo es dann unverständlich wird, oder vom Puder die Rede ist oder irgend so was, wo dann auch Rauschgift gemeint ist. Oder Gras oder so ein bisschen weiß man ja mittlerweile. Es gibt ja mittlerweile von den Kriminalämtern oder auch von der Literatur ganze Listen, wie die einzelnen Dinge bezeichnet werden.“ (AL IV 606612) In der Vergangenheit dienten mehr als heute nonverbale Zeichensysteme wie etwa Klopfcodes der verschleiernden Kommunikation unter den Gefangenen. Dabei wurden von Gefangenen harte Gegenstände an Kanalisations- oder Wasserversorgungsrohre geschlagen. Der dabei verwendete Code wurde von Gefangenen desselben Gebäudeflügels entziffert. Auch das Schlagen an die Gitter der Fenster diente der verschleiernden Kommunikation mit Angehörigen jenseits der Außenmauer. Langjährige Bedienstete und Anstaltsleiter wissen noch von diesen Zeiten zu berichten: „Geheimsprachen kenne ich keine. Ich weiß, dass es das früher gab. Und früher hat man sich mit Klopfzeichen unterhalten. Das braucht man heute nicht mehr. Heute hat man ein Telefon, man sieht sich den ganzen Tag. Früher gab es so was nicht, früher waren die Gefangenen eher weggeschlossen. Dann weiß ich von Erzählungen von älteren Kollegen, dass man im Klo das Wasser leergeschöpft hat. Hat man 242
DIE ERGEBNISSE
sich dann über das Abwassersystem unterhalten.“ (WD III 473-478) „Geheimsprachen spielen im Jugendvollzug eigentlich keine so große Rolle mehr. Im Erwachsenenvollzug ist das eine größere. Da gibt es ja sogar noch welche, die das Klopfalphabet beherrschen.“ (AL II 105-108) Ich habe versucht zu zeigen, dass das verschleiernde Sprachhandeln im Gefängnis in seiner Quantität wohl kaum abgenommen hat, dass allerdings in qualitativer Hinsicht ein Wandel der geheimsprachlichen Kommunikationsformen stattgefunden hat. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass mit der Erstellung sprachlicher Kategorien wie etwa des Gefangenenjargons und der geheimen Gaunersprache die Konstruktion einer Gaunerwelt als eigener Entität vorangetrieben wird. Aus dieser nun doch einmal kritisch-kriminologischen Perspektive ist zu fragen, ob es legitim ist, allein das verschleiernde Sprechen der Gefangenen als eine „Geheimsprache“ zu betiteln oder ob es dann nicht auch sinnvoll wäre, auch das verschleiernde Kommunizieren des Gefängnispersonals zu Zwecken der Sicherheit als eine Geheimsprache zu bezeichnen. Beide Personengruppen, sowohl das Personal als auch die Insassen, sind damit beschäftigt, ihre Interessen durchzusetzen. Auf Beamtenseite ist es die „Produktion von Sicherheit“, auf Gefangenenseite ist es das Steigern von Lebensqualität unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs. Was bleibt beiden Seiten anderes übrig, als geheime Welten aufzubauen, von denen die andere Seite nichts erfahren darf? Der Begriff „Geheimnis“ ist darum auf die Kommunikation aller Gefängnisangehörigen anzuwenden. Ein Anstaltsleiter sieht das freilich völlig anders: „Es gibt natürlich eine Geheimsprache: die im Funkverkehr natürlich. Aber das möchte ich nicht unter Geheimsprache definieren. Das wäre sicher abfällig, auch unangemessen. Wenn wir bestimmte Codes durchgeben, hat das mit Geheimsprache nichts zu tun. Das ist nur wichtig, dass eben andere, die vielleicht den Funk mithören könnten, nicht sofort verstehen. Aber es ist keine Geheimsprache. Geheimsprache definiert sich an einem ganz anderen Kriterium.“ (AL V 859-881)
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Literalität Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessen einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil die im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. (Sokrates im Dialog mit Phaidros, zit. n. Platon – Buchwald)
Die Schilderungen der vorangegangenen Kapitel vermitteln dem strafvollzugsfremden Leser möglicherweise den Eindruck, dass die Sprachkultur des Gefängnisses in erster Linie durch die Merkmale ihrer Oralität bestimmt ist. Eine rein organisationsbezogene Schilderung des Strafvollzugs lässt außer acht, dass ein erheblicher Teil der oralen Sprachkultur im Gefängnis sich erst aus dem Bestand strafvollzuglicher Literalität ergibt oder zumindest in Wechselwirkung mit dieser steht. Für die schriftlich kodifizierten Normen im Strafgesetzbuch gilt zum Beispiel folgender Grundsatz: „Nur ein geschriebenes Gesetz [kann] die Strafbarkeit einer Handlung begründen und die Strafe als Rechtsfolge androhen [...] (nullum crimen nulla poena sine lege scripta).”281 Für die anderen Gesetze, wie etwa das StVollzG, wird dieser Grundsatz zwar nicht explizit geltend gemacht. Dennoch ist davon auszugehen, dass ähnlich dem oben genannten Gesetzlichkeitsprinzip auch in anderen Bereichen des Strafrechts eine enge Verzahnung von Gesetzesschriftlichkeit und Praxis vorhanden ist. Aus der Sicht eines Juristen sollte im Idealfall sogar Deckungsgleichheit zwischen Gesetzesinhalt einerseits und Ausgestaltung der Praxis andererseits herrschen, was in dieser Form freilich nicht einzulösen ist. Ein dem Gesetzlichkeitsgrundsatz verwandtes Prinzip findet sich in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Durchführung des Strafvollzugs auf dem Verfassungsgrundsatz beruhen muss, dass Eingriffe in die Grundrechte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen.282
281 Vgl. Johannes Wessels/Werner Beulke: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Heidelberg: Müller 2002, S. 11. Dieser Grundsatz soll den Bürger vor strafgewaltiger Willkür schützen. 282 Vgl. eine Erläuterung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 33, 1 ff. in: Klaus Laubenthal: Strafvollzug, Berlin: Springer 1998, S. 47. 244
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Eine möglichst nah am Normkatalog orientierte Praxis ist der Wunsch vieler Juristen. Ein Anstaltsleiter schildert, warum aus seiner Perspektive Literalität ein unverzichtbarer und wesentlicher Teil der strafvollzuglichen Sprachkultur ist: „Also man muss eine Vielzahl von Dienstanweisungen oder Anordnungen erlassen. Und die muss man vernünftigerweise auch schriftlich erlassen, weil die Erfahrung lehrt, dass ansonsten einfach zuviel Information verloren ginge, wenn das von Mund zu Mund mündlich weitergegeben wird. Das gehört halt einfach dazu. Wir sind eine Institution, die sich auch nach so wahnsinnig verschiedenen Normen richten muss. Und so wahnsinnig vielen verschiedenen Ansprüchen auch genügen muss, dass der Anstaltsleiter und die anderen das auch dokumentiert umsetzen müssen. Und deshalb kommt es zwangsläufig dazu, dass es eine hohe schriftliche Regelungsdichte gibt. Also das Beste, was man da noch machen kann, ist, dass man das möglichst noch systematisiert. Dass das für jeden jetzt erkennbar ist: ‚Was soll denn jetzt nun eigentlich gelten?’ Aber an der Schriftlichkeit dieser Regelung kommt man nicht vorbei.“ (AL VII 703-714 ) Die folgenden Kapitel sollen zeigen, warum diesem Wunsch in der dienstlichen Praxis der Werk-, Abteilungs- und Fachdienste kaum nachzukommen ist. Neben der normgebundenen Literalität des Gefängnisses findet man übrigens auch vereinzelt Zeugnisse informell gepflegter Literalität. Zudem besteht ein wichtiger Aspekt der Schriftlichkeit im Gefängnis darin, welche Rolle die Rechtschreibung für die schriftliche Kommunikation aller Beteiligten spielt. Es wird also beschrieben, wie die Gefangenen mit dem Personal des Gefängnisses über Anträge und die Beamten mit ihren Dienstvorgesetzten über Meldungen kommunizieren. Des Weiteren wird gezeigt, warum gerade für die Anstaltsleitung ein verfügungsrechtlicher, d. h. literaler Umgang mit dem Personal unverzichtbar ist. Anhand des Gefangenenschriftverkehrs und des Tagebuchs soll exemplarisch gezeigt werden, inwiefern im Gefängnis Alltagsnormen der Schriftlichkeit wie etwa das Briefgeheimnis oder die Privatheit des Tagebuchs komplett gekippt werden. Bevor ich die Vielfalt schriftlicher Kommunikationswege im Gefängnis schildere, weise ich jedoch zunächst darauf hin, dass das Problem der Rechtschreibung das Aufkommen strafvollzuglicher Literalität in qualitativer und quantitativer Weise bestimmt.
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Rechtschreibschwäche als allgemeines Problem Es gibt sicher Leute, die in die schriftliche Sprachlosigkeit verfallen, weil sie sich schämen. (ein Anstaltsleiter)
Meinen Überlegungen zur Rechtschreibung im Strafvollzug liegt die neuere organisationssoziologische Annahme zugrunde, dass schriftliches Handeln in Organisationen nicht nur unter der Kategorie der kognitiven Schriftsprachverarbeitung wie etwa der objektiven orthographischen Kompetenz des Einzelnen betrachtet werden sollte, sondern dass schriftliches Handeln immer auch eine sozialpsychologische Komponente enthält, wie etwa die subjektive Angst, für andere erkennbar orthographisch inkompetent zu sein. Das heißt, dass die Schreibtätigkeit des Verfassers von Organisationstexten nicht unabhängig von dessen antizipierter Leserrezeption stattfindet. Auch im Gefängnis ist schriftsprachliche Tätigkeit immer im Kontext der gesamten Institution zu sehen. „Im allgemeinen wird Schreiben am Arbeitsplatz als ein sozialer Prozeß betrachtet und nicht so sehr als ein individueller kognitiver Prozeß. Die Schreibtätigkeit findet statt in Zusammenarbeit mit verteilter Verantwortlichkeit. Sie führt zu einem institutionellen Produkt. Die Alternativen für die Darstellung eines Dokuments werden dabei bewußt berücksichtigt.“283
Diese Tatsache zeigt sich bereits in der Problematik, die mit der Rechtschreibkompetenz aller Gefängnisangehörigen verbunden ist: Die Gefängnisangehörigen haben insgesamt eine schlechte Meinung von der strafvollzuglichen Orthographie. Gleichzeitig sind jedoch die Erwartungen, die die einzelnen Sprechergruppen, in diesem Fall Autorengruppen aneinander haben, ungleich verteilt: Fast jeder zeigt auf fast jeden, wenn es darum geht, anderen orthographische Mängel nachzuweisen: Die Anstaltsleiter erwarten von den Beamten des AVD und der Fachdienste, dass diese eine korrekte Rechtschreibung vorweisen können. „Also Rechtschreibung gehört an sich dazu. Die muss beherrscht werden aus dem ff.“ (AL III 978-979) „Da bin ich eisern hart, eine Meldung muss geschrieben werden. Und wenn der Beamte es nicht kann, muss er es lernen.“ (AL V 1284-1285) Eine ganze Reihe von Beamten erfüllt je283 Lisette Gemert/Egbert Woudstra: „Veränderungen beim Schreiben am Arbeitsplatz“, in: Kirsten Adamzik/Gerd Antos/Eva-Maria Jakobs (Hg.), Domänen- und kulturspezifisches Schreiben, Frankfurt/Main: Lang 1997, S. 103-128, hier: S. 106. 246
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doch diese Erwartungen nicht. Ein Anstaltsleiter stuft das Problem der schlechten Rechtschreibkompetenz seiner Beamten mittels folgendem Witz ein: „Schreibt ein Bediensteter ‚drei Paar Sogge’. Ja, Socken mit zwei g. Sagt der andere: ‚Socken schreibt man doch nicht mit g’. Sagt der: ‚Na gut, dann können wir ja eins rausstreichen.’“ (AL IV 10631456) Die mangelhafte Rechtschreibung scheint insbesondere auf Seiten der AVD-Beamten zu enormen Schreibhemmungen zu führen. Sie müssen damit rechnen, dass eine schriftliche Äußerung etwa in Form einer Stellungnahme oder Meldung auf dem Dienstweg von mehr als einer Person gelesen wird. Diese schriftlichen Äußerungen sind in der Regel mehrfachadressiert und werden schließlich in der Gefangenenpersonalakte oder einer anderen Akte abgeheftet, wo sie immer wieder nachgeschlagen werden können. „Es gibt Bedienstete, die genau wissen, dass sie Probleme haben mit der Rechtschreibung. Es gibt auch Bedienstete, die deswegen beispielsweise die sogenannten gelben Meldungen nicht verfassen, weil sie Angst haben, sich mit ihrer lausigen Rechtschreibung zu outen. Das gibt es. Und das ist gar nicht so selten.“ (AL VIII 741749) Gefangenen wird gerade von Seiten des akademischen Gefängnispersonals ein erstaunlich breiter Rahmen an Rechtschreibschwäche und mangelhafter Darstellungsweise zugestanden: „Bei Gefangenen habe ich den Eindruck, dass sie weniger Probleme damit haben, wenn sie schreiben müssen, dann irgendwas hinzuschreiben und das darzustellen. Hier in dem Trubel irgendwas draufzuschreiben. Oder wenn ich Beschwerden kriege: Das ist ein Kauderwelsch. Finde ich auch in Ordnung. Warum eigentlich nicht?“ (AL III 959-969) Die Rechtschreibung der Gefangenen ist einem Fachdienstbeamten „ziemlich schnuppe. Ich sage es ganz ehrlich. Und auch als Lehrer. Das darf man eigentlich gar nicht sagen.“ (FD II 1360-1364) Gefangene haben dementsprechend auch keine Angst vor möglicher Sanktionierung ihrer Rechtschreibung. Diese fürchten eher, dass die für sie zuständigen AVD-Beamten sich über sie lustig machen: „Wir füllen die Anträge immer gleich im Dienstzimmer aus. Es gibt natürlich auch Beamte, die machen sich da lustig drüber, so über die Rechtschreibung. Wenn du halt irgendwas falsch geschrieben hast. Die suchen sich das. Und da wird halt der Antrag nicht für voll genommen. Und die machen dich dumm.“ (GEF V 661-665) Ein Abteilungsbeamter gibt zu erkennen, dass seine Kollegen und er manchmal in der Tat nicht darum herum kommen, über die Rechtschreibung der Gefangenen zu lachen: „Das ist zum Beispiel was, was amüsant ist zum Teil. Das ist echt nicht böse gemeint. Aber Gefangene, die minderbemittelt sind und Anträge stellen, wo man den Antrag drei Mal liest und noch nicht weiß, was es ist, dann einem anderen gibt und der sagt: ‚Lies es mal so. Kann man 247
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so von der Aussprache her.’ Und dann sich echt köstlich amüsieren kann. Was den Gefangenen gegenüber gar nicht mal böse gemeint ist. Also nicht als Auslachen gemeint ist, aber man einfach herzhaft drüber lachen kann.“ (AVD IV 804-813) Auch durch die Fachdienste „wird es meistens schmunzelnd zur Kenntnis genommen, was da zu Papier gebracht wird. Hauptsächlich auch bei den ausländischen Gefangenen. Klar, woher sollen die es wissen?“ (FD III 1047-1049) Folge dieses Belächelns durch das Personal ist allerdings das ernstzunehmende Problem, dass ein nicht unerheblicher Anteil aller potentiellen Anträge nicht von den Antragstellern eigenständig, sondern von anderen, schriftgewandten Gefangenen verfasst wird. „Ich muss mir einen Ansprechpartner suchen, den ich vielleicht finde oder nicht. Das heißt, ich finde jemand, der mir meine Anträge schreibt. Weil ich mich selber nicht traue oder Angst habe, dass ich es falsch mache.“ (GEF VI 574-579) Da den Gefangenen diese Möglichkeit der Verfassersolidarität zur Verfügung steht, kommt es auch eher selten vor, dass Anträge gar nicht geschrieben werden: „Ist schon vorgekommen. Es ist selten. Aber es passiert ab und zu.“ (GEF VII 505) Gefangene kultivieren hingegen teilweise ein gewisses Selbstbewusstsein, was ihre unansehnliche Schriftlichkeit betrifft, und machen aus der formellen Not eine Tugend im Umgang mit dem Personal: „Es gibt Gefangene, die schreiben stereotyp unter die Schriftstücke: ‚Bitte entschuldigen Sie Stil und Rechtschreibung.’“ (AL VIII 738-739) Trotz der „Gefangenenautokorrektur“ durch einige wenige orthographiekundige Gefangene haben die Adressaten von Anträgen einen eher schlechten Eindruck von der Schriftlichkeit der Insassen. Die deutschen Gefangenen geben dabei offenbar ein besonders schlechtes Bild ab: „Bei Gefangenen gibt es kluge Köpfe. Also die haben schon ein ziemlich hohes Level. Aber viele, wo man merkt, die kommen von der Straße. Also da kann man bestimmte Anträge nur mit Phantasie lesen.“ (AVD IX 943-956) „Bei Gefangenen ist die Rechtschreibung manchmal fürchterlich. Wobei ich da unterscheiden muss: Leute, die die deutsche Sprache nicht gelernt haben, nicht kennen, schreiben halt schon sehr viele Rechtschreibfehler. Das ist klar. Andere, die es eigentlich können müssten, haben genauso viele. Und da ist es dann schon etwas bedenklicher.“ (AL IV 1059-1061) Die wenigsten Beamten scheinen zu wissen, dass die Rechtschreibkompetenzen bei Gefangenen und manchen Bediensteten gar nicht so ungleich verteilt sind. Ein Beamter gibt zu: „Bei den Inhaftierten ist die Rechtschreibung katastrophal, so dass ich über jeden Brief staune, der fehlerfrei geschrieben ist, oder über jedes Schriftstück, über jeden Antrag staune, der fehlerfrei ist. Bei den Bediensteten erschreckend häufig. Wobei das Gros der Bediensteten tatsächlich fehlerfrei schreibt. Aber teilweise katastrophale Fehler, dass ich denke: ,Mein Gott, das darf doch 248
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nicht wahr sein. Und das wird jetzt vorgelegt, wird weitergereicht.’“ (AVD VII 721-727) Viele Beamte insbesondere der AVD weisen darauf hin, dass sie einen Verlust der orthographischen Kompetenz bei sich selber beobachten, wenn sie eingehenden Kontakt mit Gefangenenschriftstücken hatten: „Diese schwache Rechtschreibung der Gefangenen. Da überlegt man manchmal selber: ‚Wie muss man das jetzt schreiben?’“ (AVD III 1454-1456) Expliziten Widerspruch erfährt diese Behauptung im Kreis meiner Befragten nur durch einen Fachdienstmitarbeiter: „Also ich glaube, wer es einmal wirklich gelernt hat, der wird es auch im Knast nicht verlernen. Ich glaube aber eher, dass der Jargon vielleicht angenommen wird. Und schriftlich glaube ich es jetzt weniger. Also wenn jemand regelmäßig seine Zeitung liest, ab und zu mal ein Buch liest, kann ich mir kaum vorstellen, dass dadurch sein Stil versaut wird.“ (FD IV 597-601) Inwiefern Beamte infolge des häufigen Kontaktes mit Gefangenentexten möglicherweise orthographische Kompetenzeinbußen verzeichnen, wird in den Kapiteln „Anträge“ und „Gefangenenbriefkontakt“ erwogen.
Literarische Formen des Strafvollzugs An den Züchologen: [...] (ein deutscher Gefangener auf seinem Antragsbogen)
Wie bereits erwähnt, werden die Lebens- und Arbeitsabläufe des Gefängnisses zu einem erheblichen Anteil auf schriftlichem Wege geregelt. Im Folgenden werden beispielhaft einige literarische Formen des Strafvollzugs im Hinblick auf ihre lebens- und arbeitspraktischen Implikationen hin diskutiert.
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Anträge anliegen an den direktor lieber oder verehrter / oder verehrter oder lieber / oder nur verehrter / oder lieber geehrter / und besser / sehr geehrter herr direktor / ich weiß / die Arbeit im Vollzug / wie sie es nennen / ist schwierig / aber / vielleicht können sie im kleinen/ durchaus etwas bewegen/ sehen sie / ich bin inzwischen kleiner als klein / und es wäre doch sicher reizvoll und befriedigend/ eine entscheidung nach aktenlage / zu treffen (N. N. Schwarz in Drewitz)
Im Folgenden stelle ich einige Aspekte des strafvollzuglichen Gefangenenantragswesens dar. Der schriftliche Antrag ist die wohl am häufigsten eingesetzte schriftliche Kommunikationsform der Gefangenen. Diese müssen ihre Wünsche, die nicht ein unmittelbar lebenspraktisches, durch den Abteilungsbeamten stillbares Bedürfnis betreffen, auf einem Antragszettel, auch Rapportzettel genannt, formulieren. Anträge werden an Abteilungsbeamte adressiert, wenn Gefangene zum Beispiel im Dienstzimmer das Telefon zu festgelegten Telefonatszeiten benutzen wollen. Wenn sie jedoch um eine Kopfschmerztablette bitten, muss hierfür kein Antrag geschrieben werden. Anträge werden auch häufig an die Fachdienste geschrieben, falls der Gefangene um ein Gespräch beim Sozialarbeiter oder Psychologen bittet oder an Freizeitgruppen teilnehmen möchte. Es gehen auch Anträge an die Verwaltung des Gefängnisses. Hierzu zählt zum Beispiel die Zahlstelle, wo das Geld der Gefangenen verwaltet wird. Bitten um vorzeitige Lockerungen aus dem Vollzug oder ähnliche bedeutsame, den Vollzugsplan betreffende Wünsche, werden von den Mitgliedern der Anstaltsleitung bearbeitet. Gefangene schreiben bisweilen auch Beschwerden über Mitgefangene oder Beamte. Diese Form der schriftlichen Kommunikation erläutere ich jedoch nur am Rande, da ich sie nicht eingehend erforscht habe. Für den schriftlichen Antragsweg stehen den Gefangenen Antragsvordrucke zur Verfügung, die über die Abteilungsbeamten erhältlich sind. Antragsformulare wurden in meiner Gegenwart niemals einem Gefangenen vorenthalten; auch dann nicht, wenn es sich dabei um Gefangene handelte, deren hohes Antragsaufkommen allgemein bekannt war. Die Vordrucke erfassen die 250
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wichtigsten Personendaten des Gefangenen. In der oberen Hälfe des Vordrucks kann der Gefangene sein Anliegen handschriftlich formulieren. Dafür besteht von Anstaltsseite in der Regel nur die Erwartung, leserlich zu schreiben. Auf vielen Abteilungen ist es jedoch gängige Praxis, dass von den Gefangenen zusätzlich erwartet wird, dass sie ihr Anliegen begründen. Die untere Hälfte des Vordrucks muss unbeschrieben bleiben, da hier Raum für die Vermerke des oder der Sachbearbeiter gelassen wird. Die Anträge der Gefangenen richten sich in Abhängigkeit von deren Anliegen an unterschiedliche Mitarbeiter des Gefängnisses. Auf Anträge und Beschwerden von Gefangenen wird in der Regel so reagiert, dass der verantwortliche Sachbearbeiter regelmäßige Sprechstunden, so genannte Anhörungen oder Rapportzeiten, durchführt, bei denen über das schriftlich formulierte Anliegen des Gefangenen mündlich gesprochen wird. Anträge erfüllen in Strafvollzugsanstalten offiziell die Funktion der vereinfachten, standardisierten Kommunikation zwischen Gefangenen und unterschiedlichen Stellen des Personals. Insbesondere neue und behandlungsorientierte Mitarbeiter des Gefängnisses betonen während der ersten Dienstzeit ihre Kritik an der Unpersönlichkeit des Antragswesens. Nur wenige Bedürfnisse der Gefangenen werden mündlich geregelt. Langjährige Bedienstete haben das Antragswesen jedoch zu schätzen gelernt, wie die Worte des folgenden Fachdienstmitarbeiters zeigen: „Dieser schriftliche Weg ist viel angenehmer für mich als zu der Zeit, als ich im Gefängnis angefangen habe. Damals fand ich das lästig. Empfand ich als Anfänger Anträge für unnötig, weil ich gedacht habe: ‚Wenn jemand was hat, soll er doch auf mich zukommen. Warum so förmlich, warum so bürokratisch?’ Heute bin ich froh, dass es den Weg gibt. Es gibt mir eine Sicherheit. Es gibt Struktur. Ich kann mir Zeit lassen mit dem, was ich darauf antworte. Kann überlegen in manchen Fällen, ob ich überhaupt mit demjenigen Antragssteller sprechen muss oder das ganze eben eleganter abwickeln kann, mit weniger Aufwand. Die Insassen sind aufgrund durchschnittlich niedrigeren Bildungsniveaus, uns Bediensteten meist unterlegen. Das ist natürlich auch etwas, was man problematisch sehen kann, weil auf diesem schriftlichen Wege meist wir im Vorteil sind. Zumindest die, die eine höhere Schulbildung haben. Es gibt unter den Insassen da selbstverständlich Ausnahmen bis hin zu Großbetrügern, die auch sehr intelligent sind. Es können selbstverständlich auch andere Deliktgruppen sein, die intelligent sind. Aber für mich bedeutet das Antragswesen wirklich sehr viel Sicherheit und wirksamen Schutzmechanismus. Wenn ich da meinen Eingangsstempel darauf setze mit Datum und dann auch nachweisen kann, wann ich den Antrag erhalten habe, wann ich auf den Antragssteller zugegangen bin. Und es ist schriftlich festgehalten. Also ich weiß das immer mehr zu schätzen.“ (FD IV 517-537) Speziell die Fachdienste 251
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können Anträge von Gefangenen dazu nutzen, sich im Voraus auf den Antragssteller einzustellen. Der Fachdienstbeamte meint, dem Stil und der Schreibweise von Gefangenenantragstexten Auskünfte etwa über deren Deliktsform entnehmen zu können: „Wenn da steht: ‚Mit freundlichen Grüßen’ und ‚Sehr geehrter Herr’ und es ist eine sehr schöne Schrift. Das ist jemand, der sehr viel schreibt. Da weiß ich meistens schon, es ist ein Betrüger. Oder wenn dann da steht: ‚Mit vielem Dank im Voraus’. Andererseits gibt es auch Gewalttäter, zu denen eine gute Behandlungsbeziehung besteht. Dann freut es mich manchmal auch, wenn da zum Beispiel darauf steht ‚An meinen Psychologen’ oder ‚Ich bitte um ein Gespräch mit meinem Psychologen’. Das hat dann was. Dann denke ich mir, das ist ja wie draußen, wo man auch seinen Psychologen hat. Und wenn mir derjenige nicht unangenehm ist, dann freue ich mich auch darüber. Manchmal kann mir das aber auch zu eng werden. Dann denke ich eben auch, wenn das wieder zu nett ist, fühle ich mich wieder verpflichtet, mich zu beeilen und hinzukommen. Über die Anträge wird auch oft Druck ausgeübt: ‚Baldmöglichstes Gespräch’. Oder Standardspruch ist dann auch ‚Ich bitte um ein dringendes Gespräch mit dem Psychologen. Grund Privatsache.’ Das regt mich auf, dieses Wort ‚dringend’. Weil ich mich ja damit unter Druck gesetzt fühle und in den meisten Fällen ich die Angelegenheit als nicht so dringend empfinde. Nur dem Antragssteller geht das anders, denn er empfindet oft sein Anliegen als megadringend. So kann ich eigentlich schon einiges daraus ablesen: Bildungsniveau, Schulniveau. Wobei ich da vorsichtig sein muss. Weil manchmal schreiben auch andere Insassen für den Insassen Anträge. Das kann also sein, dass man sich Hilfe holt bei einem Betrüger, einen Antrag zu schreiben, weil er selber sich nicht blamieren will mit Rechtschreibfehlern. Oder Schwierigkeiten hat, seinen eigenen Namen zu schreiben. Da haben wir auch so einige Analphabeten.284 Also es gibt einiges an Information und schafft mir ein bisschen Raum zur Vorbereitung auch. Wenn ich allein diesen Zettel habe, ohne Akte, dass ich sehen kann, wie war derjenige drauf, als er das geschrieben hat.“ (FD IV 541571) Gefangene kennen freilich diese Einstellung auf Beamtenseite, sich über den schriftlichen Weg in mehrerlei Hinsicht abzusichern. Dem setzen manche von ihnen dann das Bemühen entgegen, den schriftlichen 284 Die Alphabetisierungsrate in Europa lag im Jahr 2000 nach einer Schätzung der UNESCO bei 98,2 %. Vgl. für entsprechende Statistiken die Internetquelle http://portal.unesco.org/uis/ev.php?URL_ID=5033&URL _DO=DO_TOIC&URL_SECTION=201&reload=1043671072, Zugriff 27.01.2002. Infolge des häufig niedrigen Bildungsstandes der Insassen sowie aufgrund des hohen Anteils ausländischer Gefangener auch aus nichteuropäischen Ländern dürfte der Wert für den bundesdeutschen Strafvollzug weit daunter liegen. 252
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Weg bis an die kapazitäre Bearbeitungsgrenzen auszulasten. Das Bearbeitungssystem des Gefängnisses, bestehend aus Fachdiensten und Juristen, wird mit einer Antragsflut und Antragskomplexität teilweise überfordert. Für eine gezielte Belästigung durch Anträge müssen die Gefangenen, soll sie effizient verlaufen, allerdings über genügende Kenntnisse ihrer eigenen Rechte, etwa des Verwaltungs- oder des Strafvollzugsrechts verfügen. Ein Langstrafengefangener rühmt sich solcher Fähigkeiten, die er sich über die Jahre erworben hat und mit denen er nun für sich selber und stellvertretend für andere Gefangene Anträge und Beschwerden formuliert, welche den entsprechenden Sachbearbeitern kostbare Zeit rauben. Zu diesem Zweck hat er sich in der Strafrechtswissenschaft autodidaktisch weitergebildet: „Mein ganzes Leben habe ich immer gesagt: ‚Ich pflege meine Feinde zu bekämpfen.’ Und mein Feind, das ist die Justiz. Also um die bekämpfen zu können, muss ich zumindest Bescheid darüber wissen, worum geht es. Das geht los mit dem Gesetz. Ganz einfach, ich kann nur auf irgendwas reagieren, wenn ich weiß, worum es geht. Also dann kamen da die ersten Investitionen. Wenn ich überlege, die ersten fünf Jahre habe ich viele tausend Mark nur für Fachliteratur ausgegeben. Nur um zu wissen, was wollen die eigentlich?“ (GEF II 190-204) Die vom Antragsgeschehen weniger betroffenen Werkdienstbeamten beschweren sich über die Folgen dieser Überlastung. „Das ist ja immer schon meine Forderung, dass man mehr Leute im psychologischen Dienst braucht, die nicht da sein sollten, um nur Stellungnahmen zu schreiben, sondern dass die wirklich Gesprächszeit haben müssen. Aber das geht bei der geringen Zahl von Leuten gar nicht. Da geht so viel Arbeitszeit mit Rapportzettel und Anträge und Stellungnahmen für Entlassungen, Zweidrittel- oder Halbstrafe drauf.“ (WD III 410-417) Die Antragskultur ist je nach Haftabteilung, Hafthaus und Gefängnis unterschiedlich stark ausgeprägt. In einigen der von mir besuchten Gefängnisse scheint das Schreiben eines Antrags in jedem Fall den Ausgangspunkt für Kommunikation zu bilden. Die Reaktion auf Anträge liefert dann erst den Anlass, sich mündlich miteinander in Verbindung zu setzen. Ein Fachdienstmitglied weist auf die unterschiedlichen Weisen der Kontaktaufnahme hin: „Deswegen machen wir, also mein evangelischer Kollege und ich, das Angebot, dass wir sagen: ‚Es gibt zwei Möglichkeiten. Möglichkeit a: Er kann also einen Antrag stellen, so genannter Rapportschein, wo also drin steht, ich möchte gern den oder den Pfarrer sprechen. Oder aber b: Ich lade ihn ein zur Gruppe. Das ist natürlich auch so, dass manchmal einer hier herkommt, der einen Rapportschein schreibt, weil er einfach mal quatschen will. Das ist ganz normal. Der weiß genau: ‚Wenn der Pfarrer kommt, da gibt es einen Kaffee, da kann man sich mal hinsetzen und kann sich unterhalten.’ Ich find es gut, dass dem so ist. Dass also nicht so dieser Druck dahinter ist: ‚Jetzt musst 253
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
du zum Pfarrer gehen. Ach du liebe Zeit. Jetzt musst du da hier dem Pfarrer die Ohren voll labern.’ In Anführungsstrichen. Sondern ich bin wirklich offen, wie mein Kollege auch. Das ist auch okay: ‚Du kannst kommen und wir trinken einen Kaffee.’“ (FD II 34-36, 78-85) Das Antragswesen verführt manchmal leider auch dazu, die mündliche Kommunikation mit den Gefangenen fast völlig zu ersetzen. Dann bleiben als direkte Ansprechpartner für die Gefangenen nur noch die Abteilungsbeamten, da insbesondere die Angehörigen der Verwaltung oder der Fachdienste für den Gefangenen in ungreifbarer Ferne liegen: „Du kommst oft gar nicht zum Sprechen. Mit den zuständigen Personen läuft halt viel über Antrag, weil der an der Zahlstelle sieht ja dein Gesicht nicht. Der hat halt den Antrag. Und den tut man da auf die Seite legen. Als Ansprechpartner hast du bloß den Beamten.“ (GEF III 241-250) Manche Beamte der Leitungsebene, die ehemals Abteilungsdienst gemacht haben, sind in ihrem Dienst häufig darauf beschränkt, diejenige Kommunikation mit Gefangenen zu regeln, die infolge eines schriftlichen Antrags des Gefangenen oder infolge einer schriftlichen Beschwerde über den Gefangenen zustande kommt: „Beispielsweise beim Leiter vom allgemeinen Vollzugsdienst, von den Uniformierten. Da sieht es eher so aus, dass er den Gefangenen nur sieht, mehr oder weniger zum Rapport. Das ist aber auch aus der Funktion abgeleitet. Und ist auch im Prinzip kaum anders zu machen.“ (FD II 362-374) Da die Sachbearbeiter von Gefangenenanträgen in der Regel überlastet sind und es nicht selten vorkommt, dass ein Antrag so lange auf dem Schreibtisch eines Fachdienstmitglieds zu liegen kommt, bis sein Papier an den Rändern vergilbt, bleibt so manche Bitte oder Beschwerde von Gefangenen lange unbeantwortet. Nicht selten werden solch vergilbte Anträge mit der Bemerkung „Durch Zeitablauf erledigt“ schließlich zu den Akten gelegt. Die Worte des folgenden Fachdienstmitglieds zeigen deutlich, welches Problem und auch welch schlechtes Gewissen für die Mitarbeiter von Gefängnissen bisweilen aus der unzureichenden Bearbeitungsleistung resultiert: „Das wird von mir zum Teil auch schriftlich gerechtfertigt, warum man keine Zeit hat oder warum man auch einen bestimmten Antrag nicht bearbeitet. Mir fällt das auf. Ich mache das auch manchmal. Ich rechtfertige mich für irgendetwas, was ich unterlasse oder was ich gemacht habe. Aber meistens für was, was ich hier drin nicht gemacht habe. Und dann frage ich mich gleich oder hinterher oft: Warum habe ich mich jetzt eigentlich gerechtfertigt? Habe dabei hinterher irgendwie kein gutes Gefühl. Weil ich meine, ich muss mich doch vor den Insassen nicht dafür rechtfertigen, dass ich nicht innerhalb einer Woche erschienen bin. Weil ich kann ja gut mal weg sein oder irgendwo eine Tagung haben oder Urlaub gehabt haben.“ (FD IV 33-45)
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DIE ERGEBNISSE
Anträge von Gefangenen, in denen es nicht um Geringfügigkeiten geht, werden ebenso im Gespräch mit der Anstaltsleitung bearbeitet wie Beschwerden von Gefangenen bzw. Beschwerden über Gefangene. Anlass für das Gespräch ist in jedem Fall ein Schriftstück, in dem der Gefangene zur Anhörung vor ein Mitglied der Anstaltsleitung gebeten wird. Dabei ist in der Regel ein Beamter des allgemeinen Vollzugsdienstes anwesend, der dem Anstaltsleiter den Text des Gefangenen sowie den Geschehenskontext in eine angemessene Sprache übersetzt. Der Bericht eines Anstaltsleiters macht dieses Geschehen deutlich: „Ist sicherlich einfacher, wenn ich dann den Beamten dabei habe. Der kann mit seinen Worten, mit seinem Dialekt sagen, um was es geht. Das ist einfacher. Dann kann ich rückfragen. Der Gefangene hat selbst seine eigene Sprache. ‚Was heißt das, was meinst du damit?’ Als wenn man es schriftlich macht mit einem schriftlichen Vorgang.“ (AL III 948-954) Schwierigkeiten in der schriftlichen Kommunikation aus Gründen der Fremdsprachigkeit oder wegen mangelnder schriftlicher Verbalisierungsfähigkeit der Gefangenen führen dann nicht selten zu einer Wiederaufnahme von Mündlichkeit in der Kommunikation.
