Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken: Eine zeitdiagnostische Analyse 9783839453728

Am Beispiel der Idee des (Neu-)Anfangs liefert Oktay Bilgi eine systematische Zeitdiagnose begründungstheoretischer Kons

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German Pages 222 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens
2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs
3. Auf den Anfang kommt es an!?
4. Über den Stellenwert von Theorie
5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit
6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit
7. Ausblick
Literaturverzeichnis
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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken: Eine zeitdiagnostische Analyse
 9783839453728

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Oktay Bilgi Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Pädagogik

Oktay Bilgi (Dr. phil.), geb. 1982, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Theoriebildung in der Pädagogik der frühen Kindheit, der ästhetischen Bildung in der frühen Kindheit, der Pädagogischen Anthropologie sowie der Bildungsphilosophie. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem historisch-systematischen Begründungszusammenhang des pädagogischen Denkens.

Oktay Bilgi

Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken Eine zeitdiagnostische Analyse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Gerda Greschke-Begemann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5372-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5372-8 https://doi.org/10.14361/9783839453728 Buchreihen-ISSN: 2703-1047 Buchreihen-eISSN: 2703-1055 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung .................................................................9 Einleitung ................................................................... 11 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens ...................................... 21 Vorsokratik und die Suche nach der Ur-Substanz der Welt .............. 25 Antike und die Suche nach Letztgründen von Wahrheit und Handeln..... 30 Vom Anfang und Ende der Weltzeit: Konstellationen der christlichen Eschatologie .......................... 36 Die Pädagogik der Neuzeit .............................................. 41 Fazit: Historische Konstellationen des (Neu-)Anfangs ................... 57

2.

Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs ..................................................... 61 2.1 Über die Unmöglichkeit des Neuen im postmodernen Denken ........... 64 2.2 Das Neue als Innovation in der ästhetischen Ökonomie .................. 71 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Auf den Anfang kommt es an!? ....................................... 87 Zwischen Zukunftsangst und Zukunftseuphorie......................... 90 Präemptive Zeitpolitiken in der frühen Kindheit......................... 94 Das Neue zwischen Risikokalkulation und affirmativer Produktion ...... 98 Pädagogische Grundmotive als ökonomische Wiedergänger? .......... 103 Transzendente Autorität des Neuen? ................................... 105

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Über den Stellenwert von Theorie...................................... 111 Das Ende der Metanarrationen? ........................................ 114 Die cultural turns in der Theoriebildung ................................ 118 Der historische Kontext kulturtheoretischer Ansätze ...................123 Erkenntnispolitische Strategien: Epistemologisierung und Kulturalisierung .............................. 127

5.

Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit ...................................................... 133 5.1 Dezentrismuslogik in der Theorie der frühen Kindheit ..................134 5.2 Qualität von Anfang an................................................. 137

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit .. 145 6.1 Der Ko-Konstruktionsansatz ........................................... 145 6.2 Frühkindliche Bildung als Selbstbildung: Lernen im Geiste des Neuanfängers .................................... 156 6.3 Wie aus Neulingen Kinder werden: Eine kindheitssoziologische Perspektive ............................... 169 6.4 Fazit ..................................................................180 7.

Ausblick ..............................................................185

Literaturverzeichnis ....................................................... 195

Für meine Mutter Meryem Bilgi

Danksagung

Eine Promotion (lateinisch: promovere – vorwärtsbewegen) gleicht einer abenteuerlichen Reise abseits gradliniger Pfade. Manchmal sind die Wege steinig, manchmal nicht klar erkennbar, wohin sie führen. Schritt für Schritt schreitet man voran. Jede Teilstrecke hat seine Zeit und Dauer. Man lernt Abschied zu nehmen, loszulassen, um das Neue zu empfangen. »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben«, heißt es bei Hermann Hesse (1986). Dieser Zauber des Anfangs schützt vor dem Stillstand und lässt uns mutig voranschreiten. Ich bin dankbar dafür, diesen Weg mutig gegangen zu sein. Vor allem möchte mich aber bei allen Menschen bedanken, die mich auf meiner langen Reise mit Rat und Tat unterstützt haben. Besonders danken möchte ich Ursula Stenger für ihr Vertrauen und für ihre Unterstützung in den vergangenen Jahren. Die vielen Gespräche zwischen uns waren mir eine große Hilfe und haben mich stets ermutigt, an meinen Fragen weiterzuarbeiten. Mein Dank gilt auch Jörg Zirfas, der als Zweitgutachter diese Arbeit mit seinen produktiven und kritischen Anmerkungen unterstützt hat. Danken möchte ich außerdem der Hans-Böckler-Stiftung sowie den Mitgliedern des Promotionskollegs »Widersprüche gesellschaftlicher Integration. Zur Transformation Sozialer Arbeit“ an der Universität Duisburg-Essen. Insbesondere bedanke ich mich bei Marie Frühauf, die immer ein offenes Ohr für meine Fragen hatte und diese Arbeit von Anfang an mit ihrer konstruktiven Kritik begleitet hat. Bedanken möchte ich mich ebenfalls bei Kathrin Schulze für die vielen

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Gespräche während unserer Kollegszeit und für die gemeinsame Zeit in Innsbruck. Mein besonderer Dank gilt außerdem Franziska Eisenhuth, Melanie Kuhn, Martina Lütke-Harmann, Gerald Blaschke-Nacak und Uta Thörner, die mir an verschiedenen Stationen meiner Promotion mit Rat und Tat weitergeholfen haben. Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei meiner Frau und meinen Geschwistern für ihre Geduld und für ihren unerschütterlichen Glauben an mich. Meinen Töchtern Elif und Lale danke ich für die großen und die vielen kleinen (Neu-)Anfänge im Leben.

Einleitung1

»Das Anfangen ist eine seltsame Sache«, schreibt Sloterdijk (Sloterdijk 1988: 31). »Wenn ich nicht darüber nachdenke, weiß ich was anfangen ist, denke ich aber darüber nach, weiß ich es nicht.« (Ebd.) In diesem Buch soll von Anfängen die Rede sein, wo etwas Neues in Aussicht gestellt wird, wo etwas Neues zur Welt kommt.2 Wann entsteht das Neue und wie lassen sich (Neu-)Anfänge erkennen und beschreiben? Die europäische Kulturgeschichte hat unterschiedliche Vorstellungen und Begriffe des (Neu-)Anfangs entstehen lassen. Als subjektiv-handlungsmäßiges Phänomen meint der (Neu-)Anfang die Möglichkeit, etwas Neues zu beginnen, die Welt kreativ und handelnd zu gestalten. Der (Neu-)Anfang kann ebenso ein Ereignis sein, das uns entgegenkommt, in das Gewohnte einbricht und die Gegebenheiten verändert. Als historische Kategorie hingegen meint der Neuanfang den geschichtlichen Entwurf, eine Projektion, Imagination oder Utopie möglicher Zukünfte. Diesen unterschiedlichen Verständnissen eines

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Für die bessere Lesbarkeit des Textes ist in diesem Buch mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Die Begriffe des Neuen und des Anfangs werden in der Arbeit synonym gedacht. Durchaus kann es Anfänge geben, wo nichts Neues entsteht wie etwa in der Vorstellung von wiederkehrenden Anfängen in der antiken Philosophie. In dieser Arbeit sind solche Anfänge von Bedeutung, wo etwas Neues entsteht, etwas Neues zur Welt kommt. Um die doppelte Konnotation des Anfangs als Beginn und als Entstehen des Neuen begrifflich zu fassen, wird in dieser Arbeit der Begriff des (Neu-)Anfangs verwendet.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

(Neu-)Anfangs liegt ein gemeinsamer Bedeutungskern zugrunde. Der (Neu-)Anfang soll das schlechterdings Unbekannte und das Unerwartete sein. Damit ist man jedoch mit der merkwürdigen Eigenschaft des (Neu-)Anfangs konfrontiert. Wie Luhmann es formuliert, ist das Neue »zunächst einmal ein ontologisches Unding« (Luhmann 1995: 323). Denn ein Neues, das erkannt ist, ist nicht mehr neu (vgl. Esposito 2014: 133). Sloterdijk erklärt diese mehrschichtige Gestalt des (Neu-)Anfangs, indem er die Möglichkeit des Anfangs darauf zurückführt, dass jeder Anfang das vergangene Angefangensein als seine Möglichkeitsbedingung im zukünftigen Fortgang voraussetzt. »In regressiver Perspektive heißt anfangen immer schon angefangen sein; in progressiver Hinsicht bedeutet anfangen jedoch immer schon weitermachen [...]. An der Fortsetzung verrät sich der Anfang, die Fortsetzung ist der eigentliche Anfang.« (Sloterdijk 1988: 63f.) Der (Neu-)Anfang ist nicht nur der Beginn von etwas Neuem, einer Entwicklung oder eines Prozesses, sondern das Anfängliche bleibt im Fortgang weiterhin bestehen. Auch in seiner pädagogisch-anthropologischen Bedeutung ist der (Neu-)Anfang daher mehr als ein bloßes Beginnen, wie etwa, wenn man einen Computer einschaltet. Anfänge sind »Welten schaffend«, sie geben einen Sinn, aus dem Verständnis um das Prinzip des Anfangs strömt eine »Kraft, die ordnet und Verstehen ermöglicht« (Hüsser 2004: 12), indem sie auf das Vergangene zurückgreifen und auf das Zukünftige vorgreifen. Die pädagogisch-anthropologische Bedeutung dieser doppelten zeitlichen Konnotation dürfte außer Zweifel stehen. Sofern Pädagogik mit dem anthropologischen Tatbestand der Zeitlichkeit des Menschen zu tun hat, kommt auch das Denken über Bildung und Erziehung nicht umhin, über »Anfang, Dauer und Ende« (Zirfas 2014: 335) nachzudenken. Phänomene des (Neu-)Anfangs werden in der Pädagogik auf vielfältige Weise zum Thema. Besonders zu erwähnen sind Anfänge des Lernens (vgl. Meyer-Drawe 2005), Anfänge der Bildung (vgl. Stieve 2015) sowie die vielen unscheinbaren, kleinen alltäglichen Anfänge von jungen Kindern (vgl. Stenger 2011). Nicht zuletzt wird der (Neu-)Anfang

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unter einer ethischen Perspektive relevant. Wie kann dem (Neu-)Anfang, der mit jeder Geburt eines Kindes zur Welt kommt, pädagogisch und ethisch geantwortet werden? Gerechtigkeitstheoretische und moralische Reflexionen zur Grundlegung der Frühpädagogik, ausgehend von einer »Erziehung von Geburt wegen« (Wehner 2013), sind ebenso zu erwähnen, wie solche Fragestellungen, die die appellative und ethische Bedeutung des Anfangs in der Kindheit zum Gegenstand haben (vgl. Masschelein 1996). Das Anliegen dieses Buches ist nicht die Beschreibung der vielfältigen Phänomene des (Neu-)Anfangs in der Pädagogik, und auch nicht der Versuch, das ontologische Dilemma der Kategorie des Neuen zu lösen, sondern eine zeitdiagnostische Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen und Formen des pädagogischen Denkens über den (Neu-)Anfang zu leisten. Die Zeitdiagnose als sozialwissenschaftliche Methode3 versucht unterschiedliche Phänomene unter einer bestimmten Überschrift im Sinne einer historischen wie gegenwartsanalytischen Ortsbestimmung zu fassen (vgl. Prisching 2018: 22). Die zeitdiagnostische Frage nach dem Denken des (Neu-)Anfangs stellt sich dabei als eine kritische Selbstbefragung der Pädagogik dar, da gleichsam über die Frage, wie der (Neu-)Anfang gedacht wurde und wird, auf begründungstheoretische Voraussetzungen des pädagogischen Denken geschlossen werden kann. Abhängig davon, ob der Anfang als Ursprung, als Beginn, als Erneuerung, als Inszenierung oder als Innovation verstanden wird, ergeben sich jeweils andere Orientierungen und Sichtweisen auf das Verhältnis von Mensch und Pädagogik. Gefragt wird also nach dem (Neu-)Anfang als begründungstheoretischer Figur des pädagogischen Denkens. Was waren und sind Ziele und Ansprüche von Bildung und Erziehung? Wie wurde und

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Zeitdiagnose als sozialwissenschaftliche Methode sieht sich häufig mit dem Vorwurf der Pauschalisierung konfrontiert. Die Stärke von Zeitdiagnosen besteht jedoch darin, Aussagen über einen Allgemeinzustand der Gegenwartsgesellschaft treffen zu können. Mögliche Abweichungen im Detail werden dabei methodisch in Kauf genommen (vgl. Prisching 2018: 23).

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

wird Pädagogik überhaupt über argumentative Konstellationen des (Neu-)Anfangs legitimiert und begründet? Somit leistet das Buch einen Beitrag zur Transformationsdiagnose begründungstheoretischer Konstellationen des pädagogischen Denkens. Am Beispiel des Topos des (Neu-)Anfangs werden im Kontext gesellschaftlicher, politischer wie theoretischer Transformationen Kontinuitäten und Veränderungen in der Begründung und Legitimation pädagogischen Denkens untersucht. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die zeitdiagnostische Annahme einer Koinzidenz zwischen der ökonomischen Verfasstheit der Gegenwartsgesellschaft, der jeweiligen politischen Rationalität der Führungs- und Regulationsweisen sowie der kulturellen Art und Weise, wie Wissen und Erkenntnisse hervorgebracht, transformiert sowie (neu) begründet und legitimiert werden. Dabei schließt die Arbeit an Gegenwartsdiagnosen an, die seit den 1970er bzw. 1980er Jahren zunehmend von einer Transformation gesellschaftlicher Leitmodelle ausgehen. Diese Transformationen werden für die anstehende Analyse als umfassende politisch-ökonomische Ästhetisierungs- und Kulturalisierungsprozesse auf drei Ebenen zugänglich. 1. Eine erste Diagnose lautet, dass das fordistische Produktionsparadigma sich zunehmend hin zu einer ästhetisch-symbolischen Ökonomie verschiebt (vgl. Schäfer 2017: 279). 2. Zweitens stimmen die Gegenwartsdiagnosen darin überein, dass sich mit der Entstehung einer ästhetisch-symbolischen Konsumund Wertsphäre eine neue politische Rationalität der Führungsweisen durchsetzt. Mit Reckwitz (2014) kann in diesem Zusammenhang von einem neuen sozialen Regime der Kreativität und Originalität (einem Kreativitätsdispositiv) gesprochen werden. Das Kreativitätsdispositiv beschreibt eine individuelle und gesellschaftliche Orientierung an dem ästhetisch Neuen. 3. Drittens wird innerhalb dieser Diagnosen konstatiert, dass es unter dem postmodernen Schlagwort vom Ende der großen Erzählungen und der Etablierung eines kulturtheoretischen Forschungsfeldes zu be-

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grifflichen Neujustierungen von ehemals geistes- und sozialwissenschaftlichen Theoriemodellen gekommen ist (vgl. Prinz 2017: 353f.). Die folgende Analyse zu gegenwärtigen Konstellationen des Denkens über den (Neu-)Anfang orientiert sich an diesen Transformationsdiagnosen und ist entlang der folgenden drei Punkte gegliedert. 1. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, den Stellenwert des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs in den veränderten Produktionsweisen einer ästhetisch-symbolischen Ökonomie aufzuzeigen (Kap. 2). 2. In einem zweiten Schritt werden am Beispiel bildungspolitischer Debatten um frühkindliche Bildung neue politische Rationalitäten am Leitmodell des (Neu-)Anfangs zu zeigen sein. Im Fokus steht insbesondere die Frage, wie sehr ehemals pädagogische Motive wie etwa das kindliche Spiel, die Kreativität und die Originalität ökonomisch umgedeutet sowie steuerungspolitisch vereinnahmt werden und mit einer neuen Adressierung von Kindern als unternehmerische Subjekte einhergehen (Kap. 3). 3. In einem dritten Schritt erfolgt schließlich eine Analyse des Forschungsfeldes der Pädagogik der frühen Kindheit. Ausgehend von der Diagnose einer Koinzidenz zwischen ökonomischen sowie politischen Transformationen seit den 1970er Jahren und einer epistemologischen und kulturalistischen Neujustierung geistes- und sozialwissenschaftlicher Analysekategorien (Kap. 4), werden Desiderate in der Forschung (Kap. 5) und Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit diskutiert (Kap. 6).

Das Anliegen der vorliegenden zeitdiagnostischen Analyse ist aufzuzeigen, wie sehr eine ästhetisch-symbolische Ökonomisierung des pädagogischen Topos des (Neu-)Anfangs auf den Ebenen der Bildungspolitik sowie in Forschung und Theorie mit einem begründungstheoretischen Desiderat der Pädagogik der frühen Kindheit zusammenhängt. Die leitende These lautet, dass im Zuge der Verschiebungen im Verhältnis von Ökonomie, Politik und Theorie auch die Verweisungsstruktur des pädagogischen Denkens, also wie dieses normativ und erkennt-

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nistheoretisch begründet, gerechtfertigt und legitimiert wird, grundlegenden Transformationen unterworfen ist. Diese These wird entlang von sieben Kapiteln entwickelt und untersucht. Um überhaupt die Denkfigur des (Neu-)Anfangs als pädagogische auszuzeichnen, wird zunächst in Kapitel 1 eine historische Perspektive gewählt. Es geht hier um eine kulturelle Erinnerungsarbeit, um vergessene Zusammenhänge (vgl. Mollenhauer 2008) sichtbar und gegenwärtige Verschiebungen im pädagogischen Denken des (Neu-)Anfangs erkennbar zu machen. Gegenwärtige Probleme und Fragen der Pädagogik sind historisch entstandene und sind daher als solche auszuweisen. In einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion historischer Konstellationen des Anfangsdenkens, beginnend in der antiken Philosophie, über das frühe christliche Mittelalter bis hin zur Neuzeit, werden die vielfältigen und spezifischen Ausprägungen der Ursprungs- und Anfangsthematik thematisiert. Die Rekonstruktion folgt dabei nicht einer strikten Differenzierung des Denkens nach historischen Entwicklungslinien oder abgrenzbaren Typologien, sondern fragt vielmehr am Beispiel prominenter Denkansätze nach Kontinuitäten, Verschränkungen und Unterschieden zwischen den historischen Konstellationen. Auf dieser Basis werden historisch wirkmächtige Topoi des pädagogischen Denkens über den (Neu-)Anfang herausgearbeitet und als Reflexionsfolie für gegenwärtige Thematisierungsweisen herangezogen. Mit Bezug auf zeitgenössische Diagnosen einer gegenwärtigen Entgrenzung pädagogischer Semantiken in andere gesellschaftliche Bereiche wie etwa der Ökonomie und der Politik (vgl. Höhne 2013), wechselt schließlich die Fragerichtung in Kapitel 2 von einer historischen in eine gegenwartsanalytische Perspektive. Dabei wird auf den Begriff der Postmoderne als heuristischer Erklärungsfolie in zweifacher Weise Bezug genommen: 1) als Beschreibung der real-historischen Verfasstheit der Gegenwartsgesellschaft und 2) als eine erkenntnispolitische Perspektive einer umfassenden Epistemologisierung kultureller, sozialer und pädagogischer Phänomene, die selber im Kontext der real-historischen Veränderungen zu verorten sind. Zunächst wird der paradoxe Ausgangspunk der Kategorie des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs im postmodernen Denken diskutiert. An-

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schließend wird das postmoderne Denken als gesellschaftlich dominante Geisteshaltung vor dem Hintergrund ihrer real-historischen Bedingungen diskutiert. In diesem Zusammenhang wird eine Neuformierung der Ökonomie unter den Bedingungen eines ästhetischen Regimes beschrieben. Bereits Marx Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten in ihrer Kritik der Kulturindustrie darauf aufmerksam gemacht, wie sehr das kulturindustrielle Versprechen des Neuen immerzu das Gleiche produziere (vgl. Horkheimer/Adorno 1944/1984). Doch im Unterschied zu Horkheimers und Adornos Analyse der Kulturindustrie machen gegenwärtige Zeitdiagnosen auf eine in sich widersprüchliche Entwicklung aufmerksam: Die zentrale Diagnose dieser unterschiedlichen Analysen lautet, dass die Ökonomisierung der Kultur gleichzeitig von einer gegenläufigen Tendenz der Kulturalisierung der Ökonomie begleitet wird. Kultur im umfassenden Sinne wird selbst zu einer Wertsphäre, in der dem ästhetisch Neuen eine besondere Bedeutung zukommt. In dem »sozialen Regime des Neuen« (Reckwitz 2014) wird die Produktion und Konsumption des Innovativen zu einem Imperativ. Hier lassen sich eine Reihe von Transformationen auf den Ebenen Organisation, Wahrnehmung und Beschreibung sozialer Zusammenhänge verzeichnen, die als Folge der Entgrenzung zwischen Ökonomie, Kunst und Kultur beschrieben werden. Es kommt zu einer tiefgreifenden Dezentrierung sozialer Zusammenhänge auf den Ebenen der Subjektvorstellungen, Kindheitsbilder, der Produktionsweisen als auch der Zeitökonomie. Am Beispiel der bildungspolitischen Debatten um frühkindliche Bildung wird in Kapitel 3 der Zusammenhang zwischen einer ästhetischen Ökonomisierung des Neuen und einer Neuformierung von Bildung unter dem Slogan »Auf den Anfang kommt es an!« genauer untersucht. Die Zeitdiagnose einer neuen ästhetischen Ökonomie bildet hier ein systematisches Fundament für die gängige, aber doch unterbestimmte Diagnose einer Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung. Unter der heuristischen Perspektive einer am Neuen orientierten Ökonomie kann gezeigt werden, wie sehr technokratische und ästhetische Strategien Hand in Hand gehen. Die Folge ist eine ökonomische Vereinnahmung von ehemals pädagogischen Motiven.

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Auf den Ebenen der bildungspolitischen Forderungen, interventionsbezogenen Konzepte und Zukunftsentwürfe wird dabei eine doppelte regulative Bezugnahme auf das Neue bzw. den (Neu-)Anfang erkennbar. Unter dem Slogan »Auf den Anfang kommt es an!« etabliert sich eine neuartige Regulationsstrategie von früher Kindheit, die paradoxerweise die Unverfügbarkeit des Neuen in der Zukunft als erlebte Ungewissheit und Unsicherheit in der Gegenwart verfügbar zu machen versucht. Institutionalisiert werden diese neuartigen Regulationsstrategien, die im Weiteren als präemptive Zeitpolitiken konkretisiert werden, über Konzepte der Kompetenzbildung und Prävention, wie sie etwa durch die OECD definiert und breitenwirksam durchgesetzt wurden (vgl. OECD 2005). Kapitel 4 wendet sich schließlich dem Forschungsfeld der Pädagogik der frühen Kindheit zu und fragt nach dem Potenzial von Forschung und Theorie, um die beschriebenen gesellschaftlichen wie auch begrifflichen Veränderungen kritisch zu reflektieren. Die Frage nach der Reichweite und Geltung des (Neu-)Anfangs im postmodernen Denken (siehe Kap. 2) wird hier erneut aufgegriffen und mit Blick auf ihre wissenschaftstheoretischen Konsequenzen weitergedacht. Inwiefern ist also die Kategorie des (Neu-)Anfangs nicht nur Thema von Theorie und Forschung, sondern betrifft die wissenschaftlichen Denk- und Analysekategorien selbst? Am Beispiel der zahlreichen turns (neuartiger Fragestellungen, Analyseinstrumenten, Konzepten), die sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den vergangenen Jahren als konzeptionelle (Neu-)Anfänge vollzogen und mittlerweile zu paradigmatischen Positionen entwickelt haben, wird zu zeigen sein, wie sehr die Forderung nach einem (Neu-)Anfang wissenschaftliche Denk- und Analysekategorien selbst betrifft. In einem ersten Zugang werden so auf der Ebene des wissenschaftlichen Denkens eine Reihe von Verschiebungen erkennbar, die als Epistemologisierung und Kulturalisierung geistes- und sozialwissenschaftlicher Denkund Analysefiguren beschrieben werden können. Die dabei verfolgte kulturalistische De-Ontologisierungsstrategie, so die abschließende These dieses Kapitels, basiert jedoch selbst auf unausgesprochenen ontologischen Vorannahmen, die zugleich verkannt und befördert wer-

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den, weil per se unterstellt wird, es gebe keinen ontologischen Status. Auf diese Weise betreibt die De-Ontologisierungsstrategie selber jene Festschreibung, die sie augenscheinlich kritisiert. Wie sehr die mit den Strategien der Epistemologisierung und Kulturalisierung einhergehenden begründungstheoretischen Desiderate eine Ökonomisierung von Forschung und Theorie begünstigen, wird in Kapitel 5 am Beispiel der Pädagogik der frühen Kindheit untersucht. Dazu wird zunächst die These einer Epistemologisierung und Kulturalisierung geistes- und sozialwissenschaftlicher Analysekategorien in Beziehung zu Diagnosen einer Dezentrismuslogik in den Theoretisierungsweisen von Vorschulkindheit seit den 1970er Jahren in Schweden und Deutschland in Beziehung gesetzt. Im Weiteren wird gezeigt, wie sich im Zuge der Dezentrismuslogik seit den letzten zwei Jahrzehnten ein frühpädagogisches Forschungsfeld durchsetzen konnte, das ein spezifisches, steuerungspolitisch ambitioniertes Verständnis von pädagogischer Qualität zu einer neuen epistemologischen Autorität erhebt. Diese epistemologische Autorität nimmt in der Forschung zur Pädagogik der frühen Kindheit die Gestalt einer methodologischen Qualitätsorientierung an. Es handelt sich hier aber nicht einfach um technokratisch verkürzte Steuerungsmodelle, sondern um ein neues Arrangement von Steuerungstechnologien, die auf Regulation durch De-Regulation setzen. Was man hier also zeigen kann ist, wie sehr die erkenntnistheoretische Dezentrismuslogik mit neuen steuerungspolitischen Ambitionen in der Pädagogik der frühen Kindheit koinzidiert. Nach der Diskussion der strukturell-epistemologischen Verwobenheit des frühpädagogischen Forschungsfeldes mit dem Qualitätsdenken wird im nächsten Kapitel 6 konkreter nach dem kritischen Potenzial von theoretischen Entwürfen des (Neu-)Anfangs in der Pädagogik der frühen Kindheit gefragt. Wie antworten aktuelle Theorieentwürfe auf die zunehmende steuerungspolitische Vereinnahmung ehemals pädagogischer Grundmotive? Besteht, wie etwa die feministische Kritik seit den 1990er Jahren nahelegt, eine unterschwellige Wahlverwandtschaft zwischen gegenwärtigen Machttechnologien und neueren Theorieentwürfen? Zur Beantwortung dieser Fragen werden aktuelle theo-

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retische Bezugnahmen auf das Neue bzw. auf den (Neu-)Anfang als historisch entstandene und weiterhin mit anthropologischen Grundannahmen über Kindheit und Kinder einhergehende Grundkategorie des pädagogischen Denkens kritisch reflektiert. Die Analyse orientiert sich dabei an theoretischen Grundfiguren, wie sie gegenwärtig in aktuellen (bildungs-)theoretischen Entwürfen prominent diskutiert werden. Es handelt sich hierbei um 1) ko-konstruktive Ansätze, 2) autopoietische Ansätze sowie 3) Ansätze der soziologischen Kindheitsforschung. Die Ergebnisse dieses Kapitels deuten darauf hin, wie sehr das kritische Potenzial von Bildungs- und Erziehungstheorien erodiert, indem nämlich die Distanz zwischen der pädagogischen Theorie und Strategien der ökonomischen Vereinnahmung von frühkindlicher Bildung zunehmend verschwindet. Was braucht die Theorie, um wieder ihr kritisches Potenzial zurückzugewinnen? Was braucht sie, um das Neue oder den (Neu-)Anfang denken zu können? Das abschließende Kapitel 7 beleuchtet mögliche Wege, wie eine Arbeit an einem (neuen) Begründungszusammenhang des pädagogischen Denkens gestaltet werden könnte. Hier wird auf neue Theorieströmungen eines neuen bzw. spekulativen Realismus zurückgegriffen, die, nun konstruktivistisch und dekonstruktivistisch aufgeklärt, um eine postfundamentalistische Rehabilitierung epistemologischer, ontologischer und spekulativer Fragen bemüht sind. Mit Blick auf die pädagogisch-anthropologische Basiskategorie der Sorge werden relationale Ontologien mit Blick auf Phänomene wie etwa der Bezogenheit, Verbundenheit, Angewiesenheit oder Verletzbarkeit als weiterführende Perspektiven für eine Pädagogik der frühen Kindheit diskutiert. Im Rückgriff auf diese Theorieangebote werden mögliche Denkwege für eine gegenstands- und begründungstheoretische (Neu-)Konturierung der Pädagogik der frühen Kindheit aufgezeigt und am Beispiel des frühpädagogisch relevanten Themas der Sorge exemplarisch beleuchtet.

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

»Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bi[ss]chen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben.« (Ende 2015: 61) Der Märchenroman von Michael Ende »Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte« handelt von einem besonderen kleinen Mädchen, das auf wunderbare Weise die Menschheit vor den grauen Herren, den Zeitdieben, rettet. Indem die Menschen anfangen, ihre Zeit für eine bessere Zukunft aufzusparen, läuft die Zeit zwar weiter, aber sie hört auf, im Leben der Menschen Sinn zu stiften. Die Beschleunigung ihres Lebens, die zugleich mit der Reduzierung auf das Nützliche und Effiziente einhergeht, führt zu einer völligen Sinnentleerung. Die Geschehnisse und Erlebnisse beschleunigen sich, vermehren sich, aber sie hinterlassen keine tieferen Spuren im Leben der Menschen. In der solcherart klein gewordenen Welt der Menschen breitet sich schließlich die Krankheit der »tödlichen Langeweile« (ebd.: 269) aus. Erst Momo

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gelingt die Rettung der Welt, indem sie die an ihr Ende gekommene, sterbende Zeit aus den Händen der grauen Herren befreit und damit die Hoffnung eines (Neu-)Anfangs in Aussicht stellt. Für die Rettung der Welt ist die kindliche Einfachheit von Momo von besonderer Bedeutung. Das Mädchen besitzt kaum etwas, und dennoch ist es reich, reich an lebendiger Zeit. Es ist kein Zufall, dass sich in dem Märchenroman von Momo zentrale Motive romantischer Kindheitsutopien wiederfinden lassen. Endes Kritik zielt vor allem auf den Fortschrittsglauben einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Die romantische Welt- und Geschichtsauffassung wird da deutlich, wo die Erwartung der Menschen, durch den Fortschritt erlöst zu werden, sich als ein Fehlglaube entpuppt. Nicht der Fortschritt, sondern die Rückkehr zur ursprünglichen Kindheit wird zum Zukunftsideal (vgl. Seinsche 2008: 34). Wie Hanna Seinsche hervorhebt, symbolisiert Momo als Geniusgestalt die Lebensfülle und das Glück in einer zunehmend sozial erkaltenden Fortschrittsgesellschaft (vgl. ebd.). Etwas genauer betrachtet lässt sich Endes »Momo« in eine viel längere menschheitsgeschichtliche Tradition der Mythen und Geschichten über göttliche Kinder einreihen. In ihrem Buch »Mythos vom göttlichen Kind« beschreibt Renate Günther, wie in allen Teilen der Welt von den vorgeschichtlichen, spirituellen Mythen der Steinzeit bis in die Gegenwart hinein die Idee eines (Neu-)Anfangs durch die Geburt eines göttlichen Kindes eine tragende Rolle im Denken der Menschheit spielte (vgl. Günther 2007: 19f.). Besonders für das pädagogische Denken beschreibt die Idee des Kindes als (Neu-)Anfang in seinen unterschiedlichen geschichtlichen Gestalten eine grundlegende Kategorie, die bis in die Gegenwart hinein wirkmächtig geblieben ist. Pädagogik, sowie sie spätestens seit ihrer neuzeitlichen Variante verstanden wird, ist durch einen Pathos des (Neu-)Anfangs gekennzeichnet, der gleichzeitig von Untergangsszenarien begleitet wird. Zu Verfallsgewissheiten und wiederkehrenden Anfängen in der Pädagogik schreibt Gerhard de Haan:

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

»Diagnosen des Niedergangs, Absterbens, des falschen und fatalen Weges, auf dem sich alles befinde, rechnen zum Zentralbestand pädagogisch bewegter Gemüter wie das Angebot einer Anthropologie und damit verknüpften Didaktik, die das Ganze wieder auf den rechten Weg bringen, es wiederbeleben und ihm aufhelfen soll.« (Haan 1996: 219) Das folgende Kapitel macht sich zur Aufgabe, historische Konstellationen des pädagogischen Denkens über das Kind als (Neu-)Anfang nachzuzeichnen. Nach welchen Hinsichten, Denkweisen und unter welchen Konstellationen hat das pädagogische Denken mit dem (Neu-)Anfang zu tun? Je nachdem, ob es um den Ursprung und den Grund aller Dinge (Antike), den Beginn der heilsgeschichtlichen Zeit (Mittelalter) oder den (Neu-)Anfang in der Geschichte (Neuzeit) geht, kommen Konstellationen und Begründungsmuster des pädagogischen Denkens in vielfältiger Weise in den Blick. Mit historischen Konstellationen des Anfangsdenken sind die thematisch vielfältigen und epochenspezifischen Ausprägungen der Anfangs- und Ursprungsthematik gemeint, wie sie im Horizont ihrer ideengeschichtlichen Ausgestaltung für die Pädagogik bedeutsam werden. Es wird zu zeigen sein, wie sehr die historisch spezifische Fragerichtung nach dem Ursprung bzw. nach dem Anfang im Rahmen eines pädagogisch-anthropologischen Vervollkommnungsprojektes relevant wird. So wird die pädagogische Frage nach dem Ursprung bzw. nach dem Anfang vordergründig als erkenntnistheoretische Frage nach einem sicheren Erkenntnisgrund und als sittliche Frage nach einem vernünftigen Handlungsgrund relevant. Ziel ist dabei keineswegs, eine geschichtliche Entwicklungslinie oder klar abgrenzbare Typologien des pädagogischen Anfangsdenkens zu rekonstruieren. Vielmehr geht es um das Zusammenspiel von Begriffen, Denkweisen und Problembeschreibungen, die für das pädagogische Denken und Fragen über den (Neu-)Anfang relevant geworden sind. Besonderes Interesse gilt dabei den begründungstheoretischen Motiven: Warum, wozu und wie wird auf die Idee des Ursprungs bzw. des (Neu-)Anfangs zur (Be-)Gründung und Rechtfertigung von Bildung und Erziehung zurückgegriffen?

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Den methodologischen Ausgangspunkt der Analyse bildet dabei ein Grundverständnis von Geschichte, das auf die Perspektivität geschichtlicher Rekonstruktionen aufmerksam macht. In diesem Sinne erweist sich eine Analyse der Geschichte des pädagogischen Denkens mindestens in zweifacher Hinsicht als geschichtlich bedeutsam. Das methodologische Prinzip der Perspektivität reflektiert nicht nur die Vielfalt und Widersprüchlichkeit geschichtlicher Rekonstruktionen. Darüber hinaus sensibilisiert es für den Standort der jeweiligen Analyseperspektive, der selbst geschichtlich wie sozio-kulturell gerahmt ist. Die Einsicht in die doppelte Historizität und Kulturalität, wie sie von der historisch kritischen Pädagogischen Anthropologie vorgeschlagen wird (vgl. Wulf/Zirfas 2014: 40), erweist sich auch in diesem Analysezusammenhang als fruchtbare Heuristik. So ist nicht nur das pädagogische Denken als Gegenstand der Analyse historisch verfasst. Ebenso sind auch Wahrnehmung, Methode, Fragerichtung und Erkenntnisinteresse jeweils historisch gerahmt. Demzufolge ist eine Analyse der Geschichte des pädagogischen Denkens selbst geschichtlich zu verorten, das heißt, sie ist immer eine Rekonstruktion des Vergangenen aus einer historisch gewordenen Perspektive von heute. Gleichsam macht das methodologische Prinzip der Perspektivität darauf aufmerksam, wie sehr Geschichte, statt etwas Abgeschlossenes zu sein, für das Verständnis gegenwärtiger Problem- und Fragestellungen produktiv sein kann. So ermöglicht eine historische Rekonstruktion des pädagogischen Denkens gegenwärtige Diskurse, Theorien und Ansätze in ihrem geschichtlichen Gewordensein nachzuvollziehen, auf ihre geschichtliche Kontingenz aufmerksam zu machen und alternative Lesarten gegenüber dominanten Diskursen zu entwickeln. Die Bedeutsamkeit einer geschichtlichen Rekonstruktion besteht nicht zuletzt darin, so Albert Reble, dass »die Gegenwart in ihrer Vielschichtigkeit, ihren Spannungen und Schwierigkeiten [...] im pädagogischen Bereich [...] nicht zu verstehen [wäre], wenn man nicht [wüsste], wie sie aus der Vergangenheit herausgewachsen ist.« (Reble 2009: 15) Es wird nicht nur nachvollziehbar, wie gegenwärtige pädagogische Begriffe, Ansätze und Konzepte geschichtlich entstanden sind, sondern gleichzeitig auch erkennbar, dass das geschichtliche »Werden nicht aufhört, sondern wei-

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

tergeht, gestaltet werden kann – gestaltet werden muss.« (Koerrenz et al. 2017: 8) Im Großen und Ganzen werden für die Analyse drei historische Phasen ausgewählt, in denen Kernkonstellationen des pädagogischen Denkens über den (Neu-)Anfang als Ursprung bzw. als geschichtlicher Neubeginn zum Ausdruck kommen. Die Auswahl der historischen Beispiele orientiert sich an sogenannten Klassikern und Wegbereitern des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenken, wie sie in metaphysischen, theologischen oder geschichtsphilosophischen Konzepten der Antike (ca. 500 v. Chr.), der Philosophie des Mittelalters (14.-15. Jahrhundert) oder Pädagogik der Neuzeit (18.-19. Jahrhundert) Gestalt annehmen. Es wird sich zeigen, dass metaphysische wie theologische Fragen nach dem Ursprung Vorläufermodelle beschreiben, die das neuzeitliche Verständnis von pädagogischen (Neu-)Anfängen in grundlegender Weise geprägt und vorbereitet haben sowie bis in die Gegenwart hinein – als das scheinbar Überwundene – wirkmächtig geblieben sind. Historische Konstellationen, wie etwa der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts oder der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts, sind für die folgende Analyse hingegen weniger von Bedeutung, da hier vor allem antike bzw. neuzeitliche Denkmotive des Ursprungs- und Anfangsdenkens wiederentdeckt werden und damit keine wesentlichen neuen Beiträge für die verfolgte Fragestellung liefern. Ebenso spielen kindheitsutopische Entwürfe, wie sie etwa in den romantischen Reflexionen über eine zweite, sogenannte höhere Kindheit, etwa bei Novalis oder Nietzsche, als ein alterstranszendentes Ideal zum Ausdruck kommen, keine Rolle für die folgenden Überlegungen. In romantisierenden Vorstellungen einer zweiten Kindheit geht es weder um Pädagogik noch um Kinder im engeren Sinne, sondern um Kindheit als eine poetische Daseinsform als anthropologische Kategorie (vgl. Ewers 1989).

1.1

Vorsokratik und die Suche nach der Ur-Substanz der Welt

Am Anfang der abendländischen Philosophie steht die Ursprungsfrage an prominenter Stelle. Bereits in der vorsokratischen Philosophie, wie

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sie sich 600 bis 350 v. Chr. in den ionischen Städten, vor allem in Milet an der Westküste Kleinasiens, entwickelte (vgl. Capelle 2008), wird die Suche nach der arché, der Ur-Substanz der Welt, zum exorbitanten Inhalt des Denkens. Weil die Welt einen Ursprung haben muss, weil sie aus grundlegenden Elementen besteht, weil die Welt in Bewegung ist, wurde die arché auf sehr unterschiedliche Art und Weise zum brisanten Thema des philosophisch-pädagogischen Denkens in der Vorsokratik (vgl. Fröhlich 2015: 199). Grund und Ursache des Werdens der Welt werden nicht mehr im Stil der mythischen Erklärungen in einer durch Götter und heroische Taten beeinflussten Welt gesehen, sondern in den unveränderlichen UrStoffen der Welt gesucht (vgl. Capelle 2008: 36f.). Sich für das Bleibende im Werden und Vergehen der Welt zu interessieren heißt schließlich, sich für die Natur des Ganzen zu interessieren. Vorsokratische Philosophie ist im Wesentlichen Naturphilosophie, in der die Frage nach dem Ursprung der Dinge mit der Frage nach ihrem Wesen verknüpft wird (vgl. Angehrn 2007: 89). Dabei lässt sich die vorsokratische Frage nach der arché in zwei Richtungen unterscheiden, und zwar in eine »temporal-genalogische« und eine »ontologische« (ebd.: 82). In der Rückbesinnung auf den Ursprung artikuliert sich zum einen die Frage nach der Herkunft der Dinge, einem Früheren, das als Prinzip bleibt, die Dinge durchzieht und bewegt. Zum anderen ist mit arché die Suche nach der stofflichen Zusammensetzung der Welt, ihren elementarsten Bausteinen gemeint. Die Vorsokratiker fragten nach der Herkunft und dem Aufbau der Welt und fanden die Antwort in den Urstoffen, Urpartikeln, den letzten unbestreitbaren materiellen Bestandteilen der Natur. In einem Überblick zu Philosophien des Kindes fasst Michael Pfister unterschiedliche vorsokratische Lesarten des Ur-Stoffes zusammen: »Für Thales von Milet ist das Wasser der Urstoff, dem sich alles andere verdankt. Anaximander von Milet denkt bereits abstrakter und zusammenhängender, wenn er als Matrix ein ›Unbeschränktes‹ (›apeiron‹) annimmt, aus dem alles entstehe und zu dem alles vergehe. Weitere Prinzipien sind die ›Luft‹ bei Anaximenes, die ›Zahl‹ bei Pythagoras und der ›Geist‹ bei Anaxagoras.« (Pfister 2011: 9; Hervorh. i.O.)

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

Heraklit und das Ur-Feuer Die Frage nach der arché ist nicht nur eine Frage nach einem früheren Urgrund der Dinge und ihren materiellen Elementen. Heraklit etwa geht über eine materialistische Betrachtungsweise der arché hinaus, indem er universelle wie geistige Gesetzmäßigkeiten zum Prinzip des Seins und Erkennens betrachtet. Auch bei Heraklit lässt sich eine temporal-genealogische sowie ontologische Fragerichtung nach der arché unterscheiden. Die temporal-genealogische Grundstruktur der Welt beschreibt Heraklit anhand eines eindrücklichen und weitläufig bekannten Gleichnisses. Als Sinnbild der ewigen Bewegung des Werdens und Wandels der Welt steht für Heraklit das Kind als Aion. Heraklit hat sich die allmächtige Zeit des zyklischen Entstehens und Vergehens als das Werk eines spielenden Gottes vorgestellt, der wie ein Kind seine Steine auf ein Spielbrett setzt und nach jedem Spiel wieder von vorne beginnt (vgl. ebd.: 19f.). Die Bewegung ist das grundlegende Wesen der Welt. »Panta rhei« – alles ist im Fluss, heißt ein berühmter Ausspruch, der mit Heraklit in Verbindung gebracht wird. Das Fließen des Flusses ist ein Sinnbild dafür, wie alle Dinge in der Welt miteinander verschränkt sind. Alles ist durchdrungen von dieser lebendigen Bewegung des Weltgeschehens, eine Bewegung, in der gegensätzliche Kräfte zusammenwirken, Beziehungen und Verbindungen eingehen. Das Spiel – ebenso der Krieg – ist solch ein Zusammentreffen widerstreitender Gegensätze, das im Kreislauf von Widerspruch und Ausgleich, der Abgrenzung und Verbindung eine sinnvolle Einheit der Welt stiftet und diese aufrechterhält. Das eigentliche Interesse gilt aber nicht der offensichtlichen Bewegung und Veränderung der Welt, sondern dem, was in der Veränderung bleibt – dem Einen, das alles begründet und zusammenhält. Bei Heraklit ist der ursprüngliche, alles durchziehende und bestimmende Stoff das Feuer bzw. das »Ur-Feuer«. Das Ur-Feuer dient als Sinnbild für das lebendige und ewige Prinzip des Werdens und Vergehens der Welt. So heißt es bei Heraklit: »Dieses ordentliche Gebilde hier, dasselbe für alle, schuf weder einer der Götter noch einer der Menschen, sondern es war immer und ist und wird sein; ewig lebendi-

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ges Feuer, entflammt nach Maßen und erlöschend nach Maßen«. (zit. n. Marciano 2007: 309) Innerhalb der Welt kommt das Ur-Feuer in zweifacher Weise zum Ausdruck. Auf einer materiellen Ebene ist das Feuer Ausdruck und Gestalt des ständigen Kreislaufes von Werden und Vergehen. Gleichsam ist das Feuer auch geistiges Prinzip, was das lebendige Werden der Welt ermöglicht. Dieses geistige nennt Heraklit Logos, die Weltvernunft. Der Logos ist Kraft und Vernunft zugleich, bleibendes, strukturierendes und vermittelndes Urprinzip, das die Einheit im Zusammenspiel des Widerstreits des Vielen verwirklicht. Sofern der Logos die regulierende Gesetzmäßigkeit im gesamten Makrokosmos ist, ist er es gleichsam im Mikrokosmos für das menschliche Denken. Diese Entsprechung zwischen dem Makround Mikrokosmos markiert den Ausgangspunkt einer anfänglichen philosophischen Anthropologie, die den Menschen als Teil des lebendigen Kosmos versteht. Wie Werner Jaeger es beschreibt, erscheint Heraklit als der »erste philosophische Anthropologe« (Jaeger 1973: 246), der den Anspruch erhebt, »den Sterblichen die Augen über sich selbst zu öffnen« (ebd.: 243). Neben der genealogisch-temporalen und ontologischen Fragerichtung nach der arché, lässt sich in Heraklits Ursprungsdenken demnach auch ein anthropologisch-pädagogischer Strang ausmachen. Für Heraklit ist der Logos nicht bloß ein abstrakter Weltgeist, sondern auch Voraussetzung und Ziel wahrer Erkenntnis des Menschen. In der Suche nach der arché artikuliert sich ebenso ein vorsokratisches Aufklärungsverständnis, in dem gefordert wird, dass sich der Mensch als zum Logos zugehörig erkennt und aus dieser Erkenntnis heraus sein Leben entsprechend bemisst und ausrichtet. Bereits in vorsokratischen Konstellationen lässt sich demnach ein bis in die Gegenwart hinein wirkmächtiger pädagogischer Topos ausmachen, in dem Bildung und Erziehung dem entfremdeten Menschen durch den Rückgang zum Ursprung verhelfen soll, die Wahrheit des Seins zu vernehmen und zu wirklicher Erkenntnis zu gelangen. So lautet Heraklits Verfallsdiagnose für den Menschen seiner Zeit: »Für diesen Logos da, der ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder bevor sie ihn gehört noch sobald sie ihn gehört haben; denn obwohl al-

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les geschieht, wie es dieser Logos erklärt, gleichen sie Unerfahrenen.« (zit. n. Marciona 2007: 295; Hervorh. i.O.) Die wahre Erkenntnis des Logos ist verschüttet unter den gewöhnlichen Erfahrungen und den Vorurteilen der Menschen, sodass Bildung und Erziehung die große Aufgabe zukommt, den Erkenntnisweg zum wahren Ursprung und Wesen offenzulegen. Dem Verfall des Alltäglichen entkommt der Mensch nur durch Selbstbefragung der Seele, mit der die Seinsstruktur des Menschen in seiner kosmischen Zugehörigkeit offenbar wird. Die Erkenntnis der Selbstsuche des Logos in der Seele eines jeden, ist demzufolge in Analogie zu denken zur Erkenntnis des Logos im Kosmos an sich. Indem wir unsere subjektive Seele erforschen, erforschen wir gleichzeitig die objektive Gesetzmäßigkeit des kosmischen Weltgeschehens, dessen Teil der Mensch ist. Folgt man Karl Albert, dann hat Heraklit mit seinem Verständnis der menschlichen Seele als Erkenntnisquelle wichtige Weichen für das neuzeitliche und moderne Bildungsverständnis gelegt. Die Entdeckung der Seele ist für die Geschichte und Theorie der Bildung im Abendland von grundlegender Bedeutung. Seit Heraklit sei paideia »nicht Sache des Wissensumfangs, sondern der Tiefe einer einzigen wesentlichen Einsicht.« (Albert 1984: 28) Der Logos als kosmische Ordnung sowie Erkenntnisfähigkeit im Menschen wird zum Maß und Grund der menschlichen Bildung, nicht im Sinne eines rein rational-intellektuellen Vermögens, wie bereits angedeutet, sondern viel ursprünglicher, um das Sein der Welt hinter dem Oberflächlichen zu vernehmen. Als Prinzip des tieferen Denkens zeigt der Logos, so Winfried Böhm in Anlehnung an Theodor Ballauff, die »Wahrheit an, zu der der Mensch kraft des diskursiven Denkens gelangen kann und soll, und er stiftet zugleich ein sittliches Maß, nach dem alles Irrationale von der Vernunft bedacht und gelenkt werden soll.« (Böhm 1997: 91) Wer dem Logos am nächsten ist, ist auch der Vernunft und Sittlichkeit am nächsten. Die Erkenntnis des Vernünftigseins von Welt heißt, diese Vernunft in sich selbst zu finden und beleben. Das Heraklitsche Ursprungsdenken ist demnach normativ konnotiert, indem nämlich das Erste, Ursprüngliche als das sittlich Bessere schlechthin gilt.

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Das heißt aber wiederum, dass im Rückgang zum seinsmäßigen Ursprung die Möglichkeit eines (Neu-)Anfangs undenkbar bleibt. Es gibt nichts Neues, was in die Welt kommen könnte, keinen (Neu-)Anfang, denn Zeit ist nur als zyklische Bewegung des unveränderlichen Logos denkbar. Bildungstheoretisch gewendet heißt das, dass der Mensch im Logos nicht etwas Neues entdeckt, sondern das immer schon Gewesene als Möglichkeit seines Selbstverhältnisses wiederfindet.

1.2

Antike und die Suche nach Letztgründen von Wahrheit und Handeln

Auch in den weiterführenden Denkkonstellationen der sokratischen Philosophie, wie es am Beispiel von Platon im Folgenden zu zeigen sein wird, ist die Suche nach einem alles erklärenden und ewigen Ursprung das zentrale Motiv von Philosophie und ihren bildungstheoretischen Implikationen. Die sokratische Philosophie versteht sich als Gegenentwurf zur vorsokratischen Naturphilosophie, die mit der Suche nach dem Ur-Stoff das Weltgeschehen erklären wollte. Die noch im vorsokratischen Ursprungsdenken aufkommende Frage nach dem Logos wird in der Ideenlehre des Platon, durch die Frage nach der Intelligibilität (Idee, des eidos) vertieft und erweitert. Die ontologische Fragerichtung nach dem Seinsgrund der Welt wird sowohl als epistemologische Frage nach dem Erkenntnisgrund (woher und wie wir etwas wissen) als auch als sittliche Frage nach dem vernünftigen Handlungsgrund (was ist Grund und Maß unseres Handelns) gestellt (vgl. Fröhlich 2015: 199). Das Anliegen ist begründungs- und fundierungstheoretischer Art, insofern die Frage nach der arché als die Suche nach Letztgründen von Wissenschaft, Politik und Pädagogik relevant wird. Die Frage nach der Gültigkeit und Allgemeinheit von Erkenntnis, Ethik und Handeln soll nunmehr auf eine letzte Ursache, einen letzten Beweger, auf einen umfassenden Letztgrund hinter den elementaren Bestandteilen der Welt zurückgeführt werden (vgl. Angehrn 2007: 101). Die Frage nach einem »voraussetzungslosen Anfang« (Platon 2010: 300), die im Folgenden mit Platon dargestellt werden soll, wird hier

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teleologisch auf ein Ende hin gedacht, als Streben auf das Gute hin, das nicht Vieles, sondern nur das höchste Eine sein kann, das wiederum das Viele begründet.

