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German Pages 284 Year 2016
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown
Edition Kulturwissenschaft | Band 77
Richard Weihe (Hg.)
Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven
Eine Publikation der Forschungsabteilung der Accademia Teatro Dimitri Leitung: Dr. Ruth Hungerbühler
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Das (Un-)Behagen am Clown Einleitung Richard Weihe | 7
E rster T eil : K ünstlerische P erspek tiven Vom Fußjongleur zum politischen Clown Die sechste Generation der Zirkusfamilie Bassi Leo Bassi | 25
Wir überleben uns Dimitri | 47
Ein Teil der Sonne Oleg Popow | 63
Der Clown Es war ein Unfall, es war so nicht vorgesehen Pierre Byland | 77
Weinen ist Natur — Lachen ist Kultur Gardi Hutter | 95
Der Clown im Management Christoph Posselt | 105
Die fundamentale Frage Jef Johnson | 115
Z weiter T eil : T heoretische P erspek tiven Der Clown als konstruktiver Anarch Reflexionen über die Dialektik des Clowns Constantin von Barloewen im Gespräch mit Rafiu Raji und Richard Weihe | 127
Mit Säcken und Stöcken Analogien zwischen der Commedia dell’arte und den Entrées clownesques Demis Quadri | 149
Clowneske Zirkuskunstfiguren Zu Wandel und Wirken des Zirkusclowns in der Literatur Anna-Sophie Jürgens | 165
Geistesgegenwart und Phantasie Über die Filmkunst Charlie Chaplins Renate Jurzik | 185
Düstere Clowns Figuren des Schreckens im Kino der Transgression Matthias Christen | 203
Phänomen Evil Clown Der Trickster-Archetyp seit der Postmoderne Lena Sharma | 243
Die Paradoxie des Clowns — sieben Spielformen Schlussbemerkungen Richard Weihe | 267
Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen | 277
Das (Un-)Behagen am Clown E inleitung Richard Weihe
»There’s nothing funny about a clown in the moonlight«, formulierte der amerikanische Stummfilmschauspieler Lon Chaney Jr. um 1920.1 Fast 100 Jahre später belegt ein konkreter Fall, dass diese Behauptung stimmt: Im September 2013 wird nachts in der englischen Stadt Northampton ein Clown gesichtet. Er verhält sich nicht so, wie man es von einem Clown erwartet: Er spielt nicht. Er steht abseits unter einer Straßenlaterne, lächelt und winkt den Passanten zu. Zum ersten Mal wird er am Freitag, den 13. September gesehen, in den folgenden Nächten immer wieder. Die Bevölkerung ist verunsichert. Was will der Clown? Lustig ist er nicht. Wenige Tage später widmet die Daily Mail dieser mysteriösen Erscheinung einen Artikel. »A man dressed as a clown bearing a striking resemblance to the notorious film monster Pennywise 2 is spooking residents by posing late at night around a town and waving at passers-by. […] There is no explanation for the appearances […]. The clown appears to have even set up a Facebook page […]. He writes comments under pictures of himself, signed off with Pennywise’s catchphrase, ›beep, beep‹. […] The clown said on his Facebook page: ›Too much hate, not enough love. No, I
1 | Zitiert nach Dery, Mark: A Pyrotechnic Insanitarium. American Culture on the Brink, New York: Groove Press 1999, S. 65. Vgl. dazu den Beitrag von Lena Sharma in diesem Band, S. 244. 2 | Pennywise ist der Name des blutrünstigen Clowns in Stephen Kings Roman It von 1986. Er wurde 1990 verfilmt mit dem englischen Schauspieler Tim Curry als Pennywise.
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don’t have a knife on me […] I might go for a jog around that pond in Abington Park later as I’m really unfit. See you around. Beep, beep!‹« 3
Abb.: The Northampton Clown
Foto: Facebook (Spot Northampton’s Clown)
Rasch mehren sich die Kommentare im Internet, andere Zeitungen greifen die Geschichte auf und innerhalb kürzester Zeit wird der ›Northampton Clown‹ ein internationales Medienereignis. Seine Identität wird erst nach einem Monat geklärt: Hinter dem Clown verbirgt sich der 22-jährige Alex Powell, ein Student der Universität Northampton. Auf geschickte Weise spielte Powell damit, dass der Clown ambivalent und bedrohlich erscheint, sobald er aus seinem traditionellen Umfeld, dem Zirkus, entfernt und in einen anderen Rahmen gestellt wird. Behagen und Unbehagen – im Rahmen des Zirkus finden wir Gefallen am Clown, aber wenn er scheinbar grundlos allein im Mondlicht steht, kommt Unruhe auf, denn wir können nicht, wie im Zirkus, mit Lachen auf ihn reagieren. Der fehlende Zusammenhang zwischen Figur und Umgebung stiftet Unruhe. Was sucht ein Clown nachts auf den Straßen? Der Clown hat 3 | www.dailymail.co.uk/news/article-2421823/Northampton-spooked-mandressed-terrifying-clown-character-Stephen-Kings-It vom 31.10.2015.
Das (Un-)Behagen am Clown
im Lauf seiner Kulturgeschichte verschiedene physische und imaginäre Räume kolonisiert: Theater, Zirkus, Music Hall, Varieté, Film, Fernsehen, Literatur, Comic, Oper, Anthropologie. Was den Erscheinungen des Northampton Clowns fehlt – die klaren Rahmenbedingungen –, ist gerade das Anliegen dieses Buchs: Es verfolgt das Ziel, den Clown in verschiedenen historischen, kulturellen und künstlerischen Kontexten einzuordnen und dadurch kein Unbehagen aufkommen zu lassen wie beim Clown im Mondlicht. Die Daily Mail behauptet, es gäbe »no explanation«: Wohl lässt sich das Erscheinen eines Clowns erklären, aber dazu müssen die Umstände und das Verhältnis der Figur zum Erscheinungsort genau untersucht werden. Beginnen wir mit einem bekannten Beispiel: Hamlet, Prince of Denmark von William Shakespeare. Im Personenverzeichnis der englischen Ausgabe werden ein »First Clown« und ein »Second Clown« aufgeführt. Warum treten in einer Tragödie zwei Clowns auf? Nun: Ophelia hat sich ertränkt, der Sarg mit ihrem Leichnam wird von ihren Angehörigen zum Friedhof getragen. Die Bühnenanweisung zu Beginn dieser Szene lautet: »Enter two Clowns«.4 Was suchen die Clowns auf dem Friedhof? Sie arbeiten als Totengräber und sind gekommen, um Ophelias Grab auszuheben. Während des Schaufelns unterhalten sie sich geistreich und wortgewandt über die juristische Definition des Selbstmords. Ist dies ein typisches Gespräch auf Expertenniveau unter Totengräbern? Bei ihrer Arbeit werden die Clowns von Hamlet und seinem Vertrauten Horatio beobachtet. Diese treten an die Grube heran. Der Erste Clown hat gerade einen Schädel ausgegraben und hält ihn dem Prinzen entgegen: »Here’s a skull now: this skull hath lien you i’th’earth three and twenty years.«5 Der Clown weiß, wessen Schädel er gefunden hat: »This same skull sir, was Yorick’s skull, the king’s jester.« Hamlet nimmt ihn entgegen. In der darauf folgenden berühmten Rede erinnert er sich an Yorick, den Hofnarren, der mit seinen Späßen alle zum Lachen brachte: »Alas poor Yorick! I knew him Horatio, a fellow of infinite jest, of most excellent fancy«. Der Hofnarr Yorick ist längst tot, aber es gibt noch zwei andere lustige Figuren in der Szene, eben die beiden Clowns, 4 | Shakespeare, William: Hamlet, Prince of Denmark, hg. von Philip Edwards, The New Cambridge Shakespeare, Cambridge: University Press 1989, S. 213. 5 | Shakespeare, William: Hamlet, Prince of Denmark, hg. von Philip Edwards, S. 219. Die folgenden Zitate ebd.
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und die sind lebendig – nur unglücklicherweise haben sie die Übertragung ins Deutsche nicht überlebt. Denn in der klassischen deutschen Shakespeare-Übersetzung von Schlegel/Tieck (1831) erscheinen im Personenverzeichnis von Hamlet keine »Clowns«. Stattdessen gibt es »Zwei Totengräber«,6 als hätte Shakespeare »gravediggers« und nicht »clowns« geschrieben. Am Anfang der Begräbnisszene steht entsprechend: »Zwei Totengräber kommen mit Spaten usw.« Die Übersetzung von »clowns« mit »Totengräbern« ist sinnentstellend und zugleich der Beleg, dass das englische Lehnwort ›Clown‹ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschen noch nicht zur Verfügung stand. Als das Wort im Verlauf des 19. Jahrhunderts schließlich in die deutsche Sprache aufgenommen wird, ist der Clown nicht mehr im Theater, sondern im Zirkus. Mit der Denotation ›Zirkusclown‹ wird das englische clown nicht nur von der deutschen, sondern auch von vielen anderen europäischen Sprachen übernommen. Schlegel/Tieck bezeichnen die beiden Clowns entsprechend ihrer Funktion im Stück als »Totengräber«, nicht gemäß ihrer Funktion im Theater als Spaßmacher. Mit dem Schädel des Hofnarren Yorick graben die Clowns gleichsam einen Berufskollegen aus, denn Yorick hatte am Hof denselben Job wie die Clowns im Theater: die Leute zum Lachen zu bringen. Da sie sich beim Anblick des Schädels an Yoricks Witz und Komik erinnern, wären die Clowns eher als Archäologen des Lachens zu bezeichnen denn als Totengräber. Doch in der deutschen Fassung von Hamlet haben die Totengräber nicht nur Yorick exhumiert, sondern gleichzeitig den ›Clown‹ bestattet und damit ihre eigene Theatergeschichte zu Grabe getragen. Beim Wiedererscheinen des Clowns im Zirkus hat das Wort ›Clown‹ seinen historischen Bezug zum Theater verloren; es ist von nun an mit dem Zirkus assoziiert – zumindest bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seither wird der Clown immer mehr von den populären Medien (Fernsehen, Film, Comic u.a.) vereinnahmt. Der Duden definiert ›Clown‹ als »Spaßmacher im Zirkus, Varieté« und hält in seiner Online-Version sogar ein Foto bereit.7 Doch das Wort ist viel älter als der Zirkus. Als Shakespeare um 1600 für die beiden To6 | Shakespeare, William: Hamlet, Prinz von Dänemark, übersetzt von A.W. von Schlegel, in: William Shakespeare. Sämtliche Dramen in drei Bänden. Bd. III, Tragödien. Nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe 1843/44. München: Winkler 1988, S. 590 und S. 681. 7 | www.duden.de/rechtschreibung/Clown vom 31.10.2015.
Das (Un-)Behagen am Clown
tengräber in Hamlet die Bezeichnung ›Clown‹ wählt, hat sie für ihn, den Dramatiker, offenbar eine klare Bedeutung. Für was steht ›Clown‹ in diesem Fall? Zur Beantwortung dieser Frage ist zu klären, wer die Totengräber sind, wie sie sich verhalten und wie sie sprechen. Beide werden ja als ›Clown‹ bezeichnet, was haben sie also gemein? Sie sind clever und beherrschen die Jurisprudenz so gut, dass sie mit Fachtermini jonglieren können. Am Tiefpunkt der Tragödie bringen sie das Publikum mit ihrem Wortwitz wenn nicht zum Lachen, so doch zum Schmunzeln. Laut dem Oxford English Dictionary erscheint das Wort clown 8 erstmals im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der englischen Sprache. Es bezeichnet einen Bauern oder Landmann (rustic) und, davon abgleitet, einen Grobian (man without refinement). Diese Semantik ist dehnbar: Clown kann sowohl in der Bedeutung von Narr ( fool) als auch Spaßvogel/Witzbold ( jester) verwendet werden – entweder zur Bezeichnung einer Stellung am Hof oder zur Benennung von Theaterfiguren. Schließlich führt das OED die heutige, dominierende Bedeutung an, den Clown als Figur in einer Pantomime, Harlekinade oder im Zirkus. Wir stellen fest, dass Personen mit recht unterschiedlichen Eigenschaften als ›clown‹ beschrieben werden: einer, der vom Land kommt; einer, der schlecht erzogen, ungebildet und unhöflich ist; einer, der lustig und witzig ist; einer, der als Unterhalter am Hof arbeitet sowie eine Figur im Theater. Bemerkenswert ist v.a.: Dem Begriff clown werden die Begriffe fool und jester subsumiert, d.h. clown darf als Oberbegriff gelten. Die Hauptbedeutung von clown ist die des rustic, eine ›rustikale‹ Person vom Land. In diesem Zusammenhang ist die gemäß OED wahrscheinliche Wortherkunft aufschlussreich: Möglicher Ursprung ist das isländische klunpi, ein Wort das ursprünglich ›(Erd-)Klumpen‹ bedeutet und dann auf Personen übertragen wurde, um einen »ungebildeten, unhöflichen, groben, rüpelhaften Gesellen«9 zu beschreiben. Erst der soziologische Hintergrund macht somit die historische Semantik verständlich: clown ist zunächst der Begriff für einen neuen sozialen Typus und in der Folge für eine Theaterfigur, die sich in England gegen Ende des 16. Jahrhunderts herausbildet. 8 | Lexem »clown«, in: The Oxford English Dictionary (OED), Second Edition, prepared by J.A. Simpson/E.S.C. Weiner. Vol. III, Oxford: Clarendon Press 1989, S. 364. 9 | The Oxford English Dictionary, vol. III, S. 364 (übersetzt von R.W.).
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Im Elisabethanischen Zeitalter ist jemand ein clown, der als Zuwanderer – aufgrund seiner Herkunft vom Land – nicht mit den Lebensgewohnheiten und den Verhaltensweisen in der Hauptstadt London vertraut ist.10 Aus der Perspektive der Stadtbewohner wirkt eine solche Person lächerlich und wird als Angehöriger der Unterschicht betrachtet. Der Clownbegriff entwickelt sich im Kontrast zu einem Diskurs des ritterlichen Benehmens (chivalry) und der Galanterie (gallantry), der sich auf das Kriterium der vornehmen Herkunft (gentility) berief. Das Wort gentle hat im Englischen ambivalente genetische und ethische Konnotationen: clownish zu sein, heißt das Gegenteil dessen zu sein, was mit gentle gemeint ist.11 Der Clown ist der negative Pol im Verhältnis zu Urbanität und zu sozialem Status. Wie erwähnt, wird der Begriff in der Folge auch zur Bezeichnung einer Bühnenfigur mit den entsprechenden Eigenschaften verwandt. Diese Sozialgeschichte ist dem Begriff eingeschrieben.12
Ü ber den C lown : K ünstlerische und theore tische P erspek tiven Dieser Band dokumentiert in erster Linie die Ergebnisse der von der Accademia Teatro Dimitri – der Theaterakademie der italienischen Schweiz – organisierten interdisziplinären Tagung Kulturelle Genealogie und Theorie des Clowns. Sie fand vom 25.-28. Mai 2014 auf dem Monte Verità bei Ascona statt, im Rahmen und mit Unterstützung der Congressi Stefano 10 | Davison, Jon: Clown. Readings in Theatre Practice, London: Palgrave Macmillan 2013, S. 24. 11 | Wiles, David: Shakespeare’s clown. Actor and text in the Elizabethan playhouse, Cambridge: University Press 1987, S. 62. 12 | Aufgrund der engen Verflechtung der Semantik von ›Clown‹ mit der europäischen Kultur- und Theatergeschichte halte ich es für irreführend, ja verfänglich, bei außereuropäischen, indigenen Kulturen, von ›Clowns‹ zu sprechen wie z.B. die Autoren einer der neuesten Publikationen zum Clown: »Among the Pueblo tribes of New Mexico that sustain the cultural lineage of our prehistoric ancestors, including the Hopi and the Zuni, clowns have long ridiculed and contradicted the serious ceremonies associated with worship and harvest, marriage and death.« (LeBank, Ezra/Bridel, David [Hg.]: Clowns. In Conversation with Modern Masters, London/New York: Routledge 2015, S. 1).
Das (Un-)Behagen am Clown
Franscini, einer wissenschaftlichen Veranstaltungsreihe des Konferenzzentrums der ETH Zürich, einige kamen speziell für diese Publikation hinzu. An der Tagung nahmen sowohl Clowns als auch Clownforscher und -forscherinnen teil. Entsprechend der Konzeption der Tagung als Dialog zwischen Praxis und Theorie gliedert sich das Buch in zwei Teile: Der erste Teil umfasst »künstlerische Perspektiven«, der zweite Teil »theoretische«. Im ersten Teil kommen sechs Clowns und eine Clownin zu Wort. Der zweite Teil präsentiert theoretische Ansätze zum Thema aus der Sicht verschiedener Disziplinen: Anthropologie, Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Bei den künstlerischen Beiträgen – sowohl jenen, die auf Präsentationen an der Tagung zurückgehen als auch denen, die eigens für diese Veröffentlichung geschrieben wurden bzw. aus Gesprächen hervorgegangen sind –, war mein Anliegen, Auskünfte zu drei Bereichen zu erhalten: Wie sind Sie Clown geworden? Wie arbeiten Sie als Clown? Was ist für Sie das Wesentliche am Clown? Zu diesen Fragen nimmt als Erster Leo Bassi Stellung. Bassi stammt aus der sechsten Generation einer italienischen Zirkusfamilie. Es mag wie ein Echo auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Clownbegriffs klingen, wenn er betont, dass sein Familienname ›die Niedrigen‹, die sozial Tieferstehenden, bedeutet. Bassi schildert, wie er 1969 unter dem Eindruck von Woodstock, Popkonzerten und den wegbrechenden Zuschauerzahlen beschließt, den Zirkus zu verlassen und Straßenkünstler zu werden. Im Selbststudium in Bibliotheken holt er die fehlende Schulbildung nach, studiert die Geschichte des Zirkus und des Clowns und entdeckt für sich die »Macht des Hofnarren«. Seine künstlerische Arbeit entwickelt sich in Richtung einer neuen Form gesellschaftlicher Clownerie als Inszenierung provokanter Störfälle. Bisheriger Höhepunkt ist die Gründung der Iglésia Patolica im Zeichen einer auf blasbaren gelben Plastikente (spanisch pato) als Parodie auf die katholische Kirche. Die sonntäglichen Gottesdienste huldigen Clowns in aller Welt. Bei einem Zirkusbesuch im Alter von sieben Jahren entschließt sich Dimitri, Clown zu werden. In seinem Traumberuf will er seine Fähigkeit und seinen Wunsch verwirklichen, Menschen zum Lachen zu bringen. In Paris bestätigt ihm Marcel Marceau, dass er zwar ein guter Mime werden könnte, aber ein noch besserer Clown. Dimitri spielt in seiner Heimatstadt Ascona und gründet in Verscio ein Theater sowie eine Schule. Er versteht sich als »handelnder Dichter«, wobei Dichter und das ›Gedicht‹
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(als Handlung) in seiner Person zusammenfallen. Dimitri ist eine Doppelheit aus Privatperson und Kunstfigur, die beide Dimitri heißen. Die Kunstfigur Clown Dimitri altert nicht: In seinem aktuellen Programm spielt er u.a. Szenen, die er ein halbes Jahrhundert früher entwickelt hat. Doch die Privatperson Dimitri altert wie jede andere auch. So hat der Clown eigentlich zwei Körper: den unsterblichen, weil übernatürlichen Clownkörper und den sterblichen, natürlichen Menschenkörper.13 Deshalb kann Dimitri von Clowns behaupten: »Wir überleben uns.« Oleg Popow war bis zum Ende der Sowjetunion einer der international bekanntesten Clowns.14 Er berichtet von seiner Ausbildung an der Zirkusschule in Moskau während des Zweiten Weltkriegs. Die Zirkusschüler lernten im Fach Wehrertüchtigung u.a. den Umgang mit einem Maschinengewehr. Als sich ein Clown in einem Zirkus bei einem Sturz ein Bein bricht, fordert der Direktor Popow auf, für ihn einzuspringen. Als Beginn seiner Lauf bahn bezeichnet Popow darum den Moment, als ihm der verletzte Clown im Krankenhaus den Schlüssel für seine Garderobe reicht, in der sein Clownkostüm hängt. Doch den Durchbruch, so Popow, hat ein Clown erst dann geschafft, wenn er an seinem Schattenbild erkannt wird wie z.B. der Tramp von Charlie Chaplin. Seinen Auftrag sieht Popow darin, dem Publikum ein Lächeln zu schenken. Wer mit dem Clown Böses im Sinn hat, missbrauche die Figur. Die große Zeit der Zirkusclowns ist Popow zufolge vorbei, aber der Clown selbst sei überlebensfähig: Er ist eine Pflanze, die aus einem Riss im Asphalt sprießt. Um zu existieren, braucht sie Wasser und Sonnenlicht – das Licht, das der Clown aufnimmt, verwandelt er in das Lächeln des Publikums.
13 | Hier ergibt sich ein interessanter Bezug zu der These von den »zwei Körpern des Königs«, die Ernst Kantorowicz in seinem Standardwerk The King’s Two Bodies herausgearbeitet hat. (Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1990.) Es handelt sich hierbei um eine frühe Formulierung der Unterscheidung zwischen privater Person und öffentlicher Funktion. Wenn wir den Hofnarren im Dienst eines Königs als eine historische Variante des Clowns betrachten, könnten wir sagen, dass beide, der König und der Clown zwei Körper haben, die sterben und unsterblich sind. – Ich danke Angelika Wulff für diesen Hinweis. 14 | Ich danke Swetlana Lukanitschewa für den persönlichen Kontakt zu Oleg Popow.
Das (Un-)Behagen am Clown
Pierre Byland verlässt mit 20 Jahren die Schweiz und wird Schüler an der École Jacques Lecoq in Paris. Nach Abschluss des zweiten Schuljahrs will sich Bylands Klasse mit Clownerie befassen, doch zu dieser Zeit ist das Spiel mit der roten Nase noch nicht im Lehrplan der École. Vor diesem Hintergrund ist die erste Darbietung eines Studenten mit der ›kleinsten Maske der Welt‹ ein produktiver Misserfolg: Mitstudenten und Lehrer lachen nicht, weil seine Improvisation komisch ist, sondern weil der Student an der Aufgabe scheitert, komisch zu sein und dadurch unfreiwillig komisch wirkt. Aus diesem »Fiasko« entsteht an der Lecoq-Schule die »Pädagogik des Scheiterns«. Byland bleibt nach der Ausbildung fast 10 Jahre als Lehrer an der École. Anfang der 1980er Jahre wird Byland schließlich Mitbegründer der Zirkusschule in Châlons-en-Champagne und übernimmt die Leitung des neu konzipierten Studiengangs »Formation acteur de cirque«, in dem parallel in Akrobatik, Clownerie und Schauspiel ausgebildet wird. Absolventen der Zirkusschule in Châlons sind maßgeblich an der Entwicklung des Nouveau Cirque und Nouveau Clown beteiligt. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Schauspiel-Akademie Zürich ist Gardi Hutter auf der Suche nach lustigen Frauenfiguren, muss aber feststellen, wie wenige es in der dramatischen Literatur gibt. So spielt sie einfach einen der Sklaven in Aristophanes’ Komödie Die Ritter als Frauenrolle im Rock. Nach eher glücklosen Versuchen, mit dem Clown Ferruccio Cainero in Mailand Stücke für eine Clownin zu erarbeiten, besinnt sich Gardi Hutter auf die beiden Sklaven in Die Ritter, wobei sie nun in einem Soloprogramm gleich beide spielt. In der Folge entwickelt sie ein Stück um Jeanne d’Arc und ihrer Erzählung von den drei Heiligen, die ihr eingaben, was sie tun solle. Bei Gardi Hutter irren sich die Heiligen in der Adresse: Statt zu Jeanne d’Arc gelangen sie an die Wäscherin Jeanne (Hanna) – ihre Clownfigur ist geboren; und dieser ist Hutter seit ihrer Erfindung 1981 mit zunehmendem internationalem Erfolg treu geblieben. Die Essenz des Clowns liegt für Gardi Hutter im Spiel. Ihre Clownspiele beschreibt sie als »lange Abgänge«: Vom Auftritt bis zum Abgang (Hannas Tod) sind es 70 Minuten – keine Tragödie, ein clownesker Exit. 1990 wird das Pantomime-Ensemble des Deutschen Theaters in OstBerlin, dem Christoph Posselt seit 16 Jahren angehört, aufgelöst. Posselt sieht sich in der Lage der Harlekindarsteller des 18. Jahrhunderts, die aus dem bürgerlichen Theater verstoßen wurden. Wie seine künstlerischen Vorfahren, geht Posselt auf den Jahrmarkt und entwickelt eine eigene Clownfigur. In öffentlichen Anlässen und Galaveranstaltungen tritt er als
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störender Gast und Spaßmacher auf. Seit 2002 bringt er seine Clownerfahrungen als Kommunikationstrainer für Manager bei führenden Wirtschaftsunternehmen ein. Sein didaktisches Konzept hat Posselt einem Fischhändler in Seattle abgeschaut. Der Fischhändler befolgte erfolgreich vier Anweisungen: 1. »Ich bin Fischhändler!« (Definiere deine Rolle genau!) 2. »Ich verkaufe Fisch am besten!« (Gehe in deiner Rolle auf!) 3. »Ich bereite meinen Kunden Freude.« 4. »Ich bin hier und jetzt auf dem Markt!« (Richte deine volle Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Geschehen!) Als Kind fällt Jef Johnson durch besondere Begabungen auf, weshalb ihn seine Lehrer zunächst für einen Autisten halten. Er kann z.B. mit großer Genauigkeit die Anzahl der Gummibärchen in einem Glas abschätzen. Nach dem Studium der Mathematik betätigt sich Johnson u.a. mehrere Jahre lang als Schlafforscher, spezialisiert auf die REM-Phase. Nachdem er jedoch erfuhr, dass seine Ururgroßmutter eine Sioux war, beschäftigt ihn immer mehr die Grundfrage: »Wer bin ich?« So wechselt er vom Schlaflaboratorium zum Theater. Die Clowns Slava Polunin und Jango Edwards werden seine Mentoren. Er tourt international mit Slava’s Snowshow, in Barcelona unterrichtet er an Jangos Nouveau Clown Institute. Das Wesentliche am Clownspiel ist für Jef Johnson das Ich in Echtzeit vor einem Publikum zu erleben und schlicht spielen zu lassen. Der ›Clownzustand‹ ist eine bestimmte Frequenz des Erlebens, eine Haltung des Staunens gegenüber der Welt, spielerisches Erkunden und Entdecken. Insofern ist ›Clown‹ ein Teil in uns allen. Der Clown erinnert uns an die Magie, die in allem steckt und der wir mit Neugier, Faszination, Wissensdurst und Lust auf Berührung begegnen. Ein Gespräch mit dem Anthropologen und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen leitet den zweiten Teil dieses Bandes ein: den Reigen der »theoretischen Perspektiven«. Im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt Friedrich Schiller, der Mensch spiele nur, »wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«15 Von Barloewen seinerseits sieht im Spiel eine anthropologische Konstante und im Clown die Verkörperung des Homo ludens. Der Clown verbinde das Menschliche mit dem Spieleri15 | Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek. Suhrkamp Studienbibliothek, Bd. 16. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 64 (kursiv im Original).
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schen, wobei letzteres vom Poetischen bis zum Anarchischen zu reichen vermag. Gleichwohl bestehe die Gefahr, dass die »moderne Technokratie« den menschlichen Spieltrieb unterdrücke. Das Leben verliert seine poetische Dimension und ist nur noch Ausdruck der fortschreitenden Fragmentierung des Wissens und der zunehmenden Anonymisierung durch Massenphänomene. Hier siedelt von Barloewen – quasi das Stolpern des Clowns verhindernd und überwindend – das positive Modell des Clowns als »konstruktiver Anarch« an, als Beobachter und Kritiker der Gesellschaft, als Experte für Freiheit, die sich für ihn zuallererst im Spiel äußert. Im Anschluss an das Interview reflektieren Rafiu Raji und Richard Weihe Thesen von Constantin von Barloewen anhand von Beispielen: Herbert Marcuses Begriff des »eindimensionalen Menschen«; der Hochseilkünstler Philippe Petit, der zwischen den Zwillingstürmen des einstigen World Trade Centers balancierte, als Verkörperung des »konstruktiven Anarchen«; die Dekonstruktion des Clowns in Bertolt Brechts Badener Lehrstück vom Einverständnis, bei der das clowneske Prinzip der ›Tücke des Objekts‹ gleichsam zur Tücke des Subjekts wird und schließlich die ungewöhnliche Beziehung des alten Clowns Calvero mit der jungen Ballerina Terry in Charlie Chaplins Limelight als Beispiel für die Wechselbeziehung zwischen der Kunstfigur und ihrem ›lebenslänglichen‹ Darsteller. Demis Quadri vergleicht in seinem Beitrag die Spielweisen der Comici – der Akteure in der Commedia dell’arte – mit denen der Clowns und die Lazzi (komische Einlagen oder Wortwechsel) der einen mit den Gags der anderen. Als Beispiel wählt er den Umgang mit Säcken und Stöcken, gleichermaßen beliebte Requisiten sowohl in den Szenarien der Commedia als auch in den vom Zirkusforscher Tristan Rémy gesammelten Entrées clownesques. Das Versteckspiel und der Slapstick, den Sack- und Stockeinlagen ermöglichen, verstärken die physische Dimension des Geschehens. Ungeachtet der unterschiedlichen Kunstformen Theater und Zirkus zeigen sich deutliche Affinitäten zwischen der ›handwerklichen‹ Spielpraxis der Comici und der Clowns: Lazzi und Gags folgen einer ähnlichen ›Clownlogik‹, die sich an Prinzipien wie Übertreibung, Überraschung, Missverständnis oder Inkongruenz orientiert und die Quadri als »delirio controllato« auf den Begriff bringt: ›beherrschte Verrücktheit‹ oder ›Wahnsinn mit Methode‹. Renate Jurzik untersucht in ihrem Beitrag »Geistesgegenwart« und »Fantasie« als zentrale Aspekte clownesker Komik in Filmen von Charlie
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Chaplin. Mit seiner Figur des Tramps führt uns Chaplin in die märchenhafte Welt der Unbesiegbarkeit. Seine Gabe, prekäre Situationen blitzschnell einzuschätzen, ermöglicht es Chaplins Filmclown, jeder denkbaren Gefahr zu entkommen. Vor dem Hintergrund alltäglicher Katastrophen legt Chaplin Katastrophen des Jahrhunderts offen. Anpassungsschwierigkeiten und Widerstände erlebt er als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur bei der Weiterentwicklung und Umgestaltung seines Stummfilmhelden zu den ambivalenten Figuren seiner Tonfilme, sei es der Frauenmörder in Monsieur Verdoux (USA 1947), der deprimierte, dem Alkohol verfallene alte Clown in Limelight (USA 1952) oder der deplatzierte König Shadov in A King in New York (UK 1957). Statt in der Rolle des heroischen Underdogs als Vertreter der Zuschauer soziale Ungerechtigkeit zu kompensieren, hält Chaplin in seinen Tonfilmen der Gesellschaft den Spiegel vor. Der lächerliche und lustige Clown bzw. Tramp verwandelt sich in einen spottenden, satirischen Hofnarren. Anna-Sophie Jürgens vertritt in ihrem Beitrag die These, in neueren Romanen aus dem Zirkusmilieu habe eine »clowneske Zirkuskunstfigur« traditionelle Clownfiguren ersetzt. In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird der Clown oft als tragischer, zu Gewalt neigender, mitunter psychisch labiler Zirkuskünstler dargestellt – und bietet sich damit als Identifikationsfigur des Künstlers im Allgemeinen an. Heute tritt er dagegen als Protagonist auf, der die Rolle des Autors ergriffen hat und ein Narrativ schafft, das nur noch lose mit dem Zirkus zusammenhängt. Die Autorin prüft ihre These unter dem Aspekt der »Poetisierung« von Wolfgang Iser anhand des Romans Illywhacker (1985) von Peter Carey. Dabei zeigt sie die Affinität zwischen Zirkus und Literatur: Die für den Zirkus typische Ästhetik des Hyperbolischen, das Spiel in der Manege auf den Stufen des Suchens und Findens, des Erfindens und Fingierens, macht den Zirkus als literarischen Stoff besonders attraktiv. Der Zirkus »blendet« uns, so lautet ein Fazit dieses Beitrags, und die clowneske Zirkuskunstfigur der Literatur ist eine wesentliche Quelle dieses ambivalenten Lichts – eine Figur, die durch ihre eigene Strahlung diffus wird. Matthias Christen entwirft eine Typologie des »düsteren Clowns« und verfolgt seine Geschichte vom Stummfilm der 1910er Jahre bis zur Figur des Jokers in The Dark Knight (USA 2008), der Batman-Verfilmung von Christopher Nolan. Durch die Qualifikation als »düster« soll eine moralische Bewertung vermieden werden, denn dieser Clowntyp agiert außerhalb moralischer Kategorien. Der ›düstere Clown‹ ist keine Figur
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aus dem Zirkus, sondern eine Schöpfung des Kinos. Er entstammt dem Bereich der populären Ängste, die Filme ausgiebig ausschöpfen, insbesondere im Genre des Horrorfilms. Während klassische Zirkusfilme dem Zirkus eine utopische Dimension zuschreiben, zeigen Filme mit düsteren Clowns die Umkehr: Aus Utopie wird Dystopie; Lachen und Mitgefühl als traditionelle emotionale Reaktionen auf den Clown verwandeln sich in Schrecken und Abscheu. Christen interpretiert Zirkus und Zirkusfilme als »Formen ritualisierter Transgression«. Während jede Transgression vormals reguliert war durch den ›Zirkuscode‹, durch Clownroutinen und bewährte narrative Mittel, fallen diese Regularien beim düsteren Clown weg: Er hat sich, wie der Joker, ganz vom Referenzrahmen des Zirkus gelöst, er hat keinen Ort mehr – er ist ein Geist, der Alpträume schafft. Inhaltlich schließt der Beitrag von Lena Sharma an Christens Thema an, richtet den Blick aber stärker auf die aktuelle Populärkultur. Dabei wird deutlich, dass sich seit dem späten 20. Jahrhundert Darstellungen eines psychopathischen, moralisch und geistig degenerierten Clowntyps häufen. Anhand des sogenannten Evil Clowns zeigt Sharma, in welchem Maß der Charakter des Clowns vom gesellschaftlichen und kulturellen Zeitklima geprägt ist. Zur Untersuchung ihrer These arbeitet die Autorin mit dem von C.G. Jung beschriebenen Archetyp des ›Tricksters‹ als theoretische Bezugsfigur. Wie der auf uns destabilisierend wirkende, Gegensätze vereinigende Trickster infiltriert der Evil Clown die globalisierte Populärkultur. Inzwischen ist dieser neue Clowntyp in unterschiedlichen Ausprägungen von Bösartigkeit und Irrationalität in fast allen medialen Bereichen präsent. Vor allem im amerikanischen Horrorfilm wurde der Evil Clown zu einer Schlüsselfigur: parallel zu einer sich verbreitenden, als ›Coulrophobie‹ bezeichneten, vorzüglich bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen auftretenden Angst vor Clowns. Diese Clowns wollen nicht mehr das Publikum unterhalten und komisch wirken: Sie behalten das Lachen für sich. Es ist das hämische Grinsen des Überlegenen, der die Macht des Terrors auf seiner Seite hat. Das Unbehagen am Clown ist hier der nackten Angst gewichen. Der Evil Clown ist die Kehrseite des menschlichen, poetischen Clowns, den Constantin von Barloewen u.a. beschreiben: das Antlitz der Inhumanität.
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Der vorliegende Band führt zahlreiche Perspektiven zusammen, und somit erweist sich die Multiperspektivität selbst als Ausdruck des spektral angelegten Clowns. Eine einheitliche Sicht auf eine so vielschichtige, kulturgeschichtlich differenzierte Figur wie den Clown gibt es nicht. In meinen Schlussbemerkungen versuche ich, die wesentlichen Erkenntnisse »über den Clown« (im Sinne des Buchtitels), die sich aus den unterschiedlichen künstlerischen und theoretischen Perspektiven ergeben, zusammenzufassen und weiterzuführen. Zu den Hauptelementen ›Maskierung‹ und ›Spiel‹ kommt hier ein weiteres Element hinzu, das anhand eines Gags oder Gag-Fragments vielleicht leichter zu illustrieren als zu beschreiben ist: Von der ersten Zuschauerreihe aus wirft Clown Dimitri winzige Papierröllchen in einen am Bühnenrand stehenden offenen Hut. Zweimal schießt Dimitri absichtlich knapp daneben. Damit der Gag funktioniert, muss er beim dritten Mal treffen – und das tut er. Hier zeigt sich ein Prinzip, das mit der paradoxen Formel ›Gelingen des Nicht-Gelingens‹ ausgedrückt werden kann. Durch Verallgemeinerung dieser Formel lässt sich der Clown als paradoxe Denkfigur beschreiben. In vielen Beiträgen wird auf Widersprüche, Gegensätze, Dialektik, Paradoxa hingewiesen: Der Clown erscheint als etwas Bestimmtes und gleichzeitig als dessen Gegensatz. Somit kann ich die Vereinigung der Gegensätze, die Einheit des Verschiedenen als ›Paradoxie des Clowns‹ bezeichnen. Doch damit ist noch nicht gesagt, was an der Paradoxie clownesk sein soll. Ich belege die paradoxe Einheit des Verschiedenen mit sieben Spielformen des Clowns. In diesen Spielformen erscheint der Clown als Denkfigur des Sowohl-Als-Auch. 1. Grenzspiel: sowohl auf dieser als auch auf der anderen Seite. 2. Generationenspiel: sowohl Kind als auch Erwachsener. 3. Körperspiel: sowohl Körperbeherrschung als auch Ungeschicklichkeit. 4. Genderspiel: sowohl männlich als auch weiblich. 5. Ausbruchsspiel: sowohl Lachen als auch Weinen. 6. Sprachspiel: sowohl Sprachbeherrschung als auch Sprachlosigkeit. 7. Moralitätsspiel: sowohl das Gute als auch das Böse. Die logische Unvereinbarkeit des Widersprüchlichen wird in der ›Logik des Clowns‹ durch die Vereinigung der Gegensätze aufgelöst. Die einende Kraft ist das Spiel. »Clowns machen keine Nummer, keine Szene. Sie machen ein Entrée«, erklärt Pierre Byland in seinem Essay in diesem Band. »Der Clown ist da und schon muss er wieder gehen, denn die nächste Nummer beginnt.« Er will beim Publikum bleiben, er will nicht gehen. Aber er muss. Da
Das (Un-)Behagen am Clown
erfindet der Clown den »falschen Abgang«. Das sei seine eigentliche Erfindung, so Byland. Ein Entrée dauert vielleicht 12 Minuten. Die falschen Abgänge können bis zu 20 Minuten dauern. Der Clown geht, aber er ist dann doch nicht ganz gegangen. Er kommt wieder zurück. Er hätte noch was zu sagen. Allen Autoren und Autorinnen sei für die intensive Arbeit an den Beiträgen zu dieser Publikation herzlich gedankt. Großen Dank schulde ich darüber hinaus Ruth Hungerbühler, Dekanin und Leiterin der Forschung an der Accademia Teatro Dimitri, für die kooperative Planung und Durchführung der Konferenz im Centro Stefano Franscini auf dem Monte Verità bei Ascona im Frühling 2014. Durch ihre Initiative und Unterstützung bei der Dokumentation der Tagung hat sie wesentlich zur Realisierung dieses Buchs beigetragen. Zu danken habe ich den Studierenden Selma Roth und G.Ben Fred im Masterstudiengang Physical Theater für ihre Hilfe bei der Transkription von Gesprächsaufzeichnungen. Rafiu Raji hat als Projektphilosoph unsere Clownforschung an der Accademia gedanklich mitgestaltet und ihr wichtige Impulse gegeben; ich danke ihm für den kontinuierlichen, produktiven Dialog. Für die kritische Lektüre der Beiträge und ihre redaktionelle Arbeit danke ich Christel Balli sehr herzlich. Angelika Wulff bin ich dankbar für das Schlusslektorat sowie die Bildredaktion und die Vorbereitung des Manuskripts für den Druck. Anna-Sophie Jürgens stand mir als wissenschaftliche Lektorin bei der Arbeit an den Texten zur Seite. Ohne ihre Mitwirkung wäre dieses Buch nicht zustande gekommen; ihr gilt mein besonderer Dank. In einem klassischen Theaterstück heißt es jeweils am Anfang einer Szene: Tritt auf. Und am Ende der Szene: Tritt ab. Zwischen den Auftritten und Abgängen der Figuren findet die Handlung statt. Der Clown hingegen kommt und geht nur. »Entrées und falsche Abgänge – das ist schon die ganze Geschichte«, stellt Byland lakonisch fest. »Dazwischen ist eigentlich nichts.« Es gibt keine Handlung. Vor dem Publikum macht der Clown vielleicht etwas Musik, einige Gags, denn die bringen Lacher. »Eintreten ist immer so etwas wie Geborenwerden, Weggehen immer so etwas wie Sterben.« Der Clown ist da und schon muss er gehen. Oder: Der Clown wird geboren und schon muss er sterben. So wäre der Clown eine Metapher für das Leben des Menschen: Er will bleiben. Er will nicht gehen. Aber er muss.
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Erster Teil: Künstlerische Perspektiven
Vom Fußjongleur zum politischen Clown Die sechste Generation der Zirkusfamilie Bassi Leo Bassi
I. D er alte B assi Ich bin Autodidakt, ein Selfmademan. Ich glaube, ich bin in meinem Leben ganze drei Jahre zur Schule gegangen. Mit 15 habe ich zum letzten Mal das Innere einer Schule gesehen. Ich stamme aus einer richtigen Zirkusfamilie und ich bin stolz auf ihre mündliche Überlieferung. Wir sind seit vielen Generationen im Geschäft, auf beiden Seiten der Familie. Meine Mutter ist Engländerin, sie lebt noch. Ihr Vater war ein berühmter englischer Komödiant und sein Vater ebenfalls ein berühmter Komiker und Varietékünstler. Väterlicherseits besitzen wir noch Programmblätter aus dem Jahr 1840. Damals wohnte die Familie in Florenz. Mein Vater ist Italiener, die meiste Zeit lebte er allerdings in Frankreich als Jongleur, Clown, Komödiant. Ich selbst betrachte mich auch als Südländer, in keiner Weise als Engländer. Ich habe immer im Süden Europas gelebt, in Italien sowie in den letzten 25 Jahren meines Lebens in Spanien. Ich wurde in eine Familie geboren, in der sich alles ums Reisen drehte. Wir waren ständig in Wohnwagen unterwegs, meine Eltern wechselten von einem Zirkus zum anderen, von einem Varieté zum anderen oder zur nächsten Show. Die Trennung zwischen Zirkus und Varieté war rein formal, für die Künstler, die Auftrittsmöglichkeiten suchten, galt sie nicht. Als Sprössling einer Zirkusfamilie folgte ich lange Zeit brav den Pfaden der Tradition. Aber was ich jetzt mache, ist nicht mehr traditionell. Ich glaube, ich bin einer von ganz wenigen aus der Welt des Zirkus, die ausgeschert sind, um in ganz anderer Weise weiterzumachen. Als Kind saß ich ständig in den Vorstellungen; ich lernte mein Handwerk schon
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vom Zusehen. Mein Vater folgte dem klassischen Prinzip der Zirkuslehre. Er war Jongleur, Musiker, Akrobat und tat sein Möglichstes, um sein Wissen und seine Fähigkeiten an mich weiterzugeben. Im Mittelpunkt stand hierbei das Handwerk, Fachwissen, die Frage, wie man eine Sache richtig macht. Erst später ging es um Lustigsein – vorausgesetzt, man hatte die nötige Begabung. Üblicherweise kam diese mit zunehmendem Alter. So zeigten die Jüngeren akrobatische Nummern, während die Älteren lustig zu werden begannen, weil sie nicht mehr so beweglich waren und ihnen die nötige Körperbeherrschung für die Akrobatik fehlte. Auf diese Art unterschieden sich die Generationen allmählich: Die Alten waren die lustigen Clowns und die Jungen waren die ›Künstler‹, die Artisten. Wie viele andere Zirkuskinder trat ich schon mit sieben Jahren auf. Doch meinen Eltern gefiel die Idee nicht, dass die eigenen Kinder jeden Tag in der Manege arbeiteten, sie wollten mich schonen. Mit 17 Jahren war ich ein ausgezeichneter Jongleur und begierig, mit meinen Eltern aufzutreten. Ich war ein überaus ernsthafter Jongleur, meine Eltern waren die Lustigen. Als Spezialität der Familie galt die Fußjonglage. Es ist eine lustige Geschichte, wie wir dazu gekommen sind, Fußjongleure zu werden. Mein Großvater, Marcel Bassi, war ein ausgesprochen geschäftstüchtiger Mann. Er hatte viele Kinder und beobachtete als Zirkusmensch seine kleinen Kinder sehr genau, um festzustellen, welchem Kind er welche Nummer beibringen könnte. Bedauerlicherweise kam eines seiner Kinder mit gelähmten Armen und Händen zur Welt. Das Mädchen konnte keinen Ball ergreifen und in die Luft werfen wie alle anderen Geschwister. Der Großvater in seiner bodenständigen Art, mit dem Geschäftssinn des Zirkusmannes, sagte nur: »Wenn sie nicht mit den Händen jonglieren kann, dann jongliert sie eben mit den Füßen.« Er ernannte den Bruder, der ihr altersmäßig am nächsten stand, zu ihrem Betreuer und Trainer – dieser ältere Bruder war mein Vater. Auf diese Weise lernten mein Vater und seine kleine Schwester mit den Füßen zu jonglieren. Ich mag diese Geschichte, weil sie eine typische Zirkusgeschichte ist. Es geht um Überlebenskunst. Diese gaben mir die Eltern mit und deshalb habe ich auch überlebt. Ich möchte erklären, was ich überlebt habe und was es mir bedeutet, zu überleben. Tja, ich habe den Niedergang überlebt, der schon 200 Jahre vor mir begann. Ich werde in eine Familie hineingeboren, ich bin ein Baby und noch ahnungslos, in welches Umfeld ich hineingesetzt worden bin. Langsam, Stück für Stück, lernte ich die ganze Geschichte kennen. Erst viel
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später dämmerte mir, dass ich zur letzten Generation einer Familie gehörte, deren Geschichte um die Zeit der Französischen Revolution begann, sich während der Industrialisierung fortsetzte und auf blühte, als die Städte wuchsen und das Reisen in Europa einfacher und schneller wurde. Diese Geschichte halten Zirkus und Varieté bereit – Formen, die innerhalb von 200 Jahren Tausende und Abertausende von Witzen und Gags produziert haben. Jeder Zirkus, auch ein drittklassiger, beschäftigte Artisten und Clowns sowie zahlreiche Arbeitskräfte. Die Besten waren in einem großen Zirkus-Parcours international unterwegs, die Schlechtesten landeten bei irgendwelchen Provinzzirkussen, aber alle fanden eine Anstellung. Dieses System entwickelte eine bestimmte Lebensart und Denkweise, bot Möglichkeiten, den eigenen Nachwuchs auszubilden und einzubeziehen. Auch meine Eltern waren bestrebt, das Beste für mich zu tun, um mir ein Leben in diesem System zu ermöglichen. Nur gab es, wie ich bereits angedeutet habe, ein Problem, denn dieses traditionelle System löste sich auf. Während meiner ganzen Jugend hörte ich von Zirkussen, die aufgeben mussten oder von Theatern, die man in Parkhäuser verwandelte. Ich erfuhr von einzelnen Leuten, die ihren Job verloren und von ganzen Familien, deren Existenzgrundlage wegbrach. Wahre Katastrophen kamen mir zu Ohren. Zum Beispiel war einer der besten Freunde meines Vaters in den 1960er Jahren – ich war damals ungefähr 13 Jahre alt – ein hervorragender Jongleur, der aus dem sozialistischen Bulgarien geflohen war und nun im Westen beim Zirkus arbeitete. Eines Tages erfuhr mein Vater, dass sein Freund für die nächste Saison keinen Zirkus gefunden hatte. Jedes Jahr, im März, musste man als Artist ein Engagement für die nächste Saison finden. Das Geld ging ihm aus. Dann verbreitete sich die Nachricht seines Selbstmordes, in den er seine Frau und seine Tochter einschloss, mit der ich befreundet war: Er hatte einen Schlauch auf den Auspuff seines Autos gesteckt und das Kohlenmonoxid in den Wohnwagen geleitet, alle Türen verriegelt und so sich und seine Familie vergast. Diese Tragödie traf uns alle hart. Man konnte jetzt nicht mehr sagen: »Es gibt zwar keine Arbeit, aber wenn du ein guter Jongleur bist, findest du immer eine Möglichkeit, aufzutreten.« Der Bulgare war ein hervorragender Jongleur, er hatte keine Arbeit gefunden – und jetzt war er tot. Sie können sich vorstellen, welche Wirkung diese Nachricht auf mich hatte, ein 13-jähriger Junge, der täglich drei bis vier Stunden Jonglieren übte, weil sein Vater sagte: »Etwas Besseres gibt es nicht. Als Meister-
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jongleur kannst du in jedem Zirkus arbeiten und um die Welt reisen.« Mein Vater war wirklich ein hervorragender Zirkuskünstler, aber er hatte auch Glück gehabt; irgendwie gelang es ihm, von Saison zu Saison ein Engagement zu bekommen. Dennoch stellte sich uns jeden Tag aufs Neue die Frage: »Wie viele Zuschauer haben wir heute?« Vor jeder Vorstellung spähten wir ins Zelt und zählten die Leute. Ich sagte dann zu meinem Vater: »Heute sind es siebzig.« »Und gestern?« »Gestern hatten wir hundert.« Meine Eltern wurden sogar in Amerika engagiert. Sie arbeiteten in einem berühmten Club und Varieté, dem Latin Quarter in Manhattan. Diesem Club verdanke ich meine Existenz. Ich wurde also in Amerika geboren. Das Leben, das ich kennenlernte, war keine wirkliche Misere. Meine Eltern waren nicht mittellos, dennoch hing ein Damoklesschwert über uns, die Angst vor einer bösen Wende war ständig gegenwärtig. Wie gesagt, ich komme aus einer Familie mit mündlicher Tradition: Zu Hause redeten alle ununterbrochen und ich erinnere mich gut an die geführten Diskussionen. Nach den Vorstellungen saßen die Eltern mit ihren Mitspielern und Freunden beim Abendessen und unterhielten sich über das Publikum. Es werde immer schlechter, klagten sie. Wegen des ganzen Fernsehzeugs verliere das Publikum allmählich jeden Sinn für Qualität. Wenn der alte Bassi, mein Großvater, das Wort Fernsehen hörte, sprang er auf: »Das Problem ist nicht das Fernsehen, sondern das Kino!« Er setzte noch eins drauf: »Das Kino ist unser Niedergang!« Ich fragte ihn: »Warum?« »Weil es zeigt, wie dumm das Publikum in Wahrheit ist.« »Wie? Was? Dumm? Großvater, ich mag das Kino! Was soll denn am Kino so schlecht sein?« »Die Leute gehen in ein Zimmer und starren eine Wand an. Stell dir vor, wenn es alle täten, wenn alle nur eine Wand anstarrten! Wo wären wir dann, die Künstler?« Er beantwortete seine Frage selbst: »Ich kann dir sagen, wer davon profitiert, nämlich die Leute, die die Wände besitzen! Und wir sind draußen.« Mein Onkel war ein berühmter Zirkusbesitzer. Er hieß Bouglione; ihm gehörte der Cirque Bouglione in Paris. Ein wesentlicher Teil meiner Kindheit bestand darin, durch Paris zu streifen, wo der Onkel ein Haus besaß und einen Zirkus – mein Spielplatz. Die Familie Bouglione machte Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Zirkussen ein gutes Geschäft und investierte auf kluge Weise ihr Vermögen. Mein Onkel war Multimillionär. Die Bougliones sind bis heute extrem reich, sie waren nicht nur erfolgreiche Zirkusleute, sie besaßen auch einen ausgeprägten Ge-
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schäftssinn. Dabei hatte mein Onkel nie lesen gelernt. Als ich 14 oder 15 Jahre alt war und noch von Zeit zu Zeit zur Schule ging, um ein wenig nachzuholen, was ich versäumt hatte, nannten sie mich den »Doktor«. »Bist du sicher, dass du nicht Doktor werden möchtest?«, fragte mich der Onkel. Ich könne immerhin lesen, antwortete ich, er nicht. »Dafür kann ich rechnen!« Ich weiß noch, wie ich ihm vorwarf: »Aber Onkel, das Leben ist doch mehr als Geldzählen und du kannst nicht einmal die Zeitung lesen.« »Ach, wieso sollte ich die Zeitung lesen, wenn ich am Radio die ganze Zeit Nachrichten höre.« »Und was ist mit einem Buch?« Der Onkel schaute mich zufrieden an und meinte: »Daran habe ich auch gedacht. Aber aus welchem Grund sollte ich ein ganzes Buch lesen wollen?« »Na, weil es so viele Geschichten gibt.« »Schau«, erklärte der Onkel, »wenn das Buch gut ist, wird es jemand verfilmen. Dann kann ich den Film sehen. Wenn das Buch nicht gut ist, werden sie keinen Film daraus machen. Warum sollte ich dann ein Buch lesen, das niemand lesen will?«
II. P inter oder das P ublikumsproblem Das war also meine Erziehung und daran gäbe es auch nicht das Geringste auszusetzen, wenn es da nicht ein kleines Problem gegeben hätte: Es kam nämlich niemand mehr in den Zirkus, jedenfalls immer weniger Leute. Bei voll besetztem Zelt wie früher mit Tausenden von Leuten, wäre ich wahrscheinlich bis heute glücklich im Zirkus – und könnte immer noch nicht lesen. Es gab Vorfälle, die bewiesen, dass etwas nicht stimmte. Ein solcher Vorfall war der erwähnte Selbstmord des Jongleurs, ein Schock für alle. Ein zweiter Vorfall, der mich ebenso hart traf, war der Abriss des Cirque Médrano in Paris, den mein Onkel persönlich verantwortete. In dem historischen Zirkusgebäude waren alle berühmten Clowns aufgetreten, dort hatten die impressionistischen Künstler gezeichnet. Ich habe ein Foto gesehen, da sitzt Grock am Steuer seines neuen Wagens vor dem Cirque Médrano, der meinem Onkel gehörte. Ich erinnere mich an die Diskussionen in der Familie, man versuchte, auf ihn einzuwirken. »Du kannst doch das Gebäude nicht einfach abreißen! Du hast eine Verantwortung gegenüber unserer Familientradition.« »Ich verstehe euch ja«, entgegnete mein Onkel, »aber der Betrieb kostet Geld. Keiner geht mehr in den Zirkus, wie soll ich das finanzieren? Soll ihn der Staat finanzieren, dann kann auch das Gebäude bleiben!« Doch der französische
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Staat hatte keinerlei Interesse, den Cirque Médrano zu subventionieren, also entschloss sich mein Onkel, das Gebäude abzureißen. Er dachte pragmatisch. Eine junge Theatertruppe zeigte auf einmal Interesse an dem Haus. Die Truppe nannte sich Théâtre du Soleil – nicht Cirque du Soleil, sondern Théâtre. Es war das Jahr 1967, ich bin 1952 geboren, also war ich damals 15. Ich war noch nie in meinem Leben im Theater gewesen, niemand in der Familie war je in einem Theater gewesen, wir waren eine eingeschworene Zirkusfamilie. Deshalb konnte niemand verstehen, warum der Onkel seinen Zirkus plötzlich vermieten wollte. »Was, du willst den Zirkus an eine Pantomimengruppe vermieten oder wie?« »Naja, besser an eine Theatergruppe vermieten als was weiß ich. Es bringt wenigstens Geld ein.« Die Gruppe spielte ein Stück von Pinter – Harold Pinter, damals ein junger Autor, der gerade von sich reden machte. Niemand vom Zirkus wollte sich das ansehen. Schon die Laufzeit von zwei Monaten empfanden sie wie eine Vergewaltigung ihrer Kunstform. Aber ich war neugierig und schlich mich in eine Vorstellung – und mir gefiel das Stück! Es spielte in einer Küche und das Theater war voll junger Menschen. Zu Hause fragte mich mein Vater indirekt: »Du bist also hingegangen …« Ich sagte: »Ja.« Er wollte mich nicht direkt fragen, ob mir das Stück gefallen hatte, dennoch war er ganz begierig, es zu erfahren. »Erzähl mal, was hast du da gesehen?« »Eine Küche auf der Bühne.« »Was? Eine Küche?« »Ja, die Schauspieler gingen in der Küche ein und aus … – und der Zuschauerraum war voll.« »Voll???« »Ja, bis auf die obersten Plätze.« »Wie, auch die Klappsitze?« »Ja, sogar die Klappsitze, obwohl man auf den Klappsitzen kaum etwas sieht. Es war komplett voll!« In der Familie reagierte man auf meinen Bericht so: »Seht ihr, die Leute wissen nicht mehr, was Qualität bedeutet, sie haben keine Ahnung. Sie gehen in diesen Pinter und füllen die Ränge! Harold Pinter!« Der Theaterbesuch ging mir nach und ich rief: »Was soll der Mist?« Ich nahm allen Mut zusammen, ging zu meinem Vater und sagte: »Du hast uns doch eingebläut: Das Publikum hat immer recht. Unser Geschäft ist es, die Zuschauer zufriedenzustellen.« Tatsächlich war das seit jeher die Meinung meines Vaters gewesen: »Wir müssen sie zum Lachen bringen, wir müssen sie überraschen. Wir sind ein Teil von ihnen und sie sind ein Teil von uns.« Mein Großvater führte diese Haltung auf unseren Familiennamen zurück: »Die Bassi, das sind die niedrig Gestellten. Wir sind frei, wir machen Sachen, die sich sonst keiner traut.«
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Ein besonderes Reizthema für meinen Großvater war die Kirche. »Wer zur Kirche geht, setzt sich hin und wartet auf ein Wunder. Im Zirkus warten wir nicht auf Wunder. Wir lassen sie geschehen. Das ist der Unterschied.« »Und wie bringt ihr Wunder zustande?«, wollte ich wissen. »Mit Schweiß. Jesus kann fliegen, wir haben Trapeze und überwinden die Schwerkraft. Wir haben Zauberer, die lassen uns aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden.« Und mein Großvater erinnerte mich an die italienische Geschichte: »Vergiss nicht, dein Urgroßvater war im Geheimbund der Carbonari aktiv, die revolutionäre Bewegung der Köhler. Als sein Vater und er Jonglieren und Akrobatik übten, war es illegal.« Daran wurde ich immer wieder erinnert: »Zu dieser Zeit wollten die Kirche und die Oberschicht Freizeit für die Arbeiterklasse grundsätzlich verhindern, damit sie nicht solche Dinge wie Akrobatik betreiben konnte. Um die Arbeiterschaft beherrschen zu können, durften die Arbeiter keine trainierten Körper haben. Sport war nicht erlaubt, nur im Rahmen der Soldatenausbildung. Deshalb entstand um 1840 in Italien eine politische Bewegung, die illegale Turnhallen errichtete, geheime Trainingsplätze.« Dann erinnerte mich mein Großvater an die Familientradition: »Zu unserer Lebensweise gehört das Reisen. Um überhaupt reisen zu können, brauchtest du früher einen Brief von der Kirche als Zeugnis, dass du von einer Gemeinde in die andere unterwegs warst. Ohne ein solches Schreiben wurde Angehörigen der Unterschicht das Reisen untersagt. Dagegen konnten Angehörige der Oberschicht reisen, wohin und so oft sie wollten. Wir Zirkusleute hatten keine Papiere, aber wir zogen dennoch umher und deshalb verkörperten wir den Traum der Arbeiterklasse. Das hörte alles auf als man Züge erfand. Denn die Züge ermöglichten den Arbeitern und ihren Familien, frei herumzureisen. Dadurch verloren wir unseren besonderen Status.« Tatsache war, dass sich immer weniger Leute für unsere Welt des Zirkus interessierten. Dennoch übte ich stundenlang Jonglieren mit Händen und Füßen. Ich konnte sechs Bälle in der Luft halten. Meine Freunde außerhalb des Zirkus hatten nur Fußball im Kopf, nicht Fußjonglage. Ich weiß noch, wie neidisch ich mit 15 oder 16 Jahren auf die Fußballer war. Ich sagte mir: »Verdammt! Ich bin besser als sie, aber keiner will mich sehen. Und in einem Team mit 11 erwachsenen Männern in Turnhöschen ist jeder Torschütze berühmt!« Ich spürte, wie ungerecht es war. Mein Vater meinte nur: »Tja, die Leute kapieren es nicht mehr.« Ich widersprach
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ihm. »Was? Sind jetzt die Zuschauer zu dumm? Wir sollen das Publikum respektieren – einen Haufen Idioten? Was gilt jetzt?« Dann passierte es, im März 1969, ich war 17 Jahre alt. Meine Eltern und ich hatten ein Engagement beim Circus Krone in München. Im Programm war auch ein alter Clown namens Gianni. Ich erinnere mich, wie ich ihn beobachtete; Monate lang, Abend für Abend. Er verkörperte genau jene Werte des Clowns, die meine Eltern hochhielten. Stolz sein, nicht niederknien. Ein alter Mann von 80 Jahren mit einer Gitarre und einem Stuhl. Er tat fast nichts, aber alle krümmten sich vor Lachen. Der Zirkus war voll. Und dann fanden wir auf unseren Garderobentischen ein Blatt Papier. Darauf stand: »Nächsten Mittwoch keine Abendvorstellung.« Die Mittags- und Nachmittagsvorstellungen sollten wie gewöhnlich stattfinden, die Abendvorstellung würde ausfallen. »Werden wir denn dafür bezahlt?«, fragten wir den Zirkusdirektor. »Ja ja, alle erhalten die gleiche Gage wie üblich.« »Warum wird denn die Abendvorstellung gestrichen?« »Wir haben den Zirkus für einen anderen Anlass vermietet – Musik.« »Musiker? Warum kommen die zu uns in den Zirkus, haben die keinen Raum?« »Naja, keine gewöhnliche Musik. Es handelt sich um eine Gruppe. Sie wissen schon, diese junge Popgruppe.« »Mit den langen Haaren?« »Ja, mit langen Haaren.« Ich lauschte dem Gespräch zwischen meinem Vater und dem Zirkusdirektor und fragte: »Wie heißt die Gruppe?« »Ten Years After.« Zehn Jahre später. Daraufhin meinte mein Vater: »Ich kenne nicht einmal die Gruppe Zehn Jahre früher.« Also erklärte ich ihm: »Vater, sie waren in Woodstock.« »Woodstock? Was war denn dort los?« »Das große Festival letztes Jahr im amerikanischen Woodstock. Es kamen etwa 150.000 Menschen.« Ich wusste, diese Zahl, die Menge der Zuschauer war für meinen Vater das Entscheidende. »Okay okay, dann eben keine Abendvorstellung, wenn’s sein muss«, konzedierte er. Der Direktor gab Anweisungen: »Es könnte ein bisschen wild zugehen heute Nacht. Alle Artisten und Clowns müssen nach der Nachmittagsvorstellung ihre Requisiten wegräumen und verschließen.«
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III. D ie W ende Dieser Abend wurde ein Wendepunkt in meinem Leben, ein transformierender Moment. Die Nachmittagsvorstellung endete, das Publikum war zufrieden und lachte. Wir gingen hinaus, verschlossen unsere Requisiten und schon kamen Lastwagen angefahren. In wenigen Stunden wurden Verstärkeranlagen und riesige Lautsprecher ausgeladen und aufgestellt. Vor dem Zelt bildeten sich lange Schlangen von jungen Leuten. Sie warteten auf die Öffnung der Abendkasse, obwohl die Veranstaltung längst ausverkauft war. »Ich werde mir das Konzert anhören«, sagte ich zu meinem Vater. Das Zelt war gerammelt voll; auf den obersten Reihen konnte man kaum noch atmen. Die Gruppe trat auf, ihre Gitarren wummerten bada ba, bada ba, bum bum. Der ganze Zirkus vibrierte. Wir sind im Zelt, dachte ich, aber nicht in meiner Welt des Zirkus. Am nächsten Tag ging ich zu meinem Großvater. »Wie war es?«, wollte er wissen. »Es war unglaublich.« »Aber Kunst? Diese Leute sind doch keine Künstler. Sie können ja nicht einmal einen Rückwärtssalto.« Von diesem Moment an war ich mir klar: Im Zirkus gehe ich vor die Hunde. Ich muss weg. Wohin? Was soll ich tun? Ich wollte zunächst so viel wie möglich über meine Familie erfahren. Ich wollte wissen, woher ich kam und warum ich hier war. Wie gesagt, ich bin Autodidakt und als solcher organisierte ich mein Lernen selbst. Ich begann, jedes Familienmitglied auszufragen; ich wollte so viel wie möglich aus erster Hand erfahren. Der ganze Zirkusbetrieb war im Grunde konservativ. Im Mai 1968 waren die Zirkusleute gegen die Studentenbewegung und stellten sich auf die Seite des Establishments. Ich glaube, meine Eltern sind nie zur Wahl gegangen, aber ich hatte den Eindruck, sie standen politisch rechts. Ihren Erzählungen nach zu urteilen, war es zu Zeiten meines Urgroßvaters genau umgekehrt, er widersetzte sich dem Establishment. Eigenartig, dachte ich, wie ist das zu erklären? So begann ich mit dem Studium der Geschichte des Clowns. Ich suchte Bibliotheken auf und lieh mir Bücher aus. Damals gab es weder Internet noch Suchmaschinen, man brauchte viel mehr Zeit, um an Informationen heranzukommen. In Italien arbeitete ich oft nachts im Zirkus, tagsüber saß ich in Bibliotheken und las. Ich ging sogar in die Bibliothek des Vatikans und fragte dort einen Bischof, ob ich an einer Synode teilnehmen dürfe, um zu verstehen, wie die Kirche funktionierte. Jedes Mal, wenn mein Großvater einen Priester sah, griff
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er sich in den Schritt und streckte dem Geistlichen die Faust entgegen, Zeigefinger und kleiner Finger abgespreizt. Als er 60 Jahre alt war, nahm er mich mit auf einen Spaziergang um den Dom von Florenz und ermunterte mich, ihn nachzuahmen, wenn wir einen Pfarrer sähen. Meine Mutter schlug die Hände zusammen: »Lehre meinen Sohn nicht solche Sachen!« »Sie werden ihm einmal nützlich sein!«, rief mein Großvater und wies mich an: »Wenn du einen Priester siehst, greifst du dir an die Eier und streckst ihm die rechte Faust entgegen mit zwei abgespreizten Fingern, so!« Die Geistlichen waren an ihren großen Hüten mit breiter Krempe leicht zu erkennen. »Das sind schlechte Menschen«, sagte mein Großvater mit vorgehaltener Hand. Mehr Religionsunterricht hatte ich nicht in meinem Leben. »Du musst dir an die Eier greifen!« Da war ich sechs Jahre alt. Mit 23 oder 24 Jahren teilte ich meinen Eltern mit, dass ich nicht mehr mit ihnen im Zirkus auftreten wollte. Es war eine schwierige, schmerzhafte Entscheidung. Wir arbeiteten damals eng zusammen und ich hatte großen Respekt vor der älteren Generation und der Familientradition. Aber ich war mir sicher. Ich sah das Problem des Zirkus nicht in der Konkurrenz durch das Kino oder die Popmusik, vielmehr war es das ganze System des Show Business, das sich und uns zu verändern begann. In den 1960er Jahren gingen immer mehr Künstler zum Fernsehen. Doch die wirkliche Macht beim Fernsehen hatten die Werbeagenturen und Sponsoren. Ich besann mich auf meine Vorfahren, die als Helden der Arbeiterklasse gefeiert worden waren, weil sie sich vor der Obrigkeit nicht in die Knie zwingen und sich von den Mächtigen nicht beugen ließen. Jetzt wollte ich gegen die Mächtigen antreten, die das Fernsehen beherrschten. Ich wollte keine Marionette jener Drahtzieher sein, die das Fernsehen benutzten, um Gehirne zu manipulieren. Mein Ausgangs- und Fluchtpunkt war die traditionelle Auffassung, der Sinn des Zirkus bestehe darin, Freiheit zu leben, den Autoritäten stolz entgegenzutreten und sich in der eigenen Tätigkeit um das Zusammenspiel von Körper und Geist zu bemühen. Ich beschloss, den Zirkus zu verlassen und auf der Straße zu arbeiten. Auf den Straßen habe ich im Grunde alles gelernt. Im Nachhinein erscheint der erste Teil meines Lebens, der traditionelle Teil beim Zirkus, wie eine große, schwere Wolke. In dem Moment, als ich auf die Straße ging, spürte ich echten Widerstand. Damals war es nicht erlaubt, sich einfach auf die Straße zu stellen und zu spielen; ich wurde immer wieder von der Polizei aufgegriffen und weggeführt. Das war in Paris im Jahr 1977.