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Meldungen Es kommt oft genug vor, dass ein Gefangener vor uns steht und uns anschreit: ‚Deine Mutter ist eine blöde Fotze, du blöder Hurensohn’ und so weiter. Da stehst du dann da und kochst innerlich. Wie reagierst du dann? Früher wäre es dann so gewesen: Ab in den Bunker und immer drauftreten. So haben die Beamten damals wohl ihre Aggressionen losgekriegt. Heute geht es so: [Nimmt einen gelben Disziplinarbogen, und wedelt damit vor meiner Nase herum] Du nimmst einen Bogen, schreibst ne Diszi, zerknüddelst die meistens aber bald wieder und merkst, dass alleine das Aufschreiben dich von der Aggression gereinigt hat. Genauso mit den Meldungen. Manche schreiben die nur, um sich durch das Schreiben der Situation klar zu werden. Aus dem Grund kommen so wenig Meldungen oben an. Und wegen der drohenden Rechtschreibblamage. (ein Abteilungsbeamter)
Meldungen sind eine von Bediensteten häufig verwendete Form der schriftlichen Kommunikation mit ihren Vorgesetzten. Der Beamte hat die Pflicht, sämtliche Vorkommnisse, die die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährden, auf einem Meldungsvordruck ausführlich zu schildern und diesen an den nächsten Dienstvorgesetzten weiterzuleiten. Dies betrifft sowohl Meldungen über das Fehlverhalten von Gefangenen als auch von Kollegen. Die Meldung wird von der Vollzugsdienstleitung bzw. vom Anstaltsleiter zur Kenntnis genommen. Diese Stellen reagieren dann entsprechend darauf. Obwohl in den Justizvollzugsschulen eingehend vermittelt wird, wie eine Meldung zu verfassen ist, scheinen die Adressaten der Meldungen, insbesondere die Anstaltsleiter, mit Inhalt und Form häufig nicht zufrieden zu sein: „Als ich dann im Vollzug anfing und mit einer hierarchischen Einstufung von Beamten zu tun hatte, ich war entsetzt, ich war entsetzt. Mittlerweile bin ich auch entsetzt, weit über diese Dienststufe hinaus. Von Leuten, die eine akademische Vorbildung haben, kriege ich Sachen, wo ich mich frage, auf welcher [unverständlich]schule sind die eigentlich gewesen? Stilistisch vor allen Dingen. Rechtschreibung ist vielleicht dann weniger das Thema.“ (AL VIII 753-759) Abgesehen von der schlechten Qualität der Rechtschreibung der Meldungen, beschweren sich eine ganze Reihe der von mir befragten 256
DIE ERGEBNISSE
Anstaltsleiter über deren mageren Inhalt. Ein Anstaltsleiter klagt, dass seine Mitarbeiter „Rechtschreibfehler machen oder weil sie natürlich Angst haben, sich zu blamieren, keine Meldungen schreiben, kurze Meldungen schreiben, unvollständige Meldungen schreiben. Schreibt der Beamte nur: ‚Im Haftraum des Gefangenen wurde Rauschgift gefunden.’ Und das kriege ich jetzt zum Anhören. Da weiß ich ja nicht genau, wo bei dem Gefangenen, wo ist denn das gefunden worden und dergleichen. Und ein anderer Fall ‚Der Gefange hat mich beleidigt.’ Da frage ich den Gefangenen: ‚Sagen Sie, haben Sie den beleidigt?’ [Antwort]: ‚Ich? Nee. Was soll ich denn zu dem gesagt haben?’ Der Beamte: ‚Wenn ich sage, der hat mich beleidigt, dann hat er mich beleidigt. Und was der gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Aber es war beleidigend.’ Dann sitze ich dann da. Reagiere ich jetzt? Dann geht es halt nicht. Dann ist der Beamte wieder beleidigt, in Anführungsstrichen. Warum man ihn nicht ernstnimmt. Er glaubt ja wahrscheinlich noch, es reicht doch, was ich sage. Und der Gefangene hat natürlich auch Recht in dem Punkt, vollkommen Recht. Zu seinen Gunsten muss ich entscheiden.“ (AL III 919-941) Der Anstaltsleiter hätte sich hier eine genaue Angabe darüber gewünscht, worin genau die Beleidigung bestand. Ein anderer Anstaltsleiter zieht darum im Zweifelsfall auch orthographisch schlecht, jedoch ausführlich verfasste Meldungen vor: „Die Meldung besteht ja eigentlich aus dem richtigen Vortrag. Dass jemand, der den Vorgang nicht kennt, auch weiß, was passiert ist. Das heißt, da gibt es also bestimmte Sachen, die ich einfach beachten muss, die der Beamte auch hinschreiben muss. Und dann ist mir egal, ob er ‚wer’ mit mit vier e schreibt oder nur mit einem e oder ‚wessen’ mit fünf s. Ist mir im Prinzip egal. Wichtig ist, dass die Meldung in sich von der Sache her so abgefasst ist, dass ich sie nachvollziehen kann, dass ich weiß, um was es geht, was passiert ist.“ (AL V 12901295) Auch leitende Beamte des AVD, die damit befasst sind, Meldungen vorzusortieren und gegebenenfalls weiterzuleiten, wünschen sich eine bessere Qualität der Meldungen von ihren Kollegen: „Bei sehr vielen Meldungen würde ich mir das wünschen, dass sehr detailliert geschildert wird, was konkret jetzt nun vorgefallen ist. ‚Hat mich beschimpft’, ‚hat einen Hammer durch die Werkstatt geworfen.’ Solche Dinge passieren. Das möchte ich wissen, um auch die Qualität der Verfehlung genau beurteilen zu können.“ (AVD VII 760-765) Die schlechte Qualität von Meldungen wird insbesondere dann zum Problem, wenn die Schriftstücke die Anstalt verlassen und etwa bei der Staatsanwaltschaft, der Aufsichtsbehörde oder dem Gericht (Strafvollstreckungskammer) gelesen werden: „Bei etwas gravierenderen Sachen muss ich natürlich solche Meldungen an die Staatsanwaltschaft beispielsweise ausgeben und dem Ministerium vorlegen. Und dann kam es schon vor, dass ich halt solche Meldungen dem Beamten zurückgegeben habe, korrigiert: ‚Noch mal 257
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schreiben, das Ding muss rausgehen.’“ (AL IV 1091-1097) Gleichzeitig weiß allerdings jeder Anstaltsleiter, welche Schreibhemmungen eine vergleichsweise strenge Bewertung der Meldungsqualitäten bei den Beamten hervorrufen kann. Das Verfassen einer mangelhaften Meldung kommt in dieser Hinsicht einer Offenbarung eigener Inkompetenz gleich. Auch über diese Sorge ihrer Beamten sind die Anstaltsleiter informiert. „Bei Beamten habe ich schon den Eindruck, dass da auch der Kollege guckt, der Vorgesetzte guckt, das läuft rum, das kommt in die Akte rein, vielleicht Spott, Beleidigung. Es könnte ja sein, dass, wenn einer irgendwas geschrieben hat und das kommt in die Akte rein, dass er halt auch von Kollegen mitgeteilt bekommt: ‚Kannst du das Wort nicht richtig schreiben?’ Das Schreiben taucht vielleicht nach Monaten oder nach Jahren in der Akte auf. Man sieht ja die Unterschrift des Verfassers darunter. Und das wissen die Beamten schon genau, dass da Akten gelesen werden. Sie lesen sie selber ja auch.“ (AL III 970-979) Die Anstaltsleiter sehen sich dementsprechend in einer zwiespältigen Situation: Sie müssen einerseits auf das korrekte Verfassen der Meldungen bestehen und wollen aber andererseits ihre Mitarbeiter nicht durch allzu strenge Kontrollen und Tadel verschrecken und vom Verfassen der Meldungen abhalten. Unabhängig von den Argumenten eines Anstaltsleiters eröffnet die Frage, ob Meldungen geschrieben werden, in der Praxis einen äußerst breiten Ermessensspielraum. Insbesondere im Bereich des Gefangenenfehlverhaltens gegenüber Beamten ist es eine Frage der Situationsbewältigung beider Parteien, ob letztendlich eine Meldung geschrieben wird oder nicht. Nicht wenige Beamte sind nach meinen Beobachtungen erleichtert, wenn sie die Meldung nicht verfassen müssen. Es gibt aber auch noch andere Gründe, warum nicht jeder Konflikt zwischen Beamten und Gefangenen zur Kenntnis des Anstaltsleiters kommt. Hierzu zählt in erster Linie die auch für mich unerwartet ausgeprägte Duldsamkeit mancher Mitarbeiter im Fall von erheblicher Beamtenbeleidigung. Einem Beamten kommt es etwa „darauf an, was er sagt und auch wie und bei welcher Gelegenheit. Ich habe es schon erlebt, da war ein Gefangener oben in der Beruhigungszelle. Der hat mit mir sonst nichts zu tun gehabt. Also der Mann ist in einem anderen Haus ausgeflippt. Und den haben sie dann da rauf und ich habe Wochenenddienstleiterdienst gehabt und habe halt hingehen müssen und mit dem reden müssen. Dann hat er mich angespuckt und mich beleidigt. Aber ich habe ihn nicht gekannt. Er hat mich nicht gekannt. Er hat ja die Uniform angespuckt und beleidigt. Bei dem habe ich es nicht einmal reingeschrieben, es hat kein Disziplinarverfahren deswegen gegeben, weil eben die Situation so war, weil ich das erkannt habe, warum, weshalb und wieso. Wenn jetzt ein Gefangener von mir im Haus, der ein Jahr hier ist zu mir sagt: ‚Du bist 258
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ein Arschloch.’ So was funktioniert nicht. Also das ist ein Unterschied. Die Situation ist natürlich entscheidend.“ (AVD II 409-426) Andere Beamte, die es langfristig auf einen nachsichtigen Umgang mit den Gefangenen abgesehen haben, bedienen sich des Meldungsvordrucks, um zunächst ihre Wut auf schriftlichem Wege zu kanalisieren und abzubauen. Wie im Eingangszitat geschildert, wird die Meldung in vielen Fällen gar nicht mehr abgegeben, weil sich der Konflikt im Gespräch bereits geklärt hat oder weil die Wut des Beamten verraucht und sein Interesse an Disziplinierung des Gefangenen kleiner geworden ist. Ein Werkdienstbeamter gibt allerdings Gegenteiliges zu Protokoll, nämlich dass das Schreiben von Meldungen tatsächlich dazu verführt, keine neutrale Darstellung des Geschehens zu liefern. Er empfindet das Niederschreiben des Geschehens auch nicht als emotionale Erleichterung: „Eine Erleichterung würde ich das nicht finden. Neben dem Wort Erleichterung steht ganz schnell das Wort Rache.“ (WD V 314-315)285 Aus der Perspektive von Anstaltsleitern ist jede korrekt verfasste Meldung, die sie über das Geschehen in ihrer Anstalt ausführlich informiert, wertvoll. Für sie bildet die Gesamtheit der Meldungen neben anderen schriftlichen Mitteilungen, die sie in Form von Anträgen oder Beschwerden von Gefangenenseite erhalten, ein abgerundetes Bild, das aus den Einzelperspektiven der Gefängnisangehörigen entsteht: „Meldungen über bestimmte Geschehen in der Anstalt müssen hier formal abgehandelt werden. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Es gibt kein Geschehen in der Anstalt, in dem nur ein Bediensteter davon betroffen wäre, absolut lächerlich das zu glauben. Das heißt, es sind eben eine Vielzahl von Referaten auch betroffen, oder auch eine Vielzahl von Referaten, die den Vorgang dann hernach bearbeiten müssen. Das würde also auf mündlichem Wege ungeheuer viel Arbeitsaufwand erfordern, ständig dann Konferenzen Besprechungen und der kommt zu dem und dann kommt der zu dem und wenn er es beim vierten Mal sagt, dann hat er natürlich schon wieder was vergessen. Deswegen müssen solche Meldungen zunächst, von dem, der am Ort des Geschehens war und in das Geschehen eingebunden war, abgefasst werden.“ (AL V 1223-1260) Das Meldungsaufkommen scheint in keinem Verhältnis zu dem faktischen Aufkommen an Anlässen zu stehen: Ich habe insbesondere AVD-Beamte im Dienst selten bei dieser Schreibtätigkeit beobachtet, obwohl es zu vielen Zeitpunkten Anlässe dafür gegeben hatte.
285 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Beleidigungen“. 259
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Gefangenenbriefkontakt Und ich finde, das ist auch eine gewisse Art von Privatsphäre, die man doch schützen sollte. (ein Werkdienstbeamter)
Die Kontrolle des Gefangenenbriefverkehrs wird in den von mir besuchten Gefängnissen sehr unterschiedlich gehandhabt. In manchen Anstalten kontrolliert man die Briefe allein zum Zweck des Aufspürens unerlaubter Gegenstände. Hierzu zählen etwa in Papier eingearbeitete Drogen aber auch waffenfähige Materialien wie Rasierklingen oder ausbruchsrelevantes Werkzeug. Bei solcherlei Kontrollen werden die Briefe in der Regel nicht eingehend gelesen.286 Diese sicherheitsorientierte Praxis findet man meines Wissens nach hauptsächlich in solchen Gefängnissen, in denen die Gefangenen ohnehin unbeaufsichtigt von einem Abteilungstelefon mit einer eigenen Telefonkarte fernmündlich mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen können. „Also ich denke jetzt mal, Briefzensur in dem Sinne, die muss in der heutigen Zeit nicht mehr sein. Ist auch nicht mehr so vorgesehen. Die Gefangenen dürfen telefonieren. Also wenn da einer mal wirklich irgend etwas Geheimnisvolles nach draußen transportieren will, dann kann er das über das Telefon machen. Dann wäre er ja dumm, wenn er es schreiben täte, wo er weiß, die Briefe werden durchgeguckt. Ich denke, unsere Briefzensur erstreckt sich hauptsächlich darauf, auf unerlaubte Einlagen.“ (AVD I 1020-1026) In anderen Gefängnissen sollen die Briefe eingehend daraufhin untersucht werde, ob in ihnen Gefangene das Gefängnispersonal oder das gesamte Gefängnis beleidigen oder ob in ihnen entweder strafbares Verhalten angekündigt bzw. vom Gefängnis aus gelenkt wird: „Wenn wir es nicht kontrollieren würden, den Briefverkehr, ist die Befürchtung eben groß, dass alles mögliche über die Briefe bestellt wird. Also Rauschgift, meinetwegen auch Ausbruchswerkzeug oder irgend so was. Also wir müssen schon darauf achten, dass da solche Bestellungen nicht raus- und reingehen. Deshalb, meine ich, ist diese Kontrolle sinnvoll.“ (AL IV 11171121) Eingehende Briefkontrollen finden im Allgemeinen in solchen Gefängnissen statt, in denen die Gefangenen nur unter Aufsicht eines Beamten telefonieren dürfen. Die textbezogene Kontrolle der Briefe geht 286 Das Thema Intensität der Briefkontrolle ist rechtlich umstritten. Laut Rechtssprechung wird einerseits die Meinung vertreten, dass eine auf besondere Sicherheitsbedürfnisse gestützte Kontrolle unter generalisierten Vorannahmen zulässig ist, während die Gegenmeinung hierzu in jedem Fall eine Einzelfallentscheidung einfordert. Vgl. hierzu Calliess / Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, S. 255 ff. 260
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nicht selten damit einher, dass dem Brief behandlungsrelevante Informationen über das Privatleben der jeweiligen Gefangenen entnommen werden: „Was ich natürlich auch registriere, das ist ja auch sinnvoll für unsere Arbeit, zum Beispiel: ‚Wie ist das Verhältnis zu den Eltern? Wie oft ist der Kontakt? Wie ist das Verhältnis, ist das positiv oder fordert er bloß immer und sie geben immer? Oder ist die Mutter sehr dominant? Was ja wichtig ist für eine Beurteilung. Solche Dinge merke ich mir eigentlich schon.“ (AVD II 782-786) Es hängt von der Arbeitsverteilung in den einzelnen Anstalten ab, welche Personen für die Briefkontrolle zuständig sind. In der Regel sind dies die Abteilungsbeamten, auf deren Abteilungen die Briefempfänger und –sender inhaftiert sind. Die Beamten lesen die Briefe während der Dienstzeit und händigen sie den Gefangenen danach im Kuvert aus bzw. leiten sie weiter an die Poststelle des Gefängnisses. In vielen Gefängnissen gibt es aber auch eigens zur Briefkontrolle eingeteilte Beamte, die den größten Teil ihrer Arbeitszeit damit verbringen, Gefangenenpost zu kontrollieren. Je nach Art und Ausführlichkeit der Briefkontrolle, variiert die Dauer dieser Arbeit. Die bisherigen Ausführungen zum Thema Oralität im Gefängnis legen die Vermutung nahe, dass die Gefangenen keine großen Ambitionen hinsichtlich schriftlicher Tätigkeit hegen. Für den Fall des Gefangenenbriefverkehrs gilt dies zwar nicht. Freilich pflegen nicht alle Inhaftierten regelmäßigen Briefverkehr. Diejenigen aber, die regelmäßig schreiben, tun dies besonders ausführlich, so dass für die mit der Briefkontrolle beauftragten Bediensteten viel Arbeit anfällt. „Ich finde es oft erstaunlich, zu was für einem Briefschreiber da manche Gefangene werden. Die schreiben oft über Themen DIN A 4 seitenlange Briefe. Das würde ich gar nicht zusammenkriegen. Also das sind wirklich geübte Schreiber. Die könnten schon halbe Bücher schreiben. Für meine Begriffe über was für Nichtigkeiten. Für denen ihre Begriffe vielleicht doch wichtige Sachen die so lang reden können oder so lang schreiben können.“ (WD III 920-926) Ein Gefangener, der als Hausarbeiter regelmäßigen Kontakt zu vielen seiner Mitgefangenen hat, weiß dies zu bestätigen: „Es wird sehr viel geschrieben. Der Briefweg und das Schreiben werden hier völlig neu entdeckt. Oft von welchen, wo man es nicht glaubt, entsteht ein Dialog heraus. Also es wird richtig viel geschrieben. Richtig sehr viel. Ja. Richtig viel. Das ist beeindruckend, was hier geschrieben wird. Zwölf Seiten, jeden Tag. Von jemand, wo es, weiß Gott nicht viel zu berichten gibt. Das ist keine Seltenheit. Jeden Tag fünf Seiten, das kommt öfters vor.“ (GEF IV 821-833) Viele Gefangene hegen gegenüber ihren angehörigen Briefpartnern eine hohe Erwartungshaltung, was deren Antwortverhalten betrifft und setzen die Angehörigen meines Wissens teilweise sogar massiv unter 261
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Druck: „Schriftliche Außenkontakte sind enorm wichtig. Viele Gefangene leiden darunter und können es nicht nachvollziehen: ‚Wieso reagieren, wieso reagiert die Außenwelt so wenig. Jetzt habe ich doch sofort geschrieben auf den Brief. Und jetzt warte ich schon zwei Wochen oder drei Wochen. Und durch dieses Abgeschnittensein entfremdet sich die Welt draußen völlig. Dass die Leute, wo draußen sind, eben auch mit Problemen zu kämpfen haben, einen Alltag haben, wo sie halt keine Zeit haben, jetzt irgend einen Brief zu schreiben. Dass das eine einzige Konfrontation ist, wie die hier warten. Also sie warten im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kontakt. Und sie leiden in hohem Maß darunter, wenn der Kontakt aus ihrer Sicht nicht flüssig läuft.“ (FD I 482-492) Für die Mehrzahl der von mir befragten Beamten ist die Briefkontrolle eine anstrengende und kognitiv in mehrerlei Hinsicht ermüdende Arbeit: „Die Postkontrolle ist eigentlich für die meisten belastend.“ (AVD VI 670-694) Ein Fachdienstbeamter berichtet aus einer Zeit als er noch im AVD tätig war: „Als ich noch in einer anderen Anstalt war, da habe ich am Tag so cirka 150 Briefe gelesen. Und das war dann irgendwo schon belastend. Erst war es lustig, wenn man so sieht, was da alles so kommt. Und dann war es belastend. Weil man immer wieder ein und das selbe sieht. Die Briefe wiederholen sich in der Regel.“ (FD III 10741078) Ein anderer Mitarbeiter des Fachdienstes, der einen guten Kontakt zu seinen Kollegen im AVD pflegt, kennt die Anstrengungen, die damit verbunden sind, die lästige Briefkontrolle nicht zu anderen Zwecken zu missbrauchen: „Die uniformierten Beamten, für die ist das manchmal lästig, wenn sie unter Zeitdruck stehen. Manchmal habe ich aber auch das Gefühl, es ist für sie eine Möglichkeit, Macht auszuüben oder Kontrolle auszuüben. Und das kann sehr verführerisch sein, denn es werden ja auch sehr private und intime Dinge ausgetauscht. Und ich bin froh, dass ich damit eigentlich weniger zu tun habe. Dass ich da eine gewisse Distanz zu den Insassen habe. Manchmal erzählen mir die Uniformierten, was in den Briefen steht, zeigen mir was, oder fühlen sich unsicher, ob man das genehmigen kann, ob man das weitergeben kann. Und ich bin eigentlich froh, dass ich damit nicht so viel zu tun habe. Mir wäre das auch zu lästig, zu zeitaufwändig. Und hätte auch kein gutes Gefühl damit. Ich würde mir so als Schnüffler vorkommen.“ (FD IV 576-601) Folgender Gefangener liefert eine recht zutreffende Einschätzung der Lage, in welcher sich manche postkontrollierenden Beamten befinden. Er antwortet auf meine Frage, wie er die Briefkontrolle durch die Beamten empfindet: „Anstrengender halte ich das eigentlich für Bedienstete. Wenn ich jetzt anderer Leute Briefe lesen müsste zur Kontrolle, habe ich wieder das Problem, dass ich mich mit dem Leben des Menschen auseinandersetzen muss. Weil ich kann ja nur dann was in dem Brief finden oder erkennen, wenn ich weiß, wen ich vor mir habe. Und 262
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da ich mir die Mühe machen muss, habe ich wieder das Problem, dass ich mich nicht einfach aus der Situation zurückziehen kann. Ich finde es für Bedienstete um vieles anstrengender, diese Sache zu tun.“ (GEF VI 558-565) Die Kontrollen sind für die Beamten möglicherweise auch deshalb anstrengend, weil Gefangene in ihren Briefen gezielt Aussagen formulieren, die indirekt den kontrollierenden Beamten als Adressaten haben. Ein Gefangener erläutert diese Strategie so: „Ich [bin] eher provokativer, wenn ich weiß, dass dieser Beamte oder speziell jener Beamte liest. Dann entdecken sie bei mir in einem privaten Brief an die Freundin oder wen auch immer, dass ich reinschreibe: ‚Weißt du, der Beamte so und so das ist doch ein Arschloch.’ Schreibe ich da ganz bewusst, weil ich weiß, auf diese Weise kriegt er es ja mit.“ (GEF II 1080-1086) Viele der von mir befragten Beamten entgehen diesen Angriffen nur deshalb, weil die gelernt haben, sie zu ignorieren: „Also wenn Sie mich jetzt fragen, wenn ich 30 Briefe dort habe und wenn ich den letzten lese, dann weiß ich nicht mehr, was im ersten drin steht. Und mittlerweile ist es so, früher war das anders, wird ein Brief in den seltensten Fällen angehalten. Also wenn der jetzt reinschreibt der Grün ist ein Arschloch, dann lasse ich den auch raus. Also für mich ist das ein mechanischer Vorgang.“ (AVD II 775-782) Aus Gefangenenperspektive besteht das zentrale Problem des Schriftwechsels mit den Angehörigen darin, dass wegen der Verletzung ihrer Privatsphäre der normale Aufbau oder der Erhalt einer vertrauten Beziehung nicht möglich ist. GEF
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„Da war ich noch verheiratet, habe ich das einfach beendet. Habe ich gesagt: ‚Du, lassen wir es, bis ich wieder rauskomme.’ Und dann, wenn ich dann gelockerten Vollzug habe, habe ich dann auch die Möglichkeit gehabt, sie persönlich zu sehen. Dann habe ich dann auch die Möglichkeit gehabt zu schreiben. Aber sonst habe ich es immer beendet. Nur wenn ich das Nötigste gebraucht habe. Also wenn ich Turnschuhe oder Klamotten. Wenn es um Pakete oder so ging, dann habe ich geschrieben. Ansonsten will ich das nicht.“ „Also ein Grund ist diese Kontrolle?“ „Nur die Kontrolle. Sonst würde ich schreiben ohne Ende.“ (GEF III 1049-1072)
Speziell in Gefängnissen, in denen keine inhaltlich eingehende Briefkontrolle gemacht wird, überschätzen die Gefangenen die Kenntnis der Beamten über ihr brieflich vermitteltes Privatleben und stehen sich damit teilweise auch selber im Wege, wie ein Gefangner feststellt:
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„Am Anfang ist der sexuelle Entzug einem mehr bewusst, wenn man hier reinkommt. Da tut man schon gern sich austauschen mit einer Frau.“ „Auf schriftlichem Weg?“ „Ja, und nicht von Pappe. Da habe ich dann auch manchmal gedacht: ‚Oh Mann, wenn der rausgeht.’ Ist aber gar nicht der Fall. Ich kenne also gar keinen Brief, der wegen irgendwelchen Ausdrucksweisen nicht rausgegangen wäre. Oder angehalten worden wäre.“ (GEF IV 838-856 )
Ein Fachdienstmitarbeiter hat eine interessante Einzelmeinung, was die Wechselwirkung zwischen Angehörigenbesuch und Angehörigenbriefverkehr betrifft. Er ist der Ansicht, der Kontakt zu den Angehörigen dürfe sich nicht allein auf den schriftlichen Austausch beschränken, da man mit ihm dem gefängnisexternen Adressaten Informationen leichter vorenthalten kann. „Ich sage das auch immer zu meinen Jungs: ‚Es ist wichtig, dass deine Freundin kommt, dass du mit deiner Freundin redest.’ ‚Ja, ist schon klar.’ sagen sie dann. ‚Und warum meinen Sie, Herr Hilfreich, dass die jetzt unbedingt kommen soll?’ [Antwort des FD]: ‚Du bist jetzt momentan in so einer Phase, da wäre das schon nicht schlecht.’ [Antwort des GEF]: ‚Können Sie mir ein Beispiel sagen?’ ‚Ja klar.’ sage ich: ‚Also beispielsweise deine Freundin sagt: ‚Ich liebe dich.’ Und du sagst, [leiert]: ‚Ja ja, ich liebe dich auch.’ Wenn du ihr es schreibst, ja ich liebe dich auch. Dann ist das ein Spektrum. Es kann sein, du liebst sie heiß und innig. Und es kann sein, du liebst sie überhaupt nicht. Wie du momentan von ihr redest und so, ich denke, das ist den Bach runtergegangen. Also was ist jetzt Sache? Wie würdest du es denn sagen, wenn du es ihr sagen würdest? [leiert]: ‚Ich liebe Dich.’ oder [laut]: ‚Ich liebe dich!’ [Antwort des GEF]: ‚Eher das Erste.’ Sage ich: ‚Siehst du. Und deswegen wäre es eigentlich anständig, wenn du mal mit ihr reden würdest und es ihr klar machen, dass es eigentlich aus ist. Es ist doch aus, oder?’ [Antwort des Gefangenen]: ‚Ja, eigentlich schon, ich traue mich nicht.’“ (FD II 1300-1322) Zum Thema Gefangenenbriefkontakt merke ich an, dass auf die systematische und eingehende Textkontrolle durch Beamte zuvorderst aus oben genannten rechtlichen, aber auch aus pragmatischen Gründen verzichtet werden sollte. Die Menge und Bedeutung der Nachteile einer eingehenden Briefkontrolle werden durch positive Effekte kaum aufgewogen.
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DIE ERGEBNISSE
Gefangenenpersonalakte Ich will auch nicht wissen, wie wer irgendwas da, wenn sie es mir nicht selber sagen. (ein Werkdienstbeamter)
Institutionen wie das Gefängnis führen über ihre Klienten bzw. Insassen Akten. Darin werden sämtliche Informationen erfasst, die dem Personal bei Behandlungs-, Unterbringungs- sowie Entlassungsentscheidungen notwendige Entscheidungskriterien liefern. Im Folgenden wird von der Gefangenenpersonalakte (GPA) als einer facettenreichen Textsorte gesprochen, da in ihr kleinere und größere Textsorten unterschiedlichster Herkunft gesammelt werden. Die Gefangenenpersonalakte umfasst nahezu alle wichtigen schriftlichen Vorgänge, welche den Gefangenen während seines strafrechtlichen Werdegangs betreffen. Denn bereits auf den vorangegangenen Stufen des Kriminaljustizsystems werden Textsorten angefertigt: Auf der Ebene der Polizei wird der Fall erstmals registriert. Dann wird das erste Ermittlungsergebnis an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, die weitere Ermittlungen anstellt und schließlich die Anklage vor Gericht erhebt. Dort kommen weitere Textsorten zur Ermittlungsakte hinzu, wie etwa die Anklageschrift, das Gutachten eines Sachverständigen sowie schließlich das richterliche Urteil und seine Begründung. An der Erstellung der Akte sind also nicht nur Gefängnisangehörige, sondern auch Angehörige der vorangehenden kriminaljustiziellen Instanzen beteiligt. Im Gefängnis gewinnt die Akte unter Umständen beträchtlich an Umfang. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bezogen auf einen Gefangenen viele Meldungen, wichtige Antragsschreiben oder weitere schriftliche Vorgänge abgeheftet werden. Sämtliche Gefangenenpersonalakten werden in der Vollzugsgeschäftsstelle mit der ständigen Möglichkeit zur Einsicht gelagert. Auszüge aus der Gefangenenpersonalakte liegen auch dem Gefangenen vor und sind in den meisten Dienstzimmern vorhanden: Gefangene verfügen über eine Kopie ihres Urteils. Beamte verfügen in den Dienstzimmern über eine Kopie des Aufnahmebogens, der beim Haftantritt verfasst wird und in Kurzform die wichtigsten personenbezogenen Daten des Gefangenen sowie etwa eventuelle Krankheiten, vor allem aber den Grund für die Inhaftierung enthält.287 287
Diese Praxis des jederzeit und für jeden Beamten möglichen Zugangs zu den Daten der Gefangenen erscheint mir aus datenschutzrechtlichen Gründen gem. §183 StVollzG bedenklich: „Schutz der Daten in Akten und Dateien: (I) Der einzelne Vollzugsbedienstete darf sich von personenbezogenen Daten nur Kenntnis verschaffen, soweit dies zur Erfül265
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Die offiziellen und inoffiziellen Funktionen der Gefangenenpersonalakte sowie die Meinungen der Befragten zu dieser Textsorte können wegen ihrer Komplexität nur ausschnittweise dargestellt werden. Wie alle administrative Schriftlichkeit, dient auch die GPA den Mitarbeitern des Gefängnisses als Mittel zur Arbeitserleichterung. Die mit dem Vollzug beauftragten Mitarbeiter können auf einen zeitaufwändigen mündlichen Informationsfluss über die Insassen weitgehend verzichten, da sie sämtliche Angaben der GPA entnehmen können. Aus Gründen der Rechtssicherheit des Gefangenen und der Dienstsicherheit der Beamten wird jeder Vorgang schriftlich festgehalten. Dies bedeutet, dass sich jeder Verfahrensbeteiligte im Nachhinein absichernd auf den Inhalt der GPA berufen kann. Ein Anstaltsleiter beschreibt diese beiden Vorzüge der GPA so: „Die Schrift ist wichtig für die Bearbeitung und damit Dokumentation von Vorgängen, weil es im Gesetz auch so vorgeschrieben ist. Das heißt, ich muss ja auch im Interesse des Gefangenen, aber natürlich auch noch zuvorderst in meinem eigenen Interesse, dokumentieren, mit welchem Problem ich veranlasst wurde und umgegangen bin. Dazu ist natürlich der schriftliche Vorgang wichtig. Selbst das Gespräch, das ich mit dem Gefangenen führen würde, würde ich dann zumindestens als Gespräch dokumentieren müssen und damit zur Personalakte des Gefangenen nehmen müssen. Das ist vorgeschrieben. Die Schrift erfüllt zunächst einmal nicht so sehr das Bedürfnis nach Kommunikation, sondern mehr nach Dokumentation. Deswegen macht es auch keinen Sinn, wenn jetzt jemand zu mir käme und mir irgendwas erzählt. Dann sage ich immer: ‚Ich bin jetzt nicht der Schreiberling, dass ich hier eine halbe Stunde da mitschreibe. Komm, setz dich hin, schreib was du willst. Und dann setze ich mich mit dir zusammen und dann sage ich meine Entscheidung.’ Natürlich kommt es immer wieder vor, dass Gefangene einfach nicht schreiben können. Aber es gibt eben auch sehr viele, die sagen. ‚Ich will einfach nur das persönliche Gespräch mit dem Vorstand. Ich will nicht, dass das jeder hier im Haus dann mitliest.’ Der kommt dann zu mir und sagt: ‚Ich will ein Gespräch mit dem Vorstand wegen einer persönlichen Angelegenheit.’ Es ist dann zumindest schon mal dokumentiert, dass das Gespräch von ihm gewünscht ist. Und das ist der Sinn des Ganzen. Und dann muss man sich halt hinsetzen und dann wird dann noch einmal für mich dokumentiert, was ich jetzt dem gesagt habe und was jetzt Ergebnis des Gespräches ist. Das ist also jetzt der Teil Gefangener zu mir. Umgekehrt natürlich: Für uns ist fast noch wichtiger, dass wir unsere Entscheidungen ja auch begründen und das auch wieder dolung der ihm obliegenden Aufgabe oder für die Zusammenarbeit nach § 154 I erforderlich ist. (II) Akten und Dateien mit personenbezogenen Daten sind durch die erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen gegen unbefugten Gebrauch zu schützen. [...]“ 266
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kumentieren, die Begründung. Das heißt also, wenn ich jemand den Urlaub ablehne, muss ich das schriftlich machen. Und wenn er das sogar beantragt hat, hat er sogar ein Recht darauf. Und dann kriegt er von mir oder von den Abteilungsleitern eben einen schriftlichen Bescheid. Mit dem kann er zum Beispiel zum Gericht gehen.“ (AL V 1144-1157, 11661182) Nach meinen Beobachtungen führt der Umgang mit der GPA als ständigem Referenzobjekt dazu, dass den Inhalten dieser Textsorte der Status einer Wahrheitsinstanz zugeschrieben wird. Die durchgängige Haltung sämtlicher von mir befragter Vollzugsmitarbeiter mündet in dem Motto: „Im Zweifelsfalle schaue ich in der Akte des Gefangenen nach.“ Die ganz überwiegende Mehrheit meiner Forschungspartner ist vom unbedingten Wahrheitsgehalt der Akte überzeugt. Es verwundert darum umso mehr, dass die Mehrzahl der AVD-und Werkdienstbeamten eine Dienststrategie verfolgt, bei der die Inhalte der Gefangenenpersonalakte eine unerwartet unbedeutende Rolle spielen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Beamten bemüht sind, dem im Strafvollzugsgesetz festgeschriebenen Gleichbehandlungsgrundsatz nachzukommen, obwohl die Gefangenen infolge unterschiedlich schwerer Delikte verurteilt wurden: Beamte müssen sich, falls nicht aus Gründen der Sicherheit etwas anderes vorgeschrieben ist, gegenüber den sogenannten „Leicht- und Schwerkriminellen“ in jeder vollzuglichen Hinsicht gleich verhalten. Dies scheint ihnen am ehesten dann zu gelingen, wenn sie gar nicht erst Einsicht in die Akte nehmen, um zu erfahren, worin die Straftat des Gefangenen besteht. „Ich bin eigentlich ganz glücklich da drüber, dass wir die Urteile nicht mehr zu lesen kriegen. Weil die Gefangenen sind alle gleich zu behandeln. Ich darf schon in die Akte reinschauen. Und manchmal habe ich es auch gemacht, wo es wichtig war für die Dienstdurchführung. Aber ansonsten verkneife ich mir das wissentlich. Ich habe im Frauenvollzug gearbeitet, wo auch lebenslänglich Bestrafte mit dabei waren, die Kinderdelikte hatten. Auf die schäbigste Weise. Und ich habe dann immer gesagt, es ist eigentlich schlimm, wenn man jemanden ohne Emotionen behandeln soll. Und in dem Fall ist es wirklich wichtig für mich, nichts zu wissen. Und deswegen finde ich es gut, dass das Urteil nicht mehr auf die Station kommt. Dass die Leute gar nicht groß wissen, was da passiert ist. Dann kann man die Leute auch gleich behandeln. Ohne Vorurteile.“ (AVD IX 987-1010) Ein anderer Beamter schildert anschaulich, in welcher Weise ihn die Kenntnis der genaueren Umstände der Straftat aus der Akte an der Gleichbehandlung gehindert hat: „Ich habe den Fehler gemacht – was heißt Fehler gemacht – ich habe mal eine Gefangenenakte gelesen, ausführlich. Und die war ganz, ganz schlimm. Da ging es um Vergewaltigung, über mehrere Tage, mehrere Männer. Da habe ich mir selber zum Ziel gemacht: ‚Den teile ich 267
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nicht ein zur Arbeit. Das ist so ein Schwein.’ Von der Akte her – dass ich den nicht zur Arbeit eingeteilt habe. Der hat dann an mich geschrieben. Ich habe ihn nicht eingeteilt. Es ging sogar über meinen Vorgesetzten, also ganz oben, Anstaltsleiter. Da hat man auch gesagt: ‚Warum teilen Sie den nicht ein?’ Da habe ich gesagt: ‚Ich teile den nicht ein. Sie können machen, was Sie wollen. Ich teile den nicht ein. Machen Sie es, wie Sie es wollen. Oder warten Sie, bis ich im Urlaub bin.’ Ich hätte den selber einteilen können. Na ja, ich habe es auf jeden Fall nicht gemacht. Für mich war das das größte Schwein, wo ich je erlebt habe: ‚Ich teile den nicht ein.’ Und jetzt, wo ich im Urlaub war, war er wirklich eingeteilt im Betrieb. Und jetzt kommt die größte Überraschung, was ich je erlebt habe. Der Gefangene läuft ja jeden Tag an mir vorbei, weil ich stehe ja unten, wenn die Gefangenen zur Arbeit abrücken. Beim ersten Mal, wo ich vom Urlaub kam und der zur Arbeit, kam der auf mich zu, hat mir schier die Hände geküsst, hat gesagt: ‚Herr Blaumann, ich bete für Sie, ich danke Ihnen von ganzem Herzen und bete für Sie und Ihre Familie, dass Sie mich zur Arbeit eingeteilt haben. Dass ich jetzt arbeiten darf.’ So hat er gesagt. Und fast jeden Tag, wenn der an mir vorbeigeht, macht er ‚Danke’. Also ist das ein Mensch? Den habe ich nur beurteilt nach der Akte, was er gemacht hat. Und ist da drinnen bei der Arbeit und auch im Betrieb so: Der schafft und ist so zuvorkommend, dass ich mir oft sage: ‚Das ist gar nicht der, wo ich da gelesen habe.’“ (WD I 9691103) Mit dem letzten Satz deutet der Beamte ein Thema an, das auch in der kriminologischen Instanzenforschung breit diskutiert wird. Es handelt sich hierbei um die Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akten. Zu den Qualitätsmerkmalen von Akten gehört es, dass sie unter selektiven Gesichtspunkten aus der Perspektive von Behörden erstellt werden, die nur solche Inhalte schriftlich fixieren, die für die entsprechende Behörde von Bedeutung sind. Die Polizei etwa registriert nur solche Hinweise, die für sie selber und die Staatsanwaltschaft Bedeutung haben. Der Staatsanwalt wiederum fügt noch Informationen hinzu, die für sein und das richterliche Entscheidungsverhalten maßgeblich werden können. Diese Verfahrensweise wird bis in die letzte Instanz, den Strafvollzug, durchgehalten. Das Bild, das solche Akten schließlich vom Gefangenen zeichnen, reduziert diesen auf sein Dasein als Straftäter.288 Harald Preusker formuliert das Problem wie folgt: „Der Inhalt der Gefangenenpersonalakte macht überdeutlich, wie akribisch alles Negative gesammelt und wie wenig nach dem Positiven gesucht wird.“289 Den Beamten 288 Vgl. FN 261. 289 Vgl. Harald Preusker: „Der Anstaltsleiter“, in: Hans-Dieter Schwind (Hg.), Strafvollzug in der Praxis: eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe, Berlin: deGruyter, 1988, S. 118-124, hier S. 123. 268
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des Gefängnisses, insbesondere den Abteilungsbeamten, kommt jedoch die Aufgabe zu, dem Gefangenen in seinem vielfältigen Lebenszusammenhang gerecht zu werden. Dieser verbringt einen großen Teil seines Lebens in der Anstalt, und über den Freiheitsentzug hinaus soll ihm kein weiteres Übel zugefügt werden. Abteilungsbeamte, die diesem Anspruch gerecht werden wollen, sehen sich in Kenntnis des Urteils in ein Dilemma versetzt. Je schlimmer die in der Akte geschilderte Tat aus subjektiver Sicht erscheint, desto schwerer fällt es vielen, dem Gefangenen gleichbleibend sachlich und gerecht zu begegnen. Meiner Beobachtung nach haben nicht wenige Beamte des AVD und des Werkdienstes ohnehin Probleme damit, sich der Lektüre von psychisch „anstrengenden“ Akteninhalten zu widmen.290 Dies trifft, so weit ich sehe, vor allem auf Werkdienstbeamte zu, deren Tätigkeitsprofil am wenigsten daran ausgerichtet ist, sich mit der Schuld des Gefangenen und dem Freiheitsentzug hinter der Haftraumtüre auseinander zu setzen. Es scheint manchen Werkdienstbeamten immer wieder von Neuem unangenehm bewusst zu werden, dass die Gefangenen in ihren Betrieben nicht nur Bauteile, Metall, Holz und Papier produktiv verarbeiten, sondern dass sie wegen einer Straftat inhaftiert wurden und nur darum im strafvollzuglichen Werkbetrieb arbeiten.