Platons Ideenlehre und Gleichnisse Ähnlich wie Heraklit geht auch Platon davon aus, dass die Wirklichkeit als eine in Bewegung begriffen werden muss, die sich ständig verändert. Von dieser sich verändernden Wirklichkeit unterscheidet Platon die Wirklichkeit der Ideen, die das hervorbringende und strukturierende geistige Prinzip hinter den fließenden Bewegungen beschreibt. Alles, was der empirischen Sinneswelt angehört, fließt und ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht unsicher. Die geistigen Ideen hingegen bleiben immer gleich und unverändert. Der ideelle Ursprung der Welt liegt in den ewigen Ideen begründet, nach denen sich die sinnlich erfahrbare Welt bildet. Trotz dieser Hierarchisierung der Erkenntnisweisen vom Sinnlichen und Intelligiblen scheinen vor allem solche Interpretationen zu überzeugen, die Platons Ideenlehre nicht als ontologische Differenz zweier Welten auslegen, sondern auf die funktionale Differenz dieser im Erkenntnisprozess abheben (vgl. Ebert 1974). Anhand des berühmten und für die Ideengeschichte der Bildung relevanten Höhlengleichnisses Platons kann dieser Sachverhalt in den folgenden Ausführungen veranschaulicht werden. Das Höhlengleichnis, das in Platons »Politeai« in einem Dialog zwischen Sokrates, Glaukon und Adeimantos zum Thema wird, ist das letzte von drei Gleichnissen, die nach der höchsten menschlichen Erkenntnis, ausgehend von ihren Ursachen, ihrem stufenweisen Aufbau und ihren bildungstheoretischen Anfängen, fragen. Das Anliegen des ersten Sonnengleichnisses ist es, die verschiedenen Weisen der Wirklichkeit des Sinnlichen und der Idee offenzulegen. In Analogie zur Sonne, die allem zur Sichtbarkeit, Wahrheit und Lebendigkeit verhilft, wird auch die Idee des Guten als Ursache der Erkenntnis und des Seins ausgewiesen. So wie die Sonne das Licht ermöglicht, das auf das Auge trifft und Sehen möglich macht, so ermöglicht die Idee

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die Erkenntnis des Wahren und Guten. Als Ursache ist die Idee des Guten nicht bloß ein Jenseitiges, und doch etwas anderes als Erkenntnis und Sein. Die Idee des Guten ist als Ursache von Sein und Erkenntnis diesen vorgelagert und begründet sie. Das Gute ist, so Platon, »seinem Verhältnis nach auf einer höheren Stufe« und ragt »an Würde und Kraft über das Sein« (Platon 2010: 298) hinaus. Richtet das Sonnengleichnis den Fokus auf die Erkenntnisursache, die es schließlich in der Idee des Guten findet, fragt das anschließende Liniengleichnis nach Aufbau und Strukturierung von Erkenntnisarten und ihren jeweiligen Erkenntnisgegenständen. Die erkennbare Wirklichkeit wird als eine senkrechte, von unten nach oben aufsteigende Linie vorgestellt. Die im Sonnengleichnis getroffene Unterscheidung aufgreifend, wird die Linie in einen sinnlichen und geistigen Bereich eingeteilt, die wiederum in zwei Bereiche unterteilt werden, sodass sich vier ungleiche Bereiche ergeben. Während auf der ersten Stufe das Meinen und Vermuten über Abbilder, Schatten und Spiegelbilder nicht hinauskommen, haben auf der zweiten Stufe der Erkenntnisart des Wahrhaltens unmittelbar wahrnehmbare Dinge zum Gegenstand, und auf der dritten Stufe Gegenstände der Wissenschaft und Mathematik zwar bereits geistig mit dem Verstand erfasst werden können, so bildet doch erst die vierte Stufe die höchste Erkenntnisart der Ideen. Hier vollzieht sich die direkte Vernunfteinsicht in das Wesen der Ideen, das heißt in das Gute. Erkenntnis- wie begründungstheoretisch lässt sich die Linie sinnbildlich als eine Bewegung von ungewissen Gegenständen und Erkenntnisarten hin zu unveränderlichen Gegenständen und der höchsten Wahrheit, dem voraussetzungslosen, »wirklichen Anfang des Ganzen« (ebd.: 301), interpretieren, der keiner sinnlicher Vermittlung bedarf, sondern durch die Vernunft als geistigem Vermögen, das in jedem Menschen wohnt, unmittelbar einsichtig wird. Dies ist der fortschreitende Erkenntnisweg, der erst am Ende zum voraussetzungslosen Anfang führt, um dann wiederum sich vom Ende her als begründungstheoretischer Ausgangspunkt der ersteren Erkenntnisformen zu erweisen. Während das Sonnengleichnis nach der Ursache und dem Grund von Erkennen und Sein sucht, das Liniengleichnis anschließend den

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Weg zur höchsten Erkenntnis beginnend mit den vermittelten Anfängen bis hin zum »voraussetzungslosen Anfang« beschreibt, fragt das Höhlengleichnis danach, wie der Mensch im Durchlaufen der Erkenntnisarten die höchste Stufe der Erkenntnis überhaupt erreichen kann. Beschrieben wird hier, wie der Weg von der Doxa der Unbildung hin zur eigentlichen Bildung verläuft. Die Doxa ist nicht zu unterschätzen, bildet sie doch in Platons Bildungslehre den Ausgangspunkt eines Widerstrebens, mit dem die menschliche Bildung beginnt. Der Schauplatz des Höhlengleichnisses ist weitläufig bekannt: Menschen sitzen mit Fesseln an Schenkeln und Hals in einer unterirdischen Behausung (vgl. ebd.: 303). Unfähig, das Gesicht zu bewegen, bleibt der Blick der Bewohner auf die Wand der Höhle fixiert. Hinter ihnen führt ein schmaler Gang in der Breite ihrer Behausung nach oben zur Erdoberfläche, die sie nicht sehen können. Auf der Mitte des Weges brennt ein Feuer, das sein Licht an die Wände der Behausung wirft. Zwischen den Gefangenen und dem Feuer steht eine niedrige Mauer, »Gaukelkünstler« (ebd.) tragen längs der Mauer allerlei Gegenstände und Figuren hin und her und manchmal dringen auch ihre Stimmen unklar bis zu den Gefangenen vor. Unfähig, das Schauspiel hinter sich zu sehen, halten die Gefangenen die Schatten, die durch das Feuer an die Höhlenwand geworfen werden, für die Wirklichkeit. Ausgehend von diesem Szenario fragt Sokrates, was geschehen würde, wenn man nun einen der Gefangenen entfesseln und ihn zwingen würde, den steinigen Gang hinaufzugehen, vorbei am Feuer, bis er schließlich das Tageslicht erblicken könnte. Sokrates beschreibt hier den steinigen Aufstieg von der Welt der Schatten, über die sinnliche Wahrnehmung von Dingen, Werken und ihren Anordnungen bis hin zum schmerzhaften Versuch, in das Licht der Sonne zu blicken, das als Metapher für die Idee des Guten dient. Immerzu ist der Erkenntnisprozess ein schmerzhafter Prozess, der durchlebt werden muss, bis die Menschen über die gewohnten Schatten hinaus zur höheren Erkenntnis gelangen. Der Schmerz der Erkenntnis besteht nicht nur in der Erkenntnis, dass die bisherige Weltauffassung ein Trugschluss war, was unvermeidlich zur Erschütterung im Inneren des Betroffenen führt. Auch in umgekehrter Weise ist die Rückkehr

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des ehemals Gefangenen in die Dunkelheit der Höhle eine schmerzhafte Erfahrung. Der Mensch, der die Gefahr auf sich nahm, in das Licht der höchsten Erkenntnis zu blicken, kehrt nun mit der Gewissheit in die Dunkelheit zurück, nie mehr Teil seiner vergangenen Welt sein zu können. Nicht Dankbarkeit, sondern Hohn, Anfeindung und Todesdrohungen werden ihm durch die anderen zuteil. Folgt man dem Höhlengleichnis, dann ist Bildung zunächst kein glückseliger Zustand, sondern in zweifacher Hinsicht ein schmerzhafter Prozess, wie Käte Meyer-Drawe über Anfänge des Lernens schreibt: »Der Betroffene wird [...] in mehrfacher Hinsicht zum Opfer seiner Befreiung. Ins Sonnenlicht zu blicken blendet ihn und schmerzt in seinen Augen. Der Blick in die Höhle ist von Nachflimmern beeinträchtigt, sodass er weder die Wahrheit sehen noch sich in den Schutz der bloßen Meinungen zurückziehen kann. [...] Das Neue wird noch nicht verstanden, dem Alten wird nicht mehr getraut.« (Meyer-Drawe 2005: 32) Aus bildungstheoretischer Sicht beschreibt Erkenntnis demnach nicht die Ansammlung von Wissen, sondern eine Verwandlung des ganzen Menschen – eine Umwendung der Seele (vgl. Platon 2010: 309), damit Anfänge der Bildung überhaupt möglich werden. Die in diesem Bildungsverständnis fassbare Konstellation des Anfangsdenkens differenziert zwischen einem vermittelten und einem unvermittelten Anfang. Bildung ist eine Bewegung der Umwendung, beginnend bei relativen Anfängen der Schatten, Dinge, der Artefakte und Kultur bis hin zum voraussetzungslosen Anfang, der gleichsam Voraussetzung aller vorausgegangenen Erfahrungen und Erkenntnisse ist. Erst am Ende wird der Anfang von Erkenntnis und Sein einsichtig, und das durch ihn Verursachte. In seiner Zeitstruktur meint der Anfang bei Platon – ähnlich wie bei Heraklit – nicht ein Neues in der Zukunft. Der Fortschrittsgedanke, wie er sich schließlich in der Neuzeit als dominante Denkkategorie durchsetzen wird, spielt in der antiken Denkkonstellation noch keine Rolle. Der Aufstieg zur höheren Erkenntnis ist kein Fortschritt, sondern ein Rückgang zu einem seinsmäßigen Ursprung, der als Urgrund immer schon war.

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

Zusammenfassung Am Beispiel der Philosophien von Heraklit und Platon wurden Konstellationen des Ursprungsdenkens in der griechischen Antike nachgezeichnet. Zusammenfassend lässt sich im antiken Denken über die arché eine zweifache Bezugnahme auf den Ursprung erkennen. Während der Ursprung in seiner temporalen Struktur als das zeitliche Frühere bzw. Erstere verstanden wird, das erst am Ende zu sich zurückkommt, gilt er in ontologischer Hinsicht als die immer gegenwärtige Seinsstruktur der Wirklichkeit. Die antike Frage nach der arché ist vor allem die Suche nach dem Bleibenden in der Bewegung und Veränderung der Welt. Ob nun als Logos des Heraklit oder die Idee des Guten bei Platon, immer geht es um die Suche nach einem intelligiblen Prinzip, einer letzten Ursache und einem höchsten Grund. In begründungstheoretischer Hinsicht fallen so Seins- und Geltungsdimension, Ontologie und Ethik zusammen. Die arché ist nicht nur die Frage nach der Seinsstruktur der Wirklichkeit, sondern gleichsam eine Suche nach der Letztbegründung für die ethische wie pädagogische Vollendung des Menschen durch Vernunft, Tugend und Freiheit. Bildung und Erziehung werden als Mittel und Praxis entdeckt, um den Menschen zur Vervollkommnung zu verhelfen. Dass die antike Philosophie wichtige Vorarbeiten für die Epoche der Aufklärung geleistet hat, ist ohne Zweifel. Nicht unproblematisch ist dabei jedoch die fundamentalistische Ausgangslage, weil ethische, pädagogische wie anthropologische Fragen mit der Seinsstruktur der Wirklichkeit kurzgeschlossen und damit als unveränderliche Tatsachen fixiert werden. In einem geschlossenen Weltbild, in dem jede Bewegung zirkulär zum Ursprung zurückkehrt, kann ein Anfang von etwas Neuem nicht entstehen. Erst mit dem Übergang zum christlichen Denken entsteht eine irreversible Vorstellung der Zeit, die sich einem möglichen Anfangsdenken öffnet.

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1.3

Vom Anfang und Ende der Weltzeit: Konstellationen der christlichen Eschatologie

Zwar ist das philosophische Denken im Mittelalter kein radikaler (Neu-)Anfang im engeren Sinne, da es an begriffliche Kategorien des philosophischen Ursprungsdenkens der Antike rückgebunden bleibt (vgl. Flasch 2013: 35). Dennoch setzt sich mit dem Christentum eine teleologische Geschichtsauffassung durch, die grundlegende Veränderungen mit sich bringt. Für dieses neuartige Geschichtsverständnis ist die (neu-)platonische Interpretation der Intelligibilität der Welt keineswegs unbedeutend. Die platonische Zwei-Welten-Lehre bleibt grundlegend für ein theologisches Geschichtsverständnis, in dem die Unterscheidung zwischen einem Gottesstaat der Ewigkeit und einem Weltstaat des Menschen konstitutiv für den zeitlichen Werdegang von Mensch und Welt ist (vgl. Mader 1991: 287f.). Dabei wird das antike Schema des Ursprungsdenkens übernommen und der Gedanke eines weltschaffenden und unveränderlichen Logos theologisch reinterpretiert. Die Neukonfiguration antiker und christlicher Denkmotive lässt sich insbesondere im Zeit- und Geschichtsverständnis der Spätantike (4. bis 6. Jahrhundert) veranschaulichen, wie sie etwa in Augustinus‘ Bekenntnissen zum Ausdruck kommt. Während auf der einen Seite das platonische Schema der Zwei-Welten-Lehre auf die Zeit als Unterscheidung zwischen einer vergänglichen innerweltlichen Zeit und einer unveränderbaren Ewigkeit übertragen wird, wird gleichsam ein teleologisches Zeitmodell entworfen, das auf die Überwindung zyklischer Zeitmodelle zielt. Wie im Folgenden am Beispiel der Zeitkonzeption des Augustinus zu zeigen ist, ist es gar nicht die Idee einer Linearität der Zeit, die prägend für das christliche Zeit- und Geschichtsverständnis wurde. Entscheidender für das Anfangsdenken in der Spätantike ist vielmehr die Vorstellung einer Einmaligkeit und Irreversibilität zeitlicher und geschichtlicher Ereignisse. Wie bereits dargestellt, setzt das antike Zeitverständnis auf die kreisförmige Wiederkehr des Immergleichen, in der es weder Anfänge noch ein Ende geben kann. Erst mit dem Christentum setzt sich eine

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heilsgeschichtliche Vorstellung durch, in der Zeit als unwiederbringliche Bewegung von der Genesis hin zur Eschatologie vorgestellt wird. Menschheitsgeschichte wird durch Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Erwartung des Jüngsten Gerichts bestimmt. Der (Neu-)Anfang wiederum, der mit dem christlichen Zeit- und Geschichtsverständnis denkbar wird, kann ebenfalls zweifach vorgestellt werden, und zwar als absoluter und als relativer (Neu-)Anfang. Die Ewigkeit Gottes als Urgrund und Quell bringt Zeit als solche hervor und setzt damit einen transzendenten und absoluten Anfang. Alles, was ist und sein kann, beruht auf der Schöpfung Gottes. Mit der Vollendung der Heilsgeschichte durch die Ankunft Jesu vollzieht sich jedoch ein weiterer (Neu-)Anfang, mit dem die Geschichte des Menschen beginnt. Diese restliche Zeit zwischen der Offenbarung des Heilsgeschehens und der Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Weltgeschichte markiert den geschichtlichen Ort, in dem den Menschen die Möglichkeit und Fähigkeit zum Schaffen von Neuem zukommt. Was aber in dieser Endzeit an (Neu-)Anfängen auch geschehen mag, sie bleiben für die Heilsgeschichte äußerlich, da die Weltgeschichte lediglich der (Zeit-)Ort relativer (Neu-)Anfänge ist (vgl. Mader 1991: 286). Trotzdem bleibt die weltgeschichtliche Verwirklichung der Heilserwartung durch die Menschen die absolute und ausschließliche Aufgabe, ein Regulativum, auf das hingearbeitet wird, das Ziel und Sinn des Lebens im Ganzen konstituiert.

Augustinusʼ Zeit- und Geschichtsverständnis Die hier beschriebene Konstellation des heilsgeschichtlichen Anfangsdenkens beschreibt gleichsam den historischen Hintergrund für Augustinus‘ Zeit- und Geschichtsverständnis. In der christlichen Spätantike entsteht eine neuartige Analyseperspektive der Zeit, die statt kosmologischer Weltdeutungen die menschliche Erfahrung in den Fokus rückt. Augustinus wählt – aus heutiger Perspektive betrachtet – einen phänomenologischen Zugang für seine Zeitanalyse. Das Wesen der Zeit wird ausgehend von der lebensgeschichtlichen und alltäglichen Zeiterfahrung des einzelnen Menschen in seiner Beziehung zur Weltzeit un-

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tersucht. Im elften Buch seiner Bekenntnisse fragt Augustinus: »Was ist also die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht.« (Augustinus 2009: 25) Zeit als Erfahrung einer einmaligen Lebensgeschichte kann nicht mehr durch zyklische Zeitmodelle und eben so wenig durch die Vorstellung von Zeit als Maß und Zahl der Bewegung im Raum, wie sie noch von Aristoteles entworfen wurde, adäquat erklärt werden. Die Zeit kann nicht gesehen, sie kann nicht als Zahl gemessen werden. Augustinus stellt sich die Zeit hingegen als ein Bewusstseinsphänomen vor. Wie er in seiner Analyse über die Zeit feststellt, besitzt die Zeit eine äußerst subjektiv-geistige Grundstruktur. Geht man von den drei Zeiten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft aus, dann strebt die Zeit scheinbar dem Nichtsein zu, ist doch die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Ebenso wenig kann das Wesen der Zeit über die Gegenwart erklärt werden. Denn wäre alles gegenwärtig, wären Zeit und Ewigkeit ununterscheidbar (vgl. ebd.). Wenn der Zeit ein Sein zukommt, kann dieses nur ein geistiges sein. Folgt man Augustinus, dann ist die Zeit in der Seele da, »wo anders aber sehe ich sie nicht. Es gibt Gegenwart von Vergangenem: nämlich die Erinnerung, Gegenwart von Gegenwärtigem: nämlich Anschauung, Gegenwart von Zukünftigem: nämlich Erwartung.« (ebd.: 35) Die Zeit ist selbst die Erstreckung der Seele, jene Erregungen und Berührungen, die die Zeit in der Seele hervorbringt, das, was bleibt, obwohl Zeit vergangen ist. Erinnerung, Anschauung und Erwartung sind die geistigen Tätigkeiten der Zeit, die einzelne Erlebnisse sinnvoll zusammenführen und eine Ganzheit, eine Welt im Subjekt konstituieren. Um das Geschehen der geistigen Zeitlichkeit zu veranschaulichen, wählt Augustinus das Beispiel eines Liedes. Wer ein Lied kennt und dieses aus der Erinnerung heraus vorsingt, konstituiert eine zeitliche Umfassung. Die Erwartung, die selbst der Erinnerung entspringt, greift auf das Ausstehende des Liedes im Ganzen zurück. Das bereits Vergangene des Liedes verlängert die Erinnerung und die Erwartung verkürzt sich. Die Aufmerksamkeit im Singen des Liedes ist die Gegenwärtigkeit, mit der die zeitliche Bewegung von Erwartung in Erinnerung vollzogen wird. Erwartetes und Erinnertes werden in der geistigen Tä-

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tigkeit der Aufmerksamkeit in der Gegenwart zusammengebracht und konstituieren damit das zeitliche Geschehen des Liedes im Ganzen. Das Lied gilt als sinnbildliches Beispiel für die zeitliche Umfassung menschlicher Handlungen bzw. der Lebenszeit des Menschen insgesamt (vgl. ebd.: 53f.). Es ist also die Tätigkeit des Geistes, das die Vielzahl von Eindrücken und Erlebnissen zu einem zeitlichen Kontinuum zusammenführt und auf einen Zustand der Erlösung jenseits der Zeit ausrichtet. Diese geistige Tätigkeit der Rück- bzw. Einkehr zum Glück ist nicht per se gegeben, sondern bedarf aufseiten des Menschen seiner seelischen Umwendung. Der Ausgangspunkt des augustinischen Zeit- und Geschichtsverständnisses ist ebenfalls eine verfallsdiagnostische. Augustinus hat eine äußerst pessimistische Sichtweise auf die Menschen, und erst recht auf die Kindheit, sind Kinder doch von Anfang an durch die Erbsünde vorbelastet. So kann für Augustinus nur gelten, dass »Kindheit [...] das erdrückende Zeugnis einer Verdammung der ganzen Menschheit [ist], denn sie bezeugt auf grausame Weise, wie die verderbte Natur zum Bösen strebt und sich in das Übel stürzt.« (Snyders 1971: 143) Beginnend schon mit frühester Kindheit verliert sich der Mensch an die sichtbare Welt der Dinge, an seine Begierden, sodass die Umwendung des Menschen zur Selbstbestimmung, zur geistigen und gläubigen Veredlung durch Erziehung und Lernen notwendig ist. Augustinus stellt sich dabei das Lernen als eine Bewegung von anfänglich sinnlichen Erfahrungen über zunehmend abstrakte Glaubenssätze (wie etwa in der Mathematik) hin zum Wissen und der Erkenntnis der inneren Wahrheit vor. Was ist aber Herkunft und Grund dieser inneren Wahrheit und Erkenntnis und wie kann man sie erlangen? Augustinus‘ Antwort in seiner pädagogischen Schrift »De magistro« lautet: »Christus, das ist die unveränderliche Kraft und die ewige Weisheit« (Augustinus 1998: 103). Er sei der eigentliche Erzieher und Lehrer des Menschen, der in seinem Inneren, in seiner Seele wohne (vgl. ebd.). »Menschwerdung und Kreuzigung, Auferstehung und Kirchengründung, Gleichnisreden und sichtbare Mysterien, also Taufwasser und Abendmahl: dies alles dient der Erziehung des Menschengeschlechts.« (Flasch 2000: 25f.) Erst durch die

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Einkehr in die innere, alles umfassende und alles regelnde Wahrheit, die durch die Ankunft Jesu verkörpert wird, werde die »Erfassung der intelligiblen Richtigkeit« (ebd.) möglich, die mehr meine als ein äußeres Wort der sinnlich vermittelten Welt (vgl. ebd.). Das Ziel einer christlichen Lehre sei die »disciplina naturalis, die Wiederherstellung unserer wahren Natur durch wahre Erkenntnis und Leben im Richtigen« (ebd.: 27; Hervorh. i.O.). Der Weg zur disciplina naturalis ist nur durch innere Einkehr möglich, durch die göttliche Erleuchtung eines inneren Ichs (vgl. Treml 2005: 123), das, wenn überhaupt, nur durch äußere Einwirkungen angestoßen werden kann. So heißt es weiter in »De magistro«: »Über alles aber, was wir erkennen, befragen wir nicht einen Sprechenden, der draußen seine Stimme ertönen lä[ss]t, sondern die innerlich über den Geist selbst waltende Wahrheit – durch Wörter vielleicht aufgefordert, sie zu befragen.« (Augustinus 1998: 103) Lernen ist demzufolge nicht durch Lehren, sondern durch gläubige Umwendung der Seele auf die innere durch Jesus gelehrte Wahrheit möglich. Allein die Erinnerung an die Wahrheit Jesu, denn in jeder Seele wohne sein Licht, wäre das, was das Lernen in Gang setzt (vgl. Treml 2005: 126f.). Das heißt, die eigentliche Wahrheit und Erkenntnis ist jedem Menschen gegeben, doch kommt dem Menschen die Freiheit und Verantwortung zu, diese auch zu bewusst wählen. Daher steht im Mittelpunkt der pädagogischen Anthropologie des Augustinus‘ der Gedanke der »personalen Selbstwahl« (Böhm 2004: 38; Hervorh. i.O.). Lernen im Sinne von Augustinus, so Winfried Böhm weiter, »ist nicht passives Empfangen, sondern ein aktives Fürwahrhalten, Fürwerthalten und Fürschönhalten.« (Ebd.) Erziehung und Lernen sind nicht Fremd-, sondern Selbstgestaltung. Möglichkeiten der pädagogischen Einflussnahme sind äußerst begrenzt und bestehen vordergründig im »Anstoß zum Selberglauben und zu selbst gewonnenen Einsichten« (ebd.). Mit Augustinus‘ pädagogischer Anthropologie der Personalität tritt ein neuer Aspekt hinzu. Mit der Möglichkeit der Selbstwahl des Menschen zur gläubigen Lebensordnung besteht für den Menschen sowohl auf der Ebene der Seele als auch der individuellen Existenz des Menschen die Möglichkeit, sich vom »Egoismus, Utilita-

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rismus, Ehrgeiz und Stolz der aufgebauten civitas terrena« (ebd.; Hervorh. i.O.) frei zu machen und einen (Neu-)Anfang gemäß des auf den Werten der »Selbstlosigkeit, Seinsdemut, Hingabe und Liebe gegründeten civitas die« zu initiieren (ebd.). Das Neue, was in der Erfahrung der Zeit möglich wird, ist die Einmaligkeit des Glücks (De vita beata), die Erlösung der Seele (vgl. Augustinus 1955: 100).

Zusammenfassung Die christliche Spätantike setzt die göttliche Vernunft als Urgrund und -quell der ewigen Ideen, die – sofern der Mensch bereit ist sich vom Sinnlichen loszumachen – der menschlichen Vernunft zugänglich ist (vgl. Flasch 2013: 47). So gilt auch im christlichen Denken der Weg zurück zum eigentlichen Ursprung einer intelligiblen Welt, die erst am Ende der Zeit möglich wird, als »ethisch-intellektuelle[...] Rückkehr zum Guten« (ebd.: 42). Augustinus‘ Zeitverständnis beruht daher nicht auf einer Entwicklungs- und Fortschrittslogik der Geschichte, wie sie sich in der Neuzeit durchsetzen wird, sondern auf der Einmaligkeit des heilsgeschichtlichen Geschehens. In diesem Sinne ist Augustinus sicher kein Denker des neuzeitlichen Pathos eines (Neu-)Anfangs. Nichtsdestotrotz gilt er als Vordenker einer Pädagogik der Personalität, die die willentliche Selbstwahl und Selbstgestaltung der Lernenden sowie die damit einhergehenden Erneuerungen in den Fokus stellt. Erst in der Neuzeit wird die Vorstellung eines freien und mündigen Subjekts zum Leitmodell der Pädagogik, wie sie vor allem in der Aufklärungspädagogik des 18. Jahrhunderts Gestalt annimmt und durch den kulturkritischen Impetus der Pädagogik der Romantik des 19. Jahrhunderts begleitet wird.

1.4

Die Pädagogik der Neuzeit

In der Aufklärungspädagogik des 18. Jahrhunderts und in der romantischen Pädagogik des 19. Jahrhunderts wird die Anfangsthematik zu einem Grundproblem der Pädagogik. Es entwickelt sich nicht nur ei-

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ne neue Anthropologie des Kindes, in der das Kind als Subjekt eigener Art entworfen wird. Gleichzeitig ist die Neuzeit die pädagogische Epoche der Freisetzung des Subjekts schlechthin. Die Neuzeit definiert sich durch den umfangreichen Bruch mit alten Traditionen und wird begleitet von dem Anspruch umfassender Erneuerungen in Gesellschaft, Ökonomie, Politik, Kultur, Wissenschaft und Erziehung. Alte Sicherheiten wie etwa die eines alles bestimmenden göttlichen Plans verlieren an Überzeugungskraft. An die Stelle eines transzendenten Gottes treten alternative Denkfiguren. Duale Begriffsfiguren wie Natur und Vernunft werden nunmehr zu Grundmotiven für das pädagogisch-anthropologische Selbstverständnis des Menschen. Mit dem Verlust alter Sicherheiten entsteht auch ein besonderes Interesse an Zeit und Geschichte. Die göttliche Eschatologie wird zur kontingenten Geschichte des Menschen, die es politisch und pädagogisch zu gestalten gilt. Heinz Dieter Kittsteiner schreibt dazu: »Mit dem Beginn der sogenannten Neuzeit wurde [die] theologische Enthüllung der Historie brüchig. Die Geschichte reckte und dehnte sich aus und gab sich eines Tages selbst als der ›neue Gott‹ zu erkennen« (Kittsteiner 1987: 75). Dabei setzt sich immer mehr ein pädagogisch-anthropologisches Bild des Kindes durch, das die Vorstellung einer Entwicklungskindheit entlang von Altersabschnitten nahelegt. In diesem Zusammenhang lassen sich historisch zwei Hauptkonstellationen des Anfangsdenkens unterscheiden. Während geschichtsphilosophische Positionen im Kontext der Aufklärung die Frage nach einem möglichen (Neu-)Anfang von der Idee einer Vollendung der Menschheit von der Zukunft her aufrollen, wählt die Pädagogik der deutschen Romantik den zirkulären Weg zurück zum Ursprung. Mit Romantik wird die geistesgeschichtliche Gegenbewegung zum Fortschrittsglauben der Aufklärung bezeichnet. Charakteristisch für die Pädagogik der deutschen Romantik ist der Weg nach innen, zurück zu den Gefühlen, der Intuition und der Seele (vgl. Bollnow 1977). Hinter der Oberflächlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Zeitökonomie und Tauschwertgesinnung (vgl. Richter 1987: 238) sucht die Romantik nach der tieferen Bedeutung, der verborgenen Natur der Dinge.

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

Überhaupt wird die Natur des Kindes zum zentralen Grundproblem der Pädagogik der Neuzeit, das entweder »Zurück zur Natur« oder »Weg von der Natur« bedeuten kann (Treml 2005: 254). Kennzeichnend für die neuzeitliche Pädagogik ist eine Dualität von Natur (Kindheit) und Vernunft (Erwachsensein), die wiederum in ihrer geschichtsphilosophischen Ausformulierung in Strukturanalogie zum Ursprungs- und Anfangsdenken steht. In der Pädagogik der Aufklärung gilt es die Natur des Kindes zu kultivieren und schließlich mit Blick auf Autonomie und Vernunft zu transzendieren. Das Kind ist zwar am Anfang roh und wild, doch ihm wohnt schon der Keim einer besseren Zukunft inne. In dieser Auffassung ist das Kind lediglich ein Transitorium zum Erwachsenenwerden. Anders die kulturkritische Pädagogik der Romantik, die den Fortschritt der Zivilisation als Verfall der Menschheit begreift und dem Prozess der Entfremdung die Natürlichkeit des kindlichen Anfangs entgegensetzt. Die Natur des Kindes wird zu einem Sinnbild des verlorenen Paradieses, der Unschuld, des goldenen Zeitalters und der poetischen Lebensfülle. »Ist das Kind in der pädagogischen Bewegung Chiffre des Noch-nicht-Menschen, so im romantischen Verständnis Chiffre des besseren Menschen« (Richter 1987: 26; Hervorh. i.O.), fasst Dieter Richter die pädagogischen Kindheitskonzepte der Neuzeit zusammen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Otto Friedrich Bollnow zwei Grundauffassungen von Erziehung: einen organischen Erziehungsbegriff des Wachsen-Lassens und Nicht-Störens kindlicher Entwicklung einer romantischen Pädagogik gegenüber dem mechanistischen Erziehungsbegriff des Formens und Machen-Wollen des Kindes in der Aufklärungspädagogik (vgl. Bollnow 1959: 16f.). Stellvertretend für eine Pädagogik der Aufklärung kann Immanuel Kant stehen, für die Pädagogik der deutschen Romantik hingegen Friedrich W. A. Fröbel. Transzendentalphilosophie und Sphärenphilosophie stehen in exemplarischer Weise für neuzeitliche Konstellationen des Anfangsdenkens. Dem Primat der Erkenntnis steht das Primat des organischen Lebens gegenüber. Diese Gegenüberstellung darf nicht dahingehend missverstanden werden, als würden in diesen beiden Diskurssträngen zwei grundlegend verschiedene Kindheitsauffassungen

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zum Tragen kommen. Eine Überbetonung der Unterschiede zwischen Aufklärung und Romantik verschleiert den geteilten Ausgangspunkt beider Kindheits- und Erziehungskonzepte, wie er erstmalig bei JeanJaques Rousseau zum Thema wird (vgl. Ewers 1989). Um zentrale Strukturmerkmale des neuzeitlichen Kindheitsverständnisses herauszuarbeiten, beginnt die folgende Analyse daher mit Rousseau, der als Schlüsselfigur einer neuzeitlichen Pädagogik gelten kann.

1.4.1

Der neuzeitliche Entwurf von (Natur-)Kindheit als (Neu-)Anfang

Rousseau kann berechtigter Weise als Vorläufer der Aufklärung gedacht werden, der gleichsam wichtige Grundlagen für die Pädagogik der Romantik geschaffen hat. Freiheit in der Vernunft und Unabhängigkeit im Willen des einzelnen Menschen, werden ebenso gefordert wie die Rückkehr zur Natur und die Anerkennung der kindlichen Eigenart. Der entscheidende Impuls Rousseaus für die weitere Pädagogik des 19. Und 20. Jahrhunderts besteht vor allem darin, dass er eine neuartige pädagogische Anthropologie des Kindes entwirft. Bereits in den einleitenden Worten in seinem Erziehungsroman »Emile oder Über die Erziehung« moniert Rousseau das gängige Bild des Kindes als unfertigen Erwachsenen. Mit der radikalen Differenz zwischen den Bildern, die sich Erwachsene von Kindern machen, und der Wirklichkeit des Kindes ist der Ausgangspunkt der Rousseau‘schen Pädagogik gelegt. So kommentiert Rousseau: »Die Kindheit ist etwas uns vollkommen Unbekanntes – mit den falschen Vorstellungen, die wir davon haben, gehen wir mehr und mehr in die Irre.« (Rousseau 1762/2004: 102) Mit dem Kind als dem bisher Unbekannten formuliert sich eine Anti-These zur Kultur, die als kritische Bezugsgröße gegenüber den normativen Maßstäben der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Zeitökonomie, Fortschrittsorientierung und einer zunehmenden Erfahrung der Fragmentierung der Lebenszusammenhänge in Einsatz gebracht wird. Denn im Idealbild einer unschuldigen und unverdorbenen Kindheit lebt das Kind symbiotisch »mit den Seinen, befindet sich im Einklang mit seiner Umgebung. Alle Bedürfnisse finden sogleich Befriedigung, es herrscht das Gefühl;

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

die Zwischenmenschlichkeit ist von offenen Herzen und unmittelbarer Gewißheit geprägt.« (Haan 1996: 222) Alle pädagogischen Bestrebungen zielen daher auf die Bewahrung und den Schutz der Autonomie, des Eigenwertes und der Natürlichkeit des Kindes vor kulturellen Einflüssen. Statt das Kind zu belehren und zu bevormunden, soll es dazu gebracht werden, selbst zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Dies ist die gute Natur im Kinde, in dem Genügsamkeit und Freiheit vorherrschend sind. Dabei ist Rousseaus Naturbegriff mehrdeutig und bisweilen inhaltlich unterbestimmt. Entscheidender als seine inhaltlich-didaktischen Bestimmung – wie etwa der Bildung und Schulung der kindlichen Sinne – , ist eher die theoriearchitektonische Funktion, die dem Naturbegriff bei Rousseau zukommt (vgl. Böhm 2004: 69). Der Rousseau’sche Naturbegriff funktioniert im Wesentlichen als Anti-These zu einem unerwünschten Zustand: dem Künstlichen der Kultur wird das Natürliche, dem Schein die Authentizität entgegengestellt. Im Vorwort seiner »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« unterstreicht Rousseau den spekulativen Gehalt seines Naturbegriffs, wenn er darauf hinweist, dass der vermeintliche Naturzustand zwar möglicherweise noch nie bestanden habe und niemals bestehen werde, aber als Voraussetzung und Maßstab zur Beurteilung und Kritik des gegenwärtigen Zustandes in der Kultur eine Denknotwendigkeit sei (vgl. Rousseau 1755/2008: 23). Dabei wird mindestens in dreifacher Weise auf den Naturbegriff rekurriert: als Ausgangspunkt der geschichtlichen Entwicklung, als Ziel und Maßstab für die Entwicklung und Erziehung des Menschen und als legitimatorisches Argument zur Begründung und Rechtfertigung der Pädagogik nach dem Ende der metaphysischen und transzendenten Erzählungen. Im Ausgang des verlorenen Ursprungs, dem Naturzustand, wird Geschichte zum Kern menschlichen Selbstverständnisses. Folgt man Rousseau, dann ist der Charakterzug des geschichtlichen Menschen seine Perfektibilität, das heißt sein unbegrenztes Vermögen sich zu bilden und sich zu vervollkommnen (vgl. ebd.: 45). Gleichsam gilt aber auch, dass alles, was der Mensch sich durch seine Perfektibilität auf-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

bauen konnte, gleichzeitig »Quelle allen Unglücks des Menschen« (ebd.: 46) sein kann. Ursprungsverlust, Verfall und (Neu-)Anfang sind allesamt Möglichkeiten im Horizont der Perfektibilität. Die eigentliche Aufgabe der Pädagogik besteht vordergründig darin, den verloren geglaubten Naturzustand in einer neuen Weise wiederzugewinnen und damit dem zivilisatorischen Verfall entgegenzuwirken. Das Ideal einer Naturkindheit wird seit Rousseau mit der pädagogisch-anthropologischen Annahme einer grundsätzlichen Bildsamkeit des Kindes unterlegt, das die Möglichkeit eines pädagogisch zu realisierenden (Neu-)Anfangs in Aussicht stellt. Tatsächlich geht Rousseau davon aus, dass der als für immer verloren gedachte Naturzustand in der Ontogenese eines jeden Menschen wieder zurückkehrt (vgl. Haan 1996: 224). In »Emil oder über die Erziehung« wird Rousseau daher nicht müde, den wichtigsten Grundsatz seiner an der Natur des Kindes orientierten negativen Erziehungslehre darzulegen. Sie lautet: »Zeit verlieren und nicht gewinnen.« (Rousseau 1762/2004: 212) Alle erzieherischen Bemühungen zielen auf die Isolierung und den Schutz des Kindes vor Versuchen des Vorgreifens und Übereilens. Das Kind wird durch »drei Arten von Lehrmeistern gebildet«, heißt es bei Rousseau (ebd.: 109), und zwar durch die »Natur oder den Menschen oder den Dingen« (ebd.). Der erste Lehrmeister setzt die unbestimmte Bildsamkeit des Menschen voraus. Die Natur des Menschen legt diesen nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Aufgabe oder Ordnung fest, sondern eröffnet ihm einen Möglichkeitsraum, sich geschichtlich zu entwerfen. Soll Erziehung gelingen, soll der Mensch für sich selbst erzogen werden und nicht für andere, dann hat die Erziehung der Natur zu folgen. Nicht Vernunft und Rationalität stehen daher am Anfang der kindlichen Entwicklung, sondern die Empfindsamkeit des Menschen. Alles Lernen und Erziehen vollzieht sich in Weltbeziehungen. Die Möglichkeit des AffiziertWerdens, die sinnlich-konkreten Erfahrungen mit den Dingen und Mitmenschen macht für Rousseau das aus, was er die natürlichen Anlagen in uns vor jeder sozialisatorischen Einflussnahme nennt. Nicht vorzugreifen, nicht zu reglementieren und nicht zu intellektualisieren wird eine der maßgeblichen Aufgaben der negativen Erziehung. »Das Kind bleibt solchermaßen an die reale, sinnliche Welt gebunden, geht in ih-

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

rer Endlichkeit auf; von der unendlichen Weite der Vorstellungswelt, des Imaginären, ahnt es nichts. Es ist realistisch und nüchtern, ohne Sinn für das Unendliche, ohne Anflug von Schwärmerei« (Ewers 1989: 45). Glückseligkeit wird das hervorstechende Merkmal einer idealen Kindheit, die durch innere Harmonie, Unabhängigkeit, Freiheit und Naturgegebenheit charakterisiert wird (vgl. ebd.: 43). »Der natürliche Mensch«, schreibt Rousseau, »ist sich selbst alles. Er ist die ungebrochene Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder seinesgleichen eine Beziehung hat.« (Rousseau 1762/2004: 112) Für diesen (Neu-)Anfang steht Emil Pate, der am Ende der natürlichen Erziehung als Mensch eines neuen Geschlechts hervorgeht, der im Einklang und in Selbstgenügsamkeit die Erziehung seines Kindes übernehmen kann. Die alte Ordnung ist wiederhergestellt und der natürliche Zyklus beginnt von vorne (vgl. Haan 1996: 228). Der Weg zurück zum Ursprung, zur Natur ist mehr als bloßer Regress. Rousseau will aus dem bürgerlichen Menschen keinen Wilden machen. Er fordert ganz in der Tradition der Aufklärung, dass der Mensch sich frei mache, von seinen Leidenschaften und den gesellschaftlichen Zwängen, nicht beherrscht werde durch eine Autorität, dem eigenen Willen und der Vernunft folge (vgl. Rousseau 1762/2004: 525). Rousseaus »Naturkindheits-Bild« ist eine »doppelte Zeit der Utopie« inhärent: »als Vergangenheit und Zukunft« (Richter 1987: 254; Hervorh. i.O.). »Die Erinnerung an die Fülle, die das Leben einst verhieß und dann nicht einlöste, hält dieses Versprechen, nicht nur die Versagung, fest.« (Ebd.) Der Weg zurück zur Natur, zum Ursprung, bietet daher Kriterien für den (Neu-)Anfang in einer besseren Zukunft.

1.4.1.1

Pädagogik der Aufklärung

Im 18. Jahrhundert erlebt die Aufklärung ihre Blütezeit, die sich in einer Vielzahl von philosophischen und pädagogischen Schriften niederschlägt. Den Wahlspruch der Aufklärung prägt Immanuel Kant in eindrücklicher Weise: »Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Kant 1784/2010: 9; Hervorh. i.O.) Faulheit und Feigheit meint

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Kant als Ursachen einer selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen erkannt zu haben. Nicht nur im Besitz der Vernunft zu sein, sondern den Mut und Willen zu haben seinen Verstand in verantworteter Freiheit gegen äußere Zwänge in Anschlag zu bringen, ist Kernanliegen der Aufklärung (vgl. ebd.). Kants berühmt-berüchtigter Satz »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (ebd.; Hervorh. i.O.) avanciert zur normativen Richtschnur einer Pädagogik der Aufklärung. Damit markiert Kant den programmatischen Ausgangspunkt einer Erziehung im Verständnis der Aufklärung, die grundsätzlich die Bildsamkeit des Menschen bzw. der Menschheit in der Geschichte zum Ankerpunkt macht. Unter den notwendigen Bedingungen der Kontingenz und Freisetzung des Menschen ist es nunmehr die Geschichte, innerhalb derer sich die Vollendung der Menschheit zu vollziehen hat. Auch wenn für Kants pädagogisch-historische Anthropologie das Dual von Natur und Kultur konstitutiv bleibt, kommt er zu grundlegend anderen Schlussfolgerungen als Rousseau. Kant antwortet auf dieses Dual mit einem umkehrten Vorzeichen, in dem er nämlich die Bewertung des Verhältnisses von Natur und Kultur umdreht. Der Naturzustand, wie Rousseau in entworfen hatte, ist nicht das verlorene Paradies, sondern etwas, das überschritten werden muss, soll sich die Menschheit weiterentwickeln. Auch Kant lässt den »mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte« (Kant 1786/2004) mit dem Austritt aus dem Paradies beginnen. Der Austritt aus dem Naturzustand geht mit dem Verlust der niederen Instinkte einher, was aber bedeutet, dass der Mensch zur Vernunft und Freiheit kommt. Eine Welt des Denkens und der Vernunft eröffnet sich für den Menschen, sodass ein Zurück zum Animalischen, zur Rohheit für Kant unvorstellbar ist (vgl. ebd.: 74f.). Der im geschichtlichen Verlauf zu machende (Neu-)Anfang darf nicht der Rückschritt in einen verlorenen Naturzustand sein, sondern der kontinuierliche Fortschritt auf die sittliche Vervollkommnung der Menschheit hin. Demzufolge vollzieht sich bei Kant eine Verlagerung der Ursprungsbzw. Anfangsfrage. Ausgehend von der Natur des Kindes gilt es durch Erziehung diese zur Kultur hin zu überschreiten (vgl. Treml 2005:

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281). Das heißt, Natur als konstitutiver Ursprung des Menschen strebt gleichsam teleologisch auf ihre Selbstüberschreitung hin. Mit der Natur ist dem Menschen die Möglichkeit einer stufenförmigen Ausbildung und Entfaltung aller Anlagen zum willentlichen und freiheitlichen Gebrauch seiner Vernunft mitgegeben. Es ist die natürliche Aufgabe des Menschen, seine Bestimmung in der Geschichte selbst zu realisieren (vgl. Kant 1784/2004: 24). Die Vorstellung einer teleologischen Zielgerichtetheit der Geschichte bildet gleichsam die Leitidee für Kants Erziehungsverständnis. Pädagogik wird als geschichtlich notwendiger Teil eines umfassenden Projektes der Emendation entworfen. Nicht nur zielt die Pädagogik über die Erziehung eines jeden Kindes darauf, die Welt im Ganzen zu verbessern, sondern die Erziehung selbst hat sich emporzuheben, will sie den Fortschritt zur vollendeten Menschheit möglich werden lassen. Würde die Erziehung tatsächlich bei jedem Kind neu anfangen, ohne den bereits erreichten Fortschritt zu bewahren, würde der Mensch, die ihm natürlich aufgetragene Aufgabe seiner Vollendung verfehlen. Über die Erziehung schreibt Kant, dass diese selbst über viele Generationen vervollkommnet werden müsse. Denn jede »Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann immer mehr eine Erziehung zu Stande bringen, die alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt, und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung führt.« (Kant 1803/1997: 13) Dazu unterscheidet Kant zwischen negativen und positiven Formen der Erziehung. Während die anfängliche Wildheit und Rohheit des Kindes durch Disziplinierung unterdrückt, kanalisiert und überwunden werden soll, soll die Verfeinerung der Sitten, die Entfaltung der Vernunft und Moralität positiv bewirkt werden. In diesem Zusammenhang entdeckt Kant das scheinbar größte Problem der Erziehung: »Wie kultiviere ich die Freiheit, bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit zu gut zu gebrauchen.« (Ebd.: 29) Kants Antwort auf dieses Paradox ist eine stufenförmige Erziehung, beginnend bei der Disziplinierung kindlicher Rohheit, der Kultivierung der Geschicklichkeit in Techniken wie Lesen und Schreiben, der Zivilisierung

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sozialer Sittlichkeit und der Moralisierung, in der die Idee der Menschheit zu sich kommt. Moralisierung gibt die Richtschnur und Maßgabe für die ersten drei Erziehungsformen vor. Sind die ersten drei Formen der Erziehung kulturell und historisch kontingent, beansprucht die Moralisierung, die Gesinnung auf das Gute hin, einen Universalitätsanspruch. Sie ist in ihrer Forderung universell verbindlich, aber gleichzeitig in ihrer Verwirklichung alles andere als selbstverständlich. Erziehung, so Kant, ist »das größeste Problem, und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden.« (Ebd.: 14) Schließlich bemüht Kant ein fundierungs- und begründungstheoretisches Argument, geht es ihm doch vordergründig um eine systematische Begründung der Pädagogik. Aus dieser Warte betrachtet erschließt sich die Bedeutung der regulativen Idee der Menschheit für die Temporalisierung des Erziehungsgeschehens. Folgt man Treml, dann zwingt die »›regulative Idee‹ zur Temporalisierung, zur Entfaltung in der Zeit als ein nicht abschließbarer Prozess, der die Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit in ihrer kritischen Funktion unüberholbar erhält« (Treml 2005: 287). Gerade die Antinomie zwischen einer ideellen Notwendigkeit und faktischen Unmöglichkeit der Vollendung der Menschheit, erfordert die Temporalisierung der Erziehung, die zwischen der faktischen Gegebenheit, wie sie nun einmal ist, und den idealen Zuständen, wie sie sein sollten, den Erwartungshorizont einer Pädagogik der Aufklärung aufspannt. Weil sich diese Idee noch nicht in der Wirklichkeit wieder findet – und möglicherweise auch niemals wiederfinden wird – kann Erziehung systematisch als Zukunftsprojekt ausgewiesen werden. Die Pädagogik der Aufklärung liefert den entscheiden Beitrag für Einsicht in die geschichtsphilosophische Bedeutung der Entwicklung des einzelnen Menschen sowie der gesamten Menschengattung durch Erziehung und Bildung. So hält die Geschichte das Versprechen eines (Neu-)Anfangs aufrecht, in dem der Keim einer besseren Zukunft angelegt ist. Die Aufklärung setzt dabei auf Fortschritt, Rationalität und planbare Verbesserung der Menschheit durch Erziehung und Bildung. Es war die Pädagogik der Romantik, die in diesen programmatischen Prämissen der Aufklärung eine rationale Verklärung der Welt er-

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

kannte und dieser die Innerlichkeit, das Gefühl, die Ahnung sowie die schöpferische Lebendigkeit entgegensetzte.

1.4.1.2

Pädagogik der deutschen Romantik

Über die Frage, ob überhaupt von einer Pädagogik der deutschen Romantik gesprochen werden kann, wurde vielfach gestritten. Die romantische Ablehnung einer aktiven planvollen Gestaltung und pädagogischen Einflussnahme evozierte nicht zuletzt den Vorwurf einer Unvereinbarkeit zwischen Romantik und Pädagogik (vgl. Bollnow 1977: 14). Gerade am Beispiel von Friedrich W. A. Fröbel entzündet sich die Diskussion darüber, ob er ein Vertreter der Pädagogik der Romantik, der christlichen Mystik oder gar der Aufklärung sei. Während nach Otto Friedrich Bollnows Einschätzung Fröbel »die romantische Pädagogik auf der Stufe ihrer vollen Entfaltung« (ebd.: 91) darstellt, reiht Helmut Heiland ihn in die Tradition der Aufklärung ein. Ganz auf der Linie der pädagogischen Aufklärung ziele auch Fröbel auf die Verbesserung und Selbstwerdung des Menschen durch Erziehung und Bildung (vgl. Heiland 2010: 53f.). Tatsächlich ist die Zuordnung von Fröbel zu einer spezifischen Denktradition keine leichte Aufgabe. In Fröbels sphärischer Erziehungsphilosophie werden aufklärerische wie romantische, christliche wie mystische Argumentationsmotive unter religiösen, ästhetischen und geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten miteinander verknüpft. Trotz dieser unklaren Ausgangslage soll im Folgenden dafür argumentiert werden, Fröbel im Kontext einer romantischen Pädagogik zu interpretieren. Die Sehnsucht nach den ursprünglichen und unverfälschten Anfängen des menschlichen Lebens, die im Ideal der Kindheit sinnbildlich Gestalt annimmt und gleichsam ins Pädagogische übersetzt wird, kennzeichnet Fröbels Erziehungsphilosophie. Im Weiteren soll Winfried Böhms Vorschlag gefolgt werden, nachdem er Romantik nicht als konkurrierenden Gegenpol zur Aufklärung, sondern als ihre »konkurrierende Weiterführung« (Böhm 2004: 92) auffasst. Eine Selbstwerdung des Menschen in Freiheit steht demzufolge nicht im Widerspruch zur romantischen Hinwendung zur Innerlichkeit, der

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Sehnsucht und dem Wunsch nach dem unverfälschten Leben. Die Linearität einer fortschreitenden Entwicklung wird durch dialektische Modelle ergänzt, die das Ende der Geschichte von ihrem Ursprung her denken. Der Weg zurück zu den verborgenen Anfängen der Geschichte, ist auch in der Romantik kein Regress, sondern Bedingung der Möglichkeit, die Starre des Lebens aufzubrechen, es zu erneuern. Das Frühere gilt als das Ursprünglichere und Bessere, das als innere Kraft und Prinzip weiterhin fortbesteht, aber in der Oberflächlichkeit der Gegenwart verschüttet bleibt. Im Rückkehr zu dieser lebendigen Ursprünglichkeit wird das Ideal einer neuen Zukunft entworfen, in der die Einheit, die Lebensfülle nicht nur wiedergewonnen, sondern auf einem höheren Niveau wiederhergestellt werden soll (vgl. Kremer/Kilcher 2015: 75). In diesen geschichtsphilosophischen Zusammenhang ist auch Fröbels Forderung nach einer Erneuerung des Lebens einzuordnen. Meike Sophia Baader spricht hier von einer doppelten an die Pädagogik gerichtete Verheißung des Neuen: »durch den pädagogischen Umgang mit dem Kind verjünge sich der Erwachsene, und durch die Pflege der Einheit im Kinde entstehe der ›neue Mensch‹.« (Baader 1996: 250) Die Erziehung wird damit in den Dienst der Erneuerung des Lebens gestellt, dem da, wo es in Gefahr steht zu erstarren, die Möglichkeit gegeben wird, sich zu erneuern, die gestaltenden Kräfte im Menschen wieder freizulegen. Leben und Erziehung sind bei Fröbel daher gleichbedeutend. »Kommt, laßt uns unsern Kindern leben!« (Fröbel 1840/1982) ist Fröbels eindrücklichste Forderung, in der das Ideal des Kindes als (Neu-)Anfang zum Ausdruck gebracht wird. Die Sehnsucht nach »Erneuung und Verjüngung alles Lebens« (Fröbel 1836/1863: 499) sei gleichsam eine Sehnsucht nach der verlorenen Einheit und Ganzheit, sodass die Wiederherstellung der »Lebenseinigung« mit sich selbst, mit Natur und Gott zum Anspruch und Ziel von Pädagogik wird. Für diese ungebrochene, unverfälschte Einheit steht das Kind als ein »göttliches Leben«, in seiner »Göttlichkeit« (ebd.: 506). Die Überwindung der Getrenntheit, Wiederherstellung der Einheit der Menschheit mit und im Gott, soll »in dem Kind und durch das Kind« möglich werden (ebd.: 507). Folgt man Friedrich Otto Bollnows Fröbel-Interpretation, dann be-

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

deutet der erzieherische Umgang mit den Kindern den Rückgang zum Ursprung, in eine unverfälschte Lebenseinigung mit sich selbst, der Natur und Gott (vgl. Bollnow 1977: 189). Es deutet sich bereits an, dass Fröbels Verständnis einer Erziehung der Lebenseinigung fundamental mit seiner metaphysischen Interpretation der Welt verknüpft ist. Schon in den ersten Worten der »Menschenerziehung« kommt Fröbels sphärisches Gesetz zum Ausdruck: »In allem ruht, wirkt und herrscht ein ewiges Gesetz« (Fröbel 1826/2011: 13). Dieses ewige Gesetzt ist die Einheit Gottes. Gott oder das Göttliche als Ursprung, als Kraft und Prinzip durchziehe alles Lebendige und wirke in allem Lebendigen, sodass Fröbel behauptet, dass Gott den einzigen Grund aller Dinge darstelle (vgl. ebd.). Fröbel geht davon aus, dass am Ursprung aller Dinge eine geistige Kraft herrscht und wirkt, die Bewusstheit Gottes, von der aus sich alles andere in polaren Gegensätzen abspaltet, um wieder in einer gesteigerten Bewusstwerdung zurück zur Einheit zu kehren. Die sphärische Auffassung einer durch göttliche Kraft beseelten Welt hat Bollnow im Anschluss an Spinozas Verständnis eines welt- und naturimmanenten Gottes als »Pantheismus« (Bollnow 1977: 111) beschrieben. Hermann Fröbel hingegen bezeichnet den sphärenphilosophischen Gottesbegriff als »Panentheismus« (Fröbel 1982: 125), der zugleich eine Dialektik einer Immanenz Gottes in der Welt als auch seine Transzendenz voraussetze (vgl. ebd.). Tatsächlich kann Fröbels sphärische Erziehungsphilosophie erst nachvollzogen werden, wenn ihre vielschichtige dialektische Ausrichtung ins Auge gefasst wird, die durch das Zusammenspiel von Gegenpolen ihre ganze Dynamik entwickelt. Transzendenz und Immanenz, Einheit und Mannigfaltigkeit sind so in einer dialektischen Beziehung aufeinander bezogen, sodass aus dieser Dynamik heraus die zirkulär aufsteigende Bewusstwerdung vorgestellt wird. Diese dialektische Dynamik beschreibt in Fröbels Denkansatz die Emanation des Schöpfungsprozesses, mithin der Entwicklung der Menschheit aus einem göttlichen Ursprung. Alles strebt danach, das Innere äußerlich zu machen, das heißt sein göttliches Wesen darstellend zu entwickeln, Gott in der jeweiligen Äußerung zu offenbaren (vgl. Fröbel 1826/2011: 13).