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Fantastische Leute wie Philippe Petit1 waren Teil dieser Szene – jener Petit, der auf dem Hochseil zwischen den Türmen des World Trade Center in New York spazierte. Ich habe in Paris viele Abende mit ihm verbracht, ihm schwebte schon damals Großes vor: »Wir müssen gegen das System vorgehen«, sagte er. Ich zeigte mein ganzes Repertoire als Jongleur, ich war damals wirklich gut und kam beim Publikum an. Was den Zuschauern noch mehr gefiel als meine Jonglage, waren meine Provokationen, wenn ich z.B. wütend wurde oder verrückte Sachen anstellte. Meine Fähigkeiten als Jongleur haben sie bewundert, aber um die Zuschauer wirklich zu packen, musste ich mit ihnen interagieren, politisch und gesellschaftlich relevante Themen anschneiden. Es war noch nicht lange nach 1968 und es gab weiterhin eine starke Studentenbewegung. So entwickelte ich stetig meine Showelemente und begann zu reisen. Ich spielte in vielen verschiedenen Ländern; es war alles sehr aufregend und neu. Dabei hatte ich das klare Ziel, die ursprüngliche raison d’être meiner Vorfahren im Zirkus in die heutige Welt zu übertragen. In gewisser Weise ist mir das mit meinen provokanten Aktionen auch gelungen. Vor 10 oder 15 Jahren merkte ich jedoch, dass das Format meiner Show nicht mehr funktionierte und dass ich einen Schritt weitergehen musste. Wenn du zu den besten Festivals eingeladen wirst, vom Staat organisiert, mit Geld und guten Rahmenbedingungen, und für ein Publikum der oberen Mittelklasse spielst, verlierst du bald den Bezug zur Unterschicht. Du spielst immer mehr den Reichen in die Hände, wirst von den Medien und der Werbung hofiert – aber letztlich nur manipuliert. Deshalb entfachte ich einen Streit mit den Spitzenverdienern, mit der Werbeindustrie und mit dem Fernsehen. 1 | Philippe Petit, geboren 1949 in Nemours, ist ein französischer Hochseilartist, Straßenjongleur, Taschenspieler, Pantomime; er lief mit 15 Jahren von zu Hause fort und brachte sich autodidaktisch Drahtseilakrobatik bei. Die traditionelle Zirkusform ablehnend, begann Petit als Straßenkünstler in Paris. Am frühen Morgen des 7. August 1974 balancierte er auf einem Hochseil (417 Meter über der Straße) zwischen den Türmen des World Trade Centers, New York. Petit lebt seit den 1980er Jahren nahe New York. Der Dokumentarfilm von James Marsh M an on W ire (Großbritannien/USA 2008) auf der Basis von Petits Buchveröffentlichung To Reach the Clouds: My High Wire Walk Between the Twin Towers (2002) gewann 2009 den Oscar in der Kategorie »Bester Dokumentarfilm‹.
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IV. D ie M acht des H ofnarren Wie gesagt, in den letzten 25 Jahren meines Lebens war ich in Spanien und habe dort vieles gemacht; in Spanien werde ich ebenso geliebt wie gehasst. Als sie zum Beispiel in Spanien zum ersten Mal Big Brother im Fernsehen zeigten, war mir das ganze Konzept dieser Sendung zuwider. 50 Prozent des spanischen Fernsehpublikums sahen sich die erste Staffel von Big Brother an, alle waren neugierig, wie so ein Menschengrüppchen zusammenwohnte. Heute kräht kein Hahn mehr danach, aber vor 14 oder 15 Jahren hatten solche Formate gerade erst begonnen und ich war schon dick im Geschäft der ›Großen Provokation‹. Ich fand heraus, dass die Produzenten die Sendung in einem Haus in den Bergen drehten. Sie dachten, der Ort sei geheim, aber ich erfuhr, dass sich die Bauern über die Big-Brother-Crew ärgerten, weil sie das Haus für die Sendung ohne Angabe des Zwecks äußerst günstig angemietet hatte. Also pachtete ich das gesamte Umland und organisierte dort ein kleines Woodstock, um möglichst viel Krach zu machen, so dass sich die Leute im Big-Brother-Haus nicht mehr ungestört unterhalten konnten. Es war ein großes Ding. Ich zog einige Freunde aus der ShowSzene in Deutschland hinzu, die Open-Air-Veranstaltungen organisierten. Sie besaßen riesige Schiffssirenen, die »Boaaaah, boaaah!« machten und über 15 bis 20 Kilometer zu hören waren. Die Sirenen hatten unterschiedliche Tonhöhen, man konnte damit Melodien spielen, »boh-boh boh-boh-boaaah.« Ich platzierte die Sirenen im Halbkreis um das Haus herum. Die Leute von Big Brother hatten keine Ahnung, was wir da draußen auf den Feldern ausheckten. In dem Moment, als am letzten Tag der Sendung der Sieger erkoren wurde, schalteten wir gleichzeitig alle Sirenen an. Sie machten »Beehhhhhhhhhhhhhh!« – und niemand konnte den Namen des Gewinners verstehen. Der Sender musste den Störfall mit einem Werbeblock überbrücken. Sie schickten die Polizei, aber darauf war ich vorbereitet. Ich hatte das Land gepachtet, es war also mein Land, das einzige, was mir die Polizei vorwerfen konnte, war der rekordverdächtige Lärmpegel. »Stellen Sie die Dinger ab!«, befahl der Einsatzleiter. »Das gibt eine Buße wegen der Lärmemissionen.« »Wie?«, sagte ich. »Das ist mein Land. Ich kann doch auf meinem Land tun und lassen, was ich will. Sorry!« Als nächstes schickte der Sender seinen privaten Sicherheitsdienst. Die Männer beschossen das Stallgebäude, in dem wir uns eingerichtet
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hatten, sie zerstörten die Verstärkeranlage und versuchten, die Sirenen zu sprengen. Es war eine Racheaktion im Stil der Mafia und es war das erste Mal, dass ich in eine direkte Konfrontation mit der wirklichen Macht geriet. Ich war so stolz auf mich, als diese Leute scharf zu schießen begannen. Ich dachte an meinen Großvater, an meinen Urgroßvater und die ganze lange Familiengeschichte und sagte mir: »Jetzt bist du zum richtigen Kampf zurückgekehrt: der Hofnarr gegen die wirkliche Macht.« Diese Macht waren die Besitzer der Fernsehsender und die Sponsoren der Sendung. Sie kochten vor Wut über meine Störaktion und schworen mir: »Nachdem, was du hier angestellt hast, wirst du nie wieder beim Fernsehen arbeiten!« Nur weniger Monate später nahm mich ein anderer Sender unter Vertrag. Hier war sie wieder, die Macht des Hofnarren! Die Macht, nicht niederzuknien, sich der Norm zu widersetzen – und im Sinne meiner Vorfahren ein echter Clown zu sein. Von da an entwickelte ich viele neue Projekte, die meisten in Spanien oder in spanischsprachigen Ländern Südamerikas. Ich erfand damals den Bassi Bus, den es bis heute gibt: Ich miete Busse und die Show besteht darin, korrupte Politiker an ihrem Wohnsitz zu besuchen. Wir verfolgen sie wie bei einer Safari und die Leute können Fotos schießen. Die Arbeiten von Michael Moore stehen meinen Aktionen, glaube ich, sehr nahe.2 Ich halte ihn für einen großartigen Hofnarren und Spaßvogel. In Italien arbeitete Beppe Grillo auf ähnliche Weise.3 Leider wechselte er bei den letzten Wahlen auf die ande2 | Michael Moore, geboren 1954 in Davison, Michigan/USA, Satiriker, Dokumentarfilmer, Bestsellerautor. B owling for C olumbine (USA 2002), sein kritischer Film über die amerikanische Waffenkultur aus Anlass des Massakers an der Columbine High School in Littleton, gewann 2003 den Oscar als bester Dokumentarfilm; für Fahrenheit 9/11 (USA 2004), in dem Moore die politische Entwicklung während der Präsidentschaft von George W. Bush nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 beleuchtet, erhielt Moore die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes 2004; Fahrenheit 9/11 gilt als der finanziell erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten. 3 | Giuseppe »Beppe« Grillo, geboren 1948 in Genua, italienischer Komiker, Kabarettist und Politiker, Gründer der Bewegung Movimento 5 Stelle (Fünf-SterneBewegung), die 2013 bei den Parlamentswahlen in Italien die zweitmeisten Wählerstimmen auf sich vereinigte. Den Wahlsieg von Berlusconi und Grillo kommentierte der damalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück spöttisch mit der Be-
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re Seite, die aktuellen Aktivitäten seiner Gruppe mag ich nicht. Aber vor etwa 10 Jahren war seine Arbeitsweise meiner sehr ähnlich. Hingegen stehe ich hundertprozentig zu einer höchst kontroversen Person in Frankreich, Dieudonné, einem Freund von mir.4 Er kratzt an den sensibelsten Stellen des Machtgefüges und es ist bezeichnend für einen, der die wirkliche Macht angreift, was jetzt mit ihm geschieht. Doch der Funktion des Clowns als Hofnarr sind keine Grenzen gesetzt. Soeben bin ich aus Brasilien zurückgekehrt. Anlässlich der Weltmeisterschaft haben sie dort gigantische Stadien gebaut. In Deutschland oder in anderen reichen Ländern wären solche Monumentalbauten zu verstehen – aber in einem Land, in dem Viele hungern und ein Großteil der Bevölkerung keine Schuhe besitzt? Der Staat hat mit öffentlichen Geldern eine Infrastruktur hochgezogen, von der nur eine kleine Gruppe profitiert, weil die Gebäude und Anlagen der FIFA gehören. Wenn ich sehe, wie sehr die Brasilianer und Brasilianerinnen den Fußball lieben und sich doch kaum jemand den Eintrittspreis für ein Spiel leisten kann, weil er ungefähr dem Lohn von vier Monaten Arbeit entspricht, empfinde ich das als empörend und ungerecht. Und die Leute sind wütend. Ich glaube, es ist für jeden mit einem Mindestmaß an Humanität normal, dorthin zu gehen und zu denken: »Das ist nicht gerade gut, was hier geschieht.« Als ich dort meine Shows machte, wusste ich, dass das Publikum mit dem politischen Ansatz meiner Arbeiten vertraut war. Ich scheute mich nicht, meine aufrichtige Meinung über die Weltmeisterschaft zu äußern. Also veranstalteten wir eine Aktion, um das Organisationskomitee zu provozieren: Ich ließ 5.000 Eintrittskarten für das Endspiel drucken und merkung, in Italien hätten zwei »Clowns« die Wahl gewonnen. (Spiegel Online 27. Februar 2013) 4 | Dieudonné M’bala M’bala, geboren 1966 in Fontenay-aux-Roses als Sohn eines Kameruners und einer Bretonin, tritt unter seinem Vornamen Dieudonné als Komiker, Schauspieler und politischer Aktivist auf. Mit dem jüdischen Komiker Élie Semoun gründete er das Duo Élie et Dieudonné und engagierte sich gegen Rassismus und gegen die französische Front National; seit 2003 fällt Dieudonné durch rechtsradikale, rassistische und judenfeindliche Äußerungen auf; wegen Verleumdungen und Diffamierungen wurde er zwischen 2006 und 2014 neunmal rechtskräftig verurteilt.
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verteilte sie auf öffentlichen Plätzen. Somit würden beim Endspiel 5.000 wütende, arme Leute am Tor stehen und hineindrängen. Warum tat ich das? Ich habe niemanden belogen; ich sagte jedem, der eine Eintrittskarte erhielt: »Diese Eintrittskarte ist nicht echt, sondern gefälscht. Aber wir benutzen sie wie eine echte und gehen hin.« Warum hat die brasilianische Regierung, zumal es sich um eine linke Regierung handelt, nichts unternommen? Sie hätte mindestens 20.000 Eintrittskarten aus dem regulären Verkauf ziehen sollen, um sie mittels eines Lotteriesystems an die Armen zu verteilen, die sich dafür interessierten, so dass auch arme Leute die Gelegenheit hätten, ein WM-Spiel im Stadion zu erleben. Kritiker meinen, ich hätte eine radikale Sicht der Dinge. Meiner Meinung nach ist es jedoch reine Menschlichkeit und eine ganz einfache Denkweise. Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel geben, um zu veranschaulichen, wie ich die Logik meiner Familie fortzusetzen versuche, die Logik des Zirkus, wie ich sie von meinem Großvater und von meinem Vater übernommen habe. »Wenn dich die Leute lustig finden, werden sie mit dir lachen, und diese Sympathie wirst du nutzen können, um Dinge anzuprangern«, erklärte mir mein Großvater. »Die Leute mögen den Clown, aber sie werden dich keinesfalls nach einer Vorstellung nach Hause einladen. Weil sie vor dem, was der Clown repräsentiert, Angst haben. Letztlich stehen sie alle der Welt des Theaters, der Mächtigen, der Intellektuellen näher als dem Zirkus; der Zirkus wird aus ihrer Sicht immer eine zweitklassige oder drittklassige Form der Unterhaltung sein und uns, den Clowns, messen sie keine wirkliche Bedeutung bei.« Dennoch glaube ich an unsere Aufgabe, die Dissonanzen in der Welt des Fernsehens und der Werbung herauszuhören und darauf hinzuwirken, dass die Harmonie mit der tiefen Menschlichkeit und der mystischen Kraft zurückkehrt. Ich finde, diese Aufgabe, Witze zu machen, Spaß zu treiben, sollte als heilige Tätigkeit betrachtet werden. In vielen Kulturen wird sogar dem plattesten, vulgärsten Clown eine gewisse Heiligkeit zugesprochen; man erachtet sein Wirken als notwendig. Wir Menschen halten uns für intelligente Wesen, aber in diesem Fall haben wir versagt, wir haben die humoristische Intelligenz, das Wissen um die Komik verloren.
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V. I l Paticano Ich kam zu dem Schluss, dass ich etwas unternehmen sollte, das der Idee des Clowns etwas Heiliges verleihen könnte. Es geschah im Zusammenhang mit einem denkwürdigen Vorfall im Jahre 2006. Eine Gruppe von Leuten plante ein Attentat auf mich. Sie platzierten eine Bombe unmittelbar neben meiner Garderobe im Theater – ein Kilo Sprengstoff. Ich hatte außerordentliches Glück, dass ihre Bösartigkeit ihre technischen Fähigkeiten übertraf. Die Bombe war schlecht konstruiert. In dem Theater zeigte ich damals meine Show über Religion. Im Gedenken an meinen Großvater, der mir im Dom von Florenz seine Geste der Priesterabwehr beigebracht hatte, habe ich meine Show Offenbarungen genannt: Ich hielt einfach eine Bibel in der Hand und las daraus vor, ohne den Text zu verändern. Ich veränderte nur meine Stimme, die Tonlage, den Klang – und der Bibeltext wurde auf einmal zu einer Art Puppentheater. Das fanden viele Leute lustig und lachten, aber viele lachten auch nicht. Diejenigen, die es gar nicht lustig fanden, unternahmen alles, um meine Show zu stoppen. Sie warfen Molotowcocktails gegen das Theater. In den Gassen wurde ich von Typen mit Baseballschlägern angegriffen. Sie warnten mich: »Hör auf mit deiner verdammten Scheißshow!« Ich machte weiter. Bis zu dieser Bombe. Die Theaterleitung berief eine Mitarbeiterversammlung ein. Die Frage war: Sollte die Show weitergehen? Wir beschlossen weiterzumachen, keine Frage. Die Polizei versprach, uns zu beschützen. Drei Monate haben wir noch ausgehalten und die Show gezeigt. Ich musste ständig die Unterkunft wechseln; es war klar, dass mir jemand nachstellte und mich umzubringen versuchte. Diese Typen konnten nicht begreifen, dass es in dem, was ich machte, eine Tiefe gab, dass meine Aktionen einen philosophischen Kern hatten, wenn auch in einem konträren, obskurantistischen Sinn, indem ich Leute am selbstständigen Denken hinderte, um sie an Übernatürliches glauben zu lassen. Ich spürte, dass ich nicht mit Gegengewalt antworten konnte und etwas anderes finden musste. Nach vielen Jahren des Nachdenkens kam mir vor etwa zwei Jahren die Idee, eine Kapelle zu bauen, eine kleine Kirche, die einer Plastikente geweiht war. Eine gelbe Plastikente. Das muss ich auf Spanisch erklären: Ente heißt pato. Das Wort hilft mir bei der Benennung der Kirche: La
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Iglesia Patólica5 – Patólica statt Católica. Wütende Leute fragen mich: »Was soll denn das?«, und ich erkläre ihnen: »Schauen Sie, Sie möchten, dass Ihr Kreuz verehrt wird und ich möchte, dass meine Plastikente verehrt wird. Sie ist mein Entengott.« »Entengott? Das bisschen Plastik?« »Na und? Was ist denn Ihr Gott?« Jeden Sonntag halte ich in meiner Kirche eine Messe ab und wenn ich auf Reisen bin, wird die Messe von einem anderen Clown abgehalten. Das kann ein Mann oder eine Frau sein, es gibt auch viele Frauen, die bei uns die Messe zelebrieren. Wir unterhalten sehr gute Beziehungen zur lesbischen Gemeinschaft, daher haben wir viele lesbische Pfarrerinnen. Der Kirchenraum ist klein, etwa von der Größe eines Schulzimmers. Das Gebäude liegt im Zentrum von Madrid, in einem Künstlerviertel. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert, wir haben es innen im barocken Stil dekoriert, unter Verwendung von Müll und Ramsch, den wir auf der Straße fanden: weggeworfene, entsorgte Sachen, aber mit Gold bemalt, und alles in allem gleicht der Raum doch auffällig einer katholischen Kirche. Unsere Kirche ist jeweils am Wochenende geöffnet, Freitag, Samstag und am Sonntag um 13 Uhr halten wir unsere Messe ab. Wir haben eine kleine, treue Gemeinde, die uns dort live erleben möchte, für andere übertragen wir die Messe mittels Livestream. Der Ort selbst heißt Il Paticano. Der Name ist aus Pato und Vaticano zusammengesetzt. Die Leute machen sich fast in die Hosen vor Lachen. Im Deutschen gibt es keine adäquate Übersetzung – vielleicht ›quackolische Kirche‹. Aber die Messe ist keine Witzveranstaltung; wir sprechen über humanistische Themen, besonders gern über Clowns und Clownerie, denn jede Woche behandeln wir in der Lesung eine Person, die ihren Lebenszweck darin fand, andere Menschen zum Lachen zu bringen. Natürlich ist diese Kirche für streng religiöse Leute, zumal Katholiken, eine Zumutung, aber sie müssen darüber hinwegkommen und damit leben. Wie jede andere Kirche führen wir Prozessionen, Zeremonien und Rituale durch, auch kirchliche Trauungen. Einmal kam eine Frau zu mir und erklärte: »Ich habe ein Problem mit Männern, aber ich möchte trotzdem heiraten.« Ich antwortete: »Wissen Sie, wir sind lesbischen Menschen sehr freundlich gesonnen.« »Aber ich bin nicht lesbisch.« »Nun, dann weiß ich nicht, was Ihr Problem ist.« »Ich liebe meinen Hund. Mein 5 | Siehe auch die Homepage http://paticano.com/ vom 11.09.2015 oder das YouTube Video: https://www.youtube.com/watch?v=jJ5AFzNkG-4 vom 11.09.2015.
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Hund ist die einzige Person, die mir immer treu gewesen ist. Deshalb möchte ich … ich meine, ist es in dieser Kirche möglich, meinen Hund zu heiraten?« Ich antwortete sofort: »Wir haben absolut nichts dagegen. Hunde genießen das volle Vertrauen der Ente.« Die Frau zögert noch. »Aber es gibt ein Problem …«, worauf ich sie frage: »Und zwar?« »Der Hund ist kein Männchen, er ist ein Weibchen.« »Ich betone noch einmal, wir sind absolut für Lesben.« Wir haben also die Trauung gemäß dem Wunsch der Frau vollzogen. Nicht einmal der neue Papst Francisco hat bisher dieses Level an Gerechtigkeit erreicht. Wir taufen jedoch keine Kinder, wir taufen nur Jugendliche, die mindestens 18 Jahre alt sein müssen, bevor sie unserer Kirche beitreten dürfen. Die Taufe wird mit einer Sahnetorte besiegelt. Ich werfe ihnen die Sahnetorte ins Gesicht – als Stempel unserer Kirche – und damit ist aus unserer Sicht bereits alles erledigt. Natürlich ist das ein Scherz, aber einer, der weiter geht als ein normaler Scherz. Tatsächlich erscheinen jede Woche Menschen zur Messe und ich bekomme langsam Angst, denn so weit wollte ich nie gehen. Gemeinsam suchen wir nach der Essenz des Lachens, um sie mit anderen zu teilen. Ehrlich gesagt halte ich das Lachen für wichtiger als den sogenannten Ernst des Lebens. Das ist auch der Grund, warum ich seit vielen Jahren in einem schwarzen Anzug auftrete und mit einer Brille, obwohl ich keine Brille brauche, ich kann auch ohne ausgezeichnet sehen. Warum? – um zur wahren Idee des Clowns, dem Helden der Arbeiterklasse, zurückzukehren. Ich möchte wie ein Narr, wie ein Idiot wirken. In diesem Kostüm mache ich die verrücktesten Sachen, ich schütte sogar Pferdemist über meinen Kopf. Leuten, die mich fragen, warum ich so etwas tue, antworte ich: »Es tut den Kindern gut, einen Mann in schwarzem Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte zu sehen, der sich mit Pferdescheiße überschüttet. Diese Aktion ist pädagogisch wertvoll.«
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Abb.: Leo Bassi
Foto: Matteo Abati
Wie so oft wenden dann die Leute ein: »Aber Herr Bassi, ist ein Clown nicht dazu da – Sie wissen schon –, um die Leute zum Lachen zu bringen? Geht Ihre Vorstellung einer politischen Dimension des Clowns nicht ein wenig zu weit?« Diesen Leuten antworte ich: »Wissen Sie, eines Tages fragte mich mein Großvater: ›Weißt du eigentlich, warum Clowns zu große Kleider tragen und warum sie so bunt sind?‹ Ich sagte: ›Nein, das weiß ich nicht‹, und der Großvater erklärte: ›Weil das die Kleider waren, die die Armen zum Anziehen hatten. Andere hatten sie nicht. Nur die reichen Leute konnten sich passende Kleider leisten. Die reichen Leute konnten die Ärmellänge anpassen lassen. Wenn du hingegen arm bist und eine Familie mit vielen Kindern hast, kannst du nicht für jedes Kind ständig perfekt sitzende Hosen kaufen oder ein perfekt passendes Hemd, es ist unmöglich. Und was passiert? Naja, manchmal geben dir die reichen Leute irgendein Kleidungsstück, was eines ihrer Kinder getragen hat, aber immer noch sauber und gut erhalten ist. Deshalb haben die
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armen Leute zusammengewürfelte Kleider in allen möglichen Farben. Und was die Schuhe betrifft‹, fuhr der Großvater fort, ›wenn die Clowns zu große, überlange Schuhe tragen, dann deswegen, weil sich nur die reichen Leute Schuhe der passenden Größe leisten konnten, aus demselben Grund. Die Kinder von armen Leuten trugen unter der Woche üblicherweise keine Schuhe, aber an Sonntagen stopften sie Zeitungspapier in ihre zu großen Schuhe, damit sie auf ihre kleinen Füße passten. Und dann ertrugen sie das demütigende Gefühl, in zu großen Schuhen und mit verschieden farbigen Kleidern auf die Straße zu gehen und durch die Blicke der Passanten ständig an die eigene Armut erinnert zu werden. Also, was tut dann der Clown? Er zieht noch größere Schuhe und noch buntere Kleider an und ist stolz darauf. Und dadurch ermöglicht er auch dem Publikum, stolz zu sein trotz der Armut. Und wenn du eine rote Nase hast, was bedeutet sie? Die rote Nase hat ein Betrunkener. Wenn du zu viel trinkst, dann wird deine Nase rot‹.«
Die rote Nase erklärte mir der Großvater noch genauer. »Zu meiner Zeit gab es keine anderen wirksamen Drogen außer Alkohol. Die Leute betranken sich die ganze Zeit, sie waren andauernd betrunken – die Unterschicht, die Arbeiter: betrunken, betrunken, betrunken und sie kotzten aufs Pflaster. Die reichen Leute schauten sie an und meinten: ›Ooohh!‹ Aber es gab Gründe, sich zu betrinken. Es gab Gründe, arm zu sein. Es gab Gründe dafür. Es ist leicht, nicht betrunken zu sein, wenn du reich bist; es ist weniger leicht, wenn du 18 Stunden am Tag in der Mine oder in der Kohlengrube arbeitest. Deshalb setzte sich der Clown eine rote Nase auf, um auf der Seite der Betrunkenen zu stehen, um auf der Seite der Armen zu stehen: auf der Seite der Leute, die sich schlecht fühlten, denen es nicht gut ging, und er machte sie damit stolz.«
Die Welt von Zara, Mango, H&M und all diesen Läden, die billige Kleider verkaufen, die perfekt passen, verändert radikal die Idee des Zirkus. In einer Welt, in der die Leute mit Ryan Air reisen können, fast umsonst, und keinen Brief von der Kirche vorzuweisen brauchen, verändert sich der Sinn des Clowns, wenngleich der Grund, Clown zu sein, der gleiche geblieben ist. Es gibt heute sogar noch ausgeprägter als früher das Verhältnis 1% wirklich reicher Leute gegenüber dem Rest, den bekannten 99%. Wir kehren beinah zu einem mittelalterlichen feudalen System zurück, in dem sehr wenigen reichen Leuten eine Masse gegenübersteht, die keinerlei Macht und nichts zu sagen hat und vollkommen manipuliert
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wird. Das ist das perfekte Wirkungsfeld für den Hofnarren, für den politischen Clown. Den jungen Leuten sage ich heute: »Die Notwendigkeit ist bedauerlich, aber es gibt heutzutage ungeahnte Gründe und Möglichkeiten, wieder als Hofnarr zu arbeiten, weil so viel Dreck herumliegt in der Gesellschaft. Dort draußen müssen noch viele Gefechte geführt werden und dafür ist der Humor vielleicht die beste Waffe und die kraftvollste Antwort.«
Auf der Grundlage der Tonaufnahme des englischen Vortrags vom 28. Mai 2014 geschrieben von Richard Weihe
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I. S chule des L achens Mein Vorname Dimitri ist quasi schicksalshaft mein Künstlername und mein neuer Familienname geworden; dass man solch einen schönen Vornamen als Künstlernamen benutzt, ist ja naheliegend. Der Name hat mich schon immer fasziniert. In der Schule musste man ab und zu Vorträge halten. Für einen Vortrag habe ich dann Zar Dimitri gewählt. Er hieß »Pseudo-Dimitri«. Man wusste nicht so genau, ob er der richtige oder der falsche Zar war. Der Vater meiner Mutter war wirklich Russe, er hieß Morosov. Er ging in die Schweiz und lebte als Student in Bern. Bald nach der Geburt meiner Mutter ist er jedoch verschwunden und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Effektiv ist Morosov der leibliche Vater meiner Mutter, auch wenn sie ihn gar nicht kannte. Ich habe das lange nicht gewusst, denn meine Mutter hat mir das immer ein bisschen verheimlicht und erst gegen Ende ihres Lebens überhaupt davon gesprochen. Als ich schließlich einmal nachfragte, war ich bestimmt schon 40 Jahre alt. Das Schweigen hatte einen Grund: Die Großmutter war verheiratet und hat ihrem angetrauten Ehemann nie gesagt, dass dieses Kind, meine Mutter, von dem Russen war. Die Großmutter tat einfach so, als ob ihr Mann der Vater wäre und dieser hat gar nichts gemerkt. Ich hatte schon als Kind meine helle Freude daran, Menschen lachen zu hören und speziell, wenn sie über mich lachten. Ich habe beim Lachen einfach eine Befriedigung verspürt, v.a., wenn ich andere zum Lachen bringen konnte. Aber gut, es gibt natürlich viele Kinder, die das mögen, fast jedes Kind bringt irgendwann die Großen zum Lachen – durch seine Naivität, durch seine Unschuld, durch das Tollpatschige. Das ist in jedem
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Kind von Natur aus angelegt, nur war es bei mir schon besonders ausgeprägt. Abb.: Dimitri
Foto: Rémy Steinegger
Dann kam für mich der große Moment, als ich mit sieben Jahren einen Clown gesehen habe im Circus Knie. Es handelte sich um einen damals berühmten Clown namens Andreff.1 Andreff klingt russisch, aber er war Schweizer. Im Circus Knie wurde mir schon klar, dass es ein Beruf sein muss, andere zum Lachen zu bringen. So fragte ich meinen Vater: »Wie
1 | Jean Andreff, 1919-1976, Geburtsname Jacques Romeo Andreff, Schweizer Zirkusclown; geboren in Paris als Sohn eines aus Russland stammenden Artisten und einer Schweizerin; Ausbildung beim Circus Hagenbeck in Deutschland, anschließend Engagements als Clown bei Zirkussen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, England sowie der Schweiz, von 1941-1944 beim Circus Knie.
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ist denn das, macht er das jeden Tag?« Mein Vater konnte es mir gut erklären, er verglich es mit seinem Beruf als Maler und Bildhauer: »Weißt du, mich fragen die Leute auch immer: ›Also, du malst; am Sonntag sehr wahrscheinlich, und sonst? Hast du auch einen Beruf?‹ Und dann muss ich immer erklären, dass Malen und Bildhauen ebenfalls ein Beruf ist. Man muss vielleicht nicht den ganzen Tag üben wie ein Musiker, aber man arbeitet doch viel – muss studieren, entwerfen, kreieren, wieder von vorne anfangen und so weiter.«
Mein Vater war für jeden Berufswunsch von mir offen. Ich hätte auch sagen können, ich werde Lokomotivführer, was ja viele Buben gerne werden möchten. Meine Mutter war natürlich eine wichtige Abnehmerin meiner Erfindungen, Zuschauerin und Zuhörerin. Sie konnte sehr schön lachen! Von diesem Moment an, als ich Andreff im Zirkus gesehen hatte, wusste ich, dass ich Clown werden will. Ich habe mir bald hundert Sachen ausgedacht, um die anderen zum Lachen zu bringen. Es waren komische Situationen, ohne Worte. Ich kann mich erinnern, dass ich vieles aus Märchen übernahm, weil wir jeden Abend von der Mutter ein neues Märchen serviert bekamen. Es gab zum Beispiel in irgendeinem russischen Märchen eine Szene, in der der Teufel wütend wird und sich vor Wut den Bart ausreißt. Diese Szene spielte ich dann meiner Mutter vor. Ich klebte mir einen Flachsvollbart an und deklamierte: »Ich reiße mir den Bart aus!« Ratsch! – und die Mutter hat sich totgelacht. Das Parodieren lag mir später mehr. Ich bin in Ascona geboren und aufgewachsen, wo wir immer internationales Publikum hatten. Wir Jungen – zehnjährig, zwölfjährig, vierzehnjährig – versammelten uns jeden Tag auf der Piazza oder am Lido und imitierten einfach die Holländer und ihre Sprache, also Holländisch, aber auch andere Sprachen, die wir hörten, aber nicht sprechen konnten, wie Englisch oder Französisch. Dort fing schon das ganze Grammelotzeug2 an. Ich war der Klassenclown, das Kompaniekalb und brachte die anderen zum Lachen: man hat das einfach 2 | Grammelot ist eine spielerische Nonsense-Sprache, eine Mischung aus vereinzelten richtigen Wörtern einer oder verschiedener Sprachen und größtenteils bedeutungslosen, nur den Klang einer Sprache imitierenden Wörtern. Commedia dell’arte-Spieler sollen Grammelot verwendet haben, um das Unsagbare auszudrücken; zudem lenkt die Unverständlichkeit der Sprache die Aufmerksamkeit auf den mimischen und körperlichen Ausdruck. Ein Beispiel aus neuerer Zeit sind die
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von mir erwartet. Ich merkte, mit dem Humor und dem Lachen kann man Beziehungen schaffen und Erfolg haben bei den Menschen; man wird geschätzt, hat mehr Kontakt oder wird eingeladen. Die Frage war: Wo lernt man das, den Clown? In Moskau gab es eine sehr gute Zirkusschule, aber es wäre damals unmöglich gewesen, dort hinzukommen, v.a. als Schweizer. Aus einem so kapitalistischen Land wie der Schweiz hätten sie in Moskau sicher keinen Studenten angenommen. Interessant wird es, wenn man dann Alternativen sucht: Also gut, ich kann jetzt nicht in eine Zirkusschule, aber ich kann ja alles nebenbei lernen, was ich als Clown brauche, Musikinstrumente spielen sowieso. Damit bestreite ich meine Nummern und trete bei dieser oder jener Hochzeit oder Party auf. Und so habe ich es auch gemacht. Dann fand man eine wunderbare Lehrstelle für mich, als Töpfer, in der Nähe von Bern. Das gefiel mir, Töpfer ist ein schöner, kreativer Beruf. Am Abend habe ich mit Studenten Theater gespielt und meine Stunden genommen – Klarinette, Gitarre, Akrobatik, Tanz. Und am Ende gab es ein Lehrlingsdiplom als Töpfer: »Prüfung bestanden.« Danach bin ich nach Paris gegangen und konnte mich dort als Töpfer über Wasser halten. Ich war ein guter Dreher und bin zu Keramikern gegangen, um für sie an der Drehscheibe zu arbeiten: bei einem vielleicht einen Tag pro Woche, bei einem anderen nochmals einen halben Tag. Ich habe ihnen die Sachen gedreht, die sie später bemalten und glasierten. Aber gut, ich wusste natürlich, dass es in Paris Lehrer für Pantomime gab. Es war eine fantastische Zeit für mich. Ich besuchte die Kurse von Étienne Decroux.3 Wir waren nur wenige Studenten, vier oder fünf. Allerdings habe ich bald gemerkt, dass seine Art von Pantomime nie mein Weg sein würde: Mime pur. Gewisse Elemente schienen mir jedoch für pseudodeutschen Reden von Anton Hynkel in D er grosse D iktator (USA 1941) von Charlie Chaplin. 3 | Étienne Marcel Decroux, 1898-1991, französischer Pantomime und Schauspieler, Begründer der Mime corporel dramatique. An der von Jacques Copeau geleiteten Theaterschule Vieux-Colombier ausgebildet, trat Decroux unter der Regie von Antonin Artaud und anderen am Théâtre Alfred Jarry auf, unterrichtete in den 1920er Jahren an der Schauspielschule von Charles Dullin und gründete Anfang der 1960er Jahre seine eigene Pantomimenschule in Paris; zu seinen ehemaligen Schülern zählen neben Marcel Marceau und Jean-Louis Barrault u.a. die Hollywood-Schauspielerin Jessica Lange.
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meinen Beruf als Clown brauchbar… Es war von Anfang an mein Plan, diese verschiedenen Sachen zu lernen und sie dann mit Komik zu mischen. Komik war natürlich bei Decroux überhaupt nicht vorhanden. Null. Aber das hat mich auch fasziniert, diese absurde Strenge, so dass sein Stil schon fast wieder komisch wirkte. Mit seiner Meisterschülerin hat er z.B. eine Übung gemacht, die darin bestand, langsam aus einem Glas zu trinken. Aus irgendwelchen Gründen musste ich dann für drei Monate in die Schweiz. Als ich zurückkam und zu Decroux ging, beschäftigten sie sich immer noch mit dem Glas! Bei einer Russin nahm ich Ballettunterricht und sie erkannte sofort, dass ich ein Komiker bin, kein Tänzer. Sie sagte immer: »Oh, tu sautes bien, tu as une bonne élévation.« Ich konnte schon den Salto und hatte eben Müskelchen, die viele Tänzer nicht hatten. Aber trotz der nötigen »élévation« war ich kein guter Tänzer. Die Lehrerin erhielt eines Tages den Auftrag, im Palais de Chailleau ein Ballett einzustudieren und sagte zu mir: »Tu peux faire le Clown.« Ich durfte also bei diesem Ballett als halbes Pferd oder etwas ähnliches über die Bühne rasen, die Tänzer stören und ›das Kalb machen‹. Da war ich in meinem Element. Die Russin hat genau gewusst: Den muss ich als Clown einsetzen und nicht als klassischen Tänzer. Noch während meines Unterrichts bei Decroux ergab sich durch Vermittlung eines Freundes der Kontakt zu Marcel Marceau.4 Bald besuchte ich seine Kurse und dadurch entstand nun ein Konflikt: Decroux durfte nicht erfahren, dass ich gleichzeitig zu Marceau ging, er hätte mich sonst rausgeschmissen. Marceau war zwar sein Schüler gewesen, aber Decroux war total gegen Marceaus Kommerzialisierung seiner wunderbaren, noblen, edlen, reinen Kunst der Pantomime. Decroux suchte in der Pantomime das Absolute. Marceau seinerseits hatte gar nichts gegen Decroux, im Gegenteil, immer wieder erwähnte er, wie viel er Decroux verdanke. Gleichwohl warnte er mich: »Ne le dis jamais à Decroux!«
4 | Marcel Marceau, 1923-2007, geboren als Marcel Mangel in Straßburg, behielt nach dem Zweiten Weltkrieg den Namen Marceau bei, den er sich während der deutschen Besatzungszeit zugelegt hatte; sein Vater wurde 1944 deportiert und in Auschwitz ermordet. 1947 schuf Marceau seine Figur »Monsieur Bip«, mit der er weltberühmt wurde. 1978 gründete er die École Internationale de Mimodrame de Paris, Marcel Marceau zur Vermittlung seiner »art du silence«.
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Vielleicht war Decroux auch ein bisschen eifersüchtig, denn Marceau hatte natürlich einen Welterfolg mit seinem Monsieur Bip. Marceau war mein wichtigster Lehrer. Dieser Mensch hatte Phantasie, Toleranz, Talent, Instinkt und eine enorme künstlerische Intuition. Er war kein guter Lehrer, aber er hat bei Übungen Dinge herausgespürt. »Ah, Dimitri, tu as un pied intélligent!« Und dann sagte er etwas, was mich prägte: »Tu sais, Dimitri, tu pourrais être un bon mime. Moyen, pas mal. Mais tu seras un bon Clown.« Da war ich 23 oder 24 Jahre alt – und hatte gerade vom Meister selbst gehört, was ich insgeheim immer machen wollte. Nach dieser Bestätigung durch Marceau war mir klar: Der Clown ist mein Schicksal. Bevor ich meinen eigenen Weg ging, wirkte ich ungefähr ein Jahr in der Compagnie de Mime Marcel Marceau mit: Proben und etwa 150 Vorstellungen, danach löste sich das Ensemble auf. Auf dem Plakat standen die Namen. Da stand Gilles Segal,5 da stand Alejandro Jodorowsky6 – und da stand Dimitri. Eine der unvergesslichen Nummern von Marceau ist Le fabricant de masque, der Maskenmacher. An einem Nachmittag war die ganze Truppe zusammen im Probenraum, etwa zehn Personen. Da sagt Jodorowsky auf einmal zu Marceau: »Écoute, j’ai une idée pour toi. Je te la racconte. Tu es un fabricant de masques. Tu mets un masque, tu prends un autre masque, tu prends beaucoup de masques. Tu les fabriques. Et puis tu prends un masque et tu ne peux plus l’enlever. Alors tu restes avec ce masque. Et puis tu dois l’enlever avec un outil. Tu l’enlèves et tu restes aveugle.«
5 | Gilles Ségal, 1929-2014, französischer Theater- und Filmschauspieler sowie Theaterautor und Regisseur rumänischer Herkunft; Ségal begann seine Bühnenkarriere als Mitglied der Compagnie Marcel Marceau und in Inszenierungen von Jean-Louis Barrault. 6 | Alejandro Jodorowsky, geboren 1929 in Tocopilla, chilenischer Film- und Theaterregisseur, Drehbuchautor, Schauspieler, Dichter, Comicautor; er begann als Clown und gründete 1947 seine eigene Theatertruppe, das Teatro Mimico, bevor er Anfang der 1950er Jahre nach Paris zog. Sein Film M ontana S acra (Der heilige Berg) von 1973 hat inzwischen Kultstatus erlangt. Jodorowsky lebt heute in Paris und doziert öffentlich über sein spirituell-therapeutisches System, die »Psychomagie«.
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Marceau erkannte sofort: »C’est génial ça, je vais l’essayer ce soir.« Am Abend hat er die Nummer genau nach der Beschreibung gespielt, fix und fertig. Danach fragte Alejandro: »Et les droits d’auteur?« »Eh oui, je vais te les payer«, sagte Marceau und hat ihm tatsächlich jahrelang diese »droits d’auteur« bezahlt. Damit anerkannte er Jodorowsky als Urheber dieser Nummer – Marceaus berühmteste Nummer, Le farbricant de masques, praktisch sein pantomimisches Markenzeichen. In Paris hatte ich noch Gelegenheit, mit einem richtigen Clown zu arbeiten, dem Weißclown Maïss.7 Er war Franzose, lange Zeit Partner von Grock und einer der bekanntesten Weißclowns. Ich trainierte Akrobatik in einer Turnhalle in Paris und dort kam er oft vorbei. Alle sagten dann: »C’est Maïss. Monsieur Maïss!« »Eh, mon petit«, hat er einmal zu mir gesagt, »veux-tu travailler avec moi?« Daneben stand irgendeiner und sagte nur »C’est Monsieur Maïss!« Er war eine Respektperson. Dann habe ich ihn gefragt: »Quoi faire?« »Tu ne veux pas faire le Clown?« »Oui, oui, Monsieur Maïss!« Maïss wollte mir beibringen, was komisch ist. »Dimitri, pour être drôle tu dois parler dans le nez. Tu dois parler comme ça. Parler dans le nez.« »Oui, Monsieur Maïss, il faut parler dans le nez. Oui alors.« »Et maintenant, la deuxième chose. Quand tu marches, tu dois toujours être cambré. Cambré!« Also den Rücken sollte ich gebogen halten, das Gegenteil eines Buckels bilden. In dieser Haltung musste ich dann einen Vogel nachmachen und durch die Nase sprechen. Das waren die Grundrezepte von Maïss. Ich habe genau gewusst, dass ich sie nie anwenden werde. Trotzdem, es war etwas dran. Diese Rezepte waren natürlich nicht aus der Luft gegriffen, es gibt Parallelen. Auch Arlecchino ›parla dal naso. Perché la maschera fa già che parla un po’ dal naso. Arlecchino parla un po’ così, no?‹ Ich habe überall versucht, etwas zu lernen und habe genau gewusst, das mache ich nicht oder das nehme ich mit, kommt in mein Rucksäckchen, gehört zu meinem Kapital. 7 | Louis Maïss, 1894-1976. Früh von seinem Onkel Thomas Hassan als Akrobat, Seiltänzer und Violinist ausgebildet, trat Maïss zunächst als Hochseilkünstler mit einer Fahrrad- und Motorradnummer hervor, wonach er allmählich ins Clownfach wechselte und mit verschiedenen Partnern in Clownduos spielte: 1949 zusammen mit Grock im Théâtre de l’Étoile, später mit anderen berühmten Clowns wie Charlie Rivel, Pastis, Albert Fratellini – und Dimitri.