Allgemeinverfügungen Der Beamte geht zu einem Schrank und holt einen Aktenordner heraus mit Verfügungen darin: ‚Das ist unser Chef. Unser Chef ist ein Buch. Von dem kriegen wir nichts zu fassen, außer sein Buchsein.’ (aus dem Forschungstagebuch)
Der Anstaltsleiter ist alleiniger Autor der strafvollzuglichen Textsorte „Allgemeinverfügung“.291 Verfügungen umfassen alle schriftlichen Weisungen eines Anstaltsleiters. Diese haben, abhängig vom Thema der Verfügung, unterschiedliche Teile des Personals als ihre Adressaten. Zweck der Verfügungen ist es, diejenigen Lücken des Strafvollzugs290 Rechtlich wäre das meines Erachtens auch nicht ihre Aufgabe, sondern eher ein Verstoß gegen § 183 StVollzG; vgl. hierzu FN 287. 291 Der Begriff „Verfügung“ meint für den Strafvollzug auch ganz allgemein eine dienstliche Veranlassung, die jeder Bedienstete in seinem Zuständigkeitsbereich anstellen darf. Von Anstaltsleitern herausgegebene Verfügungen werden begrifflich als „Dienstanweisungen“, „Hausverfügungen“ oder „Allgemeinverfügungen“ präzisiert. Wenn im Folgenden kurz von „Verfügungen“ die Rede ist, so meine ich damit stets die Allgemeinverfügung des Anstaltsleiters. 269
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rechts zu füllen, welche durch die Ermessensspielräume und Rechtslücken des Strafvollzugsgesetzes oder der Verwaltungsrichtlinien eröffnet werden. Mit dem Verfügungsrecht ist der Anspruch verbunden, auf standardisiertem Wege und auf verbindliche Weise auch unvorhergesehene oder anstaltsspezifische Probleme der Vollzugspraxis zu regeln. Verfügungen werden vom Anstaltsleiter verfasst und den Bediensteten in der Regel in den Dienstbesprechungen oder in anlassbezogenen Besprechungen bekannt gegeben. Die Aufbewahrung von Verfügungen gestaltet sich unterschiedlich. In den meisten Anstalten wandert die Verfügung vom Schreibtisch über die Pinwand des Dienstzimmers in einen eigens dafür vorgesehenen Ordner. Diesen Weg nimmt die Verfügung allerdings auf unterschiedlich schnelle bzw. langsame Weise. In Anstalten, in denen die Frequenz der Verfügungsherausgabe niedrig ist, hängen einzelne Verfügungsblätter so lange an der Wand, bis sie unter dem Einfluss von Sonnenlicht und Zigarettenrauch vergilben. Verfügungen anderer Anstalten werden nur bei der Dienstübergabe oder bei anderem Anlass herumgereicht und dann ohne Aushang sofort abgeheftet. Die von mir besuchten Strafvollzugsanstalten unterscheiden sich deutlich darin, wie stark die verfügungsrechtliche Regelungsdichte ausgeprägt ist. In Anstalten mit geringer Regelungsdichte überlässt es der Anstaltsleiter seinen Mitarbeitern, in ermessensreichen Situationen angemessene Entscheidungs- und Handlungskompetenzen zu entwickeln. Seine Verfügungen sind hier meistens in einer schmalen Mappe zu finden.292 In solchen Anstalten können die Mitarbeiter sich weniger an vorgefertigten Handlungsmarken orientieren und sind eher auf die kommunikative Aushandlung des situationsangemessenen Dienstverhaltens angewiesen. Dies bedeutete für mich allerdings auch, dass mir in solchen Anstalten die Mitarbeiter die unterschiedlichsten Berichte darüber lieferten, welche Art des Dienstes am angemessensten erscheint. Das Gegenteil ist der Fall in Anstalten, wo es – insbesondere im Bereich des Abteilungsdienstes – nahezu keine Diensttätigkeiten gibt, die nicht durch irgendeine Verfügung geregelt wären. Das Verhalten der Beamten im Dienst läuft dort in gleichförmigen Bahnen ab. Die Befragten solcher Anstalten beriefen sich auf mein Nachfragen hin stets auf die „Regeln“, an die sie sich zu halten haben. Der sekundäre Nutzen des Verfügungsrechts besteht für sämtliche Gefängnisangehörigen auf den ersten Blick darin, sich als Handelnde abzusichern. Ein Beamter, auf dessen Abteilung negative Vorkommnisse zu verzeichnen sind, kann die Verantwortung von sich wiesen, wenn er sich in seinem Handeln eng an die Verfügungen 292
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Dies gilt laut mündlicher Mitteilung von Bill Borchert, Berlin am 20.03.2003 insbesondere für die Verfügungsmappen des offenen Strafvollzugs.
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gehalten hat. Ebenso kann ein Anstaltsleiter, der für sämtliche Vorgänge in seinem Gefängnis gegenüber der Öffentlichkeit die Verantwortung trägt, in einem Unglücksfall darauf verweisen, für eben jene Situationen eine Verfügung erlassen zu haben. Ein Anstaltsleiter betont „die Notwendigkeit einer solchen Handhabung. Das muss schriftlich erfolgen. Und zwar deswegen, weil es für mich auch wichtig ist, dass ich sagen kann, es hat jeder bekommen. Es kann keiner hernach sagen, er wusste es nicht.“ (AL V 1210-1220) Das Verfügungsrecht wird aus vielerlei Gründen mit negativer Kritik versehen. Die Hauptkritik gegenüber einem Verfügungssystem mit hoher Regelungsdichte kommt aus den Reihen der Abteilungsbeamten, die darunter leiden, dass sich ihr oberster Vorgesetzter offenbar nur noch auf dem Wege der Schriftlichkeit an sie wendet. Ich konfrontierte einen Anstaltsleiter im Interview mit dem Eingangszitat dieses Kapitels. Hier setzt ein Abteilungsbeamter seinen Chef mit dem dicken Verfügungsordner im Regal gleich. Der Anstaltsleiter antwortet darauf in einer Weise, die repräsentativ ist für die Meinung von solchen Anstaltsleitern, die eine hohe Regelungsdichte in ihrer Anstalt favorisieren. Auf seinen Ordner ist er „mächtig stolz. Bloß habe ich manchmal das dumpfe Gefühl, dass dieses Werk teilweise verkannt wird. Ich habe es erlebt in einer Anstalt, wo ich hinkam. Da habe ich gefragt: ‚Was ist eigentlich hier in dem Haus Recht?’ [Antwort]: ‚Was was was? Ach [leiert] da gibt es das da, gibt es jenes da.’ Keiner weiß es im Grunde genommen. Der eine macht das, der andere macht es aus der Gewohnheit raus. [leiert]: ‚Warum machen wir nicht dies?’ Warum soll man nicht genauso das fertig bringen, das [in einem Ordner, G. K.] zusammenzufassen? Kein Mensch muss alles [auswendig, G. K.] wissen. [Auch] ich weiß nicht, was alles drinsteht. Ich weiß Stichworte und ich weiß, wo ich nachschauen kann. Und genau das will ich. Ein Nachschlagewerk: Was gilt jetzt eigentlich? Gut, wenn einer jetzt konkret Haftraumkontrolle machen muss, und das täglich macht, sollte man es gleich auswendig wissen. Aber mehr nicht. Er soll wissen: ‚Ich kann nachschauen. Wenn ich da drin nachschaue, da habe ich Sicherheit, da habe ich meine Pflicht gemacht, da kann mir keiner den Kopf abhacken, da kann ich nicht aus dem Beamtenverhältnis entlassen werden, da kann mir nichts passieren, da habe ich meine Pflicht insofern erfüllt. Mehr brauche ich an sich nicht mehr machen. Das andere ist Kür, wenn man das dann noch zusätzlich macht. Das gibt mir dann Prädikatspunkte oder sonst irgendwas. Mehr ist nicht.’ Und genau das ist das, was ich versuche, durch dieses Werk klarzumachen. Anstatt irgendwo unmögliche Anweisungen zu machen. Ein Hilfsmittel soll es sein. Das ist sicherlich ein typisches Werk von mir in dieser Richtung. Das weiß ich, weil ich es auch in anderen Anstalten praktiziert habe. Aber ich versuche es rüberzubringen den Leuten, dass sie es genau 271
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hinkriegen, als Hilfsmittel, das sie nicht drangsalieren soll.“ (AL III 288298) Ein anderer Anstaltsleiter stuft die Bedeutung und die Art und Weise der Durchsetzung des Verfügungsrechts ebenfalls als wichtig ein: „Dann wird aus diesem Gespräch auf Leitungsebene eine Art Protokoll gemacht oder zunächst der Entwurf einer Verfügung oder einer Entscheidung, wenn es notwendig ist. Und diese Verfügung wird dann als Allgemeinverfügung dann allen anderen bekannt gegeben. Das heißt also, ich kommuniziere hier im Prinzip mit niemandem, sondern die kriegen halt eigentlich, im Prinzip ‚friss oder stirb’, einfach etwas vorgeklatscht und damit hat es sich. Das geht in der Regel in neunzig Prozent aller Fälle relativ problemlos. Es gibt manche Fälle, wo ich dann allerdings dann auch was dazu sagen muss. Und dafür sind die Dienstbesprechungen da. Wo ich erklären muss, warum ich diese Verfügung erlassen habe. Denn ich kann ja nicht immer einen Roman schreiben. Ich kann nicht schreiben, aus gegebenem Anlass wird das und das verfügt. Und dann weiß natürlich dann keiner, welchen Anlass ich gehabt habe. Zum Beispiel, wenn es einen Bediensteten hier betrifft, dann kann ich den Anlass ja nicht reinschreiben. Aber trotzdem denke ich, dass es wichtig ist, dass die Leute wissen, warum das hier verfügt werden muss. Also hier bedarf es dann manchmal der Erklärung oder des erklärenden Wortes, warum etwas so ist. Also das heißt ‚Einsichtmachung’.“ (AL V 1197-1215) Die Unzufriedenheit der Beamten mit einer hohen schriftlichen Regelungsdichte wurde in den Interviews nur verhalten geäußert, da sie ja eine unmittelbare Kritik am Führungsstil der betreffenden Anstaltsleitung bedeutet. Folgende etwas unbeholfenen Worte eines Werkdienstbeamten erfassen in angemessener Weise das, was Beamte am genannten Führungsstil stört: „Wenn ich mal irgendwo in einem Büro arbeiten müsste, von dem aus ich jetzt also irgendwelche Instruktionen meinen Leuten gebe, also schriftlich. Das täte mich nicht so erfüllen. Also der Anstaltsleiter tut jetzt zum Beispiel so einen Ordner Verfügungen raus. Mit seinen Leuten, mit seinen Arbeitern spricht der schriftlich viel. Er hat ja [Anzahl anonymisiert] Leute unter sich und ich hab bloß sechzehn oder so. Vergleich. Aber er macht das jetzt schriftlich. Verfügungen, das ist ja Sprache. Das sagt ja was. Also das täte mich nicht erfüllen. Also für mich ist das halt wichtig, dass ich das den Leuten sage, und für mich ist auch wichtig, dass es mir die Leute sagen.“ (WD II 826-836) Der Beamte wünscht sich offenbar schlicht und einfach mehr mündlichen Kontakt zu seinen obersten Vorgesetzten. Das Verfügungsrecht ist auch von wissenschaftlicher Seite massiv beanstandet worden. Solche Kritik ist jedoch häufig verbunden mit der allgemeinen Kritik an der Verantwortungspluralität und Aufgabenüberlastung des Anstaltsleiters allgemein. Schon früh hat Harald Preusker für 272
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das Anforderungsprofil der Anstaltsleiterposition festgestellt, dass dieser sich auf allen außerjuristischen strafvollzuglichen Gebieten auskennen muss.293 Folglich tut ein Anstaltsleiter gut daran, sich nach allen Seiten hin schriftlich abzusichern. Tilmann Schott betrachtet gar die „fatale Kette der Weitergabe von Erwartungsdruck von der Öffentlichkeit und den Medien über die Aufsichtsbehörde bis hin zum Anstaltsleiter und dem ihm nachgeordneten Personal“294 als Ursache für die teilweise rigide Umsetzung des Verfügungsrechts. In Anstalten, in denen das Verfügungsrecht faktisch der Absicherung der an Vorgängen beteiligten Beamten dient, steht der eigentliche Zweck, das sichere und geordnete Zusammenleben und –arbeiten im Vollzug sowie die Rechtssicherheit des Gefangenen, nicht mehr im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Schott kritisiert entsprechend: „Die Flut schriftlicher Verfügungen in einer JVA dient dann schlechtestenfalls nur dem formalen Nachweis eigener Exkulpation, ihre Ausführung dagegen ist nachrangig.“295 Die schriftliche Regelungsdichte setzt sich, ausgehend vom Anstaltsleiter, nach unten hin fort. Die ihm nachgeordneten Beamten in Führungspositionen erlassen ihrerseits für deren Bereiche schriftliche Anweisungen, mittels derer sie sich absichern können. Den materiellen Kulminationspunkt des Verfügungsrechts findet man schließlich an der Basis der strafvollzuglichen Praxis in den Dienstzimmern, wo die Abteilungsbeamten in ihrer Eigenschaft als Menschen nicht allen verfügten Pflichten nachkommen können, da sie sie gar nicht alle im Blick haben.
293 Vgl. H. Preusker: Strafvollzug in der Praxis, S. 120 ff. 294 Tilman Schott: Die Anstaltsleitung im Spannungsfeld zwischen Erwartungsdruck und Vollzugsrealität, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 50 (2001), S. 323-326, hier: S. 326. 295 T. Schott: Die Anstaltsleitung im Spannungsfeld, S. 323. 273
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Tagebuch Das wäre ein schönes Buch geworden. Das habe ich schon für mich gedacht. Wenn ich am Anfang alles über meine Erlebnisse oder was man erlebt hat im Gefängnis mit Gefangenen oder mit Kollegen, Vorgesetzten, alles notiert hätte. Das hätte ein schönes Buch werden können. Aber das hat man jetzt die ganzen Jahre versäumt (ein Werkdienstbeamter)
Keine meiner Vorannahmen ist durch die Daten des Forschungsfeldes mehr falsifiziert worden als meine Vermutung, im Gefängnis würde, zumindest auf Gefangenenseite, viel Tagebuch geschrieben. Die Ergebnisse meiner Befragung und Beobachtungen liefern genau gegenteilige Hinweise. Ich gehe nun davon aus, dass sowohl auf Bedienstetenseite als auch auf Gefangenenseite gleichermaßen wenig Tagebuch geschrieben wird. Mein falscher Eindruck ergab sich wohl aus der Lektüre verschiedener Bücher über Gefängnisliteratur, so zum Beispiel sämtliche Werke, die im Wirkungsfeld von Ingeborg Drewitz entstanden, aber auch wissenschaftliche Beiträge wie etwa die zur Gefängnisliteratur von Uta Klein.296 Es gibt sicherlich vereinzelt Gefangene, die Tagebücher, Gedichte oder sogar Bücher verfassen und daraufhin über die Gefängnismauern hinaus bekannt werden. Für die Mehrzahl der Gefangenen jedoch ersetzt wohl eher der Briefkontakt mit Angehörigen das, was normalerweise ein Tagebuch leisten soll. Ein Fachdienstmitglied sagt zum Tagebuchschreiben: „Gefangene tun es zum Teil. Ich rate es ihnen auch häufig. Aber der Draht zum Schriftlichen ist bei den meisten nicht so weit. Ich glaube, mehr würden es tun, wenn sie allein auf der Zelle wären, wenn sie wüssten, dass ihre Zellen nicht kontrolliert würden. Also, denke ich, ist es ziemlich wenig. Die Gefangenen bringen das mehr in ihre Briefe ein. Sie schreiben auch Gedichte oder andere Texte. Das sind aber nur wenige. Aber ich glaube, für die Gefangenen wird diese Funktion durch das Briefeschreiben erfüllt.“ (FD IV 384-392) Sämtliche Abteilungsbeamte, die sich zu diesem Thema geäußert haben, bestätigen die Annahme, dass die Gefangenen kein Tagebuch führen, da dieses im Rahmen der Haftraumkontrollen eingesehen werden könnte.297 „Tage296 Vgl. Uta Klein/Helmut H. Koch (Hg.): Gefangenenliteratur: Sprechen, Schreiben, Lesen in deutschen Gefängnissen, Hagen: Padligur 1988. 297 Ähnlich wie in dem Kapitel zur Gefangenenbriefkontrolle sind hier rechtliche Bedenken angebracht. Da der Schutz der Privatsphäre auch im Gefängnis gilt, sollte eine Tagebuchkontrolle nur bei Vorliegen besonderer Umstände nach einer Einzelfallprüfung erfolgen. Vgl. hierzu FN 287. 274
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buch wird nicht geführt. Weil die Dinge, die im Besitz des Gefangenen sind, von Bediensteten kontrolliert werden. Das Tagebuch ist eben sehr, sehr intim. Ich habe es bisher nur in einem Falle erlebt, dass jemand ein Tagebuch führt. Und das in 26 Jahren.“ (AVD VII 620-627) Die Vermutungen des Personals über das Ausbleiben von Gefangenentagebüchern werden von einem Gefangenen wie folgt bestätigt: „Alles, was im Haftraum ist, wird vom Beamten kontrolliert. Zellenkotrolle. Tagebuchform, das ist so was Persönliches. Da schreibt keiner was rein. Wenn er dann weiß: ‚Der Beamte kommt irgendwann, wenn ich auf dem Hofgang bin, wenn der das liest...’ Und deswegen macht das keiner. Viele der Gefühle schreibe ich dann in einen Brief rein. Der Großteil geht in die Malerei und ins Lesen. Das ist der Großteil, was hier drinne am meisten verbreitet ist.“ (GEF VII 260-270) Was bei Haftraumkontrollen häufiger gefunden wird, sind kurze Notizen, die dem Leser teilweise verständlich, teilweise jedoch auch wie aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen und wohl so etwas darstellen wie Tagebuchfragmente, die über kurz oder lang im Papierkorb landen. „Sicherlich gibt es auch welche, die eine Art Tagebuch führen: Zettelchen, wo sie schreiben.“ (AVD IX 790-791) Ein Anstaltsleiter berichtet für den Jugendvollzug, dass sich dort andere Formen des Ausdrucks eigener Gedanken entwickelt haben, die allerdings nichtsprachlicher Art sind. Es handelt sich hierbei um Zeichnungen der Jugendlichen, die offenbar in Bilder umgesetzte Gedanken sind: „Tagebuch wird hier so gut wie nie geschrieben. Weil sie nicht gerne schreiben, weil sie oft auch gar nicht schreiben können. Aber es findet etwas anderes statt, was wahrscheinlich im Erwachsenenvollzug nicht vorkommt. Es werden handgezeichnete Zeichnungen entwickelt. Die harmlosen sind noch irgendwelche flotten Boliden, also überpotente Autos oder der Kung-Fu-Kämpfer mit unwahrscheinlichen Muskeln oder auch wie das ja auch so in der Fantasy-Welt also diese eher schlechten bildlichen Darstellungen, die man auf Videos und auf Bildern findet. Solche Dinge werden selber produziert, das sind Phantasiegebilde. Und es werden auch gerne mal Lagepläne der Anstalt oder Kampfmaschinen oder so etwas gemacht. Einer hat letztlich mal jede Menge von verschiedenen Angriffsmaschinen bis zu Sturzkampfbombern gezeichnet, wie er die Welt vernichtet und alle kaputt macht, die gegen ihn sind und ihn eingesperrt haben. Hat also solche Tagtraumphantasien gezeichnet. Das haben wir häufig. Tagebücher finden wir überhaupt nie bei Haftraumkontrollen.“ (AL II 615-631) Ich habe im Forschungsfeld keine Antwort darauf erhalten, warum Gefangene die Offenbarung ihrer Gedanken über den ebenfalls kontrollierten postalischen Weg dem Tagebuch vorziehen. Denn in beiden Fällen nehmen Beamte Einsicht in das Geschriebene.
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Fachdienstmitarbeiter würden es trotz all dieser widrigen Umstände gerne sehen, wenn die Gefangenen ihre Situation stärker in schriftlicher Weise reflektierten: „Also wir haben ein Gespräch. Und da ergibt sich ein Thema. [imaginär zum Gefangenen]: ‚Ich gebe dir als Auftrag mit nach Hause oder auf deine Zelle, schreib da drüber. Mach dir Gedanken, schreib diese Gedanken auf, bring sie das nächste Mal wieder mit. Oder brauchst sie nicht mal mitbringen, sondern mach das für dich. Oder schreib dir deinen Traum auf.’ In dieser schriftlichen Auseinandersetzung, wenn sie als Hilfestellung angenommen wird, kann mehr passieren wie im persönlichen Gespräch. Weil etwas eigenes in ein Schriftbild zu bringen, ist für sehr viele eine Herausforderung hier. Und man muss sich wirklich auseinandersetzen. Man kann nicht bloß was dahersagen, sondern man muss es ja fassen. Und was man schreibt, das steht jetzt hier verbindlich. Und das legt man vielleicht jemandem vor. Ich mache sehr gute Erfahrungen mit dem Weg, auch immer wieder was in Schrift zu bringen. Das sollte man unbedingt miteinbeziehen im Strafvollzug in den Alltag. Auch in Bezug auf Sozialarbeiter oder Entscheidungen, dass auch der Gefangene viel mehr selber gefordert ist, sich einem Thema zu stellen. Oder dass er sich vorbereiten muss auf so eine Konferenz: Er kriegt vorher Fragen und er muss sich schriftlich damit befassen. Seine Antworten, die er schreibt, nimmt er mit in die Konferenz. Würde vielleicht was anderes passieren wie: ‚Ich sitze da. Sitzen drei vier professionelle Partner mir gegenüber.’ Viele sind völlig überfordert mit der Situation. Ohne schriftliche Ausarbeitung ist die Strategie viel schwerer.“ (FD I 436-464) Ich gebe dem Fachdienstmitarbeiter meine Zustimmung zu dem Vorschlag, den Gefangenen eine schriftliche Vorbereitung auf Konferenzen nahe zu legen. Denn in der Mehrzahl der von mir beobachteten Vollzugskonferenzen verfahren die Gefangenen nach dem kleistschen Motto der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“, während ihre Behandler sich an der GPA orientieren und sich unter Umständen bereits im Vorhinein ein Argumentationsschema zurechtgelegt haben. Nur wenige Angehörige des Personals nahmen zu ihrer eigenen Einstellung gegenüber dem Tagebuchschreiben Stellung. Ein Anstaltsleiter schildert: „In den ersten sechs Wochen meines Gefängnisdaseins habe ich selber ein Tagebuch schreiben müssen, weil ich es nicht verkraftet habe. Habe ich also abends immer aufgeschrieben. So viele Leute hat es nicht gegeben zum Zuhören, was ich da alles so erlebt habe. Einen Fall weiß ich noch. Es war ein Todesfall, der sich ereignet hat, an dem ich schwer zu knabbern hatte. Ein Gefangener, der sich aufgehängt hat.“ (AL II 632-638 ) Ich vermute, dass das Tagebuch den Beamten und Gefangenen zur Bewältigung ihrer Arbeitserfahrungen hilfreich sein könnte. Beamte sind 276
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dabei gegenüber den Gefangenen im Vorteil, dass sie ein solches Tagebuch daheim führen könnten, wo es keiner liest.
Grenzen des Daseins als Sprecherhörer Wie können wir Gefangenen ein schönes Wochenende wünschen? Was soll man dann da antworten? Dieselbe Antwort wie draußen zu geben: ‚Ihnen auch.’ Das wäre makaber, oder? Aber irgendwie muss man sich doch verabschieden. (ein Abteilungsbeamter)
Die folgenden drei Unterkapitel beschäftigen sich mit Situationen des Strafvollzugs, in denen sich die Gefängnisangehörigen nicht mehr der Verbalsprache bedienen können oder wollen. Die Daten meiner Beobachtungen und Befragungen geben zunächst Auskunft darüber, wie damit umgegangen wird, wenn Menschen innerhalb der Sprachgemeinschaft des Gefängnisses in eine sprachliche Isolation geraten, in die sie sich entweder selber hineinmanövrieren oder in die sie gezwungenermaßen geraten. Danach wird gezeigt, in welchen Situationen Gefängnisangehörige schlicht sprachlos sind, keine Worte mehr finden und schweigen. Schließlich schildere ich, worin der Übergang eines verbalen Konflikts in einen physischen Konflikt besteht.