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

In der Darstellung, in Werken, in der Kunst und im Spiel dem Kind dazu zu verhelfen, »Inneres äußerlich, Äußerliches innerlich zu machen, für beides die Einheit zu finden« (ebd.: 36) ist dabei der Kerngedanke der Pädagogik Fröbels.1 Nach Fröbel kommt dabei dem Spiel eine tiefe Bedeutung für die Menscherziehung zu. Über das Spiel schreibt Fröbel: »es ist die freitätige Darstellung des Innern, die Darstellung des Innern aus Notwendigkeit und Bedürfnis des Innern selbst [...]. Spiel ist das reinste geistige Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe, und ist zugleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens« (ebd.: 41). Indem das Kind seine innere Phantasie, seine Kräfte und Fertigkeiten im Äußeren darstellend gestaltet und sich und ebenso das Göttliche in diesen Äußerungen wieder findet, verwirklicht es sich schöpferisch im Spiel selbst. Vor diesem Hintergrund entwickelt Fröbel zur Pflege des kindlichen Bildungstriebes die sogenannte Spielgaben (Ball, Kugel, Würfel, Walze). Mit diesen Spielgaben sollen Kinder und Erwachsene gemeinsam Erkenntnisse gewinnen, Weltsymbolik erschließen und Schönheit erschaffen (vgl. Flitner 2002: 17). Fröbels Spielgaben setzen eine tiefe 1

Die didaktische Umsetzung der sphärischen Gesetzmäßigkeit setzt ihrerseits wieder eine Dialektik negativer und positiver Erziehungsformen voraus. Auf einer Linie mit Rousseau meint negative Erziehung nicht vorzugreifen, die kindliche Entwicklung nicht zu stören. Das organische Verständnis einer Erziehung des ungestörten Wachsen-Lassens gemäß dem Sinnbild einer reifenden Pflanze erfährt in der sphärischen Erziehung seinen Höhepunkt. Soll das göttliche Wirken im Wesen des Kindes nicht durch frühzeitige Belehrung und Unterrichtung gestört werden, muss Erziehung notwendig eine nachgebende, mitfühlende und beschützende sein (vgl. Fröbel 1826/2011: 16). Erst mit dem Eintritt der gereiften Verstandestätigkeit, der sich entwickelten Einsicht in den geeinten Lebenszusammenhang mit Gott, soll die Erziehung bestimmend, fordernd und vorschreibend werden (vgl. ebd.: 18). Auf der didaktischen Ebene einer nachgebenden und vorschreibenden Erziehung bleiben Fröbels Überlegungen den dialektischen Prämissen verpflichtet. Die nachgebende Erziehung wird nicht einfach der vorschreibenden gegenübergestellt, sondern sie sind gleichsam »doppelendig, doppelseitig« (ebd.: 20) zu denken: »gebend und nehmend, vereinend und zerteilend, vorschreibend und nachgebend, handelnd und duldend, bestimmend und freigebend, fest und beweglich« (ebd.).

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

Symbolik voraus, sie sind »Veranschaulichung eines geistigen Gehalts in einer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt« (Bollnow 1977: 171). Der Ball etwa ist in seiner völlig abgerundeten Form »gleichsam das allgemeine Abbild jedes Gegenstandes, wie auch seiner selbst, als ein in sich geschlossenes Ganzes, als eine in sich ruhende Einheit« (Fröbel 1826/1999: 390; Hervorh. i.O.). Im Symbol der Spielgaben erkennt das Kind ahnend die geistigen Beweggründe, das große Ganze hinter den äußeren Dingen. In der Ahnung kann das »Einzelne im Ganzen« (Bollnow 1977: 174), an der gegebenen Oberfläche die »tiefere geistige Bedeutung« (ebd.: 175) der Dinge vernommen werden. Ahnung ist das nicht-begriffliche, nicht-reflexive Erschließen der tiefsten Weltzusammenhänge, die entgegen einer bloßen Irrationalität und dem Trugschluss, dem Unbewussten zur Bewusstheit verhilft. Auch hier wird Fröbel nicht müde, den wichtigen Grundsatz seiner sphärischen Weltinterpretation zu wiederholen: Durch das »Rückkehren des Menschen mit erhöhtem Bewußtsein zu den früheren und frühesten Ahnungspunkten seines Lebens – gleichsam in seine Ahnungen – bekommt der Mensch in seiner Ahnung eigentlich und wahrhaft ›sich selbst‹.« (Fröbel 1832: 106 zit. n. Bollnow 1977: 175; Hervorh. i.O.) Auch Fröbels Pädagogik ist von einem Anfangsdenken geprägt, das, indem sie den Anfang als ein bewusstwerdenden Rückgang zur Gott denkt, im Kern ein Ursprungsdenken ist. Alle Rhetorik um den Anfang, die Erneuerung des Lebens ist in der sphärischen Erziehung nur denkbar als wiedergewonnene Einheit mit dem göttlichen Ursprung. Aber auch hier gilt, dass der Rückgang zum Ursprung nicht als bloßer Regress misszuverstehen ist. Die dialektische Wiedergewinnung der Einheit stellt durchaus den (Neu-)Anfang in Aussicht. Der Mensch soll zum ersten Mal in voller Bewusstwerdung seiner schöpferischen Aufgabe der Selbstwerdung die Lebenseinigung mit Gott vollziehen. Der Rückgang zum Ursprung wird zur Voraussetzung für ein, sich seinen ursprünglichen Anfängen bewusstwerdendes Selbstverhältnis.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Zusammenfassung Für die Pädagogik der Neuzeit lässt sich festhalten, dass sowohl aufklärerische als auch romantische Entwürfe des (Neu-)Anfangs trotz pädagogisch-anthropologischer wie geschichtsphilosophischer Unterschiede jeweils einen utopischen Gegenentwurf zur Gegenwart der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben. Verfallsgeschichtliche Entfremdungsdiagnosen und messianische Erneuerungshoffnungen beschreiben dabei zwei Seiten einer Medaille. Typisch für die Konstellation der Neuzeit ist ein Denken in begrifflicher Dualität: Transzendenz und Immanenz, Natur und Kultur, Freiheit und Zwang, Entfremdung und Vervollkommnung. Unabhängig davon, ob die Natur des Kindes als positiv (Rousseau) oder negativ (Kant) bewertet wird, wird die Auffassung geteilt, dass die Bildsamkeit des Kindes die Möglichkeit einer besseren Welt in der Zukunft offen hält. Die Perfektibilität des einzelnen Menschen ist gleichsam Möglichkeit der Perfektionierung der Menschheit im Ganzen in der Geschichte. So sehr aber der Pathos des (Neu-)Anfangs als neuzeitlich daherkommt, so wenig lassen sich dabei die ihm zugrunde gelegten mystischen, metaphysischen sowie theologischen Spuren abstreiten, wie es etwa am Beispiel der religiösen Metaphorik der Einheit mit Gott oder der Perfektionierung des Menschen deutlich wird. Die Vervollkommnung durch Erziehung kann, wie Jürgen Oelkers deutlich macht, nur sittliche Vollendung zum »Höchsten und Absoluten« meinen, eben als »die christliche Idee des Guten« (Oelkers 1990: 67) gedacht werden. Ob nun im Sinne einer Ursprungs- oder Anfangsorientierung – der hier als Ideal vorgezeichnete Weg ist immer der eines des Aufstiegs, durch den der Mensch durch Ausbildung seiner Vernunft, Bewusstheit, seines Willens und Freiheit einem gottähnlichen Zustand immer ähnlicher werde. Weil der Mensch in der Neuzeit als Subjekt der Geschichte freigesetzt wird und den ehemaligen Platz transzendenter Begründungsfiguren einnimmt, ist es gleichsam dem Subjekt aufgetragen, den (Neu-)Anfang in der Welt aus eigener Kraft zu wiederholen. Dem möglichen (Neu-)Anfang ist dabei eine doppelte Zeitlichkeit zugrundegelegt. Konstitutiv für neuzeitliche Konstellationen des Anfangsdenken

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

ist ein Dual von einem retrospektiven Ursprungsbegriff und einem prospektiven Anfangsbegriff, das wiederum für den Menschen als Singular- und Kollektivsubjekt und bildungs- und erziehungstheoretisch relevant wird. Während der Ursprung »ein Erstes [ist], zu dem wir zurückgehen, das Späterem voraus- und zugrunde liegt« (Angehrn 2007: 23) – wie etwa im Fall von Rousseau oder Fröbel – , ist der Anfang ein Erstes, das auf seine Selbstüberschreitung auf das Zukünftige hin ausgerichtet ist – wie etwa im Fall von Kant. Immer geht es um die Idee, dass der Mensch wieder ein Ganzes werde (Rousseau), zur allgemeinen Menschheit gelange (Kant), die Getrenntheit in der göttlichen Einheit wieder aufhebe (Fröbel). Sich der natürlichen Anfänge bewusst zu werden und Erziehung und Bildung an diesen auszurichten, und damit den (Neu-)Anfang einer besseren Ordnung, eines harmonischen Zustandes in der Geschichte zu ermöglichen, scheint Ziel und Anspruch einer neuzeitlichen Pädagogik zu sein.

1.5

Fazit: Historische Konstellationen des (Neu-)Anfangs

Rückblickend auf die historischen Konstellationen des Ursprungs- und Anfangsdenken kann trotz der unterschiedlichen begründungstheoretischen Ausgangsbedingungen ein wichtiger Kerngedanke festgehalten werden: Pädagogik selbst ist diese Geschichte des (Neu-)Anfangs, der Erneuerung der Menschheit zum Guten hin, denn sie muss, wie Herman Nohl feststellte, immer »vom Ursprung, dem Werden her denken« (Nohl 2002: 191). Seit der Antike bildet das pädagogische Denken keine Wirklichkeit ab, sondern versucht sich, wie es Theodor Ballauff formuliert, an dem Entwurf des Angemessenen und Notwendigen (vgl. Ballauff 2004: 35), das Erziehung und Bildung genannt wurde. In der Antike bleibt die Suche nach dem arché als einem temporalen wie ontologischen Ursprünglichem auf das engste mit der pädagogisch-anthropologischen Vorstellung eines Logos verschränkt, der als absolutes Prinzip »allgemeingültige Erkenntnis und allgemeingültige Tat« ermöglicht (Rombach 1987/2012: 22). Das antike Denken ist geprägt von der Suche nach einem intelligiblen Prinzip, der Suche nach einem absoluten

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Ordnungs- und Begründungsprinzip von Erkenntnis und Handeln, von Wissenschaft und Ethik. Das Christentum, wie sie am Beispiel der Denkart von Augustinus nachgezeichnet wurde, radikalisiert die Grundkonzeption des Absoluten, in dem sie statt eines weltbegründenden Logos, die Allmacht eines personalisierten Gottes voraussetzt. Der Logos der Antike wird hier zur göttlichen Stimme in jedem Menschen, der sowohl Gabe als auch Aufgabe ist, insofern der Mensch als Besonderheit geschaffen vorgestellt wird, sich aber aktiv auf das göttliche in seiner Seele einbekennen muss (vgl. ebd.: 31f.). Heinrich Rombach bringt diesen Gedanken im Anschluss an Augustinus mit der Personalisierung in Zusammenhang: »Person ist der Mensch nicht eo ipso, sondern nur aufgrund einer eigenen Bewegung (Umkehr, Einbekenntnis, Gottesliebe), die man Personalisation nennen kann.« (ebd.: 33; Hervorh. i.O.) Im Unterschied zur Antike setzt sich eine irreversible Geschichtsauffassung von der Genesis hin zur Eschatologie durch, die die volle Personalisierung als heilsgeschichtliches Ereignis denkt. »Im vollen Sinne Person«, so Rombach weiter, ist »erst der ›Neue Mensch‹, für den zugleich eine ›Neue Erde‹ und ein ›Neuer Himmel‹ geschaffen wird« (ebd.: 34f.). Auch wenn das christliche Denken einen (Neu-)Anfang in der Geschichte zu denken vermag, bleibt es doch im Wesentlichen eine Zeit, deren Verlauf der Mensch nicht beeinflussen kann. Während noch in der Antike und im Christentum die Vorstellung eines Absoluten als zureichender Grund für Erkennen und Denken dominant war, wird in der Neuzeit die Idee eines Absoluten selbst historisiert. Der Menschen entdeckt sich selbst als ein historisches Kollektivund Singularsubjekt, das sich durch Bildung und Erziehung vervollkommnen kann, das heißt, einen (Neu-)Anfang machen kann. Die historische Rekonstruktion macht auf eine wichtige Grundkonstellation aufmerksam: die pädagogische Frage nach dem Ursprung oder nach (Neu-)Anfang als Grund, Prinzip und Ziel von Pädagogik hat immer auch das Spekulative zur Voraussetzung. Sie ist gleichsam spekulativ, da sie das Gegebene auf ein jeweils historisch entworfenes Gute hin transzendiert und so ihren Grund und ihre Begründung findet. Die Möglichkeit eines (Neu-)Anfangs, ist nicht ein Faktum,

1. Historische Konstellationen des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens

sondern mit Ballauff formuliert »Gabe und Ruf, Zukunft und Ereignis. Erziehung [und Bildung erscheinen] hier als Bahnung möglicher Wege zur Menschlichkeit. Diese findet jeweils geschichtliche Erfüllung. So liegt sie vor uns, kommt uns immer erst und immer noch zu.« (Ballauff 1970: 53f.) Pädagogik ist die historische Suche nach dem Angemessenen und Notwendigen, Entwurf einer noch nicht verwirklichten Menschlichkeit als Ziel und Maß von Erziehung und Bildung. Anliegen dieses Kapitels war es, unterschiedliche Konstellationen des Ursprungs- und Anfangsdenkens, die pädagogisch-normativ einflussreich für die Pädagogik geworden sind, auf ihre begründungstheoretischen Implikationen hin zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage erschließt sich für die weitere Analyse ein Erinnerungsraum der historisch-kulturellen Überlieferungen, der es erlaubt, die Gegenwart in ihrem So-Geworden-Sein verständlicher zu machen. Nicht zuletzt rücken damit scheinbar vergessene Zusammenhänge der Pädagogik wieder in den Blick (vgl. Mollenhauer 2008). Um zu verstehen, was Pädagogik einst war, was sie heute ist, was sie sein kann und sein sollte, ist die geschichtliche Selbstvergewisserung unabdingbar. Damit wird es möglich, gegenwärtige Konstellationen zu befragen, zu kritisieren und auf ihre geschichtliche Kontingenz aufmerksam zu machen. Denn in »Anbetracht dessen, dass der Faden des pädagogischen Denkens gerissen ist, stellt sich die Aufgabe des Wieder- und Weiterdenkens des bisher Gedachten umso dringlicher.« (Bilgi 2017: 256) Im weiteren Verlauf wechselt die Perspektive von einer historischen in eine gegenwartsanalytische. Teilt man die Diagnose einer umfassenden Entgrenzung pädagogischer Semantiken in andere gesellschaftliche Bereiche, wie sie erstmalig seit den 1960er Jahren kritisch thematisiert werden (vgl. Schäfer/Thompson 2013), so ist zu erwarten, dass auch der Topos des (Neu-)Anfangs über die Grenzen der Pädagogik hinaus wirkmächtig geblieben ist. Tatsächlich lassen sich zentrale Motive des pädagogischen Ursprungs- und Anfangsdenkens bis in die (post-)moderne Pädagogik des 20. und 21.Jahrhunderts hinein beobachten. So spielen metaphysische bzw. religiöse Bilder vom Kind als Erlöser, als kleiner Heiliger oder als ewiger Messias als Grundmuster des reformpäd-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

agogischen Denkens, wie etwa bei Maria Montessori (1985) oder bei Ellen Key (1978), eine tragende Rolle. Mit dem wahrgenommen Bruch zwischen Moderne und Postmoderne vollzieht sich gleichsam eine Entgrenzung (reform-)pädagogischer Denkfiguren in andere gesellschaftliche Bereiche. Die prominente Stellung des (Neu-)Anfangs in bildungspolitische Programmatiken, wie sie etwa in den Konzepten des lebenslangen Lernens oder der Kompetenzorientierung greifbar werden, weisen in exemplarischer Weise darauf hin, wie sehr die Frage nach dem (Neu-)Anfang über die Grenzen der Pädagogik hinweg bis heute virulent geblieben ist.

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

Noch nie war eine Gesellschaft anfangsorientierter als unsere und noch nie war eine Gegenwart so arm an (Neu-)Anfängen. Der (Neu-)Anfang ist die unmögliche Herausforderung unserer Gegenwart. Nicht aufgrund seines pädagogisch-utopischen Charakters, sondern aufgrund der Aufgabe des Anfangs zugunsten seiner permanenten Inszenierung. Wie paradox es auch klingen mag: Die Forderung einer permanenten Herstellung des Neuen verunmöglicht geradezu, dass Neues entsteht. Von welchem Neuen ist hier die Rede? Glaubt man der Forschungsgruppe »Die kreative Gesellschaft« der Stiftung Neue Verantwortung, dann geht es hier um ein Neues, »das soziale Innovationen treibt, Unternehmen wettbewerbsfähiger macht, Wohlstand sichert, das Leben von Individuen und Gemeinschaften verbessert, Unglück reduziert und Glück vermehrt.« (Ramge 2010: 8) Einen Einblick in die in Aussicht gestellten Versprechungen des Neuen gibt uns beispielhaft eine Werbekampagne der RWETochtergesellschaft innogy im Jahre 2016. »Was würdest du tun, wenn du noch einmal neu anfangen könntest?« Angefangen mit Werbeplakaten bis zu ästhetisch inszenierten und affektiv aufgeladenen Werbespots über persönliche Geschichten prominenter (Neu-)Anfänger, hat sich die Werbeagentur Scholz & Friends zum Ziel gesetzt, deutschlandweit die Zuschauer zum Nachdenken über (Neu-)Anfänge anzuregen. »Jeder Neuanfang hat seine Geschichte« lautet der Wer-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

beslogan von innogy. In den Geschichten des (Neu-)Anfangs werden Reiseunternehmer zum fliegenden Engel, Starköchinnen zu Bäuerinnen, Bürohengste zu Cowboys, Hitschreiber zum Öko-Visionär, Finanzjongleure zum Zauberer. Allen diesen sentimentalen Geschichten des (Neu-)Anfangs ist ein Gedanke gemeinsam, den wir bereits aus dem pädagogisch-romantischen Denken über (Neu-)Anfänge gut kennen: Wenn eine Starre die Lebendigkeit erdrückt und die Fülle des Lebens beschneidet, dann ergibt sich für den Menschen die Aufgabe, dieser Starre entgegenzutreten und einen (Neu-)Anfang zu wagen (vgl. Bollnow 1966: 36f.). Mit romantischen Semantiken bestückt, verkörpert der Werbespot von innogy den symptomatischen Zustand unserer Gegenwartskultur, in dem oberflächlich betrachtet »nichts bleibt, wie es ist, obwohl sich nichts Wesentliches verändert.« (Rosa 2014: 479; Hervorh. i.O.) Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diesen symptomatischen Zustand des Immergleichen trotz des unablässigen Versprechens des Neuen (vgl. Adorno 1977/2018: 339) genauer zu untersuchen. Ausgangs- und Bezugspunkt der folgenden Überlegungen sind gegenwartsanalytische Diagnosen, die sich trotz begrifflicher Unterschiede darin einig sind, dass die moderne Gesellschaft seit den 1970er Jahren auf den Ebenen der sozialen Sicherheiten, Institutionen, tradierter Werte, Lebensstile und -entwürfe grundlegend erodiert. Flexibilität, Pluralisierung, Pädagogisierung und Individualisierung sind einige wichtige Schlagworte, mit denen diese Transformationsprozesse umschrieben werden. Vielfach wird von einer postmodernen, nachindustriellen, postfordistischen Informations- bzw. Wissensgesellschaft gesprochen, in der die Produktion und Konsumtion von ästhetischen, symbolischen, informationellen und wissensbasierten Gütern an Bedeutung gewinnen. Gerade die Frage nach dem (Neu-)Anfang nimmt hier unter dem Label der Innovation in pädagogischen Programmatiken wie etwa dem lebenslangen Lernen eine Schüsselrolle ein. Wenn im Folgenden die oben angerissenen Transformationen unter dem Stichwort der postmodernen Gegenwartskultur untersucht werden, dann handelt es sich hierbei um eine heuristische Rahmung, die über die historischen, systematischen und begrifflichen Mängel des Be-

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

griffs der Postmoderne Bescheid weiß. Der Begriff der Postmoderne, wie Roger Behrens anmerkt, »ist schillernd und widersprüchlich. Einige haben die Postmoderne als neue Epoche proklamiert und zum Teil zynisch die Moderne vollends abgelehnt. Andere versuchten im Sinne einer kritischen Postmoderne die reflektierte Fortsetzung und Neubegründung der Moderne. Die Schwierigkeit der Definition der Postmoderne erscheint dabei selbst als Indiz der Postmoderne.« (Behrens 2014: 11) Trotz dieser begrifflichen Unschärfe können konkurrierende Analysekonzepte wie etwa die nachindustrielle Gesellschaft (vgl. Bell 1996), reflexive Modernisierung (vgl. Beck 2016), Spätmoderne (vgl. Giddens 1992) oder Post-Histoire (vgl. Gehlen 1988) sich in den Debatten bisher nur unzureichend durchsetzen und beziehen sich nur auf einen spezifischen Aspekt der gesellschaftlichen Transformation (vgl. Barwasser 2010: 361). Mit der postmodernen Gegenwartskultur als heuristischer Reflexionsfolie wird der gegenwärtige Zustand sowohl real-historischer Fragmentierungen auf der Ebene der Gesellschaft, ihrer Ökonomie, der Bildungspolitik und der Subjektivierungsweisen diskutiert, wie auch dominante Strömungen und Tendenzen von Geisteshaltungen und Theorien, die sich entweder explizit oder implizit als postmodern ausweisen lassen. Beginnen möchte ich mit einer zeitdiagnostischen Frage nach der Reichweite und Geltung des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs im postmodernen Denken (Kap. 2.1). Es wird gezeigt, wie sehr die postmoderne Dekonstruktion der modernen Idee des Neuen schließlich auf theoretischer Basis eine (kultur-)ökonomische Wiederentdeckung des Neuen als Innovation vorbereitet (Kap. 2.2). So wird eine Linie der Kritik am Versprechen des Neuen, angefangen bei den Analysen zur Kulturindustrie bis hin zu neueren Beschreibungen einer ästhetischen Ökonomie, also eines Regimes des ästhetischen Neuen bzw. eines kognitiven Kapitalismus, nachgezeichnet. Vor diesem Hintergrund soll schließlich deutlich werden, wie ehemals kritisch pädagogische Begriffe mittlerweile nicht nur kompatibel mit der ästhetischen Ökonomie geworden sind, sondern dass sie zudem in erheblicher Weise unter der Program-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

matik des lebenslangen Lernens für die Legitimation und Aufrechterhaltung der Funktionsweise einer an Kreativität orientierten Wissensökonomie in Anspruch genommen werden (Kap. 2.3.).

2.1

Über die Unmöglichkeit des Neuen im postmodernen Denken

Wie aktuell ist die Postmoderne überhaupt? In den 1970er Jahren bahnte sich die Postmoderne gesellschaftlich – anfänglich in der Architektur und Literatur – an, in den 1980er Jahren wurde sie zum Thema der Theorie, um dann in den 1990er Jahren augenscheinlich wieder zu verschwinden (vgl. Behrens 2014: 67). Auch wenn in der gegenwärtigen Theoriediskussion die Postmoderne scheinbar versiegt ist, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Debatten um die Postmoderne bis heute einen entscheidenden Einfluss auf die gegenwärtige Debatten ausüben.1 Die Etablierung kritischer Epistemologien, die Infragestellung von Einheits- und Identitätsentwürfen, die Hinwendung zu Kontingenz, Relationalität und Differenz wären ohne den kritischen Diskurs der Postmoderne nicht denkbar. Mehr als eine Frage des Stils und ästhetischen Geschmacks hat die Postmoderne mit dem Bruch mit gültigen Legitimationskriterien, der Aufgabe des Realitätsprinzips, der Pluralisierung der Wirklichkeiten und Relativierung der Wahrheitskriterien, zur Aufstellung neuer Wissensparadigmen beigetragen. Vor dem Hintergrund dieser postmodernen Konstellationen fragt das folgende Teilkapitel nach der Reichweite und Geltung des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs im postmodernen Denken. 1

Titel wie »Postmoderne« (Behrens 2014), »Moderne/Postmoderne« (Zima 2016) oder »Kritik der Postmoderne« (Heisterhagen 2018) weisen allerdings darauf hin, dass die Debatten um die Postmoderne keineswegs zu Ende sind. Auch in soziologischen und zeitdiagnostischen Analysen zu strukturellen Transformationsprozessen der Gesellschaft, bleiben Motive der Postmoderne, wenn auch nicht begriffssystematisch, so doch mit Blick auf die symptomatische Parallelität mit den beobachteten Phänomenen in der sogenannten Spätmoderne, virulent (vgl. Bauman 2008; Rosa 2014; Reckwitz 2014).

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

2.1.1

Die Paradoxie der Kategorie des Neuen

In seinem Essay »Über das Neue« schreibt Boris Groys, dass in unserer als postmodern bezeichneten Zeit nichts als unzeitgemäßer gelte als das Neue selbst. »Die Zukunft verheißt anscheinend nichts grundsätzlich Neues«, so Groys, vielmehr stelle man sich eine »endlose Abwandlung des bereits Vorhandenen vor.« (Groys 1992: 370) Das postmoderne Denken beschreibt für Groys jedoch nicht das wirkliche Ende der modernen Idee des Neuen, sondern vielmehr die Unmöglichkeit des Neuen, ein Ende zu finden. Denn das Ende des Neuen ist zugleich seine Realisierung. Von nichts anderem gibt nämlich das Neue Zeugnis: Das Ende ist immer schon ein (Neu-)Anfang. Gerade in dem radikalen Verzicht auf das Neue als einer modernen Idee, entpuppt sich das postmoderne Denken als modernistisch, insofern mit dem Ende des Neuen der Anfang einer neuen postmodernen Epoche ausgerufen würde. So kommt Groys schließlich zu der Schlussfolgerung: »Wenn das, was bereits war, auch weiterhin sein wird, dann bedeutet dies unter anderem, da[ss] auch das individuelle Streben nach dem Neuen, die soziale Orientierung an Neuem und das ständige Produzieren des Neuen weiterbestehen werden.« (ebd.: 371) Diese Unausweichlichkeit kann aber nicht über die Seichtheit hinwegtäuschen, die das Neue in Groys‘ Essay annimmt. Nachdem »alle Hoffnungen auf die neue Offenbarung des Verborgenen und auf den zielgerichteten Proze[ss] verabschiedet worden sind« (ebd.: 376), geschieht das Neue (nur noch) um der Innovation willen. Innovative Ausstrahlung haben Dinge dann, wenn sich die Dinge mit dem höchstmöglichen kulturellen Wert mit den scheinbar kulturell wertlosen Dingen des profanen Raumes verbinden (vgl. ebd.: 379). Der Ursprung des Neuen als Innovation besteht demnach in der ökonomischen Form des kulturellen Tausches zwischen dem profanen Raum des »Wertlosen, Unscheinbaren, Uninteressanten, Außerkulturellen, Irrelevanten« (ebd.) und den kulturellen Archiven, wie sie etwa am Beispiel von Museen, Bibliotheken und anderen formalisierten Kultureinrichtungen beschrieben werden können.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Groys‘ kulturökonomischer Rehabilitierungsversuch des Neuen bestätigt, trotz seiner offenen Ablehnung postmoderner Endzeitdiagnosen und Überwindungsrhetoriken, auf eindrückliche Weise seine Affinität zu postmoderner Verliebtheit in die Oberfläche. Mit der ökonomischen Neuinterpretation des Neuen als Innovation gehen auch Tiefendimension (Wahrheit, Sinn, Normativität, Utopie) verloren, die dem Neuen jenseits seiner selbstreferenziellen Produktion eine Bedeutung und einen Sinn geben könnte. Das Neue wird nur produziert um des Neuen willen. In Groys‘ kulturökonomischen Sichtweise ist das Neue nur insofern innovativ, als zwischen dem kulturell als wertvoll Erachtetem und dem Wertlosen ein ökonomischer Wertetausch stattfindet. Über diese ökonomische Umwertung der Werte hinaus vermöge das Neue nichts mehr mitzuteilen.

2.1.2

Die Auflösung der Kategorie des Neuen

Die postmoderne Destruktion der Idee des Neuen nimmt auch in Gianni Vattimos Diagnose des Endes der Moderne eine prominente Stellung ein. Überführte Groys den postmodernen Zweifel an dem Neuen in eine Paradoxie, indem die Überwindung des Neuen dieses zugleich als modernistisch und als unausweichlich bestätigte, ist in Vattimos Diagnose der Postmoderne die Kategorie des Neuen völlig verschwunden. Vattimo wählt zwar einen ähnlichen Ausgangspunkt wie Groys, wenn er feststellt, dass die Postmoderne, wenn sie sich nicht in einem paradoxen Zirkel verfangen möchte, nicht als kritische Überwindung oder als Neuheit gegenüber der Moderne verstanden werden dürfe. Im Unterschied jedoch zu Groys‘ Diagnose einer kulturökonomischen Unausweichlichkeit des Neuen, beschreibt für Vattimo die Auflösung der Geschichte als das zentrale Charakteristikum der Postmoderne (vgl. Vattimo 1990: 9), die wiederum auf der »Auflösung der Kategorie des Neuen« beruhe (ebd.). Ausgehend von Denkfiguren des Posthistoire – hier insbesondere im Anschluss an die Überlegungen von Arnold Gehlen (1988)

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

zur kulturellen Kristallisation2 – stellt sich für Vattimo die Geschichte in der postmodernen Erfahrung zunehmend als »ungeschichtliche Unbeweglichkeit« (ebd.: 10) dar, die »auf der Ebene der Gegenwart und der Gleichzeitigkeit« (ebd.: 15) verflache. Folgt man den Diagnosen Groys‘ und Vattimos, dann wird deutlich, dass die Kategorie des Neuen einen der zentralen Ausgangspunkte der Postmodernedebatte darstellt. Dies gilt insbesondere dann, wenn mit Postmoderne vor allem das Ende der geschichtsphilosophischen Argumente und Begründungen gemeint ist. Sowohl die Annahme der Unausweichlichkeit des Neuen bei Groys als auch die Annahme der Auflösung der Kategorie des Neuen bei Vattimo – denn beides läuft auf die Auflösung der Kategorie des Neuen hinaus – lassen sich als Ablehnung einer dialektischen Auffassung von Geschichte lesen, in der der geschichtliche Bruch, bzw. das Neue nur insofern möglich und folgenreich war, als der kontinuierliche Verlauf der Geschichte die Bedingungen der Möglichkeit dafür bereitstellte. Aber warum tut sich das postmoderne Denken mit dem Neuen bzw. dem (Neu-)Anfang so schwer, beschreiben doch Begriffe wie Bruch, Diskontinuität, das Unbestimmte und Unvorhersehbare, das Nie-Dagewesene einige seiner zentralen Denkfiguren?

2.1.3

Dem Neuen geht’s um das Ganze

Folgt man Wolfgang Welsch, dann liegt das Problem in der Kategorie des Neuen selbst begründet. Der »Pathos des radikalen Neuanfangs«

2

Mit dem Wort der kulturellen Kristallisation bezeichnet Gehlen die Stilllegung und Starrheit kultureller Gebiete in der Industriegesellschaft der Nachkriegsjahre, die dann eingetreten seien, als alle angelegten Möglichkeiten und ihre Gegenmöglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen entdeckt, aufgenommen und verwirklicht wurden. Als Kristallisation lässt sich demzufolge diejenige Zustandsanalyse beschreiben, in der gezeigt wird, dass trotz der Buntheit, Fülle und Wandelbarkeit der Ereignisse (vgl. Gehlen 1988: 141) keine wirklichen Erneuerungen jenseits der abgesteckten Felder und jenseits der verfestigten Grundsätze mehr möglich sind (vgl. ebd.: 140).

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

(Welsch 2008: 70; Hervorh. i.O.) als formaler Charakterzug des neuzeitlichen Denkens, so Welsch weiter, begründet sich nämlich nicht durch das Neue an sich, sondern es gehe ihm vielmehr um den willentlichen Entschluss zu einem wirklichen (Neu-)Anfang jenseits von Reformen und Wiederbelebungen. Der damit einhergehende Bruch mit dem Alten im Ganzen setzt eine »einheitlich-systematische Neuerrichtung von allem« (ebd.: 71) voraus, wie sie beispielsweise mit dem Versuch der Neuerrichtung der Wissenschaft durch René Descartes beschrieben wird. Indem also der wirkliche (Neu-)Anfang den radikalen Bruch mit dem Alten im Ganzen voraussetzt, lässt sich auch der zweite Charakterzug des neuzeitlichen Denkens ausmachen, und zwar der »Anspruch auf Universalität« (ebd.: 72; Hervorh. i.O.). Die Kategorie des (Neu-)Anfangs als Leitidee des neuzeitlichen Denkens, so Welschs zusammenfassende Schlussfolgerung, wäre daher »im gleichen Maß, in dem sie radikal neu ansetzt, auch unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend« (ebd.) gewesen. In Anlehnung an Jean-François Lyotard sieht Welsch die postmoderne Haltung vorrangig in der Skepsis gegenüber solchen universalistisch großen Erzählungen begründet. In seinem Bericht »Das postmoderne Wissen«, bei dem es sich, wie Lyotard selbst beschreibt, um eine »Gelegenheitsarbeit« im Auftrag der Regierung von Québec handelt (Lyotard 1979/2015: 26), kommt er zu dem Ergebnis, dass in der postindustriellen Gesellschaft die großen Erzählungen, das heißt sowohl die spekulativen als auch die Erzählungen der Emanzipation, ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten (vgl. ebd.: 99). Als Kehrseite der Krise der großen Erzählungen mit ihren Einheits- und Ganzheitsmodellen beschreibt Lyotard das Aufleben situierter und flexibler Sprachspiele, die auf der Grundlage ausgehandelter Regeln in Spielzügen das Wissen (zeitweilig) zu legitimieren versuchen. Anschließend an Wittgensteins Theorie der Sprachspiele schreibt Lyotard: »In dieser Zerstreuung (dessémination) von Sprachspielen scheint sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen. Das soziale Band ist sprachlich, aber es ist nicht aus einer einzigen Faser gemacht. Es ist ein Gewebe, in dem sich zumindest zwei Arten, in Wahrheit eine unbestimmte Zahl

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

von Sprachspielen kreuzen, die unterschiedlichen Regeln gehorchen.« (ebd.: 104; Hervorh. i.O.) Die Postmoderne als veränderte Einstellung zu modernen Denkansätzen lässt sich daher als Eröffnung jenes neuartigen Denkraumes verstehen, in dem Pluralität und Vielfalt, die nebeneinander existieren und durcheinandergehen, sich gleichermaßen legitimieren können (vgl. Welsch 2016: 39). Wie bei Lyotard beschreibt das Ende der Meta-Erzählungen auch für Welsch den Haupttopos der Postmoderne. Es seien die großen Entwürfe, ihre Methoden und ihre Ziele, die ein Partikulares als ein Absolutes universalisiert und totalisiert hätten (ebd.: 36f.). Die Postmoderne beginnt für Welsch da, wo das Ganze aufhört und der Übergang zu Pluralität und Vielfalt jenseits von »Einheitssehnsucht« (ebd.: 38) möglich wird. Der postmoderne Anspruch der Vervielfältigung geht sogar so weit, dass er sich bis in unsere Wirklichkeitskonzepte hinein erstreckt, so dass eine Unterscheidung zwischen wirklicher Wirklichkeit und dem Bild der Wirklichkeit verworfen wird. Die ästhetische Totalisierung der Wirklichkeit setzt das »offene Gemenge- oder Geschiebelage unterschiedlicher Wirklichkeiten« (ebd.: 52) voraus. Dass die postmoderne Denkhaltung, trotz der ganzen Vervielfältigungsrhetorik und ästhetischen Verwirrungen, nicht auf eine naive Affirmation einer »diffusen Postmoderne« (Welsch 2008: 81; Hervorh. i.O.) des anything goes zu reduzieren ist, sondern als präzise Postmoderne eine wirkliche Pluralität einfordert, darauf weisen die Apologeten der Postmoderne ausdrücklich hin. Lyotard kritisiert in diesem Zusammenhang die Postmoderne des Eklektizismus als eine Zeit der Erschlaffung, die den »Nullpunkt zeitgenössischer Bildung« beschreibe: »Man hört Reggae, schaut Western an, i[ss]t mittags bei McDonald und kostet zu Abend die heimische Küche, trägt französisches Parfum in Tokio, kleidet sich nostalgisch in Hong Kong, und als Erkenntnis tritt auf, wonach das Fernsehquiz fragt. Es ist leicht, für eklektische Werke ein Publikum zu finden. Indem die Kunst zu Kitsch wird, schmei-

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chelt sie dem Durcheinander, das den ›Geschmack‹ des Liebhabers beherrscht.« (Lyotard 2010: 40) Man kann sicherlich Lyotard – dies gilt auch für Welsch – nur schwer der naiven Affirmation des postmodernen Karnevalismus‘ bezichtigen. Hat sich doch Lyotard mit seiner (ästhetischen) Konzeption des Erhabenen als ekstatischem Zeitphänomen dem postmodernen Kulturkonsum entgegengestellt, indem er betonte, dass nicht das Ereignis des Kunstwerkes, sondern nur sein Sinn von einem Publikum konsumiert werden könne (vgl. Lyotard 2014: 99). Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lyotards postmoderne Denkhaltung die Tiefe der Dinge nicht mehr in den Blick zu bekommen vermag, wie es in seinen Auseinandersetzungen mit den Werken des Malers Barnett Newman deutlich wird. Mit den Werken von Newman situiert Lyotard die Erfahrung des Erhabenen im gefühlten Augenblick, der geschieht (vgl. ebd.: 98). Die denkerische Tätigkeit eines Subjekts, das nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen fragt, was da geschieht oder welche Bedeutung dem Geschehen über die Situation hinaus beigemessen werde könnte, bleibt nunmehr angesichts der »plastischen Nacktheit« (ebd.: 99) der Werke bedeutungslos. So kommt Lyotard schließlich zu der Schlussfolgerung, dass das Erhabene, das Unausdrückbare im Hier und Jetzt bloß geschieht – in den offensichtlichen Dimensionen, Farben und Linien. »The Sublime is Now« und nicht »anderswo, nicht da oder dort, nicht früher oder später oder ein anderes Mal, sondern: hier, jetzt geschieht es, [...] das ist das Bild.« (ebd.: 113) Die ganze zeitliche Qualität des Beginns oder (Neu-)Anfangs reduzieren sich demnach auf den ekstatischen Augenblick, den man auch nur einen Augenblick lang fühlen kann (vgl. ebd.: 99). Zwar gibt es für Lyotard nach dem Verschwinden von Sinn nichts mehr zu konsumieren, aber das Erhabene will uns über seine augenblickliche und inhaltsleere Präsenz hinaus auch nichts mehr sagen. Nach Byung-Chul Han bringt Lyotards Zeitphänomen des Erhabenen das Zerreißen der Zeit als kontinuierliche Zeit zum Ausdruck. »Es entsteht eine diskontinuierliche, zerklüftete Zeit. […] Ihr ganzer Inhalt erschöpft sich im nackten Da.« (Han 2015: 55) Was können wir erinnern,

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

was dürfen wir erwarten, wenn Sinn, Wahrheit und Zeit zerfetzen? Da, wo sich keine Dauer einstellen kann, wo der Anfang nicht folgenreich wird, da gibt es Abbrüche, aber keine (Neu-)Anfänge. Der (Neu-)Anfang ist ein zeitlich konstituiertes, ein zeitlich vermitteltes Phänomen. Zeitliche Erstreckung, Dauer und Ereignishaftigkeit sind konstitutive Bedingungen für (Neu-)Anfänge.

2.2

Das Neue als Innovation in der ästhetischen Ökonomie

Die gepriesene Glücksgestalt der Vielfalt lässt also noch weitere Lesarten zu. Das Neue wird von jeglichem Referenzrahmen gelöst, alles Bedeutungsträchtige dem unendlichen Spiel der freiflottierenden Signifikanten preisgegeben. Wenn dem postmodernen Denken dennoch eine Tiefe zukäme, ließe sich diese nach Ihab Hassan in der Ablehnung »jeglicher Synthese, sei sie sozialer, kognitiver oder sogar ästhetischer Art« (Hassan 1988: 49) ausmachen, die bis zur Verachtung des Subjekts, des traditionellen Ich reicht. In einer indifferenten Alternative zwischen Selbstauslöschung und Selbstvervielfältigung löst sich das Ich in »eine Oberfläche stilistischer Gesten« (ebd.: 50) auf. Was bleibt, ist die »Intertextualität des Lebens« (ebd.: 55), die letzte und einzige Wahrheit nach der Wahrheit, die letzte und einzige Realität nach der Realität.3 »War die Welt in der Vergangenheit zur Transzendenz hin ausgerichtet und sah sich anderen Hinterwelten ausgesetzt«, so Jean Baudrillard, »ist sie nunmehr in die Realität gestürzt« (Baudrillard 2006: 21). Folgt man Baudrillard weiter, dann ist die Welt nicht an sich verschwunden, sondern es ist ihr metaphysisches Prinzip, das nicht mehr vorhanden ist (vgl. ebd.: 14). Die damit einhergehende Annahme, dass die Welt 3

Folgt man Hassan, dann lässt sich zwar keine klare Definition dessen geben, was wir genau unter Postmoderne zu verstehen haben, nichtsdestotrotz lassen sich Konstellationen der Postmoderne ausmachen, die Hassan in einer Merkmalsliste mit elf Stichpunkten zusammenfasst: Unbestimmtheit, Fragmentierung, die Auflösung des Kanons, Verlust von Ich und Tiefe, Nicht-Zeigbares und Nicht-Darstellbares, Ironie, Hybridisierung, Karnevalisierung, Performanz und Teilnahme, Konstruktcharakter und Immanenz (vgl. Hassan 1988: 49f).

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nach dem Verschwinden jedes Referenzpunktes ohne Prinzip frei wäre, erschwert es, die gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhänge und Gründe des postmodernen Denkens, das heißt, seine realhistorischen Voraussetzungen, genauer in den Blick zu nehmen. Die postmoderne Überhöhung des Fragmentarischen und der Versuch der spielerischen Legitimation von Wissen über die Vervielfältigung von Erzählungen ignorieren nicht nur die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Ursachen der Fragmentierung. Sie stehen auch möglicherweise in einem ambivalenten Passungsverhältnis zu spätkapitalistischen Produktionsweisen. Die postmoderne Selbstbeschreibung als kritische (Denk-)Haltung gegenüber Ganzheitskonzepten übersieht, dass die von ihr präferierten Dezentrismus- und Fragmentierungslogiken mit der herrschenden Marktideologie im Spätkapitalismus koinzidieren. Wie Terry Eagleton nämlich deutlich macht, besteht zwischen der Postmodernen als Geisteshaltung und einer Neuformierung der Ökonomie unter dem Primat der Flexibilisierung und Dezentrierung eine Strukturparallelität. Die postmoderne Marktideologie entspricht »einer kurzlebigen, dezentralisierten Welt der Technologie, des Konsumdenkens und der Kulturindustrie, in der die Dienstleistungs-, Finanz- und Informationsindustrien über die traditionelle herstellende Industrie triumphieren und die gängige Klassenpolitik zugunsten eines diffusen Spektrums von Identitätspolitiken zurücktritt.« (Eagleton 1997: 8) So legt die bisherige Argumentation den Gedanken nahe, dass die postmoderne Ablehnung von Strukturmodellen, das heißt auch Modellen zur Beschreibung von gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen, sich erst in ihrer ganzen Tragweite und Konsequenz verstehen lässt, wenn deutlich werden kann, wie sehr die postmoderne Fragmentierung und Dezentrierung mit einer neuen Logik der Produktionsweise koinzidiert. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die doppelte bzw. ambivalente Rolle, die dem Neuen innerhalb dieser postmodernen Produktionsweise zukommt. Dem postmodernen Zeitgeist

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

entsprechend haben wir es mit dem gleichzeitigen Ende und der Überfülle des Neuen zu tun. Diese zwielichtige Gestalt des Neuen war bereits das große Thema in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der Kulturindustrie. Hier wurde bereits herausgearbeitet, wie sehr hinter der kulturindustriellen Produktion des Neuen letztendlich die starren und herrschaftsförmigen Schemata des Allgemeinen virulent sind (vgl. Horkheimer/Adorno 1944/1984). So drängt sich im Weiteren die Frage auf, ob das postmoderne »Spektakel der inszenierten Oberfläche« (Buschkühle 2014: 73) nicht letztlich die »[k]ulturindustrielle[n] Formeln von der ›Unaufhörlichkeit der Gegenwart‹ und intellektuelle Phantasien von der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹« weiterhin bestätigt (Seppmann 2002: 176). Haben doch die Autoren der »Dialektik der Aufklärung« in ihren Analysen zur Kulturindustrie eine Reihe der noch zu untersuchenden Entwicklungen und Tendenzen vorweggenommen, die sich erst in der postmodernen Ära der Kulturproduktion als vollständig verwirklicht herausstellen sollten (vgl. Virno 2014: 73f.). Es wäre für die vorliegende Analyse jedoch zu kurz gegriffen, wenn wir uns damit begnügen würden, die Gültigkeit der Theorie der Kulturindustrie zur Beschreibung postmoderner Gegenwarten auszuweisen. Wie noch zu zeigen ist, kann eine zeitgenössische Wiederholung des kritischen Unternehmens der Theorie der Kulturindustrie nicht in ihrer affirmativen Aneignung bestehen. Ausgehend von den Analysen von Horkheimer und Adorno wird es also darum gehen müssen, nicht vordergründig die Gültigkeit der Theorie der Kulturindustrie für aktuelle Verhältnisse auszuweisen, sondern vor allem die Verschiebungen und veränderten Problemkonstellationen der Gegenwartskultur in Bezug auf die zwielichtige Gestalt des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs aufzuzeigen.

2.2.1

Was die Kulturindustrie über die Postmoderne verrät

Bereits in der »Dialektik der Aufklärung« findet sich eine auf postmoderne Verhältnisse vorgreifende Kritik der Autoren, wenn sie darauf aufmerksam machen, dass Kultur in ihrer Gesamtheit durch den »Fil-

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ter der Kulturindustrie« geleitet werde (Horkheimer/Adorno 1944/1984: 147). Das ständige Reden über das Neuartige, über das Andere, über das Besondere »wird täglich Lügen gestraft. Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit«, heißt es schon bei Horkheimer und Adorno (ebd.: 41). Mit der bruchlosen Verdopplung der Wirklichkeit ließe sich alles bezeichnen, dafür darf aber nichts mehr bedeuten (vgl. ebd.: 188). »Wird aber das Reale zum Bild [...], so werden umgekehrt die Bilder zur unmittelbaren Realität« (Adorno 2003: 301) und bestätigen den »Mythos des Positiven« (ebd.), in dem alles erscheint wie es ist, aber um den Preis, dass wir die Möglichkeiten nicht mehr erkennen, wie sie darüber hinaus sein könnten. Folgt man Horkheimer und Adorno, beschreibt der Ausdruck der Kulturindustrie das zentrale Motiv der verwalteten Welt im Spätkapitalismus, das dazu führt, dass geistige und kulturelle Werke im umfassenden Sinne nach ideologischen Schemata des Allgemeinen in Ware transformiert werden, was wiederum dazu führt, dass jede partielle Zweckfreiheit von Kunst und Kultur unter der Ideologie der Identität getilgt wird (vgl. Horkheimer/Adorno 1944/1984: 145f.). Stets geht es um die genau geplante Produktion des Neuen ohne Nebenwirkungen. Die Masse soll amüsiert werden, Spaß haben, aber nichts Unerwartetes, nichts Abweichendes darf das vorgängig Allgemeine irritieren. Es ist der permanente Zwang des Neuen, der zu der ausweglosen Situation führt, dass zwar oberflächlich nichts beim Alten bleiben darf, aber unterm Strich das Neue nicht riskiert werden soll (vgl. ebd.: 156f). Die Kulturindustrie ist also eine riesige Recyclingapparatur, in der die Kulturware so aufgefrischt und mit neuem Glanz ausgestattet wird, dass sie als sensationelle Neuheit genau jenen Massenbedürfnissen entspricht, die sie selbst produziert. Die Kritik an der Kulturindustrie zielt also auf die standardisierte und mechanische Produktion von Kunst und Kultur im Spätkapitalismus, wie Horkheimer und Adorno am Beispiel von Kinofilmen veranschaulichen. Hinter dem Neuheitsversprechen des Kinofilms verbergen sich die kulturellen Schemata (standardisierte Handlungen und Rollen) mit geringen Variationsmöglichkeiten. Daher ist der Ausdruck Industrie, wie Adorno in seiner Schrift »Résumé über Kulturindustrie«

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

hervorhebt, nicht wörtlich gemeint, sondern er bezieht sich »auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang.« (Adorno 1977/2018: 339) Wenn also industriell produzierte Waren in den Massenmedien scheinbar Pluralität und Mannigfaltigkeit präferieren, werden sie in ihrem Kern nach identischen Schemata produziert, sodass sie allesamt das vorgängig Allgemeine – Schemata, Klischees und Stereotype – bestätigen. Die Totalität der Kulturindustrie kommt daher am eindrücklichsten zum Ausdruck, wenn alles Besondere – das Detail, die Abweichung – immer schon durch das allgemeine Schema strukturiert und vorgezeichnet wird, sodass sich eine dialektische Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem erübrigt. Unter dem Schein der falschen »Identität von Allgemeinem und Besonderem« (Horkheimer/Adorno 1944/1984: 141) produziert die Kulturindustrie demzufolge trotz aller Fortschrittsrhetorik den Ausschluss des Neuen. Denn das, was »an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über Kultur die Vorherrschaft gewann.« (Adorno 1977/2018: 339) Der Massenbetrug ist unweigerlich. Die Masse wird aber nicht schlicht um das Neue betrogen, sondern sie selbst ist der Betrug. Das Individuum wird als Konsument und Publikum dem gesellschaftlich Allgemeinen, der Masse unterworfen, dessen Produkt es letztendlich ist. Die Schemata, die den Kulturwaren zugrunde gelegt sind, formen diese gemäß des Systems der Identität und strukturieren damit im Wesentlichen, was die Konsumenten wahrzunehmen und zu wissen haben. Um die Botschaft der Kulturware zu entschlüsseln, bedarf es weder der Vernunft noch der Einbildungskraft. Das Individuum selbst verkommt zur Kulturware, zu einer standardisierten »Pseudoindividualität« (Horkheimer/Adorno 1944/1984: 177f.), die auf »bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen« (ebd.: 178) reduziert wird.