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II. A ls C lown im Z irkus , im Theater — und in der S chule Bereits als Kind habe ich viel gesungen. Ich kannte alle Lieder aus unserem Kanton. So lag es nahe, dass ich die Musik nutze. Abgesehen von den Sprachimitationen, vom Grammelot, hat mich immer der stumme Clown gereizt, der auf der ganzen Welt verstanden wird, weil er nicht sprachgebunden ist. Das gilt natürlich auch für den Musikclown. Er ist international. Wie Marceau mit seiner Pantomime: Er konnte in Japan, in Amerika spielen und wurde überall verstanden. Deshalb war Grock,8 der Inbegriff des musikalischen Clowns, für mich das größte Vorbild neben Marceau. Leider habe ich ihn nie persönlich kennengelernt, ich war viel zu scheu. Aber mit 17 Jahren sah ich ihn zum Glück noch bei einem Live-Auftritt. Seine Gags waren einfach, fast lapidar, aber urkomisch. Grock war natürlich ein virtuoser Musiker und – das ist gar nicht bekannt – er war auch Komponist, er hat mehr als tausend Musikstücke komponiert. Ich spielte damals schon drei Instrumente: Gitarre, Klarinette und Trompete, zudem noch ein bisschen Akkordeon, Concertina und natürlich Saxophon. Klarinette ist die Grundlage; wenn du Klarinette spielen kannst, ist Saxophon einfach. Dann kam noch das Alphorn dazu. Zum Schluss hatte ich etwa zehn Instrumente. Mich verfolgte der Spleen, jedes Instrument virtuos spielen zu wollen, aber ich merkte bald, dass ich das nicht schaffte. Dafür beherrsche ich viele Instrumente und kann jeweils vier gleichzeitig spielen, zum Beispiel drei Blasinstrumente und dazu Gitarre. Alte Kollegen erzählen mir bis heute: »Weißt du noch, Dimitri, als wir zusammen Mittagessen gingen, bist du um zwei aufgestanden und hast gesagt: ›Entschuldigung, ich muss mich jetzt verabschieden, ich muss üben gehen‹.« Dass ich immer üben ging, haben alle an mir bewundert. Für mich war es selbstverständlich, Übung macht schließlich den Meis8 | Grock, geboren 1880 als Charles Adrien Wettach in Loveresse im Berner Jura, Schweizer Clown, Musiker und Komponist. Er ging zunächst als Reitlehrer der Söhne eines ungarischen Grafen nach Ungarn und trat alsbald in einem ungarischen Zirkus auf. Nach erfolgreichen Jahren als Clown im Londoner Music Hall »Coliseum« von 1915-1924 baute er sich 1928 in Imperia an der italienischen Riviera die »Villa Bianca« mit 50 Zimmern (heute »Villa Grock«). Als 71-Jähriger gründete er sein eigenes Zirkusunternehmen, bevor er sich in seine Villa zurückzog, wo er 1959 starb; sein Markenzeichen war der Ausruf »Nit mööööööglich!«
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ter. Es gibt diesen Witz aus New York. Da fragt einer einen Taxifahrer: »Wie komme ich am schnellsten zur Carnegie Hall?«, und der Taxifahrer antwortet: »Üben, üben, üben.« Nach der Zeit in Paris legte ich gleich los und führte 1959 in Ascona mein erstes Soloprogramm auf. Von Anfang an habe ich mit der weißen Schminkmaske gespielt, mit den aufgemalten, stilisierten Tränen, und dabei bin ich auch geblieben. Chaplin beschreibt in seiner Autobiografie sehr schön, wie er in Hollywood anfing. Er hat noch kein Kostüm und muss schnell eines finden. Da geht er in den Fundus und findet diese weiten Hosen, das enge Jäckchen, den Melonenhut und das Stöckchen. Er zieht die Sachen an, spaziert herum, er fühlt sich darin wohl und hat Erfolg damit. Dann hat er sich gesagt: Das ist mein Schicksal, dass ich dieses Kostüm gefunden habe, per Zufall. Diesem Kostüm bleibe ich treu. Das sagte ich mir auch als ich für mich dieses grünliche Jäckchen gefunden hatte, die etwas zu kurzen Hosen, die roten Socken, diese Frisur. So trete ich noch heute auf, unverändert. Ich habe im Zirkus und v.a. im Theater gespielt, für die eigene Compagnia auch Stücke geschrieben und Regie geführt, im Fernsehen machte ich nur wenig. Als wir mit der Compagnia unser Stück Il clown è morto – evviva il clown! aufführten, waren wir praktisch die Ersten, die im Theater etwas Zirzensisches zeigten. Wir waren die erste Truppe, in der die Schauspieler jonglierten, Saltos schlugen, Seiltanz und Pantomime als Ausdrucksmittel verwendeten, eingebettet in ein Theaterstück. Und 1970 bin ich als Clown beim Circus Knie aufgetreten. Da war es umgekehrt: Ich kam vom Theater in den Zirkus. Auch das war neu. Am Anfang haben alle gesagt, »Knie, du spinnst, diesen halben Mimen zu engagieren, diesen feinen, poetischen Clown für den Zirkus.« Es war ein riesiger Erfolg und dieser Wechsel zwischen Theater und Zirkus hat dann Schule gemacht. In einem Restaurant in Zürich traf ich einmal einen Regisseur, der mich fragte: »Würde es dich nicht reizen, Das letzte Band von Beckett zu spielen?« Ich antwortete: »Nein, tut mir leid.« »Aber du könntest es clownesk machen.« Darauf beschloss ich: »Gut, ich mache es.« Denn ich wusste, dass Beckett viele seiner Figuren als eine Art Clown konzipierte und dieser Krapp in Das letzte Band hatte viel Clowneskes. Dass Krapp Bananen isst, die Schale wegwirft und hernach darauf ausrutscht, ist doch eine alte Clownnummer. Ich habe dann viermal mehr Bananen gebraucht
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als Beckett vorsieht. Wir haben ihn während der Proben im Himmel angerufen und ihn um seine Zustimmung gebeten. »Hello, Mr Beckett, would you allow that we make not only two bananas but five?« Doch, doch, er fände es gut! Ich hatte einen Riesenspaß mit dieser Rolle, obwohl es eigentlich eine traurige Rolle ist. Aber die komischen Elemente – die Bananen, das Tonband und anderes – konnte ich als Clown voll nutzen. Bei der Uraufführung hatte Beckett selbst Regie geführt und angeblich den Schauspieler zuerst als Clown schminken lassen, bevor er die Idee wieder fallen ließ. Dennoch sah er in Krapp einen Clown. Meine Frau Gunda und ich hatten die Idee, ein eigenes Theater zu gründen – und das haben wir dann auch getan. Als wir 1971 den Raum, den wir in Ascona gemietet hatten, aufgeben mussten, verlegten wir unser Teatro nach Verscio. Mit der Zeit kamen immer mehr junge Leute auf mich zu, die fragten: »Wo kann man das lernen, was du machst? Du machst Musik, Akrobatik, Pantomime – totales Theater!« Da erscheint zufällig Richard Weber9 aus Prag und fragt: »Warum gründen wir nicht zusammen eine Schule?« Gunda war nicht gerade begeistert und ich dachte nur: ›Uh, da lade ich mir was auf‹. Aber im nächsten Moment erkannte ich: ›Das ist doch Schicksal, dass Richard herkommt und mich fragt, ob wir eine Schule gründen wollen‹. Und so haben wir sie zusammen gegründet, Richard, Gunda und ich. Ich habe Richard gleich zu verstehen gegeben: »Hör zu, Richard. Ich werde nie Lehrer sein. Der Clown soll die Leute zum Lachen bringen, soll die Leute ergreifen, unterhalten, auf poetische, künstlerische Art – aber er ist kein Pädagoge, und ich bin es auch nicht.« Dennoch habe ich in den ersten Jahren an der Schule Improvisation und Clownerie gelehrt, weil wir nicht genügend Lehrer hatten. Danach habe ich nur noch einmal im Jahr drei Wochen lang Clownerie unterrichtet, fertig, Schluss. Die Schule war nie als ›Clownschule‹ gedacht. Der Gründer ist ein Clown, insofern ist es die Schule eines Clowns, aber eben nicht für Clowns. Ich glaube gar nicht an die Möglichkeit einer Schule ›für Clowns‹. Schminken lernen, Grimassen schneiden, ein paar blöde Clowntricks, das Beil in den Kopf schlagen, Wasser aus den Ohren spritzen und solche Sachen, all das macht mich nicht zum Clown. Clown 9 | Richard Weber, geboren 1932 in Prag, Maskenbildner, Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagoge, war Mitglied des Prager Theaters am Geländer, das durch Welttourneen in den 1960er Jahren international bekannt wurde.
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kannst du eigentlich nicht lernen. Du musst das Talent haben und dann kommst du entweder selbst dazu oder du studierst meinetwegen Musik oder Akrobatik und entwickelst dich später zum Clown. Dagegen stand von Anfang an fest, dass Clownerie an unserer Schule ein wichtiges Fach sein sollte. Fast automatisch hat sich ein gewisser Stil ergeben durch die Grundidee, Bewegungstheater, burleskes Theater, Komödie, Farce, Clownerie, Pantomime, Akrobatik und zirzensische Kunst zusammenzubringen.
III. D er C lown als handelnder D ichter Clownerie ist sicher das, was ich am liebsten weitergeben würde oder sagen wir: Humor, Komik, das Lachen und wie Lachen in verschiedenen Formen erzeugt werden kann. Es ist mir ein Anliegen, dass die Welt des poetischen, burlesken, naiven Theaters weitergeführt wird – ein Theater, das durchaus Tiefgang haben kann, auch mal dramatisch, tragisch sein darf. Wenn hochintelligente Menschen noch ein Quäntchen Humor haben oder ein bisschen Selbstironie, werden sie meistens siegreich aus kritischen Situationen hervorgehen. Ich meine, der Humor an sich ist eine Art Überlegenheit. Aber es geht nicht darum, diese Überlegenheit auszunutzen. Jango Edwards10 sprach von Clown-Power: Wir Clowns hätten in gewisser Weise Macht über die Leute. Der Gedanke, den Erfolg in einer anderen Form auszunutzen, widerstrebte mir von Anfang an. Ich wollte Clownerie nie mit einer politischen Aussage mischen wie zum Beispiel Dario Fo,11 der das gemacht hat, wenn ich auch Fo als genialen Komiker und Narren bewundere.
10 | Jango Edwards, geboren 1950 in Detroit, amerikanischer Clown und Performer; 1975 Mitbegründer des International Festival of Fools in Amsterdam, tourte in den 1980er Jahren mit seiner Gruppe The Friends Roadshow oder solo durch ganz Europa und gründete 2009 in Barcelona das Nouveau Clown Institute (NCI). 11 | Dario Fo, geboren 1926 in Leggiuno Sangiano, italienischer Theaterautor, Regisseur, Schauspieler, Komiker, politischer Aktivist; gründete 1959 in Mailand zusammen mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Franca Rame, ein eigenes Ensemble, für das er auch die Stücke schrieb, mit Uraufführungen im Piccolo Teatro di Milano. 1997 erhielt Dario Fo den Nobelpreis für Literatur.
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Menschen zum Lachen zu bringen, das ist noch heute mein Leitmotiv. Und mehr: Es ist meine Nahrung und Stärkung, weil ich das Gefühl habe, auf diese Weise am besten etwas schenken zu können. Natürlich fängt man im Nachhinein an, wenn man älter wird, Bücher zu lesen über die Psychologie des Clowns oder des Humors oder des Lachens. Man erkennt, dass der wahre Humor mit dem Herzen zu tun hat, mit Menschenfreundlichkeit und Liebe – auf keinen Fall mit Aggression, Sadismus und all dem Bösen. Damit hat Humor ganz und gar nichts zu tun. Humor ist etwas Kreatives; er kann Lachen erzeugen. Bösartige Schadenfreude, bei der der andere dumm dasteht, unfreiwillig und unwissentlich lächerlich gemacht wird, mag ich nicht. Die Verbindung von Lachen und Aggression halte ich für eine furchtbar traurige Perversion des Clowns. Natürlich negiere ich nicht, dass sie existiert. Ich finde sie bloß traurig. Das ist für mich kein Humor. Klar ist es schön, sagen zu können: Es gilt Redefreiheit. Wir sind frei, alles auszulachen, was wir wollen. Aber es gibt für mich auch Grenzen des Humors und der Parodie. Man muss menschlich bleiben, das heißt, das Mitgefühl für den anderen Menschen bewahren. Mir muss bewusst sein, wo ich den anderen verletze. Für mich ist das ein heiliges Gesetz. Auch Clownerie hat ihre Grenzen; ich würde keinen lächerlich machen wollen, der im Rollstuhl sitzt. Mit absoluter Sicherheit würde ich nie eine Clownerie über Konzentrationslager machen, wenn ich auch bei La vita è bella von Roberto Benigni,12 dem großen, genialen Komiker, gedacht habe: Er bringt es doch tatsächlich fertig, im Konzentrationslager eine Art Clownerie zu treiben. Erst viel später habe ich diesen herrlichen Satz entdeckt, in einem Büchlein von Henry Miller mit dem Titel Das Lächeln am Fuße einer Leiter. Dort heißt es sinngemäß an einer Stelle: »Der Clown ist ein handelnder Dichter.« Ich halte das für eine wunderbare Beschreibung unserer Tätigkeit. Aber wo fängt die Dichtung an? Was ist poetisch? Das Wort wird ja viel benutzt und häufig missbraucht. Es ist schwer zu deuten, aber 12 | Roberto Benigni, geboren 1952 in Manciano la Misericordia bei Castiglion Fiorentino, italienischer Schauspieler, Komiker, Drehbuchautor und Regisseur. Benigni wirkte u.a. in drei Filmen von Jim Jarmusch mit. Sein Film L a vita è bella (1997), in dem er die dreijährige Haftzeit seines Vaters im KZ Bergen-Belsen verarbeitet, gewann zwei Oscars für den besten Schauspieler und den besten ausländischen Film.
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wenn ich etwas sehe, kann ich doch sagen: Das ist ›poetisch‹. Dichter suchen nach Metaphern, Vergleichen, Umschreibungen, um etwas auf ›poetische‹ Weise auszudrücken – und das ist eine verfremdete Art des Ausdrucks. Ein Dichter sagt nicht einfach: ›Ich sehe eine Blume und die ist rot‹, sondern er sagt vielleicht: ›Ich sehe im Nebel vor dem grünen Hintergrund etwas Rötliches schimmern, das sich langsam zu einer Blume formt‹ – dann ist das schon eine poetische Situation, das ist nicht einfach nur ein Abbild der Natur, es ist meine Wahrnehmung. Chaplins Komik beispielsweise ist eine poetische Komik. Sie kann manchmal ein wenig brutal sein, sicher, aber sie ist nie aggressiv oder obszön, nie vulgär. Sie hat auch eine rührende Seite, die Herzseite, man hat zeitweise sogar ein bisschen Mitleid mit der Figur. Der Tramp wird immer wieder verfolgt – und hat doch immer wieder eine geniale Idee, um aus der Situation herauszukommen. Ich finde, es gibt heute Komiker – v.a. in der Comedy-Szene –, denen geht jegliche Poesie ab. Vielleicht ist der ›handelnde Dichter‹, der handelt, aber die Handlung auch ›verdichtet‹, vergleichbar mit meiner Doppelheit als Person Dimitri und Clown Dimitri, in der ich auf der Bühne präsent bin. Das Verhältnis meiner Privatperson zum Clown, die ja beide Dimitri heißen, ist eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt. Ein guter Schauspieler kann Charaktere spielen, die ihm total fremd sind, die nichts mit seinem eigenen Charakter gemeinsam haben. Darin besteht ja die Kunst des Schauspielers. Beim Clown ist diese Trennung schon schwieriger. Er muss weitgehend aus seiner eigenen Persönlichkeit, aus seinen Charaktereigenschaften, Veranlagungen und Fähigkeiten schöpfen, und diese Elemente in Komik umsetzen. Es ist nicht so, dass ich einfach telquel die Bühne betrete und dasitze wie privat. Wenn ich auftrete, werde ich zu einer Figur – und das ist eine Kunstform. Es ist eine Umsetzung, eine gewisse Stilisierung oder Verfremdung, wie Brecht sagen würde. Aber die Figur ist doch von mir. Ich bin es. Darum erkennen mich die Leute auch sofort; die meisten finden, ich sei privat nicht wesentlich anders als auf der Bühne. Aber auf der Bühne ist es doch eine Kunstform – eine aus dem Selbst gestaltete Figur. Das ist nicht einfach eine Rolle, in die man schlüpft und dann wieder ablegt. Irgendwie ist die Form immer da. Sie gehört zu mir, ist ein Teil von mir. Das ist eben diese Doppelheit – aber die Doppelheit ist für mich eine Einheit.
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IV. »S eid wie die K inder!« Als ich sieben Jahre alt war, sagte ich mir, ich werde Clown. Jetzt bin ich 80 und bin Clown geworden. Doch das Kind ist nicht gealtert. Es kann gar nicht altern. Ich altere natürlich. Ich bin zwar noch gut in Form, aber ich mache keinen Salto mehr. Ich meine, das Kind in einem ist ein bisschen wie die Seele. Die Seele altert auch nicht. Sie lebt weiter. Das Kindliche im Menschen kann nicht sterben. Ich finde solche Sätze schon wahnsinnig stark, etwa wenn Christus sagt: »Seid wie die Kinder!« Da steckt so viel drin. Er sagt nicht, »Seid kindisch«, sondern »Seid wie die Kinder!«. In dieser Hinsicht verkörpert ein Clown eigentlich das Nonplusultra eines Christen, weil er wie ein Kind ist. Unsere Schwierigkeit als Clowns liegt darin, dass wir sein und wirken sollen wie ein Kind, was aber in unserem Fall – im Gegensatz zu einem Kind – aus bewusstem Verhalten resultiert. Wir gaukeln nur vor, so naiv zu sein, dass wir gar nicht wissen, was uns gerade wieder missraten oder gelungen ist. Was wir tun, soll stets wie neu erfunden wirken – und das macht eben unsere Kunst aus. In meinem jetzigen Programm spiele ich Highlights aus 55 Jahren vermischt mit neuen Nummern. Ich bewege mich nicht mehr so schnell wie früher und, wie gesagt, den Salto mache ich nicht mehr. Aber das Kind in mir ist dasselbe geblieben wie vor 55 Jahren. Es ist immer noch da. Ich nenne es »mein Clownchen in mir«, das ich weiterhin pflege. Das Erstaunliche ist, dass es immer noch ein Publikum gibt, auch junge Leute, die an naiver Komik einen Heidenspaß haben. Clowneske, naive, komödiantische Situationen einfach genießen und darüber lachen. Und warum? Weil es sich um Ursituationen der Komik handelt, die es seit eh und je gibt. Der Clown wird oft mit Stolpern und Versagen assoziiert, mit dem Scheitern. Das ist sehr wahrscheinlich die Grundidee, also das Tragikomische. Das Wunderbare ist doch, dass er eigentlich gar nicht scheitert, sondern letzten Endes als Sieger hervorgeht, weil er die Tücke überwindet oder eine komische Lösung findet. Er löst die Probleme mit Humor, Phantasie und Naivität, aber auch mit Optimismus und Zuversicht. Sehr wahrscheinlich würde ich aufhören, Clown zu spielen, wenn ich es körperlich nicht mehr schaffte. Gunda und viele Freunde sagen mir immer wieder: »Stell dich doch einfach mal auf die Bühne und erzähle Geschichten.« Sehr oft, wenn ich nur improvisierend erzähle, lachen dann die Leute. Ich könnte mir schon vorstellen, dass ich eines Tages auf die Bühne gehe, un-
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geschminkt, sozusagen mehr die Privatperson als der Clown, und dann einfach Blödsinn erzähle. »Vous saviez, Monsieur Albec, que les mecs du Quebec ont des becs hightec.« Aber es wäre natürlich trotzdem clownesk. Gestern habe ich etwas Interessantes gehört. Ich bin dem Inder begegnet, der in Verscio zu Besuch ist, Rajagopal, der im traditionellen südindischen Volkstheater clowneske Figuren spielt. Wir haben uns über den Clown unterhalten und Rajagopal sagte: »In Indien ist der Clown unsterblich.« Da habe ich an den Witz gedacht, den ich gerne mache, wenn mich Journalisten fragen: »Ja aber Herr Dimitri, jetzt sind Sie achtzig, wie ist das denn? Wer stirbt zuerst, der Clown oder Dimitri?« Dann antworte ich jeweils: »Wissen Sie, Clowns sind doch unsterblich. Haben Sie das nicht gewusst?« Und dann lachen sie, hahahaha. Aber ich finde das gar nicht so daneben. Es ist wie bei Arlecchino. Wer ihn spielt, stirbt, aber die Figur lebt weiter. Arlecchino ist immer noch da, aber es sind schon viele Arlecchini gestorben. Viele Clowns sind gestorben. Wir überleben uns. Nach einem Gespräch mit Dimitri geschrieben von Richard Weihe
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I. D en C lown erkennt man an seinem S chat ten Als ich zehn Jahre alt war, nahm mich mein Vater mit in den Zirkus. Während der Vorstellung schenkte mir der Clown einen Luftballon. Ich ließ die Luft heraus und trug ihn immer bei mir wie eine Trophäe. Als er kaputtging, habe ich geweint. In Erinnerung daran, schenkte ich viele Jahre später in meiner ersten Reprise als Clown den Kindern Luftballons, in der Hoffnung, sie würden die gleiche Freude empfinden wie ich damals. Ich begann als Schlosserlehrling bei der Prawda. Wir Lehrlinge hatten die großen Maschinen für den Zeitungsdruck zu warten und zu reparieren. Eigentlich war ich gleichzeitig Schlosser- und Druckerlehrling. Dass die Zeitung Die Wahrheit hieß, hatte für mich keine symbolische Bedeutung; ich würde deswegen nicht behaupten, ich hätte bei der ›Wahrheit‹ begonnen. Damals war ich 14 Jahre alt und in diesem Alter denkt man nicht an Symbole. Meine Mutter hatte entschieden: »Du machst jetzt eine Lehre« – und mich zur Prawda geschickt. Bei den Veranstaltungen des Jugendsportclubs entdeckte ich meine sportlichen und akrobatischen Fähigkeiten, die mich für die Zirkusschule qualifizierten. Nachdem mich die Schule aufgenommen hatte, habe ich meiner Mutter ein ganzes Jahr lang verheimlicht, dass ich nicht mehr bei der Prawda war. Als sie es schließlich erfuhr, war sie erbost und wollte mich gleich von der Schule nehmen. »Ich kenne doch die Artisten! Alkoholiker und Kriminelle! Das ist nichts für dich!« Aber der Direktor legte ein gutes Wort für mich ein und beschwichtigte sie, so dass ich bleiben konnte. Meine Mutter war ein gutherziger Mensch und wollte nur das Beste für mich. Sie selbst arbeitete als Retuschiererin. Die Fotoplatten bestan-
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den damals aus Glas, die Oberfläche war sehr empfindlich, oft entstanden kleine Kratzer auf den Platten. Diese musste sie dann wegretuschieren. Ich habe ein Foto vom ersten Besuch meiner Mutter in der Manege nach einem meiner Auftritte. Sie war kugelrund, ich kam mit den Armen nicht um sie herum. Doch den Humor habe ich nicht von der Mutter, sondern vom Vater. Er war ein lustiger Mensch und er konnte sehr gut zeichnen. Es war eine richtige Schule, nicht nur für Zirkusfächer wie Akrobatik, Tanz und Musik, wir hatten auch Unterricht in Mathematik, Russisch und Literaturgeschichte – wir mussten alles lernen. Mein Lieblingsfach war Geografie, darin habe ich die besten Noten bekommen. Ich weiß noch heute immer ganz genau, wo ich mich gerade befinde, so gut war ich in Geografie. Meine Schulzeit fiel in die Kriegsjahre, deshalb gab es auch ein spezielles Unterrichtsfach, ein Ertüchtigungsprogramm, das sich GTO (»Gotow k trudu i oboronje«) nannte: »Bereit zu Arbeit und Verteidigung!« Mit 14 oder 15 Jahren mussten wir lernen, zu marschieren und mit einem Maschinengewehr umzugehen. In gewissen Abständen gab es immer wieder Prüfungen. Da galt es, in drei Minuten das Gewehr schussbereit zu machen und irgendwelche technischen Fragen zu beantworten. Oder wir fuhren mit der Klasse ins Stadion. Auf ein Signal rannten wir alle los. Keiner wollte als Letzter ins Ziel kommen, weil dem Letzten die Streichung des Urlaubs angedroht worden war – ich wurde Letzter. Nachdem ich für mich allein trainiert hatte, bat ich den Ausbilder um eine zweite Chance. Diesmal zog ich die kurze Turnhose an und ein Sporthemd und rannte um mein Leben. Getrieben von der Angst, keine Ferien zu bekommen, habe ich alle anderen überholt und lief als Erster durchs Ziel. Doch zu gewinnen war noch schlimmer. Der Schuldirektor präsentierte mich nun als den schnellsten Läufer der Zirkusschule. Ich wurde als leuchtendes Beispiel des Siegers vorgeführt, der den Rekord gebrochen hatte und stand daraufhin unter dem Erwartungsdruck, den Lauf jedes Jahr erneut gewinnen zu müssen. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, weder als Erster noch als Letzter ins Ziel zu kommen, sondern im Mittelfeld zu bleiben, denn dann wird man in Ruhe gelassen. Alle unsere Lehrer waren ehemalige Artisten, die nach ihrer aktiven Zeit ins Lehrfach gewechselt hatten. Der Schule angeschlossen war ein kleines Museum mit einer Bibliothek, in der man sich mit Literatur eindecken konnte. Ich las sehr viel, v.a. über die Geschichte des Zirkus, die mich schon immer faszinierte. Wir machten auch einen Ausflug nach Leningrad zum dortigen Zirkusmuseum. An unserer Schule wurden
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zwei Fächer unterrichtet, die direkt mit dem Clown zusammenhingen: ›Schminken‹ und ›Clownerie‹. Mit weiß geschminktem Gesicht und roten Lippen haben wir die mimischen Ausdrücke zwischen Lachen und Trauer ausprobiert. Mein Glück war es, im Fach ›Szenenspiel‹ einen fantastischen Lehrer zu haben, den Regisseur Sergei Sergejewitsch Romanow. Er hatte ein schweres Leben hinter sich. Nach italienischer Kriegsgefangenschaft kam er bei Kriegsende frei, um die nächsten fünf Jahre in einem stalinistischen Gefängnis zu verbringen. Danach konnte er keine Arbeit finden, wer wollte schon einen Vorbestraften anstellen. Aber vor dem Krieg hatte er im Zirkus gearbeitet. Sein damaliger Partner war inzwischen Direktor der Zirkusschule und ging auf ihn zu: »Natürlich helfe ich dir, Sergei Sergejewitsch. Du kannst bei uns arbeiten, aber leider kann ich dir offiziell nur die Stelle einer Reinigungskraft anbieten.« Inoffiziell hat Sergei bei uns unterrichtet. Ich hielt ihn für den talentiertesten und fähigsten Lehrer der Schule. Jede Nummer, die er mit einem Schüler einstudierte, funktionierte und war erfolgreich. Andere Regisseure, die an der Schule arbeiteten, neideten ihm seinen Erfolg bei den Schülern. Seine Unterrichtsmethode war etwas Besonderes. Er sagte nicht: »So balancierst du am besten auf dem Schlappseil«; er orientierte sich an dem, was er bei mir beobachtete. Ich kann mich noch sehr gut an unsere Proben erinnern. Er sagte zum Beispiel: »Oleg, schau mal, da steht ein Besen an der Wand. Ich gebe dir zwei Tage Zeit. Du beschäftigst dich jetzt zwei Tage lang mit diesem Besen, um herauszufinden, was du alles mit ihm anstellen kannst – oder der Besen mit dir –, damit ich es lustig finde und lache.« Nach zwei Tagen kam er zurück. »So, ich bin wieder da. Zeig mir, was du dir ausgedacht hast!« Nach meiner Darbietung erklärte Sergei Sergejewitsch genau, was seiner Meinung nach funktionierte und was er weniger lustig fand. Danach haben wir lange diskutiert, bevor er mir für die nächste Woche eine neue Aufgabe stellte. Ich glaube, seine Methode hat mich geprägt und letzten Endes zu dem gemacht, was ich bin. Seine besondere Fähigkeit bestand darin, meine szenische Phantasie anzuregen und mir Möglichkeiten der Umsetzung aufzuzeigen. »Zeig mir etwas Ungewöhnliches, was vorher noch niemand gesehen hat!«, pflegte er zu sagen. Ich fragte mich dann: »Ich bin in dieser Situation mit diesem Ding. Was würde jetzt Charlie Chaplin an meiner Stelle tun?« Sergei Sergejewitsch hat mir beigebracht, dass in allem ein Sinn stecken müsse. Egal um was es sich handelte: Ich
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sollte nicht nur Blödsinn machen, sondern an einen tieferen Sinn heranführen und wenn er noch so gering war. Ich bin als Exzentrik-Clown1 mit einer Schlappseilnummer von der Schule abgegangen. Damit trat ich später bei einem Zirkusfestival in Moskau auf, in einem Programm junger Artisten unter der Leitung von Clown Karandasch.2 Mein Auftritt gefiel ihm und er lud mich ein, ihn als Assistent auf seiner Tournee zu begleiten. Sein Name Karandasch ist das russische Wort für Bleistift. Er war ein sehr kleiner Mann, aber er fuhr einen riesigen Luxuswagen namens Sil, mit dem sich in der Sowjetunion gewöhnlich nur die Parteikader herumchauffieren ließen. Wenn er hinter dem Lenkrad saß, konnte man ihn kaum sehen. Er wurde oft von der Polizei angehalten, weil sie dachten, der Wagen sei ohne Fahrer unterwegs. »Stopp! Stopp, stopp, stopp!« Dann ging die Tür auf und der kleine Karandasch kroch heraus. Er konnte keinen Schritt tun, ohne dass man über ihn lachte und weil er so bekannt war, wurde er ständig bedrängt. Als Karandasch einmal im Urlaub war, fuhr ich nach Saratow, um dort in einem Zirkus meine Schlappseilnummer zu zeigen. Eines Abends stürzte der Clown und brach sich ein Bein. Der Direktor kam auf mich zu und fragte: »Könntest du für unseren Clown einspringen? Ich weiß, dass du mit Karandasch gearbeitet hast. Zeig irgendetwas, was du gut findest!« »Naja, ich habe keine Nase, kein Kostüm. Wie soll ich da als Clown auftreten?« »Das kriegen wir schon hin«, meinte der Direktor. »Morgen fahren wir ins Krankenhaus.« Der Clown lag im Krankenbett und stöhnte. Der Direktor hielt eine kurze Rede: »Es tut mir so leid, dass du hier liegen musst und nicht auftreten kannst. Aber der Zirkus muss weiterarbeiten und ohne Clown gibt es kein Zirkusprogramm.« Dann schob mich der Direktor vor. »Schau, wir haben hier einen jungen Menschen, der bereit 1 | Exzentrik-Clown: Eine inzwischen nicht mehr geläufige Bezeichnung für Clowns, die auch Akrobatik, artistische Tricks oder pantomimische Elemente in ihre Nummern einbauen, vgl. dazu den Artikel »Exzentrik-Clown«, in: Udo Bartsch et al. (Hg.), Unterhaltungskunst A-Z. Reihe Taschenbuch der Künste, DDR Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1975, S. 88. 2 | Karandasch, eigentlich Michail Nikolajewitsch Rumjanzew, 1901-1983. Nach Abschluss der Moskauer Schule für Zirkus und Varietékunst trat er bis Mitte der 1930er Jahre als Chaplin-Imitator in der Manege auf. Sein Markenzeichen wurden seine Bühnenpartner, ein Esel und ein Scottish Terrier namens Klyaksa, »Klecks«.
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wäre, an deiner Stelle aufzutreten. Aber er hat kein Kostüm. Könntest du ihm deines ausleihen?« Obwohl es so lange her ist, erinnere ich mich noch genau an den Namen des Clowns, nicht seinen Künstlernamen, seinen richtigen Namen: Borovikow. Solange ich lebe, werde ich niemals den Moment vergessen, als Borovikow einen Schlüssel aus seiner Jacke nahm, die neben dem Bett hing, und mir in die Hand drückte. »Das ist der Schlüssel zu meiner Garderobe. Nimm dir, was du brauchen kannst.« Das tat ich – und so begann ich als Clown zu arbeiten. Eigenartig: So gut wie ich mich an den Krankenhausbesuch erinnere, so verschwommen ist meine Erinnerung an den ersten Auftritt. Eigentlich kann ich mich nur entsinnen, dass ich völlig überfordert war und diese Erfahrung hat offenbar ein Erinnerungsloch hinterlassen. Als Kind sah ich mir gerne Chaplin-Filme an; später kamen die Erfahrungen als Assistent und Manegenpartner von Karandasch hinzu. Von beiden habe ich sicherlich eine Menge gelernt und auch viel abgeschaut. Aber ich war von Anfang an bestrebt, meine eigene Figur zu kreieren. Ich ging in die Museen und habe mir Bilder der alten russischen Meister angeschaut. Mich interessierte v.a., wie die Kinder gekleidet waren. Auf den Dörfern trugen sie meistens schwarze Samtjäckchen. Fast alle Kinder hatten blonde Haare und den gleichen Pagenschnitt. Ich habe dann unsere Zirkusschneiderin Frau Sudakewitsch beauftragt, mir nach den Vorlagen von Kinderdarstellungen aus der russischen Kunstgeschichte ein Kostüm zu entwerfen. Zusätzlich zur Samtjacke wollte ich unbedingt die typische Kindermütze haben. Die Samtjacke habe ich nie mehr gewechselt, nur die Mütze. Einige Zeit später, als ich beim Film arbeitete, standen wir im Studio vor der Frage, welche Kopfbedeckung für meine Figur geeignet sei. Der Regisseur bat mich, in die Kleiderkammer zu gehen, um mir etwas Passendes auszusuchen. Dort habe ich meine schwarz-weiß karierte Mütze gefunden. Ich habe sie nie mehr zurückgegeben. Sie ist seither mein Markenzeichen. Man denkt, die Erfindung oder das Finden eines Kostüms sei das Leichteste der Welt. Tatsächlich ist es eine langwierige und schwierige Geschichte, ein Kostüm mit hoher Wiedererkennbarkeit zu finden und damit die eigene Figur zu prägen. Man muss lernen, sich von allen anderen zu unterscheiden. Im Zirkus sagt man: Wenn sie dich an deinem Schatten erkennen, hast du deine Figur gefunden. Chaplins Tramp ist so
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eine Figur, man braucht nur die Silhouette zu sehen und schon erkennt man ihn. Ich habe Fotografien von mir im Clownkostüm Freunden vorgelegt und sie gefragt: »Wer könnte das sonst sein?« Als sie dann geantwortet haben: »Niemand außer dir!«, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war.
II. D er echte und der falsche P opow Als Zirkusartisten wurden wir vom System sehr geschätzt. Einmal im Jahr erschien eine staatliche Kommission, um zu beurteilen, ob sich unsere individuellen Leistungen verbessert oder verschlechtert hätten. Dadurch kamen bei mir alle möglichen Auszeichnungen zusammen; am Ende erhielt ich die höchste Ehrung für einen Zirkuskünstler, den Orden ›Volksartist der UdSSR‹. Diese Titel waren wichtig, weil sich die Höhe der Gage danach richtete. Im Moskauer Zirkus hatten wir durchschnittlich etwa 2.000 Zuschauer. Bei Gastspielen sind wir dagegen oft in Stadien aufgetreten, die gut und gern 120.000 Zuschauer fassten. Dort fehlte natürlich der Augenkontakt mit dem Publikum, an dem mir sehr viel liegt. Ich mag es nicht, wenn das Gesicht gefilmt und groß projiziert wird. Doch die Gastspiele waren aus einem anderen Grund bedeutsam: Als sich der eiserne Vorhang zum ersten Mal ein wenig zu lichten begann, wurden Zirkusartisten zu Gastspielen in den Westen geschickt, nach Brüssel, Paris und London. Für die Zusammenstellung der Ensembles war wiederum eine besondere Kommission zuständig. Sie musste sich zuerst für einen Clown entscheiden. Alle sagten. »Selbstverständlich Karandasch!« »Warum?« »Weil er der Beste ist!« Doch dann stand ein Kommissionsmitglied auf und gab Folgendes zu bedenken: »Wir alle kennen Karandasch. Er ist unser allerbester Clown. Es kann jedoch durchaus sein, dass unsere Meinung im Westen nicht geteilt wird. Dort sind sie womöglich anderer Meinung, weil sie vielleicht einen anderen Humor haben. Dann wird man sich an uns wenden, an die Kommission mit der Frage: ›Was sagt ihr dazu?‹ Und dann folgt womöglich gleich der Vorwurf: ›Ihr habt Schuld daran, dass Karandasch im Westen keinen Erfolg hat.‹ Das können wir diesem berühmten Clown nicht antun. Nehmen wir lieber einen jungen Clown. Wenn er erfolglos bleibt, wird man sagen, er sei noch grün hinter den Ohren – und alles ist halb so
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schlimm.« So kam es, dass ich ausgewählt wurde statt meines berühmten Lehrmeisters Karandasch. Bei unserer ersten Auslandreise war ich 25 Jahre alt. Ich hatte noch meine langen, blonden Naturhaare. Damit fiel ich auf. In Brüssel lud mich die belgische Königin zum Mittagessen ein. Nach Brüssel folgte Paris, dann London. Was man dem englischen Wetter nachsagt, es sei oft neblig und trüb, traf zu. Am Tag unserer Ankunft war der Himmel verhangen und es nieselte. Am Abend zeigten wir unser Programm und am nächsten Morgen stand in der Zeitung, die Vorstellung des Moskauer Staatszirkus sei ein großartiges Spektakel. Ein Kritiker schrieb über den Clown: »Im Nieselregen kam ein Mensch zu uns nach London. Als er die Manege betrat, fing die Sonne an zu scheinen.« So kam ich zu meinem Namen ›Sonnenclown‹. Es regnete weiter, doch der Name blieb an mir hängen. Auf unseren Reisen wurden wir von KGB-Offizieren beschattet. Aber nur wenige von uns nutzten die Gelegenheit zum Absprung. Unser Sprechstallmeister Rushad hat sich abgesetzt, aber er war eigentlich Pole; es waren mehr die Tänzerinnen aus dem Ballettensemble, die jemanden kennenlernten und aus Liebe geblieben sind. Bei den Reisen wurde mir deutlich: Der Clown ist ein Weltbürger. Er hat keine Nationalität, er ist für alle da und überall zu Hause. Deswegen bin ich auch kein politischer Mensch; beim Ausdenken meiner Nummern habe ich nie an Politik gedacht, was freilich nicht heißt, dass sie keine politische Aussage hatten. Als Beispiel folgende Reprise: Ein Soldat in Uniform betritt die Manege. Auf seinen Armen trägt er eine große Atombombe. Damit läuft er herum und macht den Zuschauern Angst: »Ich habe eine Bombe dabei!« Da tritt ihm der Clown entgegen und sagt: »Stopp!« Der Clown hat eine allegorische Justitia-Figur mit zwei Waagschalen aufgestellt. Er fordert den Soldaten auf, die Atombombe in eine der Waagschalen zu legen. Durch das Gewicht der Bombe schlägt die Waagschale auf dem Boden auf. Dann lässt der Clown eine weiße Taube auf seiner ausgestreckten Hand landen. Er setzt die Taube auf die andere Waagschale: Schon schnellt die Atombombe nach oben und die Taube sitzt unten am Boden. Sie können sich nicht vorstellen, wie begeistert das Publikum darauf reagiert hat. Aber wie gesagt, ich hatte nie ein ausdrücklich politisches Interesse, mein eigentliches Anliegen war immer, die Welt mit eigenen Augen zu sehen – dann sieht man solche Dinge wie die Atombombe natürlich auch. Ich erinnere mich an ein Interview, in dem jemand über
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Chaplin sagte: »Er konnte alles ausdrücken, ohne zu reden, nur pantomimisch. Und gerade damit hat er der Welt den Spiegel vorgehalten.« Wichtiger als das Politische war mir die Ausdrucksweise. Ich wollte die Menschen mit stummen Spielen anregen, sich selbst Gedanken zu machen und in Gedanken ihre eigenen Worte hinzuzufügen. Charlie Chaplin bin ich 1960 persönlich begegnet. Wir haben uns ungefähr eine halbe Stunde lang unterhalten. Ich habe demonstriert, wie ich ihn manchmal imitiere. Es war natürlich schwierig, er konnte kein Russisch, ich konnte kein Englisch. Aber wir haben uns dennoch gut verstanden und viel gelacht. Wenn zwei Menschen die gleiche Sprache sprechen und sich nicht verstehen wollen, dann werden sie sich nicht verstehen; und wenn zwei Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen und sich verstehen wollen, dann werden sie sich verstehen. In der UdSSR wurden viele verschiedene Sprachen gesprochen. Aber wenn man so etwas in die Manege bringen will, braucht es dazu nicht die Sprache. Die Zuschauer können es sehen und wissen genau, worum es geht, wenn man die Unterschiede richtig zeigt. Das Prinzip des Clowns, vor allen Dingen des Zirkusclowns, ist zu zeigen, nicht zu reden. Wenn ein Clown viel reden will, sollte er zur Bühne gehen, nicht in die Manege. Im Zirkus ist nicht das Wort, sondern der Trick das wichtigste Element. Der Trick ist etwas, was uns staunen lässt, sei es ein Rückwärtssalto, eine Taube, die aus dem Hut fliegt, was auch immer. Daher muss man sich zuerst einen Trick ausdenken und dann die Nummer um diesen Trick herumbauen. Es gibt die klassischen Clownnummern, in denen man mit Wasser oder mit Tellern hantiert, und dann gibt es Reprisen, die sich die Clowns selber ausdenken. Für das Theater haben Schriftsteller geniale Stücke geschrieben. Aber unter den Schriftstellern, Dramaturgen und Regisseuren, gibt es nur ganz wenige, wenn überhaupt welche, die Reprisen für den Zirkus verfassten. Deshalb müssen sich die Clowns ihre Geschichten selbst schreiben. Ich bin gleichermaßen Autor und Darsteller meines eigenen Werks. In Russland hatten wir sogar Anspruch auf Urheberrechte. Dazu reichte eine genaue Beschreibung der Reprise. Ich hielt mich mein Leben lang an das Prinzip: Wenn ich eine bereits bestehende Reprise von einem anderen Clown übernehme, muss ich mir sicher sein, dass ich sie verbessern oder ihr eine neue Wendung geben kann. Ich will keine Kopien machen, ich will das Original verbessern.
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Einmal habe ich eine originelle Nummer eines Artisten gesehen, die ich unbedingt selber spielen wollte. Als der Artist Wind davon bekam, hat er einen Skandal ausgelöst, mit dem Vorwurf, ich hätte seine Nummer kopiert. Ich sagte ihm: »Komm erst mal in die Vorstellung und schau sie dir an.« In der Pause kam er zu mir in die Garderobe. »Olli, ich muss mich bei dir entschuldigen. Du hast es besser gemacht, du hast mich geschlagen. Herzlichen Glückwunsch!« An das Prinzip ›Wenn-dann-nur-verbessert‹ habe ich mich schon gehalten, als ich noch mit Karandasch zusammenarbeitete. Stellen Sie sich eine verdunkelte Manege vor. Die Dunkelheit wird von einem einzigen Lichtstrahl geteilt. In der Mitte liegt ein Teppich. Karandasch tritt mit einem Besen auf. Er hebt eine Ecke des Teppichs hoch und kehrt mit dem Besen den Lichtstrahl unter den Teppich, als handle es sich um etwas Schmutziges, Unansehnliches oder Verbotenes. Er lässt den Teppich wieder fallen. Der Lichtstrahl ist verschwunden und es ist dunkel. So hat es Karandasch gezeigt. Die Idee der Nummer als Frage formuliert: »Wie lässt sich Licht unter den Teppich kehren?« Als ich es sah, dachte ich: »Schade um das schöne Licht, man sollte es in eine Flasche füllen und über das Publikum oder die Menschen draußen gießen.« Das war eine andere Sichtweise: das Licht nicht unter den Teppich kehren, sondern weitergeben. Daraus ist dann meine Reprise mit dem Licht entstanden. Sie begleitet mich schon 50 Jahre! Wenn mich Leute auf der Straße erkennen, sagen sie: »Oh! Da kommt Oleg Popow! Spielst du noch deine Reprise mit dem Sonnenlicht?« Wenn sie an mich denken, denken sie immer an die Sonnenschein-Reprise. Es ist so, als ob sie mir in Fleisch und Blut übergegangen wäre. Ich arbeite hin und wieder mit jemandem aus dem Publikum, aber dann ist es kein echter Zuschauer, sondern eine eingeweihte und vorbereitete Person. Ich bin zum Beispiel mit einem Bambusstäbchen aufgetreten, auf dem ich einen Teller drehte. Nach der Verbeugung kam ein Mädchen aus dem Publikum auf mich zu und überreichte mir ein Blümchen. Ich rief die Eisverkäuferin herbei, die gerade im Zirkus umherging, kaufte ihr ein Eis ab und gab es dem Mädchen. Nun fehlte mir aber das Geld, um das Eis zu bezahlen. Sie kennen sicher den Trick, wie man aus dem Mund und den Ohren Münzen hervorzaubert. Ich hielt also einen Topf hin und ließ die Münzen hineinfallen. Am Schluss hatte ich so viel Geld beisammen, dass ich mir auch noch selbst ein Eis leisten konnte. Meine Eiscreme war
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jedoch kein echtes Eis, sondern Clown-Eis mit einem Luftballon. Als ich von dem Eis lecken wollte, platzte es. Mein Eis war plötzlich weg und ich habe bittere Clowntränen geweint – d.h. ich habe die Fontänen geöffnet und Bäche geweint, denn mein Eis war kaputt! Da stupste mich die Kleine und ich drehte mich nach ihr um. Sie überreichte mir ihr Eis: »Damit du nicht mehr weinst, lieber Clown!« Prompt hörten die Fontänen auf. Ich erwähne dies als Beispiel eines inszenierten Umgangs mit dem Publikum; aber ich würde nie einen unvorbereiteten Zuschauer in die Manege zerren oder jemanden lächerlich machen. Denn wenn man jemanden aus dem Publikum holt und in der Manege zum Affen macht, ist das für mich keine Clownerie. Der Clown sollte keine Späße auf Kosten anderer machen. Die bösen Clowns, die aus Hollywood kommen, Kinder morden und fressen, finde ich furchtbar. Man sollte die Figur des Clowns nicht missbrauchen, um damit den Kindern das Böse, Grausame und Monströse des Menschen vor Augen zu führen. Meiner Meinung nach ist das Allerwichtigste, dass der Clown als Mensch eine reine Seele hat. Ich habe Menschen von zweifelhaftem Charakter kennengelernt, die sich als Clown geschminkt haben. Trotz der roten Nase und des weißen Gesichts konnten sie ihre Bösartigkeit nicht verbergen, sie war ihren Augen abzulesen. Ein böser Mensch kann niemals ein guter Clown werden, der Zuschauer spürt das Innere als Ausstrahlung der Person. Wenn einer das Gute ausstrahlt, hat er das Publikum schon auf seiner Seite. Ich habe einmal in einem Gefängnis in Baku gespielt, in dem nur Schwerverbrecher einsaßen, mit Strafen von über zehn Jahren. Am Eingang standen Soldaten mit Wachhunden. Wir haben unser ganzes Programm geboten. Die Sträflinge hatten kahl geschorene Schädel und machten einen angsteinflößenden Eindruck. Bevor ich auftrat, habe ich wie immer durch den Vorhang gespäht, um die Stimmung einzufangen. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, dennoch war es mucksmäuschenstill. Man konnte eine Fliege hören, die über die Köpfe flog. Ich fürchtete mich vor dem Auftritt. Dann ging der Vorhang auf, der Akkordeonspieler und ich traten vor das Publikum und begrüßten es – absolute Stille, kein Mucks. Nach der ersten Reprise fragte ich mich besorgt, warum keiner lachte oder sonstwie reagierte. Nach der zweiten Reprise war es genauso. Erst bei der dritten hat ein einziger Sträfling applaudiert. Zum Schluss unserer Show gab es Standing Ovations. Warum? Weil die Zirkuskunst diesen Männern ein wenig Wärme geschenkt hatte – wie ein Sonnenstrahl, der in die Zelle dringt.
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Zum Thema ›Clown in einer Anstalt‹ wollte ich lange Zeit einen eigenen Film drehen. Als Schauplatz hatte ich mir allerdings kein Gefängnis vorgestellt, sondern eine Irrenanstalt: Einer der Insassen ist überzeugt, Oleg Popow zu sein. Er schminkt sich genauso wie sein Vorbild und trägt die rote Nase. »Ich bin Oleg Popow«, sagt er dem Direktor. »Wieso habt ihr mich eingesperrt?« Eines Tages läuft im Fernsehen ein Film mit Oleg Popow. Die Patienten schauen zu und lachen laut. Als der Film zu Ende ist und die Lichter wieder angehen, ist der Mann, der sich für Oleg Popow ausgibt, verschwunden. Man sucht ihn überall. Vergeblich, er ist ausgebrochen. Man kommt auf die Idee, den falschen Popow im Zirkus zu suchen, der gerade in der Nähe der Anstalt gastiert. Der Direktor fährt mit einigen Pflegern hin, in der Hoffnung, dort ihren Patienten zu finden. Tatsächlich entdecken sie ihn in der Manege, aber sie täuschen sich: Es ist nicht ihr Patient, sondern der echte Popow. Die beiden Popows sind optisch nicht voneinander zu unterscheiden. Der Direktor lässt den echten Popow abführen. Das Publikum hält es für einen Teil der Nummer und applaudiert, der falsche Popow springt für den echten ein und spielt weiter. Die Zuschauer merken keinen Unterschied. Die Clownerie des falschen Popow hält keiner für verrückt. Doch nach der Vorstellung weiß er nicht, wo er schlafen soll. Er beschließt, zum Schlafen in die Anstalt zurückzukehren. In der Anstalt wird währenddessen der echte Popow festgehalten, obwohl er wahrheitsgemäß behauptet: »Ich bin Popow! Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich frei!« »Ja ja, Herr Popow, ich weiß, Sie sind Herr Popow. Sie bleiben erst einmal hier.« Nachts beschließt er auszubrechen und zu seinem Zirkuswagen zurückzukehren. Auf der Mauer der Anstalt stoßen der echte und der falsche Popow aufeinander: Der eine kehrt in die Anstalt zurück, der andere ins Zirkusleben – worin besteht der Unterschied? Das würde ich so gern verfilmen!
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Foto: Dmitry Shakhin
III. D er M oment, für den ich lebe Ich halte Kartoffelnasen für etwas typisch Russisches. Im ländlichen Russland sieht man diese runden Nasen überall. Es hat auch viel mit dem Wodka zu tun. Wenn jemand mit einer dicken roten Nase ankommt, schmunzeln die Leute. »Der hat eben die typische Schnapsnase.« Doch die rote Nase allein macht noch keinen Clown! Im Karneval setzen sich die Leute roten Nasen auf und meinen, damit sei es getan. Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was es bedeutet, ein echter Clown zu sein. Zirkusartisten haben kein leichtes Leben. Sie sind in engen Wohnwagen unterwegs und müssen ständig üben, um in Form zu bleiben. Unter diesen Bedingungen, wenn man zum fahrenden Volk gehört, ist es schwierig,
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eine Familie zu gründen und Kinder großzuziehen. Schon das Reisen ist anstrengend und dann, sich laufend neuen Orten und Verhältnissen anpassen zu müssen. Man muss nicht nur körperlich eine hohe Flexibilität entwickeln. Weil die Proben wichtiger sind, essen viele Artisten unregelmäßig oder lassen Mahlzeiten einfach aus. Ich beklage mich jetzt nicht über mein Leben, ich spreche allgemein über den Beruf des Artisten, der mit einer bestimmten Lebensform gleichzusetzen ist. Wer ein guter Clown werden will, muss rücksichtslos gegenüber sich selbst sein. Andererseits kommt das Publikum in den Zirkus, um zu staunen und zu lachen. Es interessiert niemanden, welche Probleme ich in meinem Privatleben habe, womit ich nicht zurechtkomme, wie schwierig alles ist, welche Schmerzen aus der Kindheit mich belasten. Wenn ich durch den Vorhang in die Manege trete, spielen all diese Dinge keine Rolle mehr, dann bin ich nur noch für mein Publikum da, als Clown, über den sie lachen wollen. Aber der Moment, in dem ich auftrete, ist auch der Moment, für den ich lebe: Wenn ich die vielen lächelnden Gesichter vor mir sehe, sind alle Schwierigkeiten sofort vergessen. Ich sage immer, Kinder sind die talentiertesten Artisten. Weil sie nicht für ein Publikum spielen, sie spielen allein des Spieles wegen. Deswegen sind sie authentisch, sie spiegeln nichts vor. Viele Kinder mögen Clowns, aber manche haben auch wahnsinnige Angst vor ihnen. Im Zirkus gilt für mich: Wenn ich für Erwachsene spiele, muss ich richtig gut sein; wenn ich für Kinder spiele, muss ich noch besser sein. Ein Kind spürt alles, du kannst es nicht belügen. Es gibt ein russisches Volkslied, das heißt: »Lächle, Bajazzo, über deine verlorene Liebe.« Es handelt von einem Clown, der gleichzeitig lächelt und weint. Das Theater kennt die beiden Masken, das Lachen und das Weinen, die Komödie und die Tragödie. Im Theater sind sie klar getrennt – im Clownspiel sind sie vereint. Der Clown spielt mit dem Spruch, den Kinder kennen: Vom Lachen zum Weinen ist es nur ein Schritt. Das ist mein Ratschlag an jeden Menschen: Erhalte dir deine Kinderseele! Das heißt nicht, dass du deswegen naiv oder dumm bist, sondern in deiner Seele die Wahrheit bewahrst. Ich bin jetzt ein älterer Mensch und in diesem Lebensabschnitt betrachte ich die Welt als jemand, der sich schon zur Ruhe gesetzt hat. Vieles ist mir unverständlich. Kriege haben den Menschen noch nie ein Lächeln geschenkt. Ist die Zeit der Zirkusclowns vorbei? Kommen jetzt die ›gro-
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ßen‹ Clowns aus dem Kino? Wenn man heute auf die Straße geht und x-beliebige Menschen fragt: »Sagt Ihnen der Name Grock etwas?« – werden sie nicht unbedingt antworten: »Natürlich, Clown Grock!«3 Viele werden sagen: »Wer ist das?« Diese Zeit ist einfach vorbei. Humor ist freilich durch nichts zu ersticken, er wird immer weiterexistieren. Humor ist ein Teil der Sonne und wer einen Sonnenstrahl auf dem Gesicht spürt, wird lächeln. Stellen wir uns einen großen, asphaltierten Platz vor. Aus einer Ritze im Belag treibt eine Pflanze – das ist der Clown. Um zu überleben, braucht er die Sonne, und das Sonnenlicht, das er aufgenommen hat, gibt er weiter als ein Lächeln. Um ein Lächeln weiterzugeben, braucht es nicht viel. Sie haben mit mir einen glücklichen Menschen vor sich, weil ich meinen Beruf liebe. Wenn ich eine Schule gründen würde, gäbe ich meinen Schülern mein gesamtes Wissen mit, nicht weniger und nicht mehr. Ich würde ihnen sagen: »Liebt euren Beruf, seid zufriedene Menschen und sorgt euch um ein gutes Familienleben. Denn von diesen drei kommt alles andere.« Natürlich wissen wir alle um die Schlechtigkeit der Welt, dennoch sollten wir auf der Seite des Guten leben. Meinen Schülern wünschte ich, dass sie nicht alles so erleben und durchleiden müssen wie ich es durchlitten habe. Viele Menschen sind sich der möglichen Schwierigkeiten nicht bewusst und denken, das Leben sei ein Karneval. Man setzt sich eine rote Nase auf, schminkt sich das Gesicht und schon ist alles lustig. Das Lachen ist doch eine ernsthafte Geschichte. Der Clown steht immer gegen den Wind. Wo weht der Wind her? – vom Leben. Eine Frage, die ich gar nicht mag, ist die Frage: »Wie lange wollen Sie noch Clown sein?« Eine Journalistin wollte von mir wissen: »Wann treten Sie denn ab?« Ich habe ihr geantwortet: »Wenn ich gestorben bin, rufe ich Sie an und sage es Ihnen.« Nach einem Gespräch mit Oleg Konstantinowitsch und Gabriela Popow (Dolmetscherin) geschrieben von Richard Weihe
3 | Zu Grock vgl. den Beitrag von Dimitri, Fn. 8.