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Sprachliche Isolation Gemeinsam einsam GEMEINSAM
GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM
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GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM GEMEINSAM
(modifiziert nach Hans Jörg Mäder in Drewitz)
Ich fragte meine Interviewpartner danach, wer im Gefängnis regelmäßig auf Ansprechpartner verzichten muss und wie die Betroffenen dann mit dieser sprachlichen Isolation umgehen. Sowohl Gefangene als auch Beamte berichten wenig von solchen Erfahrungen. Es sind nur wenige Personengruppen, von denen ich erfahren habe, dass sie häufig und auf Dauer in einer kommunikativen Isolation leben. Im Folgenden wird anhand zweier Positionen innerhalb der Gefängnishierarchie gezeigt, an welchen Stellen das Gefängnis sprachliche Isolation erzeugt und warum sich der angemessene Umgang mit diesem Phänomen als schwierig darstellt. Im Zentrum der Beschreibung stehen Gefangene und Anstaltsleiter.298 298 Ich möchte hier nicht behaupten, dass Fachdienst-, Abteilungs- und Werkdienstbeamte nicht auch bisweilen unter sprachlicher Isolation lei278
DIE ERGEBNISSE
Von meinen Befragten berichten vor allem die Gefangenen und die Abteilungsbeamten davon, dass es insbesondere auf Seiten der Häftlinge Einsamkeit gibt, die zu Selbstgesprächen führt.299 „Selbstgespräche hat man öfter mal, wenn man nachts an der Zelle vorbeigeht. Da hat man immer wieder mal einen, der so Selbstgespräche führt, wenn er die Bilder an der Wand sieht. Also der Mensch muss Ansprechpartner haben. Wir haben viele, die wenige Ansprechpartner haben.“ (AVD III 13741378) Ein Gefangener unterscheidet das laute selbstgesprächige Geschehen im Einzelhaftraum vom gedanklichen Selbstgespräch in einem mehrfach belegten Haftraum so: „Man denkt über alte Zeiten nach und denkt über sich nach. Dann redet man: ‚Ach war das schön und hin und her.’ Und die Gefühle, die man hat oder das Erlebte, was man erlebt hat, oder wovor einem graut. Das innerlich noch mal aufzubauen. Das machen viele. Viele gehen abends ins Bett, machen das Licht aus. Meistens sind es ja Zweimannzellen. In anderen Anstalten, in denen ich war, da war es eine Achtmannzelle. Das gibt es alles. Dann legt man sich in sein Bett und macht sich seine Gedanken darüber. Ich würde sagen, laute Selbstgespräche, wenn es geht, sehr, sehr viele: Also ich würde sagen von zehn Mann sechs, sieben bestimmt.“ (GEF VII 294-314) Ein anderer Gefangener bestätigt dies: „Man hat schon Selbstgespräche im Knast. Meistens wenn man alleine ist. Wenn man irgendwo ist, dann tut man das nicht. Aber wenn man alleine ist, wenn man schlechte Nachricht, gute Nachricht erhalten hat. Abends im Bett liegen tut, tut man schon manchmal so reden mit sich selbst. Und laut überlegen. Selbstgespräche.“ (GEF I 850-854) Aber auch in mehrfach belegten Hafträumen können Gefangene es kaum vermeiden, dass Mitgefangene private Rede mithören. Dies ist immer nachts der Fall, wenn Gefangene im Schlaf reden, was nach Auskunft zweier Befragter im Gefängnis vergleichsweise häufig vorkommt. „Diese Leute reden nachts im Schlaf. Dann also, das habe ich jetzt so häufig wie hier noch nirgends gesehen. So wie jetzt im Gefängnis allgemein.“ (GEF III 862-865) Das räumlich enge Beisamden. Anders als die Anstaltsleiter und Gefangenen haben diese Gruppen allerdings vergleichsweise gute Copingstrategien entwickelt: Fachdienste organisieren sich in Supervisionsgruppen und bieten solche in zunehmendem Maße auch für ihre uniformierten Kollegen an. Zudem betrachten nahezu alle Mitarbeiter ihre Familie als Gesprächspartner in schwierigen Zeiten – wenngleich diese den Ausführungen der Erzähler nur schlecht folgen kann, da Beamte sich in einer für ihre Angehörigen unbekannten Welt bewegen. Für alle Angehörigen des Gefängnisses gilt, dass sie außerhalb der Anstaltsmauern trotz aufmerksamer und aufrichtiger familialer Zuhörerschaft in der Regel missverstanden oder gar nicht verstanden werden. 299 Die schriftliche Variante des Selbstgesprächs ist wohl das Führen eines Tagebuchs. Vgl. hierzu das Kapitel „Tagebuch“. 279
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mensein in den Hafthäusern führt sogar beim Bewohnen einer Einzelzelle dazu, dass es in benachbarten Hafträumen unbemerkte Mithörer von Selbstgesprächen gibt. „Früher habe ich geraucht. Da bin ich am Fenster gestanden und habe den Gefangenen unter mir gehört. Also ich höre, wenn der da unten redet. Und manchmal sogar mit Tränen. Manche, also im Transportbus habe ich einen erlebt. Ich weiß nicht, wer es war. Ich weiß nur, dass es auf meiner Seite war und dass es von oben kam. Der hat laut abgerechnet und zwar im Zorn abgerechnet. Der wollte alle umbringen. Den und den und den und den.“ (GEF II 913-931) Ein Fachdienstbeamter versucht, das selbstgesprächige Verhalten nicht nur auf Seiten der Gefangenen zu suchen, sondern gibt eine kurze fachliche Einschätzung dieses sprachlichen Phänomens: „Also ich führe das Selbstgespräch manchmal auch. Wenn ich in einer Stresssituation zum Beispiel am frühen Morgen bin und erst mal für mich ordnen will, was ich jetzt mache. Oder mich irgendjemand auf dem Stockwerk, auf dem Gang gerade genervt hat und ich in mein Büro verschwinde und so leise vor mich hinschimpfe. Leise oder lauter. Oder: ‚So, was mach ich jetzt? Was mach ich jetzt?’ Und das kann mir durchaus schon mal passieren, dass ich jetzt dann so kurz mit mir selber spreche. Mitkriegen bei anderen tue ich es wenig, weil das tun ja die meisten heimlich. Gefangene erzählen mir aber öfter, dass sie Selbstgespräche führen. Dann, wenn viel Vertrauen da ist. Und sind auch verunsichert und wollen wissen, ob das auch normal ist. Und meistens sage ich ihnen auch: ‚Ja, es ist normal bis zu einem gewissen Grad.’ Das tut ihnen sogar gut, wenn sie das tun. Außer meinetwegen jetzt bei gestörten Menschen, die zum Beispiel schizophren sind. Dann kann es ja auch ein Krankheitssymptom sein. Hier hat der Stockwerksbeamte, der Uniformierte, weniger Möglichkeiten, weil er in seinem Glaskasten oft so beobachtet wird, weniger Rückzug hat. Aber ich glaube, auch der führt Selbstgespräche.“ (FD IV 396413) Ein Anstaltsleiter schätzt die Möglichkeiten für die Gefangenen zur ungezwungenen Kommunikation nicht uneingeschränkt als gut ein. Er vermutet entsprechend, das Selbstgespräch sei „sehr verbreitet bei Gefangenen. Denn Gefangene versuchen, möglichst vieles mit sich selbst abzumachen. Es gibt natürlich auch Freundschaften unter Gefangenen, also auch uneigennützige, wo sich dann beide oder einer von beiden auch wirklich öffnet. Wobei schon mal Voraussetzung ist, dass sie überhaupt artikulationsfähig sind. Das ist keineswegs selbstverständlich. Dass sie eher vielleicht einen Kontakt zu einem guten Sozialarbeiter oder guten Psychologen oder auch zum guten Stationsbediensteten oder einem Bediensteten im Arbeitsbereich entwickeln.“ (AL VIII 593-605) Sein Kollege hingegen glaubt, die Kommunikationsmöglichkeiten für die Gefängnisangehörigen seien derart günstig gestaltet, so dass nicht in 280
DIE ERGEBNISSE
erhöhtem Maße auf das Selbstgespräch als kompensierende Redemöglichkeit zurückgegriffen wird. „Ich glaube, wenn hier an irgendwas kein Mangel ist, dann ist es ein möglicher Kommunikationspartner. So dass ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass es hier mehr Selbstgespräche gibt als außerhalb.“ (AL VII 348-351) Ein anderer Anstaltsleiter gibt zu, dass eine mögliche Ursache für das erhöhte Aufkommen an Selbstgesprächen im Personalmangel auf den Abteilungen der Hafthäuser begründet liegt. „Ich bekomme das täglich mit, dass die Gefangenen sich eher darüber beklagen, dass unsere Bediensteten nicht in ausreichendem Maße aus ihrer Sicht als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Und zwar ganz einfach, weil wir zu wenig Personal haben im Augenblick. Ich sehe das in der anderen Anstalt, in der ich auch Anstaltsleiter bin. In der läuft es ganz anders. Da haben wir mehr Personal. Und damit habe ich dort die Klage nicht, ganz im Gegenteil. Die Gefangenen, die von hier nach dort wechseln, oder von dort nach hier, erzählen mir halt immer wieder, dass dort die Beamten Zeit haben und hier nicht. Auch das Personal vor Ort bedauert, dass man einfach wenig Zeit hat, als Ansprechpartner für die Gefangenen zu fungieren.“ (AL V 1102-1117) Meiner Ansicht nach ist die heutige sprachliche Isolation der Gefangenen auch ein sprachkulturelles Relikt aus vergangenen Gefängniszeiten, als einer der Aspekte der Freiheitsstrafe auch noch darin bestand, als Gefangener für bestimmte Zeiten keinen Ansprechpartner zu haben zu dürfen und folglich auf sich selber angewiesen zu sein. In einigen der ersten Gefängnissen, in denen der Besserungsgedanke die Haft bestimmte, hielt man Gefangene sowohl im Haftraum als auch bei der Arbeit dazu an, nicht zu sprechen. Den Gefangenen dieses silent oder solitary system war es gestattet, sich mit der Bibel oder dem Gesangbuch auseinander zu setzen. Die Kommunikation mit anderen Gefangenen war zu keinem Zeitpunkt erlaubt. Die Begründer dieser Haftformen gingen davon aus, der Gefangene würde über den Weg des Schweigens Gott begegnen, diesen als seinen Ansprechpartner erwählen und infolgedessen Buße tun.300 In der Tat ist das Gebet auch heute noch bei manchen Gefangenen eine wichtige Form der verbalen Betätigung, die Erleichterung verschafft. Ein Anstaltsleiter schätzt die Rolle des Gebets für seine Gefangenen vorsichtig wie folgt ein: „Ich neige dazu zu behaupten, dass hier im Vollzug bei manchen Gefangenen das Beten wieder in Mode kommt. Ich sage es sehr zögerlich, weil ich nicht weiß, ob es ernsthaft ist. Ich weiß auch nicht, ob sie es tatsächlich tun, wenn man nicht dabei ist. Aber was mir manche erzählen, ich sage, ich weiß es nicht, deswegen zögere ich ein bisschen. Und dann wird so was tatsächlich ab und zu praktiziert. Gerade bei denen, die keinen Gesprächspartner haben. Nur an die 300 Vgl. M. Walter: Strafvollzug, S. 31 f. 281
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denke ich jetzt. Die, wo relativ isoliert sind. Wo man im Gespräch auch merkt, da ist ein Bedürfnis da, wo dann plötzlich mit solchen Themen kommen.“ (AL III 732-745) In Gefängnissen mit hohem Ausländeranteil beobachtet man allerdings, dass die deutsche Gefangenengruppe in ihrer religiösen wie auch generellen Selbstgesprächigkeit insbesondere den südländischen Gefangenen in vielerlei Hinsicht nachsteht: Türken etwa betreiben den sogenannten ‚Voltaj-Gang’, bei dem ein oder mehrere Gefangene eine kurze Strecke immer wieder auf und ab gehen und dabei mit sich selber oder mit anderen sprechen.301 Dieses rituelle Schreiten hat nach Aussagen der entsprechenden Gefangenen beruhigende und eine Aggressionen abbauende Wirkung. Das Voltaj-Schreiten nur einer Person möchte ich als Selbstgespräch auffassen. Bisweilen sind dabei auch Gebete in den Redefluss eingeflochten. Der Voltajgang als Ritual macht das Selbstgespräch öffentlichkeitskompatibel. Manchmal handelt es sich dabei auch um einen intoniertes Selbstgespräch, also um einen Gesang. Gerade muslimische Gefangene wählen die Aufschlusszeiten oder die Freistunde für ihren Voltajgang. Ein derart kontextualisiertes Selbstgespräch trifft wider Erwarten auf Akzeptanz auch bei den deutschen Mitgefangenen: „Wir haben ja auch mehrere davon, die singen. Und die singen, wenn die ein Problem haben. Dann setzen die ihren Hut auf und tapptapp mit ihrem Gewand durch die Gegend und dann ist gut.“ (GEF VI 420-423) Es kommt allerdings auch vor, dass türkische Gefangene mit einer besonderen musikalischen Begabung ihre religiös eingefärbten „Selbstgesänge“ kommunikativ einsetzen. Die Stimmung des traurigen Textes, sowie insbesondere die schwermütige Melodie versetzten die umstehenden Gefangenen und Bediensteten in eine traurige Stimmung. Gefangene, die sich gegenüber Beamten gar nicht mehr äußern und sich offenbar freiwillig in eine sprachliche Isolation hineinmanövrieren, werden in der Regel von den betreuenden Beamten kritisch beäugt: „Es ist ein alter Hut, zumindest für Bedienstete, die nicht bloß vergleichsweise gedankenlos ihren Dienst durchziehen, dass man darauf achten muss, wenn ein Gefangener sich plötzlich zurückzieht. Nicht nur zum Zweck der allgemeinen Suizidprophylaxe, sondern insgesamt. ‚Was ist 301 Der Begriff „Voltaj“ wurde mir mündlich durch türkische Forschungspartner mitgeteilt. Dabei wurde das j im Auslaut des Wortes in der Aussprache getilgt. Die Befragten waren über die Schreibweise des Wortes zumeist nicht informiert. In türkischen Wörterbüchern findet sich der Eintrag „Voltaj“ mit der deutschen Übersetzung „Volt“ (el.) oder „Spannung“ (allg.). Die Bedeutung des Begriffs „Voltaj“ erscheint mir für den geschilderten Verwendungskontext des rituellen Schreitens angemessen, denn Voltaj-Gänge werden immer dann praktiziert, wenn die betreffende Person psychophysisch unter „Spannung“ steht. 282
DIE ERGEBNISSE
los mit dem? Warum verkriecht der sich? Warum redet der nicht mehr?’ Ich denke mal, bei solchen Gefangenen wird auf der institutionellen Ebene noch am ehesten versucht, den wieder herauszuholen aus seinem Loch. Es gelingt nicht immer. Manche gehen sicher dabei auch unter. Also ‚unter’ im Sinne von ‚werden übersehen’.“ (AL VIII 542-550)302 Reinhard Fiehler hat in seiner Arbeit „Formen des Sprechens mit sich selbst“ einen der wenigen linguistischen Beiträge zum selbstgesprächigen Verhalten geliefert. Er bezeichnet dieses fachterminologisch als eine nichtpartnergerichtete Äußerung und spricht nicht von Kommunikation, da im engen Sinne mangels einer Informationsweitergabe keine Kommunikation stattfindet.303 Er unterscheidet verschiedene Formen und Kontexte der nichtpartnergerichteten Äußerung. Solche können etwa auftreten, wenn ein Sprecher mit sich alleine ist, wenn ein Sprecher sich mit anderen Sprecherhörern in einer gemeinsamen Wahrnehmungssituation befindet, ohne dabei in direkter Interaktion mit diesen zu stehen, und wenn der Sprecher in direkter Interaktion mit dem Hörer steht. Die oben beschriebene sprachlichen Isolationen beziehen sich sämtlich auf Situationen, in denen Gefangene mit sich allein sind. Fiehler liefert eine Auflistung sämtlicher Funktionen, die Selbstgespräche für den Sprecher haben können: Selbstgespräche umfassen Befindlichkeitsäußerungen und handlungsbegleitende Verbalisierungen ebenso wie Bemerkungen zum Umgebungs-, Selbst- und Handlungsmonitoring sowie autosuggestives Sprechen. In manchen Selbstgesprächen scheinen sich „verschiedene Instanzen einer Person wechselseitig zu adressieren“, in anderen Formen des Selbstgesprächs wird eine „personale Partnerinstanz imaginiert“, die entweder in einem Phantasieprodukt oder in einem realen, jedoch abwesenden Menschen besteht. Eine wichtige Funktion des Selbstgesprächs ist das kommunikative Probehandeln, d. h. das Vorwegnehmen möglicher Interaktionsabläufe im Voraus sowie die nachträgliche Reparatur missglückter Gespräche.304 Fiehler beklagt, dass es zum nichtpartnergerichteten Sprechen wenig Untersuchungen gibt. Er sieht gerade hier Forschungsbedarf, da selbstgesprächiges Handeln gemeinhin mit einem Tabu belegt ist. Er benennt die Alltagsnorm hierzu: „Die Person auf der Höhe ihrer Möglichkeiten spricht coram publico nicht mit sich selbst.“305 Diese informelle Norm hat meiner Erfahrung nach im Gefängnis eine ähnliche Geltungskraft. Das laute nichtpartnergerichtete Sprechen erklärt Fiehler sich anhand der entwicklungspsychologischen 302 Vgl. die völlig gegenteilige Aussage eines Abteilungsbeamten im Kapitel „Gesprächsanlässe“ (AVD III 31-40). 303 Vgl. R. Fiehler: Formen des Sprechens mit sich selbst, S. 179; vgl. hierzu auch das Kapitel „Beleidigungen“. 304 Vgl. R. Fiehler: Formen des Sprechens mit sich selbst, S. 186. 305 R. Fiehler: Formen des Sprechens mit sich selbst, S. 188. 283
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Interiorisierungstheorie, die besagt, dass im Verlauf der Kindheit und Jugend das laute Überlegen und das Selbstgespräch weniger werden, da sich die kognitiven Kapazitäten zur parallelen Verarbeitung mehrerer kognitiver Inhalte erweitern. In Situationen, in denen psychische Belastungen einen erheblichen Teil der kognitiven Kapazitäten beanspruchen, ist man wieder auf die laute Verbalisierung des Denkinhalts angewiesen. Darum bezeichnet Fiehler das laute nichtpartnergerichtete Sprechen als die „Spitze des Eisbergs des inneren, stillen akommunikativen Sprechens“. Die Interiorisierungstheorie liefert damit auch die Gründe für die Tabuisierung des Selbstgesprächs: Dieses wird als Indikator dafür angesehen, dass eine Person möglicherweise Probleme mit sich selber hat. Damit bedroht sie zentrale, in unserer Kultur geteilte Auffassungen von der Einheit der Person, die sich im Selbstgespräch jedoch als instanzenplural präsentiert. Zudem stellt ein laut mit sich selbst redender Mensch offensichtlich den in unserer Gesellschaft hoch anerkannten Wert der Privatheit in Frage.306 In einer totalen Institution ist es jedoch unumgänglich, dass die eng beieinander lebenden und arbeitenden Menschen einander beim Selbstgespräch beobachten. Das Klischee von Gefangenen, die in ihrem Haftraum Striche an die Wand malen und vor sich hinreden, um die Stille zu füllen, muss sogar einem gefängnisfremden Leser trivial erscheinen. Im Gegensatz dazu wird im Folgenden die sprachliche Isolation von Gefängnisangehörigen geschildert, welche man nicht in dieser Situation vermutet und die im streng soziologischen Sinne keine Gruppe bilden, da sie nur in der Einzahl in den jeweiligen Gefängnissen vorkommen.307 Es handelt sich hierbei um die Anstaltsleiter von Gefängnissen. Die von mir befragten Anstaltsleiter geben nicht primär ihre Selbstgespräche zu, sondern gehen im Interview sofort zur Beschreibung ihrer einsamen Position als Anstaltsleiter über, was mich zunächst mehr als verwundert hat: „Also ich sage das jetzt mit einem Lächeln. Aber das ist wirklich was Schreckliches. In meiner Funktion besteht überhaupt gar nicht mehr die Möglichkeit, in einer informellen Supervision mit irgendwem mal zu sagen: ‚Ach, das ist ja ein Idiot’ oder ‚Wie der wieder riecht’ oder so was. Also 306 R. Fiehler: Formen des Sprechens mit sich selbst, S. 194 f. 307 In der Gruppensoziologie ist die soziologische Untersuchungseinheit „das Individuum in der Gruppensituation. Über die Anzahl der Personen gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Man kann bei zwei Personen beginnen, wobei dann aber die Möglichkeit der Koalitionsbildung gilt.“ Vgl. hierzu Erich H. Witte: „Gruppe“, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorf (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Lucius & Lucius 2002, S. 204, hier: S. 204. Da die Anstaltsleiter nur anstaltsübergreifend eine Gruppe im soziologischen Sinne bilden, liegt hinsichtlich der einzelnen Anstalten keine Gruppensituation vor, innerhalb derer sich mehrere Anstaltsleiter befinden könnten. 284
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diese Möglichkeit habe ich überhaupt nicht. Und ich stelle das erst jetzt fest, was das für eine enorme entlastende Funktion früher gehabt hat. Und das ist wirklich ein ganz schrecklicher side effect der Anstaltsleitertätigkeit. Weil diese Sachen kann ich ja zu Hause auch keinem erzählen. Das interessiert ja auch keinen, die Hintergründe sind ja dann auch immer so komplex, dass es auch enorm aufwändig wäre, das alles offen zu legen, und auch nicht überaus interessant für den Gegenüber. Was die anderen Berufsgruppen angeht, so geben die sich, manche professioneller, wie die Fachdienste, andere weniger professionell aber vielleicht nicht minder wirkungsvoll, schon gegenseitig irgendein Feedback, und das hat also auch sicherlich eine positive Wirkung auf deren geistiges Wohlergehen.“ (AL VII 308-323) Während dieser Anstaltsleiter sich offenbar noch tapfer ein Lächeln zu diesem Thema abringen konnte, trägt mir sein Kollege im Gespräch die Folgen der sprachlichen Isolation ungeschminkt vor: AL
I AL I AL I Al I AL I AL I
„Die Position des Anstaltsleiters ist damit verbunden, dass es ein sehr einsamer Job ist und dass man eigentlich niemanden hat und dass man alles mit sich auszumachen hat. Und das heißt auch, dass das alles in dem Raum bleibt, dass man das auch nach außen nicht tragen kann. Einfach das Verständnis von außerhalb da kaum da ist. Also man kann sich vielleicht draußen, wenn man einen guten Freund hat, mal den Frust von der Seele reden. Und das ist natürlich gerade auch in der Position Anstaltsleiter - es wird auch nie eine Rückmeldung kommen, so nach dem Motto, dass vielleicht auch mal eine positive Kritik rübergebracht wird. Wäre manchmal sehr wünschenswert, weil man ist halt auch bloß ein Mensch. Und man macht sicherlich auch nicht alles richtig. Oder man wird einfach auch falsch verstanden. Es ist manchmal auch schwer, dass man da noch mal hinterfragt wird. Da heißt es, der Chef hat gesagt und das wird gemacht.“ „Würden Sie sagen, dass das ein Leiden ist?“ [murmeln] „Das war ein Ja?“ [murmelt sehr leise ein ‚Ja’] [lacht leise] „War das ein Ja?“ „Ja, ja.“ „Hm.“ [leise] „Ja, einsam, ja.“ „Hmhm.” „Ja.” „Hm.” (AL VI 473-503)
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Sein Kollege aus einem anderen Bundesland bekommt diese offenbar gängige Nebenwirkung der Anstaltsleitertätigkeit hingegen nicht zu spüren. Neben zwei anderen befragten Kollegen, die sich zu diesem Thema gar nicht äußern, stellt seine Sichtweise eine absolute Einzelmeinung dar: „Es gibt einen Ausspruch eines ehemaligen Anstaltsleiters, der hat das mal als These gebracht. Kommt mir immer noch ein Stück weit larmoyant vor: ‚Die Einsamkeit des Anstaltsleiters.’ Das geht davon aus, dass der Anstaltsleiter in gewisser Hinsicht immer einsam bleiben wird und bleiben muss, vielleicht auch, weil er wieder aufgrund des hierarchischen Prinzips aufpassen muss: Nähe und Distanz selbst zu engsten Mitarbeitern. Weil unter Umständen Situationen eintreten können, wo ich aufgrund von irgendwelchen Umständen auch diesem engsten Mitarbeiter weh tun muss, indem ich, was weiß ich. Angenommen, zum Beispiel hier wird irgendein Anstaltsteil geschlossen oder umgelagert. Und eine bestimmte Funktion eines mir an sich sehr nahestehenden Mitarbeiters fällt weg. Dann muss ich es dem vermitteln. Das lässt sich dann nur eigentlich halbwegs vermitteln, wenn ich zu dem nicht gerade eine regelrechte Freundschaft aufbaue. Weil dann mache ich nämlich mehreres kaputt. Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich diese Sprachlosigkeit nicht habe, weil ich ja über die Jahre hinweg hier eine ganz kleine Zahl von Bediensteten habe, bei denen ich weiß, dass die mit diesem Problem umgehen können. Weil sie dieses Problem kennen. Dass ich unter Umständen auch Entscheidungen gegen ihren Willen und gegen sie durchziehen muss. Und auch Entscheidungen, die sie als Person betreffen. Und deswegen habe ich Ansprechpartner. Ich weiß aber sehr wohl, dass es viele Anstaltsleiter gibt, bei denen es anders ist.“ (AL VIII 485531) Dieser Anstaltsleiter erläuterte zudem, dass der Grund für die Isolation von Anstaltsleitern nicht ihre Positionierung an einsamer Spitze der Hierarchie sei, sondern vielmehr das Verhalten des jeweiligen Anstaltsleiters in die sprachliche Isolation führe. Ich sehe allerdings zwischen diesen beiden Gründen keinen Widerspruch, sondern nehme an, dass ein Aufstieg in der Hierarchie des Gefängnisses damit verbunden ist, sich ein anderes Verhalten anzueignen. Man muss beachten, dass sämtliche Anstaltsleiter sozusagen als Lehrlinge bei anderen Anstaltsleitern wichtige Teile ihrer Verhaltensweisen beobachtet und erlernt haben. Auch auf der Leitungsebene des allgemeinen Vollzugsdienstes, wo in der Regel aufgestiegene ehemalige Abteilungsbeamte Dienst tun, wird der vereinsamende Effekt der hierarchischen Position wirksam, indem die Führungskräfte sich gegenseitig in dieser Lage bestätigen. Ein Vollzugsdienstleiter erklärt, inwiefern er sich den privaten kommunikativen Kontakt zu seinen Kollegen erkämpft: „Am Anfang bin ich mir immer so vorgekommen wie der Punkt auf dem i. Aber der Punkt auf dem i hat ja keinen Verbindungsstrich zum i-Strich. Der sitzt ja separat oben dar286
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auf. So bin ich mir ganz lange vorgekommen. Aber jetzt wird das langsam schlampige Schrift, jetzt passt das langsam. [...] Es gibt dann auch Vorgesetzte, die einem dann sagen: ‚Das muss Ihnen klar sein in so einer Position: Da sind Sie sehr einsam, da haben Sie keine Freunde und Gesprächspartner. Das ist dann so.’“ (AVD I 569-576, 949-951) Ich vermute, dass die erfahrenen Führungskräfte die ihnen direkt unterstellten leitenden Beamten oder ihre Stellvertreter in eine kommunikative Einsamkeit geradezu hineinsozialisieren. Wie stellt sich die postulierte Einsamkeit des Anstaltsleiters für dessen Mitarbeiter dar? Meine Beobachtungs- und Befragungsdaten ergeben zweierlei: Einerseits erkennen manche Bedienstete die Abgeschiedenheit ihres obersten Vorgesetzten und äußern sich hierzu mehr oder weniger verständnisvoll. So auch folgender Beamter: „Die sitzen schon irgendwie einsam in ihrer Chefetage. Liegt aber sicherlich auch an denen selber. Also ich würde ja nie hochgehen zu einem Gespräch und sagen: ‚Wie läuft es denn heute bei Ihnen?’ Nach unten wäre ja der Weg eigentlich leichter: Mal so durchgehen. Nicht die anderen bei der Arbeit stören oder nicht kontrollieren. Aber einfach mal gucken: ‚Wie läuft es denn so bei Ihnen? Alles in Ordnung?’ So was in der Art müsste dann halt auch sein, oder sollten sie vielleicht auch tun. Es gibt ja immer die zwei Arten von Aussagen. Die einen sagen: ‚Der Chef lässt sich nie blicken.’ Wenn der Chef sich immer blicken lässt, sagt man: ‚Ist ja nur zur Kontrolle.’ Sage ich auch immer: ‚Was wollt Ihr denn? Dass er nie kommt, und dass er dann nur zur Kontrolle kommt?’ Aber ich kenne auch die konkreten Aufgaben des Anstaltsleiters nicht. Das gute Mittelmaß zu finden, das würde vielleicht auch die Einsamkeit verringern. Viele Abteilungen sagen auch: ‚Wenn sich der Chef nicht sehen lässt, hat er auch nichts zu meckern.’“ (AVD IV 852-870, 872-903) Aussagen wie „Der lässt sich hier nie blicken, wir sind so alleine“ standen im Gespräch manchmal in unmittelbarer zeitlicher Äußerungsnachbarschaft zu Bemerkungen desselben Beamten wie dieser: „Gut, dass er nicht da ist, dann habe ich meine Ruhe.“ Das Motto „Komm her, aber bitte bleib weg“ durchzieht fast den gesamten Bereich der AVD- und Werkdienstbeamten. Auch manche Anstaltsleiter scheinen diesem Leitspruch zu folgen, denn einerseits findet man ihre Bürotüren im Verwaltungstrakt häufig einladend offen stehen. Gar nicht mehr einladend für potentiell spontane Besucher sind dann die Aktenberge und der Computermonitor, die sich auf den Schreibtischen vieler Anstaltsleiter türmen und den Gastgeber förmlich dahinter verschwinden lassen. Einige Anstaltsleiter sind deshalb schon auf die gute Idee gekommen, eine kleine Sitzgruppe in ihrem Büro einzurichten, wo Platz für Kaffeegeschirr, einen Aschenbecher und die erwünschten dienstlichen Gespräche und Kaffeepausen ist.
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Der Weg zum Anstaltsleiter wäre zumindest für die obersten leitenden Vollzugsdienstbeamten des AVD nicht weit. Dennoch verzichten auch von ihnen viele auf Kontakte zu ihrem Vorgesetzten: „Desto mehr sich der Anstaltsleiter von seinen Bediensteten distanziert, desto mehr wird er auch alleine sein. Gerade auf dieser ganz hohen Ebene. Bevor ich mit irgendwas zum Anstaltsleiter gehen würde, um Gotteswillen, also da müsste wirklich dann schon was Schlimmes passieren. Wo ich dann sagen würde: ‚Jetzt kann ich nicht mehr, und jetzt halte ich es nicht mehr aus. Und jetzt muss das auf halt der ganz hohen Ebene geklärt werden.’ Denn ansonsten durch diese Hierarchie geht man halt erst mal zum Nächsthöheren.308 Also bei mir müsste es schon, wie gesagt, schon ganz, ganz hart kommen. Und das ist eigentlich bei uns ein allgemeines Phänomen.“ (AVD V 447-470) Ein Fachdienstmitarbeiter vermutet, dass Beamte Angst vor der machtvollen Leitungspersönlichkeit haben und darum den persönlichen Kontakt zu ihrem obersten Vorgesetzten meiden: „Anstaltsleiter stellen immer ein bestimmtes Machtpotential dar in der Anstalt. Und viele Menschen haben einen unheimlichen Respekt vor einer Führungspersönlichkeit, also vor einer Leitung.“ (FD III 11771179) Möglicherweise werden manche Anstaltsleiter von ihren Mitarbeitern nur noch als Vorgesetzte im theoretischen Konzept des Organigramms wahrgenommen. Ihre reale Existenz als Ansprechpartner scheint nicht mehr zu zählen. Manchen Beamten erscheint es darum, als sei der Anstaltsleiter nicht Teil ihrer Gefängniswelt: „Er muss ja die Anstalt nach außen hin repräsentieren. Und dann wird er damit auch genug zu tun haben.“ (AVD VIII 472-480, 813-831) Der Großteil der Beamten macht allerdings das hierarchische Prinzip für die zunehmende Vereinsamung in Richtung Leitungsebene verantwortlich: „Diese untere Mitarbeitergruppe ist ja relativ groß. Da findet sich immer jemand, mit dem man reden kann, dem man sich auch mal anvertrauen kann. Und je weiter man hochgeht, um so kleiner wird die Gruppe von Vorgesetzten. Halt bis zum Anstaltsleiter, der dann irgendwo ganz alleine auf dem Treppchen steht. Und vielleicht doch in bestimmten Situationen niemanden hat, mit dem er reden kann. Ich denke, das ist schon so. Also, manchmal merkt man es schon: Ich kenne so Situationen, wo man dann halt auch mal zum Anstaltsleiter gerufen wird und man einfach nur über belanglose Dinge redet. Wo man dann merkt: ‚Ach, er wollte einfach bloß mal was loswerden, mal eine Meinung wissen.’ Und am Ende fragt man sich: ‚Warum war ich jetzt eigentlich hier?’ Und es hat an sich gar keinen richtigen Anlass gegeben. An den Dingen merkt man es dann, dass sie auch mal reden müssen.“ (AVD VI 637-659) Wenn ein Anstaltsleiter doch einmal Besuch bekommt, dann ist dieser häufig durch strategisches 308 Der Anstaltsleiter wäre in diesem Fall der Nächsthöhere! 288
DIE ERGEBNISSE
Karrierestreben motiviert. „Die sind die Nummer eins. Und in dem Moment, wo sie sich gut Freund machen mit Bediensteten, die da drunter stehen, in dem Moment müssen sie sich wahnsinnig abgrenzen, weil fast alle wollen gut dastehen beim Anstaltsleiter, melden sich regelmäßig. Es gibt viele, die regelmäßig hingehen. Der Anstaltsleiter ist einem wahnsinnigem Stress in einsamer Position ausgesetzt, weil er eben in seiner ganzen Entscheidungsgewalt, zumindest hier zwischen den Mauern, eben ja alleine dasteht. Und die Bediensteten wollen auf Beförderung hinaus. Gerade für den mittleren Dienst hat der Anstaltsleiter eine riesenmächtige Position. Schon alleine wenn er sich mit einem Kollegen duzen würde oder vielleicht duzt, den er vielleicht kennt oder im Laufe der Jahre, Jahrzehnte besser kennen gelernt hat. Andere würden dann schon wieder neidisch darauf gucken. Vielleicht gerade auch deshalb, weil die Anstaltsleiter dann auch wechselnde Vertreter haben. Die kommen als sehr junge Mitarbeiter in die Anstalt und gehen nach zwei Jahren schon wieder, die Juristen. Und so ist es für die eigentlich nie möglich, so was zu entwickeln wie bei uns Fachdiensten. Und bei uns ist es so, dass es regelmäßige Treffen gibt, insbesondere mit Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Deswegen fühle ich mich hier nicht einsam.“ (FD IV 439-472) Auf die Frage, wer wen zuerst vernachlässigt hat – die Beamten ihren Anstaltsleiter oder der Anstaltsleiter seine Beamten – gibt es sicherlich keine Antwort. Es bestünde allerdings für jeden Beteiligten die Möglichkeit zu erforschen, inwiefern er seinerseits zu wechselseitigen Abschottungstendenzen beiträgt. Anstaltsleiter, die nicht dazu in der Lage sind, ihre Mitarbeiter jenseits von offiziell einberufenen Betriebsfeiern auch einmal zum Mittagessen in der Kantine oder auf einen informellen Kaffe im Dienstzimmer aufzusuchen, haben sich innerlich möglicherweise schon von ihrer Belegschaft verabschiedet. Beamte jedoch, die einen Besuch ihres Vorgesetzten nicht zu nutzen wissen, erwecken bei mir den Eindruck, als wollten sie sich gar nicht wirklich mit ihrer Leitung auseinandersetzen. Anstaltsleiter, die den nachrückenden Leitungsgenerationen die Klage von der Einsamkeit vorsingen, und Abteilungsbeamte, die den Anwärtern verdeutlichen, der Chef sei unter allen Umständen ein Unberührbarer, zementieren die Trennung zwischen den Dienstebenen. Ich habe der „Einsamkeit des Anstaltsleiters“ aus zweierlei Gründen in meiner Darstellung breiten Raum gegeben. Erstens öffneten sich die Anstaltsleiter mir gegenüber im Interview in weitaus stärkerem Maße, als ich dies von ihnen erwartet hatte. Kein Problembereich wurde mir von Befragtenseite derart nachdrücklich vorgetragen wie die Einsamkeit der Anstaltsleiter durch dieselben. Ich verstehe dies als eine Aufforderung, das Thema in meiner Arbeit zu diskutieren. Zweitens gehe ich da289
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von aus, dass Einsamkeit im ungünstigen Fall negative Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden eines Menschen hat, was auch dazu führen kann, dass Anstaltsleiter in frustrierter Stimmung ihren Dienst versehen. Freilich gibt es wahrscheinlich mehr einsame Gefangene als einsame Anstaltsleiter. Warum sollte man sich also um einige wenige über bundesdeutsche Gefängnisse verteilte Leitungspersönlichkeiten in einer wissenschaftlichen Studie Gedanken machen? Die Anstaltsleiter können in ihrer machtvollen Position meines Erachtens ihre negative Stimmung in das eigene Entscheidungsverhalten einfließen lassen. Die Einsamkeit eines Anstaltsleiters würde somit zu einem inoffiziellen Entscheidungskriterium im Gefängnis. Der Wirkungsradius von Gefangenen ist, verglichen mit demjenigen eines Anstaltsleiters, klein. Meine These lautet: Wenn es einem Anstaltsleiter gut geht, geht es auch seinen Gefangenen und Mitarbeitern vergleichsweise gut: Die Position des Anstaltsleiters prädestiniert meiner Meinung nach insofern zur sprachlichen Isolation, als im Gefängnis ein besonders steiles hierarchisches Gefälle vorliegt, an dessen Spitze der Anstaltsleiter für alle denkbaren Themengebiete zuständig ist und sich teilkompetent äußern und verhalten soll. Die Möglichkeit der Delegation und Mandatierung von Arbeitsgebieten entbindet den Leiter eben doch nicht von der alleinigen Verantwortung, die er für das gesamte Anstaltsgeschehen trägt. Einen weiteren Grund für die sprachliche Isolation des Anstaltsleiters sehe ich in der wechselseitigen Abstoßung beider Parteien bei all denjenigen seltenen Gelegenheiten, bei denen Begegnungen auf der informell kommunikativen Ebene faktisch möglich wären. Was ein Anstaltsleiter und seine Mitarbeiter aus diesen günstigen Voraussetzungen machen, hängt allerdings auch von persönlichen Charaktermerkmalen der Beteiligten sowie vom Zufall ab. Meine Ausführungen zur Problematik der Beziehungen zwischen Anstaltleitern und ihren Mitarbeitern weichen darum von den allgemeinen einseitigen Erkenntnissen der Organisationssoziologie zu diesem Thema ab. Hans Georg Leuck fasst in einem Aufsatz zusammen wie das Verhalten von Vorgesetzten in der allgemeinen Orgaisationssoziologie gekennzeichnet wird: Hier geht man von „mangelnde[r] Gesprächsfähigkeit vieler Vorgesetzter [aus]. Häufig genug werden Scheingespräche geführt, längst Entschiedenes ‚dialogisch’ zu verkaufen versucht. Man will Widerstände angesichts vollendeter Tatsachen überwinden, anstatt im Gesprächsprozess gemeinsam Veränderungen zu planen.“309 309 Hans G. Leuck: „Rollen von Vorgesetzten in der betrieblichen Kommunikation“, in: Hellmut Geißner/Hans G. Leuck/Bernd Schwandt/Edith Slembeck (Hg.), Gesprächsführung, Führungsgespräche, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1998, S. 79-90, hier: S. 79. Leuck konzipiert 290
DIE ERGEBNISSE
Ich meine, dass Anstaltsleiter, ebenso wie ihre Mitarbeiter, eine supervisorische Betreuung brauchen.