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»Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie« (Adorno 1977/2018: 343) hat im Unterschied zur Kant‘schen weitreichende Folgen für das Projekt der Aufklärung. Nicht um Freiheit, Vernunft und Mündigkeit geht es der Kulturindustrie, sondern um die Einfügung eines jeden Individuellen in das vorgängig Allgemeine, in den fortwährenden Rhythmus des Immergleichen (vgl. ebd.: 345). Daher ist der »Gesamteffekt der Kulturindustrie […] der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird […] Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewu[ss]tseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbstständiger, bewu[ss]t urteilender und sich entscheidender Individuen.« (ebd.)

2.2.2

Facetten einer ästhetischen Ökonomie des Neuen

Vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, insbesondere veränderter, postfordistischer Produktionsweisen und der postmodernen Aufwertung der Massenkultur, wurde auch die Theorie der Kulturindustrie aufgrund ihrer tendenziell eher kulturpessimistischen Ausrichtung zunehmend kritisiert. Horkheimer und Adorno hätten die Kulturindustrie durchgehend als totalitäres und starres System beschrieben, das sowohl die Konsumenten als auch Produzenten, wie jede Form der Abweichung unter der Ideologie des Immergleichen manipuliere, unterwerfe und anpasse. Daher wurde der Theorie der Kulturindustrie vorgeworfen, mit ihrer Analyseperspektive selbst einer gewissen Starre und Fixierung verhaftet zu sein (vgl. Winter 1999: 36f.). Es waren vor allem die Cultural Studies, die sich bemühten, die alltägliche und populäre Jugendkultur aus dem starren Korsett der Kulturindustrie zu befreien und im Unterschied zu der eher pessimistischen Einschätzung der Frankfurter Schule im alltäglichen Konsum und Vergnügen Möglichkeiten von Handlungsfähigkeit und widerständiger Lebensgestaltung zu erkennen. Inspiriert durch hegemonietheoretische und poststrukturalistische Machttheorien erkannten die Cultural Studies in der Konsumkultur nicht ein totalitäres System, das die Subjekte entmündigt und sie ihrer Kritikfähigkeit beraubt. Vielmehr soll

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

im »lustvollen Umgang mit Populärkultur [auch] eine produktive Form des Widerstandes« erkennbar werden (ebd.: 38). Richtete sich die Kritik von Horkheimer und Adorno gegen die Banalisierung und Nivellierung authentischer Kunst, verabschieden sich die Cultural Studies gänzlich von der Unterscheidung zwischen wahrer Kunst und dem, was man als Kitsch und Ramsch der Konsumwelt bezeichnen könnte, und erkennen nunmehr in der Populärkultur Möglichkeiten der Kritik und des Widerstandes gegen Macht- und Herrschaftsordnungen. In dieser Hinsicht können die Arbeiten von Michel de Certeau zum alltäglichen Konsum und seine Analysen zur Populärkultur als exemplarische Verkörperung dieses Bestrebens gelesen werden, in denen er sich um eine Neubestimmung von Widerstandsmöglichkeiten im Alltagsleben bemüht (vgl. Certeau 1988: 101f.). In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von John Fiske, der in der kulturellen Warenproduktion (Filme, Popmusik, Markenartikel) nicht Mechanismen der Unterdrückung und Manipulation der Massen, sondern einen Ort sieht, »wo der kulturelle Kampf zwischen den Interessen des Kommerzes und den Interessen ›der Leute‹ ausgefochten wird.« (Fiske 1999: 197f.) Nicht jenseits des kommerziellen Konsums, sondern nur in Mischung und in Widerspruch zu diesem, lässt sich demnach Populärkultur denken. Auf der anderen Seite wurden genau diese populärkulturellen Konzepte als voreilige Verkürzung kritisiert, da sie an der Schnittstelle der großen determinierenden Strukturen des Konsums und der unmittelbaren Aneignungsformen im Alltag, die »semiotische Macht des aktiven Konsumenten« (Engelmann 1999: 15) überschätzen würden. So stellt sich insgesamt die Frage, ob solche von den Cultural Studies präferierten Konzepte, die auf Konsum, Text, Pop und Differenz setzen, nicht nebenher die neoliberale Marktideologie von Individualisierung, kreativer Selbstinszenierung und Selbstvermarktung stützen (vgl. ebd.: 16). Wenn es stimmt, wie es etwa Roger Behrens vermutet, dass sich die Kulturindustrie von damals heute in der Popkultur auflöst (vgl. Behrens 2004: 47), sodass wir im Fortwirken der postmodernen Marktideologie seit den 1970er Jahren von einer zunehmenden Kulturalisierung und Ästhetisierung der Ökonomie ausgehen können (vgl. Prinz 2017: 353f.), dann stellt sich die Frage, ob diese gesellschaftlichen Transfor-

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mationsprozesse nicht auch durch jene Theorien in ideologischer Hinsicht gestützt wurden, die in dem Warenkonsum immer schon Möglichkeiten von kontextspezifischen Identitätsentwürfen sahen. So ließe sich jedenfalls fragen, ob die Cultural Studies mit ihrer Überbetonung der symbolischen und immateriellen Dimension der Kultur – schließlich auch der Ideologie – nicht nur zu einer Fixierung auf die Konsumenten und ihre jeweiligen Identitätsentwürfe als »postauthentische Ausdrucksweise« Vorschub geleistet haben (vgl. Leslie 2016: 156), sondern es auch gleichzeitig unterlassen haben, Entwicklungen innerhalb der ökonomischen Produktionssphäre zu beschreiben (vgl. ebd.: 155). Wie Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem Buch »Der neue Geist des Kapitalismus« auf der Basis von Managementliteratur aufzeigen können, lässt sich seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein neuer Typ des Kapitalismus ausmachen, der vor allem in einer grundlegend veränderten, ästhetisch-symbolischen und projektorientierten Organisationsweise des Kapitalismus und der Personalführung am Bild des Netzwerkes zum Ausdruck kommt (vgl. Boltanski/Chiapello 2006: 23).4 In der Fortführung dieser Debatten wird seit den 1990er Jahren zunehmend von einer Transformation gesellschaftlicher Leitmodelle ausge4

Boltanski und Chiapello sehen hier vor allem weitreichende Konsequenzen für die zwei Varianten der Kapitalismuskritik. So wird durch die Vereinnahmung der Künstlerkritik durch den Kapitalismus seit den 1968er Bewegungen nicht nur die Künstlerkritik geschwächt, sondern auch die Sozialkritik entwurzelt. Indem der Kapitalismus Freiheit, Individualität, kreative Selbstverwirklichung als neue Legitimationsgrundlage für sich entdeckt, verlieren die Inhalte und Motive der Sozialkritik (Ungleichheit, Armut, Ausbeutung), zunehmend an Gewicht, wie Boltanski und Chiapello es exemplarisch an dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften im Zuge veränderter Arbeitsorganisation deutlich machen (vgl. Boltanski/Chiapello 2006: 30f.). So treten an die Stelle kollektiver und solidarischer Normalitätsstandards zu sozialen Absicherungen vor den Risiken des Kapitalismus neue Möglichkeitshorizonte und Freiheitsmomente, die dem einzelnen Subjekt nicht nur eine kreative und authentische Selbstverwirklichung ermöglichen, sondern ihm diese angesichts der Dauerstellung des Neuen gar abverlangen. Damit wird deutlich, dass sich die Künstlerkritik auch aktuell, diesmal aber aufgrund ihrer prominenten Stellung in der Rechtfertigungsordnung des Kapitalismus, ebenso problematisch darstellt.

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

gangen, die sich einerseits, bezogen auf die Gesellschaft, durch umfassende Ästhetisierungs- und Kulturalisierungsprozesse – insbesondere durch die Transformation hin zu einer symbolischen Ökonomie – auszeichne und andererseits zu begrifflichen Neujustierungen von ehemals geistes- und sozialwissenschaftlichen Theoriemodellen durch die Entstehung eines neuen disziplinären Feldes der Kulturwissenschaften geführt hätte (vgl. Prinz 2017: 354). Die mit der Ästhetisierung und Kulturalisierung einhergehende Verschiebung der Forschungs- und Analyseperspektiven beschreibt Sophia Prinz folgendermaßen: »Während die Theoretiker der Postmoderne sich auf die Effekte der scheinbar unendlichen Vervielfältigung heterogener Zeichen-, Bildund Erlebniswelten konzentrierten, gilt das Interesse der neueren Studien den feldspezifischen Diskursen, Subjektmodellen und Produktionsbedingungen, die dieser ›symbolischen Ökonomie‹ zugrunde liegen – etwa der Expansion der ›Cultural Industrie‹, der betriebswirtschaftlichen Adaption künstlerischer Arbeitsformen und Ich-Ideale oder der Hegemonialisierung des Kreativimperativs.« (ebd.: 354) Im Kontext dieser neueren Studien können auch die Arbeiten von Gernot Böhme zum Entstehen eines ästhetischen Kapitalismus genannt werden. Die Verschiebungen im Verhältnis von Ästhetik und Ökonomie markieren für Böhme einen neuen Zustand des Spätkapitalismus, der nicht mehr in den alten Begriffen der Kulturindustrie zu fassen ist. Die Theorie der ästhetischen Ökonomie basiert auf der Annahme einer umgreifenden »Ästhetisierung des Realen« (Böhme 2016: 26), wie sie seit den 1980er Jahren vom postmodernen Denken proklamiert wird. In diesem Zusammenhang formiert sich zunehmend ein Arbeitstypus, der mit dem Begriff der ästhetischen Arbeit bzw. der immateriellen Arbeit beschrieben wird. Die ästhetische bzw. immaterielle Arbeit umfasst alle Tätigkeiten, in denen jene ästhetisch-symbolischen Waren produziert werden, die für die Steigerung des Lebensstils konsumierbar sind. Mit der Entstehung eines ästhetischen bzw. symbolischen Arbeitstypus verschwindet nicht nur die qualitative Unterscheidung zwischen (wahrer) Kunst und

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Industrie, die für die Theorie der Kulturindustrie tragend war, darüber hinaus verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zwischen Kunst und Industrie: »Die Ästhetik, die von der Kulturindustrie vereinnahmt werden sollte, hat nun ihrerseits die Regie in der industriellen Produktion übernommen.« (ebd.: 100) In diesem Zusammenhang geht Böhme davon aus, dass sich eine eigenständige Sphäre des Ästhetischen etabliert, die nicht mehr zur Befriedigung von lebensnotwendigen Bedürfnissen dient, da keine Waren im klassischen Sinne produziert und konsumiert werden. Der Wert der Inszenierung basiert auf einem neuen Typ von Bedürfnissen, die Böhme im Anschluss an Georges Bataille als »Begehrnisse« bezeichnet. »Es sind solche Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt sind, sondern vielmehr gesteigert werden. Ein Beispiel ist das Begehren, gesehen zu werden.« (ebd.: 101) In dem Moment, in dem die lebensnotwendigen Bedürfnisse in der Gesellschaft flächendeckend befriedigt sind, entdeckt der Kapitalismus, um sein notwendiges Wachstum zu realisieren, eine neue Form der Warenästhetik, deren Gebrauchswert allein in der ästhetischen Inszenierung des Subjektes besteht (vgl. ebd.: 100). Die sozialen Folgen dieser ökonomischen Ästhetisierungsprozesse untersucht wiederum Andreas Reckwitz unter dem Begriff des »sozialen Regime des ästhetisch Neuen« (Reckwitz 2014: 20). Reckwitz rekonstruiert ausgehend vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein, wie sich das neuzeitlich-romantische Ideal der Kreativität mit seinen ästhetischen Utopien der Authentizität, Selbstverwirklichung und Freiheit zunehmend im Laufe des 20. Jahrhunderts, insbesondere ab den 1970er Jahren, zu einem hegemonialen Kreativitätsdispositiv transformiert und in bisher nichtkünstlerische Bereiche diffundiert: in die Arts-and-Crafts-Bewegung, den spätbürgerlichen Unternehmensdiskurs, die creative industries, die Kreativitätspsychologie, das erweiterte Starsystem, die globale postmoderne Kunst sowie in die politische Planung der creative cities (vgl. ebd.: 53f.). Das Kreativitätsdispositiv lässt sich als Kern eines gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels beschreiben, in dem Kreativität als Strukturmodell des Sozialen und als umfassende Problematisie-

2. Ewige (Neu-)Anfänge: Gegenwärtige Konstellationen des (Neu-)Anfangs

rungsweise soziale Praktiken, Diskurse, Subjektivierungsweisen sowie »Subjekt-Artefakt-Relationen« (ebd.: 127) aus unterschiedlichsten sozialen Feldern einbezieht und strukturiert. Innerhalb des Kreativitätsdispositivs kommt dem sozialen Regime des ästhetisch Neuen eine tragende Rolle zu. In diesem wird das Ästhetische am Neuen und seine kreative Produktion und Rezeption an einem Publikum ausgerichtet, das mit einer besonderen Aufmerksamkeit für perzeptiv-affektive Reizereignisse ausgestattet ist (vgl. ebd.: 40). Die scheinbar reinste Form der Kreativität ist nämlich dann erreicht, wenn sich das Subjekt selbst zum Gegenstand kreativer Gestaltung machen kann: »Hier ist das Subjekt als Körper, Geist und Praxis sein eigenes ästhetisches Objekt.« (ebd.: 327) Die ästhetische Anrufung der Subjekte folgt dabei einer zweifachen Logik. Einerseits sind Subjekte aufgefordert ihr Selbst, unter dem Primat des Originellen, Überraschenden und Abweichenden, momenthafte Erlebnis- und Reizereignisse konsumierend zu produzieren und andererseits sollen sie ihre Kreativität potenzieren, optimieren und steigern. Ähnlich wie Böhme kommt auch Reckwitz zu der Schlussfolgerung, dass die ästhetische Produktion des Neuen nicht notwendigerweise ein neues Produkt oder Werk zum Ziel hat, sondern der »Performanz der Kreativität« (ebd.: 327) selbst ein eigenständiger Inszenierungswert zukommt. Die Analysen von Böhme und Reckwitz weisen darauf hin, dass in Folge gesamtgesellschaftlicher Ästhetisierungsprozesse bisher nichtästhetische Bereiche mittlerweile über das Ästhetische strukturiert und reguliert werden. Die (Waren-)Produktion findet nunmehr auch in Lebensbereichen statt, die ursprünglich als nicht ökonomisch gelten: Freizeit, Familie und Bildung. Die Analyse legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Produktion des ästhetisch Neuen nicht mehr ausschließlich über Produktions- oder Verhaltensstandardisierungen zu erklären ist, sondern in umgekehrter Weise die kulturindustrielle Produktion sich ebenfalls so am Ästhetischen ausrichtet, dass das ästhetisch Neue als das Abweichende, Originelle, Spektakuläre sich über die Produktion bis hin zum Konsum erstreckt.

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2.2.3

Ökonomisierung und Infantilisierung: Kindheit als (Neu-)Anfang revisited!

In einem ähnlichen Diskurszusammenhang wird die Orientierung an ästhetischen und symbolischen Neuerfindungen als der Übergang vom Industriekapitalismus hin zu einem kognitiven Kapitalismus beschrieben (vgl. Loroy/Neundlinger 2012), in dem Kreativität, Affektivität und Wissen zur neuen Produktionsweise wie auch zum Produkt der Wertschöpfung werden. Wichtige Schlagworte in diesem Zusammenhang sind: immaterielle Arbeit, Wissensarbeit, Wissensökonomie oder Wissensgesellschaft. Mit dem Ökonomen Yann Moulier-Boutang ließe sich gerade die funktionale Bedeutung von Kunst bzw. des Ästhetischen im Kontext des Lernens und Wissens hervorheben. »Kunst als Matrix des kognitiven Kapitalismus« (Moulier-Boutang 2016: 462f.) strukturiere unsere Aufmerksamkeit in einer von Wissen, Informationen, Bildern und Zeichen gesättigten Informations- bzw. Wissensgesellschaft am Leitmotiv der Kreativität. In diesem Sinne vertritt Moulier-Boutang einen weiten Kunstbegriff, in der Kunst »nicht dekorativ, sondern performativ« ist. »Sie ist nicht einfach ›ästhetisch‹ (gleich ob schön oder erhaben); indem sie mit Erinnerung spielt, ist sie ›kulturell‹« (ebd.: 463), indem sie das Wissen selektiert und auf eine Leitidee hin organisiert. Eine solche an der Kreativität orientierte Wissensökonomie setzt aufseiten der Subjekte mehr Fähigkeiten, intelligente Aufmerksamkeit und persönliches Engagement für neuartiges Wissen, Symbole, Bilder voraus. Neben Wissen über technisch komplexe Informations- und Kommunikationstechnologien sind gleichsam immer mehr soziale und affektive Fähigkeiten und Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit oder Empathie gefordert. Diese Anforderungen einer neuen Wissensökonomie setzen wiederum ein Verständnis von Lernen und Bildung voraus, das auf programmatischer Ebene mit dem Konzept des lebenslangen Lernens umgesetzt werden soll. Das Konzept des lebenslangen Lernens dient als anschauliches Beispiel dafür, wie sehr das Ideal eines kreativen, immateriellen

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Wissensarbeiters an das normative Bild eines permanent unfertigen Bildungs- und Lernsubjektes gekoppelt ist. Im kognitiven Kapitalismus ist das Subjekt aufgefordert, »sich beständig neu zu orientieren, zu lernen, Erfahrung in Form von reflektierten kommunikativen Akten zum Ausdruck zu bringen; kurz, ein nicht vorhersehbares Geschehen zu lenken.« (Lorey/Neundlinger 2012: 11) Entscheidend ist das Lernen einer ständigen Lernbereitschaft, um so eine sensible Aufmerksamkeit für die Rezeption und Produktion kontingenter, unerwartbarer Neuheiten zu entwickeln (vgl. von Osten 2016: 231f.). Wie Andreas Dörpinghaus feststellt, ist der »flexible, biegsame Mensch, das Bedürfnissubjekt, das zugleich Unternehmer seiner Selbst sein sollte« stets im Konzept des lebenslangen Lernens mitgedacht (Dörpinghaus 2017: o.S.). Die mit lebenslangem Lernen einhergehende Dauerstellung des Unfertigseins aufseiten der Subjekte koinzidiert, wenn man Benjamin R. Barbers konsumkritischen Einschätzungen folgt, mit dem kulturellen Ethos einer lebenslänglichen Kindlichkeit, die für konsumkapitalistische Anforderungen funktional ist (vgl. Barber 2007: 14). »Die Infantilisierung soll bei Erwachsenen kindliche Züge hervorrufen und bei Kindern, die erwachsen werden wollen und derweil zum Konsumieren ›ermächtigt‹ werden, das Kindliche bewahren.« (ebd.: 87) Das kreative, originelle Subjekt der Wissensökonomie ist eben auch das unfertige, infantilisierte Subjekt, das nicht nur stets das Neue sucht, sondern sich um die Inszenierung einer kreativen, besonderen und abweichenden Identität (Konsumidentität, Markenidentität) oder eines Lebensstils bemühen muss. Homogenität, Einheit und Abgeschlossenheit verhalten sich kontraproduktiv zum Neuen, sie erregen nicht unsere Aufmerksamkeit.

Zusammenfassung Anschließend an die geschichtliche Rekonstruktion pädagogischer Konstellationen (Kap. 1), wurde in diesem Kapitel in gegenwartsanalytischer Perspektivierung nach der Reichweite und Geltung des Neuen bzw. des (Neu-)Anfangs in der Gegenwartskultur gefragt. Es konnte gezeigt werden, wie sehr die historisch entstandene Idee des Neuen

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bzw. (Neu-)Anfangs unter einem veränderten Vorzeichen wirkmächtig bleibt und für kulturökonomische Zwecke in Anspruch genommen wird. Im Analysekontext der unterschiedlichen Überschriften einer ästhetischen Ökonomie, eines sozialen Regimes des ästhetisch Neuen bzw. eines kognitiven Kapitalismus konnten neue Anforderungen auf den Ebenen des Sozialen und der Subjekte nachgezeichnet werden. Auf die Frage, wie sehr diese Ökonomisierung des Neuen selbst mit Fragen der Bildung und des Lernens verwoben ist, gibt das Konzept des lebenslangen Lernens eine Antwort. Die Unfertigkeit des Subjekts wird unter einem ökonomischen und sozialen Primat des Neuen auf Dauer gestellt, was wiederum die Legitimationsgrundlage für eine Pädagogisierung und Infantilisierung des Subjekts über die gesamte Lebenszeit bereitstellt. Das zeigt sich nicht zuletzt in einer umgedrehten Zielbestimmung der Pädagogik. Pädagogik kann (insbesondere) seit ihren Anfängen in der Neuzeit als historisches Projekt der Vollendung der Idee der Menschheit betrachtet werden, nach der der Mensch im Ausgang seiner Unmündigkeit, seiner zweckhaften Fragmentierung und Entfremdung durch Erziehung wieder ein Ganzes werden sollte. Heute zeigt sich das umgekehrte Bild: Der Mensch soll nicht ein Ganzes sein, sondern sich als ein fragmentiertes, vielfältiges Subjekt entwerfen, das sich den permanenten (Neu-)Anfängen hingibt, ohne einen Abschluss zu finden. Vorausgesetzt, dass nur da etwas Neues ist, und nur da ein (Neu-)Anfang möglich ist, wo etwas sich folgenreich fortsetzen kann, wo das Alte als Möglichkeitshorizont bewahrt bleibt, meint die hier rekonstruierte ökonomische Variante des Neuen nicht mehr als »Sprünge, Abbrüche, Setzungen und andere Arten folgenloser Momenthaftigkeit« (Sloterdijk 1988: 63). Im Folgenden wird am Beispiel der frühen Kindheit der Zusammenhang zwischen einer ästhetischen Ökonomisierung und dem frühkindlichen Bildungsdiskurs in programmatischen wie bildungspolitischen Debatten genauer beleuchtet. Es wird gezeigt, wie sehr ehemals frühpädagogische Semantiken insbesondere des (Neu-)Anfangs in den ausgewählten Diskurszusammenhängen für steuerungspolitische Strategien der Regulation und Herstellung bildungsökonomischer

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Vorgaben vereinnahmt werden. Dazu bieten die bisherigen Analysen eine zeitdiagnostische Folie, um die in der Pädagogik der frühen Kindheit verbreitete Diagnose einer Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung auf ein systematisches Fundament zu stellen und in ihren Facetten zu beleuchten. Unter der heuristischen Perspektive einer am Neuen orientierten Ökonomie kann gezeigt werden, dass die Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung nicht bloß eine naive Technokratisierung meint. Stattdessen ist von einer Gleichzeitigkeit und Verschränkung technokratischer und ästhetischer Weisen der Ökonomisierung auszugehen.

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3. Auf den Anfang kommt es an!?

»Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles!« lautet ein Aphorismus, der Platon zugeordnet wird (vgl. Kahl 2006: 93). Man könnte schnell der Ansicht sein, dass der (Neu-)Anfang auch nach über zweitausend Jahren nichts von seinem göttlichen Status eingebüßt hat, wenn man sich seine Stellung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft vergegenwärtigt. Der Anfang ist in aller Munde, wenn es darum geht, die Zukunft im Namen des Neuen zu erretten. Eine Schar an Zukunftsexperten hat sich daher zur Aufgabe gemacht, in Zukunftskommissionen, Zukunftsoffensiven und Zukunftsinitiativen die (Wissens-)Welt von morgen heute schon vorzubereiten. Der Wahlspruch der kommenden Zukunft ist weitläufig bekannt: »Auf den Anfang kommt es an!« Dieser Wahlspruch gilt seit mehr als fünfzehn Jahren als programmatischer Aufhänger für eine Reihe von Veränderungen im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung (vgl. Jergus/Thompson 2017). Spätestens seit der ersten Veröffentlichung internationaler Vergleichsstudien wie PISA oder Starting Strong im Jahre 2001 wird auf politischer Ebene dem Kindergarten ein eigenständiger Bildungsauftrag neben der Schule zugewiesen, was auf der programmtischinstitutionellen Ebene zur Entwicklung und Implementierung neuer Steuerungsinstrumente geführt hat. Auf der Grundlage des »Gemeinsamen Rahmens für die frühe Bildung in den Kindertageseinrichtungen«, der 2004 von der Kultus- und Jugendministerkonferenz der Länder beschlossen wurde, sind in den vergangenen Jahren in allen Bundesländern entsprechende Bildungs- und Erziehungspläne zur

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Orientierung und Grundlegung der Arbeit in Kindertageseinrichtungen eingeführt worden. Gleichzeitig werden neue Qualitätsstandards für die Arbeit in den Kindertageseinrichtungen institutionalisiert, die auf die systematische Beobachtung und Dokumentation frühkindlicher Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse abzielen (vgl. Cloos/Schulz 2011). Bildungspolitisch formuliert sich hier die große Ambition einer Neugestaltung frühkindlicher Erziehung und Bildung, die angesichts der (neuen) Zukunftsorientierung einer Wissensgesellschaft mit all ihren Neuheiten und Ungewissheiten das Leitmotiv eines lebenslangen Lernens auf Basis kompetenzorientierter Lern- und Bildungsmodelle verwirklichen will. John Bennett, der ehemaliger Leiter des OECDKindergartenprojektes, gibt uns einen unverblümten Einblick, warum die frühkindliche Bildung für die OECD so wichtig ist: »Weil Bildung inzwischen die wichtigste Produktivkraft geworden ist. Deshalb führt die OECD die PISA-Studien durch und deshalb befasst sie sich mehr und mehr mit dem Lernen in den frühen Jahren.« (Bennett 2006: 39) Bennett hat eine klare Botschaft: »Einen starken Anfang machen.« (ebd.) Denn das Lernen beginne »mit der Geburt, vielleicht schon vor der Geburt. Im frühen Kindesalter [würden] die Grundlagen für das lebenslange Lernen gelegt.« (ebd.) Dass frühkindliche Bildung ein zukunftsweisender Hoffnungsträger für die gesamte Gesellschaft ist, davon ist auch die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan überzeugt. So erklärt sie in einem Interview auf dem Kongress »Frühkindliche Bildung« der McKinsey & Company mit prophetischem Gespür, dass wir den Kairos erleben, wieder zu den Weltbesten in der Bildung zu gehören. Genau in diesem verheißungsvollen Zeichen des Kairos sieht Schavan die PISA-Studie, da diese einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Bildung eingeläutet hätte. Der kompetenzorientierte Bildungsbegriff verspricht die erhoffte Zukunftsfähigkeit (vgl. Schavan 2006: 24). Die Zukunft braucht innovative Konzepte, eine innovative Pädagogik, die nicht mehr auf das Lehren von Inhalten, sondern auf das Lernen von Kompetenzen setzt, die es möglich machen, dass schnell alterndes Wissen in einer rasenden Welt überdauern und für neue, unbekannte

3. Auf den Anfang kommt es an!?

Situationen modelliert werden kann. Eines scheint ganz sicher zu sein: An der Qualität frühkindlicher Bildung von heute bemisst sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands im globalen Wettbewerb. Erneut begegnet uns ein vertrautes Motiv aus der Tradition des pädagogischen Denkens: Mit dem emphatischen Rekurs auf den (Neu-)Anfang durch Bildung und Erziehung verspricht man sich eine bessere Welt in der Zukunft. Auch in seiner säkularisierten Variante bleibt dem Denken über (Neu-)Anfänge ein religiöser Kern erhalten: Die Erneuerung der Welt, die Errettung der Zukunft liegt wieder in den Händen des Kindes. Wenn, wie Konrad P. Liessmann aufzeigt, auch in dem (post-)modernsten Blick auf die Zukunft ein Stück transformierte Religiosität, eine postsäkularisierte Heilserwartung übrigbleibt (vgl. Liessmann 2007), dann stellt sich auch für die weitere Analyse die Frage, inwiefern sich in dem bildungspolitischen Rekurs auf den Anfang (»Auf den Anfang kommt es an«) Strukturelemente einer postsäkularisierten Prophetie wiederfinden. Im Folgenden wird dieser Frage am Beispiel der bildungspolitischen Debatten um frühkindliche Bildung genauer nachgegangen. Dazu werden zunächst anhand programmatischer Zukunftsentwürfe die formale Strukturlogik einer Heilserwartung zwischen Endzeitgefühlen und Zukunftseuphorie herausarbeitet (Kap. 3.1). Im nächsten Schritt wird die Frage behandelt, wie diese Strukturlogik einer Heilserwartung gleichsam steuerungspolitisch über das Konzept der Kompetenz umgesetzt und standardisiert wird (Kap. 3.2). Anschließend wird gezeigt, wie sehr gegenwärtige Versuche der bildungspolitischen Steuerung und Standardisierung des (Neu-)Anfangs auf einer Zeitpolitik des Präemptiven beruhen, die exemplarisch anhand von Konzepten der Prävention als auch des Leitbildes der Innovation beschrieben wird (Kap. 3.3). Der nächste Punkt problematisiert die steuerungspolitische und ökonomische Vereinnahmung von ehemals pädagogischen Motiven. Es wird gezeigt, wie im Zuge einer Entgrenzung des Pädagogischen zentrale pädagogische Grundmotive (wie etwa das kindliche Spiel, Kreativität, Originalität, Phantasie) steuerungspolitisch zur Regulierung und Produktion des Neuen vereinnahmt werden (Kap. 3.4). Schließlich wird nach den normativen

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

und machtvollen Implikationen gegenwärtiger Entwürfe des (Neu-)Anfangs im Kontext einer ästhetischen Ökonomie gefragt, wie auch Konsequenzen für den Zeit-, Erfahrungs- und Bildungsbegriff in der Pädagogik diskutiert (Kap. 3.5).

3.1

Zwischen Zukunftsangst und Zukunftseuphorie

Angesichts ökologischer, demokratischer und ethischer Krisen, des Fortschreitens der technischen und digitalen Revolution, spitzt sich die Frage nach einer zukunftsfähigen Pädagogik zu. In seinem Ansatz einer zukunftsorientierten Pädagogik schlägt Martin R. Textor vor, den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen daran zu orientieren, wie Kinder in Zukunft leben sollen. Die Welt der Zukunft, so gewährt uns Textor einen Einblick, ist eine voll technisierte und digitalisierte Welt von intelligenten Maschinen, Robotern und Computern, die nur eine Aufgabe haben, und zwar das Zeitsparen. Angefangen bei intelligenten Radios, die uns frühmorgens mit der Lieblingsmusik wecken, über automatisierte Jalousien mit intelligenter Zeiterkennung, medizinisch wertvolle Toiletten mit morgendlicher Urinanalyse, bis hin zu vollautomatisierten Köperwaschmaschinen, selbstbestellenden und -auffüllenden Kühlschränken, Hausrobotern und wasserstoffbetriebenen Autos (vgl. Textor 2006: 36f.). Auch der Kindergarten der Zukunft bleibt von der technologischen Revolution der Welt nicht unberührt. In einer transhumanistischen Zukunft könnten Menschen-Roboter die bisher nur schwer zu optimierenden menschlichen Fachkräfte ersetzen und damit die seit Jahren geforderte maximale Bildungsqualität mit den vorstellbar geringsten Ausgaben realisieren (vgl. Textor 2018: 23f.). Was hier als Science-Fiction einer fernen Zukunft klingt, ist nach Textors Einschätzung eine Zukunft, die heute schon begonnen hat. Grundlage seiner Diagnose sind angeblich die von Zukunftsforschern berechneten Modelle, die Entwicklungs-tendenzen bis zum Jahr 2060 verlässlich beschreiben würden. Die hier entworfenen zukünftigen Szenarien werden zum Orientierungspunkt der Gegenwart. Die Erwartungen und die Wahrnehmungen werden in gewisser Weise an

3. Auf den Anfang kommt es an!?

zukünftiger Fiktion ausgerichtet, indem nämlich diese so gedeutet und vorausgesetzt wird, als hätte das Neue der Zukunft bereits angefangen, ohne jemals (wirklich) stattgefunden zu haben. Das Neue ist nicht irgendwann, sondern es drängt sich auf, es zeitigt Wirkungen und verlangt Antworten. Die Janusköpfigkeit des Neuen zeigt sich dabei in aller Deutlichkeit: Das Neue ist sowohl der Hoffnungsträger einer zukunftsfähigen Gesellschaft als auch unausweichliches Zukunftsrisiko einer beschleunigten, digitalisierten, multioptionalen Welt. Vergegenwärtigt man sich die innere Struktur eines Heilsversprechens, die von Nobert Bolz und Willem van Reijen in einer Gleichzeitigkeit von Hysterie und Hoffnung beschrieben wird, dann lässt sich auch in gegenwärtigen Zukunftsentwürfen durchaus die Strukturlogik eines Heilsversprechens erkennen. »Die Hoffnung auf Erlösung in einer anderen Zeit oder einem anderen Ort nährt sich von der Hysterie einer radikalen Kritik des Bestehenden.« (Bolz/Reijen 1998: 8) In diesem Zusammenhang sei auf einen wichtigen Gedanken von Zygmunt Bauman in Anlehnung an Michail M. Bachtin verwiesen: Jede greifbare, das heißt offizielle und politische Variante der Angst – eingeschlossen die Angst vor der Ungewissheit der Zukunft – stellt eine transformierte Variante einer »kosmischen Angst« (Bauman 2016: 52f.) vor dem maßlosen, großen Anderen dar (vgl. ebd.). Was einst in der metaphysischen Interpretation der Welt die Aufgabe eines göttlichen Willens war, wird heute von dem Neuen, der Ungewissheit der Zukunft übernommen. Zwar wird die politische Variante der Angst im Kontext der Erfindung der geschichtlichen Zeit vom Menschen selbst entworfen, doch diese tritt ihm als eigenständige, nicht gänzlich verfügbare Größe entgegen (vgl. ebd.). Die Transformation einer kosmischen Angst in eine politische Angst lässt sich in dem folgenden Diskussionszusammenhang als die Transformation des wirklich Unberechenbaren der Zukunft in ein kalkulierbares Risiko konkretisieren. So drängt sich auch zunehmend das beklemmende Gefühl auf, als wäre die Menschheit in einem Wettlauf mit der Zeit. Je ungewisser und unvorhersehbarer die Zukunft, desto früher und schneller gilt es den richtigen (Neu-)Anfang in der Bildung zu machen.

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»Zu spät zu kommen, das ist die fundamentale Angst unserer Epoche«, schreibt Liessmann (Liessmann 2007: 76). »Wir dürfen den Anschlu[ss] nicht versäumen. Nicht den Anschlu[ss] an die Globalisierung, nicht den Anschlu[ss] an die Weltspitze, nicht den Anschlu[ss] an die internationale Entwicklung, nicht den Anschlu[ss] an den Anschlu[ss].« (ebd.) Die Angst, sich an versäumten Möglichkeiten der Zukunft schuldig zu machen, beschreibt die Grundstimmung in einer rasenden Wissensgesellschaft, in der Wissen, Information und Affekte einen unendlichen Options- und Möglichkeitsraum noch nie dagewesener Art anbieten. »Der Multioptionalismus fächert die Möglichkeiten auf; aber das ist noch nicht alles. Die Logik der postmodernen [Wissens-]Gesellschaft fügt der Vielfalt die Dynamik hinzu: Zur Menge von Möglichkeiten kommt ihre ständige Erweiterung, Intensivierung und Überbietung.« (Prisching 2008: 93; Hervorh. i.O.) »Fundierende Strukturmerkmale einer Wissensgesellschaft, die lebenslang lernt«, so Andreas Dörpinghaus, »sind die Beschleunigung der Zeiten und der stete Wandel.« (Dörpinghaus 2007: 35) Es handelt sich hierbei jedoch nicht nur um eine Beschleunigung der Zeit, wie sie unter anderen in der Beschleunigungstheorie von Hartmut Rosa untersucht wird (vgl. Rosa 2014), sondern um eine grundlegende Dezentrierung der Zeitstruktur. Wie Elena Esposito über die »Konstruktion der Unberechenbarkeit« schreibt, geht es zeitpolitisch nicht darum, dass die Gegenwart für eine ferne Zukunft geopfert wird, sondern darum, dass »die Zukunft [...] in der Gegenwart benutzt wird.« (Esposito 2016: 39) Die Zukunft findet bereits in der Gegenwart statt, hier wird sie konstruiert, geplant und zu steuern versucht. Die Idee, dass Erziehung der »Schauplatz der Zukunft in der Gegenwart« ist (Gruschka 2001: 37), ist nicht neu. Pädagogik ist ohne den Bezug zur Zukunft nicht zu denken und doch bleibt dieser Bezug äußerst prekär. Das heißt, als Zukunftsprojekt mit offenem Ausgang vollzieht sich Pädagogik im Spannungsverhältnis einer gegenwärtigen Zukunft, wie wir sie uns heute vorstellen und einer zukünftigen Gegenwart, also der Tatsache, dass das, was in der Zukunft zu Gegenwart wird, anders kommt, als geplant. In gegenwärtigen Zeitpolitiken geht es, wie im Folgenden zu zeigen ist, nicht ausschließlich um den Entwurf einer möglichen Zukunft, sondern um eine Zeitpoli-

3. Auf den Anfang kommt es an!?

tik, die versucht, die Differenz zwischen einer gegenwärtigen Zukunft und der zukünftigen Gegenwart aufzuheben. In neueren Theorieansätzen des Akzelerationismus werden diese neuartigen Zeitphänomene unter dem Begriff des spekulativen Zeitkomplexes gefasst. Die Kernthese des Akzelerationismus lautet, dass gegenwärtige Zeitverhältnisse nicht mehr ausschließlich der chronologischen Zeitstruktur folgen. Die spekulative Zukunft bedarf keiner Vermittlung mehr, sie ist nicht ein zukünftiger Möglichkeitshorizont, sondern sie findet jetzt statt (vgl. Avanessian/Malik 2016: 7). Phänomene des spekulativen Zeitkomplexes lassen sich am Beispiel präemptiver Strategien veranschaulichen. Armen Avanessian und Suhail Malik wählen hierzu ein anschauliches Beispiel aus dem Bereich der präemptiven Personalisierung. Die Strategie der präemptiven Personalisierung ist Amazon-Kunden weitläufig bekannt. Auf Basis algorithmischer Berechnungen weiß Amazon unter Umständen schon lange im Voraus, was die Kunden sich in Zukunft wünschen werden, bevor sie sich darüber selbst im Klaren sind. Ein Beispiel hierfür ist die Methode und das System zum antizipatorischen Paketversand. Amazon versendet Pakete in bestimmte Regionen, bevor die Kunden überhaupt eine Bestellung aufgegeben haben. Für die Zusendung eines in der Zukunft (potenziell) gewünschten Produktes soll eine wirkliche Vorbestellung durch die Kunden nicht mehr nötig sein. Auch in pädagogischen Kontexten gewinnen präemptive Strategien an Einfluss. Wie im Zeitraffer soll heute schon der Anfang der kommenden Zukunft realisiert werden. Institutionalisiert werden präemptive Strategien durch das Konzept der Kompetenzen. Aufgrund seiner konzeptionellen Inhaltsleere sowie geschichtlicher Blindheit, bietet der lernmethodische Kompetenzbegriff eine theoretische wie didaktische Basis, um die Grundvoraussetzung präemptiver Selbstaktualisierung bereits in der frühen Kindheit zu verankern. Mit dem Kompetenzbegriff offenbart sich eine präemptive Zeitpolitik, die die Offenheit der Zukunft als Ungewissheit konstruiert, die wiederum als Unsicherheit der Gegenwart pädagogisch relevant wird. Wer hier jedoch eine rigide Technologisierung frühkindlicher Bildungsprozesse unterstellt, wird eines Besseren belehrt. Wie im Folgenden zu zeigen sein

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wird, gelten Kreativität und die Orientierung am Neuen in mehrfacher Hinsicht als vielversprechende Schlagworte präemptiver Zeitpolitiken in der frühen Kindheit.

3.2

Präemptive Zeitpolitiken in der frühen Kindheit

Die Crux einer am Neuen interessierten Wissensgesellschaft besteht darin, dass sie gerade das, worüber sie nichts wissen kann und worüber sie nicht verfügen kann, zu ihrem bildungspolitischen Gegenstand erklärt. Um es mit Dietmar Kamper zu formulieren, führt gerade das »Nicht-Denken-Können« des Neuen in der Zukunft »zum Machenwollen desselben um jeden Preis.« (Kamper 1987: 667) Die Standardisierung des Nicht-Standardisierbaren muss selbst einen originellen Weg wählen, der statt auf krude Machbarkeit auf den kreativen und flexiblen Umgang mit Nicht-Wissen setzt. Wer hier eine rigide Technologisierung von Bildung erwartet, wird eines besseren belehrt. Auf steuerungspolitischer Ebene haben wir es zunehmend mit einer effektiven Strategie der Standardisierung des Nicht-Standardisierbaren zu tun, die gerade dadurch standardisiert, reguliert und kontrolliert, indem sie das Unberechenbare steuerungspolitisch vereinnahmt und auf der Ebene der Subjekte als Selbstlernkompetenzen institutionalisiert. Eine hoch ambivalente Form der Standardisierung: »Mit der Erfahrung von Kontingenz wächst […] das Bedürfnis, ihre produktiven Seiten nutzbar zu machen und ihre destruktiven zu beschneiden: […] Entfesselung und Domestizierung sind dabei ununterscheidbar verwoben.« (Bröckling 2016: 90) Mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit verschiebt sich der Zurechnungsmodus: Je dynamischer, kontingenter und unabsehbarer zukünftige Ereignisse und Entwicklungen sich gestalten, umso erforderlicher scheint es, Kontroll- und Steuerungsmechanismen selbst zu vervielfältigen und sie als Individualisierungsund Diversitätsversprechen in die Hände der Einzelnen zu legen, um dasjenige flexible, kreative, spielerische Subjekt zu erhalten, das sich von den Ereignissen, unerwarteten Chancen und Möglichkeiten

3. Auf den Anfang kommt es an!?

treiben lässt (vgl. Rosa 2014: 15). Orientierung soll nicht mehr mithilfe vordefinierter und überdauernder Normen und Maßstäbe erreicht werden, sondern diese müssen jetzt von kompetenten Subjekten von Anfang an selbstreguliert, erfinderisch und kreativ geleistet werden (vgl. Fthenakis 2003: 24). In einer postmodernen Gesellschaft gelte es, »Kinder als kreative und phantasievolle Künstler vorzustellen«, damit sie »metaemotionale Kompetenzen« (Fthenakis 2006: 46) entwickeln. Gleichwohl gilt, dass neue Freiheitsversprechen von Selbsttätigkeit und Kreativität an smartere Formen der Kontrolle und Steuerung geknüpft sind (vgl. Han 2014: 28). Unter dem Motto »Je früher, desto besser« gilt es, den alles entscheidenden Anfang in der Bildungskarriere des lebenslangen Lernsubjekts zu machen. Von Anfang an gilt es den flexiblen, kreativen und spielerischen Umgang mit Nicht-Wissen und Kontingenz auf der Ebene der Subjekte einzuüben, und so NichtWissen und Kontingenz, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit als neue Kontroll- und Steuerungsinstrumente auf Dauer zu installieren. Das vielversprechende Zauberwort lautet hier Kompetenzorientierung. Auch wenn keineswegs klar ist, was eigentlich mit dem Begriff der Kompetenz gemeint sein soll, hat er sich in frühpädagogischen Kontexten breitenwirksam etablieren können. Im Zuge internationaler Vergleichsstudien (PISA, Starting Strong) und der Diskussion um die Einführung von Bildungsstandards findet insbesondere der Begriff der lernmethodischen Kompetenzen bzw. der Meta-Kompetenzen (das Lernen lernen) Zuspruch. Folgt man etwa Franz Weinert, dann ist mit dem Kompetenzbegriff die »Verfügbarkeit allgemeiner Problemlösestrategien« (Weinert 2002: 27) gemeint. Kompetenz lässt sich demnach verstehen als »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.« (ebd.: 27f.).

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Statt schnell veraltenden Wissensinhalten gilt es solche problemlösungsorientierten Kompetenzen zu vermitteln, die der Ungewissheit und den unvorhersehbaren Aufgaben der Zukunft ein Leben lang gerecht werden können. So argumentieren auch John Erpenbeck und Werner Sauter in ihrer Diagnose einer sich (angeblich) anbahnenden »Kompetenzkatastrophe«, dass die Zukunft bereits heute nicht mehr das sei, was sie einmal war. »Sie ist mit Fertigkeiten, Informationswissen und Qualifikationen, mit Beschulungen und Qualifizierungen auch im Dutzend nicht mehr zu bewältigen. Kompetenzen sind gefragt.« (Erpenbeck/Sauter 2016: 30) Bildung (als Kompetenzentwicklung) soll heute schon Teil einer Welt sein, die zwar (noch) nicht ist, aber schon reale Effekte und Wirkungen zeitigt. Zu den wichtigsten Zukunftskompetenzen zählt Martin Textor unter anderem »lernmethodische Kompetenz[en], Kommunikationsfertigkeiten, Technikverständnis, Medienkompetenz, Teamfähigkeit, Selbstmanagement usw., Persönlichkeitscharakteristika wie Selbstbewusstsein, Neugier und Offenheit, Kenntnisse wie Allgemeinwissen und Fremdsprachen, Einstellungen wie Toleranz und Wertorientierung.« (Textor 2006: 38; Hervorh. i.O.) Was das Konzept der Kompetenz auf theoretischer Basis mit Theorien der Postmoderne gemeinsam hat, ist eine umfassende Orientierung (früh-)pädagogischer Wirklichkeiten an »Ungewissheit, Komplexität, Vielfalt, Multiperspektivität.« (Fthenakis 2003: 24) Hierunter wären solche (meta-)kognitiven, sozialen und emotional-motivationalen Kompetenzen zu verstehen, die paradoxerweise auf die Standardisierung der Ungewissheit der Zukunft über die Standardisierung einer permanenten Lernbereitschaft über die gesamte Lebensspanne abzielen. Gerade angesichts einer postmodernen Gegenwartsdiagnose stellen Kreativität, Originalität, und Einfallsreichtum wichtige Schlüsselkompetenzen für die Zukunft dar, wie Daniela Braun für die frühzeitige Förderung von Kreativität feststellt. »Kreativität ist eine wichtige Schlüsselkompetenz für die Zukunft, weil kreative Menschen sich flexibel und aktiv auf aktuelle und zu-

3. Auf den Anfang kommt es an!?

künftige Anforderungen einstellen können. Kreativitätsförderung bedeutet daher, Kinder in einem Potenzial und bei einer bestimmten Kompetenzentwicklung zu unterstützen, welche zukunftsfähig ist.« (Braun 2011: 36f.) Auf didaktischer Ebene gilt dabei das kindliche Spiel als die erste Wahl. Nichts ist intrinsisch motivierter und verspricht größere Kreativität, Phantasie und größeren Einfallsreichtum als das Kinderspiel. »Wer immer nur arbeitet und nicht spielt, wird ein einfältiger Langweiler.« (Rittelmeyer 2007: 17) Gegen eine Schmalspur-Bildung, die kindliche Bildungsprozesse auf kognitive Kompetenzen reduziert, gilt es, die Freude am kindlichen Spiel ein Leben lang zu fördern. Die Botschaft ist klar: »es gibt keine technologische Innovationsoffensive ohne die ›Vorschule‹ des kindlichen Spiels.« (ebd.: 17) Gleichwohl gilt, dass nur das professionell gelenkte, geplante, wohldosierte und richtig arrangierte Spiel der Kinder die frühe Einübung zukunftsfähiger Grundkompetenzen erlaubt. Vielfach wird mit Bezug auf die Ergebnisse der PISA-Studie besorgt fragt: »›Verbuddeln wir unsere Kindheit im Sand?‹, versäumen wir es, wesentliche Bildungschancen zu nutzen beim ›Trödeln im Spielparadies‹.« (Roux 2002: 1) Besonders in schnelllebigen, pluralistischen Gesellschaften, in denen Orientierungen und Verbindlichkeiten immer brüchiger würden, käme es auf prinzipielle Lebenskompetenzen an (vgl. ebd.). Dafür brauche es ein geplantes und richtig arrangiertes Spiel in der frühen Kindheit, so die OECD in ihrem Länderbericht zur Politik der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung für Deutschland (vgl. OECD 2004: 75).1

1

So heißt es etwa im Länderbericht der OECD zur Politik der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung für Deutschland: »Kindliches Spielen ist ein Schlüssel zum Lernen, aber einer, der leicht missverstanden wird. Beabsichtigtes, ausgedehntes Spielen der Kinder fördert die kognitive Entwicklung, einschließlich Sprachfähigkeit und Vokabular, Problemlösung, Perspektivenbildung, darstellende Fertigkeiten, Merkfähigkeit und Kreativität – aber diese Art von Spielen erfordert die Anwesenheit einer Fachkraft, die unterstützt und lenkt.« (OECD 2004: 75)

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Erpenbeck und Sauter gehen sogar so weit, dass sie im kindlichen Spiel ein Leitmodell für die Zukunft des Lernens überhaupt sehen. Das spielerische, selbstgesteuerte und motivierte Lernen, so die Autoren, »wird beispielsweise im Kindergarten wie selbstverständlich praktiziert. Die Kinder nehmen sich ein Spiel aus dem Regal und fangen einfach an. Dann lässt man sie am besten alleine spielen, das heißt lernen. Warum lassen wir die Schüler, Studenten und Arbeitnehmer nicht genauso ›natürlich‹ lernen?« (Erpenbeck/Sauter 2016: 123) Die Subjekte des Lernens, angefangen bei Kleinkindern über Jugendliche bis zu Senioren, sind aufgefordert in spielerischer Weise ihre Bildungsund Lernprozesse individuell und selbstorganisiert mit der nötigen Freude und Motivation zu gestalten und als erlebnisreiches Spiel wahrzunehmen. Die bisherigen Überlegungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass präemptive Zeitpolitiken in der frühen Kindheit keineswegs als rigide Technologisierung zu verstehen sind. Vielmehr zeigt sich, wie sehr die Idee kindlicher Kreativität inkorporiert und damit schließlich eine paradoxe Standardisierung des vermeintlich Neuen durchgesetzt wird.

3.3

Das Neue zwischen Risikokalkulation und affirmativer Produktion

Im Weiteren soll auf zwei miteinander verschränkte Argumentationsstränge eingegangen werden, die die bisherigen Überlegungen zu präemptiven Zeitpolitiken in der frühen Kindheit konkretisieren. Im Folgenden werden solche präemptiven Strategien kritisch beleuchtet, die auf der Basis der kindlichen Kreativität und des Spiels das Neue der Zukunft als Risiko und/oder als Innovation kontrollierbar und steuerbar zu machen versuchen.

Risiken des Neuen minimieren Zunächst gilt es, unter der Perspektive der Prävention unvorhersehbare Gefahren des (unerwünschten) Neuen in kalkulierbare Risiken zu transformieren. Neben globalen Fragen der Nachhaltigkeit, der Klimakrise

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oder der fortschreitenden weltweiten Digitalisierung werden insbesondere solche Argumentationen bemüht, die auf entwicklungspsychologische oder sozialpolitische Bedingungen frühkindlichen Aufwachsens rekurrieren, wie etwa die frühzeitige Diagnose von vermeintlichen Entwicklungsrisiken, die präventive Bekämpfung von Armut oder die Sicherstellung von Chancengleichheit im Bildungssystem. In diesem Zusammenhang wird soziale Ungleichheit als Ungleichheit in der Kapazitätsbildung von übergreifenden Kompetenzen verstanden (vgl. Pfeiffer 2010: 37f.). Das Fehlen von solchen übergreifenden Kompetenzen für ein lebenslanges Lernen stellt demzufolge den eigentlichen Risikofaktor in einer Wissensgesellschaft dar, deren zentrale Charakteristik nach ihrer Selbstbeschreibung die Beschleunigung und rasante Veränderung ist. Daher liegt ein besonderes Interesse auf solchen Kapazitätsbildungsprozessen, die Kinder trotz der »rasanten Veränderung in unserer Gesellschaft« und den damit einhergehenden »Unsicherheiten, Belastungen und schwierigen Lebensbedingungen« zu »kompetenten, leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten« (Wustmann 2007: 120) heranwachsen lassen sollen. Kreativität gilt hier als einer der ausschlaggebenden Schutzfaktoren gegenüber problematischen und belastenden Lebenssituationen, weil kreative Kompetenzen wie etwa Flexibilität, Assoziationsfähigkeit, Phantasie, Ideenfülle auch als ausschlaggebend für die Resilienzentwicklung eingeschätzt werden (vgl. Braun 2011: 37). So gehen Kreativität und Resilienz Hand in Hand, wie Braun weiter feststellt: »Kreativität ist also auch ein wichtiges Element zur Entwicklung von Resilienz. Das bedeutet, dass Kinder einerseits durch Herausforderungen kreative Kompetenz entwickeln können, wenn sie Unterstützung darin erfahren, eigene Problemlösungsmöglichkeiten zu suchen, zu finden und anzuwenden.« (ebd.: 30) Die zunehmende Prominenz von Kreativität zur Bewältigung der unvorhersehbaren Aufgaben der Zukunft steht für einen Perspektivwechsel innerhalb der Resilienzforschung, indem ältere defizitorientierte Modelle mit ihrem spezifischen Zuschnitt auf Risikogruppen durch den »primärpräventiven Aspekt« (Wustmann 2007: 146) abgelöst werden. Während Prävention im engeren Sinne inhaltliche Kriteri-

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en für eine Gefährdungslage erfordert, übersetzen primärpräventive Strategien die Offenheit der Zukunft in Risikowahrscheinlichkeiten und adressieren alle Kinder als potenzielle Risikokinder. Unter dem primärpräventiven Aspekt sollen nunmehr alle Kinder dazu befähigt werden, auf zukünftige Belastungssituationen, Unvorhersehbarkeiten und Risiken angemessen, das heißt flexibel, dynamisch und kreativ, zu antworten und sich den Veränderungen zeitweilig anzupassen. Da Resilienz als »ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess« (ebd.: 125) betrachtet wird, der nur als »variable Größe« (ebd.: 128f.) situations- und lebensbereichsspezifischen Herausforderungen und Belastungen produktiv antworten kann, stellt sich die Aufgabe der Kapazitätsbildung zur Bewältigung von unvorhersehbaren Belastungssituationen ein Leben lang. Auch hier gilt, dass spätere Kompetenzen nur auf den Erwerb früherer aufbauen können, woraus sich wiederum die besondere Bedeutung frühkindlicher Kapazitätsbildung für den gesamten Lebenszyklus ergibt. Versäumte Zeiten der Kompetenzentwicklung in den frühesten Lebensjahren gelten demnach als potenzielle Gefahr in einem doppelten Sinne, und zwar als gegenwärtige Problemlage des Kindes, die sich aber wiederum zu einer zukünftigen Gefahr für die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft potenziert.