Der Clown Es war ein Unfall, es war so nicht vorgesehen Pierre Byland
I. D ie E ntstehung des C lowns aus dem F iasko Mit 20 Jahren flüchtete ich aus der Schweiz. In Buchs hielt ich es nicht mehr aus, ich wurde klaustrophobisch. Der Aargau ist die schlimmste Gegend überhaupt. Ich wäre schon früher weg, um an eine Schauspielschule zu gehen, wenn mein Vater nicht auf der Matura bestanden hätte. Mein Vater war skeptisch. »Schauspieler? Hast du denn das Talent dazu?« Einer Bekannten in Zürich, die am Theater arbeitete, gelang es, ein Vorsprechen bei Ernst Ginsberg1 zu organisieren; das war im Jahr 1957. Ich traf ihn und auch er meinte, ich solle zuerst die Schule abschließen und dann zu ihm nach Zürich kommen. Dieses Vorsprechen war natürlich ein Triumph für mich. Ginsberg hatte offenbar meine Vorliebe für stummes Bewegungsspiel bemerkt, denn bevor ich wegging, fragte er mich noch, ob ich den Pantomimen Marcel Marceau in Paris kenne. Ich sagte: »Nein«. Nach der Matura bin ich sofort nach Paris gegangen. Marceau war nicht in der Stadt, aber die Bekannte am Schauspielhaus hatte mir noch
1 | Ernst Ginsberg, 1904-1964, war ein deutscher Schauspieler, Sprecher und Regisseur. Nach kurzer Schauspielausbildung in Berlin und Engagements in München, Düsseldorf, Berlin und Darmstadt, emigrierte er 1933 in die Schweiz und wurde festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich. Für das von ihm begründete Label »Literarisches Archiv« der Deutschen Grammophon gab er zahlreiche Lesungen klassischer Literatur auf Schallplatte heraus.
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einige andere Adressen gegeben. Ich ging zu Wolfram Mehring,2 der mit einer Schülerin von Decroux eine eigene Schauspielschule führte. Dort habe ich Übungen wie »kalte Dusche, heiße Dusche« oder »Birne essen, Apfel essen« gemacht, alles nur mimisch. Als mir Mehring zu verstehen gab, ich dürfe, wenn ich bei ihm sei, nicht noch anderswo Unterricht nehmen, war für mich klar, dass ich weg musste. Ich hatte nur noch eine Adresse in Paris. Zuunterst auf meiner Liste stand Jacques Lecoq,3 83 Rue du Bac. Dort bin ich 1959 hingegangen. Ich habe mich sofort an seiner Schule eingeschrieben. Lecoq sagte nur: »Wir beginnen morgen um neun. Erstes Jahr, erste Klasse.« Er hatte die Schule erst zwei Jahre zuvor gegründet. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre, die ersten Absolventen waren eben gegangen; ich gehörte also zum zweiten Durchgang. Zweiter Tag: Während ich improvisiere, ruft Lecoq nach zehn Sekunden: »Stopp, setz dich!« Dritter Tag, beim Beginn der Improvisation: »Nein, bleib sitzen!« So ging es drei Monate lang. Es war ein langer, schwarzer Tunnel. Lecoq hat nie mit mir gesprochen. In der Pause habe ich mich neben ihn gesetzt, in der Hoffnung, er sage, ich sei begabt oder so etwas. Aber kein Wort, nichts. Die ›neutrale Maske‹4 war dann die Rettung, weil ich mich hinter der Maske verstecken konnte. Ich lag nur auf dem Boden, hielt die Augen 2 | Wolfram Mehring, geboren 1930 in Münster, ging zur Fortsetzung seines Studiums der Literaturwissenschaft und Philosophie nach Paris; 1958 gründete er dort das Théâtre de la Mandragore und das Centre International de Recherches Théâtrales. Von 1966-1970 leitete er das Théâtre du Vieux Colombier in Paris und ist seither als Regisseur (über 100 Inszenierungen weltweit), Autor und Lehrer international tätig. Mehring wandte sich früh vom literarischen Sprechtheater ab und stellte den kreativen Schauspieler und dessen körperlichen Ausdruck in den Mittelpunkt seiner praktischen und theoretischen Untersuchungen. 3 | Jacques Lecoq, 1921-1999, war einer der einflussreichsten Theaterpädagogen des 20. Jahrhunderts. Lecoq kam als professioneller Sportler vom Training über die Körpererziehung zum Theater. Seine Auseinandersetzung mit der Commedia dell’arte führte ihn zu Giorgio Strehler nach Mailand, wo Lecoq später die Leitung der Theaterschule am Piccolo Teatro di Milano übernahm; 1956 kehre er nach Paris zurück und gründete seine eigene Schule, die École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq, die er bis zu seinem Tod leitete. 4 | Jacques Lecoq, Der Poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen, Berlin: Alexander Verlag 2012, S. 55: »Die neutrale Maske ist […] ein sozusagen ›neu-
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geschlossen und habe nichts gemacht. Ich hatte Angst, er würde bei der geringsten Bewegung wieder »Stopp, setz dich!« rufen. Wir haben improvisiert, Identifikation mit den Elementen, Wasser, Feuer und so weiter, und ich habe nichts gemacht, lag nur da. Ich dachte, irgendwann muss es doch einen Lichtblick geben. Ich hielt die Augen geschlossen. Er gab uns als Spielregel »Identifikation« vor. Außer zu atmen tat ich nichts. Nur das vage Gefühl einer Verinnerlichung von irgendetwas. Nach drei Monaten hat er mir schließlich gesagt: Ich könne auch in die Abendstunden kommen. Er gab nämlich Abendkurse für Berufstätige, die tagsüber keine Zeit hatten. Das bot er mir an. Ein Kompliment! Phänomenal! Hinterher habe ich verstanden, dass es richtig war, mich hinter der Maske zu verstecken und mich nicht zu rühren, nur auszuharren. Lecoq erklärte mir: »Wenn der Lehrer keine Komplimente macht, gehen normalerweise von zehn Schauspielschülern neun weg.« Ich bin bloß meinem einfachen Instinkt gefolgt, zu insistieren. Das hat er gemerkt und so habe ich die Zeit im Tunnel überstanden. In meiner Klasse – wir waren acht oder neun – wollten alle immer komisch sein. Lecoq hielt uns davon ab. »Stopp, das ist ganz schlecht. Setzt euch!« Irgendwann hat er es dann ganz verboten. Die ganze Klasse war frustriert; besonders der Engländer, der schon als Kind als Clown aufgetreten war und der Australier, der Commedia dell’arte gespielt hatte. Das zweite Jahr war vorüber, wir wollten der Schule schon auf Wiedersehen sagen, da kam Lecoq auf uns zu: »Ihr wollt also die Leute zum Lachen bringen.« Alle riefen: »Oh ja!« »Dann machen wir noch ein drittes Jahr«, entschied Lecoq. Lecoq sah ein, dass er nicht einen Haufen von Frustrierten in die Welt entlassen konnte. Er reagierte mit der Erfindung des dritten Schuljahres. In diesem dritten Jahr ist der Clown entstanden – durch einen Unfall. Die erste Übung bestand darin, die anderen zum Lachen zu bringen. »Wer möchte improvisieren?«, fragte Lecoq. Alle wollten es. Mein Kollege, der Engländer, war als erster zur Stelle. Er war der Frustrierteste. Nach zwei Jahren Frust durfte er endlich etwas Komisches improvisieren und uns trales‹, ausgeglichenes Gesicht, das eine körperliche Wahrnehmung der Ruhe anbietet. Dieses Objekt, das man sich vors Gesicht hält, soll dazu dienen, den ›neutralen Zustand‹, der einer Handlung vorausgeht, zu empfinden, einen Zustand der Empfänglichkeit für das, was uns umgibt, frei von innerem Konflikt. Die Maske ist Bezugspunkt, Grundmaske, Ausgangsmaske für alle anderen Masken.«
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zum Lachen bringen. Seine Improvisation hieß »The Gentleman Farmer«. Er hat eine Kuh gemolken und so weiter. Er war sowas von schlecht, katastrophal! Es hat auch keiner gelacht, es war peinlich. Der Engländer legte die rote Nase ab, zog das Kostüm aus und setzte sich hin. Da saß er und kapierte nicht, wieso niemand gelacht hatte. Nach zwei Jahren endlich dieser Befreiungsmoment und gleich der freie Fall ins Fiasko. Es war tragisch! Wir haben ihn alle angeschaut – und dann brach das Lachen aus. Es war nicht mehr aufzuhalten, wir brachen zusammen und lachten 25 Minuten am Stück. Auch Lecoq lag am Boden und hat sich geschüttelt vor Lachen, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Der Engländer saß da, ohne zu kapieren, was plötzlich so lustig war. Aber Lecoq hatte es sofort kapiert: Wir lachten über das Fiasko. Nicht die Improvisation brachte uns zum Lachen, sondern der Improvisierende, und zwar nachträglich, weil er uns lächerlich vorkam. Die ›Pädagogik des Fiaskos‹ war erfunden worden, ausgelöst durch einen Unfall – durch die Erfahrung unfreiwilliger Komik. Der Engländer war lächerlich in seiner Tragik als Gescheiterter und wurde von uns ausgelacht. Nicht das, was er uns vorspielte, fanden wir komisch, sondern ihn selbst als gescheiterten Spieler. Das Prinzip des Fiaskos: Es klappt nicht, niemand lacht. Mit dieser Entdeckung entstand der neue Clown, zufällig, durch einen Unfall. Es war der 6. Oktober 1962, halb elf Uhr morgens. Nach der ›neutralen Maske‹ war der Clown für mich der wichtigste Anhaltspunkt, weil ich entdeckt habe, dass ich mit dem Clown alles machen kann – sogar sprechen. Ich war mehr für mimische Stille disponiert. Aber auf einmal konnte ich problemlos sprechen. Vor allem konnte ich das tun, was man im Französischen déconner nennt: über die Stränge schlagen. Das heißt Sachen machen, die ich noch nie gemacht hatte, die möglicherweise sogar verboten sind – eine Form völliger Freiheit. Wir mussten lernen, zu akzeptieren, dass niemand lacht. Du versuchst etwas, wartest ab bis vielleicht eine Person lacht – von den 4.000, die hier sitzen. Wenn nicht, musst du dir sagen: Du warst nicht komisch, du warst unfähig, die Leute zum Lachen zu bringen. Über das Publikum frustriert zu sein, weil es deinen Humor nicht kapiert, hilft dir nicht weiter. Du sagst dir: Morgen komme ich mit einer anderen Krawatte und neuen Witzen wieder. Am nächsten Tag bist du wieder da, erzählst den ersten Witz. Und wieder lacht keiner. Dann begreifst du endlich, dass du gescheitert bist. Am 10. Tag fragen dich die Leute, ob du nicht einen noch dooferen, noch schlechteren Witz auf Lager hast. Du sagst ja, habe ich,
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und erzählst den Witz. Niemand lacht und du hast keine Ideen mehr. Du bist völlig allein und stehst wie doof da. Genau in diesem Moment lachen sie vielleicht über dich, weil du lächerlich wirkst. Sie lachen womöglich aus bloßem Mitleid. Oder sie lachen dich aus, denn das Ungeschick passiert ja dir, nicht ihnen. Oder sie sagen sich: Gestern war ich auch in einer solchen Situation, ich kam mir genauso lächerlich vor. Dann lachen sie über dich, aber zugleich über sich selbst. Sie verbünden sich mit dir, indem sie sagen: Mir ist das auch passiert – und lachen über sich selbst. Das ist natürlich toll.
II. D er B ouffon oder die E xplosion des C lowns Nach meinem Abschluss wurde ich Lehrer an der Lecoq-Schule. Von da an ist der Clown im Stundenplan immer wichtiger geworden. Neutrale Maske, Ausdrucksmaske, Commedia dell’arte, griechische Tragödie, Chor waren die Fächer; Pantomime, anfangs ein weiteres wichtiges Fach, verschwand diskret und wurde durch »figuration mimé« ersetzt, einer Form des Zeichnens mit dem Körper. Lecoq hat jedes Jahr das Gefundene verändert, Neues erdacht und hinzugefügt: es gab für ihn keine Routine. Von Jahr zu Jahr wollte er die Schule schließen. »Ich mache zu«, sagte er und wir antworteten jedes Mal: »Nein, nein, bloß nicht!« Er weigerte sich, seine Ideen in einem Buch zusammenzufassen. »Wenn ich ein Buch schreibe«, argumentierte er, »sind die Gedanken betoniert. Aber in jeder Unterrichtsstunde erfinden wir neue Dinge, die dann nicht im Buch stehen.« Wir stellten ihn vor die Alternative, entweder selbst ein Buch zu schreiben oder es von jemand anderem schreiben zu lassen. So haben wir ihn schließlich motiviert, es selbst zu tun. Das Konzept eines dritten Ausbildungsjahres wurde wieder aufgegeben. Im Anschluss an die zweijährige Ausbildung führten wir einen pädagogischen Jahreskurs ein. Das Spiel mit dem Clown konzentrierte sich dann auf drei Monate am Ende des zweiten Jahres. Nach einigen Jahren stellte Lecoq fest: Der Clown ähnelt allen Leuten – meinem Onkel, meiner Tante, meiner Nachbarin und so weiter. Er war Monsieur Tout-le-monde, ein Jedermann. Lecoq spürte auf einmal das Bedürfnis, diese Ähnlichkeit mit allen anderen, das Allgemeingültige des Clowns, zu sprengen. Im bouffon erkannte Lecoq das Potenzial eines Sprengsatzes. Den Bouffon begriff er als Figur, die für sich die totale Freiheit des Ausdrucks
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reklamiert. Ein Bouffon macht nicht nur, was verboten ist, er geht hundertprozentig darüber hinaus. Wir haben am Anfang überhaupt nicht kapiert, was Lecoq vorschwebte, wenn er den Bouffon als Erweiterung und Explosion des Clowns beschrieb. Tatsächlich ist der Clown historisch betrachtet in gewissem Sinne ein Produkt von Verboten. In Frankreich wurden um 1810 Theater in Kategorien mit spezifischen Lizenzen eingeteilt. Für gewisse Theater war es verboten, Musik zu machen. Deswegen haben die Clowns ihre eigenen Instrumente erfunden, um sagen zu können: »Das ist kein Musikinstrument, das ist nur ein Schlauch.« Jean-Gaspard Deburau5 durfte im Théâtre des Funambules nicht sprechen; auf das Verbot reagierte er, indem er seine Kunst der Pantomime entwickelte. Man fand auch einen Weg, das Sprechverbot zu umgehen, indem ein Kollege in den Kulissen stand und für die Figur auf der Bühne sprach. Der Kollege sagte zum Beispiel: »Guten Tag, Madame« und der andere auf der Bühne machte die passende Geste dazu. Eine andere Lösung war, den Text zu singen statt zu sprechen, denn singen durften sie. In unserer Zeit hat Dario Fo6 das Spiel mit der Zensur perfektioniert. Er betritt die Bühne und sagt: »Jetzt kommt eine Szene, die leider der Zensur zum Opfer gefallen ist.« Daraufhin beschreibt er die ganze Szene, um damit zu sagen, das dürfen wir leider alles nicht spielen. Dem Clown wird gesagt, dies und das sei verboten, und er antwortet: »Ich hab’s kapiert, das ist verboten. Tschuldigung.« Dann demonstriert er, was verboten ist, um zu zeigen, dass er es kapiert hat. Das ist das Privileg des Überdoofen. Das Lachen funktioniert beim Bouffon anders als beim Clown. Der Bouffon lacht über das Publikum, beim Clown ist es umgekehrt, er wird ausgelacht. Der Clown ist quasi normal, der Bouffon hingegen ist ein Monster, hat zwei Köpfe und drei Beine. Lecoq verstand den Bouffon als Ganzkörpermaske; man konnte sich physisch vollkommen transformieren – in eine wandelnde Skulptur oder gar Architektur. Wir haben den Studenten Zeit gegeben, ihren Bouffon zu zeichnen und zu konstruieren.
5 | Jean-Gaspard Deburau, eigentlich Jan Kaspar Dvorák, böhmisch-französischer Pantomime, 1796-1846. Von etwa 1819 an bis zu seinem Todesjahr spielte er am Pariser Théâtre des Funambules (»Theater der Seiltänzer«), wo er seinen weißgewandeten, stummen Pierrot zur ikonischen Figur der Pantomime entwickelte. 6 | Zu Dario Fo vgl. den Beitrag von Dimitri, Fn. 11.
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Sie traten dann manchmal mit zwei oder drei Assistenten als lebendes Gerüst für die Konstruktionen auf. Das Spiel mit dem Bouffon hat sich über die Jahre weiterentwickelt. Auf einmal hat Lecoq die Verbindungen gesehen. Er erkannte, dass der Bouffon nach oben mit Gott und nach unten mit dem Teufel verbunden ist. Er steht dazwischen und kann entscheiden, wem er sich anschließen will. Es traten göttliche Bouffons mit Flügeln auf oder teuflische, die eine Welt aus Kot schufen. Das kreative Spektrum war phänomenal; es hat sich immer weiterentwickelt und zugespitzt. Die Dicken waren Kugelmenschen, die Dünnen erschienen auf Stelzen. Jeder fabrizierte sein Bouffonkostüm nach den eigenen Vorstellungen. Mit zwei Köpfen, mit drei Beinen und anstatt zu sprechen, hat er sich erbrochen und so weiter. Es war ein einziges Spiel der Befreiung. Einer meiner Schüler war Philippe Gaulier.7 Nach dem Abschluss blieb auch er als Lehrer an der École Lecoq, wo er sich besonders mit der Commedia dell’arte und »écriture«, szenischem Schreiben, befasste. Alle Lehrkräfte hatten die Schule von Lecoq besucht. Die einzige Ausnahme war eine Sprechlehrerin, die von außen kam, und das hat nicht geklappt. Wir haben nie über Pädagogik gesprochen; sie war uns allen sowas von klar. 1962 hatten wir den neuen Clown gefunden. Schon lange vor der 68er-Revolution merkte Lecoq, dass sich etwas radikal ändern müsse. Seine gesamte Methode ist im Grunde eine Reaktion auf das konventionelle Theater. 1968 explodierte es dann, das Theater veränderte sich komplett und ich hatte das Glück, diesen Prozess unmittelbar mitzuerleben. Wir wollten es anders machen als unsere Väter und Großväter. Alles wurde politisch. Die Schulen schlossen, die von Lecoq war die einzige, die offen blieb. Der Schulbetrieb wurde eingestellt, man diskutierte nur noch. Die Schüler kamen mit dem Rucksack, haben geraucht – ein Happening.
7 | Philippe Gaulier, geboren 1943 in Paris, ist ein französischer Clown, Theaterpädagoge und Autor. Nach dem Studium bei Jacques Lecoq unterrichtete er Ende der 1970er Jahre an dessen Schule. 1980 gründete er seine eigene Schauspielschule, die École Philippe Gaulier, die seit 2011 in Étampes außerhalb von Paris ansässig ist. Im Mittelpunkt der Ausbildung steht die Beschäftigung mit dem Clown und dem Bouffon unter dem zentralen Aspekt des Spiels.
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In dieser Situation bot sich der Clown als Ausdrucksmittel an, um mitzuteilen: »Wir wollen es nicht mehr wie früher, wir wollen es anders!« 1971 habe ich mit Philippe die Compagnie Byland/Gaulier gegründet. Unser erstes gemeinsames Stück hieß Les Assiettes – die Teller. Wir saßen an kleinen Tischen auf der Bühne und ließen eine Ouvertüre spielen. Dann zerschlugen wir den ersten Teller. Danach verließ mindestens ein Zuschauer geräuschvoll das Theater. Der zweite und dritte Teller folgten. Zwischendurch haben wir lange gewartet. Am Ende war die Bühne ein Scherbenhaufen. Das totale Fiasko! Wir haben jeden Abend 200 Teller zerschlagen. Bei 300 Vorstellungen macht das 60.000 Teller. Sie wurden in einer Fabrik in Lunéville hergestellt und nur einmal bei 900° gebrannt, daher ließen sie sich leichter zerschlagen. 200 Teller für eine Vorstellung kosteten uns genau 200 Francs. Das entsprach damals ungefähr der Abendgage eines Schauspielers. Der Teller war eigentlich der komische Hauptdarsteller. Meine Mutter war entsetzt, als sie das Stück sah. Ihre Reaktion hat mir bewusst gemacht, weshalb ich Clown geworden bin. 200 Teller zu zerschlagen, jeden Abend, während eines Jahres, war das Doofste, was uns eingefallen war. Es gibt eine Steigerung, doof, doofer, am doofsten. Was ist das Doofste von all den doofen Sachen? Wir haben uns etwas ausgedacht und dann praktiziert. Als wir einen Teller zerschlagen hatten, merkten wir, dass es zwei sein müssten. Als wir einen zweiten zerschlagen hatten, merkten wir, dass es drei sein müssten. Dann haben wir kapiert, wir müssen mindestens 200 Teller zerschlagen: Die Steigerung des Unglücksfalls als Spielprinzip. Erst später ist mir die politische Bedeutung unserer Bühnenaktion klar geworden. Als wir in Prag spielten, herrschte Totenstille im Saal. Ein Teil der Zuschauer bestand aus Russen, ein anderer Teil aus jungen Tschechen. Deren innere Stimme sagte: »Ja, zerbrechen … Teller zerbrechen …« Niemand klatschte, nach der Vorstellung verflüchtigten sich die Leute schnell. Zwanzig Minuten später kommt ein Junge weinend auf uns zu, sagt nur: »Danke!« und rennt wieder weg. In dem Moment haben wir begriffen, dass das Bild der zerschlagenen Teller eine politische Metapher war. Und für mich auch: Ich musste etwas zerschlagen, weil ich es in der Schweiz nicht mehr aushielt. Etwas zu tun, das man nicht tat – und das 200 Mal hintereinander; es war eine Riesenzertrümmerung. Das Forum Theater Berlin nahm unsere Aufführung sofort unter Vertrag. Das Forum war ein alternatives, progressives Theater: 200 Tel-
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ler kaputtzumachen passte genau zum Programm. Dann kam die Frage: »Könnten Sie das auch nackt spielen?« Anfang der 70er Jahre war es in Mode, nackt zu spielen oder im Dunkeln. Wir antworteten: »Wissen Sie, es ist ein Problem, wenn wir barfuß auf den Scherben gehen.« »Sie können Schuhe anziehen.« »Einmal sagen wir ›Auf Wiedersehen!‹ und nehmen den Hut.« »Also gut, den Hut können Sie sich aufsetzen.« »Es ist Sonntag, da ziehen wir uns eine Krawatte an.« »Dann behalten Sie die Krawatte.« So haben wir uns Stück für Stück wieder angezogen. 1972 nahmen wir mit den Assiettes am Mimenfestival in Frankfurt a.M. teil. Vertreter der traditionellen Pantomime stiegen auf die Tische und schrien: »Skandal!« – nach dem Motto: Das darfst du im Theater nicht machen, Requisiten zertrümmern oder das Bühnenbild vandalisieren. Wir hätten das Theater verraten. In Wahrheit haben diese Leute gemerkt, dass das Ende naht und wollten es nicht akzeptieren. Man machte uns auch den Vorwurf, auf der Bühne zu sprechen. Das dürften wir nicht, es sei ein Mimenfestival. Aber bei diesem Festival wurden all die Pantomimen, die weiß geschminkt daherkamen, begraben. Das Festival war in Wahrheit ihre Begräbnisfeier. Auch die ganze Ästhetik von Marcel Marceau: eine Sackgasse. 50 Jahre lang hatte sich nichts verändert – die 200 kaputten Teller waren notwendig, um da rauszukommen.
III. Z irkusschule in C hâlons - en -C hampagne Monsieur Février, ein Funktionär im französischen Kulturministerium, hatte seit 30 Jahren ein Dreierprojekt in der Schublade: Zirkusschule, Nationalzirkus und eine Dachorganisation für alle Zirkusse. Bei jedem neuen Präsidenten und Kulturminister hatte er diese Schublade wieder aufgemacht, aber das Projekt interessierte keinen. Dann wurde Mitterrand gewählt und mit ihm kam Jack Lang als Kulturminister. Um 1980 war die Situation der Zirkusse katastrophal: 99 Prozent waren bankrott. Février legte ihm die Projektbeschreibung vor und Lang erkannte sofort: ein Prestigeprojekt. Damit übernimmt Frankreich in Europa die Vorreiterrolle bei der Zirkusförderung. Ohne zu zögern sagte Lang: »Das machen wir.« 1980 trat ein Schauspieler, der einen meiner Kurse in Paris besucht hatte, an mich heran. Er hätte einen Typen getroffen mit einem Projekt für eine Zirkusschule, ob wir mal zusammen essen gehen könnten. Der
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Mann war Pole und bot meinem Kollegen, dem Schauspieler, die Stelle des Verwaltungsdirektors an der zukünftigen Zirkusschule an. Mein Kollege lehnte ab, Verwaltungsaufgaben interessierten ihn nun wirklich nicht. »Wie wäre es denn mit der Position des künstlerischen Vizedirektors?« Das könnte er sich schon eher vorstellen, meinte mein Kollege. Dann fragte mich der Pole, ob ich an der Zirkusschule Direktor der Abteilung Clown werden möchte. Ich hatte natürlich überhaupt kein Interesse an einer konventionellen Zirkusschule. Spannend fände ich die Konzeption einer Ausbildung für eine neue Form von kreativem Zirkus. »Das wollen wir ja«, sagte der Pole. So bin ich da reingerutscht. Vom Ministerium erhielten mein Kollege und ich darauf hin den Auftrag, innerhalb von zwei Jahren eine Zirkusschule nach unseren eigenen Vorstellungen zu konzipieren und vorzubereiten. Als Standort für die Schule war Châlons-en-Champagne vorgesehen. Es gab damals in Frankreich noch fünf historische Zirkusbauten. Einer davon war in Châlons. Das Gebäude war um 1800 errichtet worden: Manege, aufsteigende Sitzreihen rundherum, das Ganze überdacht – einfach genial. Sarah Bernhardt hatte noch dort gespielt. Châlons-en-Champagne hat sonst wenig zu bieten. Da gibt es eine Kaserne, eine Psychiatrie; das ist schon alles. Eigentlich furchtbar. Zuerst dachten wir, Châlons sei zu weit weg von Paris. Aber es gab gute Zugverbindungen, in anderthalb Stunden war man da. Die Schüler könnten ohne weiteres einmal die Woche nach Paris reisen und sich Aufführungen anschauen, dachten wir. Das Beste an unserem Projekt war freilich, dass es weitgehend mit staatlichen Mitteln finanziert wurde. Zur Vorbereitung besuchte mein Kollege, der designierte künstlerische Vizedirektor, alle Zirkusschulen in Europa, um sich ein Bild zu machen, während ich alle in Europa existierenden Clowns aufsuchte. Nach zwei Jahren trafen wir uns wieder. Uns war sonnenklar, was wir nicht wollten: eine konventionelle Zirkusschule, für die Technik das Wichtigste war. Wenn dann die Alten im Zirkus körperlich nicht mehr mithielten, traten sie statt mit ihren Nummern zwischen den Nummern auf. In der Zeit, in der die Artisten ihre Kostüme wechselten, sollten die Alten das Publikum bei der Stange halten. Wir hingegen legten Wert darauf, dass ein Zirkuskünstler beide in einer Person verbindet, den Artisten und den Clown. Die Ausbildung bezeichneten wir als »Formation acteur de cirque«, also Zirkusschauspieler. Was kann der? Er ist körperlich durchtrainiert
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und akrobatisch geschult, er kann eine Nummer schreiben, eine Figur erfinden, Masken herstellen; zudem ist er imstande, schauspielerisch Konflikte auszutragen. Wir haben im Grunde die Lecoq-Methode auf den Zirkus angewendet und wie sich zeigte, war diese Übertragung völlig unproblematisch. Neben der artistisch-akrobatischen Ausbildung gab es während zwei Jahren 12 Wochenstunden Basisarbeit für die formation d’acteur de cirque, also Improvisation und Maskenspiel. Als weiteres Grundelement installierten wir den Autocours: Jede Woche mussten die Schüler selbstständig Spielideen entwickeln und umsetzen, d.h. Schreiben und Spielen. Am Ende des zweiten Jahres, wie schon bei Lecoq, waren einige Monate für den Clown reserviert. Wir merkten, dass alles, was wir vorher machten, eigentlich die ideale Vorbereitung auf das Clownspiel war: Die Clowns kamen wie von selbst. Das Grundkonzept der Formation war die Verbindung von Zirkus- und Theaterkompetenzen, einerseits Körperbeherrschung und Agilität, andererseits theatrale Improvisation und das Spiel mit Masken. Zirkus und Theater, Akrobatik und Komik, waren aus unserer Sicht keine getrennten Bereiche. Der Artist ist gleichzeitig auch Schauspieler. Die simple Nummerndramaturgie war aufgehoben, die Figuren stifteten Kontinuität zwischen einzelnen Nummern. Die jungen Artisten mussten von der ersten Woche an selbst schreiben, inszenieren und spielen. Die Schüler waren sofort begeistert bei der Sache, wir hatten nie Probleme, unser Konzept zu vermitteln. Bei den Zirkusleuten hingegen schon, die haben absolut nichts kapiert. Der Widerstand der anderen professionellen Zirkusschulen war entsprechend stark. Am Anfang waren wir mehr Lehrer als Schüler, feudale Verhältnisse: zehn zu acht. Phänomenal! Die Kandidaten haben wir zusammen mit einer Fachjury bei einer Aufnahmeprüfung ausgewählt. Wenn die Jury befand, man könne ein Mädchen nicht nehmen, weil sie zu dick sei – oder einen Jungen, weil er so dünn war wie das Hochseil, haben wir protestiert. Die Dicke hat uns interessiert, sie entsprach unserer Vorstellung des Clowns, weil sie sowas von doof war. Sie war von der normalen Zirkusschule abgewiesen worden, aber wir haben darauf bestanden: »Die nehmen wir!« Es gab ein paar Schüler, die kamen aus Zirkusfamilien, aber sie hatten sich schon von der Tradition gelöst und waren unabhängig. Dann gab es Fälle, bei denen wir uns überraschen ließen. Wie bei einer jun-
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gen Frau, bei der man uns sagte, sie sei Tänzerin, sie gehöre nicht in den Zirkus, aus ihr werde niemals ein Clown. Wir haben sie trotzdem aufgenommen und am Ende des ersten Jahres war sie nicht wiederzuerkennen. Sie improvisierte eine Art Concièrge mit einem Sandwich und einer Weinflasche – auf dem Seil. Sie hatte sich zu einer genialen Seiltänzerin entwickelt! Sie war sehr hübsch und spielte jetzt gegen ihre äußere Erscheinung an, elementar vulgär. Eine Ausdrucksform, die – im Gegensatz zur Finesse des Balletts –, brutal primitiv wirkte. Jahrelang steckte sie in der Schublade »Ballett«. Dann begriff sie, dass sie mit den Mitteln des Zirkus und des Theaters diese Schublade sprengen konnte. Sie reagierte damit auf ihre komplette Erziehung: »Sei immer hübsch und tanze wie ein Püppchen!« Diese junge Frau, die absolut nicht dazu prädestiniert war und es selbst nicht ahnen konnte, dass sie sich so entwickeln würde, ist unsere beste Clownin geworden. Sie überraschte alle, ihre Eltern, ihre Lehrer, ihre Mitschüler und sich selbst. Das war für uns die Bestätigung, dass eben nicht schon von Anfang an feststeht, wer Clown ist und wer nicht. Die Zirkusleute dagegen behaupteten: Entweder bist du es oder nicht, den Clown kannst du nicht in dir entdecken. Unsere Erfahrung mit der recherche de son propre Clown lehrte uns etwas anderes: Er steckt in dir drin und wartet nur darauf, entdeckt zu werden. Das war das große Thema bei Lecoq, den inneren Clown zu finden und herauszulassen; die Zirkusmenschen kapierten es nicht. Wir brachen alle Tabus des Zirkus. Zum Beispiel das Tabu des weiblichen Clowns, der nicht existierte, weil Frauen nicht lächerlich gemacht werden durften. Bei Lecoq sagten wir den Schülerinnen: »Tschuldigung, aber der Clown ist nichts für Mädchen. Es tut uns leid.« Wir hatten noch die Tradition im Hinterkopf. Frau und Clown passen nicht zusammen: Der Clown ist eine männliche Figur. Wie bitte? Die Frauen gingen zum Ausgang und schlugen die Tür zu. Nach 20 Minuten kamen sie wieder, mit roten Nasen und doofen Kleidern und waren sowas von lächerlich, das hatten wir noch nie gesehen: Eine Lächerlichkeit, man konnte nur staunen! Da haben wir gesagt: »D’accord, ihr seid dabei.« Sie haben schnellstens nachgeholt, was sie aufgrund des jahrhundertealten Verbots verpasst hatten und sofort spezifisch weibliche Formen der Komik entwickelt. Ein anderes Tabu war schwarzer Humor. Unfall, Tod und so weiter durfte man im Zirkus nicht thematisieren. Das Prinzip des schwarzen
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Humors funktioniert so: In der schlimmsten Situation kannst du von Glück reden, denn es könnte ja schlimmer kommen. Er hat nur noch einen Arm; ein Glück, dass es der rechte ist, wenigstens kann er weiterhin schreiben. In der Zirkusschule haben sie natürlich alle möglichen Unfälle gebaut. Unser Hochseillehrer war dabei, als ein Clown in einem inszenierten Unfall vom Seil fiel. Der Lehrer wurde weiß im Gesicht und verschwand. Danach erfuhren wir, dass seine Schwester vor seinen Augen abgestürzt und tödlich verunglückt war. Wir entschuldigten uns; das hatten wir nicht gewusst. Wenn wir das nächste Mal auf dem Seil improvisieren, solle er ins Café gehen. Das ist das absolute Fiasko des Seiltänzers: der Absturz als Element der Komik. Unter den Schülern befand sich ein Schwererziehbarer. Die Sozialberaterin riet ihm, zum Zirkus zu gehen, da passe er hin, die seien ohnehin schon alle verrückt. Er brachte uns seinen noch schwärzeren Humor mit. Meistens verschwand er 20 Minuten vor Ende des Unterrichts; manchmal blieb er ganz weg. Die traditionsbewussten Zirkuslehrer waren natürlich frustriert und stellten ihn zur Rede: »Was soll das?« Keine Antwort. Wir von der Theaterseite sagten ihm: »Wenn du uns brauchst, schickst du uns eine Postkarte.« Er schweigt. »Na dann, am Freitag zeigst du uns, woran du gearbeitet hast.« Am Freitag erschien er pünktlich und was er uns zeigte war genial. Er war so dünn, dass man die Rippen an seinem Brustkasten zählen konnte. Mit kleinen Hämmerchen spielte er Xylophon darauf; die Klänge aus den Lautsprechern verwandelten seinen Körper in ein Musikinstrument. Daraufhin schrieb er sich das Wort faim, Hunger, auf die Brust und ging nach Essen suchend in der Arena umher. Er trat auf eine Zuschauerin zu und reichte ihr die Hand. Als er seine Hand wieder wegzog, hielt er noch die Hand der Zuschauerin. Deren Hand hatte sich vom Arm gelöst. Dann begann er die Hand zu essen oder anzuknabbern, denn sie bestand aus Zuckermasse. Vor der Vorstellung hatte er der Frau eine vom Konditor fabrizierte falsche Hand gegeben. Nachdem die Hand nun verspeist war, ging er wieder hinunter und lief umher. Das ganze Publikum wartete jetzt darauf, dass er noch eine Hand äße oder vielleicht einen ganzen Kopf. Doch das tat er nicht und sie haben fast geschrien vor Spannung. Dann hat er sich umgedreht. Auf seinem Rücken stand jetzt das Wort fin, Ende. Es wird gleich ausgesprochen wie faim, Hunger. Er kehrte uns also den Rücken – das Ende – zu und verschwand. Einmal kam derselbe Typ mit einem Kollegen zu mir. »Du hast gesagt, wir sollen vereinfachen.« »Genau, das habe ich gesagt. Kostüm und
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so weiter, wo immer es möglich ist, vereinfachen.« »Wir haben jetzt wirklich vereinfacht. Was denkst du?« Sie standen nackt da. »Wir haben nur ein Problem«, meinte er. »Sollen wir die roten Nasen noch beibehalten oder nicht?« »Das ist eine Formalität. Das könnt ihr entscheiden, wie ihr wollt.« Sie haben Folgendes gemacht: Sie haben ohne Nase gespielt, aber mit einem roten Bändchen um den Pimmel. Das wurde natürlich ein Skandal. Die beiden haben später den Cirkus Ô gegründet. In Frankreich nannten sie die Form Nouveau Cirque, man sprach zudem vom Nouveau Clown. Neu im Nouveau Cirque war die Autorschaft des Clowns. Nicht die Nummer war das dramaturgische Hauptelement, sondern eine Geschichte, eine Figur oder eine bestimmte Atmosphäre; somit waren es eher Szenen. Der Nouveau Clown legte seinen Rucksack voller Regeln ab und begann, frei zu erfinden, zu fabulieren. Es zeigt sich, dass es viele verschiedene Stilarten des Clowns gibt, besonders im Kino. Da gibt es Killerclowns, brutale Schlägertypen, die sich als Clowns verkleiden, um Kinder zu täuschen. Aber das sind eigentlich Mörder. Im Vertrag von Zirkusclowns hingegen war festgeschrieben: »Du darfst das Publikum nicht aggressiv behandeln.« Das wurde respektiert; jetzt hatten die Zirkusleute aber etwas vergessen. Es sind ja nicht nur Babys und uralte Leute im Publikum, sondern auch Kinder und Jugendliche, Zuschauer, die das Aggressive mögen. Diese Erfahrung machten die Neuen Clowns mit schwarzem Humor, Brutalität, Gemeinheit: in einem bestimmten Alter sehen das Kinder gern.
IV. E ntrées und falsche A bgänge Der Clown verdankt sich einem Unfall. Wahrscheinlich schon im Zirkus, nicht nur bei uns an der École Lecoq. Ein Zuschauer im Regenmantel kam zu spät, wollte an seinen Platz und stolperte. Alle lachten und er war ganz beschämt. Der Direktor trat auf ihn zu und sagte: »Morgen machen Sie das wieder.« »Wie bitte? Nein, Tschuldigung. Ich will mich doch nicht lächerlich machen.« »Kommen Sie morgen wieder und machen Sie genau dasselbe wie heute. Dafür zahle ich Ihnen ein Honorar.« Am nächsten Tag kam er wieder, im Regenmantel, gehetzt, ein kleiner Stolperer – Riesenlacher. So ist der Clown entstanden, der dumme August. Durch Zufall. Durch Unfall.
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Die rote Nase war gleichfalls ein Unfall. Eigentlich beginnt es damit: Wenn man doof ist, kapiert man nicht. Man möchte aber kapieren. Wenn man nicht kapiert und kapieren möchte, wird das Gehirn intensiv beansprucht. Es treten hierbei Symptome auf, wenn man so fest nachdenkt: Die Hautfarbe ändert sich, man wird rot, dann violett, dann braun und zum Schluss fast weiß – und hat immer noch nicht kapiert. Dann ändert sich die Farbe der Haare: Sie werden grau, etwas später fallen sie aus. Alle Haare sind weg. Man ist kahl. Und man hat immer noch nicht kapiert! Sodann macht es der Clown wie die Kinder: Um zu kapieren, geht er näher hin. Er ist so neugierig, dass er zu bremsen vergisst und mit der Nase anstößt oder er achtet nicht mehr auf den Boden, stolpert über etwas und fällt. Die Nase schwillt an, wird rot, er dreht sich um. Und heute sagen wir: Sieht aus wie ein Clown. Es war ein Unfall. Es war so nicht vorgesehen. Abb.: Pierre Byland
Foto: Dante Carbini
Wir sind doof. Wir kapieren nicht. Das ist das Privileg des Clowns, aber es ist gar nicht so einfach, dieses Privileg zu nutzen. Vor allem für intelligente Schauspieler, denn diese wollen ja nicht doof dastehen. Das ist das erste
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Training; es ist für intelligente Schauspieler sehr schwierig. Die meisten scheitern schon auf dieser Stufe. 99 Prozent ›spielen‹ lediglich den Clown, weil sie sich nicht zu ihrer eigenen Doofheit bekennen wollen. Sie wollen ihre Doofheit auf die Figur abschieben, um klarzumachen: »Ich als Schauspieler bin nicht doof, ich bin intelligent. Ich selbst würde das nie so machen, aber meine Figur ist sooo doof, die macht halt solche Sachen.« Deswegen haben sie als Alibi erfunden, dass sie eine Figur ›spielen‹. Es stimmt aber nicht. Sie sind selber doof, leider. Der Schauspieler ist doof. Der Mensch ist doof. Nicht die Figur. Das ist gerade das Interessante am Clown: die Figur überhaupt nicht zu ›spielen‹. Die Figur, die personnage, existiert gar nicht. Du bist es. Deswegen ist es so schwierig. Es ist dein persönlicher Typ, der dasteht. Du spielst keine Misere, du steckst selbst mittendrin. Bei der Angst, doof dazustehen, brauchst du kein Alibi von der Figur. Der Clown ist vielmehr dein Mittel für eine Befreiungsaktion, weil die Figur Dinge tut, die du selbst nie wagen würdest. Und dann, in der Figur, musst du sie langsam vergessen – vergessen, vergessen, vergessen – und normalisieren, so weit normalisieren und vergessen, bis du nur noch du selbst bist. Dann, endlich, bist du imstande zu sagen: »Ja, ich bin doof. Nicht meine Figur.« Theater muss fürs Leben sein. Brecht sagte sinngemäß: Wenn du dich mit der Kunst des Theaters beschäftigst, erlaubt es dir vielleicht, die schwierigste Kunst besser zu kapieren, nämlich die Kunst des Lebens. Beim Clown könnte man das Gleiche sagen: Wenn wir uns mit seiner Kunst beschäftigen, ermöglicht es uns vielleicht, die Lebenskunst besser zu kapieren. Das clowneske Grundprinzip ist der Moment, in dem ich mir selbst eingestehen kann: »Ich bin ja so doof, ich habe es nicht geschafft, es hat überhaupt nicht geklappt. Es ist ein Fiasko.« Jeder hat seinen Clown, weil jeder einen eigenen Humor und eine eigene Form der Doofheit hat. Diese muss man erst einmal akzeptieren. Dann kann man den Clown in sich entdecken, ihn entwickeln und einen Stil dafür finden. Nimm 15 Leute und du hast 15 verschiedene Clowns! Die Situation des Clowns ist im Grunde tragisch. Er ist meistens allein. Die Einsamkeit ist sein Motor für spielerische Erfindungen, um mit einem Publikum in Kontakt zu treten. Denn dann ist er nicht mehr alleine. Er möchte mit den Leuten zusammen sein. Diese sagen: »Ach, schau mal, der arme Typ. Er wurde rausgeschmissen, jetzt steht er in der Ecke.« Das ist auf einmal seine Stärke: Er wird zum Antihelden. Wenn er rausgeschmissen wird, sagt er: »Tschuldigung, Tschuldigung.« Der Chef
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ermahnt ihn: »Hier darfst du nicht Musik machen.« »Ja, Tschuldigung bitte.« Dann geht er fünf Schritte weiter und macht da Musik. Und der Chef sagt: »Ich habe gerade gesagt, hier wird nicht Musik gespielt!« »Aber Sie haben doch gesagt dort. Aha, auch da. Tschuldigung, Tschuldigung bitte.« Dann geht er wieder fünf Schritte weiter und spielt. Der Chef entnervt: »Aber ich habe dir eben …!« »Aber Sie haben doch gesagt, dort und dort. Da etwa auch? Ach so, Tschuldigung!« An einem anderen Punkt, zehn oder zwanzig Schritte weiter, macht er wieder Musik. Der Chef: »Was habe ich gesagt!?« Der Clown: »Hätten Sie’s mir doch gleich gesagt, dann wär’ ich gar nicht gekommen!« Er geht weiter bis zum Ausgang, dreht sich um und sagt: »Schon schade. Das Stück, das ich spielen wollte, ist so schön. Tärä tärä, täretetetä!« – und spielt das ganze Stück nochmal. Die genuine Erfindung des Clowns ist der falsche Abgang. Denn er will nicht gehen. Aber er muss. Er ist zwar gegen jede Autorität, die ihm etwas diktiert, doch er widersetzt sich nicht. Er geht, aber er kommt gleich wieder und sagt: »Tschuldigung.« Er entschuldigt sich 1000 Mal, geht wieder, kommt zurück und sagt: »Ich möchte mich nochmal entschuldigen. Wirklich, es tut mir so leid.« Weggehen ist immer so etwas wie Sterben und Eintreten immer so etwas wie Geborenwerden. Deswegen ist die Tür so wichtig. Instinktiv haben die Clowns gesagt: »Wir machen ein Entrée«, einen Auftritt, keine Nummer. Geborenwerden… das kann zwölf Minuten dauern. Danach kommen die falschen Abgänge und die können zwanzig Minuten dauern. Clownsein ist Kommen und Gehen. Das ist schon die ganze Geschichte. Du spielst vielleicht noch etwas Musik, eine Formalität. Dazwischen ist eigentlich nichts, aber wenn du schon mal da bist, willst du nicht gleich wieder weg. In einem Theaterstück heißt die Regieanweisung »tritt auf« oder »tritt ab«. Mehr braucht es nicht: Entrées, falsche Abgänge – das ist der Clown. Nach einem Gespräch mit Pierre Byland geschrieben von Richard Weihe
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Weinen ist Natur — Lachen ist Kultur Gardi Hutter
I. H annas erster L uf tsprung Von 1974 bis 1977 studierte ich an der Schauspiel-Akademie Zürich (heute ZHdK) Schauspiel und Theaterpädagogik. Ich war 21 bis 24 Jahre alt. Die Jugend der 70er Jahre war gesellschaftlich und politisch in hellem Aufruhr. Viele bisher sichere Werte wurden in endlosen Streitgesprächen zerzupft und verloren plötzlich ihre Gültigkeit. Die Frauen machten begeistert mit, stellten aber bald ernüchtert fest, dass sie auch in revolutionären Kreisen die Fotokopien und den Kaffee machten. Neue Rollenbilder waren gefragt. Als Schauspielschülerin war schnell klar, dass ich komisches Talent hatte. Ich las mich durch die Theaterliteratur, der klassischen und modernen, und suchte nach spannenden Rollen mit komischem Potenzial. Ich fand viele, aber nie waren sie weiblich. Die Rollen für junge Frauen waren (und sind), mit Ausnahme einzelner Mägde- und Hosenrollen, vielmehr auf das Fach ›Junge Liebhaberin‹ und ›Die Naive‹ beschränkt. Es gab zwar ›Die Charakterdarstellerin‹, aber die endete immer tragisch. Um meiner 24 Jahre alten Unruhe, Wut, Neugier, Verletzlichkeit und immensen Unsicherheit auf der Bühne Ausdruck zu verleihen, fand sich keine Vorlage. Zum Lernen und Üben konnte ich in der Schule Männerrollen spielen, doch in der realen Berufstheaterwelt war das nicht gefragt. Ich stand vor einem Dilemma: Komisches Gespür entwickelt sich nicht durch Lesen, nur durch Spielen. Die Rollen müssen körperlich erkundet und angeeignet werden. Es gab aber für mich keine Rollen. Was ich spielen wollte, war noch nicht geschrieben. Das musste ich selber tun. Aber wie? Ausbildungsmöglichkeiten gab es damals keine. Es blieb nur das Machen: versuchen, verwerfen, verzweifeln und wieder versuchen! Dieser Lernprozess dauerte drei Jahre.
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Die Grundfigur von CLOWNerin Hanna entstand in einer Männerrolle, die ich, ohne etwas am Text zu ändern, im Rock spielte. Es handelte sich um den Sklaven Nikias aus Die Ritter von Aristophanes (424 v. Chr.). Das Stück zeigt zwei Sklaven, die, vom Tyrannen verprügelt, einem Wursthändler helfen, den Tyrannen zu stürzen. Kaum hat der Wursthändler die Macht, verprügelt er die Sklaven. Der Regisseur Mario Gonzales (Théâtre du Soleil, Paris) schlug vor, aus dem zweiten Sklaven eine Frau zu machen, die, als letzte der hierarchischen Prügelleiter, auch noch vom ersten Sklaven verprügelt wird. Gonzales inszenierte das Stück als Clowntheater: Alle Figuren waren körperlich ins Groteske übertrieben – die Sklavin als ›die dauerschwangere Frau‹. So ist meine runde Form entstanden. Doch alle waren überrascht, wie komisch diese Rundungen, kombiniert mit meinen schnellen, energischen Bewegungen, wirkten. Publikum und Presse reagierten anlässlich der Premiere in Milano (Centro di ricerca per il teatro/ CRT, 1979) mit Begeisterung. Es lag etwas Neues in der Luft – aber es dauerte noch zwei Jahre bis Hanna als eigenständige Clownfigur ihren ersten Luftsprung machte. Zentral für meine Clownwerdung war die intensive Auseinandersetzung mit Clown Ferruccio Cainero, den ich 1978 in Rom kennenlernte. Ich studierte in einem zweimonatigen Sommerkurs von Roy Bosier die Fächer Mime, Clownerie, Pantomime, Tanz und Jonglage. Im Rahmen eines Theaterfestivals im Park sah ich das Teatro Ingenuo mit La Cavatina di Figaro. Eine fulminante Entdeckung: Drei Clowns fügten mit Leichtigkeit und Frechheit absurd lustige Nummern aneinander. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich war dann die Person, die aus dem Publikum auf die Bühne geholt wurde… Mit dem Teatro Ingenuo zog ich nach Mailand und entwickelte mit Ferruccio Cainero drei einstündige Clownstücke: zu zweit und zu dritt. Alle versandeten aus verschiedenen Gründen. Sie waren nicht schlecht, aber auch nicht genial – halt mittelgut. Sie führten nirgendwohin. Bei mir machte sich Verzweiflung breit. Das Vorurteil schien sich zu bestätigen: Männer sind komisch, Frauen sind tragisch. Dieser so oft gehörte Spruch stachelte wiederum meine Wut an. Ferruccio schlug vor, ich solle mich als Solistin probieren, und er sich als Regisseur. Meine einzige Solistenerfahrung waren die drei letzten Ritter-Aufführungen: Der 1. Sklave war über Nacht abgehauen und ich musste als 2. Sklavin unsere Dialogszene als ›inneren Monolog‹ alleine spielen. Die erste Vor-
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stellung war furchtbar, die zweite interessant und die dritte ein Genuss. Auf der Bühne taten sich plötzlich neue Räume auf. Abb.: Gardi Hutter: Hanna aus Jeanne D’ARPpO/Die tapfere Hanna, seit 1981
Foto: Adriano Heitmann
Am Abend schrieb ich die Grundidee des Stücks: Die drei Heiligen – die, wie die historische Jeanne d’Arc im Tribunal erzählte, ihr eingaben, was sie als Nächstes tun sollte – irren sich in der Adresse. Sie gelangen an eine Jeanne (Hanna), die zu dick ist, um in die Rüstung zu passen und zu dumm, um zu verstehen, in was für einen Kampf sie ziehen soll. Ferruccio Cainero und ich entwickelten in dreieinhalb Wochen die Geschichte von ›der Wäscherin, die von großen Heldentaten träumt‹. Auf die Stimmen der Heiligen konnten wir im Laufe der Proben verzichten, weil ›der Riesenhaufen dreckiger Wäsche‹ auf der Bühne sichtbarer Gegner von Hanna wurde.
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Der zweitwichtigste Anklagepunkt gegen die heilige Johanna war, dass sie, neben ihrem direkten Draht zu Gott, Hosen trug. Und wenn Hanna meinte, nur in Hosen könnte sie Heldin werden, weil der Feind ihr sonst unter den Rock schaue, dann entsprach das auch meiner persönlichen Situation: Die Rock- oder Hosenfrage war der springende Punkt. Zur Premiere des Theaterfests Ben venga maggio war offensichtlich eine neue Clownfigur geboren. Kaum fertig gespielt, wollten drei Theaterdirektoren das Stück buchen. Ich war verdattert und stotterte als sie nach meiner Gage fragten. Im Nachhinein sehe ich den roten Faden dieser drei Jahre der Suche. Mittendrin steckend hatte ich ihn oft verloren und das Gefühl, hoffnungslos in konturlosen Sümpfen herumzutreiben. Ich habe immer wieder den Rat älterer Clowns gesucht. Ich reiste einen Monat mit dem kleinen Zirkuszelt von Nani Colombaioni im Hinterland von Rom mit, nur um dem Maestro jeden Abend meine Nummer zu zeigen und von ihm Tipps zu bekommen. Um finanzielle Engpässe zu überbrücken, spielten das Teatro Ingenuo und ich auf Straßen und in Parks. Die Straße ist eine strenge Schule: Du musst die Leute spielend in deinen Bann ziehen, damit sie anhalten, sich amüsieren – und ihren Geldbeutel öffnen.
II. H annas L aufbahn Nach der Clowngeburt 1981 in Mailand sind mit Hanna sieben abendfüllende Theater- und ein Zirkusprogramm entstanden – vier Solos und vier Duos mit wechselnden Clownkollegen – die bis heute 3.400 Mal in 30 Ländern gespielt wurden. Der schnelle Erfolg von Hanna war auch Resultat der damaligen Situation: Die komische Frau war überfällig. Das gesellschaftliche Suchen nach neuen Frauenidentitäten stagnierte schon in ideologischen Grabenkämpfen. Als Hanna komisch, frech, saftig und bösartig hereinplatzte, hatte sie sowohl die Frauen als auch die Männer sofort auf ihrer Seite. Sie traf den Zeitgeist. Presse, Radio und Fernsehen stürzten sich auf die Neuheit – und die Rarität. Es erschienen hunderte von TV- und Radiobeiträgen und tausende von Kritiken und Portraits. In jedem einzelnen Interview musste und muss ich die Frage beantworten, warum es so wenig komische Frauen gibt. Mein Versuch, mich an das Phänomen heranzutasten, basiert auf folgender Erkennt-
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nis: Komik hat immer mit Regelbruch zu tun. Meist hat sie aggressives Potenzial: Sie demaskiert. Sie zeigt, was hinter dem schönen Schein steckt. Sie zeigt die Lächerlichkeit von Machthabern, die Feigheit von Möchtegernhelden. In einer patriarchalen Gesellschaft war es den Frauen schlicht verboten, sich über Andere, und v.a. über Männer, lustig zu machen. Sogar die ›Wilden Weiber Masken‹ an der Fastnacht durften nur die Männer tragen. Solange Frauen finanziell abhängig waren und sich die ganze Erziehung auf die Heirat ausrichtete, mussten sie v.a. gefallen. Schönheit und Tugendhaftigkeit waren gefragt. Die ›weiblichen Tugenden‹ – brav, sanft und bescheiden – waren bis ins intimste Selbstbild effiziente Zähmungsmittel und führten eher zu introvertierter Tragik als zu extravertierter Komik. Die Frauenbewegung brachte Frauen mehr Autonomie – eine Voraussetzung für öffentliches Lachen. Meine Großmutter wäre wohl noch in eine Heilanstalt gekommen, hätte sie das Gleiche gemacht wie ich. Warum gibt es in einer gleichberechtigten Gesellschaft immer noch so wenige komische Frauen? Ein Verdacht: Die Motivation für vieles, was Menschen tun, besteht darin, dem andern Geschlecht zu gefallen. Scheint sich bei Frauen Humor als Strategie weniger zu bewähren als Körperpflege? Frauen, die sich ins komische Fach wagen, können sich auf keine Tradition berufen. Sie haben kein Leitsystem kollektiver Bilder, keine Typologie von komischen Frauenrollen. Ihnen fehlen auch historische weibliche Vorbilder zum Nachahmen (wie Chaplin, Keaton, Grock). Orientieren sie sich an der Commedia dell’arte, finden sie ›Maschere‹: Arlecchino, Pantalone, Dottore, Capitano. Frauen tragen keine Maske. Colombina ist hübsch, frech und brillant, aber keine komische Figur. Komische Frauen müssen sich – und auch ihr Genre – neu erfinden.