Sprachlosigkeit Es gibt manchmal ein Urteil – ich lese längst nicht alle Urteile – aber es gibt manchmal ein Urteil, wo mir an einem bestimmten Punkt die Spucke wegbleibt. Also dass man einen trockenen Hals kriegt und sagt: ‚Oje.’ Das ist mir schon passiert, da war ich einfach platt. Aber das kommt eher selten vor, weil ich ja schon so viele Urteile gelesen habe. Ein ganz normaler Mord ist zwar nicht schön. Es gibt aber seltene Sachen, wo einem die Spucke wegbleibt. (ein Anstaltsleiter)
Ich habe die Strafvollzugspraktiker daraufhin beobachtet und befragt, in welchen Situationen sie im Gefängnis sprachlos sind, d. h. in welchen Situationen ihnen die Worte fehlen, ohne dass ihnen jemand verbietet zu sprechen. In den Daten finden sich nur zwei durchgängige Antwortmuster neben einer Vielzahl von Einzelmeinungen. Die meisten Gefangenen und Beamten geben für sich selber in der Regel an, nicht in eine nennenswerte Sprachlosigkeit zu verfallen. „Also ich denke, dass mir immer was einfällt.“ (AVD VII 697) und „Mir verschlägt es eigentlich nicht die Sprache.“ (WD III 889-8909) sind hier gängige einleitende Äußerungen zum Thema. Die meisten Befragten schränken ihre Aussage danach allerdings ein und schreiben ihre Schlagfertigkeit der gewachsenen strafvollzuglichen Erfahrung zu, welche sie über die Jahre gesammelt haben. Momente der Sprachlosigkeit scheinen zwar selten aufzutreten, haben aber für die Beamten als markante Einzelfälle dennoch einen Erinnerungswert: „Also es muss schon viel passieren, dass es mir die Sprache verschlägt. Einmal hat es mir die Sprache verschlagen. Da war ich ganz neu. Durch einen Beamten, der gesagt hat, ich hätte hier die Zellentür aufgelassen. Das war für mich ein derartiger Hammer. Weil es für mich so unvorstellbar ist, die Zellentür aufzulassen. Aber dass es mir direkt die Sprache verschlägt, also da kann mir einer schon die dollsten Hämmer erzählen, also das geht bis hin zu Mord. Weil ich denke, wenn ich nichts sage, ist es schlecht.“ (FD II 1336-1356) Die These, dass Sprachlosigkeit in der Regel ein Problem der Neuanfänger des Strafvollzugs ist, im weiteren Verlauf seines Aufsatzes eine plausible Einteilung möglicher Formen des direktiven und non-direkitven Vorgesetztenstils, die ich an dieser Stelle zur Lektüre empfehlen möchte. 291
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
findet in Berichten über Beamtenanwärter ihre Bestätigung: „Wir haben ja jetzt Anwärter hier zur Ausbildung. Wenn ich an eine Situation zurück denke, vor ein paar Wochen, da hat eben eine junge Kollegin versucht, über die Sprechanlage fünf Gefangene zu disziplinieren. Der Effekt war, die haben sie ausgelacht. Das wird einem Kollegen, der fünfzehn Jahre dabei ist, nicht passieren. Der legt den Hörer auf, geht zu denen hin und sagt ihnen, was Sache ist.“ (AVD II 723-734) Es scheint Teil der informellen Gefängnissozialisation zu sein, einem neuen Kollegen eine gefängnisspezifische Schlagfertigkeit beizubringen: „Ich glaube, mir hat es bis jetzt nur einmal die Sprache verschlagen. Und zwar, als ich relativ neu angefangen habe im Gefängnis. Als der erste Gefangene kam nach einem Streitgespräch, nach einem wirklich starken Streitgespräch, und sagte: ‚Pass auf, wenn ich draußen bin, schnapp ich mir dich und bringe dich um. Dann bist du fällig.’ Da hat es mir erst mal die Sprache verschlagen. Und das ist ja heutzutage überhaupt kein Problem, die entsprechenden Adressen von Beamten ausfindig zu machen. Ich habe daran geglaubt zu Anfang. Das habe ich dann auch mit den Kollegen ausgewertet, die schon lange dabei waren. Die haben dann einfach zu mir gesagt: ‚Weißt du was? Wenn das einer zu dir sagt, dann nimm das zur Kenntnis. Und sprich einfach drauf: ‚Okay, aber dann musst du dich hinten anstellen an der Warteliste, da waren schon andere vor dir.’ Weil das eigentlich undenkbar ist, dass einer sich wirklich die Mühe macht, da hin zu gehen und gerade mich, weil wir uns mal gestritten haben – der hat so viel Streit noch in seinem Knastleben dann vor sich – gerade mich umbringen wird. Eigentlich ist das Quatsch. Aber als Neuling kann man schon manchmal denken: ‚Huah, ist das ein raues Pflaster.’“ (FD III 1125-1142) Gefangene verfallen im Laufe ihrer Haftzeit dagegen eher in eine zunehmende Sprachlosigkeit, was das angemessene verbale Verhalten gegenüber Personen anbelangt, die im Gefängnis mancherorts selten anzutreffen sind, wie z. B. Frauen: „Bei Frauen, also dass man nicht mehr weiß, wie man mit Frauen zu schwätzen hat. Wenn im Gefängnis eine Frau durchlaufen tut, dass man die anschreien tut: ‚Hey!’ Dann weiß man gar nicht mehr, was man sagen soll. Dann ist man so baff. Freut man sich so auch: ‚Was soll ich jetzt Dummes sagen?’ Da ist man dann schon manchmal baff.“ (GEF I 904-912) Ein anderer Gefangener erweist sich mir gegenüber im Interview regelmäßig als sprachlos, weil ihm einfach die passenden Worte fehlen, um sich auszudrücken. „Ich merke, über die längere Haftzeit hinweg büßt die Sprache ganz schön [ein].“ (GEF III 954-956) Nahezu alle Gefangenen berichteten mir von einem solchen Verlust stilvollen Sprechens. Sprachlosigkeit bedeutet für die Kommunikationssituation, in der sie auftritt, stets eine Schwäche desjenigen, dem die Worte fehlen. Dies mag 292
DIE ERGEBNISSE
insbesondere für Abteilungsbeamte und Gefangene ein peinliches Erlebnis sein. Beamten und Gefangenen steht jedoch in den meisten Fällen der Sprachlosigkeit die Möglichkeit zur Verfügung, aus dem kommunikativen Feld zu gehen: AVD-Beamte können Gefangene einschließen, Gefangene können sich in ihren Haftraum zurückziehen. Beide Gruppen können Verhaltensweisen wählen, die nicht grundlegend dem widersprechen, was von ihnen erwartet wird. Anders verhält es sich mit denjenigen Bedienstetengruppen des Gefängnisses, deren primäre Aufgabe es ist, sich auch und gerade anlässlich schwieriger Themen zu äußern. Die Behauptung des folgenden Anstaltsleiters ähnelt den Erfahrungen, die auch Psychologen, Sozialarbeiter oder Seelsorger in unvorhergesehen unlenksamen Situationen machen: „Dem Anstaltsleiter dürfen nie die Worte fehlen. Man muss auf alles eine Antwort wissen. Ob es immer so ist, oder ob man sich seine Kunstpause damit verschafft, dass man die Situation erst mal nur mit Reden versucht zu analysieren. So einfach die Erwägungen, die einem einfach durch den Kopf gehen, einmal abgeht und daraus den Entschluss ableitet. Aber als Anstaltsleiter sollte man in der Regel immer aussagefähig sein. Im Zweifelsfall auch eine Aussage, wie: ‚Ich kann jetzt im Moment nichts dazu sagen. Das muss ich erst mal angucken können.’ Man sollte dann schon eine Aussage treffen und einfach auch zugeben können, wenn man in dem Moment halt nichts sagen kann. Und das ist in dem Moment dann halt auch keine Sprachlosigkeit sondern einfach auch das Eingeständnis: ‚Okay, kann ich Ihnen im Moment nichts dazu sagen.’ Und das ist auch eine Frage des Umgangs, ehrlich zu sein.“ (AL VI 553-577) Wenn vollzugliche Situationen ausweglos erscheinen und eine Sprachlosigkeit auf Seiten des Personals erwartbar ist, wird im Zweifelsfall von den Fachdiensten sowie der Anstaltsleitung eine angemessene Kommentierungsfähigkeit erwartet. „Es gibt so bestimmte ungewöhnliche Situationen, wo Gefangene sich halt sehr seltsam verhalten, wo man dann auch erst mal direkt nicht weiß, was man jetzt machen soll. In einer anderen Anstalt, in der ich Abteilungsleiter war, da war ein Gefangener im besonders gesicherten Haftraum. Der hat dann angefangen, sich das Fleisch vom Unterarm zu fressen und da [Pause].“ (AL VII 756762) Die Sprachlosigkeit des Befragten ist sogar noch in der Interviewsituation wirksam. In ähnlicher Weise aktualisierte sich in Gesprächen mit Fachdiensten deren Ärger über die eigene Sprachlosigkeit. Gerade den Fachdiensten wird die Erwartung entgegengebracht, dass ihre Arbeit in der verbalen Auseinandersetzung mit den Gefangenen besteht. Wenn diese Arbeit jedoch keine Erfolge in dem Sinne zeitigt, dass der Gefangene für die Argumente seines Therapeuten oder Beraters empfänglich wird, kann daraus Sprachlosigkeit auf Seiten des Mitarbeiters resultieren: „Mir verschlägt es dann die Sprache, wenn ich ein Gegenüber hab, 293
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
der sich ständig weigert, sich mit sich zu befassen, und seine Tat als solche als gut rechtfertigt oder den Stil umdreht und sagt: ‚Ich bin ja überhaupt nicht schuld, also nicht verantwortlich für die Tat, sondern ich bin eigentlich das Opfer. Das sind hauptsächlich Sexualstraftäter, die mit der Strategie unterwegs sind, wo es für mich manchmal wirklich schwierig ist, in einen Austausch zu gehen, wenn der Gegenüber sich weigert, auch nur ansatzweise mal den Standpunkt zu betrachten.“ (FD I 465-480) Sein Kollege jedoch hat sich diese Erwartungshaltung gegenüber Gefangenen im Laufe seiner Dienstjahre abgewöhnt. „Ich empfinde sehr oft die Sprachlosigkeit sogar als wohltuend. Gerade weil so viel geredet wird. Und auch im Gespräch, im Einzelgespräch finde ich Sprachlosigkeit oft konstruktiv. Es gibt aber unangenehme Momente im Gespräch, wo es irgendwie nicht weitergeht. Ich habe für mich im Laufe der Jahre gelernt, dass es mehr die Hauptverantwortung des Insassen ist, der ja betreut und behandelt werden will, da was zu sagen und zu bringen. Und ich fühle mich dann nicht mehr so verantwortlich wie früher, das Gespräch irgendwie zu leiten.“ (FD IV 485-512) Doch auch für diesen Fachdienstmitarbeiter gibt es Momente, in denen er Gefangenen sprachlos gegenübersteht: „Vielleicht wenn ich beleidigt werde, und ich weiß, ich muss jetzt aufpassen, was ich sage. Oder ich werde provoziert und jemand regt mich wahnsinnig auf, auch so mit seiner Art. Er macht vielleicht eine zynische Bemerkung, und ich muss aufpassen, was ich sage. Weil er könnte sich ja beschweren. Vielleicht wird mir dann bewusst, wie kontrolliert ich hier bin oder wie sehr ich mich kontrollieren muss. Dann muss ich das zurückhalten, was ich eigentlich denke. Ich muss zumindest damit warten, bis ich bei einem Kollegen, einer Kollegin sitze und darüber schimpfen kann. Oder aber bis ich einen privaten Anruf mache.“ (FD IV 599-608) Für Mitglieder des Fachdienstes ist der Moment der Sprachlosigkeit spätestens dann erreicht, wenn Gefangene ihnen gegenüber mit Selbstmorddrohungen in die Offensive gehen. Hierzu muss man wissen, dass es sozusagen die Minimalaufgabe insbesondere von Psychologen und Seelsorgern, aber auch von Sozialarbeitern ist, Selbstbeschädigung von Gefangenen zu verhindern. „Es hat schon Zeiten der Sprachlosigkeit gegeben. Zum Beispiel als Gefangene immer mit dem Selbstmord gedroht haben. Das war einmal eine Zeit lang recht ausgeprägt hier, dieses Zurückgeben des Problems an den Fachdienst. Das hatte mich am Anfang schon sprachlos gemacht.“ (FD IV 485-512) Fachdienstmitarbeiter sehen sich in ihrer beruflichen Selbstwirksamkeit bedroht, wenn Gefangene mit derartigen Äußerungen am Kern ihres auf professionelles Helfen ausgerichteten Berufsethos rühren. Anstaltsleiter werden nicht nur von Gefangenenseite mit Enttäuschungen konfrontiert, die ihnen die Sprache verschlagen. Sie müssen 294
DIE ERGEBNISSE
immer wieder auch mit für sie unerwarteten und unangenehmen Verhaltensweisen ihrer Mitarbeiter umgehen. Ein Anstaltsleiter erzählt ein Beispiel hierzu: „Es gibt Situationen, wo man wirklich sprachlos ist, ja. Aber es sind häufig Situationen, wo man irgendwo auch dann menschlich enttäuscht ist. Wobei ich sage, bei Bediensteten passiert mir eher die Sprachlosigkeit, weil man bei Gefangenen einfach schon mit mehr rechnet. Da ist irgendwo ein Spektrum, was man erwarten kann. Wobei man bei Bediensteten einfach voraussetzt, es darf nicht sein - zu recht oder nicht. Einfach ein praktischer Fall, den ich erlebt habe hier im Haus: Ein Beamter mit seinem Vorgesetzten saß zunächst mal hier am runden Tisch. Da ging es um den Vorwurf, dass er illegale Handlungen begeht, dass hier Pakete mit unerlaubten Sachen mit reinkommen, Rauschgift, was weiß ich, was alles. Der ist von einem Gefangenen beschuldigt worden. Frage ist dann wieder, wem man glaubt. [Der Beamte:] ‚Herr Schlips ich habe nichts gemacht, glauben Sie es mir.’ Dieses Gespräch war zunächst unter vier Augen, nicht mit dem Gefangenen, klar. ‚Ich habe es nicht gemacht, es war nicht so.’ Man hört wieder den Gefangenen an. Dann den Beamten. Dann den Gefangenen. ‚Sollen wir eine Gegenüberstellung machen? Sollen wir Sie jetzt mal konfrontieren? Dass Sie dem Gefangenen sagen können, was läuft?’ Der Beamte sagt: ‚Natürlich.’ Man sitzt gemeinsam zusammen: Gefangener, daneben der Beamte, Vorgesetzter. Und dann sagen wir zum Beamten: ‚Bitte, jetzt, so ist der Vorwurf des Gefangenen, Sie haben sich geäußert.’ [Antwort des Gefangenen]: ‚Jawohl, so habe ich es geäußert, so ist es richtig.’ Sagt man zum Beamten: ‚Bitte, jetzt sagen Sie es ihm.’ Der ist ruhig. Sagt der Gefangene, den Vornamen sagt er: ‚Was ist los Grün, gib doch zu, was läuft.’ Der kriegt einen roten Kopf, gibt zu: ‚Ja, es stimmt.’ Und dann, dann war es aus. Dann war es bei mir aus. Wäre das umgekehrt gewesen, hätte der Gefangene so reagiert [d. h. gelogen, G.K.], hätte man schnell so weitergemacht. Aber da war ich sprachlos, da war es aus.“ (AL III 830-872) In der Tat scheinen sich Anstaltsleiter mehr auf die Redlichkeit des eigenen Beamtenstabs zu verlassen, als auch ich zunächst vermutet hatte. Die authentische Loyalität insbesondere ihrer engeren Mitarbeiter scheint die verletzbarste Stelle von Anstaltsleitern zu sein. Befragt nach Situationen der Sprachlosigkeit antwortet ein Anstaltsleiter: „Es würde für mich eigentlich nur eine Situation geben. Also ich habe in der Anstalt zwei Leute, denen ich ziemlich bedingungslos vertraue. Wenn ich verifiziert erfahren müsste, dass einer von den beiden mich hintergangen hat, dann wäre ich fertig.“ (AL VIII 648-651) Schließlich gibt es noch weitere Situationen im Gefängnis, in denen auch ich, ähnlich wie meine Forschungspartner, kurzfristig in unangenehme Sprachlosigkeit verfallen bin. Es sind dies Situationen, in denen ich Kenntnis von strafbarem Verhalten einzelner Gefangener erhielt. 295
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Meiner Ansicht nach gibt es in jedem Gefängnis einen bestimmten Anteil von Beamten, denen im Umgang mit der Textsorte Gefangenenpersonalakte die Worte fehlen. Ihnen fehlt möglicherweise die Kompetenz zur nötigen Distanznahme vom geschilderten Geschehen. „Das Ausmaß an Brutalität, das, was teilweise auch an Kindern oder überhaupt an anderen Menschen angewandt wird oder was die Gefangenen sich teilweise so in ihrer Perversion einfallen lassen. Also da sitzt man auch manchmal mit offenem Mund davor.“ (AVD V 573-576) Die im Kapitel „Gefangenenpersonalakte“ geschilderte Vermeidungshaltung gegenüber der Akte resultiert meines Erachtens auch aus der Notwendigkeit, nicht immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes mit authentischen Gruselgeschichten konfrontiert zu werden. Beamte, die sich mit den Inhalten der Gefangenenpersonalakten auseinandersetzen, sollten dabei nicht alleine gelassen werden. „Ich habe immer erst die Akte gelesen, bevor ich jemanden zur Ausbildung nehme. Es gibt da schon Grenzfälle: Da saß ich hier und habe die Akte gelesen, die Tat. So was Grausames. Mir ist so übel geworden. [...] Den kann ich nicht nehmen, habe ich gleich gefühlt. Und man sitzt hier ganz alleine mit der Geschichte, dieser grausamen Sache. Dabei bin ich nur [Berufsbezeichnung anonymisiert]. Und dann ist man da alleine damit, mit solchen Geschichten.“ (FTB 33443354) Die Bearbeitung des Aktentextes sollte offenbar besser in einer größeren Gruppe gemeinsam mit anderen Beamten geschehen. Manchmal ist es aber allein die Existenz der Institution Gefängnis, welche bei ihren Mitarbeitern Sprachlosigkeit bewirkt. Ein Beamter des Werkdienstes fasst in Worte, wie ihm schlicht die eigene dienstliche Zugehörigkeit zum Gefängnis bisweilen die Sprache verschlägt: „Wenn man dann mal nachdenkt über das ganze Umfeld, dann ist man doch ab und zu sprachlos.“’ (WD IV 547-548) Manche Momente der Sprachlosigkeit zogen auch bei mir oft die Frage nach sich, wie ich freiwillig einen Ort wie das Gefängnis als meinen Forschungsort habe wählen können. Für kurze Momente wird auch Beamten, sogar den langjährig dienende unter ihnen, die eigentliche Absurdität ihrer Situation bewusst. Mir schien es, als hätte ich die Beamten überzufällig häufig in ihrem Tun innehalten und schweigen sehen. Denn nicht nur Gefangene sind von der Gewaltigkeit, welche der Staat durch das Gefängnis ausübt, psychisch betroffen. Auch einige (wenige?) Beamte fühlen sich von den Anzeichen der Gewalt überfordert und wünschen sich offenbar gerade dort Worte, wo Sprachlosigkeit herrscht: „Wenn jetzt zum Beispiel ein Vorfall ist, und es muss ein Gefangener in die Beruhigungszelle gebracht werden, weil er aus irgendwelchem Grund außer Kontrolle geraten ist, wird Gewalt angewendet. Dann schleift man den so die Treppe runter, haut dem meist einen so in die Fresse rein, weil er sich wehrt und weil er halt irgendwas gemacht hat. Vielleicht gehört es ihm auch so, ich weiß nicht. 296
DIE ERGEBNISSE
Und es geht dann der Alarm los und wir Beamte müssen alle dann alle hinrennen. Das ist ja auch unsere Pflicht. Und da verschlägt es mir halt die Sprache. Obwohl ich gerne was sagen würde.“ (WD II 847-854) Ganz im Sinne dieses Kapitels überlasse ich dem Leser meine Sprachlosigkeit zu diesem Thema. Einen konstruktiven Vorschlag, wie man mit der Sprachlosigkeit gegenüber dem Justizvollzug als aufdringlicher Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols umgehen kann, habe auch ich nicht.
Sprachhandeln und physische Aggression Erst hat der mich beleidigt, dann habe ich plötzlich einen sitzen gehabt. Der Gefangene hat AIDS und Hepatitis C. Wenn einer so was hat, dann wehrt sich keiner mehr. (ein Abteilungsbeamter)
Dieses Kapitel befasst sich weniger mit dem Phänomen Gewalt durch Sprache, sondern beschreibt die Übergangszone von einem verbalen zu einem physischen Konflikt, wie sie im Gefängnis immer wieder zu beobachten ist. Verbale Gewaltanwendung wurde in anderen Kapiteln bereits exemplarisch beschrieben. Beim Thema Gefängnis ist es meiner Meinung nach sinnvoll, eine linguistische Beschreibung solcher Situationen vorzunehmen, vor denen sowohl Gefangene als auch Beamte erwiesenermaßen Angst haben: Hierzu zählen die Übergriffe von Gefangenen auf Beamte. Zu den Übergriffen von Beamten auf Gefangene kann ich an dieser Stelle nichts sagen. Ich weiß aus gesicherter, jedoch nicht repräsentativer Quelle, dass es sie nicht selten gibt. Auch wie Gewalttätigkeiten im Gefängnis innerhalb der Gefangenengruppe ablaufen, ist mir weitgehend verborgen geblieben. Sowohl für den einen, als auch für den anderen Bereich nehme ich nicht unerhebliche Dunkelfelder an. Ich habe persönlich lediglich einmal einen Konflikt aus der Nähe miterlebt, der von der verbalen auf die physische Ebene „abgerutscht“ ist. Dieser Konflikt spielte sich innerhalb einer Gefangenengruppe ab, und ein Beamter versuchte einzugreifen. Andere Konflikte unter Gefangenen beobachtete ich nur aus der Ferne. Ich kann an dieser Stelle nur feststellen, dass mir in allen Fällen die Wortlosigkeit der Konfliktparteien auffiel und dass ich diese Tatsache zum Anlass nahm, zu explorieren, in welcher Weise bei der Anbahnung eines physischen Konflikts das gesprochene Wort in den Hintergrund tritt. Der Übergriff eines Gefangenen auf einen Beamten, bzw. eine Geiselnahme sind zwar auf Beamtenseite vielgefürchtete Vorfälle, kommen im Gefängnis gleichwohl selten vor. Es wird auch wenig darüber gespro297
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chen. Ob dies aus Gründen der Tabuisierung so ist oder ob schlicht kein thematischer Anlass besteht, vermag ich nicht zu beurteilen. Bei einer rationalen Betrachtung der strafvollzuglichen Praxis kommen Beamte regelmäßig in etwa zu folgender Einschätzung: „Gewalttätiges Handeln ist von beiden Seiten eigentlich eher die Ausnahme.“ (FD V 351-352) Wird dann doch hier und da von früheren Übergriffen berichtet, sind die Schilderungen unerwartet lebendig. Die wenigen Zwischenfälle verkörpern offenbar einen hohen Bedrohlichkeitswert, sind im kollektiven Gedächtnis der Mitarbeiter gespeichert und sorgen dafür, dass kein Beamter seinen Dienst in völliger Gelassenheit und ohne defensiv auf dem Sprung zu sein, versieht. Beamte sind allerdings nicht nur mit möglichen Übergriffen von Gefangenen konfrontiert. Sie sind auch verpflichtet, Schlägereien in der Gefangenengruppe zu verhindern oder abzubrechen, indem sie selber persönlich eingreifen. Beamte leisten dieser Weisung nicht immer Folge, um selber keine körperlichen Blessuren zu riskieren. „Es gibt Gefangene, die ihre Konflikte regeln, ohne dass sie einen Finger krumm machen müssen. Also die dann ihre Strukturen so laufen haben, dass das dann andere für sie erledigen. Der Großteil macht das aber sehr direkt und sehr konfrontativ. Und da gibt es dann einen Punkt, wo keine Zugänge mehr möglich sind. Also wo Fanatismus, wo der Kopf völlig abgeschaltet ist, und der Konflikt wird mit Gewalt erledigt oder ausgetragen. Dann muss man dazwischengehen und die Leute festhalten, und eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Außer du lässt die so lange aufeinander prügeln, bis es sich von selber erledigt.“ (FD I 194-208) Physische Gewalt gegenüber Bediensteten wird zunächst verbal angebahnt. Der Gefangene baut ein gewaltsames Szenario auf, mit dem er den Mitarbeitern droht. Betroffen sind hier insbesondere Abteilungsbeamte: „Gegenüber den Bediensteten spielen dann allgemein die Beleidigungen, die verbalen Drohungen eine größere Rolle. Da sind die körperlichen Übergriffe zum Glück seltener. Ich habe den Eindruck oder die Erfahrung gemacht, dass der uniformierte Dienst da mehr einzustecken hat als wir Fachdienste. Dass die Gefangenen auch durchaus hier die Hierarchie mit berücksichtigen und sich beim Anstaltsleiter nicht so leicht beleidigend aufführen wie vor einem Bediensteten. Allerdings kann es da auch Ausnahmen geben in den Sprechstunden. Da kann es auch wüste Beschimpfungen gegen den Anstaltsleiter geben. Da ich auch zu der Vollzugsplankonferenz gehöre und oft über Lockerungen und über andere Fragen mitentscheide, habe ich den Eindruck, dass die Gefangenen das dann öfter hinter dem Rücken machen. Nur wenn sie sehr aufgeregt sind, sehr emotional erregt sind, kommt es auch schon mal dazu, dass die Türen schlagen. Das ist auch so ein typisches Zeichen, wenn die Türen schlagen, wo es dann schon nicht mehr weit ist zu weiteren Gewalttätigkeiten. Das passiert aber relativ selten. Ich habe 298
DIE ERGEBNISSE
auch den Eindruck, dass diese Drohungen mehr indirekt ausgesprochen werden, so nach dem Motto: ‚Na, da muss eben erst etwas geschehen, bis meinem Wunsch Rechnung getragen wird.’ Das wird so indirekt angedroht. Oder: ‚Na, dann muss ich es halt anders machen. Dann kommt eben Plan B.’ Und dann frage ich: ‚Was ist denn Plan B?’ Und er: ‚Das werden sie dann schon sehen.’ Und dann denke ich also manchmal an Selbstverletzung, manchmal aber auch an angedrohte Gewalttätigkeiten mir gegenüber. Mir und anderen. Also ich habe den Eindruck, sie trauen sich nicht, das offen und direkt zu sagen. Aber sie wollen einem vermitteln, dass dann irgendetwas geschieht. Und einige machen das auf eine recht plumpe Art und manche schon auf eine subtilere Weise. Das kann mich auch aggressiv machen. Es kann auch sein, dass, da ich ja nicht beleidigen darf und nicht beleidigen will, kann es sein, dass es mich dann noch mehr erregt oder noch mehr aggressiv macht. Wir werden dann auch, wenn es sein muss, autoritär. Wenn es sein muss, schmeiße ich den Insassen dann auch raus. Geschieht zum Glück auch selten, weil mich regt es auch wahnsinnig auf. Mich regt es auf. Das ist dann ja eine wahnsinnige Stresssituation. Aber es kommt darauf an, wer es ist und in welchem Zusammenhang er das gesagt hat. Es kann auch sein, dass ich ziemlich ruhig damit umgehe, dass ich aber im ruhigen Ton sage, dass ich mir das verbitte und ich das Gespräch jetzt für beendet finde, dass ich mir das nicht gefallen lasse. Oder aber, dass, wenn jemand indirekte Drohungen macht, dass ich genauer nachfrage: ‚Was heißt denn jetzt Plan B? Oder wie stellen Sie sich das genau vor?’ Oder aber, ich sage ihm dann: ‚Aha, Sie wollen mir also drohen? Sie wollen mir andeuten, da passiert etwas.’ Und ich versuche, es dann etwas klarer zu machen, um so im Gespräch zu bleiben.“ (FD IV 134-191) An dieser Stelle deutet sich bereits an, dass Bedienstete über Gesprächstechniken verfügen, mittels derer sie meist erfolgreich zu verhindern versuchen, dass sich ein verbaler Konflikt in einen physischen verwandelt. „Also sollte sich eine Auseinandersetzung anbahnen – wieder ein Beispiel: Wir laufen so auf dem Gang, und da hat ein Gefangener was abgelehnt bekommen, ist also in Rage, und wir kommen vom Hof rein. Da war der Gang voll, und einer hat da rum geschrien, ist hafterfahren, spielt eh den großen Mollie und hat mich massivst beleidigt. Das habe ich ignoriert, völlig ignoriert. Und da hatte ich schon alle weggeschlossen. Und das muss man auch machen. Auseinandersetzung: Das Erste, was wir machen: alle Zuschauer weg. Nicht, weil wir was zu verbergen haben, sondern damit er kein Gesicht verlieren muss. Und dann ist er nur noch alleine. Und weil wir gerade beim unmittelbaren Zwang sind: Ich mache nie was alleine. Muss ich nur dann, wenn ich angegriffen werde. Wenn ich nicht angegriffen werde und es bahnt sich was an, dann wäre ich auch gut beraten, nie was alleine zu machen. Weil ich kann den unter Umständen oder wäre dem 299
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unter Umständen nicht gewachsen. Ich ziehe mich zurück und hole Verstärkung.“ (AVD III 1228-1249) Ein ideales Mittel für Gefangene, ihre Aggression unter Einsatz von Kraft und für den Beamten deutlich vernehmbar abzuführen, ist das Zuschlagen der schweren Haftraumtür.310 Beamte nehmen dieses Zeichen in der Regel relativ gelassen hin. „Und da haben wir nun nicht die Keulen herausgenommen und sind auf ihn losgegangen, sondern haben gesagt: ‚Das war jetzt so, er hat halt mit der Tür geschmissen, das ist besser, als wenn er jemanden von uns angerührt hätte, und den Rest machen wir in drei Tagen.’“ (FD V 394-396) Nach Aussage mehrerer Beamter reagieren jedoch nicht alle Gefangenen gleich auf Beschwichtigungen oder Deeskalationsstrategien. Die Art des Übergangs von einem verbalen in einen physischen Konflikt scheint kulturspezifisch ausgeprägt zu sein. „Die Sprache ist beim Konflikt je nach Kulturgruppe mehr noch wichtig. In anderen Kulturen spielt sie so gut wie keine Rolle mehr oder ist völlig untergeordnet. Das heißt, wenn ein Italiener in einem Konflikt steht, dann macht der sehr viel über Sprache, will noch über Sprache beleidigen, klären, und das dauert sehr lange, bis das zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommt. Türken auch ähnlich. Jugoslawen sind schon viel weiter weg von der Sprache, sind schon viel näher an der körperlichen Auseinandersetzung. Und die Russen sind sekundenschnell im Körper. Da geht gar nichts mehr, keine Androhung mehr, keine sonstige Klärung, sondern da fährt die Faust aus dem Moment mit voller Wucht, ohne Kompromiss. Und die Deutschen halten sich raus und versuchen, auch über Sprache zu regeln. Aber da kommt immer ein Punkt, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht oder wenn es nicht anders geht, dann wird es immer körperlich. Und mit Sprache ist in so Konfliktsituationen so gut wie nichts mehr erreichbar. Da ist man fast hilflos. Auch ich als Verantwortlicher: Ob ich brülle oder ich versuche, beruhigend oder wie auch immer. Ich erreiche die Leute nicht, weil wie ein Schalter, da ist ein Schalter wie gedreht.“ (FD I 210-238) Hat sich zwischen Beamten und Gefangenen ein Übergriff ergeben, so ist die zweite interessante Frage, wie das Geschehene danach verbal bearbeitet wird. An dieser Stelle sind mir in mehreren Gefängnisses Klagen von AVD-Beamten aufgefallen, die sich nach einem solchen Zwischenfall von ihren Vorgesetzten alleingelassen fühlen: „Wenn jetzt in einer Einrichtung gegenüber den Bediensteten ein Vorfall ist, ist der erste, um den sich intensiv gekümmert wird, der Gefangene. Der kriegt alles. Da ist der Psychologe sofort da: ‚Was waren jetzt die Hintergründe 310 Ein nicht zu vernachlässigender Nutzen der Schwere und Stärke einer metallenen Haftraumtür ist neben ihrer Sicherungsfunktion deren geringe Materialermüdung. Diese scheint auch unverzichtbar, denn einige Gefangene beherrschen das Zuschlagen dieser Türen meisterhaft. 300
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für diesen Angriff auf den Bediensteten?’ Oder so. Der Bedienstete ist erst einmal krank geschrieben. Der kriegt vielleicht für seine gute Tat irgendwie die Hand geschüttelt. Aber dass dort dann auch irgendwie auch was getan werden muss, kommt vielleicht zu kurz. Dort wird eigentlich nichts für das Opfer in dem Sinne getan. Also nichts, wo man jetzt konkret davon hört. Es wird aber dort eben zum Beispiel vordergründig gesagt: ‚Also der Gefangene ist jetzt sowieso schlecht drauf, deswegen hat er das auch gemacht, und jetzt müssen wir uns erst mal kümmern, dass der Tabak kriegt, und der braucht dringend was zu rauchen, wenn der abgesondert ist.’ Da kommt dann zum Beispiel der Psychologe und sagt: ‚Also es ist wichtig, dass der jetzt was zum Rauchen kriegt, sonst wird es noch schlimmer.’ Und dort rennen dann sofort alle, werden alle informiert. Da wird die Dienstleitung informiert bei so einem Vorfall und dann werden konkrete Maßnahmen für den Gefangenen getroffen. Auf dem Vordruck steht nicht, was in dem Moment mit dem Bediensteten passieren soll. Wenn es was Schwerwiegenderes ist, kommt vielleicht der Arzt und kümmert sich erst mal um den Bediensteten. Wie gesagt, dann wird er krank geschrieben. Dass sich dann auch mal jemand um den Bediensteten kümmern würde, der in dem Moment das Opfer ist, das ist halt nicht der Fall.“ (AVD IV 152-180) Mir sind solche Klagen wiederholt in unterschiedlichen Gefängnissen vorgetragen worden. Ich halte es für einen eklatanten Mangel, dass es noch nicht in allen Gefängnissen zum Standardprogramm in Krisensituationen gehört, dass Beamte während ihres gängigen Dienstes regelmäßig supervidiert und nach Ausnahmesituationen psychologisch betreut werden. Zu den genannten Ausnahmesituationen gehören meines Erachtens nicht nur Übergriffshandlungen, sondern auch Situationen, in denen Beamte mit Gefangenen umgehen müssen, die infolge von Selbstbeschädigung verletzt oder verstorben sind. Nach einem Übergriff von Gefangenenseite haben Beamte und Gefangene in der Regel auch nicht die Wahl, ob sie sich mit ihrem ehemaligen Konfliktpartner noch länger auf einer Abteilung aufhalten wollen. Von ihnen wird in der Regel erwartet, dass sie ihren Dienst weiterhin an derselben Stelle versehen wie vorher.311 Insbesondere für die Bearbeitung solcher Übergriffe bietet sich im Nachhinein der innerstrafvollzugliche Täter-Opfer-Ausgleich an, der im folgenden Kapitel näher beschrieben wird.
311 Bei schweren Auseinandersetzungen finden jedoch in der Praxis oftmals Verlegungen des Gefangenen in andere Anstalten oder auf andere Abteilungen statt, was allerdings für den betreffenden Gefangenen auch nicht unproblematisch ist. 301
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Zwei Exkurse So lohnt es sich durchaus zu fragen, wer eigentlich hinter dem Wald auf dem Joghurtbecher lebt. (Frank Dievernich/Fabian Steinhauer)
Die Ausführungen der vorangegangenen Kapitel beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit der Darstellung von sprachkulturellen Phänomenen, die einer Gleichheit aller strafvollzuglichen Sprecherhörer vor dem Wort entgegenstehen. Ich möchte den Leser jedoch nicht mit einem ausschließlich düsteren Eindruck aus der Lektüre meiner Arbeit entlassen. Aus diesem Grund habe ich zwei Exkurse beigeordnet, in denen beschrieben wird, welch kreative Potentiale und unkonventionelle Themen der Strafvollzug in sprachkultureller Hinsicht birgt: Eine Beschreibung des strafvollzuglichen Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) soll aufzeigen, warum diese Form der Gesprächskultur in deutschen Gefängnissen theoretisch zwar gewollt, in der Praxis jedoch bislang ein randständiges Phänomen ist, und wie der TOA als ein aus linguistischer Sicht vielversprechender Ansatz in den Anstalten vielleicht doch Fuß fassen kann. Anhand der Tier- und Pflanzenpopulation im Strafvollzug werde ich ausführen, inwiefern sich infolge der aus Anstaltsperspektive zumeist unerwünschten Präsenz dieser außerartlichen Gefängnisangehörigen in der Praxis Einflüsse auf das kommunikative Miteinander ergeben, die dem Gefängnis nur willkommen sein können.