Die Produktion des innovativen Neuen Wird im Rahmen der primärpräventiven Perspektive das Neue als potenzielle Gefahr betrachtet, gilt zugleich aus einer prospektiven Perspektive der Mangel an Erneuerung, Kreativität und Einfallsreichtum als eigentlicher Risikofaktor in einer innovationsgetriebenen Gesellschaft. Der präventive Aspekt erfährt hier eine prospektive Ergänzung, die primär nicht Gefahren des Neuen vermeiden, sondern das Neue als Innovation heute schon realisieren möchte. Durch die frühe Förderung ästhetischer, affektiver und spielerischer Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sollen solche Kompetenzen so früh wie möglich aufgebaut werden, mit denen die permanente Produktion des innovativ Neuen sichergestellt werden kann. Gerade über die ästhetische und kulturelle Bildung sollen eine Haltung und

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das notwendige Repertoire an Kompetenzen von der frühkindlichen Bildung an aufgebaut werden, um den zukünftigen Herausforderungen angemessen zu antworten. So lässt sich eine Verschiebung des frühkindlichen Bildungsverständnisses erkennen, die in einer Formalisierung subjektiver und ästhetischer Kompetenzen besteht. Wie jüngst auch Ondrej Kašàk und Branislav Pupala in einer diskursanalytischen Rekonstruktion internationaler EU- und OECDDokumente sowie nationaler Dokumente des slowakischen Bildungsministeriums für den bildungspolitischen Diskurs zeigen können, setzt sich zunehmend ein »new speak« (Kaščák/Pupala 2013: 178) über frühe Kindheit durch.2 Vor dem Hintergrund der politischen Debatten einerseits und aktuell vorherrschenden Entwicklungstheorien wie etwa der Kinderneuropsychologie andererseits, können die Autoren das normative Bild eines innovativen und grenzüberschreitenden »Superkindes« rekonstruieren. Im Zusammenhang mit der »Idee einer diversifizierten Entwicklung« werde die »Kraft der Norm« zur Beschreibung der kindlichen Normalentwicklung in einen Normalisierungsdiskurs überführt, in dem die Einzigartigkeit des Kindes und sein individuelles »Potenzial zur Normüberschreitung« (ebd.: 183) akzentuiert werden. Diese normativen Verschiebungen in der Wahrnehmung und Beschreibung kindlicher Entwicklungen dokumentiere sich auf politischer und theoretischer Ebene in einer Neukonzeptionalisierung frühkindlicher Entwicklung, in der Variabilität und Unvorhersehbarkeit ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird (vgl. ebd.: 180). Geht es in dem Risikodiskurs darum, die Gefahren des Neuen zu kontrollieren und zu minimieren, wird mit der diskursiven Figur des unternehmerischen Superkindes ein normatives Kindheitsbild konstruiert, in dem Kinder aktiv aufgefordert werden (Entwicklungs-)Grenzen zu überschreiten,

2

Auf internationaler Ebene stellte die Entwicklung und Transformation des Dokuments »Developmentally Approriate Practice« (DAP) der letzten 25 Jahre die Analysegrundlage für die Rekonstruktion dar. Auf nationaler Ebene wurden Schulreformdokumente nach 2008 in der Slowakei herangezogen. Darüber hinaus bezieht sich die Analyse auch auf programmatische Initiativen des nicht-staatlichen Sektors.

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um ihre Potenziale und Möglichkeiten voll ausschöpfen zu können (vgl. ebd.: 186). Das normative Leitbild eines unternehmerischen Kindes findet sich ebenso im bundesdeutschen Kontext in den flächendeckend eingeführten Bildungs- und Orientierungsplänen für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen wieder. Auf konzeptioneller Ebene wird in diesen mehrheitlich von einem kindorientierten Konzept des Kompetenzaufbaus ausgegangen. Im Anschluss an die Gouvernementalitätsperspektive wurden solche frühpädagogischen Konzepte, die auf die Entwicklung von selbstregulativen Kompetenzen in der frühen Kindheit abzielen, als Investitionen in das Kind als (zukünftiges) unternehmerisches Selbst kritisiert (vgl. Olk/Hübenthal 2011: 165). Auf dieser Linie lassen sich die curricularen und didaktischen Bemühungen um die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) nennen. Forschendes Lernen, Neugierde und Experimentierfreude sollen Kinder schon frühzeitig auf die Aufgaben und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten und technisierten Welt vorbereiten. Neuerdings wird sich dabei für eine Verbindung der MINT-Fächer mit Kunst (MINKT) ausgesprochen. Bildende Künste gelten als erste didaktische Wahl, wenn es darum geht, Kinder mit mehr Motivation und Engagement, also aus Freude und Spaß dazu zu bringen, sich die notwendigen Kompetenzen innovativ und effizient anzueignen (Fthenakis 2018: o.S.). Die ökonomische Vereinnahmung von Kunst und Bildung, die hinter solchen Forderungen steht, bringt Wassilios E. Fthenakis unverblümt auf den Punkt: »Die Frage ist, wie eine Generation von Erwachsenen ausgebildet werden kann, die in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts erfolgreich ist. Die Antwort lautet: früh in der Bildungskette zu beginnen und Naturwissenschaften und Kunst zu verbinden.« (Fthenakis 2019: o.S.)

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3.4

Pädagogische Grundmotive als ökonomische Wiedergänger?

Die bisherige Diskussion legt die Schlussfolgerung nahe, dass – trotz der aktuellen Versuche, das Neue über die gesamte Lebensspanne sowohl zu begrenzen als auch zu normalisieren und zu standardisieren – solche Argumentationen, die ausschließlich ein technokratisches Bildungsmodell vermuten, nicht wirklich überzeugen. Vielmehr weisen die hier rekonstruierten Diskursstränge darauf hin, dass von einem konstitutiven Nebeneinander von ökonomischen, bildungspolitischen, ästhetischen und pädagogischen Argumentationsmotiven auszugehen ist. In exemplarischer Weise deutet daher die bisherige Analyse darauf hin, wie im Zuge einer Entgrenzung des Pädagogischen auch zentrale pädagogische Grundmotive mittlerweile steuerungspolitisch zur Normalisierung, Regulierung und Inszenierung des Neuen vereinnahmt und instrumentalisiert werden. Zieht man schließlich die Diagnose einer ästhetischen Ökonomie (Kap. 2) als zeitdiagnostische Erklärungsfolie zur Beschreibung von Ökonomisierungsprozessen im Kontext der frühkindlichen Bildung und Erziehung heran, kann auf dieser Grundlage verdeutlicht werden, wie sehr auch genuin pädagogische Grundmotive – zumal deren Anfänge ebenfalls in der romantisch-ästhetischen Bewegung der Neuzeit auszumachen sind – mittlerweile funktional für die Ökonomisierung frühkindlicher Bildung und Erziehung geworden sind. Die fachwissenschaftliche Kritik an der Ökonomisierung der Pädagogik der frühen Kindheit hat bisher versäumt, eine zeitdiagnostische Analyse gegenwärtiger Ökonomien vorzunehmen. Eine Gegenstandsbestimmung der Produktions- und Funktionsweise gegenwärtiger Ökonomien ist unabdingbar, um überhaupt jeweilige Verschiebungen und Mechanismen der Ökonomisierung frühkindlicher Bildung in den Blick zu bekommen. Einer bloßen Gegenüberstellung von ästhetischen, pädagogischen sowie ökonomischen Motiven mangelt es an Überzeugungskraft. »Bildung basiert längst ganz und gar auf einem Ökonomismus«, schreibt Oliver Fohrmann (Fohrmann 2016: 10). Ein Ökonomismus, »der den Vorteil hat, so abstrakt zu sein, dass er selbst

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

noch im Gewand seiner Antithese daherkommen kann. Man muss genau hinsehen, um beide noch voneinander unterscheiden zu können.« (Ebd.) Selbst Vertreter aus dem Lager der Humankapitaltheorie wie etwa Wassilios E. Fthenakis distanzieren sich von einer naiven, einseitigen technokratischen Funktionalisierung und Verplanung der frühkindlichen Bildung und fordern stattdessen eine neue, fast schon (neo-)romantische Philosophie der frühkindlichen Bildung, die dem kindlichen Spiel, der Freiheit und Kreativität einen besonderen Stellenwert einräumt. Auf einer rein begrifflichen Ebene wäre es daher unzutreffend, von einem Ende der pädagogischen Erzählungen auszugehen. Die Narrative sind nicht einfach verschwunden, aber sie begegnen uns heute im ökonomischen Gewand (vgl. ebd.: 18). An der Oberfläche der Dinge hat sich scheinbar wenig geändert: Begriffe wie Spiel, Kreativität, Originalität und Einfallsreichtum werden weiterhin verwendet. Unverkennbar ist hingegen, wie sehr diese Begriffe in einem neuen, das heißt einem ökonomischen und steuerungspolitischen Begründungszusammenhang, stehen. So hat Fohrmann Recht, wenn er feststellt, dass pädagogische Motive nunmehr »als eigener Körper mit fremdem Geist [auftreten]. Es ist der Körper (die Symbolik) des Humanismus, aber der Geist (die Semantik) des Ökonomismus«, schreibt Fohrmann (ebd.: 13). Körper, denen man den Geist ausgetrieben hat, sind (Un-)Tote. Und der »Geist, von dem abstrahiert wurde, löst sich eben nicht in Luft auf, sondern geht als Gespenst umher.« (ebd.: 121) Für die abschließenden Überlegungen möchte ich daher erneut die These aufgreifen, dass sich die Kategorien des (Neu-)Anfangs, damit auch der Zukunft, trotz ihrer Säkularisierung ihrer metaphysischen Wurzeln nicht entledigen können. Lassen sich also da, wo im Namen des Neuen von Zukunftsoffenheit gesprochen wird, weiterhin metaphysische Motive nachweisen? Oder anders formuliert, verbirgt sich hinter dem Versprechen des Neuen der Zukunft die Wirkung und Macht einer transzendenten Autorität, die die Möglichkeiten dessen, was als (Neu-)Anfang denkbar und machbar erscheint, reguliert und begrenzt?

3. Auf den Anfang kommt es an!?

3.5

Transzendente Autorität des Neuen?

Wenn es stimmt, was Dietmar Kamper und Christoph Wulf bereits für die Moderne vermuteten, dass nämlich die Transzendenz (das Heilige) nicht verschwunden sei, sondern als das Verschobene, Verborgene und Verdrängte weiter existiere (vgl. Kamper/Wulf 1987: 1), so können wir in einer Zeit der postmodernen Wiederverzauberung der Welt durch Unbestimmtheiten und Ambiguitäten erst recht die Vermutung anstellen (vgl. Bauman 1995), dass die Transzendenz (das Heilige) keineswegs verschwunden ist, sondern seine Erscheinung den postmodernen Bedingungen angepasst hat und neue diverse Verbindungen mit der ästhetischen Ökonomie eingegangen ist. Wenn wir uns gleichsam vergegenwärtigen, dass die Idee pädagogischer (Neu-)Anfänge, die Suche nach den eigentlichen Ursprüngen auch in ihrer säkularisierten Form, an metaphysische und transzendente Begründungszusammenhänge rückgebunden bleiben (Kap. 1), dann lässt sich das als Hinweis darauf lesen, dass pädagogische Grundfragen ohne metaphysische Bezugnahmen nicht denkbar sind. Es bleibt dabei – Bildung und Erziehung können ohne die metaphysische »Begründung ihrer Existenz nicht leben« (Postman 1995: 45). Neue Götter besetzen die geistlosen Körper des Frühpädagogischen. Ein Gott, der über den (Neu-)Anfang spricht und »die Vision einer Zukunft heraufbeschwört; eine Erzählung, die Ideale aufstellt, Verhaltensregeln vorschreibt, Autoritäten schafft.« (ebd.: 18) Die Botschaft ist klar: Wer verweilt, macht sich schuldig. Wie Konrad P. Liessmann feststellt, will das Neue keine Alternative, keine Möglichkeit, sondern eine »alles andere ausschließende Notwendigkeit sein« (Liessmann 2000: 8). Die Forderung nach dem Neuen unterstellt eine Alternativlosigkeit: das Neue, die Zukunft, das Unberechenbare und Unvorhersehbare ist, wenn selbst nicht kontrollierbar, umso kontrollierender, regulierender und normierender in seiner Wirkung. Eine Angst des Zu-Spät-Kommens macht sich breit. Bildung beginnt heute spätestens mit der Geburt. Kampf der Beharrung, dem Alten, der Tradition, wagen wir den (Neu-)Anfang! Apokalyptische Endzeitvisionen und Erlösungshoffnungen sind zwei Seiten einer Medaille.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Der ökonomisch wiederbelebte (Neu-)Anfang will keine folgenreiche Dauer, sondern den rezeptiv-ästhetischen Glanz der Oberfläche. Wo das kollektive Gedächtnis der Pädagogik dem postmodernen Spiel mit Differenz, Diskontinuität und Brüchen weicht, entfaltet der vermeintliche (Neu-)Anfang seine ganze Oberflächenästhetik, aber das Neue mit all seiner moralischen, politischen, geschichtlichen und existenziellen Bedeutsamkeit bleibt aus. Wiederholen wird zu einem einseitigen Geschäft: Wiederholen lassen sich die unzähligen Brüche und Umbrüche in der lebenslangen Bildungsbiografie. Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von Phänomenen der kulturellen und geschichtlichen Erstarrungen, die die Grundlage für die »Erfahrung der Ereignislosigkeit und des Stillstandes«3 (Rosa 2014: 465) bilden, in der »nichts bleibt, wie es ist, obwohl sich nichts Wesentliches verändert« (ebd.: 479; Hervorh. i.O.). Wir haben es mit Phänomenen der Überbietung zu tun. Das Neue überbietet sich, indem es durch ein Neueres überschritten wird, und stellt damit das auf Dauer, was eigentlich überwunden werden soll, und zwar das Alte (vgl. Lübbe 1988: 155). Die Vergangenheit wird uns zunehmend fremd und die Zukunft immer ungewisser. Wenn Erfahrungsraum und Zukunftshorizont, wie Hermann Lübbe mit Bezug auf Reinhart Koselleck schreibt, zunehmend inkongruent werden, dann bieten sich intergenerationale wie kulturelle Aneignungs- und Vermittlungsmöglichkeiten nur noch in prekärer Weise (vgl. Lübbe 1998: 24.).

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Diese paradoxen Zeitphänomene hat bereits Paul Virilio in seinem gleichnamigen Buch als »Rasenden Stillstand« beschrieben. Nach Virilio verschwindet die Bewegung in Raum-Zeit-Zusammenhängen aufgrund der Ausbreitung der Telekommunikation und infolge der beschleunigten Übertragung von Informationen. Die Telekommunikation macht es möglich, dass alles ohne Distanz, ohne Grenzen und ohne Verzögerung gleichzeitig anwesend und verfügbar ist. Nicht der Mensch in Zeit und Welt ist in Bewegung, sondern die Informationen, die digitalen Codes: »Das Zeitalter der intensiven Zeit ist nicht mehr das der physischen Transportmittel. Es ist, im Gegensatz zu denjenigen der vormals extensiven Zeit, ausschließlich dasjenige des Telekommunikationsmittels, anders gesagt: dasjenige des Auf-der-Stelle und der häuslichen Bewegungslosigkeit.« (Virilio 2002: 44; Hervorh. i.O.)

3. Auf den Anfang kommt es an!?

Mit Byung-Chul Han lässt sich Erfahrung in ihrer grundlegenden Struktur als ein Zeitphänomen interpretieren. Die Erstreckung der Zeit, die wiederum auf eine sinnvolle Verschränkung der Zeitdimensionen zurückzuführen ist, beschreibt die Bedingungen der Möglichkeit, punktuelle Erinnerungen, Erlebnisse sowie zukünftige Erwartungen in sinnvolle Erfahrung zu transformieren. Erfahrung beruht demnach auf einer temporalen Spannung, die zwischen Vergangenheit und Zukunft, Kontinuität und Wandel, zwischen dem Allgemeinen und dem singulären Besonderen vermittelt. Für das Subjekt der Erfahrung heißt das schließlich, dass »das Vergangene nicht einfach verschwunden oder verworfen [ist]. Vielmehr bleibt es konstitutiv für seine Gegenwart, für sein Selbstverständnis. Der Abschied verdünnt nicht die Präsenz des Gewesenen. Er kann sie sogar vertiefen. Das Abgeschiedene ist von der Gegenwart der Erfahrung nicht ganz abgeschnitten. Vielmehr bleibt es mit ihr verschränkt. Und das Subjekt der Erfahrung mu[ss] sich offen halten für das Kommende, ja für das Überraschende und Ungewisse der Zukunft. [...] Es bewohnt den Übergang zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen.« (Han 2015: 13) Die zerklüftete, chaotische und erfahrungsarme Zeit ist eine Zeit des Immergleichen. Wo die Möglichkeit abhandenkommt in einer ausgedehnten Zeit zu wohnen und heimisch zu werden, lässt sich weder Entwicklung noch Veränderung denken. Was über Erfahrung gesagt wurde, gilt gleichermaßen für Bildung. Auch sie hat im Kern mit einer spannungsreichen Zeitlichkeit zu tun: »mit Kontinuität, Folge, Abfolge, Entwicklung; mit Wachsen und Werden; mit Versuch und Irrtum; mit Ausflug und Rückkehr; mit Kreisen und Zyklen.« (Prisching 2008: 112; Hervorh. i.O.) In geschichtlicher Perspektive spiegelt Bildung den spannungsreichen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Tradition und der Möglichkeit des Neuen wider. Der (Neu-)Anfang, so könnte weiter mit Han argumentiert wer-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

den, bindet als das »Noch-Nicht des Schon« (Han 2015: 13) die Zukunft an die bereits angelegten Möglichkeiten der Gegenwart.4 Bereits Walter Benjamin kritisiert in seinen »metaphysisch-geschichtsphilosophischen Studien« den für die Verhinderung von Weltaneignung symptomatischen Zustand eines Verfalls von Erfahrung in isolierte Erlebnisepisoden. Mit dem Verlust der (erzählerischen) Autorität des Alters, verschwinde auch die Möglichkeit, aus dem bisherigen Erfahrungsraum eine tragfähige Narration für die Zukunft zu schöpfen (vgl. Benjamin 1977: 214). Mit Bezug auf Benjamin stellt sich heute mehr denn je die Frage, »was […] das ganze Bildungsgut Wert ist, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet?« (Ebd.: 215) Bleibt uns am Ende einer fraktalen Zeit mit all der Erfahrung der Ereignislosigkeit und des Stillstands nur noch die zynische Einsicht, das alles zu Ende sei – die Erziehung, die Kindheit, die Erwachsenen (vgl. Haan 1996: 122f.) –, weil kein Ende und kein Abschluss mehr in Aussicht ist? Welche Möglichkeiten gibt es, sich die Deutungshoheit über solche pädagogischen Grundfragen wieder anzueignen? Welche Antworten bieten Theorie und Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit auf die zunehmende Entgrenzung, Enteignung und Diffundierung ihrer

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Exemplarisch kann hier Friedrich D. E. Schleiermachers Dialektik des sittlichen Anspruchs erwähnt werden, die den spannungsreichen Zusammenhang zwischen geschichtlicher Zeit und Erziehung auf den Punkt bringt: Die Erziehung »soll so eingerichtet werden, da[ss] beides in möglichster Zusammenstimmung sei, da[ss] die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietende Verbesserung mit Kraft einzugehen.« (Schleiermacher 1826/2000: 34) Dieser dialektische Zusammenhang zwischen der Kontinuität des Alten und dem Wandel durch das Neue im Generationenverhältnis lässt sich nur auf der Basis einer Zeitkonzeption denken, in der Zeit als ein zusammenhängendes Ganzes verstanden wird. Ein Wandel durch das Neue ist nur da möglich, wo die Kontinuität der Tradition und ihre Verbindlichkeit für die Zukunft nicht aufgehoben werden, sondern für ihre lebendige Aneignung, für einen (Neu-)Anfang zur Verfügung stehen. Es handelt sich um solche spannungsreichen (Neu-)Anfänge, die eine erstreckte und umspannende Zeitlichkeit voraussetzen, das heißt, als Folge geschichtlicher Entwicklungsprozesse zu verstehen sind.

3. Auf den Anfang kommt es an!?

historisch entstandenen Grundbegriffe? Welche (neuen) Möglichkeiten bieten sie für eine gegenstands- wie begründungstheoretischen (Re-)Konturierung einer Pädagogik der frühen Kindheit an? Die weitere Bearbeitung dieser Fragen schließt an ein zentrales Ergebnis der gegenwartsanalytischen Rekonstruktion zu einer Neuformierung einer ästhetischen Ökonomie an (Kap. 2). Die seit den 1970er bzw. 1980er Jahren im Zuge einer Transformation gesellschaftlicher Leitmodelle zu beobachtenden Neujustierungen von ehemals geistesund sozialwissenschaftlichen Theoriemodellen bieten hier einen ersten Anhaltspunkt. Eine solche zeitdiagnostische wie gesellschaftskritische Rückbindung der Forschungs- und Theoriebildung verdeutlicht, wie sehr die Etablierung eines steuerungspolitisch ambitionierten Forschungsfeldes der Pädagogik der frühen Kindheit in globalere gesellschaftliche Transformationsprozesse eingebettet ist. Auf dieser Grundlage kann die gegenwärtige frühpädagogische Forschungs- und Theorielandschaft in einem größeren Rahmen systematisiert und zeitdiagnostisch mit Blick auf ihren gesellschaftlich-historischen Ort ausgewiesen werden.

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4. Über den Stellenwert von Theorie

»The golden age of cultural theory is long past!« (Eagleton 2004: 1), mit dieser provokativen Verkündung beginnt Terry Eagleton seinen Essay zum Stellenwert der Theorie nach ihrem so häufig verkündeten Ende. »What kind of fresh thinking does the new era demand?«, fragt Eagleton am Ende der Ära der großen Ideen (ebd.). Bereits Anfang der 1970er Jahre forderte Jean-François Lyotard den »Terror der Theorie«, »seine Meister- und Herrschaftsposition« (Lyotard 1979: 73) gegenüber der Wirklichkeit zu zerstören. Das Wahre wird an der Schwelle zur Postmoderne selbst zu einer Frage des Stils, sodass Lyotard annehmen konnte, dass die Zerstörung der Theorie nur in Form ihrer Parodie möglich sei. Kritik selbst wird als Affirmation der Theorie entlarvt, von der man nicht die Destruktion der Theorie erwarten könne (vgl. ebd.: 93). Was für einen (Neu-)Anfang im Denken verlangt also die neue, (post-)theoretische Ära, um im Wortlaut von Eagleton zu bleiben? Die Frage nach der Reichweite und Geltung des (Neu-)Anfangs im postmodernen Denken (Kap. 2) wird hier erneut aufgegriffen und mit Blick auf ihre wissenschaftstheoretische Bedeutung weitergedacht. Inwiefern wird mit der Kategorie des (Neu-)Anfangs gleichsam eine Forderung nach konzeptionellen Neuorientierungen von Denk- und Analysekategorien zum Ausdruck gebracht, um den (Neu-)Anfang denkbar werden zu lassen. In Strukturanalogie zur bisherigen gegenwartsanalytischen Konturierung des (Neu-)Anfangs im Kontext einer ästhetischen Ökonomie wird auch auf (wissen-schafts-)theoretischer Ebene am Beispiel der zahlreichen turns, die sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften in

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

den vergangenen Jahren als konzeptionelle (Neu-)Anfänge vollzogen und mittlerweile zu paradigmatischen Positionen entwickelt haben, zu zeigen sein, wie sehr die Forderung nach einer permanenten Erneuerung die Theorie selbst betrifft. Das folgende Kapitel versteht sich als eine Suchbewegung. Im Sinne eines reflexiven Zurücktretens, einer quasi-transzendentalen Bewegung, werden sowohl Bedingungen der Möglichkeit von Theorie – was sind ihre meta-theoretischen und real-historischen Bedingungen? – als auch Theorie selbst als Bedingung und Voraussetzung von Wirklichkeitsentwürfen untersucht. Es wird nach den epistemologischen, ontologischen, anthropologischen und normativen Dimensionen der Begründung und Legitimität von Theorie, Denkmodellen, argumentativen Figuren in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit gefragt. Damit stellt sich zugleich die Frage nach dem gesellschaftlichen und real-historischen Ort von Theorie und Forschung. Es wird davon ausgegangen, dass Theorie und Forschung selbst in gesellschaftliche Wahrheitsspiele eingeschrieben sind und somit gegenwärtige Verhältnisse widerspiegeln und (re-)produzieren. Fragt man hingegen nach Theorie als Bedingung und Voraussetzung von Wirklichkeitsentwürfen, fungiert Theorie gleichsam als Medium der Kritik. Mit Theorie als Kritik verbindet sich ein »rückhaltloses Fragen« (Heitger 2003: 15), das die bestehenden Verhältnisse nicht affirmativ akzeptiert, sondern nach deren Bedingungen der Möglichkeiten sowie nach ihren möglichen Veränderungen fragt. Rückhaltloses Fragen ist damit auch die Suche nach einem »tragfähigen Grund für die Möglichkeit« von Pädagogik (ebd.). In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass solch eine reflexiv-theoretische Selbstvergewisserung ein großes Desiderat in der frühpädagogischen Forschung darstellt. Verspielt werden insbesondere Möglichkeiten einer gegenstands- wie begründungstheoretischen Profilierung frühpädagogischer Theorie und Forschung. Soviel sei hier bereits vorweggenommen: Die umfassende Skepsis gegenüber großtheoretischen Entwürfen, und damit eingeschlossen auch gegenüber spekulativen Kategorien wie Wahrheit, Wirklich oder Subjekt, markiert nicht das Ende der großen Erzählungen, wie die Diagnose der Postmoderne unterstellt. Unter der Devise der Machbarkeit,

4. Über den Stellenwert von Theorie

Planbarkeit und Kontrollierbarkeit von gewünschten Bildungserfolgen zeichnen sich vielmehr die Konturen neuer großer Erzählungen ab, die die regulativen und normativen Leerstellen besetzen, die die frühpädagogische Forschung nicht (mehr) selbst zu füllen vermag. Inhalt, Angemessenheit, Relevanz und Gültigkeit frühpädagogischer Forschung bestimmen sich immer weniger durch ihren jeweiligen philosophisch-geschichtlichen Denkzusammenhang als durch gesellschaftliche Anforderungen der Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Wozu soll überhaupt erzogen werden? Welchen Sinn hat Bildung? Das sind Fragen spekulativer Natur, die über technische Fragen der Machbarkeit, Planbarkeit und Kontrollierbarkeit sowie über die empirische Beobachtbarkeit von frühpädagogischen Wirklichkeiten hinaus nach Gründen, Ansprüchen und Zielen von Pädagogik fragen. Das Kapitel gliedert sich entlang folgender Punkte. Zunächst werden die mit dem postmodernen Wissen einhergehenden Transformationen in Bezug auf die Legitimation von Theorie vorgestellt und diskutiert (Kap. 4.1). In diesem Zusammenhang werden Parameter der Begründung und Legitimation von Theorie und Forschung herausgearbeitet, wie sie sich in besonderer Weise nach der »Krise der Legitimation« (Lyotard 1979/2015) der Wissenschaften und ihrer kulturtheoretischen Transformation seit den 1970er Jahren vollzogen haben (Kap. 4.2). Am Beispiel der linguistischen, semiotischen, kulturellen und praxistheoretischen Wenden und der Etablierung eines sogenannten kulturtheoretischen Forschungsfeldes wird nach den wissenschaftstheoretischen, epistemologischen wie gesellschaftlich-historischen Entstehungsbedingungen gefragt (Kap. 4.3) und Veränderungen sowie Desiderate gegenwärtiger Theoretisierungsweisen sozialer- und pädagogischer Probleme werden diskutiert (Kap. 4.4). Diese eher allgemeine Ausrichtung der Analyse auf wissenschaftstheoretische, epistemologische wie gesellschaftlich-historische Ebenen hat einen vorbereitenden Charakter. Sie dient der Ausarbeitung eines systematischen und zeitdiagnostischen Rahmens für die nachfolgende Analyse, in der die Voraussetzungen der Begründung und Legitimation von Theorie und Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit herausgearbeitet werden sollen.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

4.1

Das Ende der Metanarrationen?

Mittlerweile sind vier Jahrzehnte vergangen, seitdem Jean-François Lyotard den für die Geistes- und Sozialwissenschaften folgenreichen (Neu-)Anfang einer postmodernen Kultur des Wissens verkündete. Lyotard zeichnet hier das Bild einer postmodernen Kultur, in der Wissen und Macht immer mehr die zwei Seiten einer Medaille in einer wissensbasierten, postindustriellen Gesellschaft darstellen. Das Wissen in postindustriellen Gesellschaften, so seine Diagnose, löse sich zunehmend von seinem bildungstheoretischen Entstehungszusammenhang und werde selbst zu einer prinzipiellen Produktivkraft, einer »informationellen Ware« im »weltweiten Konkurrenzkampf um die Macht« (Lyotard 1979/2015: 32). »Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr. [...] Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen.« (ebd.: 31; Hervorh. i.O.) Stellen noch in der Moderne Erzählungen der Spekulation des Geistes, der Hermeneutik des Sinns und der Emanzipation des (arbeitenden) Subjekts, u.a. auch als wesentliche Dispositive des neuzeitlichen Bildungsgedankens, dem wissenschaftlichen Denken eine legitimatorische Basis zur Verfügung, verlieren diese meta-narrativen Modelle in der postmodernen Kultur zunehmend an Gültigkeit (vgl. ebd.: 99). Diese Skepsis gegenüber bisher anerkannten Metanarrationen beschreibt für Lyotard den wesentlichen Charakterzug dessen, was er als Postmoderne bezeichnet (vgl. ebd.: 24). Was nach dem Ende der großen Erzählungen übrig bleibt, sind »verschiedene Sprachspiele«, eine »Heterogenität der Elemente« (ebd.: 25). Die postmoderne Wissenschaft, so Lyotard, entwerfe »die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox. [...] Sie bringt nicht Bekanntes, sondern Unbekanntes hervor. Und sie legt ein Legitimationsmodell nahe, das keineswegs das der besten Performanz ist, sondern der als Paralogie verstandenen Differenz.« (ebd.: 142)

4. Über den Stellenwert von Theorie

In diesem Sinne ist die postmodernde Theorie genau das »Anti-Modell« zum stabilen System (ebd.: 149), das sich gerade für das Unbekannte, Instabile, für das Neue öffnet. Methodisch bedient sie sich dazu der »Heteromorphie der Sprachspiele« (ebd.: 43f.). Das Sprechen als agonistisches Spiel wird zum Kriterium der Gültigkeit des wissenschaftlichen Wissens, in dem die Diskursteilnehmer Spielzug um Spielzug um den Sieg wetteifern. So gilt als oberstes und letztes Prinzip des postmodernen Wissens: Die Wissenschaft spielt nur ihr eigenes Sprachspiel, weder kann sie sich selbst abschließend legitimieren, noch ihre Spielregeln auf andere Kontexte übertragen. Der Immanenz der Sprachspiele lässt sich nicht entkommen. Der durch das postmoderne Wissen eröffnete Raum der unendlichen Sprachspiele und ihre Auswirkungen auf Wissenschaft und Theorie werden in den aktuellen Diskussionen der Sozial- und Kulturwissenschaften unterschiedlich rezipiert und bewertet. Unbestreitbar gilt allerdings, dass das »Postmoderne Wissen« als eines der Schlüsseltexte der Postmoderne wichtige Voraussetzungen für Theoriedebatten und entwicklungen der vergangenen vier Jahrzehnte geschaffen hat und mit seinen zentralen Kernaussagen bis heute einflussreich geblieben ist. Folgt man einer ersten Rezeptionslinie, dann markiert das postmoderne Wissen einen entscheidenden (Neu-)Anfang in der Wissenschafts- und Theoriekonzeption. Wie etwa Wolfgang Welsch in »Unsere postmodernen Moderne« hervorhebt, geht es bei diesem (Neu-)Anfang nicht um »Nuancen, sondern um eine generelle Richtung, und deren Nenner lautet: Abschied vom Ganzen und damit Abschied von der Philosophie alten Stils, als Übergang zu einem anderen Denken.« (Welsch 2008: 197) Mit der Erkenntnis und Akzeptanz der Partikularität der Wissenschaften wird auch der Pluralität von »Orientierungsweisen und Weltdeutungen« (ebd.) ein neuer Stellenwert eingeräumt. Nicht Beliebigkeit des Wissens wäre die Folge dieser Pluralisierung, sondern intensivierte Wahrnehmungsfähigkeit, so zumindest der Selbstanspruch des postmodernen Denkens (vgl. ebd.). Mit dem Abschied tradierter Theoriebegriffe (Wahrheit, Wirklichkeit, Subjekt) eröffne sich ein neuer Raum für polyperspektivische Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Welt.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Ein weiterer Diskussionsstrang unterstreicht die zeitdiagnostische Gültigkeit und Aktualität von Lyotards Prognosen zur Neukonfiguration des Wissens unter ökonomischen Kriterien der Effizienz und Effektivität. Die Relativierung der Legitimität großtheoretischer Erklärungsmodelle befördert nicht nur postmoderne Sprachspiele, ebenso werden hier die Grundlagen für eine »positivistische ›Philosophie‹ der Effizienz« (Lyotard 1979/2015: 131) vorbereitet, die die Wahrheitsfindung technisiert. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang die zunehmende Kommerzialisierung von Wissenschaft und Forschung, die nicht nur einen strukturellen Umbau der Universitäten zu Unternehmen bedeutet, darüber hinaus auch die Forschungskultur grundlegend verändert (vgl. Hoffmann/Neumann 2003). Wie Lyotard bereits beschrieben hat, feiert die Performativität des Verfahrens ihren Siegeszug: Auftragsforschung, Drittmittelfinanzierung, Anwendungsorientierung, Innovation, Kompetenzorientierung, Beobachtung und Evaluation sind einige der Schlagworte, die für das Problem sensibilisieren, wie sehr die Delegitimierung des Wissens mit einer ökonomischen Neuausrichtung von Wissenschaft und Forschung einhergeht. Die positivistische Philosophie der Effizienz orientiert Forschung an Parametern der Innovation und der Performativität des besseren Input-Output-Verhältnisses. So wird der Weg des wissenschaftlichen Opportunismus vorbereitet, indem sich das jeweilige wissenschaftliche Selbstverständnis immer weniger an idealistischen und humanistischen Werten wie etwa der Wahrheitsfindung orientiert. Mit dem Vordringen der positivistischen Philosophie in die Wissenschaft, so könnte mit Lyotard geschlussfolgert werden, gelten nicht mehr Kritik, Skepsis oder die Suche nach Wahrheit als die Leitidee des wissenschaftlichen Denkens, sondern die Erweiterung der Macht zur Steuerung und Kontrolle wissenschaftlicher Praxis (vgl. Lyotard 1979/2015: 115f.). In einem dritten Diskussionsstrang wird die Frage aufgeworfen, ob Lyotards dichotome Gegenüberstellung einer positivistischen Philosophie der Effizienz und der postmodernen Strategie der Paralogie wirklich überzeugen kann. So wird entgegen dem postmodernen Selbstverständnis aus einer neo-marxistischen sowie gesellschaftskritischen Perspektive die Frage aufgeworfen, ob das postmoderne Wissen nicht

4. Über den Stellenwert von Theorie

vielmehr einen neuen normativen Metadiskurs markiert, der genealogisch in die Entstehung spätkapitalistischer Konstellationen verstrickt ist. So fragt etwa Kien Nghi Ha, ob Hybridisierung als dominante Kulturerscheinung nicht sowohl als Zeichen einer »postmodernen Ästhetik und Konzeption von Kultur« wie auch als Zeichen einer »spätkapitalistischen Verwertungslogik« (Ha 2005: 57) gelesen werden könnte. Differenz und Hybridität stellen so betrachtet keine eindeutigen dissidenten Positionen gegenüber vereinnahmenden, normierenden und totalitären (Wahrheits-)Regimen dar. Unter den Bedingungen der Globalisierung können diese ebenso gut als fortgeschrittene »Ausformulierung der postmodernen Kondition analysiert werden« (ebd.: 64) – als Produktivitätsressource, als Lifestyle. Folgt man solchen kritischen Einschätzungen, dann markiert das postmoderne Wissen mit seiner Vorliebe für das Instabile, Paradoxe und Neue keineswegs das Ende der großen Erzählungen. So betrachtet, scheint Lyotard verkannt zu haben, dass das Ende der großen Erzählungen nur eine weitere Variante der großen Erzählung ist, und zwar eine, die zeitdiagnostisch mit dem Entstehen eines neuen Kapitalismus zusammenfällt. In der bisherigen Diskussion scheinen insbesondere die beiden ersten Positionen präsent zu sein. Die gängige Argumentation ließe sich pointiert so formulieren: Während einerseits Technisierung und Vermarktung des Wissens – wie auch der Bildung – in der postindustriellen Gesellschaft zunehmen, werden gleichzeitig Vielfalt, Differenz und Unbestimmtheit als Gegenentwürfe konzeptualisiert, die die vereinheitlichende und totalisierende Wirkung von Machtkategorien angreifen sollen. Die Beziehung zwischen einer neuen postmodernen Marktlogik der Effizienz und neueren Theorieentwürfen im Zuge der »postmodernen Wende« sind bisher nur marginal untersucht. Bezugnehmend auf die Ausgangsfrage nach den real-historischen als auch metatheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen von Theorie in der Gegenwart, gilt es, diese Beziehung genauer in den Blick zu nehmen. Daher wird im weiteren Verlauf der Untersuchung der Frage nachgegangen, ob und inwieweit eine Koinzidenz zwischen der postmodernen Theorie bzw. ihrer kulturtheoretischen Reformulierung und einer neuen kulturalistischen Neuformierung der Ökonomie im

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Kontext spätkapitalistischer Konstellationen besteht. Es wird also danach gefragt, ob die Verschiebung und Veränderung wissenschaftstheoretischer und epistemologischer Begründungsfiguren im Zuge der postmodernen Theoriebildung bzw. in ihrer linguistischen, semiotischen, kultur- und praxistheoretischen Weiterführung nicht gleichfalls im Kontext spätkapitalistischer Veränderungen zu verstehen sind.

4.2

Die cultural turns in der Theoriebildung

Was kommt nach der Postmoderne? Die Antwort scheint heute ziemlich klar zu sein: Eine kulturtheoretische Transformation der Analyseund Argumentationsfiguren, der Fragerichtung und des Erkenntnisinteresses. Während die einen die »kulturwissenschaftliche Wende« infolge der postmodernen Debatten in den Sozialwissenschaften angelehnt an die Terminologie von Gaston Bachelard als einschneidenden »epistemologischen Bruch« (Reckwitz 2006: 644) betrachten, der mit neuen erkenntnisleitenden Vokabularen und neuartigen analytischen Perspektiven einhergehe, warnen andere hingegen vor zu voreiligen Entscheidungen über einen »Cultural Turn« (Bachmann-Medick 2014) in der Theoriebildung, der einem Paradigmenwechsel gleichkäme, wie er von Thomas S. Kuhn beschrieben wurde. Jenseits eines großen, epochalen »Cultural Turns«, so Bachmann-Medick (ebd.: 17), weise die Vielzahl der cultural turns1 auf immanente »Ausbildung und Profilierung einzel-

1

Aleksandrowicz gibt folgenden Überblick über die aktuell diskutierten turns: »acustic bzw. sonic turn, anthropological turn, archetypal turn, argumentative turn, biographical turn, biopolitical turn, body turn, cognitive turn, compartivist turn, computational turn, contextual turn, critical turn, dialogical turn, digital turn, discursive turn, economical turn, emotional turn, emphatic turn, epistemological turn, ethical turn, experiental turn, feminist turn, forensic turn, geographical turn, imagic turn, imperial turn, individualist turn, interpretative turn, literary turn, medial turn, millenarian turn, mnemonic turn, narrativist turn, neuronal bzw. neurobiogical turn, performative turn, pictorial bzw. iconic turn (auch post iconic turn) bzw. visual turn, postcolonial turn, practice bzw. practical turn, pragmatic turn, racial turn, reflexive turn, religious turn, rhetorical turn, social bzw. sociological turn, somatic turn, spatial bzw.

4. Über den Stellenwert von Theorie

ner Wendungen und Neufokussierungen« innerhalb eines Faches oder Forschungsansatzes. »Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt.« (ebd.: 17f.) Auch aus einer ideengeschichtlichen Perspektive erweist sich das Reden über eine einschneidende Wende in der Theoriebildung als äußerst schwierig, da hier, wie Dariusz Aleksandrowics kritisch anmerkt, identifiziert werden müsste, wann eine vermeintliche Wende stattfand, was vor ihr war und was nach ihr kommt (vgl. Aleksandrowicz 2011: 18). Trotz der Berechtigung der angeführten Kritikpunkte scheint es doch gerade die Crux neuer kulturwissenschaftlicher Zugänge zu sein, Theoriewenden als Entwicklungen auf einer Zeitachse nicht mehr denken zu können. Aus der Perspektive kulturalistischer Epistemologien kann es sich bei den sogenannten cultural turns kategorisch schon nicht um einschneidende Paradigmenwechseln handeln, da solch ein paradigmatischer (Neu-)Anfang gegen die Pluralität, das eklektizistische Nebeneinander von cultural turns sprechen würde. Die Unübersichtlichkeit und eklektizistische Gleichzeitigkeit verschiedener cultural turns spiegelt im Kern das postmoderne Motiv der Pluralisierung und Anerkennung des bisher Marginalisierten und Ausgeschlossenen wider. Theoriewenden als Erkenntnisentwicklung auf einer Zeitachse zu denken, bleibt in dieser Perspektive ausgeschlossen. Wollte man trotz alledem einen gemeinsamen zeitlichen Ausgangspunkt all der cultural turns ausmachen, dann müsste gewiss auf den sogenannten linguistic turn verwiesen werden. Wie Andreas Folkers in seiner Auseinandersetzung mit dem sogenannten Neuen Materialismus darlegt, steht der linguistic turn für eines der großen Paradigmen der abendländischen Philosophie, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an durchschlagendem Einfluss gewonnen hat (vgl. Folkers 2013: 17). Sprache gilt seitdem als das unhintergehbare, universelle topographical bzw. topological turn, symbolic turn, syncretic turn, temporal turn, textual bzw. textualist turn, theatrical turn, translational bzw. translative turn, transnational turn usf..« (Aleksandrowicz 2011: 15; Hervorh. i.O.)

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Konstitutivum aller Wirklichkeit, Wahrheit und Erkenntnis. Mit der Einsicht, dass jedweder Kontext als (Kon-)Text zu gelten habe, wird auf die textuelle bzw. diskursive Verfasstheit der Wirklichkeit verwiesen. Zwar lässt sich die Vielzahl der nachfolgenden cultural turns, wie es Bachmann-Medick vorschlägt, als Differenzierung und Unterwanderung eines einschneidenden linguistic turn lesen (vgl. Bachmann-Medick 2014: 8), aber gerade die Hinwendung zur Kultur – statt ausschließlich zur Sprache – eröffnet ein breites Reservoire an Phänomenen (Rituale, Inszenierungen, Artefakte, Räume, Körperlichkeiten, Natur), die zum Thema kulturtheoretischer Forschungen werden können. Indem aber Kultur als Beschreibungsfolie auf alle möglichen Phänomene angewandt wird, wird sie der Tendenz nach selbst zu einer Universalkategorie, mit dem scheinbar sämtliche Phänomene als Produkt und Effekt von Kultur beschrieben werden können. Die kulturwissenschaftliche Transformation der Geistes- und Sozialwissenschaften bzw. ihrer Denk- und Analysekategorien besteht nicht darin, dass dem Lebensbereich der Kultur im Vergleich zu anderen Untersuchungsfeldern wie etwa der Wirtschaft, Wissenschaft oder Technologie ein privilegierter Status zukommt. Vielmehr wird Kultur zu einer Art »universales Explanans« (Aleksandrowicz 2011: 23; Hervorh. i.O.), in dem alle Tatsachenbereiche als Kultur erscheinen, das heißt als »Symbolsysteme und damit korrelierte bzw. ihrer Hervorbringung zugrunde liegende Praktiken« (ebd.). Indem also Kultur als Thema kulturwissenschaftlicher Untersuchungen expandiert, scheint es angemessen zu sein, die Vielfalt der kulturellen Phänomene ebenfalls im Medium der Kultur zu untersuchen, das heißt, Kultur sowohl als Thema als auch Analysekategorie zu installieren (vgl. Bachmann-Medick 2014: 30). Um möglichen Missverständnissen entgegenzuwirken, sei an dieser Stelle auf eine wichtige Differenzierung hingewiesen. Der hier zur Sprache kommende Kulturbegriff im Sinne des cultural turn unterscheidet sich in grundsätzlicher Weise von älteren Kulturtheorien (vgl. Hofmann/Korta/Niekisch 2018), wie sie etwa durch das normative Kulturverständnis der Neuzeit als anzustrebendes Bildungsideal, durch totalitäts- und kollektivorientierte Kulturbegriffe, sowie durch ein

4. Über den Stellenwert von Theorie

Verständnis von Kultur als Teilsystem oder gesondertes Handlungsfeld zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Reckwitz 2006: 65f.). Die folgende kritische Auseinandersetzung hat demzufolge nicht die Gesamtheit der Kulturtheorien zum Gegenstand, sondern jene kulturtheoretischen Transformationen, wie sie im Folgenden im Anschluss an Andreas Reckwitz rekonstruiert werden können. Zur Klärung der Frage, was das Gemeinsame der kulturtheoretischen Wende jenseits divergierender Positionen und thematischer Akzentsetzungen sein könnte, hat Reckwitz vier charakteristische Dimensionen rekonstruiert, die über fachspezifische Grenzen und Ansätze hinaus auf der Abstraktionsebene wissenschaftlicher Begründungsund Argumentationsfiguren wirkmächtig geworden sind. Es handelt sich hierbei um tiefgreifende Veränderungen auf der Ebene 1) der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, 2) der Methodologien sowie 3) ihrer empirischen Forschungsfelder und schließlich 4) der allgemeinen Sozialtheorie (vgl. ebd.: 22f.). Während auf der Ebene der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sich zunehmend durch Einflüsse der Sprachspieltheorie, der Hermeneutik, des Pragmatismus, der Wissenssoziologie und später dann auch des (Post-)Strukturalismus und der Ethnologie eine Kritik an Korrespondenz- und Abbildtheorien durchsetzt, die schließlich den Weg in eine postempiristische und postpositivistische Wissenschaftstheorie ebnet, gewinnen auf der Ebene der Methodologien und der jeweiligen fachspezifischen Forschungsfelder qualitative, hermeneutische, diskursanalytische, ethnografische Methoden und Verfahren an Bedeutung (vgl. ebd.: 25f.). Auf der Ebene der empirischen Forschung lässt sich gleichsam eine kulturwissenschaftliche Verschiebung der Fragerichtung und des Erkenntnisinteresses beobachten. Forschungsarbeiten zu kulturellen Milieus, Ritualen (vgl. ebd.: 26f.), zu Differenzsowie Identitätspolitiken (vgl. ebd.: 27f), haben Hochkonjunktur. Die hier beschriebenen Verschiebungen der wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Argumentationsfiguren sowie methodologischmethodischer Verfahren und des Forschungsinteresses stehen in einem direkten Zusammenhang mit neuen sozialtheoretischen Modellen. Aus einer kulturtheoretischen Perspektive konstituiert sich das Soziale

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auf der Grundlage symbolisch-kollektiver Ordnungen und ritualisierthabitualisierter Praktiken, die unter den Bedingungen von Kontingenz und Differenz Bedeutung hervorbringen. Sozialtheoretisch wird die Wirklichkeit demzufolge nicht als statische Struktur aufgefasst, sondern als eine durch Handlungsvollzüge erst hervorgebrachte sinnhafte Ordnung konzeptualisiert (vgl. ebd.: 32f.). Insbesondere waren es die sogenannten Studies (Cultural Studies, Postcolonial Studies, Gender Studies, Childhood Studies, Disability Studies), die – ausgehend von kultursoziologischen, poststrukturalistischen und praxeologischen Ansätzen – die hier beschriebenen Theorietransformationen zu einem »gesamtgesellschaftlichen Erklärungs- und Analyseinstrumentarium« (Moebius 2009: 163f.) ausgearbeitet und damit wichtige Beiträge für die sozialtheoretische Weiterentwicklung des kulturtheoretischen Feldes geliefert haben. Diese kulturtheoretischen Verschiebungen und Veränderungen dürften über die verschiedenen und divergierenden Ansätze und Positionen hinaus als charakteristische Merkmale des kulturtheoretischen Feldes gelten. Wie sich insbesondere noch am Beispiel des frühpädagogischen Forschungsfeldes zeigen wird, würde es zu kurz greifen, diese Theorietransformationen lediglich als Folge innerwissenschaftlicher oder innertheoretischer Entwicklungen aufzufassen. Bereits Lyotard hatte festgestellt, dass die Verschiebungen innerhalb des postmodernen Wissens nur unzureichend auf theorieimmanente Entwicklungen innerhalb der Wissenschaften zurückzuführen sind. Es waren historisch-gesellschaftliche Umwälzungen in den Bereichen Ökonomie, Technologie, Soziales, die eine Neubestimmung des Stellenwertes von Wissen und Theorie notwendig machten. Fragt man schließlich nach möglichen Ursachen der kulturtheoretischen Neujustierung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Analysekategorien, so ist der Zusammenhang zwischen Theorietransformation und realhistorischen Entwicklungen genauer in den Blick zu nehmen.