III. H annas M e tamorphosen Die Produktionen finden immer im Team statt. Die Rolle des Regisseurs ist von zentraler Bedeutung: Er ist Co-Autor, d.h. wir erfinden zusammen die szenische Handlung – eben das Theater; er von außen, ich von innen. Den Plot einer Katastrophe, den dramatischen Spielmechanismus, bringe ich mit, geschrieben und gezeichnet auf vielen Blättern. Diese Grundidee
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und die Hanna-Figur sind der Ausgangspunkt für die Proben – daraus soll Spiel werden. Szenische Bilder, schlüssige Dramaturgie, körperlicher Ausdruck extremer Emotionen, Situationskomik, Gags… setzen sich langsam zu einem Ganzen zusammen und daraus entsteht – wenn es gelingt – ein Universum, eine kleine skurrile Spielwelt um die Figur herum. Hanna geht durch alle acht Produktionen: Sie ist meine Clownfigur – in immer wieder neuen Geschichten. In der letzten Produktion (Die Schneiderin) wollten Regisseur Michael Vogel (Familie Flöz) und ich die Figur, einer Metamorphose ähnlich, weiterentwickeln. Wir haben drei Wochen ohne die Schaumstoffrundungen geprobt. Nur um den Unterschied zu spüren, zog ich in einer Probe das Hanna-Kostüm an. Schlagartig war klar: Hanna hat eine Kraft, die ich ohne sie nicht habe. Sie ist eine Maske. Eine Leibmaske. Sie ist ein Ganzes. Sie hat ihr Eigenleben und ihre Eigengesetzlichkeit. Ich spiele mit ihr – und sie mit mir. Durch sie geht eine Energie, der ich mich zur Verfügung stelle. Ich kann sie nicht beliebig verändern. Dass viele Leute sich zur Fastnacht als ›Hanna‹ verkleiden, funktioniert nur, weil sie als Maske erkannt wird. Als Spielende (nicht als Theoretisierende) spüre ich: Ich knüpfe an etwas an, das älter und größer ist als ich. Ursprüngliche Rituale menschlicher Vorstellungskraft wirken nach und sie haben mit der Erfindung des Lachens als Überlebensstrategie zu tun. Wer kann schon beschreiben, was bei ihm eine Gänsehaut auslöst? Anders gefragt: Welche Magie bewirkt, dass Menschen freiwillig stundenlang im Dunkeln sitzen und, obwohl sie wissen, dass alles nur gespielt und nicht wahr ist, doch echte Emotion empfinden und in unkontrolliertes Lachen und Weinen ausbrechen?
IV. D er l ange W eg von C lown &C o Clown, Buffone, Zanni, Harlekin, Kasper, Hanswurst, Fool … sind viele Namen für immer wieder das gleiche Grundprinzip: dem Schrecklichen ins Gesicht zu lachen. In ethnologischen Museen rund um die Welt sehen wir die ersten von Menschenhand geschaffenen Kunstwerke – heute glücklicherweise nicht mehr ›Primitive Kunst‹, sondern ›Premier Art‹ genannt. Es sind Masken, Statuetten, Trommeln und symbolische Gegenstände, die in Ritualen rund um den Tod gebraucht wurden. Sie sehen oft zum Fürch-
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ten aus – als wollten sie eine Gefahr bannen. Ihnen wohnt eine beschwörerische Kraft inne, die noch heute wirkt. Die größte Herausforderung der Menschen ist der Tod. Sie können ihn nicht besiegen, nur hinauszögern. Die Menschen können an ihrer Endlichkeit nichts ändern. Aber sie können ihren Schmerz lindern, indem sie sagen: Der Tote ist nicht tot, er macht nur eine Reise in eine andere Welt. Für die Toten, zu denen man bald auch gehören wird, werden andere Welten erfunden: Unterwelt, Paradies, Himmel, ewige Jagdgründe, Garten Eden, Mutter Erde… Ins Grab gelegte Hirsekörner und Schutzamulette bis hin zu gigantischen Pyramiden sollen den Toten helfen, sich in dieser andern Welt zurechtzufinden. Und wo ein Begräbnis ist, ist auch ein Fest. Trauern kippt ins Feiern; das Leben übernimmt wieder. Clown&Co entwickelten sich aus dem ›archaischen Fest‹, das weltweit in frühen Agrargesellschaften entstanden ist. Es gab unzählige Formen dieser Feste, aber immer drehten sie sich um die Zyklen der Natur: Geburt/Tod, Sommer/Winter, Tag/Nacht, Fruchtbarkeit/Verfall, Erschaffen/Zerstören, Schmerz/Lust – und immer wurden Rauschzustände angestrebt. In diesen Festen hatten auch die Toten, die nie völlig verschwanden, sondern nur in einer anderen Welt lebten, ihren Platz. Noch heute erzählen davon Fastnacht, Karneval, Sylvester, Halloween – und in weit verwandter Art selbst Karfreitag und Ostern. Als Kind erschreckten mich an der Fastnacht (Altstätten) die fratzenhaften Holzmasken der Wilden Weiber zutiefst – doch ihr verrücktes Treiben brachte mich ebenfalls zum Lachen. Am lebendigsten hat sich dieses Festprinzip in Mexico erhalten: Der Dia de los muertos ist ein fröhliches Volksfest und wird auf den Gräbern gefeiert – mit Totenköpfen aus Zuckerguss. Urahnen von Clown und Buffone waren die Spielleiter im archaischen Fest. Sie konnten zwischen den Welten hin und her gehen, die Toten herholen und sie genauso wieder vertreiben. Auf der ganzen Welt gab es ähnliche Figuren dieser grotesken Leiber, die mit lauten und oft vulgären Bewegungen die Toten anführten. Sie waren zum Fürchten – und zum Lachen. Gruseln und Lachen linderten die Angst und halfen, mit dem Unabänderlichem in Frieden zu kommen. Clown&Co waren existenzielle Spieler: Es ging um Leben und Tod. Erst das Nicht-mehr-Dasein einer Person machte es nötig, von ihr zu erzählen. Erzählungen hielten die Toten lebendig. Walter Benjamin hat
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es in seinem Essay Der Erzähler einleuchtend ausgedrückt: »Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.« Im Laufe der Zeit entwickelten sich diese populären Fest-Figuren zu professionellen Figuren, die auch außerhalb der Feste auf öffentlichen Plätzen und in Schaubuden auftraten. Ein bekanntes Beispiel ist die Commedia dell’arte. Aus dem uralten Hellequin (keltischer Totengott, Anführer des ›wilden Heeres‹: Tote, die über das Land ziehen und die Lebenden erschrecken) wird ein neuzeitlicher Harlequin/Arlecchino. Viele alte canovacci (Szenarien) bezeugen Jenseitsreisen in die Unterwelt, zum Mond, zur Hölle. Ein anderes, jüngeres Beispiel ist weltweit bekannt: Vor 230 Jahren hat der Clown erstmals im Zirkus seine Rolle gefunden. Neben atemberaubenden Dressur- und Artistiknummern muss der tollpatschige Unperfekte für entspannendes Lachen sorgen. Der Zirkusclown ist aber nur ein weiteres Kostüm, das sich die komische Grundfigur übergestülpt hat. Der Clown ist viel älter als der Zirkus. Die klassische Schminke des Zirkusclowns erinnert noch vage an den Totenkopf. Im Laufe von noch viel mehr Zeit, durch viele Generationen von Schauspielern hindurch, haben sich unendliche Varianten von Figuren und Spielarten entwickelt. Meist haben diese Szenen nichts mehr mit dem Tod zu tun – das Spiel mit dem Tod ist nur die Ursprungsszene. Aber der Mechanismus ist der gleiche geblieben: Es wird das Scheitern zelebriert. Clown&Co stolpern, zappeln, brabbeln, sind schwer von Begriff und läppisch gekleidet. Niemand will im wirklichen Leben als Clown bezeichnet werden – der professionelle Clown gibt sich freiwillig der Lächerlichkeit hin – er ›opfert‹ sich. Der Zuschauer fühlt sich überlegen, lacht über ihn – und gleichzeitig über sich und das eigene Scheitern.
V. K urze S ät ze und l angsame A bgänge Clowns sind extreme Tragöden. Sie treiben die Tragik auf die Spitze bis sie ins Komische kippt. Clowns sind der griechischen Tragödie näher als der heutigen Comedy. Es geht um Katastrophen – größere und kleinere – und das unausweichliche Scheitern. Clowns scheitern immer – doch das großartig. Auch im schlimmsten Schlamassel verlieren sie nie die Würde. Wäscherin Hanna verliert zwar jeden Kampf gegen ihre dreckige Wäsche, aber dank ihrer Sturheit geht sie zum Schluss als strahlende
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Heldin in ihrem Waschtrog unter. Den Gewinn hat das Publikum, das während 70 Minuten über ihr tollpatschiges Strampeln gelacht hat. Clowns sind Originale. Sie sind sofort erkennbar. Sie haben eine eindeutige Silhouette. Ich bin immer erstaunt, wie schon Kritzeleien von kleinen Kindern Hanna sofort wiedererkennen lassen. Clowns sind einfach. Es ist einfach, kompliziert zu sein – aber kompliziert, einfach zu sein. Clowns wissen gar nicht, dass sie ein Problem haben. Hanna hat weder Komplexe noch Selbstzweifel. Sie ist nicht dick – der Spiegel ist zu klein. Hanna, als Schneiderin, verschluckt eine Riesennadel, die sie mit einem Magnet wieder aus dem Hals bekommt. Eine große Schere, die sie sich in den Kopf gerammt hat, bekommt sie nicht mehr raus. Sie stirbt vor Publikum. Das soll lustig sein? Was geschrieben so makaber tönt, ist auf der Bühne fröhliches Spiel. Die Zuschauer lachen, laut und leise – und manchmal, wie sie mir mitteilen, weinen sie auch ein bisschen – oder lachen und weinen gleichzeitig. Ihre Augen glänzen. Sie sind tief berührt. Was geht hier vor? Clowns wühlen mit Vorliebe im Unheimlichen, Verbotenen, Verdrängten – in Tabus, die Angst erzeugen. In unserer jung-dynamischen Gesellschaft ist der Tod das größte Tabu. Man spricht ungern darüber. Man verdrängt ihn lieber und geht joggen oder wechselt die Kosmetik. Je stärker das Tabu, je stärker die Emotion – desto schallender das Gelächter. Es entspannt. Clowns spielen mit sich, dem Publikum, dem Leben – und dem Tod. Alles ist Spiel und Spiel ist alles. Clowns sind emotionale und körperliche Sinnbilder für die Endlichkeit des Lebens und die Unendlichkeit des Spiels. Schneiderin Hannas Spiel über ihren eigenen Abgang dauert 70 Minuten. Sie hat Übung: In acht Stücken ist Hanna am Ende sieben Mal tot. Es ist der clowneske Tod.
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I. W ie ich C lown wurde In meinen jüngeren und verletzlicheren Jahren gab mir mein Lehrer einen Rat, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: Sei offen, provozierend, kampfeslustig und versöhnlich – und stelle Fragen! Ich nahm mir dies zu Herzen. So begann ich mich 1969 in meiner Freizeit in der Kunst der Pantomime zu üben. Einige Zeit zuvor war in Ostberlin eine Pantomimen-Bühne für Laienspieler gegründet worden, bei der ich Mitglied wurde. Täglich übten wir an den Abenden der Arbeitswoche das pantomimische Handwerkszeug und studierten parallel dazu erste kleine Szenen ein. Nach einem Jahr hatten wir ein genügend großes Repertoire an Etüden, so dass wir jeden Freitagabend eine Vorstellung geben konnten. Das erste Off-Theater Ostberlins war entstanden und erfreute sich beim Publikum zunehmender Beliebtheit. Dass diese Entwicklung den »staatlichen Organen« der DDR nicht entging, liegt auf der Hand. Wir standen unter Beobachtung und lernten, uns trotz und wegen dieser Beobachtung nicht das Wort und noch weniger die Sprache des Körpers verbieten zu lassen. Da es anders als im Sprechtheater bei uns Pantomimen keine Textvorlage gab, konnten wir den Spielraum von Interpretationsmöglichkeiten besonders gut nutzen. Wir begannen, subversives Verhalten zu üben, Fragen zu stellen und andere Antworten als die offiziellen zu suchen. Im Sommer des Jahres 1974 gründete das schon damals renommierte Deutsche Theater in Berlin ein professionelles Pantomime-Ensemble, dessen Mitglieder sich aus dem Kern der Laienbühne rekrutierten, zu dem ich gehörte. In einer Stammbesetzung von 12 nun professionellen Pantomimen begannen wir, abendfüllende Stücke zu inszenieren und waren mit ihnen Teil des Spielplans des Deutschen Theaters. Hier setzten wir unseren Weg fort, einen eigenen künstlerischen Ausdruck unserer
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Gedanken zu finden. Vorsichtig, manchmal schlau in Schwejkscher Manier, manchmal verwegen und mutig suchten wir Möglichkeiten, das auszudrücken, was wir dachten und empfanden – in dem kleinen Land DDR, das sich aus Furcht vor dem eigenen Volk selbst eingeschlossen hatte. Es wäre jedoch anmaßend zu sagen, wir hätten uns im Widerstand befunden. Aus heutiger Sicht und im Vergleich mit anderen Künstlern und Künstlerinnen wünschte ich mir, ich wäre mutiger gewesen. Andererseits kam nur eins von vier Stücken, die ich für das PantomimenEnsemble inszeniert hatte, zur Aufführung. Die anderen drei durften nicht gespielt werden. Sie waren an den Hürden der Zensur hängen geblieben. Mit café fatal feierten wir Erfolge in ganz Europa und Mittelamerika. Es behandelte die Sehnsucht des Menschen geliebt zu werden. Vier aus verschiedenen Gründen einsame Menschen treffen sich in einem Café und die Zuschauer verfolgten ihr Bemühen um Kontakt und ihr Scheitern. Das letzte Stück Die Tanzstunde wurde im Frühjahr 1989 verboten. Heute weiß ich, dieses Verbot/das Stück war eine Art Vorahnung, ein Vorwegnehmen der Ereignisse vom Herbst 1989. Im Herbst 1990 wurde allen Spielern des Pantomimen-Ensemble des Deutschen Theaters gekündigt und das Ensemble im Juli 1991 aufgelöst. Der damalige Kultursenator Momin gab uns als tröstende Worte mit auf den Weg, dass wir jetzt den Humus bildeten, auf dem die Hochkultur gedeiht. Für mich war das die Restauration der bürgerlichen Verhältnisse am Theater. Die Pantomimen waren dorthin entlassen worden, wo ihre künstlerischen Vorfahren herkamen, auf den Jahrmarkt. Ich nahm die Herausforderung an, wurde Clown und ging mit Paul Schmittke auf die modernen Formen des Jahrmarkts, spielte auf Galaveranstaltungen, in Autohäusern, auf Regierungsempfängen, in Krankenhäusern und im Zirkus. Ich trug eine Maske und spielte eine Rolle. Beide beschützten mich und beschützten auch das Publikum. Ich spielte im Publikum. Grenzüberschreitungen waren jetzt möglich. Ich nutzte die Mittel des Pantomimen und ich konnte sprechen. Ich konnte Dinge aussprechen, für die ich ohne Maske Ärger bekommen hätte. Ich spielte mit den Unzulänglichkeiten menschlichen Verhaltens. Ich spitzte zu und hielt Spiegel vor. Ich erntete Lachen und das Publikum lachte über sich selbst. Ich genoss die Provokation meines Spiels, ich genoss die intellektuelle Provokation, die in ihm lag. Ich wollte mehr… Sie kennen den Clown, haben ihn im Zirkus gesehen, auf den Straßen fremder Städte und manchmal auch im Theater. Meistens haben Sie über
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ihn gelacht, wenn er gut war, der Clown. Das Lachen ist seine Bestimmung. Er zeigt uns mit dem Lachen eine der kürzesten Verbindungen zwischen Menschen. Er zeigt uns, dass es leichter ist, die Welt lachend zu tragen. Nur das? Er ist ein Außenseiter. Er ist mutig. Es braucht Mut. Er beobachtet uns und ist uns damit oft überlegen! Er überrascht uns. Nur aus der Überraschung explodiert das Lachen. Er weiß, dass unsere Kommunikation scheitert, weil wir dem Anderen zu wenig zuhören und zusehen, weil wir uns selbst zu wichtig nehmen! Er führt uns an der Nase herum! Er zeigt uns klar, wo es lang geht. Er spielt mit den Regeln, achtet und missachtet sie! So erforscht er deren Wirkung. Er weiß, wie wichtig es ist, zu fragen, zu hinterfragen! Er zeigt uns unsere Grenzen, indem er auf ihnen herumbalanciert, über sie springt. Im Überspringen, im Überwinden wird er kreativ. Seine unerwarteten Ideen erweitern unseren Horizont. Er weiß, Kreativität setzt Grenzüberschreitungen voraus! Er kämpft mit der Welt, er kämpft mit sich, er verliert und macht dennoch weiter, er fällt hin und steht wieder auf. Er lässt sich nicht unterkriegen! Er weiß, wer nicht kämpft, hat schon verloren! Er ist ein toller Typ und ein Mistkerl; hinreißend sentimental und brutal. Er ist hinterlistig, egoistisch und selbstverliebt und zeigt uns, dass das nichts bringt. Gar nichts bringt! Er weiß, wer er ist! Er ist authentisch! Er hat unsere Sympathie! Er spürt uns! Er fühlt mit uns! Er kommuniziert mit uns, von Gefühl zu Gefühl, mit dem Körper, selten mit der Stimme! Er redet mit seinem Körper und seinem Verhalten! Er spielt eine Rolle! Er spielt eine Rolle – und ist dennoch ganz er selbst.
Ein Clown weiß, dass er eine Rolle spielt. Von einem Clown kann man lernen, wie man eine Rolle spielen sollte: klar, entschieden, mit ganzem Herzen und vollem Verstand, mit allem Mut und vollem Einsatz. Ich meine, dass auf den Bühnen des Lebens ähnliche Gesetze gelten wie auf den Bühnen der Kunst. Den meisten Menschen ist dieser Zusammenhang nicht bewusst. Dadurch unterlaufen ihnen Fehler: Sie sind nicht klar und sie haben ihre Rolle nicht präzise definiert. Daher vermischen sie unterschiedliche Rollen miteinander, die geschäftlichen mit den privaten. Sie nehmen Dinge persönlich, wo dies nicht angebracht ist. Ge-
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legentlich fallen sie aus der Rolle. Sie spielen eine Rolle – aber wie heißt sie? An dieser Stelle werde ich oft gefragt: »Wo bleibe ich persönlich, wenn ich nur eine Rolle spiele? Ich möchte gerne authentisch sein und niemanden etwas vorspielen.« Es muss kein Widerspruch sein, authentisch eine Rolle zu spielen. Was bedeutet denn, ›authentisch‹ zu sein? Das Wort ist abgeleitet von griech. authentikós, »gültig, echt, glaubwürdig« (Wahrig Deutsches Wörterbuch). Authentisch sein heißt somit glaubwürdig sein. Es kommt darauf an, welche Gestalt wir unserer Rolle geben. Dabei bilden unsere Erfahrungen, unsere Vorstellungen vom Leben und v.a. unsere Werte die Basis, auf der wir unsere Rolle schaffen. Es spielt eine Rolle, wie wir unsere Rolle spielen. Der Clown macht es uns vor: Er beobachtet sorgfältig die Wechselwirkungen in seiner Welt, in unserer Welt. Er wägt seine Entscheidungen ab und handelt. Ich wünsche mir, eine möglichst genaue Vorstellung von den Rollen in meinem Leben zu haben, diese so gut wie möglich zu spielen und nicht aus dem Rahmen zu fallen, die Fassung zu verlieren.
II. D er C lown als O berlehrer Abb.: Christoph Posselt
Foto: Tilo Riolo, Berlin
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»An Dir ist ein Oberlehrer verloren gegangen!« hatte meine Frau früher oft gesagt. »Ja, wenn das so ist, dann lass es mich doch versuchen«, hatte ich mir darauf hin gedacht. Ich unterrichte seit 2002 Menschen in Unternehmen zu einem besonderen Aspekt von Kommunikation. Es geht darum, wie sie gelingen kann. Ich fragte mich, was in der Wirtschaft Beschäftigte/Tätige von einem Clown lernen könnten und suchte Antworten. Ich fragte mich auch, was sie brauchen, wo ihre ›Baustellen‹ sind, die wir mit Hilfe des Clowns bearbeiten könnten. Ich fragte mich ferner, wo ich dabei meine Lust auf Weltverbesserung und Provokation unterbringen könnte. Welche von den Themenfeldern, die der Clown als künstlerische Figur besetzt, sind wohl relevant für Menschen in einem beruflichen Kontext? Ich fand die folgenden Aspekte bedeutsam und richtete darauf mein Augenmerk: Kommunikation, Emotion, Kreativität, Werte und Haltung, (Selbst-)Verantwortung, Lachen, Spielen. Betrachten wir einige Aspekte, um zu sehen, was wir von einem Clown lernen können. Der Begriff ›Kommunikation‹ stammt aus dem Lateinischen: communicare bedeutet ›teilen, mitteilen, teilnehmen lassen, gemeinsam machen, vereinigen‹. Hier lassen sich schon erste Problemfelder erkennen. Einerseits tauschen wir sachliche Informationen aus; andererseits gestalten wir mit unserer Kommunikation Beziehungen. Eine Nachricht geht vom Sender zum Empfänger und über sein Feedback zurück zum Sender. Allein auf diesem Wege können große Schwierigkeiten entstehen, wie wir alle schon leidvoll erfahren haben. Was können Ursachen dafür sein? Worte haben oft verschiedene Bedeutungsinhalte, weil sie aus verschiedenen Erfahrungen kommen. Damit wir uns verstehen, müssen diese Bedeutungen verglichen, man könnte sogar sagen, verhandelt werden. Nur indem die Kommunizierenden die Bedeutungen abgleichen, können sie Missverständnisse und Fehler vermeiden. Der Clown spielt gerne mit den verschiedenen Bedeutungsinhalten von Worten. Der Satz »Liebling, die Ampel ist grün!« kann ganz verschieden gesprochen werden. Mit Zuneigung und als Hinweis gedacht oder als Aufforderung, endlich loszufahren. In diesem Beispiel hören wir, dass ein einfacher Satz verschiedene Botschaften enthält. Das ›Vier-Seiten-Modell‹ gibt uns Auskunft darüber. Die erste Seite eines gesprochenen Satzes ist die sachliche Information, gefolgt von der zweiten, dem Appell, der mit dem Satz verbunden ist. Die Selbstauskunft bezeichnet die dritte Seite, gefolgt von viertens, dem Beziehungsaspekt. Oft sind die Informationen, die der Sender mit seiner
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Selbstauskunft vermittelt, und die Nachrichten zur Beziehung der Beiden bedeutender als der gesprochene Text. Jeder Akteur auf einer Theaterbühne weiß, dass es einen Text unter/hinter dem Text gibt! Nur wenige Akteure auf der ›Lebensbühne‹/Bühne des Lebens/Alltags wissen das. Was können Menschen daraus lernen? Sie sollten darauf achten, was sie über andere denken. Wenn unsere innere Haltung gegenüber einem anderen Menschen negativ ist, wird er das merken und sich entsprechend verhalten. Er wird sich dagegen wehren und wir laufen Gefahr, diese Abwehr als Bestätigung unserer Ansicht zu deuten. Die gute Seite dieser Nachricht ist: Wenn wir einen Menschen positiv betrachten, stehen die Chancen gut, dass er unsere Meinung bestätigen will. Er wird sich positiv verhalten. Das ›Insel-Modell‹, ein anderes Kommunikationsmodell, kann uns helfen, Menschen besser zu verstehen. Der Grundgedanke dieses Modells ist, dass alle Menschen auf ihren persönlichen Inseln leben. Genau wie ein Clown, der seine ganz eigenen und sehr speziellen Ansichten von der Wirklichkeit hat. Diese Inseln sind entstanden durch die Fakten unserer Herkunft, unserer Sozialisation. Aus welchen Verhältnissen wir stammen, welche Erfahrungen wir gemacht haben, welche Werte uns zu welchen Zielen leiten, bilden das Material, aus dem die Insel eines jeden Menschen gebaut ist. Es liegt auf der Hand, dass wir alle sehr unterschiedliche Inseln bewohnen und von diesen in die Welt blicken. Wie unsere Insel aussieht, davon haben wir eine mehr oder weniger genaue Vorstellung. Wie die Landschaften auf den Inseln anderer Menschen aussehen, davon wissen wir sehr viel weniger. Um aber andere verstehen und auf sie Einfluss nehmen zu können, brauchen wir ein Verständnis von der Beschaffenheit ihrer Insel. Diese Insel müssen wir erforschen und mehr von ihren Motiven, Interessen und Bedürfnissen erfahren. Wie können wir anfangen, was sollten wir tun? Stellen Sie Fragen! Wer fragt, erhält Antworten, wer fragt, führt. Fragen sind die Würze in der verbalen Kommunikation eines Clowns: »Warum?«; »Warum gerade ich?«; »Warum soll ich das tun?«; »Warum tut ihr das?«; »Warum macht ihr nicht etwas anderes?« Woher kommt die Ausstrahlung des Clowns? Wie entsteht die Strahlkraft des Clowns? Darüber mehr zu wissen, hilft vielen Menschen auf der Bühne ihres Lebens. Ausstrahlung und Wirkung sind zwei Seiten eines Phänomens: Unsere Wirkung auf andere hat eine Rückwirkung auf uns selbst und erzeugt wiederum Wirkung auf andere. Menschen wollen
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überzeugen, gewinnen, faszinieren, beeindrucken, begeistern, motivieren. Was können sie tun, um das zu erreichen? Essen Sie Fisch oder lernen Sie von Clowns und den Verkäufern der Fischmarkthalle in Seattle: 1. Wähle deine Einstellung! Was willst du sein, während du arbeitest? 2. Spiele und gestalte! Wie können wir mehr Spaß und Freude haben? 3. Bereite anderen Freude! Wer sind meine Kunden? Wer meine Mitarbeiter? Wie kann ich ihnen einen guten Tag bereiten? Wie können wir uns einen guten Tag bereiten? 4. Sei präsent! Mit dem ganzen Herzen dabei! Voller Aufmerksamkeit! 5. Wenn Sie selbst überzeugt, gewinnend, fasziniert, beeindruckt, begeistert, motiviert sind, werden es auch andere Menschen sein: Wahrnehmung schafft Realitäten. Die vier aufgezählten Punkte der Fischhändler der amerikanischen Westküste sind das Handwerkszeug eines jeden Clowns: Wer bin ich, was tue ich, wie kann ich Freude bereiten und wie schaffe ich es, mit dem ganzen Herzen dabei zu sein?
III. V ertr auen Was hat ein Clown mit dem Thema Vertrauen zu tun? Vertrauen ist ein Prozess, in dessen Verlauf man zu der optimistischen Annahme gelangt, dass Entwicklungen einen positiven oder erwarteten Verlauf nehmen werden. In unüberschaubaren Situationen, wenn man zu wenig Zeit hat, Informationen auszuwerten oder Informationen fehlen, befähigt uns das Vertrauen, auf Intuition gestützte Entscheidungen zu fällen. In jedem Vertrauensverhältnis gibt es zwei Beteiligte: Jemand, der Vertrauen schenkt und jemand, der Vertrauen hat. Wenn wir vertrauen, öffnen wir uns und werden verwundbar. Diese Öffnung ist jedoch eine Voraussetzung für das Entstehen von Vertrauen. Der Ausgang der Geschichte ist ungewiss, wir wissen am Anfang nicht, ob wir enttäuscht werden. Wenn es läuft, dann fühlt sich das für beide Seiten richtig, gut und plausibel an. Wer vertraut, hat die Wahl. Er entscheidet sich bewusst und freiwillig für diesen Prozess; den können wir durch unser Verhalten fördern. Damit Menschen uns Vertrauen schenken, brauchen sie klare, eindeutige Botschaften:
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Seien Sie offen und ehrlich im Umgang mit Menschen. Kommunizieren Sie Anerkennung und Wertschätzung. Entwickeln Sie ein ehrliches Interesse an Ihrem Gegenüber. Haben Sie den Mut, Fehler zuzugeben. Verhalten Sie sich solidarisch! Versprechen Sie nur, was Sie halten können. Seien Sie berechenbar! Vertrauen braucht Zeit, sich zu entwickeln.
Ist der Clown jemand, dem man Vertrauen schenken kann? Die Antwort fällt zweigeteilt aus: Ich als Zuschauer vertraue ihm, denn er erfüllt die Erwartungen, die ich von seiner Rolle habe. Das ist eine klare Botschaft. Für seinen Mitspieler auf der Bühne sieht das schon anders aus. Der wird betrogen, belogen, ausgenutzt, Partnerschaften werden geschlossen und wieder verraten. Der Clown spielt mit unserer Beobachtung. Wir lernen an seinem Beispiel. Vertrauen ist der entscheidende ›Klebstoff‹ für menschliche Verbindungen. Der Clown hat den Mut und die Kraft zu führen. Er führt uns durch eine Geschichte – mit Entschlossenheit! Er lockt uns in alle Richtungen, auch neue, unbekannte. Er weiß, dass unentschlossene Führung schlimmer als keine Führung ist. Er weiß ebenso, dass Führung Partnerschaft bedeutet. Partnerschaft zwischen denen, die vorne sind und denen, die folgen. Ich wünsche mir Bewusstheit für meine Verantwortung, wenn ich führe. Für mich ist der Clown zweifach mutig. Als Figur und im Spiel. Ein Clown ohne Mut, ohne Hang zur Unangepasstheit, zur Zuspitzung, zum Exaltierten ist für mich kein Clown. Ohne Mut keine Überraschung. Ohne Überraschung kein Lachen. In der Rolle des Clowns erkennen wir, wie schwer es ist, allein zu stehen und gegen die Meinung der anderen Widerstand zu leisten. Wir alle suchen den Schutz einer Gruppe. Es braucht Mut, eine eigene, unangepasste Meinung zu haben und diese zu vertreten. Ich wünsche mir, den Mut für eine eigene Meinung zu haben. Den Mut zu haben, die eigene Meinung nicht zu verkaufen, um zu einer Gruppe dazu zu gehören. Dabei habe ich ein kollegiales Vorbild, den mutigen Clown und Menschen Leo Bassi. Danke Leo! In der Welt versuchen Menschen, Konfusionen, Paradoxien zu vermeiden. Der Clown tut dies für uns auf der Bühne. Er produziert eine Konfusion von Welt, die uns auf Neues, Unerwartetes, Unbekanntes vor-
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bereitet. Er lässt uns erleben, dass wir das überleben werden! Er spannt uns durch die Entspannung, durch das Gefühl von Sicherheit beim Beobachten aus der Distanz. Ich wünsche mir für mich den Wagemut eines Clowns, meine Erfahrungen in Frage zu stellen und immer wieder offen für Neues zu sein, auch wenn mich das Neue erst einmal ängstigt. Ich bin sicher, dass der Blick über meine Grenzen mich befähigt, neue Ufer zu erreichen.
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I. W ie viele G ummibärchen sind im G l as ? »Frühstück! Aufstehen! Raus aus dem Bett! Bing! Bing! Bing! Aufstehen! Frühstück!« Dies war eine typische Szene meiner Kindheit: Meine Mutter, wie sie einen Topf mit einem Löffel bearbeitete… »Bing! Bing! Frühstück!« Sie stand in der Küche: die Hose über die Arme gestreift, die Bluse als Hose tragend, Unterwäsche als Kopf bedeckung. Ein mit Milch gefüllter Teller und ein Glas voller Eierkuchen mit Ahornsirup warteten schon auf dem Küchentisch. Auch gebratene Eier fehlten nicht, die bei uns mit einem Löffel gegessen wurden. »Guten Morgen, mein Schatz. Ich habe Deine Lieblingseierkuchen gemacht, Hasenkarnickel-Crêpe.« So war meine Mutter Judy Ann Johnson, die lustigste Person, die ich je getroffen habe – Hahaha! –, und eine unglaublich kreative Inspiration. Sie forderte mich ständig mit den tollsten Aktionen heraus, gab meiner Wissbegier immer neuen Stoff. Sie lehrte mich Natur, Wald und Seen zu sehen und zu hören, die Sterne und Wolken zu lesen, giftige von ungiftigen Pflanzen zu unterschieden, die heilenden und die Früchte tragenden zu erkennen. Sie war ein Clown in der reinsten Bedeutung dieses Wortes: zum Spielen aufgelegt, heiter und immer, unter allen Umständen, optimistisch. Obwohl wir wenig besaßen, gelang es ihr, dass wir uns reich fühlten. Schon immer faszinierten mich extreme Erscheinungen wie Dinosaurier, Superhelden, Psychopathen, Magier, Sideshows und das Übernatürliche. Daher freute ich mich auf den Besuch eines Zirkus schon Wochen im Voraus. Ich konnte es kaum erwarten, echte Elefanten aus der Nähe zu sehen und Menschen zu treffen, die so fantastische Dinge vorführen wie
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sie in der Manege zu sehen sind. Zirkus erschien mir als eine Art Traum – phänomenal. Einmal besuchten wir bei einem Schulausflug einen Zirkus, der in die Stadt kam. In großem Geschiebe, mit viel Geschubse drängten wir in den Bereich hinter der Manege, wo wir uns die Tiere und Clowns anschauten. Diese ›Clowns‹ waren schrecklich nervig. Sie redeten viel mit unnatürlich hohen Stimmen und gaben dummes Zeug von sich. Ich wanderte lieber herum, als ihnen zuzusehen. Mehrere Minuten lang blickte ich einem staubigen Elefanten aus nächster Nähe in die Augen. Das Tier war an einer Metallverankerung festgekettet und zeigte Schürfwunden an den Beinen. Der Elefant weinte. Tränen strömten aus seinen Augen. Für mich war dieser Anblick fürchterlich, ein schreckliches Erlebnis. Als die Vorstellung begann, saßen wir auf unseren Plätzen, aber von dem ganzen Zirkusprogramm ist mir nicht viel mehr in Erinnerung geblieben als Lärm und ein befremdendes Gefühl. Der Trapezakt ödete mich an, die Clowns waren gar nicht komisch und die Tiere litten schwer. Vage erinnere ich mich noch an einen Motorradfahrer, der in einem großen Käfig im Kreis herumfuhr. Und natürlich wurden teure Souvenirs angeboten. Als mir der Satz »Lauf fort mit dem Zirkus!« zu Ohren kam, dachte ich nur, etwas Schlimmeres könnte es nicht geben. Schon als kleines Kind war ich mathematisch begabt, hyperaktiv und galt als ›kreativ‹. Ich glaube, das bedeutete, dass die Erwachsenen nicht recht wussten, was sie mit mir anfangen sollten. Die Lehrer steckten mich oft mit einigen Büchern in die Leseecke, um mich zu beschäftigen, wo ich dann aus dem Fenster starrte und vor mich hinträumte. Mich langweilte die Schule maßlos. Ich wurde immer wieder irgendwelchen Tests unterzogen und aufgefordert zu Sportübungen, zu visuellen Assoziationsreihen oder mathematischen und logischen Problemlösungen. Ich erinnere mich, dass mir eine Reihe von illustrierten Karten vorgelegt wurde, die Alltagsszenen zeigten. Ein Vater mähte den Rasen, in der Nähe saß ein Junge auf einem Stuhl. Oder ein Cowboy jagte auf seinem Ross einen Indianer mit Federkopfschmuck, der seinen Tomahawk schwang. Ich wurde gefragt: »Wenn du dich in diesem Bild erkennen müsstest, wer wärst du?« Natürlich zeigte ich auf den Indianer und den Rasenmäher. Danach wurden mir viele Fragen gestellt. Nach solchen Verhören versicherte man meiner Mutter, ich sei nicht normal, egal mit welcher Leichtigkeit es mir
Die fundamentale Frage
gelang, alle mathematischen Aufgaben zu lösen, mit denen sie mich herausforderten. Damals war ich fünf Jahre alt. Die Erwachsenen wunderten sich. Ich konnte ihnen z.B. mit einem Blick ziemlich genau sagen, wie viele Gummibärchen sich in einem Glas befanden. Ich konnte in einen Raum sehen und spontan seine Maße angeben. Ich war in der Lage, allein durch Hochheben das Gewicht eines Sandsacks zu bestimmen. Gewiss war hier keine Magie im Spiel, es war einfach alles offensichtlich. Ich konnte auch dreistellige Zahlen multiplizieren und alle möglichen manuellen Geschicklichkeitsspiele meistern, die sie mir vorsetzten. Es war die reinste Gaudi. Ich liebte Herausforderungen und interessierte mich dafür, wie die Dinge zusammenpassten. Besonders gefiel mir, Dinge bewusst ›falsch‹ zusammenzufügen; das war mein Lieblingsspiel. Meiner Mutter gaben sie zu verstehen, ich sei möglicherweise Autist. Ich höre noch meine Mutter, wie sie ihnen sagte: »Der Junge ist völlig normal.« Sie erklärte mein Verhalten mit Langeweile und Unterforderung. In einem Punkt hatte sie recht: Ich war gelangweilt und deshalb leicht abzulenken. Irgendwie brillierte ich dann doch in der Schule und im Sport. Ich besuchte als Erster aus meiner Familie eine Universität. Ich war entschlossen, ein großer Wissenschaftler zu werden, ein Dichtergenie, ein Starphilosoph, ein Aktivist und ein Olympiasieger. Ich war ein Streber und ›Übererfüller‹ voll von leidenschaftlicher Zerstreutheit und Widersprüchlichkeit. So entwickelte ich mich zum Sportmaskottchen meiner Universität, zum Dichter, Grafikdesigner und zu einem Forscher, der sich mit Schlafstörungen befasste. Als Sportmaskottchen war es meine Aufgabe, die Menge im Stadion zu provozieren und zu motivieren, Spannung aufzubauen und zu halten sowie zu meinem Team auf dem Feld zu stehen. Als Dichter lernte ich, innere (An-)Wandlungen und äußere Erfahrungen mit Worten zu fassen und einer wirr erscheinenden Welt Sinn abzugewinnen. Als Grafikdesigner lernte ich, die Essenz komplexer Ideen in simple Kompositionen zu gießen und Geschichten nur in Kontrasten und Linien, in Hell und Dunkel zu erzählen. Als Schlafforscher lernte ich bei der Untersuchung der neurologischen und chemischen Dimensionen des Schlafes buchstäblich in verschiedene Bewusstseinszustände zu blicken. In diesen Lebensjahren entdeckte ich noch eine ganz andere Seite von mir, nachdem ich erfuhr, dass die Urgroßmutter meiner Mutter eine Sioux aus dem Stamm der Blackfoot Lakota gewesen war. Zwar wusste ich schon immer, dass sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter
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besondere ›übernatürliche‹, bio-energetische Fähigkeiten besaßen, aber erst jetzt begriff ich meine eigene Natur. Der Urgrund des Instinkts und des Impulses, etwas auszuleben, mich aufzulehnen, dagegen anzugehen, herauszufordern, zu widersprechen und zu verwirren, zu spielen und zu provozieren… All das mir als Kind Vermittelte, die Reden von Gleichgewicht, das Fasziniertsein vom Absurden und Widersprüchlichen, und zu Hause, die Art und Weise, Krisen mit Humor und Übertreibung zu bewältigen… Schrecken und Zauber, die Blitz und Donner auf mich ausübten oder mein Verlangen, dem Regen zuzuhören… die wiederkehrenden Träume, in denen ich über unbekannte Landschaften hinwegflog: Jetzt erfasste ich die treibende Kraft im Ruf des Raben. Mein ganzes Leben lang war ich der Klassenclown gewesen, das hyperaktiv-kreative Kind, der intuitive Problemlöser, der Widerspruchsgeist, der Provokateur, und endlich wurde ich mir bewusst: Der Geist des Heyoka lebte in mir fort – der Geist des Querdenkers und des Narren bei den Lakota.
II. W er bin ich ? Alle diese Erfahrungen führten dazu, dass mich Bewusstseinszustände, das Wirken der Vorstellungskraft sowie das messbare, materielle Reale, noch stärker zu interessieren begannen. Diese metaphysische Querstraße führte mich schließlich zu der fundamentalen Frage: Wer bin ich? So verließ ich das molekularpharmakologische Labor und begann in Vollzeit am Theater zu arbeiten. Hier fand ich ein Laboratorium zur Erforschung des Lebens. Das Theater schien alle Fächer in einem zu bündeln. Schon früh entdeckte ich das absurde Theater, Werke von Beckett, Genet und Ionesco, drei Autoren, die mich stark inspirierten. 1990 inszenierte ich im Rahmen des Alternative Theater Festival in Philadelphia Becketts Akt ohne Worte und legte damit das Fundament für meine heutige Arbeit. Damals wurde mir klar: Clowns können viel mehr sein als unliebsame, lärmende und randalierende Gaukler, wie sie mir in meiner Kindheit begegnet waren. Vielmehr verdichten Clowns metaphysische Fragen, verkörpern Geheimnisse und bieten die Möglichkeit für Erfahrungen, Entdeckungen und Erkenntnisse. Fünfzehn Jahre später traf ich Slava Polunin in New York und begann, in Slava’s Snowshow mitzuarbeiten. Diese Form einer metaphysischen ›Clown-Pantomime‹ war mir neu. Meine Rolle als gelber Clown,
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unsere Zusammenarbeit auf der Bühne und seine Anleitungen erweiterten nicht nur meine Vorstellungen, was ein Clown sei, sie öffnete mir auch die Augen für einen möglichen philosophischen Zugang zur Spielweise des Clowns. Fünf Jahre lang wirkte ich in Slavas Truppe mit, dann folgte ich Jango Edwards nach Barcelona, um am Nouveau Clown Institute zu unterrichten. Mit Jango als Mentor vertiefte sich mein Verständnis der Fools-Bewegung und der Entwicklung des Nouveau Clown. Slava und Jango inspirierten mich zum Unterrichten, Performen, Spielen und Teilen, aber auch dazu, meine persönliche Vision des Clowns in die Welt zu bringen. Und so befinde ich mich nun mit meinem innigen Interesse am Potenzial des Clowns und an einer Reihe von Disziplinen, die in einer gemeinsamen Empfindsamkeit wurzeln, in einem weltweiten Diskussionsfeld. Ich leite praxisnahe Forschungsprojekte, gebe Workshops und halte Vorträge zum Clown, zu Performancekunst und kreativem Bewusstsein. Es beglückt mich, zu sehen, wie in unserer Arbeit so Viele innerlich wachsen, ihre eigenen Wahrnehmungen vertiefen und neue Technologien sowie zeitgenössische Plattformen benutzen, um ihre eigenen Interpretationen zu prüfen und zu realisieren. Der Dialog verbreitet sich und das ist spannend. Ich selbst verstehe den Clown nun als Lebensweg, als Ausdruck der Freiheit einer größeren Gemeinschaft. Ein Clown ist viel mehr als eine egozentrische Etüdenform für komische Nummern, um den Erwartungen eines Publikums zu entsprechen. Stattdessen bietet der Clown Möglichkeiten, tiefere Schichten des Bewusstseins zu erschließen und universelle Verknüpfungen herzustellen, weitgehend unabhängig vom sozialen Potlatsch, vom bedeutungslosen Austausch sozialer Höflichkeitsgesten oder von unbedarfter Unterhaltung. In meinen Auftritten liebe ich es, einfach zu spielen. Mich fasziniert die Möglichkeit des Clowns, sein Ich in Echtzeit vor einem Publikum zu leben. Die Realzeit bestimmt meine Stücke, in denen sich alles entwickelt, während es passiert. Mit Licht, Ton, Video-Projektionen oder anderen technischen Elementen improvisiere ich während des Bühnengeschehens. Die Aktion entfaltet sich, indem sie stattfindet. Jedes meiner Stücke umkreist spezielle philosophische Fragen. Jede Aufführung ist ein Unikat und unterscheidet sich von jeder anderen. Wie beim Rugby – die Spielregeln ändern sich nicht, aber kein Spiel ist gleich.
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Allein mit einem Blatt in der Hand kann ich den Clown erleben. Aus mir tritt der Clown heraus. Er ist kein Nebenprodukt kluger Reflexion oder das Exerzieren pedantisch eingeübter Mechanismen vor einem Publikum. Mein Clown entspringt einer Sphäre zwischen Phantasie und materieller Realität, die wir Alltag nennen. Er wohnt in jedem von uns und demzufolge schwingt er bei jedem von uns mit. Wer ist dieser Clown? Das ist die ewige Frage. Vielleicht ist er wie ein Kōan im Zen: eine Geschichte, eine Frage, eine Behauptung, um den »Großen Zweifel« auszulösen. Clown ist zunächst ein Wort. Wörter sind Symbole. Wenn wir sie mit einer konkreten Bedeutung füllen, werden sie Talismane. Wenn jemand sich der Codierung des Symbols anvertraut, kann der Talisman tiefe emotionale und spirituelle Reaktionen auslösen, wird das jeweilige Wort ausgesprochen oder erblickt. ›Clown‹ ist eines der Wörter, die besondere Kräfte besitzen. Leute neigen dazu, es immer wieder mit großer Bedeutsamkeit aufzuladen und die jeweilige Bedeutung, die das Wort für sie hat, zu verteidigen und dafür zu streiten. ›Clown‹ ist für mich ein Wort, das sowohl ein Wesen als auch einen Daseinszustand bezeichnet. Es ist üblich, mit ›Clown‹ eine spezifische Figur in öffentlichen Aufführungen zu verbinden, die sich auf eine charakteristische Weise an das Publikum richtet. Wir stellen uns den Clown im Allgemeinen als heroische Gestalt vor, die uns die Sinnlosigkeit unserer allgemeinen Obsession vorführt, auf alles eine Antwort haben zu wollen. Der Clown verdeutlicht, dass wir uns alle zu ernst nehmen, dass der Anspruch des Geistes, alles beherrschen zu wollen, zwecklos ist. Er offenbart uns die Macht der Haltung, unbeantwortet und uneingeschränkt zu leben, für Erfahrungen offen zu sein, ohne Zuschreibungen, Schuldzuweisungen oder Vorurteile. Der Clown erinnert uns an die Kraft der Schöpfung und an das »Große Mysterium«. Auf der Schwelle zwischen Traum und Alltäglichkeit ist er unser Wegweiser in beide Welten. Der Clown ist die Menschlichkeit schlechthin: Ihr Elixier ist der Mut des Narren, der gesellschaftlicher Angst und Stereotypen trotz. Der Clown wird vielfach in Bezug auf sein Verhältnis zum Ich und zum Publikum diskutiert. Meiner Meinung nach braucht der Clown kein Publikum, um zu existieren. So sehe ich Clowns im Alltag überall: im Fernsehen, im Einkaufszentrum, in jedem Park, im Krankenhaus, im Kreisverwaltungsreferat und – im Spiegel!
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Abb.: Jef Johnson
Foto: Oleg Lugovskoy Jr.
III. D er ›C lownzustand ‹ Natürlich kann man sich auf die Betrachtung des Clowns im Sinne seiner Spielpraxis beschränken. Mich interessiert dabei besonders die Frage nach dem eigentlichen Erlebnis beim Spielen. Inwiefern ist ›Clown‹ nur das Ausagieren einer Rolle? Ginge es nur darum, sich die Kunstfertigkeiten eines Clowns anzueignen und diese auf das Rollenspiel zu übertragen, dann könnte wohl jeder Schauspieler mit etwas Talent und Geschicklichkeit ein Clown sein. Nach dem Prinzip: Lerne die Regeln und die Tricks, verinnerliche das Stereotyp gemäß eines kodierten Vokabulars, zieh ein Kostüm an, mach deine Nummer – et voilà, da steht der Fertigclown. Auf diese Weise kann ich auch einen König oder einen Drachentöter fabrizieren. Ich war seit jeher fasziniert von der Frage nach dem Rollenspiel, nicht nur auf das Theater bezogen. Es ist ein Konzept. Wir spielen im täglichen Leben, wir nehmen an Wettbewerben teil wie im Sport. In unserer westlichen Welt sind wir darauf konditioniert, solche Auftritte mit Leistung und Erfolg zu verbinden. Ob ein Performer seinem Publikum eine Re-
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aktion in Form unüberhörbaren ›Lachens‹ entlocken kann, ist allerdings kein Maßstab für seinen Erfolg als Clown. Lachsalven kann man auch mit der Vorführung von drolligen Katzenvideos auf einer Großleinwand entfachen. Deshalb ist für viele von uns Clowns die Konfrontation eines Menschen mit den absurden Scharmützeln zwischen dem Materiellen und dem Fantastischen von wesentlich größerem Interesse. In solchen Momenten sind die Betroffenen schutzlos und erfahren eine Durchsichtigkeit, die auf uns, ihren Zeugen, einen immensen Reiz ausübt. Gewiss bietet sich das Wort ›Clown‹ an, einige Spielformen zu charakterisieren, aber der Begriff dient auch der Bezeichnung von Qualitäten, die weit darüber hinausgehen. Er betrifft ein ›Befinden‹, das inzwischen von vielen als der »Clownzustand« bezeichnet wird – eine universelle Dimension, zu der wir als Menschen alle einen Bezug haben, die den Kern unseres Humors freilegt, als Individuen, als Gemeinschaften, als Gesellschaft. Jeder von uns nimmt verschiedene Bewusstseinsfelder und -schichten wahr. Wir träumen beim Schlafen und im Wachsein. Im Schlaf sind wir ebenso wach wie bei körperlicher Aktivität. Unser Leben spielt sich in den Räumen zwischen Aktivitäten und persönlichen Erfahrungen ab – emotionale Erlebnisse, Sinneseindrücke, Wahrnehmungen der körperlichen Befindlichkeit. Wir sind viszerale, elektromagnetische, elektrische, organische Wesen. Jeder klägliche Versuch, die materielle Welt, die wir bewohnen, zu verstehen oder gar zu beherrschen, mündet in einer stupiden Wiederholungsschleife, wir gelangen wieder an den Nullpunkt, wo wir das Leben begonnen haben. Der Dumme, der sich an nichts festklammert, bleibt immer gescheit, weil er sich nicht auf eine einzige Verhaltens- oder Wahrnehmungsweise festlegt. Der Schlaue hingegen bleibt immer töricht, weil er sich aus Bedürftigkeit festklammert, ohne auf Ressourcen und Unterstützung zuzugreifen, und stürzt schließlich ab. Ich kann mich selbst nicht sehen, mir begegnen oder mit mir einen Kaffee trinken gehen, um mich mit dem sozialen Wesen zu unterhalten, das meine Freunde bei meinem Namen rufen: das ist eine der größten Misslichkeiten des Lebens. Immerhin kann ich mit einer anderen Person zusammensitzen. Ich kann Zeuge sein, wie sich diese Person den mir vertrauten oder auch unbekannten Herausforderungen stellt. Und in dieser Begegnung kann ich mich auch selbst erkennen und erfahren, stehe ich in einer Beziehung zu meinem Innersten. Bei einer so tiefgreifenden
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wie einfältigen Erfahrung, dem Beobachten eines anderen Individuums, vergewissere ich mich, dass ich in irgendeiner Weise mit ihm verwandt bin – dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind. Und so erweckt dieses Erlebnis mein Gefühl des Einsseins mit der Menschheit, ungeachtet der Herkunft, des Geschlechts, des Alters und der Kultur. Eine große Überraschung, eine Enthüllung oder starke Empathie, rufen in allen Menschen Lachen hervor. Dieses Lachen ist ein beruhigender Reflex, ein Jubel, das Auf blitzen einer Ganzheit, der pulsierende Kitzel des Lebens. Der Clown besitzt die Fähigkeit, diesen Raum in jedem von uns zu berühren. Ich denke, ein Clown sollte seine Arbeit nicht mit dem künstlichen Ehrgeiz beginnen, das Publikum zum Lachen zu bringen, er sollte vielmehr – und hierin sehe ich die Herausforderung in diesem Beruf – in das kollektive Bewusstsein eindringen und jene tiefere Schicht erreichen, in der sich die Grenze zwischen verschiedenen ›Wirklichkeiten‹ verliert. Hier gibt uns das Universum Antworten, füllt sich mit Leben… hier sind unsere Schwächen durchsichtig, wir erkennen sie klar und dennoch regen sie uns an. In diesem Raum sind Herz, Verstand und Geist im Einklang. Jegliche Anstrengung fehlt. Es ist alles Traum, absurd und logisch zugleich. Hier wirkt eine tiefgründige, unbeschreibbare Kraft, die alles überirdisch, kosmisch, heiter stimmt. Hier werden wir in Liebe und Harmonie vereint, Konflikte erscheinen nichtig. Es fehlen die Wörter, um das zu beschreiben – und eben deshalb versuchen wir es beharrlich. Vor diesem Raum steht das Ego wie ein Wächter. Aber das Spiel in bestimmten Stilen oder Kontexten unterstützt uns, in den Raum zu gelangen: den Raum zwischen den Regeln der Gesellschaft und der Geschichte des Lebens selbst. Auch mancher Witz kann uns hinüberlotsen. Ausdrucksformen, die zwischen mir und den anderen zirkulieren, deuten an, dass es keine Distanz gibt, dass wir alle auf gewisse Weise in der Tiefe verbunden sind. Folglich fühlen wir uns isoliert, gleichsam abgeklemmt, wenn die Dinge nicht räsonieren, wenn das zwischenmenschliche Theremin schweigt. In diesem Zustand können wir mit dem Publikum oder mit den Kritikern verwechselt werden. Neben der Bild- und Ton-, der Zeichen- und Gedankenebene kommunizieren wir generell – hierin bin ich mir sicher – auch noch über andere Kanäle. Diese persönlichen und zwischenmenschlichen Dimensionen zu ignorieren, ist nicht produktiv, ebenso wenig wie meine Bemühungen, Menschen davon zu überzeugen, dass ›wahre Clownerie‹ einen spezifischen Zugang erfordert, um ›tradi-
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tionelle‹ Fähigkeiten oder Gesinnungen darzustellen. Das Wirken des Clowns gründet im Menschen selbst. Wir leben in einer Epoche des Genies. Die Ausdrucksformen kreativen Bewusstseins steigen in der ganzen Welt exponentiell an. Ich meinerseits halte es für wichtig, zu beobachten, wie Menschen denken und Erfahrungen sammeln, wie sich Impulse und Reflexe zeigen und blockieren. Mir scheint, dass die Menschen heute in einem Zwischenraum leben, verkeilt zwischen der unversöhnlichen Alltagsrealität und persönlicher, unmittelbarer Erkenntnis. Genau in diesem Zwischenraum lebt und atmet der Clown. Zu ihm zu gelangen und zu lernen, wie man zurückkehren kann, wie man ohne Angst aus diesem Raum heraus ins Spiel kommt, Ausdrucksformen findet, um ein transluzentes Wesen zu sein – darum dreht sich letztendlich alles. »Dong! Dong! Bing! Bing! Bing!« Ich spüre ein feines Kitzeln an den Fußsohlen. Ich kichere. So weckt mich mein Vater, wenn wir zur Schule müssen. Ich will nur pinkeln. Seine Baritonstimme ist ruhig und streng. »Aufstehen, Junge, deine Mama hat Kekse gebacken.« Meine Nase fängt den Duft auf. Er ist beruhigend. Ich nehme den Geruch des Oktobers wahr. Die Tür steht offen. Ich stolpere durch den Korridor und sehe, dass die Bäume feucht sind. Es hat in der Nacht geregnet. Ich wasche mir die Hände. »Komm und hol es dir! Rührorangen mit Keksen und Schokoladenspeck!« Plötzlich werde ich mir meines Spiegelbilds bewusst… im iPad, jetzt vierzig Jahre später, in Portugal, beim Schreiben dieser Sätze. Der Geruch frisch gebackener Kekse in der Luft… Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anna-Sophie Jürgens
Zweiter Teil: Theoretische Perspektiven
Der Clown als konstruktiver Anarch Reflexionen über die Dialektik des Clowns Constantin von Barloewen im Gespräch mit Rafiu Raji und Richard Weihe Richard Weihe 1981 erschien Ihr Buch Clowns: Zur Phänomenologie des Stolperns.1 Damit lösten Sie den Clown aus dem engen Zirkuskontext und widmeten ihm eine kulturwissenschaftliche Studie. Wie kamen Sie als Anthropologe damals zu diesem Thema, dem Clown? Constantin von Barloewen Die Figur des Clowns stand mir schon immer sehr nahe. Ich bin in Buenos Aires geboren und als ich Kind war, in den 50er Jahren, machte der Circus Sarrasani Tourneen durch Lateinamerika; seine Vorstellungen habe ich des Öfteren besucht. Auch in den Vororten gastierten gelegentlich kleinere Zirkusse… Ich sehe den Clown als philosophische Figur, als Ausdruck einer existenziellen Metapher. Offensichtlich habe ich das bereits als Kind gespürt. Seitdem hat mich der Clown im Leben ständig begleitet, beim geistigen Erwachsenwerden, im Studium. Er war für mich der Repräsentant einer anderen Welt, und zwar einer menschlicheren Welt. Die instrumentelle Vernunft, die die westlichen Industriestaaten – sowie immer stärker China und andere Staaten – seit der Aufklärung erfasst, empfand ich bereits als Student als bedrohlich. Was Claude Lévi-Strauss gesagt hat, nämlich dass sich die Wissenschaft zunehmend von der Kunst abtrennt, halte ich für ein großes Manko. Daher war es meine Absicht, das Buch zwischen Fachliteratur und einer eher literarischen Form anzusiedeln, dem Essay. Diesen Versuch konnte ich
1 | Barloewen, Constantin von: Clowns. Zur Phänomenologie des Stolperns, Königstein/Ts.: Athenäum 1981. Neuausgabe: Clowns. Versuch über das Stolpern, München: Diederichs 2010.