Der strafvollzugliche Täter-Opfer-Ausgleich als Gesprächskultur Und ich denke auch, da gibts ja so Opfer-Täter-Gleich, äh, wie heißt das? (ein Werkdienstbeamter)
Der Täter-Opfer-Ausgleich ist originär eine Maßnahme des allgemeinen Strafrechts sowie des Jugendstrafrechts. In den vergangenen Jahren sind aus der sanktionenrechtlichen Diskussion alternative Sanktionsformen hervorgegangen. Dies gilt insbesondere für das Jugendstrafrecht. Anstelle der Freiheitsstrafe und Geldstrafe ist man bemüht, auf andere Reaktionsformen auszuweichen. Dies können z. B. die Schadenswiedergutma-
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DIE ERGEBNISSE
chung sein oder der Täter-Opfer-Ausgleich.312 Anhand der reinen Wortbedeutung kann ein Rechtslaie den Unterschied zwischen den beiden Sanktionsformen TOA und Schadenswiedergutmachung nicht erkennen. Darum wird im Folgenden erläutert, was den Täter-Opfer-Ausgleich gegenüber der Schadenswiedergutmachung auszeichnet und inwiefern ersterer konzeptionell einen Raum für Gesprächskultur vorsieht. Die Schadenswiedergutmachung besagt, dass auf Anordnung des Richters oder Staatsanwalts ein materieller Schaden ausgeglichen werden soll. In erster Linie geschieht dies in Form einer Geldzahlung an das Opfer der Straftat. Es kann aber auch eine Arbeitsleistung oder dergleichen stattfinden, von der das Opfer profitiert. Die Wiedergutmachungsleistung wird in der Regel vom Staatsanwalt bzw. vom Richter bestimmt. Auch beim Täter-Opfer-Ausgleich wird eine Ausgleichsleistung angestrebt, bei der jedoch der Beschuldigte und das Opfer die Ausgleichsinhalte persönlich unter Begleitung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich bestellten Vermittlers aushandeln. Detlev Frehsee erkennt den deutlichen Unterschied zwischen Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich darin, dass bei ersterem allein das Ziel der Sanktion, der materielle Ausgleich, im Vordergrund steht. In den meisten Fällen haben dabei der Täter und das Opfer keinen nennenswerten persönlichen Kontakt. Der Täter-Opfer-Ausgleich hingegen hat bereits den Weg zum Ausgleich als sein Ziel, d. h. die diskursive Aushandlung des Konflikts und seines Ausgleichs steht im Mittelpunkt der Sanktionierung. Damit kann man die Schadenswiedergutmachung als ergebnisorientierte und den Täter-Opfer-Ausgleich als prozessorientierte Sanktionsform bezeichnen.313 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass bei allen Versuchen, das Opfer in die Konfliktregelung mit einzubeziehen, der Täter im Mittelpunkt des Strafverfahrens stehen soll. Die Opfer312 §§ 46 II S. 2 am Ende, 46 a StGB ermöglichen bei der Strafzumessung eine Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Die innerhalb dieser Rechtsinstitute vorgesehene Wiedergutmachung muss freiwillig erfolgen. Anders ist dies im Falle der Wiedergutmachungsauflage, wie sie die §§ 56 b II Nr. 1, 59 a II Nr. 1 StGB als Bewährungsauflagen vorsehen. Nach § 56 I Nr. 3 kann ein Bewährungswiderruf bei Missachtung der Auflage erfolgen. Eine explizit erzwingbare Verpflichtung zur Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs erfolgt durch die §§ 59 a II Nr. I StGB sowie durch § 10 I Nr. 7 JGG. Die Anwendung beider Rechtsinstitute ist für Fälle der mittelschweren Kriminalität vorgesehen. Damit sind Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung als Alternativen zu anderen Sanktionsformen zu betrachten. 313 Vgl. Detlev Frehsee: „Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich im Strafrecht: Entwicklung, Möglichkeiten und Probleme“, in: Bernd Schünemann/Markus Dirk Dubber (Hg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem: neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA, Köln: Heymanns 2000, S. 117-137, hier: S. 120. 303
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Orientierung innerhalb des strafrechtlich geregelten Täter-Opfer-Ausgleichs muss an der Stelle halt machen, wo es die Rechtsstellung des Täters zu gefährden droht, denn „niemals kann es die Funktion des Strafrechts sein, den Bedürfnissen des Opfers zu dienen.“314 Eine sekundäre Viktimisierung des Opfers im Strafverfahren ist zu vermeiden. Positive Auswirkungen auf das Opfer dürfen nur als Nebeneffekte, nicht jedoch als primäre Zwecke gelten. Beschränkte sich der Einsatz des TOA zunächst auf den sanktionsrechtlichen Bereich des Jugend- und Erwachsenenstrafrechts, so hat man in jüngerer Zeit Überlegungen dahingehend angestellt, wie diese Form der Gesprächskultur auch im Gefängnis etabliert werden kann. Dabei sollte man die Erfahrungen, die bislang mit dem außerstrafvollzuglichen TOA gemacht wurden, in die Überlegungen einbeziehen: Aus strafverfahrens- und strafvollstreckungsrechtlicher Perspektive macht es einen erheblichen Unterschied, ob ein Täter-Opfer-Ausgleich vor oder nach der Aburteilung des Beschuldigten stattfindet: Aus der Perspektive des angeklagten Beschuldigten kann ein erfolgreich durchgeführter TOA entweder eine scharfe Sanktionsform oder sogar das förmliche Verfahren der Hauptverhandlung vor Gericht abwenden. Dieses Ziel wird insbesondere im Jugendstrafverfahren verfolgt. Aus diesem Grund wird der TOA auch dahingehend kritisiert, dass mit ihm eine Instrumentalisierung des Opfers durch den Täter möglich wird und dass die Reue im Ausgleichsgespräch nur aus zweckrationalen Gründen vorgetäuscht wird. Verurteilte Strafgefangene hingegen stellen strafverfahrensbezogene Überlegungen zum TOA im Gefängnis nicht an, da das Urteil bereits gesprochen ist. Ob einem TOA von Gefangenenseite aus zweckrationalen Überlegungen heraus zugestimmt wird, hängt davon ab, welchen strafvollzuglichen Rahmen die Anstaltsleitung dieser Maßnahme gibt. Die Anstalt hat maßgeblichen Anteil an der Entscheidung, ob ein Gefangener vorzeitig aus der Haft entlassen wird und zu welchem Zeitpunkt erste Lockerungen oder Urlaub gewährt werden. Solche Schritte der Resozialisierung werden in der Vollzugsplankonferenz in Erwägung gezogen, wobei man sich unter anderem am Verhalten des Gefangenen im Vollzug orientiert.315 Wird die Teilnahme am Täter-Opfer-Ausgleich nun zu 314 Vgl. D. Frehsee: Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich, S. 127. Einem Rechtslaien mag diese Aussage dem Rechtsempfinden nach unangemessen erscheinen. Es wird in weiten Teilen der Strafrechtswissenschaft die Auffassung vertreten, das Strafrecht, und insbesondere auch das Strafvollzugsrecht, sei ein Instrument, mittels dessen der Täter etwa vor Willkür bei der Strafverfolgung, Verurteilung und im Strafvollzug geschützt werde. 315 Vgl. § 7 III StVollzG: Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in 304
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einem Kriterium für gute Führung im Strafvollzug, so kann dieser auch hier wieder zu eigennützigen Zwecken eingesetzt werden. Aus soziolinguistischer Perspektive möchte ich den Täter-OpferAusgleich unabhängig von sanktionsrechtlichen Überlegungen als eine Form der Gesprächskultur ansehen. Beide Konfliktparteien sind darum bemüht, eine sprachliche Leistung zu erbringen. Auch der Mediator ist Teil dieses sprachlichen Austauschs. Aus linguistischer Perspektive ist eine mögliche Instrumentalisierung des Täter-Opfer-Ausgleichs in jedem Fall kritisch zu hinterfragen. Misst man das Ergebnis des TOA an den griceschen Konversationsmaximen, so ist zumindest für die Maxime der wahrhaftigen Rede auf Seiten des Täters keine Gewähr vorhanden.316 Aus diesem Grund favorisieren einige Anstaltsleiter die Durchführung des TOA auf einer institutionsunabhängigen Ebene, bei der ein eventueller Ausgleich mit dem Opfer nicht mit strafvollzuglichen Gratifikationen für den Täter zusammenhängt. Nach dieser Einführung in das theoretische Konzept des TOA soll zunächst dargestellt werden, in welcher Weise dieser in der Praxis seine Umsetzung findet und was die Beteiligten darüber denken. Die Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs findet bei nahezu allen Befragten zunächst breite Zustimmung. Sogar Gefangene zeigen sich im Gespräch gegenüber dem Konzept des TOA offen eingestellt. „Das Opfer hat ja auch ein Recht. Ich finde den Täter-Opfer-Ausgleich, der Täter mit dem Opfer, wenn das Opfer, dass ich mich mit dem unterhalte, das finde ich echt okay.“ (GEF III 1156-1158) Auf Mitarbeiterseite wird der strafvollzugliche TOA aus mehreren Gründen für förderungswürdig und ausbaufähig gehalten. Ein Beamter des Werkdienstes denkt beim TäterOpfer-Ausgleich im Gefängnis an den Tag der Entlassung des Gefangenen. Der TOA habe nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige befriedende Effekte für beide Konfliktparteien. „Ich denke, dass da mehr gemacht werden müsste. Der eine hat dem anderen was angetan. Dafür wird er bestraft. Das Opfer leidet weiter. Der Gefangene kommt raus. Entweder meidet der Täter den, damit er den nicht sieht, oder geht er da hin und beschwert sich dann, dass er wegen ihm eingesperrt worden ist. Und es kommt wieder zu einem Konflikt. Und deshalb gehört in der Sache einfach mehr gemacht, damit einfach die Situation zwischen denen zwei Leuten, wo was vorgefallen ist, egal jetzt auf was für einer Basis.“ (WD II 952-975) Diesem Anspruch stehen jedoch die Gegebenheiten der Praxis gegenüber. Für Täter und Opfer besteht während der Haftzeit kein Anlass, sich zu versöhnen. Vielmehr ist es so, dass manche Insassen aus Einklang zu halten. Hierfür sind im Vollzugsplan angemessenen Fristen vorzusehen. 316 Vgl. FN 160. 305
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
dem Gefängnis heraus über Dritte das Opfer drangsalieren und dem Opfer Rache schwören. Ängste des Opfers und Aggressionen des Täters gegenüber dem Opfer könnten in einem gefängnisinternen Täter-OpferAusgleich mit Blick auf die Entlassung abgebaut werden. Dieses Vorhaben findet allerdings bei der Teilnahmebereitschaft und Teilnahmefähigkeit des Opfers seine Grenze. Dies wird von einigen Gefängnisangehörigen übersehen, so auch von dem folgenden Werkdienstbeamten, der die psychische Belastbarkeit des Opfers zunächst offenbar überschätzt: „Es wäre meiner Meinung nach auch gut für das Opfer zur Tataufarbeitung oder zum Verständnis für viele Sachen. Und auch vielleicht mit der Tat fertig zu werden. Wenn das Opfer wüsste, wie, warum es überhaupt zu dem Ganzen gekommen war. Für das Opfer ist es nicht vorstellbar, warum es überfallen worden ist, warum es vergewaltigt worden ist, warum jemand entführt und umgebracht worden ist. Oder auch für Angehörige. Ich finde, das wäre wichtig, wenn das ganze Umfeld von Angehörigen, von Opfer und Beteiligten mehr eingebunden würden. Aber es ist natürlich ein großes Problem, wenn ich jetzt als Elternteil ein Kind verliere, möchte ich mich mit dem Täter nicht auseinandersetzen. Wenn ich ja nur einseitige Rachegefühle habe oder gewisse Hassgefühle. Und da fehlt das Verständnis bei den Opfern für manche Sachen.“ (WD III 998-1017) Ein Gefangener unterscheidet, inwiefern der TOA auf die einzelnen Deliktsformen in angemessener Weise Anwendung finden kann. Dabei lehnt er allerdings die Anerkennung einer materiellen Basisrolle „Opfer“ ab und behauptet, dass die Kategorie „Opfer“ in vielen Fällen ein Konstrukt ist. Der Gefangene hält den TOA bei solchen Deliktsformen für sinnvoll, bei denen ein Opfer offensichtlich vorhanden ist und nicht mehr verleugnet werden kann. Diese Deliktsformen sind jedoch aufgrund der Fragilität oder wegen des Todes des Opfers im allgemeinen Strafrecht und Jugendstrafrecht nach herrschender Meinung teilweise nicht für den TOA vorgesehen. „Es kommt immer auf die Straftat an. Oder wie oben gesagt auf die Definition: Was ist ‚Opfer?’ In welchem Sinne ‚Opfer’? Opfer einer Vergewaltigung? Opfer einer Erpressung, Körperverletzung? Wenn es um ein Kapitalverbrechen geht, denke ich, wäre es ein Opfer. Bei Vergewaltigung, Kinderschänderei, Mord, denke ich, dass es schon eine sehr große Erleichterung ist, wenn man weiß: ‚Okay, die oder der hat mir verziehen.’ Dann weiß man sozusagen, was man demjenigen zugefügt hat, welches Leid, welchen Schaden. Dann ist man sich vielleicht eher bewusst.“ (GEF I 572-585) Ein anderer Gefangener hingegen bewertet den TOA nicht nur aus Gefangenensicht, sondern auch aus der Perspektive des Opfers: „Mal angenommen, wenn aus einer Familie die Schwester oder der Bruder von jemandem erschlagen worden ist, dann will ich den nicht wiedersehen. Das ist gut für Leute, die das so wollen. Also für Leute, die sagen: ‚Ich habe nicht richtig ge306
DIE ERGEBNISSE
handelt, das ist nicht richtig gewesen.’ Also für solche Leute ist das richtig gut. Das hilft denen, das, was passiert ist, wieder aufzuarbeiten.“ (GEF VII 718-723) Ein Anstaltsleiter macht sich nicht nur über den Sinn und Zweck des Täter-Oper-Ausgleichs-Geschehens Gedanken, sondern zweifelt die Sinnhaftigkeit der Bezeichnung dieser Form der Gesprächskultur an: „Ich stehe auf dem Standpunkt, dass der Täter-Opfer-Ausgleich ganz furchtbar wichtig ist. Also dieses Wort ‚Täter-Opfer-Ausgleich’ stimmt so nicht. Dieses Wort ‚Ausgleich’ ist eher richtig, wenn man daran denkt, dass da finanzielle Dinge eben ausgeglichen werden oder Schaden wieder gut gemacht wird. Was der Täter-Opfer-Ausgleich aber auch will, ist, dass eben ein immaterieller Schaden, also der Schmerz, die Demütigung eines Opfers damit bearbeitet wird. Ich betone bearbeitet wird und nicht aufgearbeitet wird. Der Begriff ‚aufgearbeitet’ heißt ja so viel wie: Wenn man das dann gemacht hat, dann ist das erledigt, das Geschehen. Aber meiner Meinung nach ist das nie erledigt. Man kann es, meine ich, mit dem Täter insbesondere nur bearbeiten, aber auch mit dem Opfer nur bearbeiten. Die Verletzung, insbesondere wenn es um Körperverletzungsdelikte, Sexualdelikte geht, die bleibt ja in den Menschen. Und es bleibt eben auch die Erinnerung, dieses ganze Geschehen.“ (AL I 1004-1049) Mit dieser Ansicht entspricht der Anstaltsleiter der bereits angesprochenen Position Frehsees, der das prozesshafte Merkmal des TOA hervorhebt, die Zielorientierung hingegen als ein Merkmal der Schadenswiedergutmachung ansieht. Der Unterschied zwischen Aufarbeitung und Bearbeitung im TOA kann allerdings auch linguistisch begründet werden: Täter-Opfer-Gespräche sind Gespräche über die Biographien der Beteiligten. Die Biographieforschung hat gezeigt, dass durch das Erzählen der eigenen Biographie Erlebnisse der Vergangenheit bewertend dargelegt werden. Wiederholtes Erzählen bedeutet nicht, dass eine Episode der Biographie wort- und bedeutungsgleich wiederholt wird. Vielmehr wandeln sich Form und Inhalt der narrativen Darstellung mit jedem Erzählen. Erzählungen sind darum Bewertungen des Vergangenen. Mit dem Erzählen wird die Vergangenheit nicht getilgt. Der Anstaltsleiter bemerkt damit zu Recht, dass zwei biografische Episoden – das von dem Täter bzw. dem Opfer erzählte Geschehen der Tat bzw. Opferwerdung – immer nur sprachlich bearbeitet werden können. Eine Aufarbeitung in dem Sinne, dass beide Geschichten identisch werden, kann es nicht geben.317 317 Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von der „Neigung, sich dadurch [durch das biographische Erzählen, G. K.] zum Ideologen seines eigenen Lebens zu machen.“ Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 3 (1990), S. 75-81, hier: S. 76; Armin Nassehi und Georg Weber erkennen in im biographischen Erzählen eine „permanente Modifikation, U307
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Es gibt unter den Gefängnisangehörigen jedoch auch Kritiker des TOA. Ein Beamter des Werkdienstes mutmaßt über die Misserfolge, die mit dem TOA gezeitigt werden: „Aber was bringt es? Wenn ich mich mit dem da, der sich an meinen Kindern oder sonst so was vergriffen hat, da hätte ich was ganz anderes machen wollen, als mich mit dem zu unterhalten. Das bringt mir das Kind auch nicht wieder oder macht es auch nicht rückgängig, die ganze Sache. Jetzt direkt ein Auge-zu-AugeGespräch, was passiert da? Frust ablassen vielleicht. Aber viel mehr auch nicht. Oder die, die sagen: Ich bin eben krank, und wenn ich ein Kind sehe, dann werde ich verrückt.’ Der entschuldigt sich zehnmal und der würde vielleicht auch sagen, er wird es nie wieder tun. Aber wie viele haben wir jetzt davon, alleine in unserem Betrieb. [Pause] Ich weiß es nicht. [Interviewerin: Also Sie bezweifeln das eher, dass der TOA funktionieren könnte?] Ja.“ (WD IV 669-686) Meines Erachtens ist der folgende Einwand eines Fachdienstbeamten eine knappe und aussagekräftige Kritik am Täter-Opfer-Ausgleich: „Wobei ich an und für sich auch ein Gegner von Täter-Opfer-Ausgleich aus der Haft heraus bin. Ich muss sagen: aus der U-Haft heraus bin. Weil ich persönlich vertrete den Standpunkt, dass unter Umständen das Opfer ein zweites Mal missbraucht werden könnte, weil es sich sicherlich bei der Gerichtsverhandlung recht gut macht, wenn da: ‚Ich hab mich doch aber mit meinem Opfer schon wieder verständigt und wir haben uns wieder’, stark vereinfacht jetzt, ‚wieder lieb’.“ (FD V 769-780 ) Zum Verständnis dieser Aussage muss man wissen, dass Gefangene der Untersuchungshaft sich noch im Ermittlungs- oder Hauptverfahren befinden und grundsätzlich nur zum Zweck der Vermeidung der Flucht oder Verdunkelung und auch teilweise wegen möglicher erneuter Straftatbegehung in Haft genommen werden.318 Zu diesem Zeitpunkt ist der Ausgang des Verfahrens noch offen. Der Fachdienstmitarbeiter zielt darauf ab, dass der Täter-OperAusgleich, wie in diesem Kapitel bereits erläutert wurde, im Strafverfahren vom Täter missbraucht werden kann, um Strafmilde des Richters zu erlangen. Ein Überblick über die Daten ergibt jedoch, dass man dem allgemeinen Konzept des Täter-Opfer-Ausgleichs auf allen Seiten ganz überwiegend entweder offen oder neugierig gegenüber steht. Darum erstaunt es umso mehr, dass in den wenigsten Gefängnissen der TOA eine nenminterpretation, Neubewertung und das selektive Vergessen, Präsenthalten und Wiedergewinnen von Bewußtseinsinhalten.“ Vgl. Armin Nassehi/Georg Weber: „Zu einer Theorie biographischer Identität. Epistemologische und systemtheoretische Argumente“, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 3 (1990), S. 153-187, hier: S. 155 f. 318 Vgl. § 112 a StPO. 308
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nenswerte Anwendung findet. Vielen ist der TOA allenfalls als eine dem Vor- oder Hauptverfahren zugehörige Sanktionsform bekannt. Die Durchführung desselben im eigenen Gefängnis wurde von manchen Befragten bislang noch nicht in Erwägung gezogen. Andere haben bereits den Versuch gestartet, diese Form der Gesprächskultur in den Anstalten zu etablieren. Aus den Interviews geht hervor, dass derlei Versuche zum Befragungszeitpunkt eher weniger Erfolge gezeitigt hatten und dass der TOA nach wie vor „selten“ (AL II 897) stattfindet. Für einige Anstaltsleiter ist der gefängnisinterne TOA ein besonderes Steckenpferd, welches sie Wunsch und Wirklichkeit vermengen lässt. Ein Anstaltsleiter berichtete mir stolz über seine Bemühungen: „Über Täter-Opfer-Ausgleich kann ich Ihnen [lacht] natürlich eine ganze Menge erzählen, weil wir das hier ja schon mal gemacht haben und damit angefangen haben. Und Sie ja nun auch beim Herrn Hilfreich gewesen sind.“ (AL I 1002-1003) Im Gespräch mit dem besagten Fachdienstmitarbeiter Herrn Hilfreich der in dem Gefängnis den TOA organisiert, war allerdings deutlich geworden, dass zum Befragungszeitpunkt bislang lediglich Briefe an Opfer versendet wurden, und dass das erfolgreiche Ausgleichsgeschehen sich zum Befragungszeitpunkt auf einen Fall beschränkte. Ein anderer Anstaltsleiter schätzt seine Bemühungen in dieser Hinsicht realistischer ein: „Man versucht es mit dem Täter-OpferAusgleich. Aber da sind teilweise ganz, ganz wenige Sachen bisher angelaufen. Man sagt, in bestimmten Bereichen wird es sehr schwierig, überhaupt irgendwas zu machen. Ich habe praktisch noch keine Erfahrungen mit dem Täter-Opfer-Ausgleich.“ (AL III 1041-1044) Auch in diesem Gefängnis war zum Zeitpunkt der Befragung eine Person für den TOA zuständig. Auf meine Frage, ob der TOA erfolgreich sei, bestätigt auch dieser Mitarbeiter, dass bislang nur ein Gefangener ernsthaft daran Interesse hatte. In anderen Anstalten befindet sich das TOA-Geschehen noch in der Planungsphase: „Für den Gefangenen oder für den Täter muss es angestoßen werden. Haben wir jetzt hier auch vor.“ (AL IV 1258-1261) Für die Beamten des AVD scheint die Praxis des TOA gänzliches Neuland zu sein, von dem man nur aus anderen Anstalten weiß: „Das ist jetzt erst in letzter Zeit so ein bisschen thematisiert worden.“ (AVD I 1048) Ein Kollege berichtet: AVD „Ich habe da einmal davon gehört, wo mal so was erfolgt ist. Aber ich kann mich jetzt auch nicht mehr an einen konkreten Fall erinnern. Selber erlebt habe ich das noch nie.“ I „Aber Sie wissen, dass es das gibt?“ AVD „Dass es das gibt: ja. [...] Aus den Medien eigentlich.“ (AVD IV 137-142)
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SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Auf Gefangenenseite herrscht eine vergleichbar geringe Informiertheit, verbunden mit dem Ausbleiben an praktischer Erfahrung mit dem TOA: GEF
I GEF
Die meisten der Gefangenen wissen gar nicht, dass es eigentlich so was gibt. Die wissen nur, Täter-Opfer-Ausgleich kommt irgendwann mal schriftlich. Weil so was kommt oft schriftlich hier an. Und dann kommt das in das Fach ‚Geld’ und damit ist das Thema Täter-OpferAusgleich vom Tisch. Zumindestens für den Gefangenen. Und dann passiert auch logischerweise nichts mehr, weil dann sich niemand mehr hinsetzt, einen Brief schreibt und irgendwie Kontakt sucht, und damit ist es gestorben. Wird denn über das Opfer geredet überhaupt? Wird über Opfer im Gefängnis geredet? U-Haft. Sagte ich doch, das wird eigentlich in der U-Haft abgehandelt. (GEF VI 617-624)
Viele Bedienstete halten den TOA schon allein deshalb für sinnvoll, weil damit der Tilgung des Opfers aus dem Gefangenenbewusstsein entgegengewirkt werden könnte. Dieser Aspekt mangelhafter Tataufarbeitung ist für viele Beamte Anlass zu Unmut. Ihrer Meinung nach haben die Gefangenen zu wenig Kontakt mit den Opfern. Ein Beamter meint: „Das sind auch bei den Gefangenen ganz wenige Ausnahmen, die dann nach einem Konsens suchen. Und darauf bestrebt sind, dass sie für die Opfer was tun. Oder mal offen dazu zu sagen: ‚Ja, okay, da ist ein Opfer und da muss man eigentlich auch was machen.’ Bei den meisten ist es dann auch diese Portion Egoismus, dass sie sagen: ‚Ich sitze doch hier drinne, ich bin doch das Opfer, ich bin doch weggesperrt, ich darf doch vier Jahre oder fünf Jahre lang nicht raus. Und für mich muss man tun, mir muss man helfen, damit mir das nachher nicht mehr passiert.’“ (AVD I 10831091) Gefangene entsprechen nicht der Erwartung ihrer Abteilungsbeamten, gedanklichen Kontakt zum Opfer aufzunehmen: „In Einzelgesprächen versuchen wir das schon ein bisschen herauszubringen. Da erfährt man eigentlich immer ein relativ gleiches Muster, dass die Gefangenen mit dem Opfer oder den Opfern ihrer Straftaten eigentlich wenig anfangen können. Also wenn wir jetzt speziell darauf hinweisen: ‚Du kannst Dich doch einmal in das Opfer hineinversetzen, was das gefühlt hat, nachdem es den Schlag gekriegt hat.’ Das ist eher wenig ausgeprägt. Wiedergutmachung auf Gefangenenseite ganz, ganz selten. Also dass ein Gefangener von sich aus sagt: ‚Okay, ich schreibe jetzt mal dem Opfer und entschuldige mich.’ Das habe ich also ganz, ganz selten erlebt. Rechtfertigung findet öfter statt.“ (AVD II 61-69) Ein Anstaltsleiter hat ebenfalls „manchmal so [s]eine Zweifel, ob da überhaupt eine gedankliche Beziehung zum Opfer besteht.“ (AL IV 1297-1299) Sein Kollege 310
DIE ERGEBNISSE
erklärt sich diese Ignoranz gegenüber dem Opfer anhand der bereits im Kapitel „Rechtfertigungen“ beschriebenen kriminologischen Theorie der Neutralisierungstechniken:319 „Ich habe den Eindruck, dass meine Inhaftierten hier relativ wenig Kontakt oder Beziehungen zu ihren Opfern haben oder entwickeln. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, sie meinen, das sei ganz in Ordnung gewesen, was dem Opfer passiert ist und dass dem auch Recht geschehen würde. Insbesondere auch dann, wenn es um Körperverletzungsdelikte geht. ‚Der hätte mich nicht so blöde anmachen sollen, dann hätte ich ihm nicht die Fresse poliert’ oder so. ‚Und dass der dann eben, was weiß ich, einen Nasenbeinbruch hatte und drei Zähne draußen waren, das war schon ganz in Ordnung so.’“ (AL IV 1275-1285) Vereinzelt werden Mitarbeiter des Vollzugs, insbesondere aus dem Fachdienst- und Leitungsbereich, allerdings mit Situationen konfrontiert, in denen das Opfer die Initiative zur Kontaktaufnahme ergreift: „Ich habe aber durchaus erlebt, dass Opfer auf ganz unterschiedliche Weise versucht haben, sich mit dem Täter auseinander zu setzen. Die Standardvariante, dass ein Geschädigter, ein vermeintlich Geschädigter, sei es die Gefangenen selbst anschreibt, in der irrigen Annahme, ich könnte hier den Vollstrecker spielen, mich auffordert, irgendwelche finanziellen Dinge zu klären.“ (AL VIII 898-917) Anstaltsleiter sind als Juristen in solchen Situationen überfordert. Außerdem sind sie als Vertreter des Strafrechts aus bereits genannten Gründen die falschen Ansprechpartner. Es erfordert die Kompetenz eines mediationsbefähigten Professionellen, um eine solche Situation für alle Beteiligten erfolgreich zu meistern. Angehörige des Fachdienstes verfügen teilweise über derartige Kompetenzen. Besondere Probleme bereitet es freilich, wenn sich nicht nur eine Konfrontation zwischen Täter und Opfer ergibt, sondern die Angehörigen des Opfers als dritte Sprecher mit ins Spiel kommen. Angehörige von Opfern scheinen nämlich noch weniger als die Opfer selber bereit zu sein, auf einen Kontakt mit dem Täter einzugehen. Falls ein Gefangener doch einmal versucht, mit dem Opfer Kontakt aufzunehmen, „dann haben Sie hier drinnen häufig die Situation, dass Sie den Gefangenen trösten müssen, weil kein Gespräch möglich ist, weil die Angehörigen sich aus Gründen, die zunächst mal nicht zu bewerten sind, dem verweigern.“ (AL VIII 967-969) Insbesondere Gefangene, die ein Tötungsdelikt begangen haben, wären zum Zweck einer Versöhnung auf das Wohlwollen der Angehörigen angewiesen. Sind diese, aus welchem Grund auch immer, für den Täter nicht zugänglich, so ist dieser auf die direkte gedankliche Beziehung zum Opfer angewiesen, wie folgende Worte eines Beamten zeigen: „Wir hatten einen Gefangenen. Der saß wegen [Straftat319 Vgl. das Kapitel „Rechtfertigungen“. 311
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
bestand anonymisiert] ein. Dessen Angehörige ist wegen dem gestorben. Und der hat dann die Ausführung zur Beerdigung beantragt, hat die auch genehmigt gekriegt. Und dann sind wir mit dem zum Friedhof gefahren. Und dann haben die uns dort mit Schimpf und Schande davon gejagt. Da waren dann natürlich die ganzen Angehörigen von dem Mädchen da. Also er hat das Mädchen in [das kriminelle Milieu anonymisiert] mit rein gebracht, und da hatte sich dann die ganze Wut auf ihn projiziert. Und wenn wir den nicht schnellstens wieder ins Auto gepackt hätten und das Weite gesucht hätten, hätte der bestimmt [unverständlich] gekriegt. Das war jetzt so einmal eine Situation, wo dann eigentlich nicht das Opfer, sondern die Angehörigen des Opfers reagiert haben. Und dann halt massiv reagiert haben. Also das blieb nicht bei normalen Drohungen. Uns gegenüber waren die noch zurückhaltend. Haben nur gesagt: ‚Seht zu, dass Sie den Typen wieder vom Friedhof kriegen, sonst garantieren wir für nichts. Der hat hier nichts verloren.’“ (AVD I 1100-1116) Seltsamerweise und auch tragischerweise fühlen sich Täter häufig dann zum Opfer hingezogen, wenn es nicht mehr lebt, d. h. wenn es als Ansprechpartner auch theoretisch nicht mehr zur Verfügung steht. Ein lebenslang Gefangener berichtet: „Mein Opfer hat weder Verwandte noch Bekannte gehabt, keine Familie, nix. Es lebt nicht mehr, das heißt also, ein Gespräch mit den Angehörigen hat sich wahrscheinlich erledigt. Ich kann bloß so viel sagen. Das war an meinem zweiten Urlaub. Da habe ich was gemacht. Nicht dass mich jemand davor dazu gedrängt hat. Aber ich wohne nicht weit weg vom Friedhof. Und das Einzige, was ich machen konnte, was ich von mir aus dann gemacht habe: Ich habe zumindest das Grab aufgesucht. Und ich dachte, vielleicht passiert irgendwas. Aber es passierte nichts. Und ich habe es dann mal so erklärt: Ich kann es nicht ändern. Das ist so. Ich habe zum Beispiel jemand im Bekanntenkreis, der hat zu mir gesagt: ‚Mein Gott, die Frau war [Altersangabe anonymisiert] Jahre alt. So alt werden wir nicht werden.’ Das kann aber nur ein anderer sagen. Das kann ich selber gar nicht sagen. Gut, es stimmt, dass sie heute nicht mehr leben würde. Aber sie hätte das Recht gehabt, noch den nächsten Tag und andere Tage zu erleben. Mehr kann ich dazu eigentlich nicht sagen.“ (GEF II 1147-1162) Die Hinweise auf Angehörige der Täter und Opfer zeigen, dass Bezüge zu Dritten das Ausgleichsgeschehen nicht eben leichter machen, sondern aufgrund der Mehrschichtigkeit der Diskursstruktur die Annäherung des Täters an das frühere Opfer behindern. Sind Angehörige von toten Opfern jedoch bereit, einen Minimalkontakt zum Täter zuzulassen, hat dies dann freilich eine enorm erleichternde Wirkung auf Seiten des Gefangenen. Ein Fachdienstmitglied berichtet, wie mit seiner Hilfestellung eine für den Gefangenen wenn auch nur kurze, so doch erfolgreiche Kontaktaufnahme möglich wurde: „Habe ich einen gehabt, der hat einen 312
DIE ERGEBNISSE
Doppelmord begangen. Mit dem habe ich gesprochen, und der kam mit sich und der Welt nicht klar, war also suizidär. Dann hab ich zu ihm gesagt: ‚Wie wäre es, denn wenn du den Hinterbliebenen mal einen Brief schreibst?’ Sagt er: ‚Was soll ich denen denn schreiben? Die lesen das sowieso nicht.’ Sage ich: ‚Probier es doch, schreib doch einfach mal einen Brief. Wenn du willst, kannst du ihn mir ja zeigen. Kann ich dir sagen, ob das geht oder nicht geht.’ Vier Wochen, sechs Wochen hat es gedauert. Kam er wieder und hat einen Brief geschrieben. Hat gesagt ‚Herr Hilfreich, lesen Sie ihn mal durch.’ Ich muss sagen, also er hat versucht zu erklären, warum das so gelaufen ist, die ganzen Hintergründe und so weiter. Er hat den Brief also abgeschickt. Und tatsächlich nach einer Zeit, ich weiß nicht wie lange es gedauert hat, kam eine Karte. Da stand also auf dieser Karte so sinngemäß drauf: ‚Wir bedanken uns für Ihren Brief und können natürlich nicht akzeptieren, dass es so gelaufen ist. Aber wir danken für den Brief.’ Sage ich: ‚Was willst du denn noch mehr?’ Sicherlich, war klar: Ich habe auch nicht mehr erwartet, ich habe noch nicht mal erwartet, dass überhaupt eine Reaktion kommt. Aber für ihn war diese Karte ungeheuer wichtig.“ (FD II 1426-1442) Ein Ausgleichskontakt läuft jedoch nicht bei allen TOA-interessierten Gefangenen in derart aufrichtiger Weise ab. Ein beträchtlicher Teil des befragten Gefängnispersonals unterstellt den Gefangenen im strafverfahrensähnlichen TOA-Verfahren die bereits oben angesprochene Zweckrationalität. Sogar Gefangene geben diesbezüglich zu: „Täter-Opfer-Ausgleich hat eine Alibifunktion. Ich kenne zum Beispiel die Täter hier. Ich weiß, was sie bewegt. Der Täter-Opfer-Ausgleich wird nur dann praktiziert, wenn es dem Gefangenen einen Vorteil bringt. Ein Vorteil wäre kürzere Haft oder sonst was. Das ist das Einzige. Dass das jemandem leid tut oder so, also das gibt es nicht. Ist mir nicht bekannt.“ (GEF II 1135-1144) Ein AVD-Beamter hegt ähnliche Bedenken: „Weil, wer weiß schon, ob das ehrlich gemeint ist? Wer weiß schon, ob er das nur macht, weil es gefordert wird? Wer weiß schon, ob dadurch, dass ich das Opfer wieder an die ganze Geschichte erinnere, ob da nicht mehr kaputt gemacht wird, als was Gras über die Sache gewachsen ist? Also den TOA grundsätzlich anzuordnen oder zu fordern oder so, das halte ich für nicht gut.“ (AVD II 846-869) Ein Anstaltsleiter möchte den TOA als Konzept nicht aufgeben und authentische versöhnliche Gesprächskultur in seinem Gefängnis ermöglichen. Gleichzeitig beugt er einer möglichen strategischen Haltung auf Gefangenenseite auf folgende Weise vor: „Aber der TOA muss losgelöst von den Funktionen des Behandlungsvollzuges, des Strafvollzuges geschehen. Ich als Institution will davon nichts wissen, was da geschieht. Will auf der anderen Seite aber sehr wohl wissen, dass da ganz viel gemacht wird. Ich halte das für wichtig, dass das gemacht wird, möchte aber nicht beispielsweise, dass da ein Gefangener kommt und 313
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
sagt: ‚So, und jetzt habe ich Täter-Opfer-Ausgleich gemacht und jetzt möchte ich in Urlaub gehen. Jetzt möchte ich gar eine bedingte Entlassung haben.’ Denn wenn dieses Geschehen Täter-Opfer-Ausgleich irgendwo eingearbeitet würde, gewissermaßen in die Behandlungsmaßnahmen des Strafvollzuges, dann wäre das Opfer ganz schnell erneut Opfer. Dann würde es viele Gefangene geben, die sagen würden: ‚Na ja, locker, locker, gehe ich mal zu dem Opfer und sage, tut mir alles furchtbar schrecklich leid. Dann wird das dokumentiert, dass ich das gesagt habe, und dann kann ich demnächst sagen, so jetzt bitte ich um Urlaub. Ich habe mich ja mit dem Opfer auseinandergesetzt.’ Und in Wirklichkeit wäre das ja eben tatsächlich überhaupt nicht gewesen. Das Opfer würde eigentlich missbraucht. Das wäre erneut zu einem Opfer geworden. Zum Opfer der Nöte des Strafgefangenen, der eben Lockerungen haben will. Und deswegen sage ich, die Institution soll das individuell eigentlich gar nicht wissen und nicht verwerten. Aber die Institution soll alle Hebel in Bewegung setzen, dass das in allen Fällen, wo es sinnvoll ist, sowohl der Täter das im Ernst will oder im Ernst seine Tat bearbeiten will, dass das auch geschieht und ja auch als Höhepunkt sicher einer Tatbearbeitung auch zusammen mit dem Opfer.“ (AL I 1020-1049) Sein Kollege aus einem anderen Bundesland sieht das ähnlich: „Wir würden alles tun, um es zu ermöglichen. Da gibt es ja wiederum mehrere Formen. Es gibt den Täter-Opfer-Ausgleich in der Situation des Inhaftierten, der ihm angetragen wird, nach dem Motto: ‚Setz dich mal mit deinem Opfer auseinander.’ Es geht so um den psychischen, um den Gesprächsausgleich. Wenn ich dem das lange antragen muss oder wenn ich dem das schmackhaft machen muss, dann bringt es nichts. Dann habe ich wieder in aller Regel ein Zweckverhalten. Das heißt, es ist eigentlich nur sinnvoll, wenn jemand zumindest ansatzweise das Bedürfnis hat, sich mit dem Opfer auseinander zu setzen. Dann kann ich unterstützend wirken, das ist kein Problem, kein Thema. Aber das kommt extrem selten vor. Ich könnte Ihnen aus Jahren keinen Fall nennen.“ (AL VIII 941958) Ein älterer, über lange Jahre hafterfahrener Gefangener sowie ein junger, ebenfalls hafterfahrener Gefangener geben jedoch zu bedenken, dass bei den meisten der Inhaftierten ein völlig anderes Konzept davon vorhanden ist, was der Begriff TOA meint. Gefangene setzen den TOA konzeptionell mit der Schadenswiedergutmachung gleich: „Das hat sich einfach so eingebürgert in den Gedanken der Gefangenen. Täter-OpferAusgleich bedeutet für die einfach nur Bezahlen. Diese Thematik, dass ich Kontakt zu meinem Opfer suchen sollte und mich über die ganze Sache auseinandersetzen sollte, die steht überhaupt nicht zur Debatte.“ (GEF VI 584-621) Trotz aller Zweifel an der Bereitschaft auf Gefangenenseite zu einem aufrichtig durchgeführten TOA weisen nahezu alle 314
DIE ERGEBNISSE