4. Über den Stellenwert von Theorie

4.3

Der historische Kontext kulturtheoretischer Ansätze

Der Entstehungskontext der kulturtheoretischen Forschungsansätze fällt historisch mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen in den Bereichen der Ökonomie, Kultur, Politik und des Sozialen zusammen, die seit Ende der 1960er Jahren unter den verschiedenen Labels der nachindustrielle Gesellschaft (vgl. Bell 1996), reflexive Modernisierung (vgl. Beck 2016), Spätmoderne (vgl. Giddens 1992) oder Post-Histoire (vgl. Gehlen 1988) seitens der Sozialwissenschaften reflektiert und untersucht werden. Prozesse der Flexibilisierung und Dezentrierung von Institutionen und Organisationsformen, die konsumkulturelle Neuauflage des Kapitalismus sowie die Entstehung neuer, flexibler Identitäts- und Lebensentwürfe auf individueller und kollektiver Ebene prägen zunehmend die gesellschaftliche Erfahrung von Kontingenz und Unbestimmtheit. Mit dem Verlust traditioneller gesellschaftlicher Selbstbeschreibungsweisen und ihrer kulturellen Neuformierung unter den Bedingungen von Differenz und Vielfalt entwickeln sich neue gegenkulturelle Bewegungen mit ihren je eigenen Forderungen nach politischen und kulturellen (Neu-)Anfängen. Richtungsweisend sind hier die Counter-Culture-Bewegungen der 1960 bzw. 1970er Jahre, die die Erfahrung ethnischer, gesellschaftlicher, sexueller Ungleichheiten identitäts- und kulturpolitisch skandalisieren (vgl. Moebius 2009: 79). Die umfassende Transformation der Gesellschaft unter dem Primat des Kulturellen wird als Destabilisierung des Sozialen erfahren, was letzten Endes die Wahrnehmung für Ambivalenzen, Ungewissheiten und Kontingenz befördert (vgl. ebd.: 80). Auf die sozialen Forderungen nach kulturellen (Neu-)Anfängen antworten Theorie und Forschung wiederum mit konzeptionellen Neuorientierungen. Indem kulturtheoretischen Ansätzen Ungewissheit und Kontingenz ebenfalls als Analysekategorien zugrunde gelegt sind, scheinen sie geradezu prädestiniert dafür zu sein, die neu entstehenden kontingenten Phänomene und Erfahrungsqualitäten angemessen zu reflektieren und zu erforschen. Es ist Frederic Jamesons Verdienst, diese konzeptionellen Neuorientierungen in den Kulturtheorien im Entstehungskontext spätkapita-

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listischer Konstellationen in den 1980er Jahren genauer untersucht zu haben. Ausgangspunkt seiner Analysen ist die Annahme, dass die postmoderne Kultur mehr als eine Frage des Stils eine Dominante darstellt, die sich unmittelbar aus der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus ergibt. So verfolgt Jameson eine historische Periodisierung der Postmoderne und kommt im Anschluss an Ernest Mandel zu der Schlussfolgerung, dass die Postmoderne der kulturelle Ausdruck der dritten und reinsten Phase des Kapitalismus ist – ein »multinationaler Kapitalismus«, dessen Struktur maßgeblich durch neue »Technologien der Produktion und Reproduktion von Simulakrum« (Jameson 1986: 79) geprägt sei, die wiederum eine ökonomische Transformation der Realität unter dem Primat des Kulturellen bewirkten. Zu den charakteristischen Merkmalen dieser transformierten Realität zählen die Orientierung an Oberflächenphänomenen, der Verlust der Historizität sowie die Dezentrierung der Innerlichkeit des Subjekts bzw. eine Neukonfiguration von Affekten (vgl. ebd.: 54). Diese charakteristischen Merkmale der postmodernen Kultur spiegeln sich in pointierter Weise in den theoretischen Diskursen wider. Für Jameson lassen sich ein Großteil sozial- und geisteswissenschaftlicher Theorien, die u.a. mit dem Poststrukturalismus, dem linguistic turn und schließlich dem cutural turn in Zusammenhang gebracht werden, durch ihre ablehnende Haltung gegenüber Tiefenmodellen kennzeichnen. Oberflächenmodelle zur Beschreibung menschlicher Zusammenhänge richten sich gegen das hermeneutische Modell von Innen und Außen, das dialektische Modell von Wesen und Erscheinung, das psychoanalytische Modell vom Latenten und Manifesten, das existenzialistische Modell von Authentizität und Nichtauthentizität und schließlich das semiotische Modell vom Signifikant und Signifikat (vgl. ebd.: 56f.). Tiefendimensionale Kategorien werden durch Analysekategorien wie Praktiken, Diskurse, (Inter-)Textualität relativiert, sodass Wirklichkeit nur noch als Vielzahl von Oberflächenphänomenen erscheint. Mit der Ablehnung spekulativer oder transzendentaler Denk- und Argumentationsfiguren, wie etwa dem Subjekt, der Vernunft oder der Wahrheit, schwindet schließlich auch das Potenzial der Theorie, eine kritische Distanz zu kulturellen Dominanzverhältnissen markieren zu können.

4. Über den Stellenwert von Theorie

In der zeitgenössischen Theoriedebatte war es insbesondere die feministische Theorie, die auf eine »zwiespältige Passförmigkeit« (Fraser 2009) zwischen der kulturtheoretischen Transformation geistesund sozialwissenschaftlicher Theorieansätze und dem Entstehen eines neuen, neoliberalen Kapitalismus seit den 1990er Jahren aufmerksam machte. So fragt etwa Nancy Fraser in ihrem Aufsatz »Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte«, ob nicht zwischen der neoliberalen Neuformierung des staatlich organisierten Kapitalismus seit den 1970er Jahren und dem zeitgleichen Aufstieg der Neuen Frauenbewegung mit ihren Forderungen einer neuen Identitätspolitik und der Anerkennung von Differenz eine untergründige Koinzidenz bestehe (vgl. Fraser 2009: 50). Anschließend an die These von Luc Boltanski und Ève Chiapello zum »Neuen Geist des Kapitalismus«, geht auch Fraser von einem grundlegenden Wandel der politischen Kultur im neoliberalen Kapitalismus aus, der sich vor allem in einer Umdeutung von Gerechtigkeitsforderungen von der sozioökonomischen Umverteilung hin zur kulturellen Anerkennung von Identität und Differenz widerspiegele (vgl. ebd.). Diese Umdeutungsdynamik vollziehe die in den 1970er Jahren entstehende Neue Frauenbewegung (nicht intendiert) mit, indem sie sich zunehmend in eine Identitätsbewegung verwandele (vgl. ebd.: 45f.). In ihrer Kritik noch deutlicher als Fraser, vertritt Tove Soiland die These, dass die zwiespältige Passung zwischen neoliberaler Kulturpolitik und feministischer Kritik nicht eine einseitige Vereinnahmung durch die Ökonomie darstelle, sondern selbst als Resultat der Verschiebung und Entwicklung auf der Ebene der Theorie zu verstehen sei (vgl. Soiland 2011: 20f.). Ausgehend von den theoretischen Grundprämissen des Gender-Konzepts analysiert Soiland Verschiebungen innerhalb der feministischen Theorie, die auf eine strukturelle Kopplung zwischen einem spezifischen, das heißt differenz- und anerkennungsorientierten Gender-Verständnis und veränderten kapitalistischen Produktionsund Reproduktionsweisen hinweisen. Dieses Gender-Verständnis lässt sich nach Soiland auf den politisch-theoretischen Entstehungskontext der Cultural Studies in den 1970er Jahren zurückführen. Stand noch in den Anfängen der englischen Variante der Cultural Studies die Kritik

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

an einer Überpräsenz marxistisch-kapitalismuskritischer Konzepte innerhalb der Kritischen Theorien im Fokus, kommt es im Zuge der Übersiedlung der Cultural Studies in die USA, und hier insbesondere durch ihre »Amalgamierung mit den dortigen sozialen Bewegungen unter dem Label einer ›Neuen Linken‹« (ebd.) und ihrer Institutionalisierung an den amerikanischen Universitäten seit den 1990er Jahren, zu einer kulturalistischen Vereinseitigung. Mit Fraser übereinstimmend konstatiert auch Soiland eine kulturalistische Wende innerhalb der Theorie, in der das Primat der Ökonomie durch das Primat der Kultur abgelöst wird. Diese Verschiebung innerhalb der Theorie, so das Argument von Soiland, beruht nicht zuletzt auf einer sehr spezifischen US-amerikanischen Rezeption von Theoriediskussionen des sogenannten Poststrukturalismus (vgl. ebd.: 21). Die Grundposition poststrukturalistischer Theorien könnte wie folgt skizziert werden: Wirklichkeit wird als eine interaktive, performative, diskursive Vollzugswirklichkeit verstanden, die durch destabilisierende Signifikationsprozesse gekennzeichnet ist. Die hier versammelten Theorieperspektiven verstehen sich als Kritik an Strukturmodellen (Subjekt, Geschichte und Gesellschaft), die per se als machtförmige Festschreibungen abgelehnt werden. Wo Wirklichkeit lediglich als eine diskursiv hergestellte denkbar ist, da wird die Bezeichnungspraxis der Kategorien selbst zum Problem. Auch wenn die poststrukturalistische Genderdebatte plausibel und folgerichtig erscheint, so Soiland weiter, gerät doch gerade aus dem Blick, dass das, was hier als Kritik gegen die Macht eingefordert werde, bereits das sei, was von dieser Macht von außen auferlegt werde. Die neuen Machttechnologien im aktivierenden Staat setzten auf die »flexible Handhabung« (ebd.: 26) des eigenen Genders, sich immer wieder neu zu erfinden und sich nicht im Nest traditioneller Gewissheiten einzunisten. Was also die Gender-Debatte und die Strategie der Vielfalt übersehen, ist, dass die von ihnen präferierte Form der Kritik selbst eine neue Form der »politischen Technologie« im aktivierenden Staat beschreibt (ebd.). Gerade wegen des Wegbrechens von gesellschaftskritischen Analysekategorien (Subjekt, Geschichte, Gesellschaft) können ge-

4. Über den Stellenwert von Theorie

sellschaftliche und geschichtliche Voraussetzungen von Gender nicht mehr angemessen reflektiert werden. Die kulturtheoretische Transformation der feministischen Theorie unter dem Label der Gender Studies kann in prominenter Weise als exemplarischer Fall für gegenwärtige Entwicklungen und Ausdifferenzierungen in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern gelesen werden. So ist die Gender-Debatte auf einer »entscheidenden epistemologischen Achse mit der kulturwissenschaftlichen Forschung« verschränkt (Bachmann-Medick 2014: 43). Die hier rekonstruierte Kritik weist daher über die Gender-Debatte hinaus und betrifft die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen der Transformation in der Theoriebildung im Allgemeinen. So machen die feministischen Analysen darauf aufmerksam, dass die Transformation der Theorie im Ausgang des 21. Jahrhunderts neben innertheoretischen Verschiebungen und Entwicklungen auf eine untergründige Koinzidenz mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Anforderungen des Spätkapitalismus hinweisen. Die kulturtheoretische Selbstbeschreibung als eine kritische Epistemologie, die hegemoniale Denk- und Sprachpraxen sichtbar macht und kritisch hinterfragt, wird vor diesem Hintergrund brüchig. Im folgenden Abschnitt werden daher Effekte und Wirkungen solcher kulturalisierender Epistemologien mit Bezug auf die von ihnen untersuchten Phänomene zur Diskussion stehen.

4.4

Erkenntnispolitische Strategien: Epistemologisierung und Kulturalisierung

Aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive weist Rita Casale ebenfalls am Beispiel der feministischen Theoriedebatten auf die Folgen einer einseitigen Epistemologisierung und Kulturalisierung innerhalb pädagogischer Theoriebildungen hin, die symptomatisch mit dem Verschwinden von Begriffen und Kategorien einhergehe, welche über die punktuelle Bedeutung von Praktiken hinaus einen Sinnüberschuss beanspruchten. Am Beispiel der Begriffe von Subjekt, Geschichte und Gesellschaft, die als drei interdependente Kategorien in die Tradition

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der kritischen Gesellschaftstheorie gehörten, macht Casale darauf aufmerksam, wie mit einer kulturalistischen Umdeutung von Begriffen ihr Überschusscharakter verloren gehe: »Subjekt wird mit Subjektivierungspraktiken identifiziert, Geschichte wird zum historischen Kontext, Gesellschaft zum Milieu. Dabei geht der Überschusscharakter verloren, der die drei Begriffe in ihrer idealistischen Bedeutung prägte. Im Unterschied zu seinem performativen, diskursiven Gebrauch bezeichnet Subjekt mehr als die Summe der Subjektivierungspraktiken, Geschichte mehr als die Gesamtheit der historischen Kontexte; Gesellschaft bezeichnet die strukturelle Konstellation der unterschiedlichen Milieus und als solche lässt sie sich nicht auf ihre Addition reduzieren.« (Casale, 2014: 151) Casales Kritik an erkenntnispolitischen Strategien der Epistemologisierung und Kulturalisierung bezieht sich vor allem auf den Verlust gesellschaftskritischer Analysekategorien, die für die feministische Kritik fundamental sind. Ergänzend zu Casales Kritik kann ein weiteres zentrales, die einzelnen Fachdisziplinen überschreitendes Problem auf wissenschaftstheoretischer Ebene konstatiert werden. Die erkenntnispolitische Strategie der Epistemologisierung, die im Grunde eine De-Ontologisierungsstrategie beschreibt, beruht auf einer gravierenden Verwechselung der Ebenen der Epistemologie und der Ontologie. Folgt man den epistemologischen Grundprämissen kulturtheoretischer Ansätze, dann ist Wirklichkeit nur insofern wirklich, als sie erzeugt, hergestellt und konstruiert wird. Erst in der kulturellen Herstellung wird der Wirklichkeit ihr ontologischer Status zugewiesen. Es ist die Rede von partikularen, situierten, regionalen Epistemologien, die jeweils spezifische Wirklichkeiten hervorbringen. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Lesarten einer relativistischen Epistemologie die Annahme, dass der Wirklichkeit kein ontologischer Status zukommt. Das, was als soziale Wirklichkeit erfahrbar wird, ist lediglich Effekt und Wirkung von normierenden und machtvollen Wissensregimen und Diskurspraktiken, die immer partiell und unabschließbar bleiben.

4. Über den Stellenwert von Theorie

Wirklichkeit wird so als eine plurale, fragmentierte und lokale (Vollzugs-)Wirklichkeit konzeptualisiert, die nur auf der Grundlage der Macht als kohärente Einheit gedacht und erfahren werden kann. Folgerichtig wird Kritik auf der Ebene der Theorie als umfassende De-Ontologisierungsstrategie konzeptualisiert. Indem also die Bezeichnungspraxis mit der Wirklichkeit kurzgeschlossen wird, werden sämtliche geistes- und sozialwissenschaftlichen Begriffe und Analysekategorien unter Essentialismusverdacht gestellt, da sie die von ihnen bezeichnete Wirklichkeit auch immer hervorbrächten. Die kulturtheoretische Ontologisierungskritik beruht demnach auf einer umfassenden Strategie der Epistemologisierung,2 die, so die weitere These, ihrerseits mit ontologischen Vorannahmen über die Wirklichkeit vorbelastet ist. Bereits Martin Heidegger (1927/2006) hatte in seinem Frühwerk »Sein und Zeit« auf den inneren (Begründungs-)Zusammenhang zwischen der Ontologie und Epistemologie hingewiesen. Veronica Vasterling fasst diesen folgend zusammen: »Man kann die epistemologische, typisch Kant’sche Frage ›Was kann ich wissen?‹ oder ›Was sind die Möglichkeitsbedingungen für Erkenntnis?‹ ohne (implizite) ontologische Annahmen in Bezug auf den Erkennenden und das Erkennbare nicht beantworten. Ebenso wenig kann man die ontologische, typisch griechische Frage nach dem wahren, wirklichen Sein ohne (implizite) epistemologische Annahme in Bezug auf die Zugänglichkeit und Intelligibilität des Seins beantworten.« (Vasterling 2005: 89f.) »Epistemologie ohne ontologische Reflexion« bleibt nicht nur leer (ebd.: 91), sie ist zugleich blind gegenüber ihren eigenen ontologischen Vor-

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Mit der Strategie der Epistemologisierung sind mindestens drei erkenntnistheoretische Probleme angesprochen: 1) eine umfassende Ontologisierung von Beobachtung, Beschreibung und Wissen, 2) damit einhergehend eine Aufhebung der Ontologie in der Epistemologie und 3) schließlich die Verschleierung ontologischer Voraussetzungen und Vorannahmen der eigenen Theorisierungsleistungen.

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aussetzungen und Wirkungen. So lässt sich gleichfalls die gegenläufige Kritik gegenüber kulturtheoretischen Ansätzen anbringen. Die DeOntologisierungsstrategie, so die These, basiert selbst auf unausgesprochenen ontologischen Vorannahmen, die sie zugleich verkennt und befördert, indem sie vorgibt, »es gebe überhaupt keinen ontologischen Status« (Caro 2015: 43). Auf diese Weise betreibt sie selbst jene ontologisierende Festschreibung, die sie augenscheinlich kritisiert. Denn die Epistemologisierung betrifft die Struktur der Wirklichkeit im Ganzen und die Forderung auf den Verzicht ontologischer Reflexionen ist umfassend. Diese umfassende Epistemologisierung mit ihrer antimetaphysischen Ablehnung ontologischer Denk- und Begründungsfiguren beschreibt daher nicht, wie erhofft, das Ende der Metaphysik. An die Stelle einer Metaphysik der Transzendenz tritt eine Metaphysik der Immanenz, des Partikularen, der transparenten Oberfläche. Denn jegliches »Ganzes als Partikularität zu verwerfen, impliziert – nolens volens – die Behauptung, ein nicht-partikulares Ganzes gebe es nicht. Damit jedoch wird die Partikularität als solche zum Absoluten erklärt.« (Rotermundt 1994: 141)

Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden gesellschaftliche und wissenschaftstheoretische Bedingungen und Voraussetzungen von Theorie und Forschung herausgearbeitet. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf der Frage, wie sehr die Figur des (Neu-)Anfang im Zuge kultureller und sozialer Transformationen nicht nur als Thema von Theorie und Forschung relevant wird, sondern ebenso auf der Ebene der Analyse- und Denkkategorien eine Forderung nach paradigmatischen (Neu-)Anfängen besteht. Es konnte gezeigt werden, wie sehr kulturtheoretische Verschiebungen auf der Ebene der Theoretisierung sozialer Phänomene über Begriffe wie Diskurs, Praktiken oder Kultur in eine umfassende Epistemologisierungsstrategie münden, die wiederum mit der Entstehung spätkapitalistischer Konstellationen zusammenhängt. Differenz, Hybridität, die Forderung nach Anerkennung des Anderen lassen sich somit nicht mehr eindeutig als kritische Positionen ge-

4. Über den Stellenwert von Theorie

genüber vereinnahmenden, normierenden und totalitären Tendenzen verstehen. Wie Lyotard selbst noch feststellte, begünstigt die Relativierung der Legitimität großtheoretischer Erklärungsmodelle nicht nur postmoderne Sprachspiele, ebenso werden hier die Grundlagen für eine »positivistische ›Philosophie‹ der Effizienz« (Lyotard 1979/2015: 131) vorbereitet, die die Wahrheitsfindung technisiert. Kurzum formuliert, wird die Normativität der Wahrheit durch die Performativität des besseren Verhältnisses von Input/Output abgelöst, die nicht mehr an spekulativen Begriffen der Wahrheit oder der Erkenntnis interessiert ist, dafür aber Kontrolle, Leistungssteigerung wie auch Legitimation von Wissenschaftspraxis über ökonomische Macht erwirken (vgl. ebd.: 115). Die zunehmende Ökonomisierung von Wissenschaft und Forschung hat nicht nur dazu geführt, dass Universitäten zunehmend zu betriebswirtschaftlichen Unternehmen umfunktioniert werden. Zugleich konnte sich eine neue Forschungskultur der Performanz etablieren, die sich auf der Grundlage von Input- und Output-Kriterien aus der Ökonomie legitimiert. Auftragsforschung, Drittmittelfinanzierung, Anwendungsorientierung, Innovation, Kompetenz- und Qualitätsorientierung sind einige der Schlagworte, die für das Problem sensibilisieren, wie sehr philosophische, geisteswissenschaftliche und theoriebasierte Forschungszusammenhänge immer fragwürdiger werden und an Legitimität verlieren. Die Verzahnung von technisierten Verfahren der Herstellung politisch vorgegebener Ziele auf der operativen Ebene einerseits und methodologischer Begründungsmuster auf der Basis postmoderner bzw. kulturtheoretischer Wissenshaushalte andererseits, scheint ein charakteristisches Merkmal gegenwärtiger Forschung zu sein. Diese Problematik soll nun am Beispiel des frühpädagogischen Forschungsfeldes genauer untersucht werden. In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass Forschung und Theorie in der Pädagogik der frühen Kindheit landläufig steuerungspolitischen Zielvorgaben der Herstellung, Sicherstellung und Optimierung von pädagogischer Qualität und Professionalität folgen.

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Gleichwohl wird erkennbar, dass auch grundlagenorientierte Forschungsarbeiten auf dominante Argumentationsmuster zurückgreifen, die ebenfalls steuerungspolitisch orientierten Forschungsarbeiten zugrunde gelegt sind.

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

Wie antworten frühpädagogische Theorieentwürfe auf die zunehmende steuerungspolitische Vereinnahmung ehemals pädagogischer Grundmotive? Welche Aufgabe und Funktion kommt der Theorie innerhalb der Konstituierung eines frühpädagogischen Forschungsfeldes zu? Von welchen erkenntnistheoretischen wie normativen Ausgangsbedingungen gehen gegenwärtige Theorieentwürfe dabei aus? Besteht möglicherweise, wie die feministische Kritik es nahelegt, eine unterschwellige Koinzidenz zwischen gegenwärtigen Machttechnologien und Theorieentwürfen in der Pädagogik der frühen Kindheit? Diesen Fragen wird im Folgenden genauer nachgegangen. Zunächst wird die These einer Epistemologisierung und Kulturalisierung in Beziehung zur Diagnose einer Dezentrismuslogik in den Theoretisierungsweisen von früher Kindheit gesetzt, wie sie seit den 1970er Jahren im Zuge der empirischen und konstruktivistischen Wende beobachtbar sind (Kap. 5.1). Bereits seit den 1970er Jahren wird ein Zweiklang von empirischer Output-Orientierung und konstruktivistischen Zugängen in der Forschung und Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit erkennbar. Der empirische Zugang zu einer Pädagogik der frühen Kindheit kommt heute vor allem in den gegenwärtigen Debatten um OutputOrientierung zur Sicherstellung und Optimierung pädagogischer Qualität zum Ausdruck (Kap. 5.2) Um diesen Zusammenhang aufzuzeigen,

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

wird die strukturelle Verwobenheit der Entstehung eines frühpädagogischen Forschungsfeldes mit steuerungspolitischen Zielvorgaben zur Steigerung der Qualität und Effizienz frühkindlicher Bildung, wie sie in dominanter Weise von der OECD eingefordert wird, herausgearbeitet. Nicht nur auf rechtlicher und institutioneller Ebene kann hier von einer steuerungspolitischen Vereinnahmung frühpädagogischer Forschung gesprochen werden. Ebenfalls lässt sich von einer epistemologischen und methodologischen Qualitätsorientierung sprechen, insofern nämlich der Frage nach Sicherstellung und Optimierung von Qualität eine orientierende und legitimierende Bedeutung für die Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit zukommt. Nicht zuletzt wird sich zeigen, dass steuerungspolitisch ambitionierte Forschungsarbeiten in der Pädagogik der frühen Kindheit keineswegs auf ein evidenzbasiertes Wissenschaftsverständnis begrenzt sind. Vielmehr zeigt sich, wie sehr die epistemologische und normative Autorität des Qualitätsdenkens gleichzeitig (ko-)konstruktivistische, performative sowie praxistheoretische Modelle umfasst.

5.1

Dezentrismuslogik in der Theorie der frühen Kindheit

Die These einer Epistemologisierung und Kulturalisierung geistes- und sozialwissenschaftlicher Analysekategorien lässt sich in Beziehung zu Kenneth Hultqvists (1998) Diagnose einer Dezentrismuslogik in den Theoretisierungsweisen von Vorschulkindheit seit den 1970er Jahren in Schweden setzen. Nach Hultqvist setzt sich in den 1970er und 1980er Jahren im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen und des Aufkommens einer neoliberalen Politik eine individualisierte und flexiblere Sichtweise auf die Beziehung zwischen Einzelpersonen und öffentlichen Institutionen durch. Im Zentrum dieser Veränderungen sieht Hultqvist eine neue politische Rationalität, die mit einem individualisierten Vokabular auf die Selbststeuerung von Individuen und Organisationen auf allen Ebenen der Gesellschaft setzt (vgl. Hultqvist 1998: 106). Parallel zu diesen sozialen Transformationen entstehen auch in den Kindheitswissenschaften neue theoretische Konzepte, die einen Schwerpunkt

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

auf Differenz, Variabilität und Instabilität legen (vgl. ebd.). Hultqvist spricht in diesem Zusammenhang von einer Dezentrismuslogik, die zu grundlegenden Veränderungen in der Theoretisierungsweise von Vorschulkindheit führe. Die bis dato gültigen reformpädagogischen (Fröbel und Montessori) wie entwicklungspsychologischen (Piaget) Konzepte werden als zu geschlossen und universalistisch abgelehnt. Stattdessen gewinnen Variabilität, Unvorhersehbarkeit und Vielfalt in theoretischen Konzepten der Entwicklung und des Lernens im Vorschulalter immer mehr an Bedeutung. Vor allem wird Jean Piagets Konzept einer normalen Kindheit durch Lew S. Wygotskis Konzept der Zone der nächsten Entwicklung sowie durch die Erkenntnisse in der Neurobiologie über die kindliche (Gehirn-)Entwicklung fragwürdig (vgl. Kaščák/Pupala 2013: 87). Nicht das universelle Kind der Normalentwicklung, sondern das sich selbst sowie seine Umwelt konstruierende Kind steht damit zunehmend im Fokus von Forschung und Theorie (vgl. Hultqvist 1998: 107). Innerhalb der pädagogischen Theorieentwicklung im bundesdeutschen Kontext lassen sich Parallelen zu den beschriebenen Transformationen in Schweden feststellen. Mit den in den 1970er Jahren einsetzenden Debatten um frühkindliche Bildung im Zuge gesellschaftlicher Problemdiagnosen wie etwa dem Sputnikschock, der sozialen Ungerechtigkeit im Bildungssystem und der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum (vgl. Schäfer 2014a: 16), gewinnen empirische und konstruktivistische Zugänge immer mehr an Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird von einer empirischen und konstruktivistischen Wende innerhalb der Forschung der frühen Kindheit gesprochen, die gleichzeitig mit einer kognitiven Wende in der Theorie frühkindlicher Bildungsund Lernprozesse einhergeht. Zum einen wird eine Vielzahl von Theorien aus dem Bereich der kognitiven Entwicklungspsychologie zur empirischen Beschreibung einer allgemeinen Entwicklungskindheit entlehnt. Das Konzept einer allgemeinen Entwicklungskindheit geht von der Vorstellung von zu entwickelnden funktionsspezifischen Fähigkeiten (Mathe und Sprache) beim Kind aus, auf die auf curricularer Ebene mit sogenannten Funktionsansätzen geantwortet wird. Durch entsprechendes didaktisches Material (z.B. Sprachtrainingsmappen, ma-

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thematische Lernspiele) wird dabei auf die Förderung von funktionsspezifischen Fähigkeiten beim Kind gezielt (vgl. ebd.). Mit der konstruktivistischen Wende wird die Vorstellung einer universellen Entwicklungskindheit fragwürdig und kindliche Merkmale wie Individualität, Autonomie und Selbstständigkeit rücken verstärkt in den Fokus erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Insbesondere machen Erkenntnisse in der Kognitionsforschung und der Säuglingsforschung darauf aufmerksam, dass die kindliche Entwicklung weder nach einer allgemeinen noch einer individuellen Entwicklungslinie abläuft, sondern maßgeblich von individuellen und differenten Erfahrungen und Erlebnissen in den frühesten Jahren abhängig ist (vgl. ebd.: 20f.) Dieses neue Kindheitsbild eines individuellen, sich selbst und seine Umwelt konstruierenden Kindes, spiegelt sich unter anderem in konzeptionellen Ansätzen des Situationsansatzes, der Kinderladenbewegung und der Reggiopädagogik wider, wie sie seit den 1970er, den 1980er sowie 1990er Jahren im bundesdeutschen Kontext bedeutsam werden. Trotz der vorhandenen Unterschiede kommt in diesen Ansätzen der kindlichen Autonomie der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit des Kindes eine wichtige Rolle zu. Hier wird vor allem dem konstruktivistischen Gedanken eines sich selbst und seine Umwelt konstruierenden, aktiven Kindes Rechnung getragen, wie am Beispiel der Reggiopädagogik folgendermaßen exemplifiziert werden kann: »Jedes Kind ist [...] eine Konstruktion (selbstkonstruiert und sozial-konstruiert), die auf einen spezifischen Kontext und eine Kultur bezogen ist.« (Rinaldi 2001: 39 zit. n. Schäfer 2014a: 19) Die hier skizzierten Verschiebungen in der pädagogischen Theoretisierung der frühen Kindheit weg von spekulativen Erklärungsmodellen kindlicher Entwicklung1 hin zu empirischen Erklärungen einer allgemeinen Entwicklungskindheit und schließlich zu einem individualisierten Kindheitsverständnis eines reichen, aktiven, sich und seine Welt konstruierenden Kindes, koinzidieren, wie bereits am Beispiel von 1

Als prominente Beispiele im Kontext der Pädagogik der frühen Kindheit können hier die sphärenphilosophische Erziehung nach Friedrich A. Fröbel oder die kosmische Erziehung nach Maria Montessori genannt werden.

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

Schweden gezeigt wurde, zeitlich mit neoliberalen Transformationsprozessen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen (Ökonomie, Politik und Soziales) und konvergieren schließlich gegenwärtig mit der Subjektfigur des Kindes als ein autonomes, flexibles und unternehmerisches Subjekt (vgl. Kaščák/Pupala 2013: 183f.). Die folgende Analyse gegenwärtiger Ausgestaltungen des Forschungsfeldes der Pädagogik der frühen Kindheit zeigt, wie sehr der Zweiklang von empirischen und konstruktivistischen Zugängen bis heute in Forschung und Theorie wirkmächtig geblieben ist. Auf der einen Seite lassen sich seit den letzten zwei Dekaden vermehrt empirische Studien im Kontext der Debatten um Output-Orientierung sowie der Sicherstellung und Optimierung pädagogischer Qualität verzeichnen. Auf der anderen Seite werden in diesen Studien nicht zuletzt konstruktivistische Erklärungsmodelle zu Bildungs- und Lernprozessen in der frühen Kindheit als methodologische, programmatische und normative Bezugspunkte gewählt.

5.2

Qualität von Anfang an

Wirft man einen Blick auf gegenwärtige Debatten um frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung, dann fallen zwei miteinander verschränkte und bisweilen redundant diskutierte Themen ins Auge. Es handelt sich hierbei um die schillernden Begriffe der Bildung und der pädagogischen Qualität, die je nach Kontext auch unter dem Begriff der pädagogischen Bildungsqualität diskutiert werden. Unverkennbar ist hier vor allem, dass sich mit der Adressierung des Kindergartens als Bildungsinstitution und der damit zusammenhängenden Forderung nach Verbesserung und Sicherstellung pädagogischer Qualität von Anfang an scheinbar eines der letzten verheißungsvollen Versprechen der Pädagogik artikuliert. In der Post-PISA-Ära scheint eines ganz sicher zu sein: Von der Qualität frühkindlicher Bildung hängt es ab, wie sich zukünftige Lernprozesse von Anfang an über die gesamte Lebensspanne bis ins hohe Alter gestalten werden. Teilt man dieses Zukunftsszenario, dann ist die Herstellung, Verbesserung und Sicherstellung pädagogi-

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scher Qualität bzw. von Bildungsqualität für ein lebenslanges Lernen im globalisierten Wettbewerb unabdingbar. Fragen nach guten Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte sowie nach guten Rahmenbedingungen (Personalschlüssel, Räumlichkeiten, Angebote) für die pädagogische Arbeit sind von großer Bedeutung. Problematisiert wird in diesem Zusammenhang also nicht die Suche nach Kriterien der angemessenen Beurteilung, was gute pädagogische Arbeit auszeichnet. Die folgende kritische Auseinandersetzung hat vielmehr steuerungspolitische Versuche der Regulation und Vereinnahmung des pädagogischen Geschehens am Leitmotiv des (Neu-)Anfangs zum Gegenstand. Seit den vergangenen zwei Jahrzenten wird sich auf bildungspolitischer Ebene verstärkt um eine rechtliche und institutionelle Verankerung von Initiativen, Konzepten, Kriterien und Verfahren zur Qualitätssicherung und -steigerung bemüht. Zu nennen sind unter anderem die Nationale Qualitätsinitiative (1999), die Einführung von Bildungs- und Orientierungsplänen (2004), das Kinderfördergesetz (KiföG) (2008) sowie das Gute-Kita-Gesetz (2019). Auch die Entstehung neuer frühpädagogischer Studiengänge an Hochschulen und die zunehmende Etablierung eines frühpädagogischen Forschungsfeldes lassen sich als Reaktionen auf die mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der OECDVergleichsstudien (PISA oder Starting Strong I) angestoßenen Diskussion um die Steigerung und Effektivierung pädagogischer Qualität verstehen. So heißt es etwa in dem ländervergleichenden OECD-Bericht von Starting Strong: »Die Anhebung der Ausbildung auf Hochschulebene würde nach Einschätzung des OECD-Teams eine gleichberechtigte Beziehung zwischen FBBE-Einrichtungen und Schulen befördern, den Beschäftigten weiterführende Qualifikationen ermöglichen und dazu beitragen, dass sich an den Universitäten eine akademische und wissenschaftliche Substanz für frühkindliche Forschung herausbildet.« (OECD 2004: 4) Die seit 2005 in Deutschland eingeführten frühpädagogischen Bachelor-und Masterstudiengänge lassen sich in diesem Sinne als Reaktion

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

auf die Forderungen der OECD verstehen, die formale Bildungsqualifikation der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zu erhöhen und damit dem internationalen Standard anzupassen. Teilt man die Ansicht, dass die Entstehung des frühpädagogischen Forschungsfeldes nicht als Ergebnis innerdisziplinärer Entwicklungen und Ausdifferenzierungen zu betrachten ist, sondern vor allem als Folge politischer Interessen verstanden werden muss, verschiebt sich sogleich der Ausgangspunkt. Ob in affirmativer oder kritischer Absicht, ob als Antwort oder kritische Gegenbewegung, die durch die OECD durchgesetzten Argumentationen und Deutungsweisen zu frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung bilden die Bedingung und Voraussetzung für die gegenwärtige Aktualität, Relevanz und Ausgestaltung des frühpädagogischen Forschungsfeldes. Damit wird notwendiger Weise die Rolle und Funktion von Wissenschaft innerhalb der Qualitätsdebatten zum Gegenstand der kritischen Reflektion. In einem anderen Zusammenhang wurde daher dafür argumentiert, diese von der OECD initiierten Strategien zur Steigerung der Effizienz und Effektivität frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsangebote nicht nur auf einer rechtlichen und institutionellen Ebene zu verorten, sondern sie ebenfalls als eine »epistemologische Autorität« (Bilgi/Stenger 2017) in den Blick zu nehmen. Als Maß der Dinge (vgl. Honig/Neumann 2009) orientieren und strukturieren die schillernden Begriffe von Bildung und Qualität »nicht nur den forschenden Blick auf das Wirkliche und Mögliche des Frühpädagogischen« (Bilgi/Stenger 2017: 135), sondern regulieren und begrenzen »zudem auch das Möglichkeitsfeld dessen, was als angemessene und gute frühpädagogische Forschung und Praxis gelten kann.« (ebd.) Diese epistemologische Autorität nimmt in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit die Gestalt einer methodologischen Qualitätsorientierung an. Mit dem Begriff der methodologischen Qualitätsorientierung wird auf den bedenklichen Umstand aufmerksam gemacht, wie sehr frühpädagogische Erkenntnisfortschritte und Legitimationsweisen an Fragen der Qualitäts-

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orientierung rückgebunden sind (vgl. Roßbach 1993;Tietze 2004;Viernickel 2016).2 Dabei kommt der sogenannten wissenschaftlichen Expertise zur Beratung, Legitimation und Durchsetzung politischer Zielvorgaben eine tragende Rolle zu. In den vergangenen Jahren konnte sich etwa die Weiterbildungsinitiative frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) mit ihren Expertisen zu einer entscheidenden Impulsgeberin entwickeln, die Forschungsarbeiten zur Steuerung und Absicherung von Professionalität und Qualität initiiert und befördert hat. Die hier breitenwirksam publizierten Forschungsexpertisen beanspruchen, wissenschaftliche Standards für eine frühpädagogische Bildungs- und Qualitätspolitik zu liefern. Diese zunehmende Bedeutung der Expertisenforschung kann durchaus als ein Beleg für ein verändertes Wissenschaftsverständnis interpretiert werden, in dem es nicht mehr vorrangig um Wahrheit oder Erkenntnis geht, sondern um die Sicherstellung, Herstellung und Verbesserung politisch-ökonomischer Interessen. In diesem Zusammenhang fragt Ursula Stenger aus einer frühpädagogischen Perspektive nach der »methodologischen und wissenschaftspolitischen Legitimität« (Stenger 2015: 56) von Forschungsarbeiten, die von einer allgemeingültigen Evidenzbasierung pädagogischen 2

Dabei wird landläufig zur methodologischen Absicherung und Begründung der Forschungsarbeiten und –ergebnisse auf Qualitätsdimensionen (Struktur, Prozess-, Orientierungs- und Ergebnisqualität) zurückgegriffen, die Tietze/Schuster/Roßbach (1997) ihrer Kindergarten-Einschätz-Skala (KES) zugrunde legten. Für die Untersuchung der qualitativen Ausgestaltung institutioneller Arrangements und kindheitspädagogischer Handlungszusammenhänge wird insbesondere auf die Dimensionen der Strukturqualität und der Prozessqualität verwiesen. Die Dimensionen der Struktur- und Prozessqualität umfassen folgende Merkmale: Strukturqualität umfasst die rechtlichen und institutionellen Bedingungen der Kindertageseinrichtung. »Darunter werden die rechtlichen, organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen in Tagesstätten für Kinder sowie die finanziellen, materiellen und personalen Ausstattungsmerkmale subsumiert.« (Obermaier/Hoffmann 2013: 116) Die Prozessqualität hingegen bezieht sich auf die »Interaktionsdynamik, das soziale Klima, das Ausmaß an Kindzentrierung und Handlungsorientierung oder [den] Grad an Partizipation, der Kindern eröffnet wird.« (ebd.)

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

Handelns ausgehen. Kann Forschung überhaupt noch »ergebnisoffen agieren« oder soll sie »auf der Grundlage der durch die OECD gegebenen Empfehlungen Argumente liefern [...], bereits getroffene Richtungsentscheidungen zu legitimieren und konkret auszugestalten.« (ebd.) Stengers Kritik zielt zum einen auf solche Studien, wie etwa die BIKS-Studie oder die Nationalen Bildungspanels (NBP), die explizit an politische Forderungen der OECD anschließen, indem sie Daten zu bereichsspezifischen, das heißt von der OECD vordefinierten, Kompetenzdimensionen in Familie, Kindergarten und Schule liefern (vgl. ebd.: 57). Aber nach Stenger gehören auch die der Evidenzbasierung gegenüber kritisch eingestellten, qualitativ arbeitenden Forschungsarbeiten, die mit Blick auf die Eigenlogik des frühpädagogischen Feldes die Übertragbarkeit politischer Vorgaben nach einem Top-Down-Modell bezweifeln, in den Kontext steuerungsambitionierter Professions- und Professionalisierungsforschung sowie der Qualitäts- und Evaluationsforschung. Zwar berücksichtigen diese Forschungsarbeiten die »Eigenlogik des Feldes in der Alltagspraxis«, aber sie bleiben weiterhin auf »politische Reformen des Feldes bezogen.« (ebd.: 58) In prominenter Weise können die Forschungsarbeiten von Klaus Fröhlich-Gildhoff, Iris Nentwig-Gesemann und Stefanie Pietsch zur forschenden Haltung als habituell verfügbare (Selbstlern-)Kompetenz3 3

Fröhlich-Gildhoff, Nentwig-Gesemann und Pietsch haben in diesem Zusammenhang ein übergreifendes und breit rezipiertes Kompetenzmodell für die Aus- und Weiterbildung von Frühpädagogen entwickelt, auf das sich frühpädagogische Forschung häufig bezieht. Sozialtheoretisch werden frühpädagogische Kontexte dabei als offene, ungewisse, komplexe Handlungszusammenhänge aufgefasst, die aufseiten der Fachkräfte situationsspezifische, nicht standardisierbare Handlungskompetenzen voraussetzen (vgl. FröhlichGildhoff/Nentwig-Gesemann/Pietsch 2011: 13f.). Entscheidend für das frühpädagogische Kompetenzmodell ist vor diesem Hintergrund die theoretische Unterscheidung zwischen einer Dispositions- und einer Performanzebene, die über eine professionelle Haltung als strukturgeneratives Prinzip (Habitus) vermittelt sind (ebd.: 14f.). Eine professionelle Haltung zeichnet sich demzufolge dadurch aus, dass implizite Orientierungen und Werteinstellungen des Handlungsvollzugs reflexiv eingefangen und systematisch aufgearbeitet werden.

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als stellvertretend für solch eine steuerungspolitisch ambitionierte Expertisenforschung gelten. Es wird nicht mehr eine einseitige Top-Down-Umsetzung vordefinierter Qualitätsmerkmale in der pädagogischen Praxis forciert, vielmehr wird aus einer praxeologischperformativen Perspektive nach den kontextspezifischen Bedingungen gefragt, »wie pädagogische Qualität praktiziert« (Nentwig-Gesemann 2008: 260; Hervorh. i.O.) wird. Qualitätsstandards müssen demnach »fortlaufend und je nach konkreter Situation, diskutiert, im Diskurs kokonstruiert und als Vision entworfen werden.« (ebd.) Folgerichtig gilt hier die Dynamisierung von Qualitätsstandards als die angemessene Strategie, um eine Passung zwischen Bedingungen des pädagogischen Alltags – wie etwa die der Unvorhersehbarkeit und Komplexität – und steuerungspolitischen Zielvorgaben zu realisieren. Auch wenn das frühpädagogische Kompetenzmodell von FröhlichGildhoff, Nentwig-Gesemann und Pietsch auf den ersten Blick eine reflexive und kontextspezifische Offenheit bietet, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier durchaus steuerungspolitische Ambitionen erkennbar sind. Die regulative Dimension des scheinbar reflexiv-offenen Kompetenzmodells zeigt sich insbesondere dann, wenn Unvorhersehbarkeiten und Kontingenz des frühpädagogischen Alltags so umgedeutet werden, dass sie nun die Forderungen nach einer habituell verfügbaren Selbstlernkompetenz (Selbstorganisation, Selbststeuerung, Selbstregulation) begründen und legitimieren. Die Unbestimmtheit frühpädagogischer Praxis wird hier so umgedeutet, dass sie zur Legitimationsgrundlage einer permanenten, biografisch umspannenden Professionalisierung wird (vgl. Bilgi/Stenger 2017: 138). Professionalisierung wird zu einer unabschließbaren Selbstaufgabe, die nun habitualisiert, nicht mehr als äußere Anforderung auftritt, sondern auf der Ebene der Subjekte arrangiert wird. Es ist also kein Zufall, dass hier eine strukturelle Passgenauigkeit zwischen den Zielen der OECD für das Gelingen eines lebenslangen Lernens Professionalisierung zielt demnach auf den Aufbau einer habituell verfügbaren Kompetenz der forschenden Haltung, um Struktur und Bedeutung einer Situation systematisch und methodisch zu erschließen (vgl. ebd.).

5. Zum Stellenwert von Theorie in der Forschung der Pädagogik der frühen Kindheit

(Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbstregulation) und des frühpädagogischen Kompetenzmodells nach habituell verfügbaren Selbstlernkompetenzen als forschendes Lernen besteht (vgl. FröhlichGildhoff/Nentwig-Gesemann/Pietsch 2011: 42). Am Beispiel des Konzepts des forschenden Lernens kann exemplarisch auf einen neuen, flexibilisierten Typus der Standardisierung frühpädagogischen Handelns aufmerksam gemacht werden. Es handelt sich hierbei um eine »Standardisierung zweiter Ordnung, die gerade solche für das frühpädagogische Handeln relevanten Situationsmerkmale wie NichtWissen, Ungewissheit, Kontingenz entlang vordefinierter Schemata (Selbstlernkompetenzen) arrangiert, reguliert und produziert. Mit der Fokussierung auf die Prozessebene der Herstellung frühpädagogischer Qualität und Professionalität verschieben sich steuerungspolitische Ambitionen weg von der Standardisierung punktueller Kriterien hin zur Standardisierung arrangierter Möglichkeitsräume.« (Bilgi/Stenger 2017: 142) Denn klar ist, dass die zugestandene Offenheit nicht als wirkliche Freiheit missverstanden werden darf. Die arrangierte Offenheit motiviert, verführt, man glaubt, sich »von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben.« (Han 2014: 9) Und doch unterwirft man sich qualitätssichernden Steuerungsambitionen, während man permanent an der eigenen Professionalisierung arbeitet. Die Kunst neoliberaler Führungsweisen, so könnte das hier vorgestellte Konzept der forschenden Haltung aus einer Foucault‘schen Perspektive dechiffriert werden, besteht darin, die Grenzen zwischen Fremd- und Selbstführung neu zu justieren, um so, wie Ludwig A. Pongratz es beschreibt, »die vorherrschenden gesellschaftlichen Imperative in die Selbstreflexion der Subjekte einzuschleusen.« (Pongratz 2017: 99) Neben den hier diskutierten steuerungspolitisch ambitionierten Forschungsarbeiten lassen sich auch grundlagenorientierte sowie kritisch-programmatische Forschungsarbeiten innerhalb des frühpädagogisches Forschungsfeldes beschreiben, die in grundlegender Weise die (impliziten) epistemologischen, normativen, politischen, rechtli-

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chen und institutionellen Rahmenbedingungen solcher steuerungspolitisch affinen Forschungsarbeiten hinterfragen. Die im Folgenden zur Sprache kommenden Ansätze können exemplarisch für aktuelle Theorietendenzen und Forschungslinien stehen, die über die pädagogische Forschung hinaus im breiteren Kontext des kulturtheoretischen Forschungsfeldes verortet werden können. Es handelt sich hierbei um kokonstruktivistische Ansätze, autopoietische Ansätze der Selbstbildung sowie um Ansätze der soziologischen Kindheitsforschung. Sieht man über die – teilweise polemischen – Absetzungstendenzen hinweg, kann deutlich gemacht werden, dass trotz der markierten Differenzen auf der Ebene der Theoretisierung von Kindheit, Bildung und Erziehung ein geteiltes erkenntnistheoretisches Interesse an konstruktivistischen Perspektiven besteht. Die ausgewählten Theorieentwürfe orientieren sich an poststrukturalistischen, performativen, praxeologischen, ko-konstruktiven, (sozial-)-konstruktivistischen und kybernetischen Zugangsweisen und fragen auf dieser Basis nach politisch-rechtlichen, institutionellen sowie nach historisch-kulturellen, sozialen und evolutionsbiologischen Bedingungen und Voraussetzungen von Bildung, Lernen und Erziehung in der frühen Kindheit. Im Fokus der folgenden Analyse steht die Frage nach der jeweiligen theoretischen Bezugnahme auf den (Neu-)Anfang frühkindlicher Lern- und Bildungsprozesse, die zugleich mit epistemologischen, normativen wie auch anthropologischen Grundannahmen über Kinder und Kindheiten in Zusammenhang steht.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

6.1 6.1.1

Der Ko-Konstruktionsansatz Bildung und Demokratie aus postmoderner Perspektive

Bereits Ende der 1990er Jahre entwickelten Gunilla Dahlberg, Peter Moss und Alan Pence (2007) in ihrem Buch »Beyond Quality in Early Childhood Education und Care« einen ko-konstruktivistischen Ansatz für die Pädagogik der frühen Kindheit. Sie entwerfen hier das Bild einer postmodernen Pädagogik, die durch neue gesellschaftliche Herausforderungen von Ungewissheit, Vielfalt, Komplexität, Mehrdeutigkeit und Relativität gekennzeichnet ist. Den Ausgangspunkt des ko-konstruktivistischen Ansatzes bildet in gegenwartsanalytischer Perspektive die Diagnose eines gesamtgesellschaftlichen Wandels, innerhalb dessen tradierte Konzepte von Wahrheit und Wirklichkeit fundamental in Frage gestellt werden. Diese fundamentale Erosion bisher gültiger Deutungsweisen lässt sich nach Dahlberg nur unzureichend als ein bloßer Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Informations- bzw. Wissensgesellschaft fassen. Bei dem sich hier vollziehenden Wandel handele es sich vielmehr um einen gesellschaftlichen wie epistemologischen Paradigmenwechsel, der eine Neukonzeptualisierung eines (post-)modernen Verständnisses von Realität, Wahrheit, Wissenschaft und Subjekt notwendig werden ließe (vgl. Dahlberg 2010: 14). Dahlberg schreibt dazu:

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»Seit der Aufklärung wurde unser Weltbild durch das Projekt der Moderne geformt. Die Kernprämissen dieses Projekts – kontinuierlicher und linearer Fortschritt, Gewissheit und Universalität, die Entdeckung von ›nachweisbaren‹ Wahrheiten durch die Anwendung von ›objektiven‹ wissenschaftlichen Methoden – werden zunehmend in Frage gestellt. Heute gewinnt das Projekt der Postmoderne an Bedeutung: ein Konzept, das Ungewissheit, Komplexität, Vielfalt, Multiperspektivität sowie eine zeitliche und räumliche Situationsbezogenheit akzeptiert, sogar begrüßt.« (ebd.: 13) Das Projekt der Postmoderne steht hier ganz im Zeichen des (Neu-)Anfangs. Bisherige Legitimationsweisen und Geltungsansprüche werden in grundlegender Weise hinterfragt. Mit dem Ende der modernen (Denk-)Paradigmen geht es nunmehr darum, auf der Grundlage kokonstruktivistischer Prämissen einen neuen kulturellen, sozialen wie auch demokratischen Raum zu gestalten, den Dialog über die Wirklichkeit, die normativen Vorstellungen und Bilder, die wir über Kinder und über die Pädagogik der frühen Kindheit haben, zur Diskussion zu stellen, sowie neue Wissens- und Lernformen zu kreieren und zu experimentieren (vgl. ebd.: 26). Das hier zu realisierende Neue ist daher mit einem neuen postmodernen Bild des Kindes – zumindest dem Anspruch nach – verknüpft. Das Kind als aktiver Ko-Konstrukteur seines Wissens und seiner Kultur ist kein passiver und unfertiger Rezipient von Wissen, sondern als Bürger »mit Rechten, Pflichten und Möglichkeiten« gestaltet es seine Entwicklung zusammen mit anderen Menschen aktiv mit (ebd.: 27).1 Der ko-konstruktivistische Ansatz betont die zwischenmenschliche Begegnung und Diversität, die

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Unverkennbar sind hier die Anleihen aus der sogenannten Reggiopädagogik, die in den 1970er Jahren in der italienischen Stadt Reggio Emilia von Loris Malaguzzi entwickelt wurde. Demzufolge ist die hier skizzierte Vorstellung einer neuen pädagogischen Haltung gegenüber dem Kind als reichem und aktivem Ko-Konstrukteur von Wirklichkeit nicht gänzlich neu. Neu hingegen ist der Relevanzhorizont, in dem die Reggiopädagogik als angemessene Antwort auf die postmodernen Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft erscheint.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Verantwortung gegenüber dem Anderen als konstitutive Dimensionen von Lernen und Bildung. Als kritisches und demokratisches Erkenntnisprojekt kann der kokonstruktive Ansatz als eine Spielart der postmodernen Epistemologie ausgewiesen werden (vgl. Weick 1996), die den »semiotischen Blickwinkel« (ebd.: 213) zum Ausgangspunkt von Erkenntnisprozessen, von Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnissen macht. Die Vorstellung einer sprachlich unabhängigen Realität wird abgelehnt. Stattdessen wird Sprache zum primordialen Realitätsprinzip. Sprache repräsentiert demnach nicht eine vorgefundene und mit Bedeutung ausgestattete Welt, sondern sie konstruiert diese kontinuierlich (vgl. Dahlberg 2010: 16). Unter dieser epistemologischen Grundannahme verbindet der Ansatz der Ko-Konstruktion sozialkonstruktivistische Perspektiven mit poststrukturalistischen bzw. diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Analysefiguren, sodass hier auf methodologischer Ebene von einer soziologischen Diskursanalyse gesprochen werden kann (vgl. Stieve 2015: 29).2 Mit der sozialkonstruktivistischen Perspektive wird der Fokus auf die Frage gerichtet, wie »subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität« (Berger/Luckmann 2004: 20) wird. Erst durch geteiltes Alltagswissen und eine geteilte sprachliche Praxis wird soziale 2

Auf den ersten Blick scheint eine Zusammenführung beider Theorieperspektiven mit ihrer je spezifischen Perspektive auf die Kontingenz gesellschaftlicher Ordnungen produktiv zu sein. Wenig werden hingegen die theoriearchitektonischen Unstimmigkeiten reflektiert, die durch ein Ineinanderfügen sozialkonstruktivistischer und poststrukturalistischer Theorieansätze produziert werden. Als ein Beispiel könnte hier das Subjektverständnis dienen, das sich in beiden Theorieansätzen grundlegend unterscheidet. Während die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie auf handlungs- und interaktionstheoretischer Basis ein sozialisationstheoretisches Subjekt voraussetzt, das in einer aktiven Rolle die Welt mit Sinn ausstattet, richtet sich umgekehrter Weise die poststrukturalistische Kritik auf ein Verständnis des Subjekts, das diesen als gegeben voraussetzt. Aus einer poststrukturalistischen, machtkritischen Perspektive geht es vielmehr um die Frage, wie innerhalb von Diskursen spezifische Subjekte im Sinne einer normativen wie normierenden Subjektivierung hervorgebracht werden (vgl. Foucault 1982/2005: 240f.).