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damals als junger Mensch nach einem Studium der Anthropologie und Kulturwissenschaft noch wagen. Rafiu Raji Ihr Buch enthält zahlreiche Verweise auf Literatur, Philosophie, Film und Theater. Würden Sie es trotzdem als eine anthropologische Schrift verstehen, obwohl Sie sich auf so unterschiedliche Wissensbereiche und Methoden beziehen? Von Barloewen Es gibt ja auch so etwas wie poetische Anthropologie. Ich war über viele Jahre mit Michel Leiris befreundet. Er war zusammen mit Georges Bataille Gründungsmitglied des Collège de Sociologie und oszillierte in seinem Lebenswerk zwischen Ethnologie und Dichtung. Seine Stilform als Wechselwirkung zwischen Literatur, Anthropologie, Kulturphilosophie hat mich immer beeindruckt. In Frankreich gibt es seit Montaigne die große Tradition des Essays, bis heute ist er in Frankreich viel präsenter als in Deutschland. Vor dem Hintergrund dieser frühen Erfahrungen in Frankreich und meiner Faszination für die Figur des Clowns entstand der Wunsch, die Manege poetischer Anthropologie abzuschreiten.
Weihe In diesem Sinne ist Ihr Essay über den Clown zugleich ein methodischer Versuch, wissenschaftliche Zugänge zum Clown zu finden. Damals war der Clown noch kein Thema wissenschaftlicher Untersuchungen. Von Barloewen Nein, ich glaube nicht, dass man den Clown wissenschaftlich einfangen kann. Man muss ihn von verschiedenen Perspektiven her einkreisen, um alle seine Facetten zu sehen. Man wird der Figur des Clowns nur durch eine essayistische Form der Annäherung gerecht. Weihe Eines der Kapitel in Ihrem Buch heißt »Die entgrenzte Figur«. Wesentlich war demnach die Entscheidung, den Begriff des Clowns zu erweitern und ihn auch außerhalb seines traditionellen Milieus, des Zirkus, zu verorten. Wo haben Sie angesetzt? Von Barloewen Ich bin kein Kunst- oder Zirkushistoriker. Ich bin Kulturwissenschaftler und vergleichender Anthropologe; mir ging es darum, das Charakteristische des Denkens und Handelns dieser kulturellen Fi-
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gur zu erfassen. Es ging mir auch darum, festzustellen, dass es sich bei seiner typischen Verhaltensweise um eine anthropologische Konstante handelt, die in fast allen Kultur- und Zivilisationsstufen auftaucht und die im Clown auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. Dabei wollte ich anhand möglichst vieler Beispiele aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen die spezifische Dialektik des Clowns zeigen. Er ist ein heiliger Rebell mit Bezug zur Transzendenz und ein ›konstruktiver Anarch‹ – der durchaus auch heroische Züge vorweisen kann – als Prinzip der Auflehnung gegen die hierarchische Ordnung, als Ausdruck des Aufbegehrens einer Gegenwelt. Der Clown vereinigt in sich diese Dialektik über die verschiedensten Epochen und Kulturstufen hinweg. Raji Wie wird diese Dialektik des Clowns im Zirkus sichtbar? Von Barloewen Im klassischen Zirkus gibt es die Dialektik zwischen dem Weißclown und dem August. Der Weißclown verkörpert die Gesellschaft, die Norm, die Form, die Autorität. Der August lehnt sich dagegen auf: Er ist der konstruktive Anarch. Raji Beide Seiten, sowohl die gesellschaftliche Norm als auch die ›konstruktive Anarchie‹ werden somit von Clownfiguren repräsentiert. Von Barloewen Ja, das ist eine Konstellation, die immer wieder auftaucht, diese besondere Dialektik zwischen Einhaltung und Auflösung der Norm. Das zieht sich durch. Mir kam es darauf an, den Clown geistesgeschichtlich, philosophisch einzubetten, als Gegenentwurf zur metaphysischen Verwaisung, zur zunehmend technisierten Welt. Deswegen verweise ich im Einführungskapitel auf die Bücher Die einsame Masse von David Riesman und Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse. Das sind Beispiele, mit denen ich den Clown als Alternative zu einer zunehmend unpoetischen Existenz sehe. Der Clown ist Ausdruck eines poetischen Lebensentwurfs im Gegensatz zu einem rein profanen. Er ist der letzte Humanist und durch die Kalkulierbarkeit der Alltagskultur brauchen wir Figuren, die uns leiten und uns erinnern, dass ein poetischer Lebensentwurf letztlich der einzig sinnvolle ist und dass eine völlig profanierte Welt zu einer Verhärtung und Sinnentleerung führt – durch die Ausbreitung der sogenannten ›instrumentellen Rationalität‹. Der Clown gewinnt an politischer Brisanz als poetisches Gegenmodell
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einer menschlichen Existenz: Er stolpert, er fällt und in dem Maß, in dem er fällt, steht er wieder auf und zeigt damit menschliche Größe. Velázquez sagt an einer Stelle sinngemäß, ›ein großer Mensch ist auch im Staub groß‹. Die Größe des Clowns besteht darin, gerade im Moment des Scheiterns Glorie zu zeigen und über sich selbst hinauszuwachsen. Weihe Die neue Ausgabe Ihres Clownbuchs trägt den Untertitel »Versuch über das Stolpern«. Im ersten Kapitel schreiben Sie zu den Begriffen des Stockens und Stolperns: »Den Zug begleitete ein Mann, der durch eine grelle rotweiße Bemalung gekennzeichnet war. Anstelle der üblichen Federn türmten sich auf seinem Kopf getrocknete Kornblätter. Er zog voran an der Spitze des Zuges, der sich schwerfällig durch dorniges Gelände wand. Geriet der Marsch ins Stocken, sprang dieser Mann urplötzlich auf, und tanzte, sang und stolperte, machte Späße, ließ dorrende Früchte reifen, bis der Stamm in schallendem Gelächter neuen Mut schöpfte und ihm folgte zu dem Ort, an dem er sich niederließ und ruhte.«2 Stocken und Stolpern haben einen klaren Körperausdruck. Was zeigt uns der Clown, wenn er stolpert? Ist sein Körperspiel ›poetisch‹? Von Barloewen Das Stolpern zeigt die Hinfälligkeit einer normalen bürgerlichen Existenz. Der Narr stolpert und der gesellschaftlich Arrivierte steht aufrecht. Die Besonderheit des Clowns ist, dass er gerade in diesem Stolpern, in diesem vermeintlichen Scheitern, an Größe gewinnt. Diese vermeintliche Hinfälligkeit, ausgedrückt im gespielten Stolpern, in der gespielten Unbeholfenheit, ist eigentlich Ausdruck letzter Weisheit und einer großen geistigen oder sogar zivilisatorischen Überlegenheit. Raji Aber wie bringt das Stolpern der clownhaften Figur den Menschenzug wieder zum Laufen? Inwieweit inspiriert oder motiviert das Scheitern und Wiederaufstehen des Clowns andere Menschen? Von Barloewen Der Clown weist uns auf die Abgründe menschlicher Existenz hin, aber er zeigt auch, dass nach dem Sturz eine andere Variante des Aufstiegs möglich ist – und dafür sind wir ihm dankbar. Wir leben heute in einer Welt des materiellen Gewinns und des Profitstrebens. Die ganze Welt wird immer stärker ökonomisiert – alles, sogar 2 | C. von Barloewen: Clowns. Versuch über das Stolpern, S. 15.
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der Alltag, die Familie, die Liebe, alles wird unter einer Käseglocke der Rationalität gesehen, ein Streben nach Gewinn und Konformität. Der Clown ist eine Figur, die dazu steht, nicht konform zu sein, doch in seinem Außenseitertum – was ich als seine poetische Existenz verstehe – letztlich zivilisatorische Größe zeigt. Raji Einerseits ist der Clown Außenseiter und damit eine einsame Figur. Gleichzeitig findet man ihn in gewissen Situationen an der Spitze einer Gruppe. Inwieweit gehört die Gruppe zu dieser Dialektik des Clowns? Wie kann der Clown andere Menschen in seine Gegenwelt hineinziehen? Von Barloewen Weil eigentlich alle Menschen so empfinden: Sie wollen Schwäche zeigen, wollen Niederlagen eingestehen, wollen zugeben, dass sie in den Staub gefallen sind, nur fürchten sie sich davor. Sie richten sich nach der Gruppennorm des Gewinnstrebens, des Siegenmüssens. Der Clown gibt seine Niederlagen zu, er lebt sie, und zeigt gerade durch die – vermeintliche – Niederlage Selbstvertrauen und Größe. Dadurch hilft er Menschen, eine neue Basis und Berechtigung für ihre eigene Existenz zu finden. Weihe Nun wirkt das Stolpern auch komisch, es reizt uns zum Lachen. Gibt uns der Clown durch sein Stolpern die Möglichkeit zu lachen, als Befreiung aus dem perfekten Funktionieren? Und dadurch die Möglichkeit, eine beruhigende Distanz zu uns selbst zu gewinnen? Von Barloewen Indem er stolpert, tritt der Clown aus sich heraus und blickt gleichsam aus der Vogelperspektive auf sich selbst. Indem er auf komische Distanz zu sich selbst geht, gewinnt er an Größe. Er ist das Eingeständnis, dass es eine Welt jenseits der Norm geben kann. Weihe Wie entsteht die komische Wirkung? Bergson meint, wir lachen, wenn unsere Bewegungsabläufe maschinell wirken, also nicht menschlich, aufgrund eines Verfremdungseffekts. Wie passt dazu der Clown als ›letzter Humanist‹? Von Barloewen Bergson ist wichtig, weil er das Verhältnis von Kunst und Leben beleuchtet. Er verleiht dem Clown Lebensberechtigung – gerade wegen dieses Wechselspiels zwischen Kunst und Leben. Der Clown
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vermag eine künstlerische Existenz zu führen, ohne sich selbst formal als Künstler definieren zu müssen. Sein Leben als solches ist bereits Ausdruck von poetischer Kraft. Weihe Wir sprechen wiederholt von Gegensätzen. Besteht die poetische Kraft des Clowns darin, dass er diese Gegensätze gegeneinander ausspielen kann und dabei die Gegensätze im Spiel sichtbar macht? Heißt das ›poetische Existenz‹: Gegensätze aushalten und in diesem Spannungsgefüge Lebensfähigkeit, um nicht zu sagen Lockerheit und Humor zu bewahren? Von Barloewen Ja. Die menschliche Hybris in sich zu bändigen, dieses Kunststück schafft der normale Mensch nicht mehr, zumal in der technisierten Welt. Dem Clown gelingt es und er verkörpert diese besondere existenzielle Potenz. Weihe Wenn wir dafür den Begriff des Clownesken verwenden. Was wäre die Quintessenz des Clownesken? Die Vereinigung der Gegensätze? Von Barloewen Exakt. Raji Sie haben eben von Hybris gesprochen. Gibt es ›hybristische‹, also hochmütig-anmaßende Figuren, die Widersprüche schaffen, welche eine clowneseke Form der Vereinigung überspannen? Eine Figur wie Ikarus strebt in die Höhe und stürzt ab. Wie verhält sich der Clown dazu? Würde er so weit gehen? Von Barloewen Der Clown entlässt uns nicht hilflos nach dem Sturz in den Abgrund, den existenziellen Abgrund, den jeder Mensch spürt, wir alle, in jeder Minute des Lebens. Der Clown verkörpert die Hoffnung, dass nach dem Absturz wieder ein Aufstieg folgt – auch wenn es ein anderer Aufstieg ist, an den wir zunächst nicht geglaubt haben. Er zeigt uns Möglichkeiten, den Abgrund zu überbrücken und so gesehen ist er letztlich eine positive Figur. Weihe Die Figur hat allerdings eine negative Seite. Sie sprechen in Ihrem Buch von etwas Diabolischem, das dem Clown anhaftet. Diese Seite kommt in der populären Kultur immer mehr zum Vorschein. Während in den 1970er Jahren Fellinis Clownfiguren prägend waren, sind es heute
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der böse Joker oder andere evil clowns. Wie beurteilen Sie diesen Wandel in der populären Wahrnehmung des Clowns? Von Barloewen Bedenken Sie ein aktuelles Phänomen: Vor wenigen Wochen fanden in Frankfurt vor dem Sitz der Europäischen Zentralbank Demonstrationen statt (Abb. 1). Mitglieder des Blockupy-Netzwerks3 – sie waren in der Zeitung zu sehen – traten in Clownkostümen auf. Demonstranten, die Fackeln geworfen haben, gegen die die Polizei vorging, waren als Clowns verkleidet, mit Schminkmasken, roten Nasen, bunten Kleidern. Das ist er: der konstruktive Anarch! Der gegen die Norm aufbegehrt, gegen die Polizei, gegen die Staatsgewalt, gegen die großen Banken – gegen unsere sogenannte moderne Welt mit all ihren Machtinstanzen. Abb. 1: Protest gegen die Eröffnung eines neuen Bürogebäudes der Europäischen Zentralbank in Frankfurt (18.03.2015)
Foto: Sascha Rheker/RIA Novosti/picture alliance/dpa
3 | Blockupy ist ein linkspolitisches Netzwerk von Kapitalismusgegnern und Globalisierungskritikern mit Schwerpunkt in Frankfurt a.M. Der Name, abgeleitet von der Occupy-Bewegung, die 2011 an der Wall Street entsprang, verbunden mit dem Wort blockage, ist programmatisch: Neben gewaltlosen Demonstrationen sind Besetzen und Blockieren bevorzugte Protestformen von Blockupy.
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Weihe Der dumme August aus dem Zirkus tritt hier als politischer Clown in der öffentlichen Arena auf – als ›Anarch‹, und zwar, wie Sie sagen: »konstruktiv«, d.h. als positiv verstandener Anarchist. Und wie würden Sie die Clowns deuten, die im Sommer die Gegend um Marseilles unsicher machten? Da zogen junge Männer, als Clowns mit roten Nasen verkleidet, mit Brechstangen durch die Straßen und zertrümmerten die Windschutzscheiben geparkter Autos, also reiner Vandalismus, kein Spiel mehr, sondern nackte Gewalt.
Von Barloewen Die Figur des Zerstörers hat Tradition in der Dialektik des Clowns. Sie taucht in verschiedenen Epochen immer wieder auf. Weihe Der Übergang vom ›Störer‹ zum ›Zer-Störer‹ ist demnach fließend? Von Barloewen Ja, richtig. Weihe Ich denke gerade an den Joker in der Comicverfilmung The Dark Knight,4 eine diabolisch verzerrte zeitgenössische Clownfigur. Der Joker nimmt der Mafia das Geld weg, schichtet meterhoch Banknoten auf und verbrennt sie als wäre es ein mittelalterlicher Scheiterhaufen. Das Verbrennen des Geldes ist ambivalent, es entzieht der Mafia den Fetisch. Vielleicht haben die Leute von der Blockupy-Bewegung statt des August mit der roten Nase eher diesen Joker im Sinn? Der Joker holt sich das Weltkapital, um es zu verbrennen. Er macht daraus Spielgeld, aber die quasi dadaistische Aktion hat etwas Teuflisches. Für mich ist das eine neue Clownfigur, die hier erscheint, in der Diabolisierung der Moderne. Von Barloewen Absolut. Weihe Wenn der Clown stolpert, lachen wir ihn aus. Wenn aber der Joker das Weltkapital verbrennt, dann lacht er die Gesellschaft aus. Da ist
4 | The Dark K night (USA/UK 2008, R: Christopher Nolan), mit Christian Bale in der Rolle von Bruce Wayne/Batman und Heath Ledger als Joker, der für seine Rollengestaltung posthum den Oscar in der Kategorie »Bester Nebendarsteller« erhielt (2009).
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wieder diese Dialektik, der Clown, der ausgelacht wird, aber auch als derjenige, der sich das Lachen zurückholt, der zuletzt lacht. Raji Wäre gemäß Ihrer Vorstellung des ›poetischen Clowns‹ eine Poetisierung der Ökonomie möglich? Und wie könnte sie aussehen? Von Barloewen Es wäre wünschenswert, wenn die Starrheit und unsägliche Abstraktion der technischen Welt u.a. in der Politik, immer wieder durchbrochen würde durch intuitive Intelligenz. Es ist ein Trugschluss der soziologischen Forschung, den Menschen als Homo oeconomicus darzustellen. Sie können den Menschen nicht nur quantifizieren, Sie müssen ihn entsprechend der Kultur- und Religionsgeschichte qualifizieren. Die Ökonomisierung unserer Existenz reicht bis in die feinen Verästelungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Und wenn Sie mich fragen: Ja, da kann und sollte die Potenz des Clowns mit seiner intuitiven Intelligenz und poetischen Lebensform immer größere Bedeutung haben. Weihe Wäre der Clown am Ende ein Dichter – ›Lebensdichter‹, wie wenn man vom Lebenskünstler spricht? Von Barloewen Clown und Dichtung haben Gemeinsamkeiten. Beide sind Ausdruck einer nicht quantifizierbaren Perspektive. Gleiches gilt für den menschlichen Gemeinschaftssinn, für Formen der Zärtlichkeit, für das Mitgefühl. Weihe Wie steht es um die Zukunft des Clowns? Von Barloewen Für die Zukunft des Clowns gibt es ein Beispiel aus der Vergangenheit, bei Charlie Chaplin, in seinem Film Limelight, Rampenlicht.5 Hier finden Sie alles vereint, in nur 90 Minuten erhalten Sie alle Metaphern menschlicher Existenz. In diesem Film zeigt sich, dass das Clowneske letztlich immer mit dem Humanen verbunden ist. Sei es 5 | Charlie Chaplin (R): L imelight, USA 1952. Mit Charlie Chaplin als alterndem Clown Calvero und Claire Bloom als Tänzerin Thereza »Terry« Ambrose, die er vor dem Selbstmord rettet. Der Titel verweist auf das in den früheren Londoner Music Halls übliche Rampenlicht.
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in Liebesbeziehungen oder in aller Abgründigkeit, doch immer wieder mit hoffnungsvollem Ausklang.
D er C lown als poe tische E xistenz — B emerkungen zu Thesen von C onstantin von B arloewen Vorbemerkung Aufgrund eines Amerika-Aufenthalts stand uns Constantin von Barloewen für Nachfragen zum Interview nicht mehr zur Verfügung. Beim folgenden Text handelt es sich um Auszüge aus einem Gespräch zwischen Rafiu Raji und Richard Weihe über dieses Interview.
Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch Rafiu Raji Was für ein Zeitgeist herrschte in den 50er Jahren, auf die sich von Barloewens kulturelle Verweise hauptsächlich beziehen? Richard Weihe Was den Clown betrifft, sind wir in einer Zeit, in der mit dem Aufkommen des Fernsehens die Popularität des Zirkus abzuflauen beginnt. Von Barloewen trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Clown als Kunstfigur, als Teil der Kunstgeschichte im weitesten Sinn, zu der z.B. der Zirkusclown zählt, und dem Clown im Rahmen der Soziologie und Anthropologie. Dort erscheint er einerseits als Anarchist oder Rebell, andererseits als Modell eines Humanisten oder anders gesagt, einer poetischen, betont menschlichen Existenzform. Von Barloewen verweist in diesem Zusammenhang auf die soziologischen Studien Die einsame Masse von David Riesman und Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse. Wenn man nach den Gemeinsamkeiten dieser beiden Arbeiten fragt, könnte man sagen, es geht um Fremdsteuerung des Individuums oder mit dem Begriff von Riesman, um ›Außenlenkung‹. Das Verhalten des Einzelnen wird maßgeblich vom Handeln der anderen bestimmt, gelenkt durch Werbung und im Konsumverhalten beobachtet. Das Individuum orientiert sich am ›man‹ – ›das tut man, das tut man nicht‹ – und geht in der Masse unter. Der soziale Druck, wie die anderen einzukaufen, wie die anderen zu leben und zu konsumieren, nimmt in der Zeit nach 1950 zu. Dadurch geht, nun mit dem Argument von Marcuse, die Mehrdimensionalität unseres Lebens verloren: Wir sind
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»eindimensional«, weil wir uns nicht mehr nach dem Leben richten, sondern uns dem Bild des Lebens, das uns die Konsumwerbung vorgibt, anpassen. Das ›Leben‹ selbst wird als eine Art Model verkauft. Aber dieses Model hat Defizite, die Dimension des individuellen Ausdrucks fehlt. Ich glaube, da setzt von Barloewen den Begriff des Poetischen an, der für sein Verständnis des Clowns grundlegend ist. Das Poetische ist keine Sprachform, sondern eine mehrdimensionale Lebensform, die vor allen Dingen individualistisch ist, und die sich – mit dem Begriff von Marcuse ausgedrückt – durch die Negation, durch eine Abwehr des Normierten, ihre Mehrdimensionalität ständig neu erwerben muss. Marcuse nennt es die ›große Verweigerung‹ – und da trifft sich dieses soziale Verhalten mit von Barloewens Interpretation des Clowns als »Anarch«. Der Anarch ist nicht identisch mit dem schlecht beleumdeten Anarchisten; er ist positiv zu sehen: Der Anarch zerstört nicht die Herrschaftsstrukturen, sondern er fordert sie spielerisch heraus. So gesehen, wäre Anarchie die Wurzel der Poesie. Raji Es leuchtet mir ein, die Mehrdimensionalität mit dem Poetischen zu verbinden. Es gibt eine alltägliche Tendenz zum ›man‹, was die Mehrdimensionalität des Sozialen verflachen lässt. Die Frage ist, wie ›man‹ dieser eindimensionalen Existenzform, die eine ›uneigentliche‹ – eine dem Individuum nicht entsprechende – ist, entkommen kann? Da scheint mir von Barloewens Gedanke einer »Repoetisierung des Menschen« durch das Spiel des Clowns als Ansatz sinnvoll: Sein Spiel ist die Wiedereinführung der ausgeschlossenen Dimensionen. Weihe Der Clown repräsentiert demnach eine »poetische Existenz« als alternativer Lebensentwurf. Ein interessanter Aspekt dieser poetischen Existenz ist das Außenseitertum des Clowns. Der Outsider ist eine Figur, die zur Selbstbestimmung die Grenze zwischen Innenseite und Außenseite beobachten muss. Es gibt im Französischen den Begriff der marge als Bereich, der im sozialen Feld einen Übergang von einer Innen- zu einer Außenseite markiert. Ist das nicht der Spielraum des Clowns? Raji Die Außenseite ist zumindest der Ort, an dem der Clown die ausgeschlossenen Lebensaspekte einfängt und ins Innere des sozialen Feldes zurückwirft.
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Weihe In diesem Spielraum kann der Clown auch Risiken eingehen, sich versicherungstechnisch unverantwortlich verhalten, um dadurch das risikofreie, mit Geld durch und durch versicherte Leben, als Illusion zu entlarven. Das ist natürlich eine Provokation… Raji Ist nicht auch von Barloewens Herangehensweise des ›poetischen Anthropologen‹ eine Provokation? Sein formaler Zugang zum Clown ist eben nicht die wissenschaftliche Abhandlung, sondern der Essay, in dem er den Clown um- und einkreist. Von Barloewen versteht sich selbst als eine poetische Existenz. Weihe Ja. Wenn wir sagen, der Clown sei poetisch, ist das keine wissenschaftliche Beschreibung. Der Begriff des Poetischen ist geradezu ein Gegenbegriff zur Wissenschaft, ich bestimme ihn ja weitgehend subjektiv. Damit wird der Clown im Grunde der wissenschaftlichen Beschreibung entzogen. Wann ist denn eine Figur oder Person ›poetisch‹? Wir können von einer Theateraufführung sagen, sie sei ›sehr poetisch‹ gewesen oder den Begriff auf den Alltag übertragen und eine ›poetische Existenz‹ als eine Lebenskunst im Sinne Brechts verstehen, als die höchste aller Künste. Raji Ebenso wenig wie die poetischen Aspekte des Clowns lässt sich das Spiel als anthropologische Konstante wissenschaftlich einfangen. Aber könnten wir nicht frei nach Wittgenstein sagen, dass die Wissenschaft selbst ein Spiel ist, ein Sprachspiel, das eine Lebensform ausdrückt? Wenn dieses Sprachspiel das Aphasische des Clowns mit ausdrückt, dann kommen wir vielleicht dem näher, was von Barloewen ›poetische Anthropologie‹ nennt. Der Clown als Untersuchungsobjekt dieser Forschungsmethode wäre dann weder der Homo sapiens noch der Homo ludens, sondern deren Synthese, die man Homo poeticus nennen könnte. Weihe Im Clown haben wir eine Figur, die beide Seiten einer Form bespielt. Um die Norm zu überschreiten, muss der Clown ein Experte des Normierten sein. Insofern ist der Clown im Sinne von Barloewens ein Dialektiker, indem er die Gegensätze ausspielt: Wenn er dialektisch den Sapiens gegen den Ludens ausspielt, gewinnt er in der Synthese dieser Positionen möglicherweise den Poeticus.
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Raji Meinem Verständnis nach führt das universelle Prinzip der Vergänglichkeit, dass alles, was entsteht auch wieder vergeht, beim Clown zu zwei Reaktionen: einerseits zu Melancholie, andererseits zu kosmischem Gelächter. Das Spiel des Clowns ist die konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit. Maßgeblich sind dabei drei gegenwartsbezogene Dimensionen: das Hier, das Jetzt und das Ja als affirmative Haltung gegenüber dem Potenzial der Gegenwart. Diese Koordinaten bilden das Spielfeld, auf dem der Clown seine soziale Funktion, die eine säkularisierende ist, erfüllen kann. Er vertröstet uns nicht mit einem Paradies im Jenseits, sondern verwandelt die Angst vor dem Tod in eine Bejahung der Gegenwart. Weihe Wie verstehst du dann die Deutung des Clowns als »konstruktiver Anarchist« bzw. »Anarch«? Da kommt doch eine politische Dimension hinzu, aber keine religiöse? Raji Ich interpretiere das so: Er lehnt sich als »konstruktiver Anarch« gegen Herrschaftsstrukturen auf. ›Hierarchie‹ setzt sich aus ›heilige‹ – griech. hierÓs – und ›Führer sein‹ – griech. Árchein – zusammen. Der Begriff bezeichnete zunächst die Rangordnung von Priestern und Engeln und wurde erst später zur Bezeichnung säkularer sozialer Ordnungen übernommen. Mit Blick auf diese Begriffsgeschichte könnte ich folgern: Der Clown will der Hierarchie die implizite Legitimation des Heiligen entziehen. So glaube ich, anders als von Barloewen, dass der Clown kein »heiliger Rebell« ist, sondern im Gegenteil ein ›unheiliger‹ oder ›entheiligender‹. Der Clown säkularisiert das politische Feld. Nicht die Vernunft ist die eigentlich säkularisierende Instanz. Es ist das Begehren. Was ist weltlicher als die Lust? Der konstruktive Anarchismus ist in diesem Sinn der politische Ausdruck des Begehrens, der Lust. Das große ›Ja‹ herrscht im Hier und Jetzt des sozialen Spiels.
Philippe Petit: Twin Towers Weihe Dazu fällt mir das Beispiel von Philippe Petit ein, dem Drahtseilkünstler. Es gibt die Form des kommunistischen Anarchismus, der einen Bruch mit dem Kapitalismus postuliert und die Abschaffung des Geldes. Petit spannte 1974 ein Drahtseil zwischen den Türmen des World Trade Centers. Er setzte damit dem Kapital sein Spiel mit der Gefahr entgegen. Er ist »konstruktiv« in dem Sinn, dass er einen artistischen Akt vollführt
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und »Anarch« dadurch, dass er die Höhe der Türme, diese Hybris, gleichsam einebnet, indem er zwischen den Türmen balanciert, d.h. einen geraden Weg legt. Raji Die Nutzung der physischen Höhe der Türme macht Petit noch nicht zum Anarchisten, erst ihre Bedeutung als Symbol für die Höhe des Kapitals. Sonst hätte er auch zwischen zwei Berggipfeln balancieren können. Der konstruktive Anteil liegt in der Bejahung der Lebensform, die er vollführt – oder in einem Akt der ›Übersetzung‹: Petits Seiltanz übersetzt ein Symbol der Quantität in ein Symbol der Qualität. Weihe Eine abstrakte quantitative Größe wie Kapital einerseits, die konkrete individuelle Qualität und Leistung des Drahtseilkünstlers andererseits… Raji …eine abstrakte Utopie, das Kapital, gegen eine gelebte Utopie, den Seiltanz. Weihe Bevor sie gebaut waren, hatte Petit in der Zeitung gelesen, dass mit dem World Trade Center die damals höchsten Wolkenkratzer entstünden. In diesem Moment entschloss er sich, den Drahtseilakt zu vollführen. Dieses Ziel hat er realisiert. Gelebte Utopie! Hier wird eine Dialektik sichtbar, die von Barloewen mit dem Clown verbindet: Die Dialektik von »instrumenteller Rationalität« – symbolisiert durch die Türme – und einer ›clownesken Irrationalität‹, das Ludens des Clowns, aber auch dessen ›praktische Vernunft‹, denn der gesamte Akt musste minuziös vorbereitet werden. Raji Das Wesentliche der clownesken Konstruktionen scheint mir aber ihre Flüchtigkeit zu sein. Weihe Das ist m.E. der Grund, warum vor der Aufzeichnung von Clownauftrit-ten der Clown in der Kulturgeschichte weitgehend unsichtbar bleibt. Er ist eine Figur für den Moment, kein Konstrukteur von Monumenten. Vorhin hast du von dem Hier und Jetzt gesprochen. Deutlicher geht es nicht: Ich setze auf dem Drahtseil 417 Meter über der Straße einen Fuß vor den nächsten, immer mit dem Gedanken, es könnte mein letzter Schritt sein.
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Raji Von Barloewen spricht von Clowns als letzten »Humanisten«. Wie lässt sich das in unseren Deutungsversuch einordnen? Mir scheint diese Beschreibung eine nostalgische Geste zu sein.
Bertolt Brecht: Badener Lehrstück vom Einverständnis Weihe Die Rückbesinnung auf den Humanismus als Epochenbegriff für den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, also der Zeitraum von ca. 1350-1550, wäre noch mehr als eine nostalgische Geste, nachdem schon seit einigen Jahrzehnten die These vom »Ende des Humanismus« in Umlauf ist. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, den Clown als Kunstfigur in solchen Kategorien zu sehen. Denn damit wird die andere Seite des Clowns ausgeblendet: die Gegenfigur zum poetischen Clown. Sie tritt spätestens seit den 1980er Jahren in der Populärkultur in vielen Variationen in Erscheinung. Eine Figur, die ich in Anlehnung an die Chromatik des Clowns neben Weißclown und Rotclown – dem rotnasigen dummen August – den Schwarzclown nennen würde. Der Schwarzclown ist eine zwielichtige Gestalt, die innerhalb dieser basalen ›Dreifarbigkeit des Clowns‹ die clowneske Entsprechung dessen darstellt, was Marcuse und von Barloewen aus anthropologischer Perspektive beklagen: den Verlust an Mehrdimensionalität, quasi die Übersetzung des Poetischen in Sachbearbeitungsprosa. Der Schwarzclown ist so etwas wie das Clown gewordene Monstrum aus jenem Traum der Vernunft, der schon bei Goya Menschenfresser hervorbrachte: Ein eindimensionaler, empathieloser Technokrat, der es ausgerechnet auf das Humane abgesehen hat, d.h. auf seine eigene Vergangenheit – der menschliche Rest in ihm selbst ist sein größter Feind. Der Typ des bösen, mordgierigen killer clowns hat mit potenter Förderung aus Hollywood mittlerweile einen weit höheren Popularitätsgrad erlangt als die liebenswerten Weiß- und Rotclowns je erreicht haben. Aus heutiger Sicht könnte man die These vertreten, der neue Clown mache dem alten gerade den Garaus. Doch dieser Trend reicht viel weiter zurück. Es gibt eine Szene von Bertolt Brecht,6 in der vorausschauend schon mehrere Elemente angelegt sind, 6 | Vgl. dazu Fromholzer, Franz: »Feinste Genüsse und blutige Witze. Brechts Clownerien der zwanziger Jahre«, in: »Man muß versuchen, sich einzurichten in Deutschland!« Brecht in den Zwanzigern, hg. v. Jürgen Hillesheim, Würzburg: Könighausen & Neumann 2015, S. 55-72. Anna-Sophie Jürgens sei für diesen Hinweis gedankt.
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die erst viel später in Clownfiguren des Kinos weiterentwickelt werden: In seinem Badener Lehrstück vom Einverständnis von 1929 überschreibt Brecht eine Szene mit »Die dritte Untersuchung«. Die Untersuchungsanordnung lautet: »Ob der Mensch dem Menschen hilft.« In dieser Szene treten zwei »Zirkusclowns« auf und noch »ein Dritter«, der nur so bezeichnet wird. Der Dritte klagt über Gliederschmerzen. Die Zirkusclowns befreien ihn davon, indem sie die schmerzenden Glieder nacheinander amputieren. Die Amputation hat man szenisch so gelöst, dass man die künstlich verlängerten Extremitäten des Clownkörpers stutzte, d.h. die lebendige Figur wurde mit viel Theaterblut zerkleinert und zuletzt noch der Kopf »abgesägt«. Das Untersuchungsergebnis lautet: »Die Menge schreit: Der Mensch hilft dem Menschen nicht.« Jedenfalls entrüstete sich das Premierenpublikum über die offene Darstellung von Gewalt. Der scheinbar antihumanistische Befund löste einen der heftigsten Theaterskandale der Zeit aus. Aber Brecht benutzt die Clowns, um daran die Entmenschlichung sichtbar zu machen; seine Clowns sind als Kunstfiguren keine Botschafter der Menschlichkeit. Raji Vielleicht liegt in dieser vermeintlichen Vivisektion des Clowns sein symbolisches Überleben. Weihe Brecht unterstreicht durch die Demontage des Clowns dessen Künstlichkeit. Die Figur lässt sich nicht ›umbringen‹ – man kann sie nur demontieren und rekonstruieren. Ich glaube, gerade in dieser Möglichkeit der permanenten Re-Formatierung liegt die ästhetische Überlebenskunst des Clowns.
Charlie Chaplin: L imelight Raji Bei der Frage nach der Zukunft des Clowns verweist von Barloewen auf Limelight, den Film von Charlie Chaplin aus dem Jahr 1952. Weihe Das überrascht mich. Es ist die Liebesgeschichte zwischen dem alternden Clown Calvero und der jungen Tänzerin Terry, die er vor dem Selbstmord bewahrt. Bei Chaplin findet am Ende keine ›Neumontage‹ des Clowns statt.
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Raji Dort muss am Ende der alte Clownkörper sterben, damit in Zukunft ein Neuer erscheinen kann. Allerdings ist sich Calvero nicht sicher, was er vom Tod halten soll: »I believe I’m dying, doctor. Then, I don’t know. I’ve died so many times.« Weihe Mit diesem Satz thematisiert Chaplin die für den Clown charakteristische Verschmelzung von Person und Figur. Die Frage stellt sich, wer hier stirbt: Die Clownfigur oder der Clowndarsteller? Es gibt keinen Doppeltod. Der Clown überlebt seinen Darsteller, indem er sich in einem neuen Spielerkörper inkarniert. Insofern ist der Clown eine ewige Reinkarnation. Raji Aber auch eine stetige Rekombination. Es kann nicht mehr dieselbe Anordnung der Glieder geben. Es kann nicht mehr die Melone und das Spazierstöckchen sein. Weihe Ja, die spezifische Reinkarnation ist auch ein Hervorholen ausgewählter Einzelteile aus dem kulturhistorischen Fundus des Clowns. Raji Souverän ist Calvero nur, wenn er sich von seinem Publikum unabhängig macht, was nur noch außerhalb der Varietébühne der Fall ist. Das Besondere an diesem Film ist m.E., dass Calvero mehr Clown im Kommentar als in der Figur ist. Weihe Seit Calvero dem Alkohol verfiel, weil er die Publikumsgunst verlor, steht sein Körper dem Clown nicht mehr voll zur Verfügung. Er verliert die Lust an der Clownerie und damit die Fähigkeit, lustig zu sein. Das Ausbleiben des erwarteten Lachens ist der eigentliche Tod des Clowns. Wenn sich das Publikum nicht mehr für ihn interessiert, hat er keinen Grund mehr, auf der Bühne zu sein. Terrys Liebe ist kein Ersatz für den Verlust der Liebe des Publikums. Er will für das geliebt werden, was er ist: ein Clown. Das Standbild aus der Garderobe zeigt Calvero, der seiner alten Figur nachtrauert, die ihm abhanden gekommen ist (Abb. 2). Im Garderobenschrank hat er die Schnapsflasche versteckt. Raji Calvero ist vom Unterhaltungsbetrieb genauso abhängig, wie vom Alkohol, schlimmer noch, der Betrieb steckt in ihm drin. »I thought you
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hated the theatre«, bemerkt Terry. Und Calvero antwortet: »I also hate the sight of blood, but it’s in my veins.« Weihe Er ist in einer Suchtspirale gefangen. Wovon er loskommen will, braucht er zum Existieren. Der Clown spielt im Material der eigenen Existenz. Terry kommentiert es so: »What a sad business being funny.« Abb. 2: Charlie Chaplin, Limelight. USA/UK 1952. Charlie Chaplin als Clown Calvero und Claire Bloom als Tänzerin Terry
Foto: Corbis/Berlin
Raji Wenn er einmal aufhört zu spielen, verliert seine Existenz ihren Zweck. Aber passen nun von Barloewens Clownattribute zu Calvero: Siehst du die Merkmale des »konstruktiven Anarchen«? Weihe Nein, es fehlt ihm schlicht an Kraft, sich aufzubäumen. Ohne den Erfolg seiner Clownfigur ist Calvero zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern der Figur zieht die Person mit in den Abgrund. Die Zukunft des Clowns in Limelight ist der Untergang der Figur in ihrem angestammten Umfeld, dem Varieté-Theater. Er braucht metaphorisch gesprochen ein anderes, neues Licht statt des alten Rampenlichts. Er müsste sich ein
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neues Wirkungsfeld suchen. Aber es zeigt sich, dass gerade hierhin die Stärke und der Erfolg des Clowns als Figur liegt: Sie ist extrem resistent und anpassungsfähig an unterschiedliche ästhetische Bedingungen, sei es nun Theater, Zirkus, Music Hall, Stummfilm, Hollywood oder Comic. Raji In welchen Figuren entsteht bzw. woraus erwächst heute noch die soziale Bedeutung des Clowns? Weihe Ich glaube, was früher für den Clown der Zirkus war, ist heute mehr und mehr der öffentliche Raum. Leo Bassi erzählt, wie er sich in der 6. Generation entschloss, den Zirkus zu verlassen, um – wie er sagt – auf die Straße zu gehen. Ich sehe auch Aktionen von Christoph Schlingensief oder Jonathan Meese in diesem Zusammenhang. Hier verdichten sich Provokation, produktive Irritation und subversive Energie zu transitorischen ›sozialen Plastiken‹, die auch im öffentlichen Raum wirken sollen, nicht nur auf der Bühne oder in der Manege. Dabei ist die Ambivalenz einer Aktion entscheidend: Handelt es sich um Politik oder um Kunst? Man besinnt sich wieder auf die Vorgeschichte des Clowns, als er noch als Hofnarr und Satiriker tätig war, in einer Symbiose von Macht und Verspottung der Macht durch gespielte oder postulierte Ohnmacht. Raji Mich würde zum Schluss interessieren, woran man, trotz seiner extremen Wandlungsfähigkeit, den Clown noch erkennen kann? Weihe Um ›Clown‹ zu signalisieren, brauche ich nur die rote Nase aufzusetzen, einen roten Punkt in der Mitte des Gesichts. Aber der rote Punkt kann auf andere, subtilere Weisen gestaltet werden und als kleinste Maske der Welt selbst wieder bis zur Unkenntlichkeit verschleiert sein. Raji Dann würde man den Clown nur noch am Störsignal erkennen. Weihe Die Clownnase wirkt in der heutigen Medienlandschaft, besonders in Nahaufnahme, zu eindeutig, zu plakativ. So wie auch die Theatermasken abgeschafft wurden, weil sie den Prozess der Individualisierung verhinderten. Was wir in der Geschichte des Clowns jetzt erst erleben, ist die allmähliche ›Verinnerlichung‹ der roten Nase und Umwandlung zu
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einem abstrakten Prinzip des Clownesken: Es könnte dieses ›Störsignal‹ sein oder allgemein ein ›Störfall‹, z.B. das Stolpern des Clowns als ›Störfall‹ in der Fortbewegung. Es braucht dann nicht unbedingt ein Clown zu sein, der diesen Störfall vorführt, es kann auch ein galoppierendes Roboterpferd sein – oder eine Installation, die das Thema ›Fortbewegung mit möglichen clownesken Störfällen‹ inszeniert. Ich denke an den Film Der Lauf der Dinge des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiß. Es handelt sich um eine inszenierte Ursache-Wirkung-Kette in einer großräumigen Installation. Die physikalisch-chemischen Umwandlungen von Energie in verschiedene Äußerungsformen wie Dampf, Explosion, Stürze, Schwingungen, Rotationen, Geräusche aller Art wirken ›clownesk‹ und reizen zum Lachen, weil es sich dabei auch um altbekannte Effekte der Clownerie handelt. Also nicht Anarchie als Leitprinzip, sondern Störung – Defekt, Stau, Blockade, Verstopfung, Explosion, Eruption. Raji Stören und beobachten – Weihe Beobachten, stören, weiterbeobachten –
Raji Nicht mehr teilnehmende Beobachtung wie in der Ethnologie oder Soziologie, sondern störende Beobachtung: Das ist die Wissenschaft des Clowns.
Mit Säcken und Stöcken Analogien zwischen der Commedia dell’arte und den Entrées clownesques Demis Quadri
Die Commedia dell’arte und die Clownroutinen im Zirkus sind Formen populärer Unterhaltungskultur, bei denen der Körper das wesentliche Ausdrucksmittel ist. Inwiefern lässt sich die Spielweise der Schauspieler in der Commedia dell’arte mit derjenigen von Clowns vergleichen? Diese Frage soll im Folgenden unter dem Aspekt ihres Umgangs mit Säcken und Stöcken behandelt werden, für den es in beiden Formen mannigfaltige Beispiele gibt. Die Commedia dell’arte entwickelte sich in Italien Mitte des 16. Jahrhunderts als Alternative zur Commedia erudita, der Gelehrtenkomödie der Renaissance, die sich durch ausformulierte Dialoge und einen literarischen Anspruch auszeichnete. Bei der Commedia dell’arte handelt es sich um ›Berufsschauspielkunst‹ im Rahmen einer kommerziellen Theaterform1 – »arte« bedeutet hier nicht etwa ›Kunst‹, sondern ›Handwerk‹ oder ›Beruf‹. Der Gebrauch der Bezeichnung »Commedia dell’arte« hat sich erst im Lauf des 18. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt. In ihrer Entstehungszeit wurde diese neue Theaterform Commedia degli Zanni oder all’improvviso (Improvisationstheater) genannt; außerhalb Italiens kannte man sie bald als commedia all’italiana. Während die Schauspielerei zuvor nur Männern vorbehalten war, traten in der Commedia dell’arte auch 1 | Die kommerzielle Grundlage der Commedia dell’arte belegen bereits Quellen aus dem 16. Jahrhundert wie etwa die Verträge der Schauspieler und Schauspielerinnen mit den professionellen Truppen. Siehe dazu: Taviani, Ferdinando/ Schino, Mirella: Il segreto della Commedia dell’Arte, Firenze: La Casa Usher 2007, S. 177-204.
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Frauen auf. Spezifisch für die Spielweise der Commedia sind improvisierte Dialoge sowie der Gebrauch von Halbmasken.2 Ob sie nun Zanni, Arlecchino, Brighella, Trappolino oder anders heißen: Man rückt die Dienerfiguren der Commedia dell’arte oft in die Nähe des Clowns.3 Die auffälligsten Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den Figuren lassen die servitori rückblickend als Ahnen des Clowns erscheinen.4 Beide entstammen der europäischen Tradition des populären komischen Theaters, das seine Wurzeln in der antiken griechischrömischen Kultur hat.5 In der Tat gibt es Analogien zwischen der Spielweise der comici, wie die Darsteller in der Commedia hießen, und dem Zirkusclown. Die Gemeinsamkeiten von Zirkus und Commedia haben sowohl die Theorie als auch die Praxis des Theaters im 20. Jahrhundert beeinflusst, was sich z.B. in der Arbeit von Jewgeni Wachtangow, Wsewolod Meyerhold, Jacques Lecoq oder Dario Fo nachweisen lässt.6
2 | Hinsichtlich Gesamtdarstellungen zur Commedia dell’arte siehe: Ferrone, Siro: La Commedia dell’Arte. Attrici e attori italiani in Europa (XVI-XVIII secolo), Torino: Einaudi 2014; Chaffee, Judith und Crick, Oliver (Hg.): The Routledge Companion to Commedia dell’Arte, London/New York: Routledge 2014; Hulfeld, Stefan: »Einleitung in die Lektüre der Scenari più scelti d’istrioni«, in: ders. (Hg.): Scenari più scelti d’istrioni. Italienisch-Deutsche Edition der einhundert Commedia all’improvviso – Szenarien aus der Sammlung Corsiniana, Göttingen: Vienna University Press bei V&R unipress 2014, Bd. 1, S. 9-116. 3 | Das Oxford English Dictionary (OED) weist Bezüge auf der Wortebene aus: Der Eintrag »clown« nennt Quellen, die sich auf Arlecchino und Pantalone beziehen (OED, Oxford: Clarendon Press 1989, Bd. 3, S. 364), während bei »Harlequin« festgestellt wird, die Figur teile viele Eigenschaften mit dem Clown (OED, Bd. 4, S. 1119f.). 4 | Vgl. dazu: Davison, Jon: Clown. Readings in Theatre Practice, London/New York: Palgrave Macmillan 2013, S. 35-41. 5 | Vgl. Towsen, John H.: Clowns, New York: Hawthorn Books 1976, S. 38-82 sowie S. Hulfeld: Scenari più scelti d’istrioni, Bd. 1, S. 166f. 6 | Vgl. dazu die einschlägigen Artikel in Allain, Paul/Harvie, Jen: The Routledge Companion to Theatre and Performance, London: Routledge 2014 sowie die Arbeiten zu den einzelnen Theaterschaffenden: Gortchacov, Nicolai: Vakhtangov metteur en scène, Moskau: Editions en langues entrangères 1945; Moody, Christopher: »Vsevolod Meyerhold and the C ommedia dell’A rte«, in: The Modern Language Review
Mit Säcken und Stöcken
Etliche Studien zur Commedia dell’arte aus dem 19. und 20. Jahrhundert folgen eher bestimmten künstlerischen Interessen, als dass sie sich um eine strenge historische Rekonstruktion bemühen.7 Gewisse Charakteristika der Schauspielpraxis der Comici – v.a. das Stegreifspiel – suggerieren das romantische Bild des Schauspielers, der sich der Herrschaft des Autors entzieht und selbst schöpferisch tätig ist. Indes ist die sprachliche Improvisationskunst, die mit den sogenannten lazzi einhergeht, im Wesentlichen Ausdruck einer Ökonomie der Produktion. Ein Lazzo ist eine eigenständige mimische, physische oder verbale Aktion, die ihre Wirkung aus dem situativen Zusammenhang bezieht. Ein Standardrepertoire von Lazzi wurde in den Commediatruppen von Generation zu Generation tradiert. Die Comici sind als Berufsschauspieler in kommerziell ausgerichteten Schauspieltruppen um unternehmerische Effizienz bemüht, ihre Arbeitsweise ist maßgeblich von den wirtschaftlichen Verhältnissen bestimmt. Der Produktionsprozess soll möglichst schnell und einfach verlaufen und dabei unabgeschlossen bleiben, um die Aufführung kurzfristig den Wünschen des jeweiligen Veranstalters und den Spielbedingungen anpassen zu können: den räumlichen und akustischen Gegebenheiten auf Volksfesten oder Marktplätzen sowie dem meist ungebildeten örtlichen Publikum. Die Handlungen folgen simplen Grundmustern; die Comici schöpfen aus dem reichhaltigen Repertoire szenischer und rhetorischer Versatzstücke – erst auf der Grundlage eingeübter Spielelemente wird das Improvisieren von Dialogen möglich.
I. C omici und C lowns Ferdinando Taviani zeigt, wie Regisseure und Theatertheoretiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, z.B. Edward Gordon Craig (1872-1966), die Comici gerne als Repräsentanten einer subversiven Gegenkultur sahen. Vorherrschend ist das Bild des Schauspielers als Person, die in ihrem Beruf einen persönlichen Freiheitsdrang auslebt – und das Improvisationsspiel mag diesen Drang bis zu einem gewissen Grad befriedigt haben:
73/4 (1978), S. 859-869; Fo, Dario: Manuale minimo dell’attore, Torino: Einaudi 1987; Lecoq, Jacques: Le Corps poétique, Arles: Actes Sud 1998. 7 | Vgl. F. Taviani/M. Schino: Il segreto della Commedia dell’Arte, S. 67-86.
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aber es war eher die Freiheit der Figur, nicht die des Schauspielers.8 Die Comici waren jedoch weder von einem besonderen Freiheitsdrang getrieben noch durch gesellschaftspolitische Überlegungen motiviert. Es handelte sich um talentierte, leidenschaftliche Schauspieler, die ihre Tätigkeit zu einem Beruf gemacht hatten und davon leben wollten. Dabei waren sie vom Wohlwollen reicher, mächtiger Schirmherren und Mäzene abhängig und durften deren Unterstützung keinesfalls verspielen. Auch aus religiöser Sicht gab es antitheatralische Vorurteile, wonach die Tätigkeit der Comici nicht nur der bloßen Unterhaltung diente, sondern eine gesellschaftliche Wirkung hatte. Die Vorstellung, dass die Comici ihre Tätigkeit auch zur Kritik an der Gesellschaft nutzten, wurde u.a. von einem religiösen Diskurs beeinflusst, in dem zwei Aspekte zusammenfallen: Der erste betrifft die vorchristlichen Wurzeln der Commedia dell’arte, die ihr antikes Erbe in einem langen Assimilationsprozess in die christliche Kultur integriert hatte;9 der zweite Aspekt betrifft das angespannte Verhältnis zur Kirche. Der Konflikt zeigte sich in dem von Theologen und kirchlichen Würdenträgern wie dem Erzbischof von Mailand Carlo Borromeo (1538-1584) oder dem italienischen Jesuitenprediger Paolo Segneri (1624-1694) kolportierten typischen Bild der Commedia als Teufelswerk.10 Durch den Teufel in der Paradiesszene, der in Gestalt einer Schlange erscheint, war Schauspielerei nach christlichem Verständnis eine Form von Metamorphose mit unlauteren Absichten. Nicht dass man den Schauspielern Beziehungen zum Teufel unterstellt hätte: Der Grund für die Dämonisierung der Schauspieltruppen war die Tatsache, dass sie 8 | Der Freiheitsdrang wurde in der damaligen Zeit gar als eine Art ›Krankheit‹ verstanden, weil es in einer streng hierarchisch strukturierten Gesellschaft, wie jener der italienischen Höfe seit der Gegenreformation (also etwa ab Mitte des 16. Jahrhunderts), nicht wirklich gebilligt wurde, Freiheit zur Schau zu stellen und im eigenen Leben zu realisieren, d.h. in einem von Familientraditionen, Standesbewusstsein, arrangierten Ehen usw. stark begrenzten Spielraum. 9 | Hier wäre der Arlecchino des Schauspielers Tristano Martinelli, Erbe des mondo dei buffoni e giullari, als Ausnahme zu sehen. Vgl. dazu die Studie von Ferrone, Siro: Arlecchino. Vita e avventure di Tristano Martinelli attore, Roma-Bari: Laterza 2006, S. 51-102 (v.a. Kap. »La nascita di Arlecchino«). 10 | Vgl. Taviani, Ferdinando: La Commedia dell’arte e la società barocca. La fascinazione del teatro, Roma: Bulzoni 1969, S. 3-89 (v.a. Kap. »La città cristiana e lo spettacolo«) und S. 93-390 (Kap. »Negotium Diaboli«).
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sich aus praktischen Gründen nicht an den Kirchenkalender oder an die Berufsvorschriften der Zünfte hielten. Der Beruf des Schauspielers war weder von den Handwerkervereinen anerkannt noch fanden die Aufführungen an kirchlichen Festtagen statt, wodurch sie sich der Aufsicht der Kirche entzogen. Noch heute herrscht bei gewissen Theaterschaffenden die Meinung vor – so z.B. beim Dramatiker, Schauspieler und Regisseur Dario Fo (geb. 1926) –, dass das Spiel der Akteure in der Commedia dell’arte wie auch der Zirkusclowns als subversive Tätigkeit zu verstehen sei. Fo sieht die Clowns als Repräsentanten einer Volkskultur, die sich einer höher gestellten bürgerlichen oder aristokratischen Kultur entgegenstellten. Dieser Gedanke ist in seinen Schriften präsent, wo er den Clown als moralisch und politisch engagierte Figur verstanden wissen will.11 Ohne Clowns unbedingt als direkte Nachkommen der Comici zu interpretieren, möchte ich Analogien in ihren Spielweisen beschreiben. Zunächst sind die Anforderungen an die Spieler vergleichbar. Sowohl die Commedia dell’arte als auch die Clownerie verlangen von den Akteuren neben musikalischen und akrobatischen Fähigkeiten, Sinn für Komik, Improvisationstalent, Geistesgegenwart und Phantasie. Beide Formen kennen zudem ein tradiertes Repertoire bewährter szenischer Elemente, die Lazzi bzw. Gags. Diese gehen teilweise auf Erfindungen und Tricks der giullari (Hofnarren) und der Gaukler zurück, die neu kombiniert werden. Der volkstümliche Charakter hat Themen und Figuren gefördert, deren Vorformen sich schon im burlesken Theater der Antike finden. Der erste und zweite Diener, die zanni der Commedia dell’arte, sind die Nachkommen des schlauen und dummen Sklaven der antiken Komödie und gehören selbst wieder zu den Vorbildern des Clownduos aus Weißclown und dummem August im Zirkus.12 Diese klassische, konstante Paarung verbindet gegensätzliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen: Schlauheit und Dummheit, Treue und Intrige, Agilität und Lethargie. In der Commedia dell’arte verkörpert das Dienerpaar ein Ungleichgewicht und eine Unordnung, die die Handlung in Gang setzen. Die soziale Ordnung wird dramaturgisch in Form des Happy End wieder hergestellt. Zu dem Duo gesellen sich die Repräsentanten hierarchischer Ordnung: Pantalone und Dottore in der Commedia, der Direktor und Monsieur 11 | Vgl. D. Fo: Manuale minimo dell’attore, S. 266-284. 12 | Vgl. Willeford, William: The Fool and his Scepter. A Study in Clowns and Jesters and their Audiences, Chicago: Northwestern University Press 1969, S. 38-42.