Befragten darauf hin, dass das Opfer gegenüber dem Täter in vieler Hinsicht ins Hintertreffen gerät. Quer durch alle Befragtengruppen wird deutlich, dass es nicht bei den Feststellungen bleibt, sondern dass einige Befragte diesen Zustand verändern möchten. „Ich persönlich finde, da wird viel zu wenig getan. Es ist immer nur der Täter, der Täter, der Täter.“ (GEF III 1178-1189) „Wo geht denn das Opfer ein? Wir sehen es einfach nicht. Wir kriegen es einfach nicht mit. Wir sehen es vielleicht [nur] noch in der Akte.“ (AL III 1020) „Es wird sich mehr um die Täter gekümmert als um die Opfer. Das ist eindeutig das Manko. Mit dem Täter machen wir Therapie, der kann arbeiten. Aber das Opfer lässt man einfach, das bleibt halt. Und es gibt nicht so viele Leute, die sich um das Opfer kümmern, wie um die Täter. Es gibt eine Nachsorge für Gefangene. Aber es gibt wenig Menschen, die sich um Opfer kümmern.“ (WD III 1025-1030) Abgesehen von den Anstaltsleitern stellen wenige Befragte eigene Überlegungen an, wie den Opfern ein Gesprächsforum geboten werden könnte. Dieses sollte außerhalb des Strafvollzugs angesiedelt sein. Ein TOA-Geschehen im Gefängnis ist für die Befragten undenkbar. Ein Befragter möchte das Opfer sicher im Rathaus untergebracht wissen und geht in seinen Überlegungen erst gar nicht auf das Gefängnis ein: „Das ist auch das, was uns ein bisschen traurig stimmt. Hier kommt ein Therapeut nach dem anderen und es werden ganze Einrichtungen eingerichtet. Und das Opfer da draußen muss alles selber bezahlen.320 Muss hinund herrennen, hat vielleicht kein bisschen Geld, das zu bezahlen, gerade vielleicht aus der Familie oder von den Eltern. Wenn man dann sieht, was die Gefangenen alles kriegen und wie damit umgehen, dann letztendlich. Die kriegen dann neue Möbel, und das wird zerschlagen, das wird behandelt wie. Und dann: kriegt Neues, kriegt Neues. Da sagen wir dann: ‚Das kann doch nicht wahr sein.’ Und das ist dann eigentlich das, was für uns eine Ungerechtigkeit ist, richtiggehend. [I: Was denken Sie denn? Wie könnte man das Opfer besser einbinden?] Wenn man die Leute, die sich hier um die Gefangenen kümmern, die Hälfte davon kümmern sich um die Opfer da draußen, die da draußen Probleme haben. [I: Und dass die hier reinkommen, die Opfer oder wie?] Nö, dass man ein Büro einrichtet. Ob das auf dem Rathaus ist oder sonst wo. Also einen Anlaufpunkt, wo man hingehen kann als private Person oder was weiß ich. Dass man sein Seelenheil runterreden kann.“ (WD IV 637661) 320 Diese Aussage trifft nicht zu. Es gibt Opferanwälte, eigene Einrichtungen für die psychosoziale Betreuung von Opfern sowie inzwischen sogar ein Opferschutzgesetz. Alle diese Institute verfügen jedoch noch nicht über einen nennenswerten Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung. Vgl. hierzu auch das Opferschutzgesetz aus dem Jahr 1986. 315
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Sogar Fachdienstmitglieder, die mit der Behandlung des Gefangenen beauftragt sind, äußern sich kritisch darüber, dass es im Strafrecht offenbar eine Ungleichverteilung der psychosozialen Unterstützung und Therapie zugunsten der Täter im Gefängnis gibt: „Das Opfer ist weitestgehend mit sich alleine gelassen. Es muss gucken, wie es damit zurechtkommt. Während der Straftäter: Da läuft sofort ein ganzer Apparat von verschiedenen Mechanismen. Also wenn man dann bis zum Psychologen dann greift. Also ein riesiges Hilfsangebot. Also nicht nur Straf-, sondern auch Hilfsangebot. Und das Opfer muss selber schauen. Das Opfer muss von sich aus den Weg alleine gehen. Und ich denk, das ist ein ganz großes Manko in unserem ganzen Strafvollzugsgeschehen, dass niemand sich verantwortlich fühlt.“ (FD I 543-625) Der Befragte gibt außerdem zu bedenken, dass die Sprecherrechte beim gefängnisinternen TOA zugunsten des Täters verteilt sind: „Und das Kuriose ist ja auch, es gibt diesen Täter-Opfer-Ausgleich. Und von der Geschichte her hat man den natürlich auch so aufgezäumt, dass man über den Täter arbeitet. Der Täter entscheidet jetzt in so einer JVA: ‚Ich mache eine freiwillige Tataufarbeitung.’ Und in dieser Tataufarbeitung steht der Gedanke drin, das gibt eine Brücke zum Opfer. Dass da in irgendeiner Form eine Begegnung wieder passiert. Oder eine Auseinandersetzung passiert. Aber der Weg, was in den letzten Jahren so gegangen worden ist, ist der Weg über den Täter zum Opfer. Und auch hier steckt bereits wieder ein Manko drin. Weil der Täter sitzt von mir aus zwei, drei Jahre. Der entscheidet sich, er macht jetzt diesen Täter-Opfer-Ausgleich mit. Keiner weiß, wo steht denn das Opfer jetzt nach zwei, drei Jahren? Und plötzlich kommt von außerhalb irgendwie unser Verein, arbeitet mit dem Täter XY. Und da ist natürlich ein Opfer konfrontiert. Und ich weiß nicht als Außenstehender, was das jetzt genau mit dem Opfer macht. Das kann sowohl positiv wie negativ sein.“ (FD I 543-625) Beamte, die sich um eine Behandlung des Gefangenen bemühen und dabei die Bedeutung der Partei des Opfers nicht außen vor lassen wollen, befinden sich in einem Handlungsdilemma, weil das Opfer auf keiner Ebene, weder auf der abstrakten noch auf der faktischen Ebene im Strafvollzugsgeschehen anwesend ist. Manche Beamte ziehen daher ihr berufliches Selbstkonzept nicht unerheblich in Frage. „Dann hat man dann immer in so einen inneren Zwiespalt. Man weiß genau, dass für die Opfer eigentlich viel zu wenig getan wird. Hier drin tun wir eigentlich den ganzen Tag nur für die Gefangenen. Und da stellt sich dann natürlich manchmal schon die Frage: Ich werde zwar meinem Beruf gerecht mit dem, was ich tue – aber werde ich auch mit meinem Anspruch der Gesellschaft gerecht, wenn ich eigentlich die ganze Zeit nur für die Täter tue und nicht für die Opfer tue?“ (AVD I 1065-1072) Im ungünstigen Fall praktizieren die Beamten dann Selbstjustiz, um ihrem berufsethi316
DIE ERGEBNISSE
schen Zweifel zu genügen: „Jetzt mal als Fallbeispiel: Eine Gefangene kommt zu mir. Ich weiß, die hat ihr Kind auf das Brutalste umgebracht, und die kommt an und sagt: ‚Oh, mir schmerzt der Kopf.’ Na ja. Da dann nicht zu sagen: ‚Dir tut ja bloß der Kopf weh, jemand anders hat was anderes weh getan.’“ (AVD IX 1000-1004) Auffällig sowohl im Rahmen der Befragung, als auch während der teilnehmenden Beobachtung war, dass die Beamten fast nie von allein auf das Opfer von jeweiligen Straftätern zu sprechen gekommen sind. Sobald ich das Opfer jedoch erwähnte, fanden manche Beamte in Erörterungen darüber, welches die beste opferberücksichtigende Bestrafung sei, kein Ende. Manchem Beamten, wie etwa folgendem Anstaltsleiter, würde es möglicherweise auch die Arbeit mit den Gefangenen erleichtern, wenn sie mehr über die Identität und das Leben des Opfers wüssten. Der Anstaltsleiter meint, dass er dann besser stellvertretend für das Opfer gegenüber dem Täter argumentieren könnte: „Wir haben keine Erfahrung mit Opfern. Was wissen wir, was bei einem Betrüger draußen vielleicht die Familie denkt, die betrogen worden ist, das Haus verkaufen muss, umziehen muss, in eine andere Gegend ziehen muss? Was dort abgeht: Wir wissen es nicht. Wir können es höchstens erahnen. Was wissen wir, was jemand erlebt, der niedergeschlagen worden ist? Weil man selber das nicht erlebt hat. Und genau das ist der Bereich, der hier dazugehören würde. Was können Opfer sagen? Wie sieht die Geschichte aus, um eventuell auf den Täter, wenn man diesen Aspekt mit reinbringen möchte, klarzumachen: ‚Pass auf: Was richtest du außer materiellem Schaden bei der Person an?’“ (AL III 1020-1041) Mitarbeiter des Strafvollzugs scheinen in der Tat darauf angewiesen zu sein, im Rahmen der Tataufarbeitung stellvertretend für die Partei der Opfer zu sprechen. Ein Beamter des Fachdienstes zieht etwa seine eigenen Erfahrungen als ehemaliges Opfer einer Straftat heran und nimmt diese als Anlass, sie den Gefangenen zu schildern: „Deswegen versuche ich auch meinen Jungs immer klar zu machen, wie das in der anderen Situation ist. Wie fühle ich mich, wenn ich zum Beispiel beklaut werde? Neulich hat man mir das Portemonnaie geklaut, das beste Beispiel. War an der Tankstelle. Dann kam ich in meine Gruppenstunde. Habe ich das mal erzählt, wie ich mich gefühlt habe. Dass man mir das Portemonnaie geklaut hat. Habe ich gesagt: ‚Jetzt ehrlich, wer von Euch hat geklaut? Wie fühlst du dich denn jetzt?’ Da kam eine tolle Diskussion.“ (FD II 1444-1450) Abteilungsbeamte machen ähnliche Versuche, dem sprachlosen Opfer eine Stimme zu verleihen – auch wenn sie während ihrer Abteilungsarbeit weitaus weniger Gelegenheit dazu haben als die Fachdienstmitarbeiter in ihren Gruppenstunden: „Ich versuche schon immer ein bisschen, ein Bewusstsein dafür zu wecken bei den Entsprechenden, dass sie sich jetzt vielleicht einmal in das Opfer hineinversetzen. Dass er 317
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sagt, dass das ihm bewusst wird irgendwann mal: ‚Aha, eigentlich habe ich jetzt nicht, weil ich das geklaut habe, einen Vorteil gehabt, sondern es hat jemand anderer einen Nachteil gehabt.’ Also das sind so die Dinge, wo ich jetzt speziell, und ich denke auch die anderen Kollegen in der Wohngruppe, ungefähr vom Prinzip her die gleiche Richtung verfolgen. Wir wollen ja was verändern. Nicht nur, dass die sich formal anpassen hier an den Knast, sondern dass sich irgendwo eine Einstellungsänderung vollzieht. Also in der Richtung arbeiten wir schon.“ (AVD II 7182) In welchem Maße Beamte ihrer opfervertretenden Sprechertätigkeit authentische Züge verleihen, hängt entscheidend davon ab, in welcher Weise sie sich in die Opfer verschiedener Deliktformen hineinversetzen können. Weibliche Abteilungsbeamte etwa müssen sich in besonderem Maße gegenüber Sexualstraftätern zusammenreißen: „Ich sage einem Gefangenen durchaus auch mal meine Meinung zu seiner Tat. Wie ich es persönlich sehe. Ich grenze das auch ganz konkret ab und sage zum Beispiel, wenn ich jetzt gerade bei Männern. Bei Sexualdelikten habe ich einem Mann schon mal gesagt: ‚Ich hätte dürfen die Mutter des Kindes nicht sein.’ Jetzt habe ich aber eine ganz andere Rolle hier. Wenn ich aber daran denke, dass ich auch eine Tochter habe, die in der gleichen Situation sein könnte, wüsste ich nicht, was ich mache. Das habe ich ihm auch so gesagt. Der hat das auch so einfach akzeptiert. Kann man nicht mit jedem machen. Aber ich versuche wirklich – bis jetzt ist es mir recht gut gelungen – das zu trennen. Ich bin hier Bedienstete und nicht die Mutter meiner Tochter. Das ist nicht leicht. Ich versuche das. Das muss man auch irgendwie auf die Reihe kriegen, sonst geht man kaputt.“ (AVD [Nummer der befragten Beamtin sowie Zeilenangabe aus Anonymitätsgründen gelöscht]) Ein weiterer Beamter hingegen empfindet die stellvertretende Opferrede gegenüber den Gefangenen als unbefriedigend. Aus diesem Grund würde er einem authentischen Täter-OpferAusgleichsgespräch den Vorzug geben: „Niemand besser als das Opfer kann genau diese Gefühle und die Situation schildern. Sonst, wenn wir ihm hier als Bedienstete sagen: ‚Mein Gott, hast du denn mal daran gedacht, was der empfunden hat, als der da unten lag und du noch dreimal in den Bauch getreten hast?’ Das veranlasst eben den Täter in der Regel nicht, sich so sehr damit zu beschäftigen, als wenn eben das Opfer dies selber schildert.“ (AVD VII 986-1014) Bei aller Anteilnahme für die Opfer von inhaftierten Straftätern zeigt sich eine Reihe von Beamten skeptisch, ob nicht der TOA auch daran scheitert, dass die Opfer einen zweiten Kontakt mit dem Täter scheuen und zu einem Gespräch nicht bereit sind. Ein Anstaltsleiter benennt es wie folgt: „Der TOA ist schwierig. Manche Opfer wollen mit dem Täter gar nichts mehr zu tun haben, sind froh, wenn diese schlimme Erfahrung 318
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vorbei ist. So dass das Opfer sicherlich ein Anrecht hat, irgendwas zu sagen zu dem Thema. Aber es dem Opfer überlassen bleiben müsste, wann es bereit ist, etwas zu sagen und ob es das will überhaupt. Natürlich könnte man da auch Anstöße geben. Jedenfalls muss das Opfer bereit sein, muss es wollen. Das darf man eben nicht überfahren, denke ich.“ (ALIV 1237-1256) Ein Abteilungsbeamter ergänzt sarkastisch: „In der Regel will man ja mit jemand, der einem Schaden zugefügt hat, weniger zu tun haben. Außer man hat die Einstellung wie der Papst, seinen Attentäter im Knast zu sprechen und dann heilig zu sprechen. Ich meine, so ein Heiliger soll einem nicht unbedingt ein zweites Mal über den Weg zu laufen.“ (AVD II 826-831) Die vorangegangenen Ausführungen zum TOA in der Praxis zeigen, dass sich der Großteil der Befragten einige Gedanken zu dem Thema macht – wenn sie dieses Geschehen auch nicht unbedingt immer „TäterOpfer-Ausgleich“ nennen mögen. In den Argumenten finden sich jedoch hauptsächlich Überlegungen zur Rolle von Täter, Opfer und der eigenen Verhaltensweise als Beamter bzw. Gefangener. Die Institution Gefängnis als eine den TOA ermöglichende oder behindernde Instanz wird nicht thematisiert, obwohl ich danach explizit, regelmäßig und eindringlich gefragt habe. Während meiner vorangehenden teilnehmenden Beobachtungen hatte ich mich gefragt, ob es im Gefängnis entsprechend ausgebildete Mediatoren gibt, ob es Räumlichkeiten gibt, in denen auch ein Opfer anwesend sein darf. Das Problem fängt nämlich schon dort an, wo man einen Ort für das Ausgleichsgespräch einrichten könnte: Die Büros der Fachdienstmitglieder sind in der Regel die am freundlichsten eingerichteten Räume in Gefängnissen. Sie sind jedoch meistens im inneren Haftbereich der Gefängnisse angesiedelt, den gefängnisexterne Personen, also auch Opfer, nicht betreten dürfen. Im kargen Besucherbereich mit seinem Wartehallencharakter würde sich wohl keiner der TOATeilnehmer wohlfühlen. Meine Frage, inwiefern ein TOA im Gefängnis möglich sei, wurde allerdings anders verstanden als ich sie gemeint hatte. Ein Anstaltsleiter beispielsweise bezieht sich ausschließlich auf die gesamte Justiz als Institution, die sich mittels des Strafverfahrens zwischen Täter und Opfer schiebt und deren Konfliktgespräch von Beginn an verhindert: „Es ist aber halt ungeklärt, wie viel die professionelle Justiz, die institutionale Seite der Justiz, in dem Bereich zulässt beziehungsweise verhindert. Ich fürchte, dass zumindest unser System, was wir haben, Täter-Opfer-Ausgleich eigentlich ständig verhindert, weil man die Täter ja nicht zu den Opfern und die Opfer nicht zu den Tätern lässt. Da schiebt sich ja immer der Herr Staatsanwalt dazwischen mit seinen staatlichen Vorstellungen.“ (AL II 668-915 ) Auch ein Gefangener meint, es spiele keine Rolle, wo das TOAGespräch stattfindet. Er meint: „Ich denke, der Platz spielt keine Rolle in 319
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dieser Sache.“ (GEF I 537-554) Es wäre aber auch gar nicht damit getan, wenn der TOA im Gefängnis einen Platz im materiellen Wortsinn hätte. Ein Anstaltsleiter macht deutlich, dass ein TOA-Geschehen, da es in der Regel länger andauert, auch einen festen Platz im Arbeitsbereich ein und derselben Zuständigkeit haben müsste, um erfolgreich zu verlaufen. Er klagt über die wechselnden Ansprechpartner, die einen Gefangenen im Lauf seines strafrechtlichen Werdegangs begleiten und auch im Fall eines TOA begleiten würden: „Aber dann müsste ich insgesamt den Vollzug, insgesamt das System ändern. Da darf auch nicht der Bewährungshelfer draußen extra sein, wie unser System momentan läuft: Wenn die Bewährungshilfe nicht mehr zuständig ist, ist der Vollzug zuständig. Wenn der Vollzug nicht mehr zuständig ist, ist die Bewährungshilfe zuständig. X-beliebige Personen. Jeder fängt von vorne an. Das geht im Vollzug weiter. Wenn er von einer Anstalt in eine andere kommt, dann fangen wir wieder neu an. Wo sind die Berichte? Wir fangen jedes Mal neu an. Man sucht einen Teil aus der Akte raus. Aber mehr findet man nicht. Wird er entlassen, kommt wieder rein. An sich müssen wir beim Alten ansetzen. Wenn ich es idealtypisch sehe, müsste ich eine einheitliche Sache machen. Nur dann kann ich den Menschen richtig erfassen. Das ist genauso, wenn ich ein Kind erziehe. Die ersten zwei Jahre beim A, die nächsten zwei Jahre beim B, wieder anders beim C – jeder Pädagoge sagt: ‚Das geht nicht, das geht daneben.’ Genau das machen wir, obwohl dieses erzieherische Moment bei denen nicht greift. Genau das machen wir im Vollzug.“ (AL III 1046-1065) Ein Beamter sieht den Grund für die mangelnde Eignung des Gefängnisses als Ort für TOA in der einseitigen Ausrichtung dieser Maßnahme auf den Täter: I
„Glauben Sie, dass das Gefängnis die Gesprächskultur Täter-OpferAusgleich eher fördert oder behindert?“ AVD „Behindert.” I „Wollen Sie noch sagen, warum?“ AVD „Ja, weil ich eben wirklich denke, dass die Institution Gefängnis darauf ausgelegt ist, täterbezogen zu arbeiten und nicht opferbezogen.“ (AVD I 1117-1121)
Nur ein Beamter erwähnt die Frage nach den Räumlichkeiten und der zeitlichen Organisation, in denen ein TOA stattfinden könnte. „Aber es ist vielleicht doch rein von der technischen Seite aus nicht zu lösen. In Bezug auf Räume. Und mit der Zeitbestimmung und so weiter.“ (WD V 545-555) Dass die totale Institution Gefängnis nicht gleichzeitig bestrafen und als ein zwischen den Konfliktparteien vermittelnder Akteur tätig werden kann und dass gerade die Anbahnung von Kontakten zwischen 320
DIE ERGEBNISSE
Täter und Opfer über das Gefängnis problematisch ist, beweist die Äußerung des folgenden Fachdienstbeamten: „Wir meinen: Ha ja, nach zwei Jahren schreiben wir das Opfer an und sagen: ‚Hey toll, schau mal, was es Tolles gibt für dich.’ Also, ich will einfach sagen, das ist eine echte Schwierigkeit, wo wir drinstecken. Das Angebot für das Opfer. Und wir haben jetzt einen Versuch gestartet, der sieht so aus: Das ist unsinnig, nur über den Täter zu gehen. Also die Brücke Täter-Opfer. Sondern wir müssen unabhängig vom Täter dem Opfer ein Hilfsangebot machen. Und dieser Versuch ist gemeinsam mit dem Herrn Schlips gestartet worden. Sprich, es gibt hier eine Akteneinsicht. In diesen Akten stehen die Adressen der Opfer drin, die JVA schreibt einen Brief: ‚Der Täter sitzt hier, aus den Unterlagen haben wir Ihre Adresse und wir möchten Sie auf ein Hilfsangebot des Vereins [Name des Vereins anonymisiert] hinweisen.’ Punkt. In diesem Schreiben liegt ein geschlossenes Kuvert von diesem Verein, in dem dieser Verein sein Hilfsangebot darstellt. Und das ist ein Versuch, aus der Motivation entstanden, wie kann man auch ein Opfer, also der Opferseite ein Hilfsangebot näher bringen? Wo die sich vielleicht ganz gezielt noch mal entscheiden, also befassen können: ‚Brauche ich was oder brauche ich nichts?’ Das Problem ist natürlich auch, wenn die JVA einen Brief verfasst und das Opfer kriegt JVA [Name der Anstalt anonymisiert] da als Absender. Das ist dann natürlich auch schon wieder Scheiße. Und dieser Verein kann die Leute nicht direkt anschreiben, weil: ‚Woher haben die meine Adresse?’ Das ist ja auch ein rechtliches Problem. Die JVA kann, darf ja keinerlei Adresse rausgeben.“ (FD I 639-678) Vermittler zwischen Täter und Opfer müssen aber auch rechtsstaatliche Grundsätze im Auge behalten und sollten dem Opfer signalisieren, dass sein Schutz in der Anonymität nicht gefährdet ist. In manchen Interviews erschien mir bereits die Frage nach dem strafvollzuglichen Täter-Opfer-Ausgleich absurd, da die Befragten bei aller theoretischer Zustimmung sich auf praktischer Ebene eher skeptisch, ja sogar belustigt äußerten: FD
I FD I FD I
„Das ist im Gefängnis in so weit möglich, dass man irgendwo einen Rahmen schafft, dass das Opfer und der Täter nicht mitkriegen, dass sie im Gefängnis sind.“ „Jetzt habe ich es akustisch nicht verstanden: Dass das Opfer?“ „Der Täter und das Opfer dürfen nicht das Gefühl haben, im Gefängnis zu sein.“ „Wie soll das denn gehen?“ „Eben.“ [lacht] [lacht]
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FD
“Deswegen stelle ich mir das sehr schwer vor. Es sei denn, ich versuche es im offenen Vollzug. Aber im geschlossenen Vollzug, denke ich, sollte der Täter sich irgendwo an einem neutralen Ort mit dem Opfer treffen können. Weil der Täter hat immer im Kopf: ‚Oh Gott, ich bin im Knast. Und jetzt bin ich immer Knast und jetzt soll ich mich hier auch noch mit dem Opfer auseinandersetzen.’“ (FD III 123-137)
Es gibt vereinzelt jedoch auch Befragte, die ein Ausgleichsgeschehen im Gefängnis für machbar halten. Folgender Beamter hält es für nachgerade vorteilhaft, wenn sich beide Konfliktparteien darüber im Klaren sind, dass sie sich im Gefängnis befinden: I
„Kannst du dir vorstellen, dass der im Gefängnis stattfindet, der TäterOpfer-Ausgleich?“ WD „Könnte stattfinden, ja.“ I „Besser als draußen oder schlechter als draußen?“ WD „Ich weiß nicht. Da bin ich in einem gewissen Zwiespalt. Das Opfer wird sich sicherer fühlen, wenn so was im Gefängnis stattfindet. Weil wenn das Opfer dem Täter draußen begegnet, ist wahrscheinlich die Angst größer als im Gefängnis. Im Gefängnis der schützende Rahmen, der hier vorherrscht. Und das Opfer wird wahrscheinlich mutiger werden als draußen. Draußen ist das Opfer hilflos und es ist keiner da. Hier drin, da weiß das Opfer: ‚Auch wenn ich jetzt nicht mehr will, dann kann ich einfach raus. Dann ist es für mich erledigt.’ Und draußen gibt man doch schon viel Privatsphäre preis. Der Täter weiß oft, wo das Opfer wohnt und wo das Opfer verkehrt. Und man ist schon in so einer Hilflosigkeit drin. Das ist im Vollzug hier nicht so stark. Da ist die schützende Hand der Einrichtung noch da.“ (WD III 1045-1059)
Bei näherem Hinhören findet der TOA in manchen Gefängnissen sehr wohl Anwendung, und zwar im Bezug auf den Konfliktstoff, der innerhalb der Gruppe der Gefängnisangehörigen verteilt ist: „Der TäterOpfer-Ausgleich über die Mauer hinweg ist selten. Der Täter-OpferAusgleich innen ist sogar recht häufig. Er wird mir nur recht schwer gemacht, weil die Aufsichtsbehörde das nicht mag. Ich allerdings bin ein großer Anhänger davon. Das heißt, die Verletzungen, die sich Gefangene alltäglich zufügen. Ein Schubs, Backpfeife oder auch nur mal eine ganz üble Beleidigung oder Nachrede oder so was, die kann man ja auch ausgleichen. Und da haben unsere Sozialarbeiter und Psychologen eigentlich auch immer wieder gute Ansätze gemacht, dass man also die Betreffenden zusammenbringt und dass man auch eine Genugtuungsleistung erbringt. Also zunächst mal, dass man sich ausspricht, dass man 322
DIE ERGEBNISSE
sich ein Stück weit versöhnt. Aber beispielsweise ist eine der gängigen Methoden, dass der Täter jetzt dem Kreis, der da zusammensitzt, einschließlich des Sozialarbeiters, Kakao und süße Stückchen spendiert auf seine Kosten. Das versüßt die Sache, schafft Gemeinsamkeit und ist ja bei uns immer noch etwas Außergewöhnliches.“ (AL II 942-956) Manche der Beamten, die häufiger einen Konflikt mit den Gefangenen auszutragen haben und dabei Opfer von Beleidigungen oder physischer Gewalt werden, halten den TOA für eine angemessene Form der Konfliktschlichtung: „Oder auch so eine Sache einfach auszudiskutieren, nicht immer sofort eine Disziplinarmaßnahme zu verhängen, sondern auch mal so in der Art, Täter-Opfer-Ausgleich oder irgend so was mit dem Gefangenen zu machen. Dass man halt nicht sofort bestraft, sondern dass man andere Wege findet, sich irgendwo zu einigen.“ (AVD VI 7888) Solche „anderen Wege“ sich zu einigen, können häufig nur dann stattfinden, wenn der Einigungsprozess von einem professionellen Mitarbeiter begleitet wird. Der eben zitierte Anstaltsleiter hat in seinem obigen Zitat nicht zufällig auf einen Sozialarbeiter verwiesen, der im Kreis der Ausgleichenden anwesend ist. Die Tatsache, dass eine so fragile Gesprächskonstellation wie der Täter-Opfer-Ausgleich nur vermittelt durch einen Dritten stattfinden kann oder sollte, wird allerdings nur von zwei der Befragten erwähnt: „Aber wenn das zu extrem wird, muss aber auch derjenige, der teilnimmt, auch sagen: ‚Jetzt geht es nicht mehr. Jetzt muss ich aussteigen, sonst wird es schlimm für mich.’ Und dass da jemand dabei ist oder das leitet, der das erkennt, es wird für irgendeine Partei unerträglich. Finde ich wichtig. Dass so ein Supervisor dabei ist, der dann sagt: ‚Halt, stopp, wir müssen abbrechen, das wird sonst viel, viel schlimmer, als dass es vorher war.’“ (WD III 1035-1044) „Dass man über eine neutrale Person auf jeden Fall zuerst mal Verbindungen zu beiden aufnimmt. Vielleicht zunächst mal zum Opfer. Ob der überhaupt bereit ist, sich mit dem Täter auseinander zu setzen. Also ob das schon so weit ist, sich mit demjenigen auseinander zu setzen und ob der Täter überhaupt bereit dazu ist, das zu tun. Aber das ist ja nicht der Fall. Leider.“ (GEF III 1197-1209). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der mauerübergreifende Täter-Opfer-Ausgleich in der strafvollzuglichen Praxis auf allen Seiten als interessantes, jedoch noch weitgehend unbekanntes Experimentierfeld angesehen wird. Gleichzeitig erachtet es jedoch ein Großteil der Befragten als notwendig, auf die ungehörten Opfer hinzuweisen. Diese Haltung mündet in die Versuche auf seiten der Beamten, stellvertretend Opfersprecher zu sein. Der gefängnisinterne TOA wird jedoch bereits jetzt gerne in solchen Fällen angewendet, in denen Gefangene untereinander Konflikte austragen oder in denen zwischen Beamten oder Gefangenen 323
SPRACHKULTUR IM STRAFVOLLZUG
Täter-Opfer-Beziehungen bestehen. Über die Frage, inwieweit sich das TOA-Konzept im Gefängnis implementieren lässt, hat man sich nur vereinzelt auf Anstaltsleiterebene Gedanken gemacht. Viele Strafvollzugsangehörige müssen darauf hingewiesen werden, dass ein TOA eines Organisators bedarf, der die Gesprächskultur sozusagen pflegt. Solche Personen können sich bei ihrer Tätigkeit nicht auf die Literatur verlassen, die es zum strafverfahrensbezogenen TOA gibt, denn dessen Bedingungen sind anderer Art. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele eine knappe Reflexion darüber stattfinden, wie ein gefängnisinternes TOAGeschehen aus der Perspektive bisheriger linguistischer empirischer Forschung zu bewerten ist: Werner Nothdurft stellt fest, dass die kommunikativen Dimensionen von Schlichtungsgesprächen, zu denen meiner Meinung nach auch der TOA zu zählen ist, in der herkömmlichen Sozialforschung keine Berücksichtigung gefunden hat.321 Ich möchte mich der aus einer Gesprächsanalyse resultierenden Ergebnisse Nothdurfts bedienen, um mit ihnen die möglichen Bedingungen, unter denen ein mauerübergreifender TOA stattfinden könnte, zu skizzieren. Bei Nothdurft treffen wir wieder auf die arendtsche Gewebemetapher, mittels derer eine Sprachgemeinschaft und auch ein zwischenmenschlicher Konflikt beschrieben werden können. Der Konflikt „bildet sich im Reden der Streitparteien und des Schlichters sukzessive heraus, er wird stofflich, wird zum textuellen Gewebe, an dem die Beteiligten arbeiten, an dem sie weben, flicken und das sie aufdröseln.“322 Nothdurft meint damit, dass ein Konflikt sich in den Köpfen der Beteiligten durch unterschiedliche Perspektiven auszeichnet und dass eine Annäherung dieser Konfliktvorstellungen im Schlichtungsgespräch erreicht werden kann. Damit widerspricht sein Konzept vom Konflikt und seiner Bearbeitung demjenigen der traditionellen Justiz. Diese sei bestrebt, den Sachverhalt möglichst lückenlos darzustellen. Damit stehen sich die Konfliktbearbeitungstypen „Schlichten“ und „gerichtliches Verfahren“ als miteinander unvereinbar gegenüber, denn Ziel der Schlichtung ist die Ausarbeitung einer “konsensfähigen Version in relativer Unabhängigkeit von ihrem Wahrheitsgehalt.“323 Vielfach liegt jedoch der praxisorientierten TOAKonzeption eben jenes traditionelle Bild vom Konflikt als fassbarer Entität zugrunde. „Der Unterschied von Konflikt und Konfliktbearbeitung suggeriert, daß es eine Konfliktsubstanz gebe, die von der Bearbeitung zu trennen wäre.“324 Ein Abweichen von dieser Grundannahme ist in der Praxis darum kaum möglich. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn den Konfliktparteien im Gefängnis eine eindeutige Rollenidentität 321 Vgl. Werner Nothdurft: Schlichtung, Berlin: de Gruyter 1997, S. 2. 322 W. Nothdurft: Schlichtung, S. 1. 323 W. Nothdurft: Schlichtung, S. 15. 324 W. Nothdurft: Schlichtung, S. 9. 324
DIE ERGEBNISSE
im Rahmen des Konfliktes zugeschrieben wird. Die im Kapitel „Gefangenenpersonalakte“ herausgearbeitete Funktion derselben zeigt, dass sich ein erheblicher Teil der Diskurse am vermeintlichen Wahrheitsgehalt der GPA festmacht. Der Schlichter sollte sich deshalb während des Täter-Opfer-Ausgleichs darüber im Klaren sein, dass alle Beteiligten, namentlich nach Beendigung der Gerichtsverhandlung, feste Rollenvorstellungen im Kopf haben und den Konflikt als eine Art materielle Einheit betrachten. Dies verleitet dann immer wieder dazu, nach dem kriminalpolitisch vorgezeichneten Weg des „naming, blaming, claiming“ zu verfahren.325 Ein TOA-Vermittler muss damit rechnen, dass Täter und Opfer sich im Verlauf des vergangenen Strafverfahrens in ihren Rollen als Täter und Opfer „eingerichtet“ haben. Diese Rollen sind zwangsläufig so angelegt, dass die jeweiligen Beschreibungen des Konfliktgeschehens besonders rivalisierend ausfallen.326 Wie bereits im Kapitel über „Rechtfertigungen“ gezeigt wurde, haben die Kriminalsoziologen David Matza und Gresham Sykes nachgewiesen, dass solche Beschreibungen jede für sich plausibel sind. Nothdurft weist darauf hin, dass solche rivalisierenden Beschreibungen in der Wahrnehmung eines Dritten, eines Schlichters, als miteinander unvereinbar erscheinen. Darum ist ein Mediator darauf angewiesen, seine eigene dritte Position nicht zu verlieren. Dies gelingt umso besser, je mehr sich der Schlichter bewusst macht, welches die übergeordnete Sozialbeziehung beider Parteien ist. Diese stehen nicht nur als Konfliktpartner einander gegenüber, sondern begegnen sich in unserem thematischen Zusammenhang auch als der gefangene bzw. freie Bürger. Hier fällt es doppelt schwer, allein mittels eines Gesprächs für eine Normalisierung der Beziehung zu sorgen. Diese ist allerdings nach Nothdurft die zentrale Aufgabe eines Schlichters. Er soll gerade nicht versuchen, zur Klärung des Konfliktsachverhalts beizutragen.327 Um eine Normalisierung der Konfliktparteien zu erreichen, sollte der Schlichter sich nicht scheuen, die Konfliktgesichtspunkte auszuwechseln und diese der Wahrnehmung der Konfliktparteien anzupassen. Sobald der Schlichter eine aus seiner epistemischen Perspektive für Täter und Opfer sinnvolle Konfliktversion erarbeitet hat, sollte er herausfinden, inwiefern die Konfliktparteien seiner Version einen positiven Wahrheitswert zuordnen können. Erst dann kann man von einem gegenseitigen Verständnis sprechen. Allerdings entwirft Nothdurft eine pessi325 Vgl. Felstinger et al., zit. n. W. Nothdurft: Schlichtung, 1997, S. 11. 326 Nothdurft listet einige sprachliche Strategien auf, mittels derer ein Täter seine volle Verantwortung für das Geschehene bestreitet. Hierzu zählen alternative Darstellungen des Konflikts, Lächerlichmachen des Gegners, Gegenanschuldigungen, Darstellung des Gegenübers als streitsüchtig. Vgl. hierzu W. Nothdurft: Schlichtung, S. 54. 327 Vgl. W. Nothdurft: Schlichtung, S. 80. 325
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mistische Erfolgsprognose für das Betreiben einer solchen Beziehungsnormalisierung: „Man sollte nicht zu viel erwarten. Unverständnis scheint eher der Normalfall menschlicher Kommunikation zu sein.“328 Schließlich möchte ich noch auf zwei spezielle Ergebnisse von Nothdurfts Studie eingehen, die die Aspekte der erneuten Opferwerdung durch den TOA sowie das hartnäckige Schuldunbewußtsein der Gefangenen betreffen. Die Überlegungen der Strafvollzugspraktiker gehen, wie gezeigt, davon aus, dass das Opfer eine erneute gedankliche Auseinandersetzung mit dem leidvollen Geschehen scheut. Hier kann der Mediator im Gespräch versuchen, mittels sogenannter Pro-Formen die biographisch „wunden Punkte“ des Opfers verbal zu umschiffen. Bei der Verwendung von Pro-Formen werden komplexe Textpassagen durch kurze vertreten.329 Dies sei an einem Beispiel erläutert: Ist das Opfer über einen längeren Zeitraum mit einer Waffe bedroht worden, so kann im Gespräch das detaillierte Geschehen so abgekürzt werden, dass der Mediator und alle am TOA Beteiligten „nur“ noch von „der Sache mit der Waffe“ sprechen, anstatt hier erneut ins Detail zu gehen. Je knapper die Pro-Formen ausfallen, desto weniger plastisch und lebendig mag dem Opfer das geschilderte Geschehen vorkommen. Allerdings besteht hierbei die Gefahr, dass der Täter sich wiederum diese Strategie zunutze macht, um vom Thema abzulenken. Sein Einlenken, das seinen Teil der Verantwortung betrifft, muss bei aller Pro-Formulierung gewährleistet bleiben. Möglicherweise würden mehr Gefangene am Täter-Opfer-Ausgleich teilnehmen, wenn sie anhand der Schilderung ihrer Tathandlung und deren schwerwiegender Bedeutung nicht bloßgestellt würden. Dem Schlichter stehen nach Nothdurft dazu folgende sprachliche Mittel zur Verfügung: Die Modalisierungstechnik ermöglicht es, auf entschärfte Weise auf die Existenz eines Konfliktes hinzuweisen, ohne dass dabei ein verbaler Zeigefinger ausgestreckt wird. Dabei kann der Mediator seine Sätze etwa mit der Wendung „Könnte es nicht sein, dass...“ einleiten. Es spricht, folgt man Nothdurft, zunächst nichts dagegen, die Anschuldigung in eine entschärfte Fassung zu bringen und das Verhalten auf angemessene Weise als entschuldbar darzustellen.330 Zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich im Gefängnis gäbe es noch eine ganze Reihe weiterer linguistischer Überlegungen anzustellen, jedoch bieten meine Daten dazu kein exemplarisches Material. Abschließend möchte ich aus strafrechtlicher Sicht darauf hinweisen, dass alles Bemühen um das Gelingen eines TOA im Gefängnis dort halt machen muss, 328 W. Nothdurft: Schlichtung, S. 5. 329 Vgl. W. Nothdurft: Schlichtung, S. 85. 330 Vgl. W. Nothdurft: Schlichtung, S. 94 ff. 326
DIE ERGEBNISSE
wo aus rechtsstaatlicher Perspektive der Status des Gefangenen beeinträchtigt wird. Das Gefängnis hat zunächst dafür zu sorgen, dass dem Gefangenen neben der Entziehung der Freiheit kein weiteres Übel zugefügt wird. Darum sollte es auch weiterhin die Hauptaufgabe von Juristen und Fachdiensten im Strafvollzug sein, für die Behandlung und Sicherung des Gefangenen zu sorgen. Außerdem steht meine Diskussion des strafvollzuglichen Täter-Opfer-Ausgleichs teilweise im krassen Widerspruch zu meinen Ausführungen zur Gefangenenpersonalakte: Schon allein die stellvertretende Rede der AVD-Beamten aus Opferperspektive setzt neben einer genauen Kenntnis des Tathergangs auch noch weitere Kenntnisse über das Opfer und seine Beziehung zum Täter voraus. Wie bereits im Kapitel „Gefangenenpersonalakte“ gezeigt, vermeiden viele Beamte allerdings den Einblick in die Akte. Zudem würde hier der Grundsatz des Datenschutzes tangiert. Auch würde eine Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs im weiteren Sinne eine Ungleichbehandlung der Gefangenen bedeuten: Nicht jedem Gefangenen kann straftatbestandsmäßig ein Opfer zugeordnet werden und ausgleichswillige Häftlinge haben im Falle von Ausspracheunfähigkeit oder -widerwillen des Opfers freilich kein Recht auf die Durchführung des TOA. Aus dieser Perspektive bleibt zu fragen, ob es datenschutzrechtliche Überlegungen sowie der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht gebieten, die Behandlung von Täter und Opfer strikt getrennt durchzuführen.