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Wirklichkeit zwischen Menschen in Vis-à-Vis-Situationen permanent konstruiert (Externalisierung) und wiederholt, sodass sie im Sozialisationsprozess als vergegenständlichte Wirklichkeit (Objektivation) wieder ins Bewusstsein zurückkehrt (Internalisierung) (vgl. ebd.: 65). Pointiert formuliert lautet das zentrale Argument des sozialkonstruktivistischen Ansatzes, dass gesellschaftliche Wirklichkeit, einschließlich auch des Wissens über diese Wirklichkeit, nicht a priori existiert, sondern ein kontingentes Konstruktionsprodukt im sozialen Aufeinanderbezogensein von Menschen und Gesellschaft darstellt. Mit der poststrukturalistischen bzw. diskursanalytischen Perspektive hingegen wird nach den historischen Entstehungskonstellationen von dominanten Wahrheits- und Wissensregimen und ihrer institutionellen Ausprägung gefragt. Kritisch wird auf Machtwirkungen sowie auf Ein- und Ausschlussmechanismen von Wissens- und Wahrheitsregimen aufmerksam gemacht, die sowohl auf der Ebene sozialer Ordnungen als auch des Wissens wirkmächtig sind. So betrachtet ist die Konstruktion der Realität niemals eine neutrale und jeder erreichte Konsens muss mit Blick auf seine impliziten Macht- und Ausschlusswirkungen hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang, so Dahlbergs Schlussfolgerung, kann Wissenschaft wie auch die Praxis der Pädagogik der frühen Kindheit selbst als eine Form der »Sprache verstanden werden, welche durch ihre kontinuierliche Art und Weise Kategorien, Konzepte und Klassifikationen« (Dahlberg 2010: 17) unter den Bedingungen von Macht bildet. Nach Dahlberg wirken solche dominanten Diskurse sich auf die gesamte »Ökologie der Frühpädagogik« (ebd.) aus, das heißt, auf die »Organisation der frühpädagogischen Einrichtungen, die Konstruktion der Identität von Kindern und Pädagogen, die Ordnungsstruktur der Einrichtung oder die Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben.« (ebd.) Dahlberg exemplifiziert diesen Gedanken am Beispiel der für die Pädagogik der frühen Kindheit relevant gewordenen entwicklungspsychologischen Theoriemodelle. Ausgehend von einem anthropologischen Konzept des Kindes als biologisches, ahistorisches und gleichsam unfertiges Wesen werden in diesen ein universelles Modell der stufenweise aufsteigenden kindlichen Entwicklung unterstellt (vgl. ebd.: 20). Es ist

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gerade die Fortschrittsmetapher und die Vorstellung einer universellen Stufenabfolge, die zu einer Standardisierung wie auch Objektivierung von Kindern und Kindheiten führt. Was als gute pädagogische Arbeit gilt, was als normale bzw. abweichende kindliche Entwicklung gilt, wird genau durch solche universellen Entwicklungsmodelle strukturiert, die wiederum als ein objektiviertes Klassifikationssystem zur Messung, Beurteilung, Separation, Kontrolle, Therapeutisierung von Kindern herangezogen werden. Diskursanalytisch interpretiert, versteht Dahlberg solche Theorien als »eine Art Sprache, die Ein- und Ausschlusskriterien definiert, indem sie misst, was gut und böse, was normal und abnormal ist.« (ebd.: 23) Trotz dieses kritischen Einsatzes der Ko-Konstruktion kann auf Grundlage der bisherigen Überlegungen gefragt werden, ob die hier als Gegenentwurf zur Moderne formulierte Perspektive tatsächlich das einlöst, was sie verspricht. Augenscheinlich durchzieht den kokonstruktivistischen Ansatz eine widersprüchliche Bezugnahme auf das Verhältnis von Postmoderne und Moderne. Während auf einer gegenwartsanalytischen Ebene die Postmoderne als ein sich bereits vollzogener gesellschaftlicher Paradigmenwechsel beschrieben wird, das heißt, als gesellschaftlicher Status quo vorausgesetzt wird, werden auf der anderen Seite postmoderne Argumente als alternierender Gegenentwurf gegenüber dominanten Diskursen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Moderne herangezogen. Beide Male bildet die Postmoderne den normativen Referenzpunkt: für den Status quo der Gegenwartsgesellschaft wie für sein Gegenmodell. Wenig reflektiert bleibt in diesem Zusammenhang, wie sehr der angebliche Gegenentwurf selbst dem dominanten Diskurs der postmodernen Gegenwartsgesellschaft entspricht. Dass die im Medium der Nicht-Eindeutigkeit formulierte ko-konstruktivistische Wertebasis der Pädagogik der frühen Kindheit ebenso gut als der neueste Trend in Fragen der Steuerung fungieren kann, belegen in eindrücklicher Weise die Arbeiten von Wassilios E. Fthenakis. Fthenakis entwickelte in den vergangenen Jahren eine lernpsychologische Variante des ko-konstruktivistischen Ansatzes, die insbesondere Beiträge zur methodisch-didaktischen Weiterentwicklung frühpädago-

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gischer Bildungscurricula wie der Professionalisierung von Fachkräften leistet.

6.1.2

Ko-Konstruktion aus lernpsychologischer Perspektive

Fthenakis teilt die gegenwartsanalytische Diagnose eines grundlegenden gesellschaftlichen Paradigmenwechsels und sieht vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit eines bildungsphilosophischen und -politischen (Neu-)Anfangs. Der programmatische Titel dieser grundlegenden Neuorientierung lautet »Auf den Anfang kommt es an« (Fthenakis 2007a). So entwirft Fthenakis in einer Reihe von Veröffentlichungen ein postmodernes Verständnis frühkindlicher Bildung, das wie im Zeitraffer den Anfang für das Neue in der Zukunft heute schon in Aussicht stellt. Auf einer Linie mit Dahlberg beschreibt Fthenakis die grundlegenden Prämissen der postmodernen Bildungskonzeption folgendermaßen: »Ungewissheit, Komplexität, Vielfalt, Multiperspektivität sowie historische und Kontextbezogenheit werden nicht nur akzeptiert, sondern sogar unterstützt. Dieser Paradigmenwechsel eröffnet neue Sichtweisen darauf, wie pädagogische Theorie und Praxis zu verstehen und zu konzeptualisieren sind.« (Fthenakis 2009: 6) Auf methodisch-didaktischer Basis bezieht sich Fthenakis insbesondere auf den Ansatz der Ko-Konstruktion, wie er von Glenda MacNaughton und Gillian Williams (2004) in ihrem Buch »Techniques for Teaching Young Children« theoretisch und didaktisch ausgearbeitet wird. Im Fokus steht die soziale Dimensionierung des Lernens. Lernen ist eingebettet in soziale Interaktionen und Aushandlungsprozesse, innerhalb derer überhaupt Konstruktion von Bedeutung entsteht. Es geht um die gemeine »Erforschung von Bedeutung«, das heißt, um die Entdeckung, Veränderung, Artikulation sowie Aushandlung von Bedeutung (Fthenakis 2007b: 10).3 3

Mit Ludwig Liegle lässt sich eine weitere Perspektive innerhalb der Diskussion um den ko-konstruktivistischen Ansatz beschreiben, der sich von Fthenakis‘

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Auf (meta-)theoretischer Ebene wird im Unterschied zu dem bereits vorgestellten Ansatz der Ko-Konstruktion nicht vordergründig auf den wissenssoziologischen Sozialkonstruktivismus zurückgegriffen, sondern es werden Denk- und Argumentationsfiguren aus unterschiedlichen sozialkonstruktivistischen Entwicklungsansätzen zusammengetragen, die schließlich didaktisch unter einer lern- bzw. entwicklungspsychologischen Perspektive interpretiert werden. Im Kontext des linguistic turns bzw. des cultural turns wird die Gültigkeit repräsentationalistischer Auffassungen von Wissen angezweifelt und stattdessen auf den sprachlichen und praktischen Vollzugscharakter sozial geteilter, das heißt relationaler, Wirklichkeiten aufmerksam gemacht. Es wird davon ausgegangen, dass sich erst auf der Grundlage sprachlich-sozial geteilter Beziehungen spezifische Intelligibilitäten herausbilden, sich »also ein verstehbarer, sinnvoller Zusammenhang [konstituiert] – dessen Sinn oder eben dessen Intelligibilität dann auch nur relativ zur entsprechenden Sprachgemeinschaft gewährleistet ist.« (Zielke 2004: 210) Fthenakis teilt die epistemologische Überzeugung, dass Sprache, Wissen und Bedeutung nicht nachträglich eine objektive Realität abbilden. In diskursiv geteilten Bedeutungskonstruktionen, so Fthenakis in kritischer Distanz zu radikal konstruktivistischen und kognitivistischen Ansätzen, wird eine »gemeinsame Weltinterpretation« hervorgebracht (Fthenakis 2015: 7), »die Wirklichkeit nicht lediglich beschreibt, sondern als sozial geteilte Wirklichkeit erschafft.« (ebd.) Der lernpsychologische Ansatz der Ko-Konstruktion versteht Lernen demnach als eine sozial geteilte Praxis, in der Kinder im Austausch mit Gleichaltrigen sowie im Austausch mit Erwachsenen lernen.

didaktischem und lernmethodischem Ansatz unterscheidet. Er versteht KoKonstruktion als den intragenerationalen Aufbau von Weltbildern und Weltbezügen zwischen gleichaltrigen Kindern, die gerade nicht mit den der Erwachsenen übereinstimmen. Intragenerationales Lernen als Ko-Konstruktion ist daher durch erzieherische Bemühungen von außen durch Erwachsene nicht beeinflussbar und im Ergebnis offen (vgl. Liegle 2013: 108f.).

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6.1.3

Kritik am Ko-Konstruktionsansatz

Augenscheinlich in Fthenakis‘ Argumentation ist vor allem die paradoxe Ausgangslage, dass die postmoderne Ablehnung der Idee einer prädiskursiven Realität gerade das politische und pädagogische Planen- und Machenwollen dieser zu begünstigen scheint. So wundert es nicht, wenn Fthenakis zwar auf epistemologischer Basis auf die soziale Konstruiertheit – damit auch die Kontingenz – frühpädagogischer Wirklichkeiten verweist, dann aber steuerungspolitisch auf Effektivitätsargumente zurückgreift, wodurch schließlich neue Formen der Normierung und Standardisierung erkennbar werden. Zutreffender Weise kann daher hier von einer doppelgleisigen Regulierungsstrategie gesprochen werden, die insofern reguliert, indem sie partiell dereguliert. Erkennbar wird diese Doppelgleisigkeit vor allem durch eine widersprüchliche Bezugnahme auf die postmodernen Themen von Differenz und Identität, wie sie in den Bildungskonzeptionen thematisch zum Ausgangspunkt und Gegenstand von Lernen und Wissen gemacht werden. So wird einerseits für ein postmodernes und offenes Bildungskonzept argumentiert, das sensibel auf Diversität etwa in Bezug auf Geschlecht, soziale Klasse, Ethnie oder physische Merkmale sowie auf die individuelle Persönlichkeit jedes Kindes antwortet (Fthenakis 2003: 24f.). Die postmoderne Perspektive geht von unterschiedlichen Bildern von Kindern und Kindheiten aus, die immer von lokalen, kulturellen und historischen Gegebenheiten mitbestimmt werden (vgl. Fthenakis 2009: 7). Doch es ist auch dieselbe postmoderne Perspektive, die nach dem scheinbaren Ende von gesellschaftlichen Normierungen und Festschreibungen das Individuum nun auffordert, aus eigener Kraft den gesellschaftlichen Anforderungen von Ungewissheit und Kontingenz mit permanenter Lernbereitschaft zu antworten (vgl. Fthenakis 2003: 6). So kommentiert Fthenakis: »Es geht darum zu lernen, wie man lernt und sein eigenes Wissen organisiert, um Problemsituationen zu lösen und zwar auf eine sozial verantwortliche Weise. Ein zweiter Schwerpunkt besteht in der früh-

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zeitigen Stärkung individueller kindlicher Kompetenzen: Stärkung des Selbstkonzepts, des Selbstwertgefühls, der Selbstregulationsfähigkeit.« (ebd.: 28) Unverkennbar ist hier das ökonomische Motiv, wonach der Aufbau von Lernkompetenzen einer veränderten dezentralen Organisation der Arbeitswelt entspricht, in der immer mehr Kooperationsbereitschaft, Eigeninitiative, Flexibilität, Problemlösefähigkeit, Kreativität und permanente Lernbereitschaft bis ins hohe Alter als Ressourcen vorausgesetzt werden (vgl. Fthenakis 2007a: 7). Fthenakis versteht den Aufbau von Lernkompetenzen vor allem als Investition in das Kind als Humankapital von morgen. Wie im Zeitraffer soll das Humankapital der Zukunft durch die frühe Investition in die Anfänge frühkindlicher Bildung heute schon vorbereitet werden. Bei der hier proklamierten postmodernen Offenheit handelt es sich daher offensichtlich nur um eine arrangierte. Der bildungskonzeptionelle Fokus auf Differenz und Individualität versteht sich zwar als ein neuer, zukunftsfähiger Gegenentwurf. Doch genau genommen wird hier das proklamiert, was bereits von gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Seite erwartet wird. Soziale Diversität, Einzigartigkeit und Kreativität gelten heute ebenso gut als ertragreiches Potenzial »zur Förderung der technologischen, ökonomischen und sozialen Dynamik.« (OECD 2000: 7) Wer jedoch trotz solcher Vereinnahmungstendenzen hinter dem ko-konstruktivistischen Ansatz eine simple Instruktionstechnologie erwartet – wie etwa Gerd Schäfer es unterstellt (vgl. Schäfer 2005a) –, irrt sich grundlegend. Angelehnt an internationale Entwicklungen zur Regulation von Bildungssystemen – insbesondere am Beispiel von Schweden – wird solchen Bewertungs- und Evaluationsmethoden der Vorzug gegeben, die auf ko-konstruktivistischer Basis der individuellen Entwicklung und den diversen Lebenssituationen von Kindern angemessen antworten können. In dieser Hinsicht erweisen sich offene Dokumentationsverfahren, Beobachtungssysteme und Portfolios als angemessene Steuerungsstrategien, um – wie es Fthenakis formuliert – beteiligungsorientierte Formen der Regulation pädagogischer Quali-

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tät auf ko-konstruktivistischer Basis zu realisieren (vgl. Fthenakis 2009: 8). So rücken die soziale Beziehung sowie die damit einhergehenden alltäglichen Erfahrungs- und Interaktionsqualitäten zwischen Kindern bzw. der Erzieherinnen untereinander sowie mit weiteren Akteuren (Eltern, Träger etc.) in den Fokus. Als Beispiel für offene und beteiligungsorientierte Beobachtungsverfahren lassen sich die sogenannten Bildungs- und Lerngeschichten nennen. Durch die Beobachtung von Kindern in alltäglichen Situationen sollen nicht nur ertragreiche Lernprozesse identifiziert werden. Gleichzeitig werden die Beobachtungen in Form von scheinbar offenen Lerngeschichten festgehalten, die dann schließlich den Kindern vorgelesen werden. Dabei bilden aber vordefinierte Lerndispositionen (1. interessiert sein, 2. engagiert sein, 3. Standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten, 4. sich ausdrücken und mitteilen, 5. an der Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen) den Kern der Bildungs- und Lerngeschichten, die die Beobachtung und Dokumentation grundlegend strukturieren. Die Lerndispositionen stehen ganz im Zeichen des (Neu-)Anfangs. In ihnen »kommt die Motivation und die Fähigkeit zum Ausdruck, sich mit neuen Anforderungen und Situationen auseinander zu setzen und sie mitzugestalten.« (DJI 2019) Daher kann hier, wie bereits oben angemerkt, von einer doppelgleisigen Regulierungsstrategie gesprochen werden, die die pädagogische Offenheit für Bildungs- und Lernprozesse entlang vordefinierter Kriterien arrangiert und reguliert. Pädagogische Qualität wird demnach nicht als ein fixierter und normativer Standard definiert. Im Gegenteil sind es soziale, individuelle, kreative, dynamische Aspekte, die als Qualitäts- und Steuerungsmerkmale (um-)definiert werden. Auch hier zeigt sich erneut die Autorität des Qualitätsdenkens: Die Relevanz des ko-konstruktivistischen Ansatzes begründet sich nicht auf einer – wie auch immer definierten – pädagogischen Wertebasis. Die wesentliche Legitimationsgrundlage des ko-konstruktivistischen Ansatzes besteht darin, eine effektive, das heißt dynamische und anpassungsfähige Interventionsmethode zur Steigerung und Sicherstellung von pädagogischer Qualität zu sein.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Eine kritische Analyse des ko-konstruktiven Bildungs- und Lernansatzes bringt somit systematische Widersprüche ans Tageslicht. Während auf epistemologischer Basis ein offener Wissens- und Lernbegriff auf der Grundlage von Differenz, Vielfalt und Kontingenz stark gemacht wird, zeichnen sich auf didaktisch-methodischer Seite deutliche Tendenzen der Normierung, Schließung und Steuerung ab.4 Der von Fthenakis programmatisch verkündete (Neu-)Anfang in der frühkindlichen Bildung, mit dem gleichzeitig ein gesellschaftlicher (Neu-)Anfang möglich werden soll, verschließt sich gerade gegenüber dem, was wirklich neu anfangen könnte. Wie Gerd Schäfer es in seiner provokativ zugespitzten Kritik formuliert, tanzt der ko-konstruktivistische Lern- und Bildungsansatz »auf zwei Hochzeiten« gleichzeitig: »Auf der einen Seite postmodern, die Autonomie des Individuums preisen, das Lob der Differenz singen, von Ko-Konstruktion auf gleicher Ebene sprechen und auf der anderen Seite, wenn es um die praktische Umsetzung geht, in eine Instruktionspädagogik verfallen.« (Schäfer 2005a: 6) Mehr als ein theoretisch ausgearbeiteter Begriff, so kann in diesem Punkt an Schäfers Kritik angeschlossen werden, lässt sich der Ko-Konstruktionsansatz und seine Bezugnahme auf den (Neu-)Anfang frühkindlicher Bildungsprozesse als ein Interventions- und Steuerungsinstrument verstehen. Im Gegensatz zum Instruktionsansatz beansprucht Schäfer, einen Bildungsansatz für die frühe Kindheit entwickelt zu haben, der die subjektive Eigenleistung des Kindes in den Vordergrund rückt. Erst durch diese subjektive Innenseite des Kindes könne überhaupt der Umschwung von Lernen zu Bildung erklärt werden. In der folgenden kritischen Rekonstruktion wird zu überprüfen sein, wie sehr es sub-

4

Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein deutlicher Unterschied zu Gunilla Dahlbergs Verständnis von Ko-Konstruktion als ethisches und politisches Projekt. Während Dahlberg den historischen, kulturellen und politischen Kontext gegenwärtiger Bildungs- und Erziehungskonzeptionen kritisch hinterfragt und nach alternativen, weniger machtvollen Lösungsansätzen sucht, bleibt eine machtkritische Analyse gegenwärtiger dominanter Diskurse bei Fthenakis aus.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

jektorientierten bzw. autopoietischen Bildungsansätzen tatsächlich gelingt, sich von Instruktionsansätzen abzugrenzen.

6.2

Frühkindliche Bildung als Selbstbildung: Lernen im Geiste des Neuanfängers

Schäfer kommt ohne Zweifel der Verdienst zu, bereits vor PISA und anderen internationalen Vergleichsstudien die Wichtigkeit der frühkindlichen Bildung erkannt und entscheidende Grundlagen für die wissenschaftliche Entwicklung der Frühpädagogik geschaffen zu haben. Auch heute noch kommt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Bildung und Lernen in der frühen Kindheit nicht ohne Bezugnahme auf Schäfers Arbeiten aus. Wollte man die Quintessenz seiner Arbeiten zusammenfassen, dann kommt sicher der Entwicklung eines eigenständigen Bildungsbegriffs für die frühe Kindheit ein besonderer Stellenwert zu. Auf der Basis traditioneller Bildungsbegriffe, entwicklungs-, tiefenund kulturpsychologischer Modelle sowie neuerer Erkenntnisse der Kybernetik, der Epigenetik und der Kognitions- und Neurowissenschaften entwickelt Schäfer einen für die frühe Kindheit eigenständigen Bildungsbegriff, in dessen Zentrum die Verwirklichung von Autonomie und Selbstständigkeit des Kindes steht. Schäfer wendet sich in seinem Bildungsverständnis explizit gegen das in den öffentlichen Debatten um frühkindliche Bildung dominant gewordene Verständnis von Bildung als »Optimierung kognitiver, emotionaler, sozialer« Kompetenzen (Schäfer 2005b: 26). Stattdessen entwirft er einen Bildungs- und Lernbegriff, der die wahrnehmungsgebundenen, sinnlichen, motorischen, gefühlsbezogenen sowie bildlichen und imaginären Erfahrungen, also das, was Schäfer zusammenfassend als aisthetische Erfahrungsbildung bezeichnet, in den Mittelpunkt stellt.

6.2.1

Der Entwurf eines »evolutionären Denkmodells«

Die folgende Analyse wird sich im Wesentlichen auf die kognitionswissenschaftliche Herleitung und Fundierung von Schäfers Bildungsver-

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

ständnis beziehen. Zwar greift Schäfer auf unterschiedliche theoretische wie wissenschaftliche Ansätze zurück, doch sind es am Ende die Kognitionswissenschaften, auf deren Grundlage die unterschiedlichen Theorie- und Argumentationsstränge zu einem kybernetischen Lernund Bildungsverständnis in der frühen Kindheit gebündelt werden. Ausgehend von der konstruktivistischen Einsicht in die Beobachterabhängigkeit von Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit ist auch Schäfers Verständnis von Bildung und Lernen durch eine zweifache Epistemologisierung gekennzeichnet. Zum einen wird bezogen auf wissenschaftliche Erkenntnisprozesse das Prinzip einer erkenntnisunabhängigen Realität abgelehnt. Was über die Realität ausgesagt werden kann, sind nicht mehr als Bilder, Schemata bzw. Konstruktionen von Realitäten. Daraus folgt schließlich, dass der Wissenschaft kein realer Referenzpunkt zur Verfügung steht, von dem aus die Dinge an sich beschrieben werden könnten. So kommentiert Schäfer, dass »jede Gruppe, die sich über ein Phänomen einig wird, etwas aus der Gesamtheit des Möglichen herausgreift, das ihrem Erkenntnisvermögen und -Interesse nahe steht. Niemals kommt ›die ganze Wirklichkeit‹ in den Blick, immer nur ein mehr oder weniger großer Ausschnitt.« (ebd.: 10) Vor diesem Hintergrund präferiert Schäfer auch auf methodologischer Basis einen Theoriemix aus unterschiedlichen disziplinären Zugängen, um auf die »Blindheit wissenschaftlicher Vorgehensweisen« (ebd.: 12) angemessen zu antworten. Folgt man dieser konstruktivistischen Grundprämisse, muss auch bildungs- bzw. lerntheoretisch davon ausgegangen werden, dass es keinen unmittelbaren Zugang zur inneren Realität der Lernenden gibt. Dieser Schlussfolgerung lässt sich zunächst aus bildungstheoretischer Sicht durchaus zustimmen. Aus bildungstheoretischer Sicht wird die Argumentation jedoch dann problematisch, wenn die Unverfügbarkeit der inneren Realität der Lernenden ausschließlich neurobiologisch erklärt wird. So fasst Schäfer zusammen: »Alles, was wir über die Welt erfahren, wird durch das Zentrale Nervensystem und seine verschiedenen Leistungen vermittelt. Wir nehmen also Wirklichkeit so wahr, wie sie mit Hilfe der Leistungen

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

des Zentralen Nervensystems wahrgenommen werden kann, und konstruieren daraus eine innere Welt, die wir Wirklichkeit nennen. Außerhalb dieser Möglichkeiten und Begrenzungen wissen wir nicht, was Wirklichkeit ist.« (Schäfer 2014a: 99) Dass solch eine radikale Epistemologisierung mit einer grundlegenden Verschiebung von einer Zielorientierung entlang bestimmter normativer Vorstellungen (Emanzipation, Mündigkeit, Personalität) hin zu einer formalen Möglichkeitsorientierung im Sinne einer Öffnung und Vervielfältigung von Handlungsoptionen einhergeht, ist naheliegend. Pädagogische Versuche der Einflussnahme enden nach Schäfer schließlich an den »Körpergrenzen« des Kindes (Schäfer 2008a: 125). Die Einsicht, dass Erkenntnisse über die Welt weniger die Abbildung einer präexistenten Wirklichkeit beschreiben, sondern diese zuallererst durch die kognitive Entwicklung des Kindes strukturiert, organisiert und hervorgebracht wird, ist keineswegs neu und findet sich bereits in Jean Piagets strukturgenetischer Entwicklungstheorie wieder. Der häufig zitierte Kernaphorismus von Piaget lautet: »Die Intelligenz organisiert die Welt, indem sie sich selbst organisiert.« (Piaget 1970: 311) Demzufolge wäre Lernen als ein selbstregulativer Prozess eines auf Gleichgewicht und Überleben zielenden Organismus zu verstehen, der im Austausch mit den Bedingungen und Erfahrungsmöglichkeiten seiner Umwelt seine kognitiven Strukturen assimiliert, akkomodiert und damit seine (Erfahrungs-)Welt überhaupt als diese strukturierend hervorbringt. Mit der der strukturgenetischen Auffassung zugrunde gelegten evolutionistischen Perspektive auf Lernen und Wissen erfährt auch der Bildungsbegriff eine grundlegende Neukonturierung: Es geht hier nicht um Erkenntnis und Wahrheit als »vielmehr um Selbst- und Umweltmanagement sowie um Überleben.« (Welsch 2012: 150) Wahrnehmen, Handeln, Wissen und Erkennen beschreiben demnach phylogenetische wie ontogenetische Grundstrukturen des menschlichen Lebens, deren Funktion darin besteht, eine funktionsfähige Passung an die jeweiligen kulturhistorischen Bedingungen sicherzustellen. Schäfer teilt diese kybernetische Überzeugung einer sich selbst regulierenden und ausdifferenzierenden Denk- und Wahrnehmungsent-

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

wicklung, wenn er frühkindliche Lern- und Entwicklungsprozesse als Evolution unter den Bedingungen der Selbsterhaltung beschreibt (vgl. Schäfer 2014b: 318). Schäfers Verständnis von Bildung als aisthetischer Erfahrungsbildung geht jedoch über den genetischen Entwicklungsbegriff von Piaget hinaus. Schäfer wählt eine Mixtur aus verschiedenen theoretischen Ansätzen, um den evolutionären Charakter der Entwicklung von Wahrnehmen, Erkennen und Denken beginnend mit der Geburt zu beschreiben. Eine wichtige Bezugstheorie stellt dabei das Konzept der Autopoiesis dar, wie es von den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela (1987) im Rahmen ihrer biologischen Erkenntnistheorie entworfen wurde, um die selbstorganisatorische Innenseite von lebendigen Systemen zu beschreiben. Mit Autopoiesis wird eine spezifische Organisationsweise lebender Systeme von der Zelle bis hin zu hochkomplexen Lebensformen beschrieben. Bei autopoietischen Systemen handelt es sich um sich selbst produzierende und sich selbst erschaffende Organisationseinheiten, die in funktionaler Zusammenwirkung ihrer einzelnen Bestandteile genau jene Organisationsleistung rekursiv erbringen, die sie als lebende Systeme voraussetzen (vgl. Maturana/Varela 1987: 56f.). Übertragen auf Lern- und Bildungsprozesse heißt das, dass Wahrnehmen und Denken nicht durch äußere Anstrengungen bewerkstelligt werden können, sondern Ergebnis eines Rückkopplungsprozesses von Kommunikation, Selbstorganisation und Transformation sind, die auf die Selbsterhaltung lebender Systeme zielen.5 5

Die Passung bzw. Tauglichkeit von Wissen zur Sicherstellung des (Über-)Lebens, wird in Ernst v. Glaserfelds radikalkonstruktivistischer Wissenstheorie als Viabilität bezeichnet. Viabilität kann sich dabei auf die Überlebensfähigkeit des Organismus in seiner je spezifischen Umwelt sowie im Bereich der Erfahrungen auf die Kohärenz eines Netzwerkes von Begriffen und Beziehungen beziehen, die sich bisher bewährt haben (vgl. v. Glaserfeld 2013: 196). Mit Elmar Drieschner kann Viabilität im pädagogischen Sinne verstanden werden als »das ›Überleben im Alltag‹, d.h. die Fähigkeit zum lösungsorientierten Handeln in individuellen Problemsituationen und die Passung von Verstehenskonstrukten selbstreferenzieller Subjekte zum Zwecke der kommunikativen Verhaltensko-

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Ergänzt wird die Einsicht in die Autopoiesis von Lernprozessen durch entwicklungs- und kulturpsychologische Zugänge (vgl. Nelson 1996; Bruner 1997), die zu beschreiben versuchen, wie Kinder in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Bedingungen sowohl innere Repräsentationen der Wirklichkeit aufbauen als auch gleichzeitig ihre Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten ausdifferenzieren. Schäfer teilt mit diesen Ansätzen die Ansicht, dass lern- und bildungsrelevante Bedeutungen zuallererst in alltäglichen und soziokulturell gerahmten Handlungssituationen hervorgebracht werden müssen. Dabei wird unterstellt, dass Kinder bereits mit ihrer Geburt mit evolutionär bedingten Werkzeugen der körperlich-sinnlichen Wahrnehmung ausgestattet sind. In der Anwendung dieser Werkzeuge in alltäglichen Situationen, die ihrerseits aber immer schon soziokulturell strukturiert sind, machen Kinder erste Erfahrungen und entwickeln so ihre Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten weiter (vgl. Schäfer 2008b: 67). Was also in den frühesten Lern- und Bildungsereignissen zu einer Erfahrung werden kann, hängt maßgeblich davon ab, welche Bedeutungen eine bestimmte Situation für das Kind erlangt. Auf der Basis dieser anfänglichen Erfahrungen bilden sich szenische Muster, die im Laufe der kognitiven Entwicklung zu ausdifferenzierteren und komplexen Repräsentationen organisiert werden. So kommt es schließlich zur Entstehung generalisierter Konzepte zu einem »(subjektiven) ›Kind-Welt-Modell‹.« (ebd.: 40) Das heißt, was im Inneren des Kindes zu einer Lernerfahrung werden kann, bestimmt sich vor allem darüber, was bereits als kognitive Muster des Wahrnehmens, Lernens und Denkens entwickelt werden konnte. Neue Erfahrungsaspekte werden vor dem Hintergrund des bereits Erlernten interpretiert, verarbeitet und integriert. Es ist also von besonderer Wichtigkeit, so kann Schäfers Schlussfolgerung lauten, was und wie Kinder bereits ab ihrer Geburt lernen.

ordination in der arbeitsteiligen [...], unkenntlichen, hoch komplexen und risikoreichen Welt.« (Drieschner 2007: 138)

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

6.2.2

Formate des Denkens

Wie Claus Stieve feststellt, enthält Schäfers evolutionstheoretischer Lern- und Bildungsansatz sowohl eine individuelle wie auch eine universelle Deutung frühkindlicher Bildungsprozesse. Auf der einen Seite betont Schäfer die subjektive Bedeutung von Bildungserfahrungen, die jedes Kind nur individuell anhand konkreter Situationen machen kann. Auf der anderen Seite untersucht Schäfer den Aufbau und die Ausdifferenzierung des kindlichen Denkens entlang einer stufenförmigen Systematik, wenn er etwa die Evolution des Denkens in konkretes, aisthetisches, narratives und schließlich theoretisches Denken gliedert (vgl. Stieve 2015: 27). Ein junges Kind, so Schäfer, erfährt die Welt zunächst körperlichsinnlich, das heißt, Greifen, Kriechen, Riechen, Hören und Fühlen sind seine ersten Zugänge zur Welt (Schäfer 2014a: 45f.). Schäfer spricht in diesem Zusammenhang von einem konkreten Denken als Art und Weise des handelnden Weltzugangs, die dem Kind eine zunehmend differenzierte und strukturierte Erfahrung aus »erster Hand« (ebd.: 52), das heißt auf der Basis eigener basaler Welterlebnisse und -erfahrungen, ermöglicht. Die vorrangige Rolle der konkreten, handelnden Erfahrungsbildung zu Beginn des Lebens besteht vor allem darin, dass das Kind handelnd aus der Fülle der anfänglichen Reize sinnvolle Erkenntnis- und Wahrnehmungsmuster über die Welt konstruieren muss. Die erste Ordnung der Wirklichkeit ist daher eine Welt von zusammenhängenden und ineinandergreifenden Bewegungen, Szenen, Geräuschen, Gerüchen und Emotionen. Lernen mit der Geburt bedeutet demnach ein »In-der-Situation-Sein« (ebd.: 136), in dem das Kind das Ganze der Situationen mit all seinen Sinnen erfasst. Diese anfänglichen Ereignis- bzw. Handlungsmuster differenzieren sich mit zunehmenden Alter aus und lösen sich von den konkreten Situationen. Als innere Repräsentationen können diese zunehmend spielerisch und kreativ durch Nachahmungen, Imaginationen und Phantasie umgestaltet werden, sodass neue »Ereigniszusammenhänge entstehen, die ihrerseits wieder variierte oder neuartige Ereignisrepräsentationen ermöglichen.« (ebd.: 73). Das aisthetische Denken, wie Schäfer

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diese Form des Denkens bezeichnet, ist die Bedingung für die Variabilität des Denkens. Aus bereits verinnerlichten Handlungs- und Ereignismustern werden bildhafte Vorstellungen, die wiederum als Phantasie (Rollenspiele, Gestalten etc.) losgelöst von der konkreten Situation Variationen und Umdeutungen der Wirklichkeit möglich machen. Mit dem Eintritt in die Sprache schließlich erweitert das narrative Denken die Veränderungsmöglichkeiten szenisch bildhafter Gedanken (vgl. ebd.), wenn diese nunmehr sprachlich durchdrungen werden. Szenische und bildhafte Muster verändern sich zu narrativen Geschichten, die wiederum andere Geschichten hervorbringen (vgl. ebd.: 73). Mit dem theoretischen Denken schließlich, das vor allem in der Schulzeit in den Vordergrund rückt, werden die entwickelten Muster aus dem »szenisch-situativen Zusammenhang« (ebd.: 74) herausgenommen und in einer »Welt des abstrakten Geistes« (ebd.) gedeutet, verändert und neu konstruiert. Die Repräsentation von Welt wird auf diese Weise stufenförmig differenziert und vielfältige, erfahrungsunabhängige Interpretationen von Welt werden möglich. Folgt man Schäfer, kann nun anhand dieser vier Formen des Denkens (konkret, aisthetisch, narrativ und theoretisch) verdeutlich werden, wie über die zunehmende differenzierte Wahrnehmung von Erfahrungen und entsprechende Bedeutungszuweisungen das Kind sich ein inneres Bild von sich selbst und der Welt macht. Wahrnehmen ist demnach mehr als die Verwendung der Sinne. Es ist eine verkörperte, sinnliche wie emotionale Form des handelnden Denkens, auf dessen Grundlage Innen- und Außendifferenzierungen, Selbst- und Weltverhältnisse entwickelt werden. Im Laufe der menschlichen Entwicklung entsteht so eine »Matrix an Grundstrukturierungen des individuellen Geistes« (ebd.: 130), die maßgeblich die weiteren Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen sowohl strukturieren als auch begrenzt. Aufgrund dieser besonderen Bedeutung frühkindlicher Wahrnehmungserfahrungen rollt Schäfer die Entwicklung und Veränderung des menschlichen Denkens von ihren kindlichen Anfängen her auf. Hier findet sich auch der entscheidende theoretische Bezugspunkt Schäfers für die Frage des (Neu-)Anfangs. Mit der Geburt des Kindes beginnt gleichsam der (Neu-)Anfang von Lernen und Bildung. Mit dem Begriff

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

des kindlichen Anfängergeistes fasst Schäfer schließlich die Bedingungen und Voraussetzungen frühkindlicher Bildung programmatisch zusammen (vgl. ebd.:115f.). Das Neugeborene ist ein »Neuling«, ein »Novize« in dieser Welt, schreibt Schäfer (ebd.: 130). Es muss von Anfang an im Geiste des Anfängers aus Erfahrungen alles neu lernen und sich neue Lebensbereiche erschließen.

6.2.3

Lernen im Geiste des (Neu-)Anfängers

Was ist aber genau mit Geist gemeint, wenn Schäfer vom kindlichen Anfängergeist spricht? In der kybernetischen Perspektive, hier vor allem angelehnt an Gregory Bateson, ist mit Geist der Gesamtzusammenhang des Rückkopplungsprozesses von der Wahrnehmung über die Informationsverarbeitung bis hin zur Anpassung beteiligter Strukturen gemeint. Als ein organisierter und organisierender Informationszusammenhang verhält sich der Geist wie ein »Wahrnehmungsorgan« (Bateson 1985: 407), innerhalb dessen lebendige Organismen im kommunikativen Austausch von Informationen ihren eigenen, inneren Zusammenhang immer wieder herstellen, sich verändern und so ihr Überleben sichern. Der kommunikative Austausch beruht auf der Wahrnehmung von grundlegenden Unterschieden, die überhaupt eine bedeutsame Relevanz innerhalb eines Kommunikationszusammenhangs ausmachen. Mit Bateson heißt dies: »Unterschied, der einen Unterschied ausmacht.« (ebd.: 582) Entlang von sechs Kriterien nimmt Bateson schließlich folgende Definition von Geist vor: »1. Ein Geist ist ein Aggregat von zusammenwirkenden Teilen oder Komponenten. 2. Die Wechselwirkung zwischen Teilen des Geistes wird durch Unterschiede ausgelöst, und ein Unterschied ist ein nichtsubstanzielles Phänomen, das nicht in Raum oder Zeit lokalisierst ist; [...] 3. Der geistige Proze[ss] braucht kollaterale Energie. 4. Der geistige Proze[ss] verlangt zirkuläre (oder doch komplexe) Determinationsketten. 5. Im geistigen Proze[ss] müssen die Auswirkungen von Unterschieden als

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Umwandlungen (d.h. codierte Versionen) von vorausgegangenen Ereignissen aufgefa[ss]t werden. Die Regeln dieser Transformation müssen vergleichsweise beständig sein (d.h. beständiger als der Inhalt), aber sie unterliegen selbst der Transformation. 6. Die Beschreibung und Klassifizierung dieser Transformationsprozesse enthüllen eine Hierarchie von logischen Typen, die den Phänomenen immanent sind.« (Bateson 1987: 113; Hervorh. i.O.) Die von Bateson gewählten sechs Kriterien kennzeichnen ein hoch formalistisches Geistmodell, das sich in grundlegender Weise von philosophischen bzw. bildungstheoretischen Entwürfen unterscheidet. Folgt man diesem Modell, dann kommt Geist allen lebendigen wie nicht-lebendigen Systemen und Subsystemen zu, die durch informatorische Prozesse organisiert und aufrechterhalten werden. Das heißt, bereits einfachste Prozesse des Informationsaustauschs, wie etwa in einem Computer als binäre Codierung (0 oder 1), wären demnach als geistige Prozesse zu beschreiben. Im Prinzip müssten dann alle Regulationstätigkeiten, innerhalb derer ein Informationsaustausch stattfindet, als Ausdruck geistiger Prozesse verstanden werden. Diesbezüglich lassen sich zwei Aspekte geistiger Prozesse hervorheben: Geist ist nicht auf einen menschlichen, individuellen Körper beschränkt, sondern überschreitet diesen in kommunikationstheoretischer Hinsicht dahingehend, dass er ein Teil eines interagierenden Informationssystems von kognitiven, soziokulturellen und ökologischen Phänomenen ist. Somit ist Geist auch kein gegenständliches Phänomen, sondern vielmehr ein Organisationsprinzip des Lebendigen, das angestoßen von Informationen – um bei einem vertrauten Bild von Bateson zu bleiben – wie ein Tanz einzelne Teile zu einem Muster verbindet (vgl. Bateson 1993: 281 zit. n. Schäfer 2014b: 321). Die leitende Funktion für das Muster, das verbindet, ist die Ästhetik bzw. Aisthetik. Ähnlich wie Bateson versteht auch Schäfer Aisthetik als sinnliches Denkwerkzeug und Ausdrucksmöglichkeit von Kindern, um die Welt als ein Zusammenhängendes wahrzunehmen und zu verstehen. Kinder lernen von Anfang an ganzheitlich in nicht isolierten oder zergliederten Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen. Kinder müssen

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

die für sie relevanten Muster von Anfang an in kreativen Prozessen des Ausprobierens, Experimentierens und Spielens selbst aufbauen. Ausgehend von einem solchen Geistmodell lässt sich nun konkreter bestimmen, was Lernen im Sinne des Anfängergeistes meint. Das Lernen im Geiste des Anfängers sind zuallererst konkrete, aisthetische Bildungserfahrungen, die körperlich, sinnlich, emotional wahrgenommen, verarbeitet und im weiteren Verlauf als szenisches und emotional markiertes Handlungsmuster gespeichert werden. Dem Lernen im Geiste des Anfängers ist also eine verkörperte, präreflexive Lern- bzw. Bildungstheorie zugrunde gelegt, mit der man beschreiben kann, wie durch ein nicht bewusstes Lernen bereits in der frühesten Kindheit Handlungs- und Ereignismuster auf der Grundlage basaler, aisthetischer Erfahrungen aufgebaut werden. Entgegen eines traditionellen Bildungsverständnisses, das das mündige, kritische, reflexive Subjekt ins Zentrum setzt, schlägt Schäfer eine aisthetische wie »monistische, aber nicht materiellreduktionistische« (ebd.: 319) Perspektivierung von Bildung in der frühen Kindheit vor. Als sich selbst organisierende Einheit reagiert und selektiert der »Körper-Geist-Organismus« (ebd.: 324) – also das Kind – entsprechend seiner Handlungsmöglichkeiten auf die Einflüsse seiner Umwelt, selektiert sie und bringt so Muster hervor, die für die Aufrechterhaltung seiner Organisationsweise trotz struktureller Veränderungen notwendig sind. Schäfers häufig zitierte These, dass Bildung mit der Geburt beginnt, bringt genau diese ontologische Gleichzeitigkeit von Wahrnehmen, Handeln und (Über-)Leben zum Ausdruck. Zwischen Leben und Kognition besteht kein Unterschied. Denn das Erlernen und Ausbilden einer differenzierten Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit ist nicht nur ein lebenslanger Prozess, sondern der Prozess des (Über-)Lebens selbst. Die wichtigste Botschaft, die aus dem aisthetischen Bildungsverständnis von Schäfer gezogen werden kann, lautet daher: »Lernen wir besser wahrnehmen.« (Schäfer 2014a: 157)

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

6.2.4

Kritik am Selbstbildungsansatz

Ausgehend von solch einem umfassenden, mit dem Leben an sich gleichgesetzten, Lern- und Bildungsverständnis lösen sich scheinbar eine Reihe von pädagogischen Grundproblemen. So wird etwa die Frage nach (Neu-)Anfängen der Bildung biologisch mit dem Beginn des Lebens beantwortet. Auch die Feststellung, dass Bildung ein selbstgesteuerter Prozess sei, ist aus der Sicht des Selbstbildungsansatzes eine Tautologie. Denn es gibt per Definition überhaupt nicht die Möglichkeit einer fremdgesteuerten Bildung, wenn Bildung eben die ontogenetische Ausdifferenzierung und Anpassung des Lebens an ein spezifisches Milieu meint. In diesem Sinne ist Autonomie keine bloße pädagogische Zielformulierung, sondern ein biologischer Tatbestand, der mit dem Beginn des Lebens wie ein automatischer Prozess in Gang gesetzt wird. Eine mögliche kritische Antwort auf solch eine verkürzte Perspektive auf (Neu-)Anfänge des Lernens formuliert Käte Meyer-Drawe: »Wenn Lernen nur noch als Informationsverarbeitung, als Programmänderung im Gehirn betrachtet wird, welches dergestalt auf sich selbst reagiert, dann ist das Anfangen wie ein Anschalten.« (Meyer-Drawe 2005: 26) Auch wenn Schäfer scheinbar an überlieferte Motive subjektorientierter Bildungsmodelle anschließt, wenn er etwa immer wieder die Eigenständigkeit des Kindes innerhalb von Bildungsprozessen betont, sind die sich hier vollziehenden begründungstheoretischen Verschiebungen einschneidend. Um diese Verschiebungen deutlich zu machen, sei hier an die Traditionslinie des Humboldt‘schen Bildungsbegriffs erinnert, auf den Schäfer immer wieder rekurriert. Bildung im Sinne des (neu-)humanistischen Ideals hat den Anspruch, den »Geist der Menschheit« (Humboldt 1797/2017: 71) als letzten Sinn und allgemeinsten Maßstab im Inneren eines jeden Einzelnen zu verwirklichen. »Der größeste Mensch ist daher der, welcher den Begriff der Menschheit in der höchsten Stärke, und in der größesten Ausdehnung darstellt«, heißt es bei Wilhelm von Humboldt (ebd.). Es sind die inneren, eigentlich wahren Zwecke im Menschen, die geistigen Lebenskräfte, die er in Auseinan-

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

dersetzung mit und in Beziehung zur Welt harmonisch zu verwirklichen hat. Die Welt ist kein neuronales Signal in den Köpfen der Menschen, sondern sie begegnet als ein belangvoller Gegenstand, als ein Drittes, mit dem sich der Mensch verbindet, indem er »so viel Welt, als möglich zu ergreifen« (Humboldt 1793/2017: 6) versucht. Schäfer folgt dieser Tradition des Bildungsbegriffs nur scheinbar. Entgegen einer spekulativen Konturierung des Bildungsgeschehens entwirft er auf der Basis kybernetischer Ansätze ein Bildungsverständnis, das Selbstbildung nunmehr auf neurobiologischer Basis einem naturwissenschaftlichen Denken zugänglich zu machen versucht. In der Konsequenz heißt das, dass die erkenntnistheoretische Reflexion über Bedingungen der Möglichkeit von Bildung nunmehr objektivistisch verkürzt durch neurobiologische Erklärungsmodelle ersetzt wird. An die Stelle spekulativer Figuren tritt nun das naturwissenschaftliche Modell eines neurobiologischen Körper-Gehirns, das schließlich erlaubt, sämtliche menschlichen Phänomene auf Wahrnehmungs- und Denkprozesse zurückzuführen. Wenn, wie Schäfer nahelegt, die Art und Weise des menschlichen Daseins wesentlich von neurobiologischen Voraussetzungen abhängig ist, dann stellt sich gleichsam die Frage, welcher Status dem Gehirn als Schöpfer dieser Wirklichkeit zukommt. Ist das Gehirn selbst eine Konstruktion oder weist das Gehirn auf eine tiefere Realität hin? An vielen Stellen spricht Schäfer von Gehirnen, als handele es sich dabei um Subjekte, die lernen, erkennen, denken können, und die man unbedingt an Bildungsprozessen zu beteiligen habe. Das Gehirn steht scheinbar hier an jener spekulativen Stelle, die früher einem transzendentalen Subjekt zugewiesen wurde (vgl. Reichenbach 2014). Nun ist das Gehirn in dieser Argumentation nicht nur Schöpfer der Wirklichkeit, sondern zugleich die Wirklichkeit selbst. Das Gehirn muss als letzte wirkliche Wirklichkeit vorausgesetzt werden, will sich die (neuro-)konstruktivistische Theorie nicht selbst in einen infiniten Regress stürzen. Auf diese Weise wird jedoch die äußere Welt ausgeklammert, in dem sie in den Innenraum des Subjekts bzw. in das Gehirns verlagert wird. Wird damit nicht eine »undurchdringliche Mauer zwischen den Kindern und der belebten Wirklichkeit« (Weber 2016: 72) errichtet? »Die Welten, die

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Kinder konstruieren, haben keine Realität« (ebd.) außerhalb ihrer Gehirne. Die einsamen Bilder, die man im Kopf hat, kann man nicht teilen, bestenfalls »im Sinn einer adaptiven Kopplung« (Pongratz 2009: 57) abgleichen. Mit solch einer reduktionistischen Perspektive auf (Neu-)Anfänge des Lernens und der Bildung gehen auch wichtige pädagogische Dimensionen verloren. Der mit dem (Neu-)Anfang einhergehende Moment der Freiheit wird zu einer Frage der automatisierten Selbstregulation, der (Neu-)Anfang als geschichtliches Konzept wird zur Evolutionsgeschichte der Kognition und das handelnde Subjekt des Anfangenkönnens wird zu einem Körper-Gehirn. Gerade dadurch aber, dass der Bildungsbegriff seines normativen, geschichtlichen und anthropologischen Sinns entleert wird, werden Tür und Tor für eine ökonomische Neuinterpretation von Lernen und Bildung in der frühen Kindheit geöffnet. Über eine passive Vereinnahmung hinaus liefert der konstruktivistische Selbstbildungsansatz die biologischen, psychologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen dazu, um gesellschaftspolitische Strategien der Individualisierung, Flexibilisierung und De-Regulierung zu begründen und zu rechtfertigen (vgl. Haan/Rülcker 2009: 20). So kann der Selbstbildungsansatz dahingehend hinterfragt werden, ob dieser nicht ebenso wie der Ko-Konstruktionsansatz, um es mit Schäfers Worten zu formulieren, »auf zwei Hochzeiten gleichzeitig« (Schäfer 2005a: 6) tanzt. Hatte Schäfer zwar postmoderne Bildungsansätze als Instruktionsansätze kritisiert, die nur scheinbar die Offenheit und Vielfalt realisieren, die sie auf theoretischer Basis einfordern, so erkennt er dennoch nicht, dass der von ihm entworfene neuro-konstruktivistische Bildungsansatz selbst ganz auf der Höhe der Zeit ist. Weniger die Unterschiede, als die gemeinsam geteilten Ausgangspunkte von Selbstbildungs- und Ko-Konstruktionsansatz fallen so ins Auge. So kommentiert Schäfer: »Ein[e] Gesellschaft, die sich verändert, deren zukünftige Probleme heute in vielen Bereichen noch nicht abzuschätzen sind, braucht Menschen, die in der Lage sind, mit den Werkzeugen des Anfängergeistes ein Leben lang umzugehen.« (Schäfer 2014a: 131) Dieser lebenslange Anfängergeist koinzidiert mit

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

dem, was, wie bereits beim Ko-Konstruktionsansatz dargestellt wurde, als Schlüsselqualifikation einer politisch konstruierten Zukunft des (Neu-)Anfangs gefordert wird, um kreativ, selbstständig und eigenverantwortlich neue, unerwartete Aufgaben zu lösen und damit im globalisierten Wettbewerb Innovation und Produktivität auszuweisen.

6.3

Wie aus Neulingen Kinder werden: Eine kindheitssoziologische Perspektive

Einen dezidiert nicht-pädagogischen Entwurf von Kindern und Kindheiten bietet das Forschungsparadigma der sogenannten neuen soziologischen Kindheitsforschung (New Social Childhood Studies). Im Zuge der Kritik am Entwicklungs- und Sozialisationsparadigma profiliert sich in den 1990er Jahren insbesondere in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern eine neue, sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung heraus, die die gängige Auffassung von Kindheit als Entwicklungsalter bzw. Durchgangsstadium zum Erwachsenwerden problematisiert (vgl. Hengst/Zeiher 2005). Die bisherige Entwicklungsund Sozialisationsforschung wird als erwachsenzentriertes und paternalistisches Wissen kritisiert und abgelehnt, da dieses von einem adultistischen Standpunkt aus Kinder als sozial Werdende, aber nicht als sozial Seiende betrachtet hätte (vgl. Alanen 2005: 67). Diese kindheitssoziologische Sichtweise bildet insofern eine Kontrastfolie zu den bereits diskutierten Lern- und Bildungsansätzen, da sie erkenntnispolitisch diese als pädagogisch-anthropologische Vorannahme über das Wesen des Kindes ablehnt und stattdessen in normativer Enthaltsamkeit nach kontextuellen Gegenstandskonstitutionen von jeweiligen Kindern und Kindheiten fragt. Aus dieser Perspektive ließe sich der ko-konstruktivistische Ansatz nach Fthenakis einem ökonomisch finalisierten Bildungsansatz und Kindheitsverständnis zuordnen, während der Selbstbildungsansatz von Schäfer als »essentielle Hervorbringung kindlicher Selbstorganisation« (Stieve 2017: 100) kritisiert werden könnte.