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Loyal oder der Sprechstallmeister im Zirkus. Ein weiteres volkstümliches Element ist die derbe, bis ins Obszöne, Groteske und Gewalttätige übergreifende Komik.
II. S äcke und S töcke in der C ommedia dell’arte und den E ntrées clownesques Im Folgenden möchte ich mich beim Vergleich zwischen der Commedia dell’arte und den Entrées clownesques auf den Gebrauch zweier Gegenstände konzentrieren: Säcke und Stöcke. Grundlage des Vergleichs sind zwei Textquellen: erstens eine Sammlung von Szenarien der Commedia dell’arte, sogenannte canovacci, die nur die Bühnenaktion beschreiben und im Gegensatz zu einem Drama keine Dialoge enthalten, denn diese haben die Akteure improvisiert; zweitens Beschreibungen der Auftritte von Clowns im Zirkus, die Tristan Rémy in seinem Buch Entrées clownesques zusammengestellt hat.13 Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu den Szenarien der Commedia nicht um Spielvorlagen, sondern um nachträgliche Aufzeichnungen von Clownerien. Vor Rémy hielt niemand die Clownauftritte schriftlich fest; das hing nicht nur mit der berechtigten Angst vor Nachahmern zusammen. Der Hauptgrund war: Angehörige von Zirkusfamilien konnten in der Regel kaum lesen oder schreiben. Man ließ die Kinder von klein auf im Zirkus arbeiten, statt sie zur Schule zu schicken. Ein regelmäßiger Schulbesuch war ohnehin nicht möglich, da der Zirkus nie lange am selben Ort verweilte.14 Einer der typischen, der Populärkultur entstammenden theatralischen Effekte in der Commedia dell’arte sind die Stockhiebe. Der Stock dient dem Schauspieler primär als Ausdrucksmittel, um Gesten und Bewegungen bzw. das Körperspiel insgesamt zu verstärken. Die Stockhiebe haben zudem den Zweck, die Szenen zu rhythmisieren. Wenn geschlagen wird, ist oft ein Sack im Spiel, in dem sich jemand versteckt. Solche Situationen gewinnen ihren Reiz dadurch, dass zwischen der Informiertheit des Publikums und jener der Bühnenfiguren eine Differenz besteht. Der Sack verbirgt die Figur wie eine Ganzkörpermaske. Er steht still da, doch sobald ihm der Protagonist den Rücken zu13 | Rémy, Tristan: Entrées clownesques, Paris: L’Arche 1962. 14 | T. Rémy: Entrées clownesques, S. 30.
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kehrt, beobachtet das Publikum, wie sich der Sack bewegt – ein garantiert komischer Effekt. Wenn der Protagonist einmal begriffen hat, dass sich jemand in dem Sack versteckt hält, kann er ihn nach Belieben traktieren. Die Person im Sack ist Stockhieben und Fußtritten schutzlos ausgeliefert. Als erstes Beispiel führe ich das Szenarium Li Stroppiati (Die Krüppel) an.15 Es handelt sich um eines von 100 Stücken aus der Blütezeit der Commedia dell’arte um 1600, die in zwei Manuskriptbänden unter dem Titel Scenari più scelti d’istrioni16 gesammelt sind. 1885 entdeckte sie der Forscher Albino Zenatti und stellte seinen Fund in einer Publikation vor.17 Eine der Hauptlinien der Handlung von Li Stroppiati ist schnell erzählt: Der Soldat Capitanio ist in Ortentia verliebt, die Tochter von Pantalone. Capitanio prahlt mit seinen militärischen Ruhmestaten gegenüber Sardellino, Pantalones Diener. Dann stellt er sich Ortentia vor und offenbart ihr seine Liebe. Sie schlägt vor, Capitanio solle sich als Gepäckträger ausgeben, um sich so Zutritt zum Haus zu verschaffen. Insgeheim beabsichtigt sie aber, sich den aufdringlichen Prahlhans vom Hals zu halten und heckt mit Zanni, dem zweiten Diener, einen Plan aus: Zanni soll den lästigen Capitanio mit Stockschlägen vertreiben. Bald darauf wird Capitanio als Gepäckträger bei Pantalone vorstellig, um ihm zu Diensten zu sein. Pantalone will seinerseits nichts mit Capitanio zu tun haben und flüstert Coviello, seinem dritten Diener zu, er solle den Gepäckträger 15 | S. Hulfeld: Scenari più scelti d’istrioni, Bd. 1, S. 538-542. 16 | Den Texten fehlen Angaben, wann sie entstanden sind. Aufgrund verschiedener Anhaltspunkte wie Papier, Sprachstil und Ähnlichkeiten mit Szenen in Werken von Basilio Locatelli (1590/91-vor 1654) und Vergilio Verucci (ca. 1585-nach 1663?) ist anzunehmen, dass sie zwischen dem Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts geschrieben wurden. 17 | Zenatti, Albino: »Una raccolta di scenari della Commedia dell’arte«, in: Rivista critica della Letteratura Italiana 5 (1885), S. 156-159. Zenatti und andere Forscher hielten (nicht namentlich bekannte) Schauspieler für die Verfasser der Szenarien. Heute nimmt man an, dass sie zu dokumentarischen Zwecken aufgezeichnet wurden und als Vorlagen für Laienaufführungen von theaterbegeisterten Intellektuellen an den literarisch-künstlerischen Akademien des 16. und 17. Jahrhunderts dienten. Dazu ausführlicher: Quadri, Demis: Gli Scenari più scelti d’Istrioni: un’analisi di lingua e contenuti. Tesi di dottorato presentata alle Facoltà di Lettere delle Università di Friburgo (Svizzera) e Berna, Fribourg/Bern 2010 (unveröffentlicht), S. 9-17.
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mit Stockhieben davonjagen. Coviello führt den Befehl pflichtgemäß aus, doch Capitanio und der erste Diener, Sardellino, der sich mit dem Soldaten verbündet hat, schwören Rache. Der erste Akt endet mit Stockhieben und Lazzi. Im zweiten Akt folgt die Abrechnung unter den Dienern: Sardellino steckt Coviello in einen Sack, um ihn in den Fluss zu werfen. Doch durch die Stockhiebe reißt der Sack und es gelingt Coviello, ihm zu entschlüpfen. Pantalone stiftet wieder Frieden unter seinen Dienern. Capitanio hält bei Ortentias Bruder Silvio um ihre Hand an. Diesmal hat er mehr Glück und wird nicht zusammengeschlagen: Silvio gibt ihm sein Einverständnis. Nachdem auch Pantalone zugestimmt hat, kann die Hochzeit gefeiert werden. Der Sack ist in diesen Szenen mehr als ein Requisit. Er ist eine visuelle Metapher, mit der sich die Commedia bewusst vom literarischen Theater der Renaissance abhebt: Der Sack betont die Körperlichkeit und das Körperspiel des darin befindlichen Schauspielers eben dadurch, dass er nicht als Schauspieler zu sehen ist. Das Versteckspiel unterstreicht die Funktionsweise der Commedia dell’arte, deren Wirkung und Unterhaltungswert weniger auf der gesprochenen Sprache beruht als auf dem ›Handwerklichen‹ der Aufführung, dem Umgang mit Objekten in einem begrenzten Raum. Dabei dient den Comici jedes Requisit zugleich als Spielzeug, das die Körperlichkeit der Aktion verstärkt zum Ausdruck bringt – das Paradebeispiel hierfür sind die Lazzi mit den Stockhieben. Sie sind typisch für die Art und Weise, wie diese Theaterform Komik erzeugt: Im Rahmen einer Komödie werden Stockhiebe per se als lustig empfunden.18 Wie das Beispiel Li Stroppiati zeigt, ist die Liebesgeschichte zwischen Ortentia und Capitanio nur ein Vorwand für die Aktionen der Diener. Psychologische Erklärungen entfallen, Ortentias Sinneswandel wird nicht begründet. In einer Theaterform, in der die Aufmerksamkeit dem Körperspiel, dem Improvisationsvermögen und den Lazzi gilt, haben poetische, philosophische und sentimentale Feinheiten keinen Platz. Die spärlichen Angaben in den Szenarien zu Requisiten und mimischakrobatischen Einlagen können als Hinweis verstanden werden, dass die Schauspieler und Schauspielerinnen schon mit dem Grundverständnis der Commedia als körperbetontes Bewegungstheater aufgetreten sind, bei 18 | Vgl. Capozza, Nicoletta: Tutti i lazzi della Commedia dell’Arte. Un catalogo ragionato del patrimonio dei Comici, Roma: Dino Audino 2006, S. 215.
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dem es um das Zusammenspiel des ganzen Ensembles geht. Der gesprochene Text ergibt sich aus spezifischen Situationen und Interaktionen, die bereits pantomimisch verständlich sind. Beim Improvisieren der Dialoge schöpfen die Schauspieler aus ihrem Repertoire an auswendig gelernten rhetorischen Versatzstücken: berühmte Zitate, Witze, Wortspiele, Liebesschwüre, passende Monologe usw.19 Außerdem ist zu bedenken, dass die Komödien auf öffentlichen Plätzen in geräuschvoller Umgebung aufgeführt wurden, wo sich das Publikum leicht ablenken ließ. Bei solchen Rahmenbedingungen mussten die Geschichten entsprechend unkompliziert und geradlinig sein; viel wichtiger als der Plot war die Dynamik der Aufführung sowie die Demonstration virtuoser Schauspielkunst. Ein weiteres Beispiel einer Sack-und-Stock-Einlage aus einem Thetertext dieser Epoche findet sich in der französischen Literatur bei Molière. Im 3. Akt seines Stückes Les Fourberies de Scapin (1671) klagt Géronte gegenüber seinem Diener Scapin, er sei in großer Gefahr, da eine Gaunerbande nach seinem Leben trachte. Scapin erkennt eine Gelegenheit, sich für erlittenes Unrecht an Géronte zu rächen. Der Diener rät seinem Herrn, sich vor den Banditen in einem Sack zu verstecken. Als er den ahnungslosen Géronte im Sack hat, kann ihm Scapin nach Belieben Stockhiebe versetzen, indem er ihn glauben lässt, es seien seine Verfolger, die auf den Sack einschlügen. In dieser Szene von Les Fourberies de Scapin erweist Molière der Commedia dell’arte indirekt eine Hommage.20 Die Stücke des französischen Schauspielers und Dramatikers markieren historisch gesehen die Entwicklung der Figurengestaltung vom Typ zum Charakter. Die standardisierten Masken und Kostüme der Commedia geben der Figur schon optisch eine feste, unveränderliche Form. In der ›Charakterkomödie‹ von Molière hingegen wird die Hauptfigur von einem spezifischen Charakter19 | Es sind vereinzelte Textsammlungen mit Material für die Improvisation erhalten geblieben. Eine der ältesten derartigen Sammlungen ist die des Schauspielers Abagaro Frescobaldi aus dem 16. Jahrhundert, der die Figur des Stefanelo Botarga spielte. Vgl. dazu die Studie von del Valle Ojeda Calvo, Maria: Stefanelo Botarga e Zan Ganassa. Scenari e zibaldoni di comici italiani nella Spagna del Cinquecento, Roma: Bulzoni 2007. 20 | Vgl. Davico Bonino, Guido: »I Maestri del Grand Siècle. Corneille, Molière, Racine«, in: Storia del teatro moderno e contemporaneo. Bd. 1: La nascita del teatro moderno. Cinquecento-Seicento, Torino: Einaudi 2000, S. 623.
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zug – also von etwas Innerem, keiner äußeren Form – bestimmt.21 Die nunmehr psychologisch gefasste Figur wird bei ihren sozialen Interaktionen beobachtet. Les Fourberies de Scapin steht noch in der Tradition der früheren Typenkomödie. Titelfigur ist ein intriganter Diener, der es seinem Herrn heimzahlen will. Seine Machenschaften sind szenisch effektvoll, aber nicht Ausdruck einer besonderen Rachsucht. Viele Diener in den Scenari più scelti d’istrioni agieren ähnlich, wie bereits anhand des Beispiels Li Stroppiati zu sehen war, in dem Sardellino quasi als Heiratsagent auftritt und Prügeleien organisiert.22 Bei den Entrées clownesques aus der Zirkuswelt finden sich ähnliche Sack-und-Stock-Einlagen. So gibt Tristan Rémy einem Auftritt des Clowns Léandre aus dem Jahr 1910 den Titel Le sac de pommes de terres. Folgendes geschieht: Léandre ärgert sich über den dummen August namens Chico, der ihn andauernd nervt und stört, bis ihm Léandre eine Tracht Prügel versetzt. Chico sucht beim Ansager Monsieur Loyal Hilfe. Dieser rät ihm, sich in einem Kartoffelsack zu verstecken. Als Léandre wieder die Manege betritt, haut er auf den Sack, weil sich dieser bewegt.23 Rémy vermutet hier den Einfluss von Molières Scapin und Géronte.24 Ein weiteres Beispiel in seiner Sammlung ist La photographie von 1954: »Ich habe eine geniale Idee!«, ruft Clown Pipo und erklärt dem dummen August Dario seinen Plan: Er will den Zirkusdirektor überlisten, um an 500.000 Francs heranzukommen. Die Entrée endet kaum überraschend mit Stockhieben.25 In einer weiteren Szene, Le Miroir brisé,26 finden sich laut Rémy deutliche Anleihen an das Theater: Der Auftritt sei der spanischen Farce Entremés del espejo y burla de Pablillos entnommen, die 1723 in Madrid veröffentlicht wurde.27 Bei den »Entremés« handelt es sich um komödiantische Intermezzi zur Aufführung zwischen den Akten längerer Theaterstücke.28 21 | Vgl. Alonso De Santos, José Luis: L’ABC del teatro. Teoria dell’arte teatrale, Roma: Dino Audino 2009, Bd. 1, S. 70-71. 22 | S. Hulfeld: Scenari più scelti d’istrioni, Bd. 1, S. 538-547. 23 | T. Rémy: Entrées clownesques, S. 244-246. 24 | Ebd.: S. 16-17. 25 | Ebd.: S. 224-225. 26 | Ebd.: S. 187-191. 27 | Ebd.: S. 28. 28 | Vgl. Montes, José Ares: Artikel »Entremés«, in: Enciclopedia dello spettacolo, Roma: Le Maschere 1957, Bd. 4, S. 1510.
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III. C lownlogik Die genannten Beispiele aus der Commedia dell’arte, von Molière und aus den Entrées clownesques weisen manche Gemeinsamkeiten auf: Typisierung, Betonung des Gegensatzes zwischen ›dummen‹ und ›schlauen‹ Figuren sowie körperbetonte Aktionen, die nicht psychologisch, sondern situativ begründet sind. Im Commedia-Szenarium Li Stroppiati ist die Glaubwürdigkeit der Handlung kein Kriterium: Ortentia sind die Avancen von Capitanio anfangs zuwider, am Ende willigt sie ohne weiteres in eine Heirat ein, ohne dass sich an ihren Gefühlen für Capitanio Wesentliches geändert hätte. Die Gründe für ihre Meinungsänderung bleiben im Dunkeln, denn sie geben körperlich wenig her für eine Theaterform, bei der es um Effekte, nicht um Affekte geht. Die Szenarien schreiben das Bühnengeschehen vor, keine psychologischen Entwicklungen. Die Comici sind v.a. darauf bedacht, möglichst viele Lazzi, eingeübte Szenenelemente und vorbereitete Reden unterzubringen.29 Die von Tristan Rémy aufgezeichneten Clownauftritte beruhen auf analogen Prinzipien. Auch der Zirkus ist eine Form der Unterhaltung, bei der Dynamik und Rhythmus wichtiger sind als seelische Zustände. Die Entrées sind als Intermezzi für die Zirkusnummern gedacht, wobei sich ihre Dauer mit zunehmender Beliebtheit des Clownduos Weißclown und August mit den Jahren bis auf 20 Minuten ausdehnte.30 In Anbetracht der Kürze des Auftritts sollten die Entrées clownesques das Zirkuspublikum möglichst rasch zum Lachen bringen, um es zu entspannen und auf die nächste ›Anspannung‹ vorzubereiten, z.B. auf eine Trapeznummer unter der Zirkuskuppel. Mit feinem Humor waren die Spaßeinlagen der Clowns kaum vereinbar. Luigi Pirandello definiert den Unterschied zwischen Humor und Komik als »sentimento del contrario« gegenüber einem »avvertimento del contrario«:31 Der Kontrast, der zum Lachen anregt, wird beim Humor mitgefühlt, während er bei der Komik nur mitgeteilt wird. Der Komiker zeigt keine Empathie für das, was er lächerlich macht; der Humorist hingegen nimmt persönlich Anteil an der Situation 29 | Vgl. Tessari, Roberto: »Il mercato delle maschere«, in: Storia del teatro moderno e contemporaneo. Bd. 1: La nascita del teatro moderno. Cinquecento-Seicento, S. 172f. 30 | Vgl. J.H. Towsen: Clowns, S. 224f. 31 | Pirandello, Luigi: L’umorismo, Milano: Oscar Mondadori 1992, S. 126.
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der dargestellten Figur. Zur Illustration seiner These führt Pirandello das Beispiel einer hässlichen alten Frau an, die sich schminkt und zurechtmacht, um jung und schön zu wirken. Das Publikum lacht, weil es den Kontrast sieht, der in diesem Bild zum Ausdruck kommt, hat aber kein Mitgefühl. Wenn jedoch das Publikum die Traurigkeit dieser ›Maske‹ wahrnimmt, die das hässliche Gesicht verdecken soll, somit das Eingeständnis der alten Frau erkennt, deren Schönheit endgültig verblüht ist, kann die Szene auch humorvoll sein. Gemäß dieser Unterscheidung von Pirandello sind jedoch die Entrées clownesques zweifellos im Bereich der Komik anzusiedeln. Die Clowns müssen sich in der Zirkusarena vor Zuschauern nach allen Seiten behaupten. Ihr Spiel ist so angelegt, dass es in diesem großen Raum zu wirken vermag. Diese Gegebenheiten verhindern allerdings feine Töne und Nuancen: Stimme, Gestik und Verhalten müssen verstärkt und vergrößert, alle Zeichen überdeutlich sein, sollten die Clowns bis hinauf zu den obersten Zuschauerreihen verstanden werden – ein natürlicher Schauspielstil ist unter diesen Bedingungen ausgeschlossen. Nicht nur die Handlungsweise, auch die Denkweise des Clowns ist eine andere, er folgt einer ›clownesken Logik‹. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Entrée Le sac de pommes de terre: angesichts der sonderbaren Bewegungen im Kartoffelsack, fragt sich Léandre, ob die Kartoffeln möglicherweise schon gesalzen seien.32 Die ›Clownlogik‹ erkennen wir nicht nur bei den Clowns und ihren Gags, sondern ebenso bei den Comici und ihren Lazzi. Worin zeichnet sie sich aus, was ist das Besondere daran? Ein Grundzug ist sicherlich das bereits genannte Mittel der Übertreibung. Wichtige Strukturelemente sind außerdem die Wiederholung, wodurch eine Aktion zu einer Art Refrain wird, sowie die Umkehr im Verlauf einer Aktion, wodurch das Ergebnis das Gegenteil dessen ist, was bezweckt war. Ein weiteres typisches Mittel ist die ›Ansteckung‹: Dabei wird eine besondere Geste oder Bewegung, z.B. ein Stockhieb, von den anderen Figuren übernommen, so dass ein einziger Hieb bald zu einer Massenschlägerei ausartet. Zur clownesken Logik gehört ferner das systematische Missverständnis bzw. Missverstehenwollen, indem etwas konsequent als etwas anderes verstanden wird. Wo authentische historische Quellen von Comici über ihre Tätigkeit fehlen, können Schriften von theaterbegeisterten Amateuren Aufschluss 32 | T. Rémy: Entrées clownesques, S. 246.
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geben, beispielsweise Abschriften existierender canovacci (wie im Fall der Sammlung Scenari più scelti d’istrioni), die in manchen Fällen im Hinblick auf eine eigene Produktion zusätzlich mit ausformulierten Dialogen versehen wurden. In den dramatischen Bearbeitungen von CommediaSzenarien durch Akademiemitglieder des 17. Jahrhunderts zeigt sich, wie die Lazzi erst in Verbindung mit Sprüchen und Witzen ihre Wirkung erreichen: Durch Hinzufügung von ausformulierten Dialogen entsteht aus den canovacci die Form der Commedia ridicolosa, der lächerlichen Komödie.33 Die gelehrten Mitglieder der accademie spielten eine wichtige Rolle bei der Förderung der Literatur, der Künste und der Wissenschaften – und sie interessierten sich auch für die Commedia dell’arte. Die Dialoge, die die Comici auf der Bühne improvisierten, ersannen die Gelehrten in schriftlicher Form mit allen ihnen zur Verfügung stehenden rhetorischen Mitteln. Dem Spieler bietet ein Lazzo oder Gag v.a. die Möglichkeit, artistische und komödiantische Fähigkeiten sowie die eigene kreative Lust am Kombinieren zur Geltung zu bringen.34 Die Lazzi, bei denen ein Sack im Spiel ist, wurden wegen ihres akrobatischen Potenzials beim Hinein- und Herausschlüpfen geschätzt. Durch Verhüllen, Verwechseln, autonome Bewegung des Sacks, Stimmen und Geräusche aus dem Inneren, Schläge auf einen unsichtbaren Körper, boten sich vielfältige Möglichkeiten für komische Effekte. Aufgrund ihrer langen Tradition im populären Theater (nicht ausschließlich in der Commedia dell’arte) erstaunt es nicht, dass Späße mit Säcken und Stöcken ihren Weg ins Repertoire der Clownauftritte fanden. Als weiteres Beispiel aus Rémys Sammlung sei Le duel entre deux clowns von ca. 1850/60 genannt. Mithilfe von Zirkusangestellten steckt Clown Boswell seinen Kollegen Price in einen großen Sack. Bei Boswells Versuch, den Sack zu schultern, öffnet er sich. Price fällt heraus und wird zu den galoppierenden Klängen des Zirkusorchesters von Boswell und Kon33 | Siehe dazu die Studie von Mariti, Luciano: Commedia ridicolosa. Comici di professione, dilettanti, editoria teatrale nel Seicento. Storia e testi, Roma: Bulzoni 1978. 34 | Vgl. Capozza, Nicoletta: Tutti i lazzi della Commedia dell’Arte, Roma: Dino Audino 2006, S. 8. Zum Gag siehe Bouissac, Paul: The Semiotics of Clowns and Clowning. Rituals of Transgression and the Theory of Laughter, London/New York: Bloomsbury Academic 2015, S. 75-105 (Kap. 4, »The Semiotics of Gags«).
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sorten mit Stockhieben verdroschen und hinausgetrieben.35 Hier wird der Sack nach dem gleichen Muster verwendet wie in der Commedia dell’arte: Situationskomik verbunden mit virtuosem Körperspiel. Zur Beliebtheit der Comici und Clowns trägt noch ein anderer Faktor bei, der schwieriger zu benennen ist. Man könnte ihn als die ›Ordnung des autonomen Spiels‹ bezeichnen: Es geht, wie erwähnt, nicht um eine genaue Abbildung des wirklichen Lebens und eine möglichst glaubwürdige psychologische Begründung von Verhalten, sondern um die Konsistenz und Einheitlichkeit einer Spielweise, deren Hauptelement die Ausdrucksformen des Körpers sind.36 Der physische Umgang des Akteurs mit anderen Akteuren oder Objekten ist hier wesentlich intensiver als in Theaterformen, in denen die Sprache das wichtigste Kommunikationsmittel ist. Jeder Lazzo, jeder Gag feiert den Moment, betont das Hic et nunc des theatralen Ereignisses und bezieht v.a. daraus seine komische Wirkung. Denn im Lachen vergisst das Publikum die Routine und Inszenierung hinter aller Spontanität. Hinzu kommt eine gewisse Schadenfreude: Man lacht über Stürze, Kollisionen, Stockhiebe, zumal sie ohne Konsequenz sind und keinen bleibenden Schaden hinterlassen. Wenn sie tatsächlich ernsthafte Folgen hätten, käme es zu einem Wechsel des Genres; der Clown mutierte zu einem Horrorwesen, das die clowneske Logik verzerrt, weil die Handlungen nicht mehr folgenlos blieben. Doch die Wirkung – und das ist mit der ›Ordnung des autonomen Spiels‹ gemeint – entsteht nicht durch die Suggestion von Körperlichkeit, durch das Als-ob des Schauspielers, der einen Schlag nur mimt, sondern durch das wirkliche Stolpern, durch tatsächlich ausgeführte Stockhiebe im Rahmen des Spiels. Im Moment des Schlagens wird die Trennung zwischen Schauspieler und ›Rolle‹ aufgehoben: Der Clown wird nicht gespielt, er ist Ausdruck einer Spielwirklichkeit. Die Körperlichkeit wird nicht wie ein Text in Anführungszeichen gesetzt, sie wird gelebt. Mit einer paradoxen Wendung von Angelo Moscariello bezeichne ich das Spiel der Comici in der Commedia dell’arte sowie der Clowns in den 35 | T. Rémy: Entrées clownesques, S. 141. 36 | Die Forschung befindet sich im Falle der Commedia dell’arte sowie im Hinblick auf den Zirkus in der paradoxen Situation, die Theaterform als arte in praesentia sozusagen in ihrer eigenen Abwesenheit zu studieren. Hierzu Viala, Alain und Mesguich, Daniel: Le théâtre, Paris: Presses Universitaires de France 2011, S. 11-29.
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Entrées als »delirio controllato«,37 was man auf Deutsch mit »beherrschter Verrücktheit« übersetzen könnte oder allgemeiner als Wahnsinn mit Methode. Es werden ›verrückte‹, von sozialen Normen abweichende Verhaltensweisen gezeigt, doch diese sind das Produkt systematisch angewendeter theatraler Techniken und Prinzipien wie übertriebenes Körperspiel und das Durchbrechen der Handlungslogik. Lazzi und Gags sind nicht Bestandteile eines vorhersehbaren linearen Ablaufs und stimmigen Plots, sondern Ausbrüche ins Groteske und Absurde. Sie erfordern virtuose Körperkontrolle: Scheinbar außer Kontrolle geratene Situationen meistern die artistischen Akteure mit kontrollierten Körperbewegungen. Wo sie mit Säcken und Stöcken hantieren, zeigt sich dieses Prinzip besonders deutlich. Die Gegenstände haben nicht mehr den Status dekorativer Requisiten, um das Spiel realistischer erscheinen zu lassen, vielmehr treten sie gleichsam als ›leblose Protagonisten‹ auf und bestimmen die Handlung. Deutsche Fassung des italienischen Originalbeitrags von Ruth Hungerbühler und Richard Weihe
37 | A. Moscariello: Gag, S. 29.
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Clowneske Zirkuskunstfiguren Zu Wandel und Wirken des Zirkusclowns in der Literatur Anna-Sophie Jürgens Le clown! Le poète! […] Un tel être par l’extase, baisé par le rayon des étoiles et toujours vainqueur, est-il le clown ou le poète? Ah! les mêmes caractères, les mêmes mots, les mêmes définitions s’appliquent à l’un et à l’autre, car il y a un rythmeur dans tout acrobate, et il y a dans tout habile arrangeur de mots un acrobate, sachant accomplir des merveilles de pondération et d’équilibre. S’élancer avec agilité et avec certitude à travers l’espace, au-dessus du vide, d’un point à un autre, telle est la suprême science du clown, et j’imagine que c’est aussi la seule science du poète.1
Eine ins Ekstatische reichende Seelenverwandtschaft mit prekärem Gleichgewicht verbindet für Théodore de Banville den Clown und den Poeten. Banvilles Zitat zeugt von der Identifikation und Erhöhung, durch deren Prismen die Autoren des späten 19. Jahrhunderts den ambivalenten Spaßmacher betrachteten, der sie als Künstlergestalt sowie als ein nach eigenen Regeln agierendes Geschöpf anzog und wie der Dandy als Exzentriker geschätzt wurde; als Wesen, das Extremes, Virtuosität und durchaus auch Wahnsinn verkörperte. Hierin liegt Sophie Basch zufolge die Hauptursache für seine Beliebtheit als Protagonist in der (Zirkus-) 1 | Théodore de Banville in Basch, Sophie: Romans de Cirque, Paris: Robert Laffont 2002, S. XXVI.
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Literatur der Jahrhundertwende, zu der sie als Herausgeberin einer Sammlung von Zirkusromanen die These aufstellt: »Pour la plupart, les romans de cirque sont des romans clownesques.«2 Anders verhält es sich in Texten der Postmoderne und Gegenwart, d.h. in jenen Zirkusromanen und zirzensischen Romanen, die in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden. In ihren Manegenwelten fehlt der komische, tragische, wilde oder psychisch labile Zirkusarchetyp ›Clown‹ entweder gänzlich oder aber die Manege selbst. In diesem zweiten, hier im Vordergrund stehenden Fall wird die von der Institution Zirkus entgrenzte und sich dadurch auf ganz spezifische Weise entfaltende Spaßmachergestalt zur ›clownesken Zirkuskunstfigur‹ – ein Phänomen und eine Entwicklung, die dieser Aufsatz vorstellen möchte.
D imensionen des Z irkusclowns vor und zur J ahrhundert wende Der Clown ist ein Manegenarchetyp, der im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Emblem vieler Zirkusse aufstieg und mit seiner notorischen Ambivalenz – v.a. in seinen harmlos-heiteren Ausprägungen – »das Versprechen existentieller Leichtigkeit und deren drohendes Scheitern in einem« darstellt,3 zumeist durch eine bizarre Optik auffällt und mit betont komischer Wirkung der Tücke des Objekts ausgesetzt ist. Nicht selten ringt er in mehr oder weniger grotesker Form mit den Folgen der Zweckentfremdung von Gegenständen, für die er selbst verantwortlich ist,4 und ergeht sich in Variationen »komödiantische[r] Selbstermächtigung angesichts 2 | S. Basch: Romans de Cirque, S. XV. 3 | Christen, Matthias: Der Zirkusfilm. Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg: Schüren 2010, S. 260. 4 | Boxkämpfe mit Gemüsen, für die der Clown Grimaldi bekannt war, sind hierfür ein Beispiel (vgl. Kirschnick, Sylke: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus, Berlin: Theiss Verlag 2012, S. 63). Einer der berühmtesten Clowns der Zirkushistorie, der der Zweckentfremdung von Gegenständen meisterhaft frönte, ist der russische Zirkusclown Wladimir L. Durow, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine Fahrt in einer von einem Schwein gezogenen Schubkarre zu einer dreifachen, durchaus absurden Anzeige gegen sich provozierte: wegen unerlaubter Werbung für den Zirkus, Behinderung des öffentlichen Verkehrs und Fahrens ohne Führer-
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scheinbar unlösbarer Aufgaben«.5 Zirkusclowns der fröhlichen Art, die jonglieren, tanzen, ein Instrument spielen o.Ä., agieren oft naiv, unschuldig und verträumt,6 zeichnen sich durch »Absichtslosigkeit«,7 »selfcontradiction« 8 und manchmal auch durch latent zur Kriminalität neigende Ambitionen aus. Drollig-dreist vermögen sie Hierarchien zu verwirren und respektlos mit gesellschaftlichen Tabus und Konventionen umzugehen; »[t]he clown then is an imposter, arrogating human dignity and status«.9 Im Zirkus fungiert der Clown oft als Kontrastmittel zur Perfektion, Schönheit und physischen Aktion – wenn nicht Gefahr – der Akrobaten und Tiere. Sowohl ihre Fähigkeiten als auch Charakteristika vermag er zu invertieren und simulieren. Hierbei sind seine zumeist sehr virtuos an den Tag gelegten Improvisationen und seine Spontaneität insofern inszeniert, als sie Teil vielfach wiederholter Nummern sind. Der Clown ist einer der komplexesten Zirkusarchetypen, welcher nicht nur als (durchaus schräger) Spaßmacher und Kreat(e)ur poetischer Imagination die Sägespäne aufwühlt, sondern darüber hinaus als Schlingel, Melancholiker und wortwörtlicher ›Mordskerl‹ überall auf der Welt, in und außerhalb von Manegen, immer wieder in Erscheinung tritt. Neben der fröhlichen, mitunter einfältigen Spaßmachergestalt sticht im Zirkuskontext der ›böse‹, gewalttätige Clown ins Auge, der in der Literatur mit Zirkusbezug wesentlich populärer ist als sein possierlicher Verwandter. Im 19. Jahrhundert verkörpert er in virtuosen Artistenstücken auf Theaterbühnen und in Zirkusmanegen eine moderne Ästhetik der schein (vgl. Schechter, Joel: Durov’s Pig. Clowns, Politics and Theatre, New York: Theatre Communications Group 1985, S. 6). 5 | M. Christen: Zirkusfilm, S. 189. 6 | Aktuell spezifizieren dies z.B. der Clown Francesco, wenn er eine Papierexplosion per Fön und Toilettenpapierrolle entfacht, oder das Clownduo Olga und Pierino, wenn sie Seifenblasen oder Unsichtbares mit Riesenköchern zu fangen versuchen (Circus Krone, München [27.02.2014 mit Clown Francesco und 07.03.2014 mit Pierino und Olga]). Pierino wurde u.a. an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio ausgebildet. 7 | Von dem Borne, Roswitha: Der Clown. Geschichte einer Gestalt, Stuttgart: Verlag Johannes M. Mayer 1993, S. 87. 8 | Zucker, Wolfgang M.: »The Clown as the Lord of Disorder«, in: Theology Today 24 (April 1967), S. 306-317, hier S. 307. 9 | W.M. Zucker: Clown, S. 311.
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Gewalt. Diese wurde wegweisend in den französischen Pantomimen des Théâtre des Funambules – in dem Gaspard Deburau, der »Spiritus Rector der Zirkusclowns«,10 zwischen 1819 und 1846 als neu erfundene, kühne, wenn nicht ins Satanische gesteigerte, schurkenhafte und unverschämte Pierrotgestalt mit suspekt-amoralischer Motivation auftrat – als ästhetischer Effekt virtuos inszeniert, und zwar einerseits als komische Exploitation aus dem Gewaltfundus des Melodramas, andererseits auf Basis der Commedia dell’arte. Natürlichkeit war hier deformiert, oder anders: »Deformation ist Kunst – und wird im Lachen als solche affirmiert.«11 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts (nach Deburaus Tod) wurde der Pierrot schließlich infolge des Triumphzugs englischer (Pantomimen-)Performer Clown genannt, v.a. wegen der Brüder Hanlon Lee und ihrer »Art der Pantomime, die hinsichtlich ihres Grades an aggressiver Übertreibung und in ihrer gnadenlosen Ausschlachtung der Motivik des Grässlichen und Grausamen zur veritablen Überbieterin des original französischen Spiels avanciert[e]«.12 Anders als Deburaus – trotz seiner Schuftigkeit – eleganter, delikat weiß geschminkter und stummer Pierrot waren die HanlonClowns mit ihren dicken Wänsten grell angemalt, und ihre insgesamt überbordende Phänotyp-Exzentrik ein Exzess an grotesker Leiblichkeit. Diesen somit sehr vielschichtigen, im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Literatur gewanderten Clown nebst seinen Artgenossen (Gauklern u.a.) verfolgt Jean Starobinski in seiner Studie Portrait de l’artiste en saltimbanque als Identifikationsfigur des Künstlers der Moderne, als »autoportrait travesti« und »épiphanie dérisoire de l’art et de l’artiste«.13 Der dem Schweizer Literaturwissenschaftler zufolge traumzauberhafte Zirkus wurde von den Autoren und Künstlern der Jahrhundertwende als wunderbare Insel, Bruchstück intakter Kindheit, Synonym einer aufregenden Ästhetik, bunte Alternative zur traditionellen Kunst sowie als 10 | S. Kirschnick: Manege frei, S. 64. 11 | Von Brincken, Jörg: Tours de force. Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 2006, S. 203. 12 | J. von Brincken: Tours de force, S. 6. Die Hanlon Lees spielten in Paris u.a. im Cirque Napoléon und präsentierten während der Pariser Weltausstellung als erste den Trick der Zersägten Jungfrau (vgl. Zmeck, Jochen: Wunderwelt Magie, Berlin: Henschelverlag 1966, S. 96). 13 | Starobinski, Jean: Portrait de l’artiste en saltimbanque. Nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur, Paris: Gallimard 2004 (1970), S. 8.
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Mittel zur Restitution des Körperlichen zelebriert – und bot ihnen eine fruchtbare Alternative zum Aroma modriger Wortpilze. Im Zentrum stand hierbei immer wieder der Zirkusarchetyp des erhöhten (sakralisierten) oder erniedrigten, in jedem Fall aber ambivalenten Spaßmachers, den Starobinski nicht nur in seiner melancholischen und tragischen Version, sondern auch in seinen sich durch »une agilité superlative«14 auszeichnenden düsteren Dimensionen richtunggebend bespricht. So ist es nicht verwunderlich, dass viele seiner Schüler Clowns und ihre ›Transzendierung‹ ins Zentrum von Untersuchungen zum literarischen Zirkus stellen; eine Transzendierung, die sich beispielsweise nach Naomi Ritter bei Baudelaire in »the tragedy of modern art« und bei Kafka in »the tragedy of the artist creating it« wiederfindet.15 Ob als kurioses Manegenwesen, als ›buffon-martyr‹ mit ins Transzendentale reichender Sogwirkung oder als makabrer Gewaltgeselle, der Zirkusclown ist im Zirkusring sowie in der Literatur um 1900 in vielerlei Hinsicht überaus präsent. Vor diesem Hintergrund mag es verblüffen, dass er in den seit einigen Jahren so populären Zirkusromanen – wie z.B. Water for Elephants von Sara Gruen (2006) –, die den Alltag von Zirkuskollektiven und -akteuren darstellen und stets auf die Hochphase des historischen Manegenspiels (kurz vor und nach 1900) rekurrieren, kaum thematisiert wird. Vielmehr entfaltet sich der literarische Zirkusclown heute jenseits der Zwänge historischer Authentizität, d.h. losgelöst von der Zirkushistorie und der Institution Zirkus: als neomoderner Gewaltvirtuose und – in zirzensischen Romanen – als clowneske Zirkuskunstfigur.16 Inwiefern 14 | J. Starobinski: Portrait, S. 61. 15 | Ritter, Naomi: Art as Spectacle. Images of the Entertainer since Romanticism, Columbia: University of Missouri Press 1989, S. 73. 16 | Zirzensische Romane präsentieren ein Mosaik von Zirkusverweisen, einen fragmentierten Zirkus. In zirzensischen Texten treten zirkushistorische ›Fakten‹ entkoppelt von der Zirkushistorie auf, sie sind entchronologisiert und dadurch teilweise ins überzeitliche Allgemeingültige enthoben, stehen in neuen Zusammenhängen und verlieren somit ihren historiographisch-faktischen Aussagestatus. Hier bedeutet die Transposition des Zirkussubstrats in die Literatur einerseits eine Reduktion des Manegenspiels, andererseits die Kreation eines neuen Vorstellungsraums. Zirkusromane hingegen sind historische Romane, deren Sujet in einem präzise ausgestalteten historischen Zirkusmilieu angesiedelt ist. Sie führen zirkologisches Wissen, Zirkusvokabular, Zirkustopoi und Zirkusindividua (Verweise auf konkrete
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clowneske Zirkuskunstfiguren spezifisch zeitgenössische Ausprägungen des Zirkusclowns im Roman sind, soll im Folgenden anhand der zum Modell erhobenen Entwicklung der Hirtengesänge nach Wolfgang Iser verfolgt und im Anschluss an einem Textbeispiel veranschaulicht werden.
Von S chafweiden zu S ägespänen und dem H yperbolischen — D ie S pielwiesen des literarischen Z irkusclowns der G egenwart Der Zirkus als paradigmatischer Ort authentischer Extremleistung und trickreicher Scheinerzeugung lebt von der Spannung des Widerspruchs und ist ein Spielfeld vielfältiger Inszenierungen. So zeigt er einerseits physische Kunst, d.h. körperlich-künstlerische Arbeit(en) – beispielsweise am Trapez –, deren Simulation nur katastrophal, wenn nicht tödlich ausgehen kann, konkretisiert andererseits aber auch Dimensionen des Erfindens und Erdichtens, v.a. in der Virtuosität und Exotik, die er verspricht und ausstellt. Zirkustierperformer, als Beispiel, präsentieren Inszenierungen von Natur, etwa wenn sich Gruppen von ›wilden‹ Tigern in geometrischen Formationen zu den Klängen von Synthesizern bewegen. Höchste Wirksamkeit wird in der Manege oft durch größtmögliche Künstlichkeit erreicht, kurz: Zirkus blendet. In diesem Sinn ist seine Äshistorische Personen, Unternehmen etc.) vor. Auf der Basis des sich über diese transhistorischen Parameter vermittelnden Verhältnisses zwischen fiktionalen Erzählgefügen und der Zirkusgeschichte als Stoff können zirkushistorische Romane in dokumentarische Zirkusromane und realistische Kompilationsromane differenziert werden. Zirkusromane schreiben in einem Wechselspiel von Darstellung und Entstellung Zirkushistorie in der Literatur fort, indem sie fiktionalisierte Zirkusgeschichte bzw. deren imaginäre (Re-)Konstruktion zei(ti)gen. Für eine ausführliche typologische Differenzierung und poetologische Charakterisierung des Zirkus im Roman (seit) der Postmoderne, siehe Jürgens, Anna-Sophie: Poetik des Zirkus. Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman. Unveröffentlichte Dissertation, München 2015. Zu den hier nicht betrachteten literarischen Gewaltclowns, siehe dies.: »The Joker. A Neo-Modern Clown of Violence«, in: Journal of Graphic Novels and Comics 5/4 (2014), S. 441-454 und »Das versehrte Lachen. Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur«, in: Kevin Liggieri (Hg.), »Fröhliche Wissenschaft«. Zur Genealogie des Lachens, Freiburg: Karl Alber 2015, S. 298-320.
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thetik eine Ästhetik des Hyperbolischen: des über das Maß (an Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit) Hinausgehenden. In vielen seit dem späten 20. Jahrhundert veröffentlichten Romanen ist der Zirkus entgrenzt, desintegriert und in Versatzstücke zerlegt, wobei seine Akteure, die Zirkusarchetypen, und Konstituenten, wie das zirkustypische Reisen oder zirkusartige Performances, von der Institution Zirkus entbunden sind. Mit Michail Bachtin gesprochen, zeigt sich das Manegenspiel hier als Spur in der Struktur der dargestellten Wirklichkeit, es selbst (als Institution) aber sehen wir nur zum Teil.17 Eine spezifische Form der Neukonfiguration der Zirkuskonstanten findet sich in zirzensischen Romanen. In ihnen weitet sich das Manegenspiel zu zirkushistorisch aufgeladenen Sinnräumen, in denen die Protagonisten in einer durchaus pikaresken Beweglichkeit ihre hyperbolischen Aktivitäten entfalten. Das Treiben von Zirkusclowns in solchen Texten lässt sich, wie diese selbst, über Isers Auseinandersetzung mit der Bukolik fassen. Die Schäfer und ihre Gesänge, die nach Iser ursprünglich auf die niedere Gattung der Ekloge – als ihr Kennzeichen – beschränkt waren, sprengten in der Renaissance das Gattungssystem dadurch, dass sie sich sowohl in dem neuen Genre des Schäferromans festsetzten als auch in andere Gattungen expandierten. In dieser fortlaufenden »Umarbeitung« gewann die Hirtendichtung (wie ihr Rezeptionsprozess) ihre eigene Geschichte.18 Zentrale Merkmale – »archetypische Muster« – der der Entwicklung der Bukolik vorangehenden und zugrunde liegenden Schäfergesänge sind Iser zufolge das Wettsingen bzw. das Agonale, das auf Spiegelung und Überbietung basiere, d.h. auf dem in Wiederholung gebrochenen Eingehen des jeweiligen Sängers auf seinen Widerpart, woraus »ein Umkehrverfahren [resultiert], indem der Spiegel durch die Aufnahme des Gesagten etwas hervorkehrt, das sich als Überbietung zu erkennen gibt.«19 Gerade in diesem Umkehrverfahren und im Überbieten wurzle der Erfindungsreichtum, den die Bukolik auszeichne. Wie Bachtin es für den Karneval verfolgt, entspringt auch in der aus den Hirtengesängen entstehenden Hirtendichtung eine literarische Topik der 17 | Vgl. Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a.M.: Ullstein 1985, S. 186. 18 | Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 61. 19 | W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 62.
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Nachahmung und Interpretation einer lebensweltlichen Situation bzw. letztendlich einer Verschriftlichung, denn »[d]ie Verschriftlichung vermag nun die Natur zu vertreten«.20 Entscheidend ist hierbei, dass die Hirtenwelt durch ihre Ablösung von ihrer ursprünglich Basis, d.h. durch die Abtrennung vom Tagewerk und Alltag bäuerlicher Verrichtungen, zu einer »›poetischen‹ Welt« (gemacht) wurde.21 Im literarischen Text repräsentieren die Schäfer somit nicht die Routinen bäuerlicher Handelns, »sondern eine Dimension, für die ihr Tagewerk nur als Bild möglicher Vorstellbarkeit gedacht ist.«22 Eine Folge dieser Entwicklung, die nach Iser von der Selbstnachahmung der Dichtung beschleunigt wurde, sind bukolische Klischees und Tropen: Die Zeichen benennen nun nicht mehr Gegebenheiten, Positionen oder Substanzen, sondern knüpfen vielmehr Beziehungen, entfalten Bewegungen und verdeutlichen Realisierungen, wobei das nicht mehr Bezeichnete immer – sozusagen per Systemreferenz – mitschwinge. So blieben schließlich von den Schäfern nur Schatten und die Muster einer Tradition, ein Analogon. Nach Iser kann nicht zuletzt durch Akte des Fingierens (z.B. per Selektion und Kombination) eine alte Bedeutung somit zum Material für eine neue nivelliert werden, »um die von jeder Bedeutung erzeugten Verluste gegen diese spielen zu lassen«.23 Die Entwicklung der Schäferdichtung aus den Schäfergesängen kulminierte nach Iser im 17. Jahrhundert, in dem die Macht der Schäferwelt selbst verebbte und die Bildhaftigkeit der Bukolik zu einer integralen Struktur der Literatur selbst (funktionalisiert) wurde. Die Parallelen zwischen Isers Erkenntnissen zur bukolischen Dichtung und dem Manegenspiel, wie es in zirzensischen Romanen erscheint, sind eklatant. Denn während im weltlichen, außerliterarischen Bereich insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (v.a. im Zuge der Verbreitung von Film und Fernsehen sowie der neuen Medien) die kulturelle Bedeutung der ›traditionellen‹ Manegenkunst schwindet, löst sich diese in der Literatur von ihrer originären Definitionsgrundlage: von ihrer Institution und ihrem Tagewerk. Auch der Zirkus wird so zu einer ›poetischen Welt‹ (gemacht), wobei im Zuge dieser Transponierung zen20 | Ebd., S. 74. 21 | Vgl. ebd., S. 71. 22 | Iser, Wolfgang: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1990, S. 11. 23 | W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 389.
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trale Merkmale bzw. archetypische Muster erstarken. Handelt es sich bezüglich der Bukolik v.a. um das das Wechselspiel der Akteure prägende Agonale, so entfaltet sich im Zirkustext, das nun von der Manege, der Institution und seinem Tagewerk entkleidete und befreite, im Wechselspiel der Zirkusarchetypen sich äußernde Hyperbolische. Im Zirkus wird das ›konventionelle‹ oder gängige Maß des Möglichen übertroffen und damit nicht selten über das Glaubwürdige hinausgegangen – ganz wie es im griechischen hyperbolē (›über das Ziel hinaus werfen/schießen‹, übertreffen) angelegt ist. Die Hyperbel als Stilbegriff ist eine extreme sowie im wörtlichen Sinn unglaubwürdige onomasiologische Überbietung des verbum proprium, wobei mit dem Überschreiten der Wahrheit zugleich ein Übertreten des Möglichen verknüpft ist. So wird durch hyperbeltypische Vergrößerungen und Verkleinerungen das Betroffene aus seiner alltäglichen Erscheinungsweise hinaus und ins Unwirkliche bzw. Undenkbare und Paradoxe hineingeworfen.24 Der Hyperbel wohnt also ein (schon in der Antike diskutierter) latenter ›Lügencharakter‹ inne, der für Aufwertungs- und Witzeffekte von Nutzen sein kann. Darüber hinaus vermag die Hyperbel als Zeichen »für die Außergewöhnlichkeit der ekstatischen Erfahrung und der Unmöglichkeit jeglichen adäquaten Sprechens« zu fungieren.25 Nirgendwo ist das Hyperbolische so hoch konzentriert wie in der Kunst der Manege und ihrer (Selbst-)Darstellung außerhalb des Zirkusrings. Hier – d.h. auf Zirkusplakaten, -programmen, -anzeigen etc. – lassen die Pyrotechniker der Zirkusrhetorik seit über 200 Jahren ihre verbalen Feuerwerke in der unerschöpflichen und immer frischen Farbenpracht hyperbolischer Formulierungen explodieren. »Heartpounding power. Show-stopping beauty. Mind-bending strength […] will astound you, surprise you and exceed all of your expectations! […] [A]n unforgettable experience that will be shared for generations!« – so tönt es beispielsweise auch noch 2014 aus einem Programmheft des, folgt man seiner Selbstvermarktung, unsäglich legendären Ringling Bros. and Barnum &
24 | Vgl. Perle, Martin: Die Hyperbel und ihre Verwendung bei Shakespeare, Breslau: Hochschulschrift 1933, S. 8; Naschert, Guido: »Hyperbel«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik IV, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 115122 sowie Johnson, Christopher D.: Hyperboles. The Rhetoric of Excess in Baroque Literature and Thought, Cambridge/London: Harvard University Press 2010, S. 2. 25 | G. Naschert: Hyperbel, S. 116.
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Bailey-Zirkus.26 Über eine Motorradnummer im »claustrophobic cage of courage« heißt es hier in immerfort demonstrativer Hinwendung zum Rezipienten: »With every revolution, these whirling wonders overwhelm you with death-defying dexterity, and you will question whether you live in the realm of reality – or witnessing another unimaginable moment at The Greatest Show On Earth.«27 Diese Beispiele allein aus der Zirkusrhetorik sollen genügen, um zu zeigen, wie exzessiv der Zirkus selbst durch inflationär gestreute Superlative und Alliterationen, durch Proliferierung von Klimaxkonstruktionen, hypertrophe Kompositabildungen und intensive Verben eine Verselbständigung figurativer Rede und luxurierender Ausdrücke generiert – sowie in Folge seine eigene Hyperbolik. Der Zirkus (und zwar nicht nur Ringling Bros. and Barnum & Bailey) stellt sich mittels hyperbolischer Rhetorik selbst als Sphäre gesteigerter Aisthesis dar. Zirkuskunst ist die Kunst des Hyperbolischen. Das Hyperbolische, das die Manegenkunst im Spannungsfeld von Exotik, Virtuosität und Täuschung ausspielt, wird im zirzensischen Roman auf vielfältige Weise aufgefächert und ausgestaltet – als Motiv und Thema sowie in der Narration selbst, als integrale Struktur der Literatur. Hierbei dienen spezifisch clowneske Protagonisten keiner wie auch immer gearteten Identifikation (mehr), sondern erwecken demonstrativ Zweifel. In den hyperbolischen Welten zirzensischer Texte, zu denen z.B. die Romane Illywhacker (1985) und The Unusual Life of Tristan Smith (1994) von Peter Carey zählen, verabschiedet sich die einst so bedeutungsvolle »fatalité interne«28 des tragischen Spaßmachers. Stattdessen zeigt sich exemplarisch, was mit dem »kobolzende[n] Zwitter aus Mensch und närrischer Kunst«29 im Zirkustext seit dem späten 20. Jahrhundert geschieht: Die clowneske Zirkuskunstfigur ersetzt den Zirkusclown. Zirkuskunstfiguren agieren das im Zirkus angelegte Hyperbolische in von vielfältigen Zirkusgestalten bevölkerten Welten demonstrativ aus. Sie stellen eine Ästhetik der irregeführten Wirklichkeit zur Schau, d.h. den Text selbst als Kunst-Stück. Darüber hinaus ergehen sich clowneske Zir26 | Ringling Bros. and Barnum & Bailey/The Greatest Show on Earth: Legends, Programmheft 2014 (o.P.). 27 | Ebd. 28 | J. Starobinski, Portrait, S. 76. 29 | Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 198.
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kuskunstfiguren in Selbsterfindungen. Diese Facette ist im Zirkusarchetyp Clown vorgezeichnet, der Enid Welsford zufolge – ungeachtet aller Inszeniertheit – ein Meister der »art of improvisation« sowie ein (künstlerisches) Fabuliertalent ist.30 Mag es am fortschreitenden Zerbröckeln der realkulturellen (Überprüfungs-)Basis, d.h. der ›traditionellen‹ Zirkusse, oder an der erstarkenden Generalverdächtigkeit liegen, die Tierperformances und damit dieser Art Zirkus generell als manipulierende, inszenierende und überfremdende Gewaltinstanz inzwischen vielfach zugeschrieben wird, die literarische Clownnase ist nun aus Holz und sehr lang. Vermessen lässt sich dieses Phänomen vorzüglich an Herbert Badgery, dem Protagonisten in Peter Careys Roman Illywhacker, und seiner Entourage.
H erbert, die clowneske Z irkuskunstfigur in I llywhacker von P e ter C are y Illywhacker, »a parodic version of the three-generation family saga«,31 verfolgt das abenteuerliche Leben des angeblich 139-jährigen Australiers Herbert Badgery, von ihm selbst erzählt. Der gesamte Roman ist von Zirkusverweisen, -gestalten und -performances durchsetzt, so führt Herbert auf verschiedenen Bühnen des Kontinents u.a. eine zirkusartige Nummer auf, in der er sich unsichtbar zu machen bemüht. Sie gelingt jedoch nur einmal (vor seiner Familie) und dann nie wieder, woraufhin er sein Scheitern in eine Clownnummer umgestaltet. Sein Sohn Charles seinerseits entwickelt sich zu einem begnadeten Tierfänger und -dresseur, der das »Beste Tiergeschäft der Welt« gründet – in dem schließlich eine ganze Menagerie von Familienmitgliedern in Käfigen lebt –, welches von Herberts Enkel Hissao in eine riesige museale Menschschau ›echter Australier‹ umgewandelt wird.32 30 | Welsford, Enid: The Fool. His Social and Literary History, London: Faber & Faber 1968, S. XIIIf. 31 | Hassall, Anthony J.: Dancing on hot Macadam. Peter Carey’s Fiction, St. Lucia: University of Queensland Press 1998, S. 107. Der Roman Illywhacker wird im Folgenden mit der Sigle I zitiert nach Carey, Peter: Illywhacker, St Lucia: University of Queensland Press 2001. 32 | Für eine ausführliche Diskussion dieses Zirkuspanoramas in Illywhacker, vgl. A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, S. 254-276.