Tiere als Ansprechinstanzen im Strafvollzug Ey Alter, ey! (ein Beo eines Gefangenen)
In meinem Datenkorpus treten vereinzelt Tiere und sogar Pflanzen in Erscheinung. Einer der thematischen Unterpunkte des Interviewleitfadens berührte die Frage, welche Rolle Tiere oder sonstige Gegenstände für diejenigen Gefängnisangehörigen spielen, die in manchen Situationen keinen Ansprechpartner haben. Die Befragten wussten auf diese unkonventionelle Frage sogar Antworten, wie sich unten zeigen wird. Die Forschungspartner erwähnten die Tiere und Pflanzen in ihren Ausführungen zudem häufig eigeninitiativ. Im Folgenden soll belegt werden, dass Tiere und Pflanzen in vielen Justizvollzugsanstalten bei allem kommunikationspsychologischen Nutzen und Freizeitwert, den sie sowohl für Personal als auch Gefangene haben, aus Anstaltsperspektive nicht immer gern gesehene Gäste sind. In manchen Gefängnissen ist es den Gefangenen gestattet, Haustiere im Haftraum zu halten. Voraussetzung ist dabei meistens, dass der Gefangene eine langjährige oder lebenslange Haftstrafe verbüßt. In man327
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chen Jugendstrafanstalten werden auch Haustiere gehalten, die dann allerdings nicht nur einem Gefangenen gehören, sondern einer ganzen Abteilung zugeordnet sind und von bestimmten Gefangenen gepflegt werden. Auch Bedienstete halten in manchen Dienstzimmern Haustiere. Bei den Haustieren der Gefangenen handelt es sich meistens um Papageien, Kleinvögel oder Fische. Beamte bevorzugen Fische, die in einem Aquarium vor oder in ihrem Dienstzimmer stehen. In Jugendjustizvollzugsanstalten findet man vereinzelt sogar Abteilungskatzen.331 Das Halten von Haustieren wird von Seiten der Anstaltsleitung häufig mit Argwohn betrachtet. Beamte berichten über die Anwesenheit eines Tieres Folgendes: „Gefangene haben Vögel. Noch. Also das ist aber bei uns ein Auslaufmodell. Wellensittiche, da denke ich schon, dass die auch als Ansprechpartner genutzt werden.“ (AVD VI 538-540) Ein Beamter, der selber ein Aquarium mit unzähligen kleinen Zierfischen im Dienstzimmer hat, erläutert den Nutzwert von Haustieren im Gefängnis wie folgt: „Hier gibt es viele Fische. Ich glaube aber nicht, dass die Leute mit Fischen reden. Mit Vögeln ja. Ein Vogel ist ein Tier, dem man ein bisschen was beibringen kann. Der redet dann selber. Der Gefangene hat ein Erfolgserlebnis. Einem Fisch kann man nichts beibringen. Die Leute haben oft Spaß an der Arbeit mit irgendwelchen Kreaturen. Und deswegen ist das auch gut für die Leute. Ein Aquarium beruhigt. Man hat eine Aufgabe, man hat eine Verantwortung. Es ist auch mit einem Vogel ganz gut. Die Leute haben eine gewisse Verantwortung für so ein Tier übernommen, müssen was bringen, müssen von ihrem kargen Geld was hergeben, das sie dann für den Vogel opfern. Und das ist doch einiges. Finde ich schon gut. Das ist das Sozialverhalten. Also das gefällt mir immer gut mit Tieren.“ (WD III 816-823) Gefangene, die ein Haustier haben, können sich sogar eine Blöße geben und Gefühle gegenüber dem Tier zeigen, was in nahezu jeder anderen Hinsicht verpönt ist. Ein Häftling berichtet über einen ehemaligen, ihm bekannten Gefangenen: „Der hat den Vogel so unter Kontrolle gehabt. Das war ein Typ, der hat in seinem Leben noch nie wegen jemand geweint, noch nie. Der hat nicht einmal wegen seinem Vater geweint. Noch nie hat der geweint. Aber der war mit dem Vogel dann jahrelang zusammen. Der hat dem alles beigebracht gehabt. Im Gefängnis. Der hat das Fliegen auf den Punkt, auf den Punkt 331 Den wild in Gefängnissen streunenden Katzen wird von den Gefängnisangehörigen nicht der Status eines Haustieres zugeschrieben, sondern eher derjenige einer lästigen Erscheinung, die sich aber immerhin um die Beseitigung der aus dem Fenster geworfenen Nahrungsmittelreste der Gefangenen kümmert. In manchen Anstalten sind besonders wehrhafte Wildkatzen dann doch wieder beliebt, wenn sie einen Kammerjäger ersetzen und die teilweise in Massen auftretenden Ratten von den Fensterabfällen verdrängen. 328
DIE ERGEBNISSE
gelernt. Auf der Hand. ‚Komm her.’ Der hat sogar Kaffee mit dem zusammen getrunken. Das müssen Sie sich mal vorstellen, der hat sogar Kaffee getrunken. Gegessen hat der sogar zusammen manchmal. Und der hat mir das so erzählt, als ob der Vogel sein bester Freund wäre. Mehr als ein Mensch oder Freund wäre. Und dann hat der mir erzählt, wie der Vogel dann gestorben ist, er dann geweint hat. Das hat mir dann so den Kick gegeben. Der hat bei einem blöden Vogel geweint. Der war so mit dem zusammen. Der war sozusagen sein Ein und Alles. Ein ganz normaler Wellensittich. Der hat sogar mit ihm geredet. Der hat immer gesagt: ‚Der Vogel hat mich gut verstanden.’“ (GEF I 856-884) Vögel und Fische haben für die Gefangenen und Beamten unterschiedliche Funktionen: Der Aussage des oben zitierten Werkdienstbeamten kann man entnehmen, dass Fische beruhigen. Vögel hingegen dienen in der Regel als Ansprechpartner: „Gerade Vögel sind in vielen Anstalten am häufigsten verbreitet. Das ist wie ein kleines Kind. Wenn jetzt jemand in die Zelle oder in den Haftraum kommt und den Vogel wegnimmt, dann würden viele ausrasten. Das würde denen dann wehtun. Ich hatte zwei ganz liebe Wellensittiche, die haben mit am Tisch gegessen. Das klingt vielleicht blöd, aber das strahlt Wärme aus hier. Das ist ein Lebewesen. Man kann sich damit beschäftigen. Das bringt einen wieder auf gute Gedanken. Das ist in manchen Anstalten erlaubt und in anderen nicht. Aber trotzdem ist das ein Land. Wo ich dann von meiner Verlegung gehört habe, habe ich die rausgegeben, meine Vögel. Ich habe die dann meinem Mädel, meiner Freundin rausgegeben, und da bin ich froh drum. Das war wie ein Stück von mir, ein Teil von mir. Die habe ich fast drei Jahre gehabt. Und jetzt bin ich hier und das fehlt. Wenn ich dann abends hier Fernsehen schaue, dann haben sie früher gezwitschert. So was bringt Leben in die Zelle. Es gibt viele, die einen Großteil der Gefangenen, wo Angehörige da sind, der Briefwechsel da ist. Wo man auch sagt, man schreibt jetzt jeden Tag ein oder zwei Briefe. Dann hat das irgendwo noch einen Sinn. Wo man sagt, auf mich warten Leute draußen. Aber viele haben nichts und geben sich deswegen auf. Und für die ist es dann gerade gut, wenn in der Anstalt Tiere erlaubt sind. Weil, die haben keinen Ansprechpartner, keinen, dem sie schreiben können. Keine Beschäftigung. Kein Lebewesen, was sie lieb haben können, was einfach da ist, was Leben in den Alltag bringt.“ (GEF VII 321-384) Manche Fachdienstmitglieder wissen den Vogel als Ansprechpartner für die Gefangenen offenbar als einen „Notnagel“ für psychisch belastende Zeiten zu schätzen: „Ein Teil der Gefangenen, aber das sind auch ganz wenige, haben ein Haustier. Einen sehr engen Bezug. Einen sehr intimen, persönlichen Bezug. Also der Vogel ist noch am ehesten einer der Ansprechpartner, den der Gefangene persönlich für sich kreieren kann und in einer guten Form leben kann.“ (FD I 411-418) Auch aus der Sicht 329
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der Linguistik ist das Halten von Vögeln als Ansprechpartner in Hafträumen als sinnvoll einzustufen. Reinhard Fiehler meint, dass die Anwesenheit eines vertrauten Haustieres zu psychisch entlastenden Selbstgesprächen motiviert. Gespräche mit Tieren „sind durchaus an eine äußere Instanz gerichtet bzw. adressiert, aber die Art dieser Instanz macht sie zu nicht-partnergerichteten Äußerungen: Es handelt sich um das Sprechen zu oder mit Gegenständen bzw. Tieren. [...] Tieren [...] werden nicht nur Befehle erteilt (‚Hüh.’), sie werden auch häufig als Pseudoansprechpartner benutzt. Es wird zu ihnen gesprochen, was die Person mit sich selbst oder anderen abzumachen hat. Sie dienen dabei als Projektionsfläche oder Ersatzadressat. Diese Projektion nach außen erleichtert die Verbalisierung und kaschiert zugleich die Tatsache, daß es sich um Sprechen mit sich selbst handelt (zu einem Hund: ‚Du bist auch so ein armes Schwein.’)“.332
Die Aussage eines Gefangenen zeigt, dass es bei der Wahl eines Haustieres Präferenzen hinsichtlich der Art zu geben scheint, und dass es einen Unterschied macht, ob ein Gefangener Vögel oder Fische im Haftraum hält. „Vögel sehr gern sogar. Ich habe damals die Möglichkeit gehabt: Entweder das Aquarium oder einen Vogel. Intuitiv hätte ich lieber das Aquarium genommen. Aber ein Aquarium ist sehr teuer. Das kann ich mir draußen leisten, aber nicht hier drin. Deswegen der Vogel. Und mein erstes Begehren war, ihn ja nicht das Sprechen zu lernen: Hier gab es einen Vogel. Ein sehr netter Vogel. Und den habe ich ein paar mal da gehabt zur Untermiete. Und der hat mir Tag und Nacht die Ohren vollgesungen. Wo ich meine Ruhe wollte, hat der angefangen, sein Lied zu erzählen und das ist, wo ich gesagt habe: ‚Mein Vogel redet nie.’ Ich rede zwar mit ihr. Ich wüsste aber nicht, was ich machen sollte, wenn die anfangen würde zu reden. Das wäre am Anfang wahrscheinlich ganz lustig. Aber dann würde ich sie wahrscheinlich austauschen. Ein Tonband können Sie abstellen, ein Radio können Sie abstellen, den Fernseher können Sie ausschalten. Aber einen Vogel kann man nicht ausschalten.“ (GEF II 933-954) Es gibt sogar Gefangene, die Pflanzen in Situationen der außergewöhnlichen Einsamkeit als ihre Ansprechpartner betrachten. Zwei von insgesamt sieben befragten Gefangenen kommen auf Pflanzen als Ansprechpartner zu sprechen, ohne dass ich sie danach gefragt hatte. Ich werte dies als einen Hinweis darauf, dass das Ansprechen von Pflanzen keine außergewöhnliche Verhaltensweise für Gefangene darstellt: GEF I
„Dazu können Sie aber auch hinschreiben ‚Pflanzen’.“ „Pflanzen?“
332 R. Fiehler: Formen des Sprechens mit sich selbst, S. 85. 330
DIE ERGEBNISSE
GEF I GEF I GEF
„Es gibt auch Pflanzen in Zellen.“ „Mit denen geredet wird?“ „Ja. Ob sie einen unterstützen tut.“ „Die Pflanze.“ „Ja. Dass man sich auch was pflegen tut, dass man sich sozusagen um was kümmern kann. Dass man nicht das Gefühl hat, dass man nutzlos ist. Das gibt einem das Gefühl, dass man was machen kann.“ (GEF I 876-848)
Gefangene unterliegen dabei offenbar nicht einer Kommunikationsillusion, sondern wissen, dass die Pflanze kein echter, sondern nur ein scheinbarer Ansprechpartner im kommunikativen Sinne ist. GEF I GEF I GEF I GEF I GEF
I GEF I GEF I
„Das heißt, wenn ich mich mitteilen möchte und ich weiß nicht wem?“ „Genau.“ „Dann lasse ich es.“ „Echt? Oh.“ „Ja, dann fresse ich es in mich rein. Wenn ich wirklich keinen habe, dann lasse ich es einfach.“ „Hmhm.“ „Oder ich führe halt Selbstgespräche.“ „Hmhm. Das kommt vor, ja?“ „Hmhm, oder auch mit einer Pflanze reden. Dann führe ich, auf Deutsch gesagt, Selbstgespräche. Aber vor mir selber will ich es nicht wahrhaben. Ich rede dann mit der Pflanze, das bilde ich mir ein, aber in Wirklichkeit rede ich mit mir selber.“ „Jetzt hier mehr als draußen oder überhaupt?“ „Draußen ist das was anderes, weil draußen sind meine Angehörigen.“ „Hmhm.“ „Und denen kann ich alles erzählen.“ „Hmhm. Und hier drinne ist im Notfall nur die Pflanze.“ (GEF V 499-511)
Während der teilnehmenden Beobachtung ist mir der Unterschied zwischen den jeweiligen Funktionen von Vögeln und Fischen im Gefängnis besonders deutlich aufgefallen. Vögel dienen nicht nur als Ansprechpartner, sondern machen durch ihr Pfeifen und Krächzen auch auf sich aufmerksam. Ich habe mich mit einigen vogelbesitzenden Gefangenen im Haftraum unterhalten, und wir wurden dabei immer wieder auch durch deren Vögel im Gespräch unterbrochen. Vögel sind darum auch Gestalter von Gesprächsabläufen. Fische im Gefängnis erfüllen meinem Eindruck nach eine gegenteilige Funktion. Wenn Gespräche in der Nähe eines Aquariums stocken oder wenn Mitarbeiter bzw. Gefangene aus 331
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Gründen des Konflikts das kommunikative Feld verlassen, wenden sie sich mit dem Blick dem Aquarium zu. Dort sehen sie dann die Fische schweigend schwimmen und hören die Lüftung leise Blasen werfen. In einem Gefängnis ist mir eine Fischhaltung besonderer Art aufgefallen: „In einem Raum des Gefängnisses gibt es viele Aquarien. Diese sind von einem Mitarbeiter, dessen Hobby die Zierfischzucht ist, mitgebracht worden. Wenn man in den Raum geht, ist dieser in ein mildes Dämmerlicht getaucht. Hier ist gut schweigen, denke ich mir. Nach wenigen Minuten habe ich mich innerlich erholt. Ein Mitarbeiter bestätigt mir im Nachhinein diesen Effekt. Dass man da schweigen und sich erholen kann.“ (FTB 2744-2747) Bemerkenswert an diesem Raum ist, dass die Wände sozusagen mit Aquarien verkleidet sind. In dem Raum muss kein Licht eingeschaltet werden, da das Licht aus der Aquarien genügend Helligkeit produziert, um sich im Raum zu orientieren. Die Mitarbeiter betrachteten den Raum inzwischen wohl als eine Selbstverständlichkeit. Mir jedoch erschien es als außergewöhnlich, dass im Gefängnis ein Raum eigens zur Fischhaltung erübrigt wird. Einer der Beamten berichtete mir, dass manche seiner Kollegen, er selber, aber auch externe Mitarbeiter den Raum zu ruhigen Gesprächen mit Gefangenen nutzen. Meines Erachtens bietet sich der Raum gerade dafür an. Gespräche neben einem Aquarium haben den Vorteil, dass Spannungen in Redepausen und peinliche Momente des Schweigens reduziert werden, da die Gesprächspartner den Blick voneinander abwenden und den Fischen zuwenden können. Die langsamen Bewegungen der Fische, das Halbdunkel des Raums sowie das gleichmäßige Geräusch der Lüftung vermitteln zusätzlich Ruhe. Tiere erfüllen im Gefängnis offenbar eine positive und nicht zu unterschätzende Funktion. Und dennoch haben sie im Gefängnis nicht nur Freunde. Im Gegenteil. Während der letzten Jahre ist zu beobachten, dass die Anforderungen dafür, ein Tier im Haftraum halten zu dürfen, für Gefangene gestiegen sind. In immer mehr Gefängnissen wird das Halten von Tieren untersagt. Die Begründungen dafür liegen in der Regel im Bereich der Sicherheit und Ordnung der Anstalt, aber auch im Bereich der Hygiene. Andererseits gibt es im Gefängnis Menschen, die das Dasein von Tieren nach Kräften unterstützen. Wie dicht das Willkommensein und die Ablehnung von Tieren im Gefängnis beieinander liegen, zeigen folgende Beispiele: (i) In einer Anstalt war der Beo eines Gefangenen zum wiederholten Male entflogen. Ein Sozialarbeiter erwies sich als Gefangenen- und Tierfreund und fuhr auf dringendes Bitten des Gefangenen zu der Kuh eines Bauern, auf deren Rücken sich der Beo in einigen Kilometern Entfernung niedergelassen hatte. Im Auftrag des nun überglücklichen Gefangenen kaufte der Sozialarbeiter dann von dessen Eigengeld einen Blu332
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menstrauß für den Bauernhof, der die Landung des Beos gemeldet hatte. Gleichzeitig wurde in dem Gefängnis jedoch darüber diskutiert, dass zumindest Beos aus hygienischen Gründen abgeschafft gehören, da sie im Unterschied zu ihren Gattungsgenossen Weichkoter sind und zur Verunreinigung beitragen. Penetrante Verunreinigungen waren mir in Hafträumen mit Beos jedoch nicht aufgefallen. Die Abschaffung solch sprachbegabter größerer Vögel bedeutet freilich einen Reduzierung des tierpflegerischen Aufwandes sowie einen gewissen Schallschutz von Mitgefangenen. Beos sind nach Graupapageien die sprachbegabteste Vogelart. Letztere sind bzw. waren ebenfalls beliebte Haftraumvögel.333 (ii) In einem anderen Gefängnis hat ein Anstaltsleiter wiederum nichts dagegen, dass ein Mitarbeiter seinen neuen Welpen so lange mit zur Arbeit bringt, solange er diesen zur Stubenreinheit erzieht: „Ich habe einem Mitarbeiter vom Sozialdienst erlaubt, seinen kleinen Hund mitzubringen, der noch erzogen werden muss hier im Dienst. Der ist noch klein, der ist noch so klein. Der braucht natürlich auch das Herrchen sozusagen als Bezugsperson. Erzogen werden muss er auch noch. Also Pipi muss er draußen machen, das weiß er. Ja. Und da hat mir doch ein Mitarbeiter gesagt: ‚Och, das ist aber mutig.’ Den muss man fragen künftig, was er darunter versteht, was mutig war: Einem Mitarbeiter zu erlauben, einen kleinen Hund mitzubringen? Zu erlauben. Ja, ich weiß: Es ist ungewöhnlich. Aber mutig war es nicht.“ (AL IV 942-956) (iii) Ein anderer Anstaltsleiter orderte zur Pflege der äußeren mauerbegleitenden Grünfläche einige Ziegen, was den Nebeneffekt hat, dass Spaziergänger nicht direkt auf eine Mauer hinter dem Drahtzaun blicken sondern davor grasende Tiere sehen. (iv) In einem weiteren Gefängnis gibt es Hauskatzen, die ich dabei beobachtet habe, wie sie unter den freundlichen Augen der Beamten und Gefangenen durch die Gitter der Flurtüren in benachbarte Abteilungen 333 Vgl. hierzu einen Aufsatz von Irene Pepperberg, die einem Graupapageien Lautfolgen der englischen Sprache beibrachte. „Seine Leistung (75-85% richtige Antworten auf einschlägige Fragen) läßt darauf schließen, daß er die Bestandteile der gestellten Fragen ebenso wie die von ihm selbst geäußerten Gegenstandsbezeichnungen (bei einer Basismenge von 100 Gegenständen) versteht. [...] Im Hinblick auf die bekannte Vorstellung von der intellektuellen und sprachlichen Überlegenheit des Menschen ist es bemerkenswert, daß in allen Untersuchungen bis heute immer von den Tieren erwartet wird, daß diese einen menschlichen Code lernen, und nicht umgekehrt.“ Die artübergreifende Kommunikation „kann für alle Beteiligten von Nutzen sein oder es einfach nur einer Seite erlauben, etwas von den Fähigkeiten der anderen zu begreifen.“ Vgl. Irene M. Pepperberg: „Kommunikation zwischen Mensch und Vogel: Eine Fallstudie zu den kognitiven Fähigkeiten eines Papageis“, in: Zeitschrift für Semiotik 15 (1993), S. 41-67, hier: S. 41, 46, 62. 333
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schlichen und auf diese Weise symbolisch eine Unabhängigkeit vom Schließsystem vor Augen führen. (v) Da sie nicht bei allen Beamten beliebt sind, müssen die Fische im besagten Aquariumraum auch einige Schikanen über sich ergehen lassen: Während des Nachtdienstes hatte ein Beamter dem Aquariumwasser einmal Spülmittel beigegeben. (vi) Die einflussreichsten Gegner von Tieren im Gefängnis sind allerdings das praxisferne Strafvollzugsrecht und die anstaltsspezifischen Verfügungen. In einem Lehrbuch für Strafvollzug ist zur Rechtsstreitigkeit über den angeblich hohen Versorgungsaufwand für den Graupapagei eines sicherungsverwahrten Gefangenen folgendes zu lesen: „Der Antragsteller hält in seinem Haftraum einen Graupapagei, den er artgerecht füttern möchte. Um ihm gelegentlich Frischfutter in Form von Erbsenschoten und Petersilie verabreichen zu können, stellt er den Antrag auf Annahme und Aushändigung von ‚ein wenig Petersilie und fünf Erbsen in der Schote’, welche seine ehrenamtliche Betreuerin bei einem Besuch mitbringen werde. Dies lehnt die Anstaltsleitung ab mit der Begründung, dass durch das Einbringen der Gegenständen ein erheblicher organisatorischer Aufwand entstehe. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Arnsberg entschied, der Antragsteller sei neu zu bescheiden, weil fünf Schoten und ein Büschel Petersilie die Sicherheit der Anstalt nicht gefährden könne und deren Kontrolle keinen unmäßigen und nicht mehr leistbaren Verwaltungsaufwand erfordere. Dagegen hat das OLG Hamm auf die Rechtsbeschwerde der Vollzugsverwaltung hin ein Sicherheitsrisiko bejaht, weil bei einem Bund Petersilie und bei Erbsenschoten deren Inhalt manipuliert werden könne und die Gegenstände daher nicht ohne große Mühe und Kontrollaufwand zu untersuchen seien. Dies – so das Gericht – ‚mag bei einem Petersilienstengel noch möglich sein, aber schon nicht mehr bei einem Bund dieses Gemüses.’ Das OLG Hamm hat mit seiner Entscheidung den ihm zustehenden Bereich der justiziellen Überprüfbarkeit verlassen. Über eine Rechtmäßigkeitskontrolle hinausgehend setzt es sich mit der Größe von Petersilienstengeln und deren Unbedenklichkeit auseinander und legt eine Grenze für ein noch nicht gegebenes Sicherheitsrisiko bei maximal einem Petersilienstengel fest.“334
Wenn mancherorts in Gefängnissen spontan sogar pflegeintensive Aquarienräume entstehen und Mitarbeiter ihre Hunde im Dienst zur Stubenreinheit erziehen dürfen, sollte es doch wohl ebenso möglich sein, gelegentlich eine papageiengerechte Menge Frischgemüse auf sicherheitsgefährdende Gegenstände hin zu kontrollieren. Ob einem Gefangenen das Halten eines größeren Vogels gestattet wird, sollte in erster Linie davon abhängen, inwiefern die Bewohner der benachbarten Hafträume sich aus 334 Gerichtsentscheidungen zitiert nach und kommentiert von Klaus Laubenthal: Strafvollzug, S. 325. 334
DIE ERGEBNISSE
hygienischen Gründen durch den Vogel in ihrer Gesundheit beeinträchtigt fühlen. Ulrich Eisenberg merkt zum obigen Sachverhalt an, dass „Vögel für Langzeitverwahrte (psychisch oder gar therapeutisch) hilfreich sein können“.335 Meiner Erfahrung nach stellen darüber hinaus gerade sprachbegabte Vögel auf Haftabteilungen sowohl für einen Großteil der Beamten als auch für viele der Gefangenen eine Abwechslung im eintönigen Vollzugsalltag dar. Das Argument der Lärmbelästigung halte ich für nicht stichhaltig, da der Geräuschpegel auf Haftabteilungen wegen der großen Anzahl ständig laufender Fernseher bzw. Musikgeräte den Geräuschpegel eines einzelnen Vogels ohnehin bei weitem übertrifft.
335 Ulrich Eisenberg: „Anmerkung zu einer Entscheidung des OLG Hamm“, in: Juristische Rundschau (1995) Heft 1, S. 39-40, hier: S. 40.
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VIII Fazit
Die vorangegangenen Kapitel enthalten lediglich eine unvollständige Beschreibung dessen, was Sprachkultur im Gefängnis ausmacht. Gefängnisfremde Leserinnen und Leser sind während der Lektüre möglicherweise bereits mit einem Übermaß an ethnographischer Beschreibung konfrontiert worden. Angehörige des Strafvollzugs hingegen werden nun kritisch auf all die weißen Flecken zeigen, die ich auf der Landkarte des Forschungsfeldes ausgelassen habe. In der Tat gibt es noch viel mehr Aspekte der strafvollzuglichen Sprachkultur, die es wert wären, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Außerdem kann der Strafvollzug meines Erachtens nicht genug mit der Frage konfrontiert werden, wie er es in der Theorie und Praxis mit der Gleichheit vor dem Wort hält. Ein knappe zusammenfassende Darstellung der Sprachkultur des Gefängnisses scheint mir innerhalb des von mir gewählten epistemologischen Rahmens auch im Fazit nicht möglich. Dies würde sämtliche Bemühungen um eine facettenreiche Darstellung meines Forschungsfeldes zunichte machen und die Ergebnisse in verfälschender und banalisierender Weise vereinheitlichen. Eine multiperspektivisch angelegte ethnographische Beschreibung muss sich damit zufrieden geben, dass es die Sprachkultur im Gefängnis nicht gibt. Aus einer anderen epistemologischen Perspektive wäre es sehr wohl möglich, einheitliche Beschreibungen des Forschungsgegenstandes vorzunehmen: Die Kritische Kriminologie würde wohl versuchen, dies hauptsächlich für die Seite der machtlosen Gefängnisangehörigen zu tun. Die traditionelle Kriminologie würde eine Beschreibung liefern, die für das Kriminaljustizsystem anschlussfähig wäre. Die berufsgruppenspezifisch orientierten Disziplinen Psychologie, Soziologie und Pädagogik würden ihre Forschung auf die 337
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Belange sämtlicher Fachdienste, AVD- und Werkdienstbeamten zuschneiden. Eine Forschungsarbeit hingegen, die sämtliche Perspektiven des Gefängnisses berücksichtigen möchte, liefert zwangsläufig heterogene und unübersichtliche, ja sogar widersprüchliche Ergebnisse. Dieses allgemeine Fazit der Arbeit mündet in meinem persönlichen Fazit, das ich den Lesern nicht vorenthalten möchte: Die einzige allgemeine Feststellung, die meiner Forschungsarbeit entnommen werden kann, ist die, dass die Gleichheit vor dem Wort im Gefängnis nicht gegeben ist. Dieses Ergebnis war zu erwarten und erscheint geradezu trivial. Die empirischen Ergebnisse zur strafvollzuglichen Sprachkultur zeigen jedoch, dass die Gefängnisangehörigen als Gesamtgruppe den Zwängen des Systems unterliegen und dass es eine verkürzte Sichtweise ist, die einen als die mächtigen Verbeamteten und die anderen als die ohnmächtigen Verurteilten darzustellen. Ich möchte mich mit den Gefängnisangehörigen als Gesamtgruppe solidarisch erklären und ihnen meine Anerkennung dafür aussprechen, dass sie an einem solch schwierigen Ort in den meisten Fällen in anerkennenswerter Weise miteinander umgehen. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass der Strafvollzug eine mit vielen Mängeln behaftete Institution ist, die grundlegend reformiert oder sogar durch eine oder mehrere andere strafrechtliche oder außerstrafrechtliche Institutionen ergänzt beziehungsweise ersetzt werden könnte. Ich behaupte dies im Interesse der Insassen und der Mitarbeiter. Meine Gründe für diese Behauptung sind allerdings straftheoretischer und kriminalpolitischer Art und können in der vorliegenden Forschungsarbeit keine Berücksichtigung finden. Obwohl meine Ausführungen keine expliziten Hinweise für die strafvollzugliche Praxis enthalten, sollen sie im Sinne Norman Faircloughs dazu dienen, den Angehörigen des Gefängnisses, den Ausbildern an Justizvollzugsschulen und Universitäten sowie alle anderen am Strafvollzug interessierten Lesern ein differenziertes Sprachbewusstsein zu vermitteln. Zu diesem Zweck habe ich versucht, alle wesentlich am Strafvollzug beteiligten Personen ungeachtet ihrer Position sowohl in der Phase der Datenerhebung als auch in der Ergebnisdarstellung gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Auch im Fazit möchte ich darum meiner Ergebnisdiskussion keine autoritäre Note geben. Dennoch erteile ich mir abschließend selber das Wort: Angehörige des Gefängnisses! Ich habe Euch gerne zugehört. Gabriele Klocke
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Lite ra turve rz e ic hnis 336
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336 Aktuelle Literatur wurde bis Oktober 2003 eingearbeitet. Um das Geschlecht der Zitatgeberinnen und -geber kenntlich zu machen, sind sowohl im Fließtext als auch im Literaturverzeichnis sämtliche Autorinnen und Autoren vornamentlich benannt. Auf diese Weise möchte ich einerseits darauf hinweisen, dass leider immer noch wenige Frauen in der Wissenschaft tätig sind. Auch soll die weibliche Identität dieser Frauen positiv markiert und ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser gehoben werden. 339
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Aktuelle Titel der Reihe Sozialtheorie Sabine Kampmann,
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Die Person – die Psyche – die
Einführung in eine Soziologie
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2003, 122 Seiten, kart., 13,80 €,
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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de