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Über den (Neu-)Anfang im pädagogischen Denken

Entgegen einer pädagogischen Perspektive auf Kinder als noch zu werdende Menschen, sollen sie nunmehr auf einer Akteursebene als konstruktive und handlungsmächtige Subjekte ihrer Lebenswelten im Hier und Jetzt betrachtet werden (vgl. James/Prout 2015).6 Mittlerweile werden jedoch auch innerhalb der soziologischen Kindheitsforschung Stimmen stark, die das Bild eines per se handlungsmächtigen Kindes als eine vorsoziale bzw. essentialistische Zuschreibung kritisieren und stattdessen neuere, relationale Entwürfe von agency entwickeln (vgl. Eßer 2017).7 6

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Neben der akteursbezogenen Perspektive lassen sich makrosoziologisch orientierte Forschungsarbeiten innerhalb der soziologischen Kindheitsforschung ausmachen, die Kindheit als gesellschaftliches Strukturmerkmal (vgl. Qvortrup 2005) bzw. als kulturelles Muster im Kontext des Wohlfahrtstaates (vgl. Mierendorff 2010) untersuchen. In makrosoziologischen Untersuchungen rücken gesellschaftliche, wohlfahrtsstaatliche, sozial- und bildungspolitische Bedingungen und Regulationsweisen von Kindheit in den Blick, die danach fragen, welchen Status bzw. welche Position Kindheit in der Sozialstruktur der Gesellschaft einnimmt (vgl. Qvortrup 2005: 28). Unter der Prämisse relationaler Theorien und Methodologien, wie sie etwa in der Agency-Debatte geführt werden, wird eine strikte Gegenüberstellung von Handeln und Struktur fragwürdig, sodass diese Unterscheidung je nach Fragerichtung eher als forschungsstrategische Akzentsetzung denn als substanzielle Gegenüberstellungen verstanden wird. Eine Verschränkung von akteurs- und strukturbezogenen Zugängen findet sich etwa in macht- bzw. gouvernementalitätsanalytischen Forschungsansätzen wieder, die die »Ebene der mikropolitischen und fallbezogenen Durchführung von Verfahren und Programmen in situ mit den Ebenen ihrer diskursiven und politischen Konfigurierung« (Kelle 2013, S. 30) verknüpfen. Die hier versammelten Forschungsarbeiten fragen etwa am Beispiel der politischen Berichte zur Prävention von Risiken (vgl. Betz/Bischoff 2013), der Bildungsbeobachtung und -dokumentation (vgl. Koch/Nebe 2013) oder von bildungspolitischen Dokumenten (vgl. Kaščák/Pupala 2013) nach einer neuen Regierungsweise von Kindheiten und Kindern im Spannungsverhältnis zwischen Normierung, Normalisierung und Optimierung. Auf der Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie sowie von Ansätzen aus den Laboratory sowie Science und Technology Studies legt etwa Florian Eßer ein sozialontologisches Verständnis von agency vor, das, entgegen individualistischer Verkürzungen, agency von Kindern aus der Relationalität der sozialen Bezüge zur Welt erklärt, in die das Kind eingebunden ist (vgl. Eßer 2017). Schließlich läuft

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Wissenschaftstheoretisch knüpft die sozialwissenschaftliche Forschung an die bereits beschriebene sprach- und kulturtheoretische Wende in den Sozialwissenschaften an (Kap. 4). Schlüsselbegriffe und Konzepte der Kindheitsforschung, wie etwa Kindheit, Erwachsenenheit, Kultur, Struktur, Macht werden nicht apriorisch vorausgesetzt, sondern in ihren relationalen Bezügen als soziales Geflecht gefasst. Auf der Grundlage post-positivistischer, sozialkonstruktivistischer und dekonstruktivistischer Theorieansätze (vgl. Alanen 2005: 68f.) werden Begriffe, Konzepte, Programme, sowie soziale und institutionelle Kontexte von Kindern und Kindheiten nach ihren normativen und machtvollen Implikationen befragt und in »anti-ontologischer Haltung« (Kelle 2005: 96) als soziale Konstruktion (re-)interpretiert. In einer so verstandenen kulturanalytischen Forschung werden Kinder oder Erwachsene nicht als vorsoziale Tatsachen vorausgesetzt, sondern die Frage nach der kulturellen Praxis, wie Kinder und Erwachsene überhaupt gemacht sind, wird zum Referenzpunkt der Forschung (vgl. ebd.). Die mit dem Paradigma der soziologischen Kindheitsforschung einhergehenden methodologischen Prämissen eröffnen eine große Bandbreite an theoretischen, methodologischen wie empirischen Zugängen, die eine grundlagenorientierte wie machtkritische Sichtweise auf gegenwärtige Bedingungen von Kindheiten und Lebenswirklichkeiten von Kindern ermöglichen. Zu den bisher vernachlässigten und anthropologisch wichtigen Dimensionen der soziologischen Kindheitsforschung zählen etwa »Verletzlichkeit, Angewiesenheit und nicht-reziproke Sorge.« (Honig 2009: 50) Die hier angesprochenen Dimensionen können als Bezugspunkte für die Forschung vor allem der frühen, vorsprachlichen Phase der Kindheit gelten, die bisher von der soziologischen Kindheitsforschung ausgeklammert wurden (vgl.

Eßers Entwurf auf eine praxeologisch orientierte Dezentrierung hinaus, die die agency von Kindern »relational als eine Entität entwirft, die über Netzwerke und Assemblages verteilt ist und in diesen hervorgebracht wird.« (ebd.: 81) Damit wird das relationale und prozesshafte Verhältnis zwischen unterschiedlichen Akteuren zum Gegenstand der Analyse.

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ebd.). Entgegen einer Ontologisierung des Diskursiven, die das Kind als Konstruktion ausschließlich auf intertextuelle Weltbezüge festlegt, macht Michael-Sebastian Honig auf die »Differenz zwischen der Kindheitssemantik und der vorsprachlichen Leiblichkeit der menschlichen Neulinge« aufmerksam, die »als Grenze und Bezugspunkt immer mitzudenken« (Honig 1999: 181) sei. Aus einer phänomenologischen Perspektive interpretiert Claus Stieve diese Differenz als eine pädagogisch-anthropologische Grundbedingung kindlicher Anfänglichkeit (vgl. Stieve 2017: 104). So heißt es bei Stieve: »Das Kind geht weder in einer vorsozialen Essenz auf, noch kann es nur konstruiert werden. Mit ihm verbindet sich eine Diskontinuität des Handelns und Denkens.« (ebd.) Kindliche Anfänglichkeit setzt eine soziale Referenzialität des Kindes als (Neu-)Anfang ebenso voraus, wie eine Differenz und Andersheit zu bestehenden sozio-kulturellen Ordnungen. Die Frage, wie dieses Spannungsverhältnis kindheitssoziologisch beantwortet werden kann, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. In einem ersten Schritt wird dazu die von Honig vorgeschlagene gegenstandstheoretische Perspektivierung frühpädagogischer Forschung kritisch rekonstruiert. Ausgehend von den hier formulierten erkenntnistheoretischen wie methodologischen Prämissen wird dann genauer nach den kindheitstheoretischen Entwürfen im Spannungsverhältnis zwischen nicht konstruierten anthropologischen Grundtatsachen und kulturellen Konstruktionen (durch Semantiken, Praktiken etc.) von Kindern und Kindheiten gefragt.

6.3.1 Ein nicht-pädagogischer Blick auf die frühe Kindheit Honigs Forschungsarbeiten nehmen innerhalb des frühpädagogischen Forschungsfeldes einen besonderen Stellenwert ein, da diese einen wesentlichen Beitrag zu einer soziologischen Konturierung frühpädagogischer Forschungsarbeiten geleistet haben. Entgegen einer pädagogisierten Perspektive, die immer schon weiß, was das Kind ist, rückt eine soziologische Perspektivierung, wie sie Honig vorschlägt, die gegenstandtheoretische Frage in den Fokus, wie überhaupt Kinder als Gegenstand von Forschung und Praxis hervorgebracht werden. Das heißt,

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

nicht der pädagogische Blick, sondern das »Problem der Gegenstandskonstituierung« (Honig 2009) steht am Anfang kindheitssoziologischer Forschung. Zur Veranschaulichung dieser unterschiedlichen Perspektivierungen frühpädagogischer und kindheitssoziologischer Forschungszugänge kann an die »herzliche Kontroverse« zwischen Schäfer und Honig angeknüpft werden. Unter der Frage der »Beobachtung (früh-)pädagogischer Felder« (Honig 2010) rekapituliert Honig diese Kontroverse, indem er in kritischer Distanz zu Schäfers Forschungsansatz eine systemtheoretische wie praxeologische Perspektivierung der Erforschung frühpädagogischer Phänomene konturiert. Das von Schäfer entworfene Konzept einer »wahrnehmenden Beobachtung« (Schäfer 2010), das die spezifische Weise des kindlichen Denkens in den Mittelpunkt der Beobachtung und Beschreibung pädagogischer Phänomene rückt, dient ihm als exemplarischer Anknüpfungspunkt, um den Unterschied zwischen einem pädagogischen und einem genuin soziologischen Blick auf Kindheit bzw. Kinder zu beschreiben. Insbesondere scheint ihm dabei die doppelte Einbettung der wahrnehmenden Beobachtung als Professionalisierungsinstrument von Erziehern wie auch als Forschungsperspektive innerhalb einer ethnografischen Bildungsforschung problematisch zu sein. Als ein »Verfahren der Kindforschung in pädagogischer Absicht« (ebd.), setze Schäfers Konzept der wahrnehmenden Beobachtung das sich selbst bildende Kind immer schon voraus, das letztendlich als konstitutive Voraussetzung des Pädagogischen fungiere. Unter der pädagogischen Perspektivierung von Forschung nivelliere sich so die Differenz zwischen pädagogisch-normativen Kategorien des Gelingens und Kategorien einer forscherischen Beobachtung (vgl. ebd.: 97). Der blinde Fleck einer pädagogischen Beobachtungsperspektive bestehe demzufolge darin, dass sie nicht erkenne, dass das pädagogisch vorausgesetzte Kind erst durch die jeweilige Beobachtungskategorie als Gegenstand von Forschung gesetzt werde. Schäfers Konzept der wahrnehmenden Beobachtung, so kommentiert Honig, ließe sich mehr als eine »Empirisierung der Wirksamkeit von Pädagogik« statt der eigentlichen »Empirisierung pädagogischer Phänomene« (ebd.: 100) verstehen.

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Um die gegenstandstheoretische Problematik einer pädagogischen Perspektivierung zu veranschaulichen, stützt sich Honig auf ein systemtheoretisches Verständnis von Beobachtung, das es ihm erlaubt, systematisch zwischen unterschiedlichen Kontexten und Komplexitätsebenen der Beobachtung mit jeweiligen Gegenstandskonstituierungen zu differenzieren. Angelehnt an die Theorie operativ geschlossener Systeme wird Beobachtung als operativer Vollzug, als Tätigkeit der Konstitution von pädagogischen Wirklichkeiten begriffen. So kommentiert Honig: »Beobachtung sieht nichts, sondern macht sichtbar. Diese Leistung der Beobachtung beruht nicht auf der Introspektion des Beobachters, sondern auf seinen Unterscheidungen.« (ebd.: 98) Während eine pädagogische Praxis ihren Gegenstand als Beobachtung erster Ordnung als gegeben voraussetze, bediene sich Forschung einer Beobachtung zweiter Ordnung, indem sie das pädagogische (Beobachtungs-)Geschehen selbst beobachte, dessen Teil die beobachtenden Erzieher selbst sind. Eine Beobachtung zweiter Ordnung verbleibt nicht bei dem Was des beobachteten, sondern macht den Modus der Unterscheidung (Wie) sichtbar, was für die Beobachtung erster Ordnung unsichtbar bleibt (vgl. Luhmann 2005: 43f). Pointiert gesagt: Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht eine systematische Unterscheidung zwischen der Beobachtung eines Gegenstandes und den jeweiligen Bedingungen und Vorsetzungen, die den Gegenstand im Vollzug des Beobachtens erster Ordnung konstituieren. Entgegen einer Nivellierung von pädagogischer Praxis und Forschung plädiert Honig also für eine analytische Unterscheidung von Kontexten und Ebenen der Beobachtung, die er schließlich methodologisch als Beobachtungsperspektive aus der »Position des Dritten« (Honig 2010: 98) bezeichnet. Solch eine Forschungsperspektive untersucht frühpädagogische Phänomene als ein »vollzugslogisch organisiertes Geschehen« (ebd.) in nicht-pädagogischer Einstellung. Eine »De-Zentrierung des pädagogisch engagierten Blicks« (ebd.) ermögliche sowohl einen Zugang zu »kollektiven Imaginationen der Kindheit« (ebd.), als auch zu der »Eigenlogik der Kinderkultur« (ebd.), die als blinde Flecke einer Beobachtung erster Ordnung nicht in den Blick gelangen.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Damit markiert Honig ein Verständnis von Beobachtung pädagogischer Phänomene, das weder die individuelle Erfahrung der Beteiligten miteinschließt noch perzeptive Aspekte von Beobachtung berücksichtigt. Zu dem Kind, kommentiert Honig, gibt es keinen empathischen, nachvollziehenden oder verstehenden Zugang, da es sich vor allem um ein Kodierungsproblem handele (vgl. ebd.). Wenn überhaupt, bestehen zwischen dem Kind als psycho-physischem System und dem sozialen System der Erziehung kommunikative Anschlüsse. Die Kindheitssemantik hat in diesem Sinne keine Referenz außerhalb der semantischen Performanz zugunsten derjenigen, die diese Semantik entwerfen, um das eigene Denken und die Kommunikation zu strukturieren und aufrechtzuerhalten (vgl. Honig 2019: 98).

6.3.2 Relationale Theorien des Kindes und der Kindheit Das Interesse gilt somit den Bedingungen und Praktiken, die den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern überhaupt bedeutungsvoll hervorbringen und institutionalisieren. Anders formuliert, interessiert sich die Kindheitsforschung für die historischen, sozialen wie institutionellen Bedingungen der Möglichkeiten, unter denen Kinder überhaupt als Kinder wahrnehmbar und beobachtbar werden (vgl. Honig 2009: 26). Honig zielt argumentativ auf die Überwindung einer pädagogischen Anthropologie des Kindes, die seit der Entstehung des modernen Kindheitsverständnisses das Kind als Erziehungskindheit entwerfe (vgl. Honig 1999: 85). Als Referenztheorien stützt sich Honig hier insbesondere auf relationale Methodologien. Mit der Verschiebung der Perspektive von der Innenseite des pädagogischen Geschehens hin zu einer äußerlichen Beschreibung der sozialen Bedingungen und Mechanismen der Konstruktion von Kindheit, wird eine konsequent prozesshafte Betrachtungsweise frühpädagogischer Wirklichkeiten eingenommen. Das Konzept der generationalen Ordnung, wie es von Leena Alanen (2005) in Anlehnung an den wissenssoziologischen Generationsbegriff nach Karl Mannheim sowie in machtkritischer Anlehnung an das Gen-

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derkonzept entworfen wird, markiert für Honig dabei den zentralen Leitbegriff einer relationalen Kindheitsforschung (vgl. Honig 1999: 12). Das Konzept der generationalen Ordnungen erlaubt es, den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen als in »generationsbildenden, ›generationing‹-Praxen« (Alanen 2005: 79) hergestellten Kategorien innerhalb gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in den Blick zu nehmen. Unterschiede zwischen den Generationen beschreiben demnach keine alters- oder entwicklungsbedingten Dichotomien, sondern gesellschaftliche Differenzverhältnisse mit ordnungsbildendem Charakter. Als relationale Differenzbeziehung beschreiben die Pole Kind und Erwachsener jeweils das konstitutive Gegenteil des Anderen. »Kind ist, wer nicht erwachsen ist.« (Honig 1999: 173) Gleichzeitig gilt, dass die Veränderung der einen Kategorie notwendigerweise mit der Veränderung der anderen Kategorie einhergeht. Das Konzept der generationalen Ordnung bzw. des generationalen Ordnens schärft den Blick für die soziale Praxis der Positionierung von Kindern und Erwachsenen in verschiedenen Lebensbereichen und institutionellen Settings. Es setzt nicht schon eine spezifisch inhaltliche Bestimmung von Kindern und Erwachsenen voraus, sondern fragt danach, wie in jeweiligen Ordnungen und Machtverhältnissen spezifische Kindheiten konstruiert werden. Generationsbeziehungen können demzufolge nicht als vorsoziale Tatbestände vorausgesetzt werden, sondern sind selbst Ausgangspunkt und Produkt gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel. Das Konzept sensibilisiert für die Frage, wie Kindheitskonstruktion mit der Organisation und Regulation gesellschaftlicher Ordnungsverhältnisse wie etwa in Institutionen der Erziehung, in der Familie und der Politik einhergeht und mit Macht- und Dominanzverhältnissen verschränkt ist. Wie sehr auch das Konzept der generationalen Ordnung zur erkenntniskritischen und methodologischen Konturierung der soziologischen Kindheitsforschung beigetragen hat, werden hier auch die mit der relationalen wie machtkritischen Perspektivierung einhergehenden Forschungsgrenzen deutlich erkennbar, wie sie im Folgenden abschließend diskutiert werden.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

6.3.3 Kritik an der soziologischen Kindheitsforschung Das Konzept der generationalen Ordnung ist eine erkenntniskritische Methodologie, die die Möglichkeit bietet, nach jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Bedingungen von Kindheiten zu fragen. Als kritische Antwort auf pädagogisch-anthropologische Essentialisierungen epistemologisiert und empirisiert die Kindhheitssoziologie die Frage nach Kindern bzw. der Kindheit. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von anthropologischen Voraussetzungen hin zu kontingenten Möglichkeitsbedingungen der Konstruktion lässt sich als eine epistemologische Perspektivierung von Kindheit verstehen. Eine solche Perspektivierung verschiebt die ontologische Reflexion über die Faktizität der Kindheit (Gebürtigkeit, Verletzbarkeit, In-Beziehung-sein) zugunsten der Frage nach ihren kontingenten Beobachtungs- und Beschreibungsbedingungen. Die damit einhergehende erkenntniskritische (Selbst-) Reflexion über Bedingungen und Voraussetzungen von Theorie und Forschung leistet sicher einen wichtigen Beitrag, um für machtvolle und wirklichkeitskonstituierende Effekte wissenschaftlicher Praxis zu sensibilisieren. Und dennoch stellt sich die Frage, ob die soziologische Kindheitsforschung nicht zu voreilig das Kind mit dem Bade ausschüttet. Mit ihrer erkenntnis- und machtkritischen Methodologie läuft sie Gefahr, ein hermetisches Denksystem an Begriffen, Konzepten und Sichtweisen zu etablieren, das die von ihr behandelten Problematiken voreingenommen in die Dinge hineininterpretiert, die sie vorgibt nachträglich zu analysieren. Dazu zählt unter anderen die Annahme, die Erziehungskindheit wäre ein einheitlich geteiltes und nicht hinterfragtes Kindheitsbild in der Pädagogik. Ganz im Gegenteil bildet die Einsicht in die Historizität und Gesellschaftlichkeit von Kindheitsbildern den traditionellen Bezugspunkt der pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung (vgl. Winkler 2006: 95f.). So ist beispielsweise das Bild eines aktiven und handlungsmächtigen Kindes, das als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Vereinnahmungstendenzen eingebracht wird, keine Entdeckung der soziologischen Kindheitsforschung, son-

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dern zählt zu den zentralen Wissensbeständen der Pädagogik seit ihrer neuzeitlichen Konstituierung. Die jüngere soziologische Kindheitsforschung bezieht sich paradoxerweise auf dieses (reform-)pädagogische Bild einer eigenständigen Kindheit, ohne dieses aber entsprechend auszuweisen und zu kontextualisieren. Ebenso ist auch die konstruktivistische Kritik an naturalistischen wie teleologischen Entwürfen von Bildung, Erziehung und Entwicklung keineswegs an der erziehungswissenschaftlichen Theorie vorbeigegangen. Ganz im Gegenteil konnte sich in den vergangenen Jahrzenten im bundesdeutschen Kontext ein vielfältiger und erkenntniskritischer Forschungsbereich der Pädagogischen Anthropologie etablieren, der gar nicht zur Beschreibung der soziologischen Kindheitsforschung als naturalistischer, essenzialistischer oder ontologisierender Vereinnahmung des Kindes passen will. Nach Gerald Blaschke-Nacak, Ursula Stenger und Jörg Zirfas (2018) bezieht sich eine »Pädagogische Anthropologie der Kinder« auf die »Fülle von Ambivalenzen und Widersprüchen« sowie auf die »historische und kulturelle Vielgestaltigkeit, die es unmöglich macht, von ›dem‹ Kind oder ›der‹ Kindheit zu sprechen.« (Blaschke-Nacak/Stenger/Zirfas 2018: 11) Nicht ohne Grund gilt die doppelte Historizität, »die sich durch die Geschichtlichkeit und Kulturalität der Perspektiven der anthropologischen Forscher und durch den geschichtlichen und kulturellen Charakter der Inhalte und Gegenstände der Forschungen ergeben« (Wulf 2009: 9) als eine der methodologischen Grundprämissen der pädagogischen Anthropologie. Pädagogische Anthropologie ist keineswegs blind gegenüber der Kontingenz und Vielschichtigkeit menschlicher Existenz. Gleichwohl ist der Konstruktivismus nur eine mögliche Variante, um diese vielschichtige Existenzweise des Menschen zu beleuchten. Die soziologische Kindheitsforschung berücksichtigt diese Vielfältigkeit pädagogisch-anthropologischer Fragestellungen und Zugangsweisen in ihren Analysen kaum. Die erkenntnistheoretische Sackgasse, in die sie sich dabei manövriert, besteht darin, dass sie versucht, das pädagogisch-anthropologische Bild des Kindes im Horizont kategorialer Ausschlüsse zu überwinden. Zwar reflektiert die soziologische Kindheitsforschung, dass die anthropologische Tatsache des Kindes

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

nicht gänzlich abgeschritten werden kann. Letztendlich hebt sie aber die anthropologische Differenz »zwischen der Kindheitssemantik und der vorsprachlichen Leiblichkeit der menschlichen Neulinge« (Honig 1999: 181) in einer Ontologisierung der Beobachtung auf. Eine Antwort auf die Frage, wie die Differenz der kindlichen Anfänglichkeit zwischen sozialer Konstruktion und vorsprachlicher Leiblichkeit zu denken ist, bleibt aus. Ob nun in machtkritischer oder systemtheoretischer Perspektive, die soziologische Kindheitsforschung fragt in ausschließlicher Weise, wie Kindheitsmuster bzw. -semantiken als (Wissens-)Matrix fungieren, innerhalb derer psycho-physische Neulinge (vgl. Honig 2019) als Kinder in unterschiedlichen Kontexten beobachtbar gemacht und bedeutungsvoll konstruiert werden. So liefert die soziologische Kindheitsforschung kein überzeugendes Instrumentarium, mit dem sich Kindsein – jenseits der Differenz zu Erwachsen – spezifizieren ließe. Auf welcher Grundlage kann beispielsweise begründet von der frühen Kindheit im Unterschied zur mittleren Kindheit gesprochen werden? Überhaupt bleiben im Konzept der generationalen Ordnung vielfältige Ausprägungen von Kind-Erwachsenen-Beziehungen, wie etwa die zwischen Eltern und Kindern, außen vor. Wendet man schließlich die erkenntniskritischen Werkzeuge der soziologischen Kindheitsforschung auf ihre zentrale Grundprämisse von Kindheit als Konstruktion selbst an, kann gezeigt werden, wie sehr die konstruktivistische Sichtweise entgegen den erkenntniskritischen Erwartungen in eine Positivierung des Kindes als Gemachtes und Hergestelltes umschlägt. Die Möglichkeit der Differenz kindlicher Anfänglichkeit zwischen sozialer Referenzialität und (vor-)sozialer Fremdheit wird in kindheitssoziologischer Perspektive nivelliert. Kindheit ist demnach nicht mehr und nicht weniger als Effekt und Ergebnis kontingenter Beobachtungsperspektiven. So wird auch die vielfach kritisierte Ontologisierung des Kindes nicht aufgehoben, sondern lediglich auf die Ebene der Beobachtung verschoben. Was das Neue an den Neulingen ist, welche Möglichkeiten des (Neu-)Anfangs sich mit Kindern als Neulingen ergeben, spielt in einer kindheitssoziologischen Perspektive keine Rolle.

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6.4

Fazit

Am Beispiel des Topos des (Neu-)Anfangs wurden im vorangegangenen Kapitel aktuelle Theorieansätze in der Pädagogik der frühen Kindheit kritisch diskutiert. Auf einer meta-theoretischen Ebene lassen sich die vorgestellten Ansätze zunächst über eine Kritik gegenüber traditionellen Konzepten von Wirklichkeit, Wahrheit und Subjekt charakterisieren. Sie sind der Tendenz nach anti-realistisch, da sie das Konzept einer Realität jenseits von Konstruktionen ablehnen. Sie sind anti-essentialistisch, da sie den Begriff der Wahrheit ablehnen. Schließlich sind sie posthumanistisch, da sie die Vorstellung eines voluntaristischen Subjekts kritisieren und kybernetische bzw. relationale Gegenmodelle entwerfen. Über die unterschiedlichen Akzentsetzungen hinaus lassen sich dort Konvergenzpunkte ausmachen, wo in allen drei Theorieentwürfen ein posthumanes Kindheitsbild – das Kind als ko-konstruierendes Humankapital, das Kind als Gehirn-Körper, das Kind als soziale Konstruktion – deutlich an Kontur gewinnt. Hinter den jeweiligen Konzepten des (Neu-)Anfang steht gleichsam eine politische Epistemologie. Ob nun unter dem Begriff des Anfangs in der Postmoderne (Fthenakis), des kindlichen Anfängergeistes (Schäfer) oder des psycho-physischen Neulings (Honig) – immer geht es um die freisetzende Überwindung von normativen, machtvollen und begrenzenden Kindheitsbildern. Im Pathos des (Neu-)Anfangs streiten die Ansätze scheinbar für radikal neue Sichtweisen, Perspektiven und Denkmodelle, um eine neue Verhältnisbestimmung von früher Kindheit und Pädagogik unter der Überschrift von Differenz, Kontingenz, Selbstbildung und Ko-Konstruktion vorzunehmen. Die Kehrseite dieser Befreiungssemantik ist jedoch der Einschluss des Kindes in Erkenntnisblasen von Konstruktionen, Diskursen und Semantiken. So ließe sich argumentieren, dass auch in aktuellen Kindheitssemantiken die »Dialektik der Postmoderne am Werk [ist]. Die Entobjektivierung, formuliert mit emanzipativen Absichten, verwandelt sich in eine Entlegitimierung des menschlichen Wissens und in einen Rückgriff auf ein transzendentes Fundament.« (Ferraris 2014: 26) Worin besteht dieses Fundament?

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Während auf die Kategorie des (Neu-)Anfangs im ko-konstruktivistischen Ansatz explizit als steuerungspolitisches Instrument zur Erreichung bildungspolitischer wie ökonomischer Zielvorgaben im Kontext der Postmoderne zurückgegriffen wird, ist die enge Verzahnung von postmodernen Argumenten und ökonomischen Motiven im Selbstbildungsansatz und im kindheitssoziologischen Ansatz nicht direkt gegeben. Hier ist vielmehr von einer unterschwelligen Koinzidenz zwischen gegenwärtigen Konstellationen einer ästhetischen bzw. wissensbasierten Ökonomie (Kap. 2) und der jeweiligen theoretischen Bezugnahmen auf die Kategorie des (Neu-)Anfangs auszugehen. Die Forderung nach Kompetenzen im Umgang mit Kontingenz, Unbestimmtheit sowie einem selbstgesteuerten Lernen ist genau das, was bereits von der OECD breitenwirksam eingefordert und durchgesetzt wird. Im Arrangement der Möglichkeiten, in dem die De-Regulation, Kontingenz und Individualisierung selbst zu einer Regulationsstrategie werden, mit der ein lebenslanges Lernen im Geiste des Anfängers gefordert wird, verliert die Forderung nach (Neu-)Anfängen ihr kritisches Potenzial. Demzufolge macht die Rekonstruktion gleichsam darauf aufmerksam, wie sehr die Distanz zwischen Kritik und ihrem Gegenstand verschwindet. Um diesen problematischen Sachverhalt genauer zu fassen, kann auf eine wichtige Diagnose im Kontext der Debatten um einen Neuen Realismus verwiesen werden. Wie Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann in ihrer Debatte um den Neuen Realismus berechtigterweise anmerken, »mehren sich die Anzeichen, dass sich die [(De-)Konstruktion] von sprachlichen und sozialen Zuschreibungen immer weiter von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt und in ihr Gegenteil verkehrt hat.« (Gronemeyer/Stegemann 2017: 10) So hat die (De-)Konstruktion »immer öfter den Effekt, dass angesichts einer zersplitterten Realität nicht mehr zu erkennen ist, wer tatsächlich in ihr profitiert.« (ebd.) In diesem Sinn ist Ludwig A. Pongratz zuzustimmen, wenn er schlussfolgert, dass die (de-)konstruktivistische Pädagogik »tatsächlich ›auf der Höhe der Zeit‹« steht, »ohne sie jedoch zu transzendieren.« (Pongratz 1978: 257) Was wird mit dem »kritischen Geist«, kann mit Bruno Latour weiter gefragt werden, wenn das Fehlen eines Grundes »gegen die Dinge ge-

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richtet wird, die uns teuer sind?« (Latour 2007: 12) Latour plädiert für eine Arbeit an deskriptiven Instrumenten, die nicht mehr versuchen aufzudecken, zu entlarven und zu dekonstruieren, sondern »zu schützen und zu pflegen.« (ebd.: 22) Gefragt wird also nach einem neuen begrifflichen Framework, das jenseits von Faktizitätsunterstellungen und (de-)konstruktivistischen Relativierungen pädagogische Grundbegriffe mit ihrer »Aura, ihrer Krone, ihrem Assoziationsgewebe zu verbinden« (ebd.: 35) versucht. In diesem Sinne bleibt auch eine Pädagogik der frühen Kindheit nicht von der Suche nach neuen Begriffen von Wirklichkeit, Wahrheit, von Normativität und Ethik unberührt. Im Kern sind hier gegenstandsund begründungstheoretische Desiderate einer Pädagogik der frühen Kindheit angesprochen. Wozu und zu welchem Zweck soll in der frühen Kindheit erzogen, gelernt und gebildet werden? Wie lässt sich eine Pädagogik der frühen Kindheit begründen und legitimieren? Neben dem bereits problematisierten Verschwinden des kritischen Potenzials theoretischer Entwürfe des (Neu-)Anfangs wird ein weiteres gegenstandstheoretisches Desiderat erkennbar. Bei genauer Betrachtung muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es sich bei den diskutierten Ansätzen um keine pädagogischen im engeren Sinne handelt. Kognitionswissenschaften, Humankapitaltheorie sowie Kindheitssoziologie leisten zwar pädagogisch-programmatische sowie gegenstandstheoretische Beiträge und entwerfen damit bestimmte Zugänge zu pädagogischen Phänomenen wie Kindheit, Lernen und Bildung, aber eine allgemein bildungs- und erziehungstheoretische Konturierung der Pädagogik der frühen Kindheit stellt weiterhin ein Desiderat in Theorie und Forschung dar (vgl. Stieve 2015). All das unterstreicht die Notwendigkeit grundlagentheoretischer Arbeiten, die eine neue Analyse und Interpretation der erkenntnistheoretischen, historischen wie normativen Voraussetzungen einer Pädagogik der frühen Kindheit zum Gegenstand haben. Das abschließende Kapitel diskutiert daher die theoretische Möglichkeit einer kritischen Verhältnisbestimmung epistemologischer und ontologischer Reflexionen für eine Pädagogik der frühen Kindheit. Am Beispiel der pädagogisch-anthropologischen Basiskategorie der Sorge (vgl.

6. Der (Neu-)Anfang in der Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit

Bilgi/Stenger 2021), und hier konkret am Beispiel der frühpädagogischen Differenzfigur von kultureller Kindheitssemantik und der vorsprachlichen Leiblichkeit des Kindes (vgl. Honig 1999), sollen im abschließenden Ausblick Bedingungen und Voraussetzungen für eine begründungstheoretische (Neu-)Konturierung einer Pädagogik der frühen Kindheit diskutiert und Herausforderungen für zukünftige Forschung skizziert werden.

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7. Ausblick

Vergegenwärtigt man sich den historischen Ausgangspunkt unserer Überlegungen zum (Neu-)Anfang als begründungstheoretischer Denkfigur (Kap. 1), dann ist Anliegen des pädagogischen Denkens gleichsam die Suche nach dem eigenen Grund und der eigenen Begründung, also jenem historischen, systematischen und normativen Sinnhorizont, in dem verständlich werden kann, warum und wozu Bildung und Erziehung sinnvoll sind. Dieser begründungstheoretische Zusammenhang – seine historischen Hintergründe, Transformationen sowie seine aktuellen Voraussetzungen – war Gegenstand der vorausgegangen Analyse. Abschließend lassen sich die zentralen Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: Am Beispiel historischer Konstellationen des Ursprungsund Anfangsdenkens eröffnet sich ein Erinnerungsraum kulturellnormativer Überlieferungen, der es erlaubt, die Gegenwart in ihrem So-Geworden-Sein verständlich zu machen und auf die Kontingenz dominanter Diskurse hinzuweisen. Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Selbstvergewisserung kann überhaupt erst die Diffundierung pädagogischer Semantiken in andere gesellschaftliche Bereiche, wie etwa der Ökonomie und Politik, nachvollzogen und kritisch hinterfragt werden. So wird erkennbar (Kap. 2), wie sehr die Denkfigur des (Neu-)Anfangs sich im Kontext einer ästhetischen Ökonomie normalisiert und auf gesellschaftspolitischer Ebene über das Konzept des lebenslangen Lernens institutionalisiert wird. Mit der ökonomischen Vereinnahmung ehemals frühpädagogischer Motive (Spiel, Kreativität, Individualität, Freiheit), werden im Diskurszu-

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sammenhang um frühkindliche Bildung (Innovation und Prävention) neue steuerungspolitische Strategien erkennbar (Kap. 3), die auf die Standardisierung des Nicht-Standardisierbaren setzen, das heißt, die Ungewissheit und Kontingenz versuchen zu standardisieren. Parallel zu der gegenwartsanalytischen Konturierung des (Neu-)Anfangs im Kontext einer ästhetischen Ökonomie konnte auch am Beispiel der Theorietransformationen seit den 1970er Jahren im Kontext der Debatten um die Postmoderne gezeigt werden (Kap. 4), wie sehr die Forderung nach einer permanenten Erneuerung die Theorie selbst betrifft. Am Beispiel der zahlreichen turns, wie sie sich in den Sozialund Kulturwissenschaften in den vergangenen Jahren als konzeptionelle (Neu-)Anfänge vollzogen haben, wurde diskutiert, wie sehr sich neuartige Fragestellungen, Analyseinstrumente oder Konzepte durchsetzen konnten, die eine auffällige Koinzidenz mit gegenwärtigen neoliberalen Forderungen nach Flexibilität, Ungewissheit und Kontingenz aufweisen. Die mit der postmodernen Theorie und ihrer kulturtheoretischen Weiterentwicklung einhergehende Tendenz einer Epistemologisierung erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle wurde am Beispiel des frühpädagogisches Forschungsfeldes und aktueller Theorieansätze einer Pädagogik der frühen Kindheit diskutiert (Kap. 5). Auch wenn aktuelle Theorieansätze in scheinbar divergierender Weise auf gegenwärtige Fragen und Herausforderungen einer Pädagogik der frühen Kindheit antworten, ist ihr Signum die geteilte Vorliebe für konstruktivistische Epistemologien. Es konnte abschließend gezeigt werden, wie sehr die Epistemologisierung pädagogischer Fragestellungen und Phänomene auf einer gegenstandstheoretischen Ebene mit einer De-Legitimierung des eigenen Geltungsanspruchs einhergeht. Theorien der Pädagogik der frühen Kindheit de-legitimieren sich selbst, da sie aufgrund der epistemologisierenden Verkürzungen keine ontologischen wie normativen Bezugspunkte angeben können, auf dessen Grundlage sich begründen ließe, warum die von ihnen getroffenen Aussagen wahr oder angemessen sind. Zugleich bleibt die gegenwärtige Pädagogik der frühen Kindheit blind gegenüber den historischen und aktuellen Hintergründen und

7. Ausblick

Voraussetzungen der eigenen Forschungs- und Theoriearbeit und verkennt folglich, wie die von ihr präferierten Konzepte mit Forderungen und Regulationsstrategien im Kontext einer ästhetischen Ökonomie koinzidieren. Dort, wo die Theorie sich selbst de-legitimiert, das heißt, ihren Grund und ihre Begründung selbst durchstreicht, eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit für ihre ökonomische und steuerungspolitische Vereinnahmung. Zugleich bietet sie auf theoretischer Basis – wenn auch nicht intendiert – die Legitimation für die Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung, da sie verkennt, dass das, was auf Seiten der Forschung und Theorie gefordert wird, genau das ist, was bereits von außen (u.a. von der OECD) an sie herangetragen wird. Was braucht also die Theorie, um ein begründungstheoretisches Fundament und damit ein kritisches Potenzial gegenüber Vereinnahmungstendenzen ihrer Grundmotive wiederzugewinnen? Was braucht sie, um einen möglichen (Neu-)Anfang denken zu können? Auf diese Fragen können in diesem abschließenden Kapitel keine eindeutigen und einfachen Antworten gegeben werden. Vielmehr sollen mögliche Denkwege skizziert werden, wie eine zukünftige Arbeit an einer gegenstands- und begründungstheoretischen Profilierung der Pädagogik der frühen Kindheit aussehen könnte. Die hier formulierten Gedanken sind nicht gänzlich neu, doch erscheinen sie vor dem Hintergrund der konstatierten Desiderate in einem neuen Relevanzhorizont. Wie bereits Michael Wimmer es formuliert, stellt sich die Aufgabe, angesichts der Tatsache, dass mit dem Wegbrechen des Notwendigen alles nur noch möglich ist, nach einer anderen »Möglichkeit des Möglichen« (Wimmer 2014: 244) für die Pädagogik zu fragen. Jenseits fundamentalistischer Festschreibungen, Naturalisierungen und Ontologisierungen als auch antifundamentalistischer Vereinseitigungen, Epistemologisierungen und Partikularisierungen, wird hier, mit Oliver Marchart gesprochen, nach einer dritten, postfundamentalistischen Position gefragt, innerhalb derer versucht werden müsste, ein begründungstheoretisches Framework auf der Einsicht der Notwendigkeit von Kontingenz und Vielfalt zu entwerfen (vgl. Marchart 2010: 61f.).

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Der metaphysische Realismus alter Version »interessierte sich nur für die Welt ohne Zuschauer, während der Konstruktivismus recht narzisstisch die Welt und alles, was der Fall ist, auf unsere Einbildungen gründete.« (Gabriel 2013: 15) Beide Erklärungsmodelle sind für eine Pädagogik der frühen Kindheit nicht weiterführend. Produktiver scheint hingegen ein Mittelweg zu sein, der sich um eine Vermittlung epistemologischer und ontologischer Reflexionen bemüht, ohne eine der beiden Seiten von Denken oder Sein zu verabsolutieren. Solch ein Mittelweg wird im Folgenden am Beispiel der frühpädagogischen »Differenz zwischen der Kindheitssemantik«, und einer »vorsprachlichen Leiblichkeit der menschlichen Neulinge« (Honig 1999: 181) diskutiert. Wie Honig selbst feststellte, gelten pädagogisch-anthropologische Aspekte wie »Verletzlichkeit, Angewiesenheit und nicht-reziproke Sorge« (Honig 2009: 50) als großes Desiderat der aktuellen Kindheitsforschung. Im Folgenden soll der Gedanke stark gemacht werden, dass die Frage nach Verletzlichkeit, Angewiesenheit und Sorge über das Wiss- und Sagbare hinausgeht und ebenso ontologische wie ethische Fragen nach dem Sein bzw. Miteinandersein aufwirft. In den weiteren Überlegungen folge ich den programmatischen Spuren eines Neuen Materialismus bzw. Neuen Realismus. Die gemeinsame Ausgangsbasis dieser unterschiedlichen und nicht abgeschlossenen Theorieversuche lässt sich in einer grundlegenden Kritik gegenüber sozialkonstruktivistischen, repräsentationalistischen, linguistischen, semiotischen, kulturellen und praxistheoretischen Ansätzen und ihrer epistemologischen und subjektzentrierten Vereinseitigung auf wissenschaftstheoretischer Ebene ausmachen (vgl. Folkers 2013: 18f.). Was hier als ontologisch begriffen wird, ist nicht die Unterstellung einer essentialistischen Substanzialität, sondern ein posthumanes Verständnis von weltlicher Verwobenheit sowie eines relationalen Werdens. Zentrale Konzepte des Neuen Realismus werden derzeit in der sogenannten neuen Neuen Kindheitsforschung unter dem Stichwort turn to ontology diskutiert (vgl. Eßer 2017). Dabei werden die Grundprämissen differenztheoretischer sowie poststrukturalistischer Ansätze anerkannt und zugleich mit Blick auf die Beziehung von Mensch, Ding, Materie und Körper weitergedacht. Demnach bieten Ansätze

7. Ausblick

des Neuen Realismus ebenso produktive Anschlussmöglichkeiten für eine systematische Schärfung und Neuinterpretation pädagogischanthropologischer Begriffe wie Verletzlichkeit, Angewiesenheit oder Sorge. Ein erster Ansatzpunkt dafür betrifft eine neue Verhältnisbestimmung von epistemologischen Begrifflichkeiten, ontologischen Reflexionen sowie ethischen Orientierungspunkten. Die epistemologische Mauer zwischen dem Denken und der Welt, wie sie von Immanuel Kants Transzendentalphilosophie errichtet und durch die Postmoderne (Sprache, Text, Zeichen) radikalisiert wurde, wird hier aufgebrochen. Die Welt bzw. die Vielzahl der Welten (vgl. Gabriel 2013) sind mehr, als das, was wir kulturell und sprachlich in sie hineingelegt haben. Pädagogisch gewendet geht es dann nicht mehr lediglich um Bildung eines sich und seine Umwelt konstruierenden Subjekts, sondern um Bildung im Sinne eines »Werden-mit-anderen« (Haraway 2018: 11). Eine in diesem Sinne verstandene Pädagogik schreibt nicht Wirklichkeiten und Wahrheiten vor, sondern sieht das gemeinsame Werden als eine ethische, ontologische wie epistemologische Aufgabe. Eine geteilte Welt des Empfindens, des Angewiesenseins, der Verletzbarkeit und des gegenseitigen Sorgens sind hier genauso angesprochen wie der Versuch, egologische Dualismen von Subjekt und Objekt hinter sich zu lassen. Weiterführende Anschlussmöglichkeiten bietet hier der Agentielle Realismus von Karen Barad. Der Agentielle Realismus will über die dualistische Beschränkung der Diskurs-Materie-Unterscheidung hinausgehen und betont das intra-aktive Werden der Welt. Im Unterschied zu Honigs Interpretation der frühpädagogischen Differenz von Kindheitssemantik und der vorsprachlichen Leiblichkeit des Kindes, in dem der Körper zwar als Grenze und Bezugspunkt mitzudenken sei, aber lediglich als passive Einschreibungsfläche von Diskursen und Praktiken in den Blick kommt, wird der Körper nunmehr selbst zum aktiven Produzenten von Wirklichkeit. Wir sind nicht zunächst getrennte Körper, die durch Diskurse hervorgebracht werden und nachträglich miteinander interagieren, sondern unsere Körperlichkeit ist eine grundlegende Weise unseres Miteinanderwerdens. Mit an-

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deren Worten: Subjekte, Diskurse, Körper und Dinge können partiell voneinander unterschieden werden, aber die gegenseitige Affizierung und das reziproke Angewiesensein gehen diesen voraus. Um diese gegenseitige Durchdringungen zu fassen, schlägt Barad den Begriff der Intra-Aktion statt Interaktion vor. Damit soll gesagt sein, dass die ontologische Basis der Wirklichkeit weder aus »Dingen-an-sich« noch aus »Dingen-hinter-den-Phänomenen« besteht, sondern aus »Dingen-in-den-Phänomenen« (Barad 2017: 21).1 Die Relata von Kindheitssemantik und vorsprachlicher Leiblichkeit existieren nicht vor den Relationen, sie sind keine voneinander unabhängigen Wirklichkeitsausschnitte, sondern ko-existieren in konkreten Phänomenen, wie etwa dem Wickeln, Füttern, Trösten und Mitfühlen und werden in diesen mit Sinn ausgestattet. Der von Barad entlehnte Begriff der Intra-Aktion sensibilisiert dafür, dass pädagogisch-anthropologische Dimensionen nicht als Faktizitätsunterstellungen misszuverstehen sind. Vielmehr machen sie auf ein Im-Phänomen-sein aufmerksam, das immer schon als ein Zwischen, eine Verschränkung von diskursiven und nicht-diskursiven Momenten zu verstehen ist. Daraus ergibt sich auch die eigentliche pädagogisch-anthropologische Bedeutung der Sorge, die dann nicht heißt, nur pflegende Tätigkeiten auszuführen, sondern in einem Zur-Weltsein, was ein gemeinsames Werden heißt, auf existenzielle Anliegen des Menschlichen zu

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Die Phänomenologie bleibt in ihren vielfältigen Ausprägungen für die Diskussion des Neuen Realismus unverzichtbar (vgl. D’Angelo/Mirković 2014: 8). Eine genaue Verhältnisbestimmung zwischen Ansätzen des Neuen Realismus und phänomenologischen Ansätzen ist Gegenstand philosophischer Forschung und bisher nicht ausreichend beantwortet (ebd.). Markus Gabriel sieht insbesondere eine inhaltliche Nähe des Neuen Realismus zu phänomenologischen Zugängen, wie die etwa von Martin Heidegger oder Heinrich Rombach, die die Prozesshaftigkeit der Konstitution von Sinnzusammenhängen bzw. Sinnfeldern beschreiben. Damit vertritt der Neue Realismus nicht eine naive Gegenstandsontologie, die lediglich die vorhandene Faktizität der Dinge konstatiert, sondern fragt ebenfalls nach den Konstitutionsbedingungen, wie die Dinge an sich erscheinen (vgl. Gabriel 2017: 224f.).

7. Ausblick

antworten. In diesem Sinne ist Sorge nicht eine im Vergleich zu Bildung und Erziehung nachrangig zu leistende Tätigkeit. Vielmehr ist sie die anfängliche und fortwirkende Bedingung der Möglichkeit, damit Bildung und Erziehung stattfinden können (vgl. Bilgi 2019: 471). Sorge könnte demzufolge die pädagogische Arbeit an Räumen der Bezogenheit, der Verbundenheit, der Achtsamkeit und Zuwendung sowie dem Vertrauen und des Getragenseins meinen (vgl. Bilgi/Stenger 2021). Die Tatsache, dass wir immer schon mit anderen in Beziehung stehen, heißt auch, an der Rekonfiguration einer gemeinsamen Welt, die stets im Begriff ist sich zu erneuern, teilzuhaben. Zu jedem Zeitpunkt gibt es Einschnitte in das, was möglich ist, wirklich zu werden und Bedeutung zu erlangen, und in jedem Augenblick sind wir als Teil dieses Werden aufgefordert, eine ethische Antwort auf das Neuentstehende zu finden und Verantwortung ihm gegenüber wahrzunehmen. Mit dieser neorealistischen Einsicht in die weltliche Verwobenheit wird die Frage danach, wie das Neue in die Welt kommt, um die entscheidende Frage erweitert, wie wieder mehr Welt in das Neue kommt. Wir bewegen uns dann in einer »Welt von Ereignissen«, nicht in einem »Gefängnis von Wörtern«, um mit Bruno Latour zu sprechen (Latour/Stengers 2008: 19). Eine Welt der Ereignisse geht nicht in einem Machen-Wollen auf, sie ist weder eine starre Ordnungsstruktur noch beliebige Konstruktion, sondern Ausdruck, wie sich die Dinge als zusammengehörig ereignen und damit eine jeweilige Weise des In-derWelt-seins erfahrbar werden lassen. Diskurs und Materialität gemeinsam in den Blick zu fassen, heißt dann, mit der Unverfügbarkeit und Ereignishaftigkeit in einer Welt des gemeinsamen Werdens Ernst zu machen. So wundert es auch kaum, dass in Beiträgen des Neuen Realismus diese Ereignishaftigkeit und Offenheit in einem dezidiert spekulativen Sinne verstanden wird (vgl. Gunia 2017: 132). Eine neorealistische Sichtweise impliziert nicht nur eine Umstellung der pädagogisch geläufigen Begriffe von Konstruktion auf Prozesse der Konstitution, von interaktiver Ko-Konstruktion auf Prozesse der Intra-Aktion. Gleichsam sensibilisiert sie für die pädagogisch bedeutsame Frage danach, was Menschsein heute bedeuten kann und wie vielfältige Beziehungen und Lebens-

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formen gestaltet werden könnten. Eine Suche nach neuen Weisen des Menschseins, unserer Beziehungen und Lebensweisen mit anderen, erfordert von der Pädagogik spekulative (Denk-)Wege einzuschlagen, die nicht jenseits von Erfahrung und Praxis meinen, sondern aus einer jeweiligen Situierung und Perspektivierung heraus (vgl. Sehgal 2016: 390) sich sowohl kritisch dem Gegebenen als auch spekulativ dem Möglichen hinzugeben verstehen. Spekulation soll hier nicht die Flucht in die metaphysische Abstraktion heißen. Vielmehr setzt sie als Methode, Haltung und Praxis des Denkens voraus, »den impliziten, faktischen Anfang [im pädagogischen Geschehen] auch theoretisch einzuholen, und zwar über eine Reflexion auf die eigene Praxis.« (ebd.: 219) Spekulatives Denken setzt die Frage nach der Nützlichkeit und Brauchbarkeit (temporär) aus und richtet sich auf die Struktur des Denkens selbst (vgl. Gunia 2017: 130). Die dafür in Frage kommende Methode eines spekulativen Empirismus hat Alfred North Whitehead folgendermaßen beschrieben: »Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerungen und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretationen geschärft wird.« (Whitehead 1979/2015: 34) Spekulativ hieße auf der einen Seite, das Risiko auf sich zu nehmen, den Phänomenen zu erlauben, Begriffe und Konzepte neu zu definieren (vgl. Latour/Stengers 2008: 29). Es ist ein Plädoyer für ein Sein und Werden in Phänomenen. Auf der anderen Seite eröffnet das Spekulative den Blick dafür, durch begriffliche Verallgemeinerungen von Erfahrungen ein mögliches Anderes, auch in regulativer wie normativer Hinsicht, denkbar werden zu lassen. Eine in diesem Sinne mögliche Perspektive auf den (Neu-)Anfang als pädagogisches Phänomen bietet Ursula Stenger: »Den Anfang als Anfang kann man nicht herstellen, willentlich herbeiführen, man kann nicht über ihn verfügen, – er widerfährt einem, denn von dem, was vor dem Anfang noch war und galt, gibt es keine direkte Verbindung zu dem Neuen, das der Anfang bedeutet.« (Stenger 2011: 17) Die mit dem Anfang des Neuen gegebene Möglichkeit wächst aus der Erfahrung hervor, die ihm zugestoßen ist (vgl. ebd.). Innerhalb dieses Kon-

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stitutionsgeschehens sind schon die Bedingungen der Möglichkeit gegeben, eines Geben und einer Gabe, die über das Vorhandene hinausweist, es transzendiert. »Dass es den Gegenstand gibt, hängt daran, dass er weder konstruiert noch erfunden, sondern gegeben ist. Gegeben ist ein Gegenstand dann, wenn in ihm die Differenz von Geben und Gabe aufblitzt, [d.h.], wenn er als etwas erscheint, das mehr ist, als in der aktuellen Erscheinung aufgeht.« (Weidtmann 2017: 38f.) Das kulturelle Scheitern von Konstruktionen, das Aussetzen kollektiver Sinnund Deutungsmuster, das Nichtgelingen von Wirklichkeitsinterpretationen sind hier genauso angesprochen wie spekulative Möglichkeiten eines (Neu-)Anfangs, der das Gegebene auf das Mögliche hin öffnet – ein spekulativer Zeithorizont. Donna Haraway gibt der Zeit des Anfangens den griechischen Namen Kainos – ein Zeithorizont, in dem die Fülle der Zeit vom Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen als Möglichkeitshorizont des Sich-verwandt-machen mit anderen aufscheint (vgl. Haraway 2018: 10). Die pädagogische Konsequenz, die sich aus Haraways Überlegungen ziehen lässt, besteht darin, »eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart [...] miteinander gut zu leben« (ebd.: 9) und neue kollaborative Formen des Menschseins zu explorieren. Denn das »Bedenken des Humanen« (Kühn 2007: 8), das heißt, seines Seins und Werdens, ist das Bedenklichste unserer Gegenwart. »In Anbetracht dessen, dass der Faden des pädagogischen Denkens gerissen ist, stellt sich die Aufgabe des Wieder- und Weiterdenken des bisher Gedachten, umso dringlicher.« (Bilgi 2017: 256) Am Ende steht daher keine fertige Antwort, sondern eine Erinnerung an entscheidende Fragen. Bereits Marian Heitger hatte auf die Gefahren einer gegenüber spekulativen Fragen blindgewordenen Theorie hingewiesen: »Die Folge ist der Verfall an technologisches Denken unter der Devise der Machbarkeit, [die] eine geheime Metaphysik zutage fördert.« (Heitger 2003: 20). Demnach kommt es gerade der »spekulativen Dimension des [pädagogischen] Denkens zu, Neues zu denken oder das Alte neu zu denken.« (Avanessian 2013: 6) An spekulativen Entwürfen zu arbeiten, das heißt, sich immer wieder der Frage zu stellen, inwiefern Pädagogik Antwort auf und Verantwortung gegenüber dem (Neu-)An-

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fang in einer verflochtenen Welt des gemeinsamen Werdens sein kann, ist richtungsweisend für eine gegenstands- und begründungstheoretische Selbstvergewisserung einer Pädagogik der frühen Kindheit.

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Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause

Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3

Karin Lackner, Lisa Schilhan, Christian Kaier (Hg.)

Publikationsberatung an Universitäten Ein Praxisleitfaden zum Aufbau publikationsunterstützender Services 2020, 396 S., kart., 14 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5072-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5072-7 ISBN 978-3-7328-5072-3

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Pädagogik Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Joachim Willems (Hg.)

Religion in der Schule Pädagogische Praxis zwischen Diskriminierung und Anerkennung 2020, 432 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5355-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5355-1

Ulaș Aktaș (Hg.)

Vulnerabilität Pädagogisch-ästhetische Beiträge zu Korporalität, Sozialität und Politik 2020, 194 S., kart., 26 SW-Abbildungen, 26 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5444-8 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5444-2

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