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Der Clown dringt laut Welsford auf zwei Wegen in die Literatur ein: »he could provide a topic, a theme for meditation, or he could turn into a stock character on the stage, a stylized comic figure.«33 Eine ›stilisierte komische Figur‹ ist Badgery senior in Illywhacker, auf den darüber hinaus auch die folgende, bezüglich des Böllschen Clowns Schnier geäußerte Feststellung von Rolf Müller zutrifft: »Dem äußeren Zustand des vagabundierenden Zirkusclowns, der von Auftritt zu Auftritt reist, entspricht die geistige Haltung des clownesken Menschen, der sich ständig in der Situation befindet, seine Autonomie und Individualität verteidigen und bewahren zu müssen.«34 Herbert ist aufgrund seiner ständigen Lügen notorisch vieldeutig und sein Kopf voller krimineller Projekte, die Hierarchien sowie gesellschaftliche Tabus unterlaufen. In seiner Polygamie, der Fälschung von Unterschriften oder in seiner Begabung als Improvisator und Dieb kommt seine Ambiguität zum Ausdruck. »I had lived seven years in an odd cocoon, criss-crossing Victoria,« erklärt er z.B., »writing bad cheques when I could get hold of a book, running raffles in pubs, buying stolen petrol, ransacking local tips for useful building materials.« (I, 229f.) In Liebesangelegenheiten verhält er sich genauso unkonventionell, z.B. richtet er sich mit seiner jugendlichen Freundin und späteren Frau (einer von vielen) auf dem Dach ihres Elternhauses einen erotischen Übungsplatz ein, der so lange von ihnen frequentiert wird, bis sie nackt herunterfällt. Das brüskiert die hochkonservativen Nachbarn ebenso, wie Herberts Flugzeuglandung direkt vor ihrer Haustür. Der derartig auftretende Badgery erinnert nicht nur an diverse Pikaros, sondern ist auch ein ambivalenter Spaßmacher, ein Zirkus- und Trickperformer: »Yes, […] the entertaining arts have always attracted me.« (I, 240) So gibt er Showeinlagen mit einer ›dressierten‹ Giftschlange, die er als zahm ausgibt – und die es nicht ist (I, 42, 140; vgl. 239). Clown Herbert präsentiert hierin nicht nur ein »imaginative chaotic play«,35 sondern übertreibt maßlos, wenn er sich immer wieder als Experte auf vielen Gebieten – von der Tierzucht bis zum Flugzeugbau – aufführt. 33 | E. Welsford: Fool, S. 218. 34 | Müller, Rolf: Clowneske Wirklichkeit. Eine Untersuchung der clownesken Elemente in Heinrich Bölls Roman »Ansichten eines Clowns«, Hollfeld: C. Bange Verlag, S. 13. 35 | Riggan, William: Pícaros, Madmen, Naifs, and Clowns. The Unreliable FirstPerson Narrator, Norman: The University of Oklahoma Press 1981, S. 175.
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In seinen Wanderjahren als Performer koordiniert er des Weiteren regelmäßig eine mit seiner Freundin Leah und den Bambini Charles und Sonia in Hotels und Bars inszenierte Schlangennummer, den »snake-trick«, d.h. das vermeintlich zufällige Entdecken und vergütete Entfernen von Giftschlangen, die sie zuvor selbst an jenen Orten ausgesetzt haben (vgl. I, 359). Alle seine Reptiliennummern sind somit von zwielichtiger Anständigkeit. Während ihres von »itinerancy, community and marginalisation«36 bestimmten Wanderlebens führen Herbert und Leah zudem diverse, varieté- bzw. zirkusartige Tanz- und Zaubernummern auf, wobei sie frei von jedem angestammten Programmkontext und den dazugehörigen performativen Routinen der Institution Zirkus agieren. Matthias Christens Erläuterungen zu den Protagonisten in Fellinis Film La Strada (I 1954), gleichfalls institutionell ungebundene Performer, treffen somit auch auf Badgerys Truppe zu: »Als Wanderakrobaten treten sie losgelöst vom Programmverbund mit anderen Artisten und Attraktionen an Orten auf, wo die Trennung zwischen der extraterritorialen Sphäre der Normüberschreitung und dem Alltag verschwimmt, auf Dorfplätzen, am Straßenrand«.37 Herbert, der clowneske Entertainer, kämpft mit scheinbar unlösbaren, oft absurden Aufgaben, wie es für Clowns charakteristisch ist, und jagt den Hirngespinsten selbst erschaffener, allgemein unerwünschter und zudem unmöglicher Projekte nach. Ein Beispiel hierfür ist sein eigenmächtiger Eingriff in die Architektur des Tiergeschäfts seines Sohnes, in dessen vier, von einem Glasdach überspannten Galerien er einen viel zu teuren, monumentalen Stahlträger einziehen lässt, den er selbst, und nur er selbst, ästhetisch findet. Herbert verfolgt hier die Vision der Konstruktion eines Daches, das sich fern jeglicher technischen Realisierbarkeit wie ein Augenlied über den Galerien öffnen und schließen lässt. Außer ihm wünscht sich niemand ein solches Dach. Weitere von Herbert durchgeführte Verschönerungsmaßnahmen wie das Entfernen einer tragenden Wand führen – absichtslos – zu Rissen im Bau sowie zum teilweisen Einsturz der Gebäudedecke.38 Architektur entpuppt sich hier für 36 | St. Leon, Mark Valentine: Circus Dreams. Australian Themes. A Critical Inquiry into Circus in Australia, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008, S. 38. 37 | M. Christen: Zirkusfilm, S. 206. 38 | Vgl. über den Clown: »He is not a revolutionary, but a rebel; not a reformer and promoter of a new and better social order, but a despiser and destroyer of any norms.« (W.M. Zucker: Clown, S. 309f.)
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den durchaus bauerfahrenen Herbert als tückisch; ganz wie ein Buch, das er einem Chinesen entwendet, weil es ihm geheimnisvoll, schwarz und rot dünkt, wobei er seinem Besitzer einen Finger abreißt und daraufhin ins Gefängnis kommt. Dieses »Buch der Drachen« (I, 387), von dem Badgery sich gewisse Offenbarungen und geheimes Wissen erhofft, ist nach dem Diebstahl nicht nur braun (vgl. I, 392), sondern stellt sich auch als ein gänzlich banales Handelslehrbuch voller Geschäftsgeheimnisse eines Krämers heraus. Clown Herbert ist folglich eine Art Juggler,39 d.h. ein Jongleur, der (sich) mit Täuschung blendet, sowie ein recht dilettantischer Manipulator und Zauberkünstler in einem. Er selbst deklariert »juggling or card tricks« als sein ureigenes Element (I, 307) und sein plötzliches Verschwinden im Rahmen jener privaten Performance bezeichnet Sohn Charles als Magie (I, 255). »Another striking manifestation of the clown’s vitality is his sexuality, which is often excessive, uninhibited and licentious. […] The clown’s sexuality, however, may take on other more ambiguous forms: clowns may be androgynous, appear as male-female pairs or engage in cross-dressing.«40 Beim Polygamisten Herbert bilden sich in diesem Kontext sehr partikulare ›ambiguous forms‹ heraus, denn im Alter wachsen ihm genuin weibliche Organe: »I think I’m growing tits. They stuck their callipers into me and measured them. That’d be one for the books if I turned into a woman at this stage of life. It’s only the curiosity that keeps me alive: to see what my dirty old body will do next.« (I, 3f.) Dieses eminente Brustwachstum – »my witch’s tit« (I, 637) – verweist auf den Harlekin-Hintergrund des Clowns, wie ihn Rogan P. Taylor versteht,41 da der Harlekin 39 | Vgl. Fries, Thomas: »Der Jongleur als Erzähler, der Erzähler als Jongleur. Walter Benjamin, ›Rastelli erzählt…‹«, in: Hans-Georg von Arburg (Hg.), Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen: Wallstein 2006, S. 250-269, hier S. 255. 40 | Tobias, Ashley: »The Postmodern Theatre Clown«, in: David Robb (Hg.), Clowns, Fools and Picaros. Popular forms in theatre, fiction and film, Amsterdam/ New York: Rodopi 2007, S. 37-56, hier S. 38. 41 | Für eine differenziertere Sicht auf diesen Hintergrund sowie die Entwicklung des Harlekins in verschiedenen Ländern Europas, siehe Weihe, Richard: »Von der komischen Figur zum Bürger. Harlekin und seine Masken im deutschen Theater«, in: Christiane Kruse (Hg.), Maske, Maskerade und die Kunst der Verstellung. Vom Barock bis zur Moderne, Wiesbaden: Harrassowitz 2014, S. 81-98.
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als »thief and a rogue too, an inspiration to every common vagabond«, die Fähigkeit des Geschlechtswandels besitzt: »In addition to all his other shamanistic talents, Harlequin possessed the hallmark of the most powerful magician shamans. He could change sex when required.«42 Der Harlekin, ein virtuoser Akrobat, Mime, Tänzer, Improvisator und Künstler des Sprachwitzes, wurde als Protagonist von z.B. Harlekinaden gleich Pierrot gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch (Gewalt-)Clowns von Bühnen und aus Manegen verdrängt, denn die Harlekine vermochten den sensationellen wie draufgängerischen Aktionen der Clowns nichts Vergleichbares entgegenzusetzen: »Der faustische Superman Harlekin, für den die Welt einen souverän zu handhabenden Spielball darstellte, weicht dem ungeschickten, naiven ›Schurken‹ Clown, in dessen ›tricks of construction‹ und wildem ›knock-about‹ das Dilemma der Weltorientierung zum Ausdruck gebracht wird.«43 Androgyne Clowns (beispielsweise Auriol) als Nachfahren Harlekins führ(t)en seine Genderambivalenz bzw. die Tradition des ›Geschlechtswandels‹ im Zirkus fort. So hatte beispielsweise Albert Hodgini als »Original Miss Daisy« sehr großen Erfolg,44 was in Illywhackers Original Miss Badgery reflektiert zu sein scheint. Das für Clowns Charakteristische lässt sich in Illywhacker aber nicht nur auf der Motivebene feststellen, sondern auch in der Narration selbst. Bevor Herbert zu Beginn des Romans, dessen Erzähler er ist, dem Leser wortwörtlich empfiehlt, seine Show zu genießen, erklärt er nämlich gleichfalls: »I am a terrible liar and I have always been a liar.« (I, 3) Stellt er hier folglich nicht etwas von ihm selbst demonstrativ in Frage Gestelltes zur Schau? Diese Taktik ist das Markenzeichen des selbsternannten ›Prince of Humbug‹ und Zirkusimpresarios Phineas Taylor (P.T.) Barnum. Er machte im 19. Jahrhundert Freakshows und seinen Zirkus, jene Greatest Show on Earth, weltbekannt, wenn nicht zu internationa42 | Taylor, Rogan P.: Death and Resurrection Show. From Shaman to Superstar, London: A. Bond 1985, S. 74. 43 | Rose-Werle, Krodula: Harlekinade. Genealogie und Metamorphose. Struktur und Deutung des Motivs bei J.D. Salinger und V. Nabokov, Frankfurt a.M.: Lang 1979, S. 51; vgl. 31. 44 | Vgl. Stoddart, Helen: Rings of Desire. Circus History and Representation, Manchester: Manchester University Press 2000, S. 102 und Davis, Janet M: The Circus Age. Culture and Society under the American Big Top, Chapel Hill: University of North Carolina Press 2002, S. 115, 167ff.
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len Institutionen und verstand es meisterhaft, seine Rezipienten mit der vermeintlichen Authentizität – die vielleicht doch ›wahr‹ war? – seiner Darbietungen und Exponate herauszufordern. So präsentierte er, was er gleichzeitig hinterfragte, beispielsweise eine angeblich 161-jährige Frau (Joyce Heth), die zuerst als Amme von George Washington und später, als das Publikumsinteresse abzuflauen drohte, als Automat vorgeführt wurde. Solche ›Schau-Objekte‹ faszinierten sein Publikum wegen ihrer Unglaubwürdigkeit und luden zum Zweifeln ein. Genau diese Art of Deception ist es, um eine Formulierung von James Cook zu verwenden,45 die Herbert Badgery als Erzähler vorführt. Sein Schaustück (oder besser: Kunst-Stück) ist der Roman Illywhacker. Herberts Schöpfung ist eine Erfindung und diese Erfindung seine Schöpfung. Hier rumort ein Rätsel auf der Oberfläche – die reinste Kalyptik.46 Herberts Einbildungskraft, in der seine Art of Deception wurzelt, befähigt ihn, sich immer wieder eigene Welten zu bauen: Mit einer Geliebten lebt er beispielsweise in einem eigenständig ausgehobenen Erdloch (bis eine Kuh hineinfällt und ihr einen Arm bricht), einer anderen zimmert er ein Haus mit einem gestohlenen Betsaal als Wohnzimmer auf einem Grundstück, das nicht ihm gehört. Seine Einbildungskraft ist es aber auch, über die er immer wieder stolpert, und hierin manifestiert sich seine Clownidentität: einerseits, wenn sie versagt, z.B. bei seiner misslingenden Unsichtbarkeitsperformance, andererseits, wenn sie einen Überschuss an Wahrnehmung produziert. Zu diesem Überschuss zählen Herberts Lügen, über die er schließlich selbst reflektiert: »it was, at a time when it seemed too late, that I began to have some understanding of the power of lies« (I, 393). Dass er die Macht der Lügen dennoch nicht versteht, zeigen die unvorhersehbaren Folgen insbesondere einer Verwirklichung seiner Einbildungskraft: Herberts Selbstverwandlung in einen alten, gebrechlichen, aber von allen geschätzten Mann in der Strafvollzugsanstalt, denn »making yourself into a frail man is a dangerous thing and much of it is not reversible. I lost an inch in height during my 45 | Vgl. Cook, James W.: The Arts of Deception. Playing with Fraud in the Age of Barnum, Cambridge: Harvard University Press 2001. 46 | Vgl. Hansen-Löve, Aage A.: »Der Schein trügt. Kunstlügen und Lügenkünste. Dissimulationen«, in: Gun-Britt Kohler (Hg.), Blickwechsel. Perspektiven der slawischen Moderne. Festschrift für Rainer Grübel, München/Berlin/Wien: Verlag Otto Sagner 2010, S. 109-134, hier S. 114.
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ten years in Rankin Downs and I have had trouble with my sciatica ever since. My skin never recovered its tone.« (I, 478) Mit anderen Worten ist es hier letztlich doch weniger die Tücke des Objekts o.Ä., die das Clowneske bewirkt und das Sujet vorantreibt, als die Tücke der Einbildungskraft, die Rache der Täuschung in einer vom Zirkus durchdrungenen Welt. Herbert ist sein eigener hyperbolischer Schöpfer sowie seine eigene clowneske Schöpfung und Übertreibung. So nachdrücklich wie der Zirkus Authentizität und Wahrheit proklamiert, so unabdingbar sind diese in Opposition zu Fälschung und Lüge zu verstehen; beide Sphären bedingen sich und sind schwer voneinander zu trennen. In der Literatur mit Zirkusbezug lassen sich verschiedene literarische Zugänge zu diesem Phänomen herauskristallisieren – ist im zirzensischen Roman als literarische Spielwiese von verschiedenartig auf Täuschung abzielenden Ambitionen vielleicht sogar eine Poetik der Lüge feststellbar?47 In der willentlichen Irreführung liegt jedenfalls eine elementare Affinität zwischen dem zirzensischen Roman und dem Hyperbolischen, das sich in diesem Fall v.a. in der dem Zirkus inhärenten Täuschungsdimension zeigt, »denn die Intentionalität der Lüge, ihre Absichtlichkeit, verrät sich nur im Bereich dessen, wo das Unwirkliche die eigentliche Wahrheit ist«.48 Herbert Badgery ist kein tragischer oder akrobatischer Clown, keine ›épiphanie dérisoire de l’art et de l’artiste‹ im Sinne Starobinskis und mit dem Transzendentalen schwerlich zu verbinden; er ist vielmehr eine von der Ästhetik des Zirkus, die eine hyperbolische ist, durchsättigte Gestalt, die nicht in der Zirkusmanege, wohl aber in einer vom Zirkus geprägten Welt in clownesker Selbsterfindung herumvagabundiert. Er ist eine Zirkuskunstfigur in einer, mit Iser gesprochen, zirkus-›poetischen Welt‹.
47 | Vgl. Kratochwill, Kerstin: Elias Canetti. Experte der Lüge. »Erinnerung«, »Verwandlung« und »Kitsch« als komplementäre Prinzipien der Lüge in den autobiografischen Schriften und dem Nachlass, Würzburg: Ergon 2005, S. 13f. 48 | Mayer, Mathias: »Das rechte Leben und das Falsche lesen? Über den Zusammenhang von Literatur, Lüge und Ethik«, in: ders. (Hg.), Kulturen der Lüge, Köln: Böhlau 2003, S. 245.
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Z irkuskunst (-) leben und das S chreiben — F a zit zum W andel des liter arischen M anegenclowns Am Ende des Romans Illywhacker kulminiert die Zirkuskunstfigur Herbert bzw. die Original Miss Badgery: Sie/Er wird zu einem Greis, der seinen erwachsenen (im Übrigen eventuell nicht verwandten) Enkel stillt, und erreicht somit einen Höhepunkt persönlicher Entfaltung: »I am, at least, the creature I have so long wished to become – a kind man.« (I, 637) Hier wird nicht nur, wie so oft im Zirkuskontext und ganz in der Art von Barnum, die Definition dessen, was vorgeführt wird, in die Hände des Publikums gespielt, sondern auch das clowntypisch Ambivalente internalisiert. Merkmale des Clowns werden, anders formuliert, ins Körperliche und v.a. ins Innere der Protagonisten verlagert, die wie Herbert Badgery nicht nur Zirkusclowns darstellen, sondern sind. »Die Rollen verwachsen mit den Personen und werden so im Zeichen der über die performative Routine hinausweisenden Modellfunktion existenzialisiert.«49 Der Zirkus wird also existentialisiert und dringt – mit den Worten Bachtins – in die »Tiefenschichten« des Textes ein, ist nicht einfach nur »›äußerlich‹ für jeden offensichtlich, sehr anschaulich«.50 In diesem Punkt lässt sich der zirzensische Roman mit jenen Zirkusfilmen vergleichen, denen Christen eine Entspektakularisierung der sujettypischen Attraktionen und ein Verformen der zirkus-spezifischen Stereotypen bescheinigt, denn hier wie dort ist die Manege als Institution, insofern sie vorkommt, nicht mehr der zentrale Schauplatz (wie im Zirkusroman), sondern vielmehr eine Durchgangsstation in der Biographie der Helden, wenn überhaupt.51 Neben der Diffusion von Zirkusmerkmalen und -archetypen aus der Manege sowie ihrer Internalisierung oder Existentialisierung in den Protagonisten fällt im zirzensischen Roman – am Beispiel von Illywhacker – die Identifikation des clownesken Helden mit dem Verfasser von Literatur auf. So bestätigt Careys zirzensischer Text auf seine Weise die von Banville eingangs euphorisch heraufbeschworene Seelenverwandtschaft von Clown und Poet, zeugt aber auch von einer Neuausrichtung, denn die clowneske Zirkuskunstgestalt ist nun selbst ›Poet‹ im weitesten Sinne: Sie ist ein Schreibender, der im Erzählen – d.h. im Erdichten – hyperbolische Welten erschafft. Treff49 | M. Christen, Zirkusfilm, S. 210. 50 | Vgl. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 184f. 51 | Vgl. M. Christen, Zirkusfilm, S. 51 u. 121.
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sicher gilt für den clownesken Helden des zirzensischen Romans folglich: »Erdichten kann sowohl Lügen als auch das Herstellen eines literarischen Kunstwerks heißen. In beiden Fällen geschieht ein Gleiches: das Überschreiten dessen, was ist. Im Lügen wird ein wahrer Sachverhalt überschritten und im literarischen Werk die in ihm wiederkehrende Welt.«52 So zeitigt das Fabuliertalent des Clowns, der im Zirkusring inszeniertes Improvisieren, Simulation und Dissimulation vorführt, in zirzensischen Textmanegen den Text als trickreiche Scheinerzeugung, die absichtsvoll Zweifel schürend einen Kreis abschreitet, in dem Pseudologie zur Schöpfung aufsteigt und Literatur zum Kunst-Werk einer clownesken Zirkuskunstfigur wird. Abb.: Eine Zirkuskunstfigur bei Roncalli 2014: Andrey Ivakhnenko
Foto: Jürgen Bürgin 52 | W. Iser, Fingieren, S. 5. Mit der Dynamik einer Spirale schließt sich hier auch ein anderer Kreis, denn das Wort ›erdichten‹ wird im Grimmschen Wörterbuch nicht nur als ›fingieren‹ verstanden, sondern verweist in einem zweiten Eintrag auf ›erfinden‹. Hiermit kann sich der »freie[n] Erfindung« genähert werden, die Bachtin zufolge karnevalisierte Literatur nährt. Ihre Betrachtung bietet sich wie Isers Ausführungen zur Bukolik maßgeblich für die ausführlichere Definition zirzensischer Romane an (vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: http:// woerterbuchnetz.de/DWB vom 04.04.2015; M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 120 sowie zum Zirkus A.-S. Jürgens, Poetik des Zirkus, S. 209-219).
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Geistesgegenwart und Phantasie Über die Filmkunst Charlie Chaplins Renate Jurzik
Als ich mich vor Jahren mit dem Stoff des Lachens befasste, war Chaplin nicht mein Lieblingskomödiant, sondern Buster Keaton, dessen Verlorenheit mir charakteristischer schien für die moderne Zivilisation: Ein Held, der den Umgangsformen einer verdinglichten Massengesellschaft mit seinem unbewegten Gesicht begegnet, dem jede Spontaneität, die Zumutungen der Welt zu unterlaufen, fehlt. Ganz anders Chaplin. Der Tramp, den er kreierte, gleicht einer Figur aus dem vorvorigen Jahrhundert, die einem Roman von Dickens entsprungen sein könnte. Mit seinem kindlichen Sadismus, seinem Protest, der von Wünschen beflügelt ist, verkörpert er das Gegenteil von Buster Keaton. Er ist ein Trickster im Bunde mit magischen Kräften – von einer Unbesiegbarkeit, die mir märchenhaft schien. Von unangefochtener Faszination aber ist die Geistesgegenwart und die Imaginationskraft: die seines Helden in den Katastrophen des Alltags und die des Künstlers angesichts der Katastrophen seiner Zeit. Analysieren wir zunächst die Geistesgegenwart der Filmfigur Chaplins: von Charlie,1 dem Tramp. Wie kann man sie besser begreifen, als sich Szenen seiner Filme ins Gedächtnis zu rufen wie z.B. die Anfangsszene aus dem Film The Adventurer (USA 1917, R: Charlie Chaplin). Charlie ist gerade aus dem Gefängnis entkommen und flieht vor den Polizisten. Längst hat er sie auf staubigem Gelände hinter sich gelassen. Statt seinen Vorsprung mit Erleichterung zu genießen, wird er übermütig, 1 | Wenn von Charlie die Rede ist, dann ist die Filmfigur gemeint; Chaplin meint den Künstler, der diese Figur kreiert hat und sich im Tonfilm dann nochmal neu erfindet.
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bewirft sie mit Steinen und vergewissert sich schadenfroh, dass seine Steine auch treffen. Wir lachen mit unserem Helden über diesen kindlichen Sadismus, aber wir sind schon einen Schritt weiter. Wir sehen bereits den Polizisten, der hinter ihm steht und ihn bei seinem frechen Treiben beobachtet. Und wir warten auf den Moment, in dem Charlie dies auch bemerken wird. Als Charlie endlich den Stiefel des Polizisten erblickt, deckt er ihn mit einer raschen Handbewegung mit Sand zu, stellvertretend für den ganzen Mann, als könnte er ihn so zum Verschwinden bringen. Wir lachen über die Unzulänglichkeit seiner kindlichen Reaktion, werden aber sofort eines Besseren belehrt. Sein Verfolger ist – wie auch wir – von dieser Reaktion überrascht, und so nutzt Charlie den kurzen Moment der Verblüffung, um wegzurennen. Er ist schlagfertig, nicht mit Worten, sondern im Handeln. Am Ende rettet er sich mit einem Sprung ins Wasser. Wir lachen nicht nur, weil er durch diesen Trick entkommt, sondern weil wir in den Abgrund solch kurzfristiger Katastrophenverarbeitung blicken. Für den Moment darf Charlie triumphieren. Rettungsunternehmen dieser Art finden sich viele in Chaplins Filmen. Auf diese Momente hin sind sie inszeniert. Und immer ist es nicht bloß der Zufall, der Charlie rettet, sondern seine unglaubliche Geistesgegenwart im Augenblick des Schrecks, »seine grenzenlose Phantasie angesichts der Gefahr«, wie der Filmkritiker André Bazin schreibt.2 Während Buster Keaton unendliche Anstrengungen auf sich nehmen muss, um ans Ziel zu gelangen, erspart sich Charlie die Anstrengung und wählt den kürzesten Weg, indem er jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packt; sei es seinem Hunger abzuhelfen, einen Flirt anzufangen oder einem Widersacher eins auszuwischen. Frei von jeglicher moralischen Hemmung fügt er mit kindlichem Sadismus seinem Gegner Niederlagen zu und kostet sie genussvoll aus. Er greift an, wenn der Gegner gerade wegsieht. Wenn ihn der Blick des Gegners trifft, zieht er den Hut. Wenn es gefährlich wird, rennt er davon. Dafür, dass sich der ›kleine Mann‹ mit nichts als seinem Witz, seinem Mut und seiner Schläue gegen die ›Mächtigen‹ wehrt – Polizisten und andere Ordnungshüter –, erfüllt er die Sehnsucht nach Umkehr der gesellschaftlichen Ordnung, von der alle Komik lebt.
2 | Bazin, André: »Charlie Chaplin«, in: Wilfried Wiegand (Hg.), Über Chaplin, Zürich: Diogenes Verlag 1978, S. 141. Vgl. Bazins ausführliche Analyse derselben Szene aus dem Film The A dventurer, S. 139ff.
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Lassen wir den Film The Adventurer ein paar Bilder weiterlaufen. Als er außer Reichweite seiner Verfolger aus dem Wasser steigt, hört er Hilfeschreie einer Ertrinkenden. Charlie springt sofort ins Wasser zurück. Als er erkennt, wie alt die Ertrinkende ist, überlässt er sie ihrem Schicksal, um sich dem nächsten Opfer zuzuwenden, nachdem er sich vergewissert hat, dass sich bei ihr die Rettung lohnt. Erst dann kümmert er sich um ihre Mutter, schließlich zieht er auch noch den Ehemann aus dem Wasser, den er dann versehentlich wieder ins Wasser fallen lässt und am Ende muss Charlie selbst gerettet werden. Als er schließlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, liegt er in einem Bett mit gestreiftem Schlafanzug, der einem Sträflingsanzug gleicht. Verwundert gleitet sein Blick über den Pyjama, die Gitterstäbe des Bettes, wir erraten, er wähnt sich zurück im Gefängnis. Da kommt ein Diener mit Wäsche herein. Mit einem Schulterzucken schüttelt er den Alptraum ab, um den feinen Herrn zu mimen, dem zuvorkommende Behandlung zusteht. Die so raschen Wechsel, die die Situation und mit ihr die sozialen Machtverhältnisse von einem zum anderen Moment umstürzen, bringen uns zum Lachen, ohne dass wir begreifen, wie uns geschieht. Chaplin hat den Lachdialog mit dem Publikum in einem seiner frühen Filme reflektiert: The Circus (USA 1928, R: Charlie Chaplin). Der Zirkusdirektor will Charlie als Clown engagieren, aber weil er nicht lustig findet, was Charlie als Komik anbietet – nämlich verschiedenste lächerliche Gangarten –, lässt er seine Clowns eine Szene aus ihrem Repertoire vorspielen, die Charlie nachahmen soll: eine Situation beim Barbier. Charlie kippt fast vom Stuhl vor Lachen als die Clowns sich gegenseitig mit großen Pinseln den Rasierschaum eimerweise ins Gesicht klatschen. Der Theaterdirektor wirft ihm einen bösen Blick zu. Charlie soll die Szene gleich nachspielen, aber er verpatzt den Gag. Jedes Mal, wenn der Barbier ausholt, um ihm den Pinsel übers Gesicht zu schmieren, weicht er zurück. Er ist untauglich für die Rolle des Zirkusclowns. Wir lachen über seinen Widerstand, sich die Demütigung, die die Rolle vorsieht, gefallen zu lassen. Die Szene klärt uns gleichzeitig über die Rolle des komischen Helden auf – eine Aufklärung nicht mit Worten, sondern als darstellende Erkenntnis. Was Charlie als Zuschauer lustig fand, findet er nicht mehr lustig, wenn es an ihm selbst exekutiert wird. Der fundamentale Seitenwechsel, der von ihm verlangt wird, führt das Spiel der Affekte vor. Komödiant und Zuschauer sind Gegenspieler. Damit wir lachen, muss der Clown sich selbst zum Opfer machen. In The Circus
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sind es dann nicht die Clowns, die das Publikum zum Lachen bringen, sondern Charlie, der unfreiwillig als Assistent eines Magiers durch sein ungeschicktes Agieren die gesamte Trickkiste des Magiers im wörtlichen Sinn auffliegen lässt. Die Tauben, die der Magier aus dem Hut zaubern sollte, flattern bereits vor dem Auftritt des Magiers davon, weil Charlie die falschen Knöpfe drückt. Der Tramp ist unvergleichlich komischer als der Zirkusclown. Die Muster, nach denen der Zirkusclown funktioniert, sind dem Publikum zu bekannt, als dass sein Agieren noch Überraschungen hervorriefe. Chaplins Tramp dagegen bringt uns zum Lachen, ohne dass wir den Mechanismus der komischen Technik durchschauten. Der Tramp, der unsere Affekte durch überraschendes Handeln umstürzt, ist der bessere Komödiant – auch deshalb, weil er sich gegen die Rolle wehrt, Demütigungen auf sich zu nehmen, damit wir uns lachend davon befreien. In dieser Verweigerung ist er gleichzeitig Widerstandsfigur. Die Katharsis, in der Tragödie durch Rührung und Schrecken erzeugt, erfolgt in der Komik durch ständige Umkehr der Affekte. Angesichts der Gefahren, denen der komische Held ausgesetzt ist, fiebert das Publikum in einem Augenblick mit ihm mit, indem es sich mit dem Helden identifiziert, im nächsten freut es sich über seinen Widerstand, um im übernächsten Augenblick diese Identifikation zu durchbrechen und mit ihr Schicksal zu spielen. In einem Moment leiden wir mit dem komischen Helden mit, im nächsten lachen wir ihn aus, im übernächsten freuen wir uns darüber, dass er sich die Demütigungen nicht gefallen lässt. Mitleid, Sadismus und Triumphgefühle wechseln schneller als man denken kann.3 Komik beruht auf einem Rollentausch. In der griechischen Komödie durften sich die Zuschauer so fühlen wie einst die Götter, die vom Olymp aus den Menschen zuschauten, wie sie sich im Kampf gegeneinander abzappelten und dabei selbst in Streit gerieten.4 Der Clown – stellvertretendes Opfer und Widerstandsfigur zugleich – hat nichts zu lachen. Im Gegenteil: Wenn der Clown lacht, so wissen wir: das Schicksal wird ihn
3 | Vgl. Jurzik, Renate: Der Stoff des Lachens. Studien über Komik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1985, S. 8f. 4 | Vgl. Heinrich, Klaus: »›Theorie‹ des Lachens«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg), Lachen – Gelächter – Lächeln, Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt a.M.: Syndikat Verlag 1986, S. 19 sowie 31f.
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auf dem Fuße ereilen. Wie das Lachen im Märchen beschwört das Lachen des Clowns die Katastrophe herauf. Hierzu eine Szene aus The Kid (USA 1921, R: Charlie Chaplin). Charlie flirtet mit einer Frau, deren Fensterscheibe er gerade repariert hat; das Kind hat sie kurz zuvor eingeworfen. Während sie also vor dem Fenster stehen und zusammen scherzen, sehen wir, wie der Ehemann nach Hause kommt. Zu unserer Erbauung ist es genau der Polizist, der Charlie bereits im Visier hatte. Wir sehen ihn hinter der Scheibe stehen, verfolgen, wie er die beiden beim Flirt beobachtet, und warten darauf, dass er gleich rauskommen wird, um Charlie eine Abreibung zu erteilen. Komisch ist diese Szene gerade deshalb, weil wir dem Helden um einen Augenblick voraus sind. Wir kennen bereits, das Schicksal, das ihm blüht und warten in sadistischer Vorfreude darauf, dass es ihn ereilen wird. Eine andere Szene aus The Kid, die unsere ›olympische Perspektive‹ verdeutlicht, ist diese: Man sieht den Tramp und das Kind nach Hause gehen, gefolgt von dem Polizisten. Der Polizist kombiniert gerade verschiedene Beobachtungen, die er vorher gemacht hat, und begreift in diesem Moment den Zusammenhang: das Kind mit einem Stein in der Hand, eine zerschlagene Scheibe, Charlie, der die Scheibe repariert. Charlie ahnt, dass der Polizist sie besser nicht zusammen sehen sollte. Nur das Kind ist arglos und ergreift nach der gelungenen Aktion die Hand seines Vaters, um mit ihm nach Hause zu gehen, Charlie aber verpasst ihm Fußtritte, um es wegzujagen; eine Geste, die das Kind zunächst nicht versteht, sondern erst als es sich umdreht und den Polizisten erblickt. Die Spannung löst sich in einer Verfolgungsjagd: Erst rennt das Kind, dann Charlie, dann der Polizist. Wir erraten gleichzeitig – rein filmisch dargestellt – die Gedanken aller Beteiligten, die in je unterschiedlichen Zeittakten das Ganze der Situation begreifen. Ihren Reiz bezieht die Situation aus der Differenz des Denkens der Protagonisten und der Differenz unseres Wissens zu dem der Protagonisten. Wir als Zuschauer sind amüsiert, weil wir alle durchschauen und aus der Distanz, die uns dieses Wissen verschafft, das größte Vergnügen ziehen (Abb. 1).
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Abb. 1: Charles Chaplin und Jackie Coogan in The Kid
Foto: ©John Springer Collection/Corbis
Wie bewirkt die Komik – wie alle Worte mit dem Suffix ›-ik‹ bezeichnet sie eine Technik –, dass wir über Missgeschicke lachen und uns dabei gut fühlen? Für den Kippmoment der Affekte ist der Gag zuständig. Der Komödiant imaginiert das Publikum bei der Platzierung seiner Gags.5 Aber wie die Pointe nicht der Höhepunkt des Witzes ist, sondern nur das Bestechungsgeld, um die Kontrollinstanzen zu entwaffnen, damit dem Verpönten – der Aggression, der verbotenen Lust – einen Moment lang zum Durchbruch verholfen wird,6 so ist der Gag nicht der Höhepunkt der komischen 5 | Vgl.: »Wie bekommt man Einfälle? Indem man bis an die Grenzen des Wahnsinns beharrlich bleibt.« (Chaplin, Charlie: Die Geschichte meines Lebens, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1964, S. 213) 6 | K. Heinrich: »Theorie« des Lachens, S. 24, vgl. auch Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Gesammelte Werke VI, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1973.
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Situation, sondern die Katastrophenlust, die der Komiker heraufbeschwört. Wir vergessen die Witze schnell, nicht aber das Lachen; wir vergessen die komischen Tricks, nicht aber die Katastrophen, in denen der komische Held sich abzappelt. Komik lebt nicht nur vom kurzen Moment der Revision des Verdrängten, sondern vom Ausagieren der Katastrophen. Bilder, mit denen der Volksmund das Lachen beschreibt, ›sich krank lachen‹, ›platzen vor Lachen‹, ›beben vor Lachen‹ oder gar ›sich totlachen‹ weisen auf seine Gefährlichkeit hin. Theodor Reik hat die konvulsivische Bewegung des Lachens als »Abzittern« von Angst beschrieben, das uns aus der Erstarrung lösen soll, in die uns das Schicksal allzu oft zu versetzen droht.7 Der Komödiant muss ein Gespür für die Bedrohungen und Ängste seiner Zeit haben. Wo es gelingt, in kleinen Szenen die großen Katastrophen anzuspielen, ist Komik brisant. Insofern Komik darstellende Erkenntnis ist, distanziert sie von den Katastrophen. Wir müssen uns nicht mit der Angst – wie in der Tragödie – identifizieren, sondern können uns lachend der Verantwortung begeben. Ob das Lachen beim Ausagieren stehen bleibt oder ob es darüber hinaus Katastrophenverarbeitung leistet, bleibt zu fragen.8 Die großen Komödianten auf dem Theater, allen voran Molière, wie im Film – Buster Keaton, W.C. Fields, die Marx Brothers, Woody Allen – waren Autoren, Darsteller und Regisseure in einer Person. Der Film hat dabei durch seine technischen Mittel weit größere Möglichkeiten, Katastrophen auszuagieren als der Zirkus oder das Theater. Der Komödiant scheint existentieller mit seiner Rolle verbunden zu sein als jeder dramatische Schauspieler. Wenn er schon freiwillig die Opferrolle auf sich nimmt, so muss sie wenigsten in eigener Regie verantwortet sein. Heiner Müller hat diese Selbsthinrichtung des komischen Darstellers – aus eigener Erfahrung als Künstler – reflektiert: »Meine erste Erinnerung an Chaplin ist die Erinnerung an eine Irritation. Was mich anzog, war der Terror seiner kalten Schadenfreude auf der Rollschuhbahn oder am Fließband, was mich abstieß, das Obszöne seiner Komik in der Angst vor dem feindlichen Riesen. Ich mochte das nicht und ich mochte auch nicht, dass ich es 7 | Reik, Theodor: Lust und Leid im Witz. Sechs psychoanalytische Studien, Wien: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1929, S. 113. 8 | K. Heinrich: »Theorie« des Lachens, S. 30, Klaus Heinrich hat dafür – analog zur Trauerarbeit bei Sigmund Freud – den Begriff der Lacharbeit geprägt.
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nicht mochte. Wenn so viel zappelnde Selbstentblößung der Preis des Überlebens war, wollte ich wider mein besseres Wissen lieber Goliath sein. Ich wusste noch nicht und ich ahnte schon, dass man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will. Wir schießen alle aus der Hüfte, und etwas ausrichten heißt in der Kunst etwas hinrichten, zuerst sich selber.« 9
Zuerst sich selber. Wir können hinzufügen: Diese Selbst-Hinrichtung trifft in der Tat das Wesen der Komik, sie ist das Herzstück der Kunst des Clowns und aller seiner Nachfolger im Theater und im Film. Aber indem der komische Held wider alle Regeln der Vernunft in den Katastrophen triumphiert, ermöglicht er uns, nicht ihn, sondern die Katastrophen auszulachen. Darin liegt die Befreiung. Das Vergnügen an den großen Filmkomödianten wie Chaplin und Keaton und auch den Marx Brothers liegt nicht nur im Einfallsreichtum ihrer Gags, sondern darin, dass sie unverwechselbare Figuren geschaffen haben, Charaktere die – einmal erfunden – alle ihre Filme kennzeichnen, wogegen der Theaterkomödiant in jedem Stück einen neuen Typ verkörpert. Keaton kreierte den Mann, der nie lachte, Chaplin den Tramp. Keatons Maske, sein unbewegtes Gesicht, ist im Lachdialog mit dem Publikum entstanden. Auf der Bühne machte Keaton die Erfahrung, dass die Zuschauer immer dann am meisten lachten, wenn er todernst blieb. Nur mit unbewegtem Gesicht hielt er auf der Bühne dem Sadismus des Publikums stand.10 Chaplin erfand die Maske des Tramps eines Tages, als sie in der Garderobe rumalberten. »Ich wusste nicht, wie ich mich schminken sollte. Als ich auf dem Weg zur Requisitenkammer war, kam mir jedoch die Idee, ausgebeulte Hosen, riesige Schuhe, einen Spazierstock und eine schwarze Melone als Kostüm zu wählen. Alles sollte einander widersprechen. Die Hose musste weit, die Jacke eng, der Hut klein, das Schuhwerk groß sein. Sobald ich das Kostüm am Leibe hatte, ließen mich Kleider und Schminke fühlen, was für ein Mensch das war. An ihm entzündeten sich alle möglichen verrückten Ideen, von denen ich niemals geträumt hatte, bevor ich geschminkt und als Tramp hergerichtet war«.11 9 | Müller, Heiner: »Ich wollte lieber Goliath sein. Hommage à Chaplin«, in: Die Zeit vom 06.01.1978, S. 30. 10 | Vgl. R. Jurzik: Der Stoff des Lachens, S. 107-143. 11 | C. Chaplin: Die Geschichte meines Lebens, S. 211f.
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Eine Maske, die spielerischer und anarchischer angelegt war als die Keatons; die in ihrer Widersprüchlichkeit erlaubte, verschiedenste Facetten der Figur auszuspielen – die des Vagabunden genauso wie die des feinen Herrn: Der Tramp zieht seinen Hut als Geste der Verehrung – die Verehrte kann dabei auch ein Huhn sein, das ihm ein Ei gelegt hat – oder er bekundet damit seine Unterwürfigkeit vor einem bedrohlichen Gegner, um ihn davon abzulenken, dass er ihn gerade bestohlen hat. Oder er schwingt elegant seinen Stock, um im nächsten Moment jemanden damit zu Fall zu bringen. Warum brauchen komische Darsteller eine Maske? Weil nur die Maske dem Chaos standhält, die der Held beschwört. Die Maske verleiht dem Maskenträger eine Macht, die er sonst nicht hat. Mit seinem unbewegten Gesicht taucht Buster Keaton zurück in die Gattung, wappnet sich gegen den drohenden Untergang des Subjekts in der modernen Zivilisation, der er als individuelle Person nicht gewachsen ist. Die Maske des Tramps erlaubt Charlie die Freiheit, gesellschaftliche Regeln zu übertreten, ohne die Sympathie des Publikums zu verlieren; eine Verwandlung zum Unzivilisierten, während er gleichzeitig eine kindliche Unschuld bewahren kann. Als Chaplin sich im Tonfilm von der Maske des Tramps verabschiedet, klappt der Rollentausch nicht mehr. Das Publikum reagierte verärgert und irritiert. Wie hat Chaplin seinen Tramp entwickelt? Die Gesetze des Slapsticks empfand er bald als zu beschränkt. Die Slapstickkomödien reihten komische Szenen aneinander nach der immer gleichen Dramaturgie; zumeist Verfolgungsszenen, die im Chaos endeten. Der Tramp sollte einen komplexeren Charakter erhalten, anstatt sich nur in einem von elementaren Instinkten geleiteten Überlebenskampf durchzuschlagen. »Die Lösung kam mir, als ich den Tramp als eine Art Pierrot auffasste. Diese Auffassung ermöglichte es mir, mich freier auszudrücken und die Komödie durch den Zauber des Gefühls zu verschönen«,12 schreibt Chaplin in seiner Autobiographie. Das hatte freilich Konsequenzen für den Katastrophenstoff, den seit jeher das Geschlechterverhältnis der Komödie liefert. In seinen frühen Filmen war Chaplin kein romantischer Schwärmer. Seine Eroberungen waren hemmungslos. Mit jeder hübschen Frau, kaum hat sie die Szene betreten, beginnt der Tramp einen Flirt. Chaplins späte Filme dagegen sind romantische Märchen. Plötzlich ist sich der Tramp der Klassenunterschiede bewusst; seines abgerissenen Äußeren wegen gehemmt. Statt frecher Annäherungen versucht er die Frauen mit 12 | Ebd., S. 212.
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höflichem Charme und Manieren zu gewinnen. »Es war dabei natürlich schwierig, das Interesse des Mädchens an dem Tramp zu begründen«, so beschreibt Chaplin das Problem, das er sich damit eingehandelt hatte.13 Das Mädchen in Citylights (USA 1931, R: Charlie Chaplin) ist blind. Für sie kann der Tramp nur so lange den reichen Verehrer spielen, bis sie das Augenlicht zurückgewinnt. Die Schwierigkeiten, in die Charlie in dem Bemühen gerät, diese romantische Rolle durchzuhalten, bilden den komischen Stoff des Films. Die erste Szene, auf der die ganze Geschichte des Films beruht, soll zweierlei rein darstellerisch begreiflich machen: dass das blinde Mädchen Charlie für einen reichen Herrn hält und dass Charlie diesen ihren Irrtum errät und geistesgegenwärtig darin die Chance erkennt, ihr in der Rolle des Verehrers nahe zu sein. Während das Mädchen – im Glauben, er sei in ein Taxi gestiegen – dem Herrn nachsinnt, dem sie eben eine Blume verkauft hat, setzt Charlie sich heimlich neben sie. Kaum sind wir von der Szene angerührt, schüttet sie – die ihn nicht bemerkt – ihm das Blumenwasser ins Gesicht, er aber darf sich nicht verraten. Die Anfangsszene, in der er dem blinden Mädchen das erste Mal begegnet und die Schlussszene, in der sie – sehend geworden – die Wahrheit erfährt, zeigen seine ganze Kunst, das Wechselbad der Gefühle zu inszenieren. Das Mädchen in The Gold Rush (USA 1925, R: Charlie Chaplin) erlaubt sich einen Scherz mit dem Tramp, den es als echte Chance missversteht. Wie Charlie sich bemüht, seines abgerissenen Äußeren zum Trotz feine Sitten herauszukehren, wie er die Angebetete zum Tanz auffordert, wobei er seine Hose zu verlieren droht und dennoch schwungvoller tanzt als alle anderen, und schließlich wie er die Damen mit höflicher Geste zu sich zum Dinner einlädt, ist von herzzerreißender Komik, zumal wir wissen, dass sie mit seinen Gefühlen spielen. Natürlich erscheinen sie nicht zum Dinner und als Charlie allein vor dem nach allen Regeln der Etikette gedeckten Tisch sitzt, fängt er über dieser Enttäuschung zu träumen an. Anstelle einer Tischrede – so entschuldigt er sich höflich – gibt er den imaginierten Gästen eine kleine Vorstellung: den berühmten Brötchentanz. Er ist von einer Poesie, die ihren Reiz gänzlich unabhängig von der Geschichte entfaltet (Abb. 2).
13 | Ebd., S. 211.
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Abb. 2: Charles Chaplin in The Gold Rush
Foto: ©American Stock Photography/ClassicStock/Corbis
Wie der Tramp in The Gold Rush seinen Hunger stillt, indem er einen Schuh tranchiert und mit Genuss verspeist, als wäre er das köstlichste Huhn, und dabei den Schnürsenkel geschickt um die Gabel wickelt, als hätte er einen Teller Spaghetti vor sich, ist komisch und poetisch zugleich. Wir lachen über diese Imagination und sind gleichzeitig gerührt, weil sie im krassen Widerspruch zum tatsächlichen Elend steht und doch nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für den Zuschauer von vollendeter Suggestion ist. Die Komik wird gesteigert durch den Gegensatz zu seinem Gefährten, mit dem er die Hütte teilt. Er vermag seinem Schuh keinerlei Imagination eines köstlichen Mals abzuringen. Der Hunger treibt ihn in die Halluzination, sein Leidensgefährte sei ein riesiges Huhn, dem er folglich mit dem Messer und schließlich mit dem Gewehr bedrohlich zu Leibe rückt. Der Überlebenskampf bildet auch in diesen Filmen den Katastrophenstoff, aber der Widerstand des romantischen Tramps besteht nicht mehr in hemmungsloser Instinktbefriedigung, sondern in der Unbesiegbarkeit der Wunschkraft, die die Klassenschranken, die seine Armut ihm auferlegt, überflügelt. Das ganze Spektrum romantischer Gefühle wird in den kathartischen Prozess einbezogen. Die Poesie, die aus der ›Verschö-
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nerung durch Gefühl‹ entspringt, hat allerdings einen Preis: Sie geht auf Kosten der anarchischen Befreiung. In Modern Times (USA 1936, R: Charlie Chaplin) kehrt die anarchische Energie zurück. Modern Times ist ein Aufstand gegen die Fließbandtechnik mit den Mitteln der Komik. Chaplin nutzt in diesem Film dieselbe Technik, die Instrument der Knechtschaft ist, um seine Gags daran zu heften, und er lässt seinen Helden Charlie dieselbe Technik, die ihn und alle Arbeiter zu Marionetten verdammt, zur Gegenwehr nutzen. Mit den lachenden Augen eines bösen Kindes spielt Charlie an den teuflischen Hebeln herum, die die Maschinerie in Gang halten, befördert er den Vorarbeiter zwischen das Räderwerk, drangsaliert er die Arbeiter, mit denen er eben noch das Schicksal teilte, indem er das Band beschleunigt. Während er – euphorisiert durch diesen Streich – einen grazilen Tanz vollführt, verfolgt er eine Frau mit der Schraubzange, weil ihn die Knöpfe ihrer Bluse an die Schrauben erinnern, die er in immer gleicher Bewegung am Band festzurren musste. In der unbefangenen Frechheit erkennt man den Tramp der frühen Filme wieder, die kindliche sadistische Lust, ein Handeln, ganz aus dem Augenblick, widersprüchlich und anarchisch, frei von moralischen Fesseln (Abb. 3). Abb. 3: Charlie Chaplin in Modern Times
Foto: ©Corbis
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Während die Erfindung des Tonfilms für alle Stummfilmregisseure und Pantomimen einen Einschnitt darstellte, den die wenigstens von ihnen in ihrer Kunst gemeistert haben, gelang es Chaplin in dieser Zeit noch zwei seiner erfolgreichsten Stummfilme zu drehen, Citylights und Modern Times. Modern Times war der letzte Stummfilm, den Chaplin drehte. Der Tonfilm war damals schon zehn Jahre alt. Danach sah auch er keine Chance mehr, als sich der neuen Technik zu stellen. Aber wie hätte der Tramp sprechen sollen? In Modern Times gibt es Sprachfetzten, sie kommen aus der Sprechanlage in der Fabrik. Sprache dient ebenso der Zurichtung wie die Maschine. Am Ende des Films liefert der Tramp eine Variéteszene mit Gesang. Seine Worte sind ein Kauderwelsch, dessen Botschaft sich rein mimisch entschlüsselt. Doch die unartikulierte Lautsprache taugte nicht als dauerhafte Antwort auf die Erfindung des Tonfilms. Und auch die gesellschaftliche Entwicklung machte es schwierig, am Tramp festzuhalten. Die rein menschliche Befreiung, die der Tramp in Modern Times das letzte Mal verkörperte, stellte angesichts der großen Depression und dem in Europa angezettelten Weltbrand keine Befreiung mehr dar. Chaplin hat in The Great Dictator (USA 1940, R: Charlie Chaplin) – die Dreharbeiten begannen noch vor Ausbruch des Krieges – die Konsequenz aus der Erfahrung gezogen, dass der Tramp zu harmlos war angesichts der politischen Katastrophe, die die Welt erschütterte. Der Autor Chaplin und der Darsteller nahmen die Herausforderung an, dieser Menschheitskatastrophe – einer nicht bereits ausgestandenen, sondern einer Katastrophe, die in vollem Gange war – mit den Mitteln der Komik zu begegnen. Als alle Welt gebannt auf den Schrecken schaute, der sich in Deutschland anbahnte, und die europäischen Politiker noch glaubten, man könne die Bedrohung abwenden, indem man mit Hitler einen Pakt schloss, wagte sich Chaplin daran, den Diktator dem Lachen preiszugeben. Chaplin – und das ist sein Genie – hat sich den großen Katastrophen der Zeit mit den Mitteln seiner Komik gestellt: der Armutswanderung in der Mitte des 19. Jahrhundert in Gold Rush, der industriellen Revolution in Modern Times (USA 1936), dem Faschismus in The Great Dictator (USA 1940), der Profitgier, die Krieg herauf beschwor, in Monsieur Verdoux (USA 1947, R: Charlie Chaplin) sowie der Zensur der McCarthy-Ära in A King in New York (GB 1957, R: Charlie Chaplin). All diese Filme erzählen ihre Geschichten des kleinen Mannes im Kampf gegen die Großen im Kontext großer gesellschaftlicher Umbrüche.
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Die Idee zu seiner Hitlerkarikatur lieferte ihm eine Postkartenserie, wie Chaplin uns in seiner Autobiographie verrät.14 Die Gestik von Hitler hat ihn in ihrer Lächerlichkeit sofort herausgefordert. 1938 begannen die Dreharbeiten, noch vor Ausbruch des Krieges. Im Oktober 1940 wurde The Great Dictator in New York uraufgeführt. Chaplin spielt beide Figuren, den Diktator Hynkel und den kleinen Mann in Gestalt des jüdischen Friseurs, deren Schnurbärte sich aufs Haar gleichen; eine Idee, die sich am Schnurrbart von Hitler entzündete. Als hätte der Diktator dem Tramp die Maskerade geklaut. Der Tramp, der wie alle mythologischen und literarischen Schelmenfiguren immer beides verkörperte, das Kreatürliche, Hemmungslose und das Menschliche, das Unzivilisierte und das Zivilisierte, verlor seine Zweideutigkeit. Doch indem er beide spielte, den braven Mann in Gestalt des kleinen Friseurs, den Bösen in Gestalt des Diktators – David und Goliath –, wird das Infantile selbst in seiner Zweideutigkeit dargestellt. Das Infantile, aus dem Charlie seinen Widerstand schöpft, verkehrt sich im Diktator zum Infantilismus des Terrors (Abb. 4). Die Reflexion über das Infantile, die in dieser Doppelrolle dargestellt ist, mag ein Hinweis darauf sein, warum der Tramp abtreten musste. Abb. 4: Charlie Chaplin in The Great Dictator
Foto: ©Corbis 14 | Ebd., S. 324.
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Die berühmteste Szene des Films, in der Hynkel mit der Weltkugel spielt, und diese dann zerplatzt, ist als Darstellung diktatorischen Größenwahns in die Filmgeschichte eingegangen. Die Szenen, in denen die Begegnung von Hitler und Mussolini karikiert wird, sind von beißendem Spott auf die Inszenierung der Macht und den Infantilismus des Größenwahns. Von infantilem Terror auch die Szene, als Hynkel sich von den nicht funktionierenden Erfindungen, deren Vorführung zwei Menschen das Leben kostet, wie von kaputtem Spielzeug abwendet, mit dem Befehl, mit solch minderwertigem Plunder nicht mehr belästigt zu werden. Eine »Szene aus dem Kinderzimmer«, wie Sergei Eisenstein urteilt.15 Und wir fügen hinzu: Wo die Macht selbst infantile Züge trägt, ist das Infantile kein Widerstandsmodell mehr. Gegen Ende des Films hat Chaplin beide Figuren zusammengeführt. Als der kleine Mann, als Diktator verkleidet, vor den versammelten Massen eine glühende Rede auf die Menschlichkeit hält, erschrickt er beinahe über den tosenden Beifall, zweideutig, ob er dem Diktator gilt, egal was er sagt, oder dem Plädoyer der Brüderlichkeit. Die Komik in The Great Dictator, Chaplins erstem Tonfilm, ist nicht im gesprochenen Wort zu suchen, sondern in den Stummfilmszenen des Films. Chaplins pantomimische Kunst der darstellenden Erkenntnis hatte ihren Witz in der Geistesgegenwart des Handelns. Er hat diese nicht in Schlagfertigkeit mit Worten umgemünzt. Die Szenen, in denen Chaplin der komischen Technik der darstellenden Erkenntnis vertraut, sind die stärksten Momente des Films. Wenn Hynkel seine Reden ins Mikrofon brüllt, beugt sich das Mikrofon, stellvertretend für das geneigte Ohr, das die Massen ihm schenkten, wie ein Filmkritiker diese Szene analysiert. Der Tonfilm erforderte Sprachwitz. Den Marx-Brothers, die ihre Komik in den Vaudeville-Theatern und der Radio-Show entwickelt haben, deren Metier von Beginn an im Sprachwitz bestand, hat der Tonfilm keine Schwierigkeiten bereitet, sondern im Gegenteil zu größter Popularität verholfen. Wo Chaplin in seinen Tonfilmen die Sprache einsetzt, dient sie weniger der Komik als der Moral. Während Chaplin an The Great Dictator arbeitete, erhielt er viele Drohbriefe; nach der Fertigstellung, häuften sie sich. Vom Publikum wurde der Film geschätzt, die Reaktion der Kritik jedoch war gemischt. Die meisten Kritiker machten ihm Vorwürfe wegen der Schlussrede. Auch in 15 | Eisenstein, Sergei: »Charlie The Kid«, in: Wilfried Wiegand (Hg.), Über Chaplin, Zürich: Diogenes Verlag 1978, S. 120.
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Monsieur Verdoux und in A King in New York gibt es solche Plädoyers der Menschlichkeit. Heiner Müller sagt in seiner Hommage an Chaplin: »Wo Chaplin die Brüderlichkeit entdeckte, weil die Erde aufbrach, ging es auf Kosten seiner Kunst. Sie wurde flügellahm über der Anstrengung in einer schlimmen Welt gut zu sein. Denn aller Trost ist trübe. […] Was uns von Chaplin bleiben wird, ist nicht der gute Mensch, sondern der böse Engel«.16
Den Tramp, für den ihn Millionen liebten, über Klassenschranken und Systemkonkurrenzen hinweg, konnte er nicht in den Tonfilm retten. Statt in der Rolle des Tramps den Zuschauer für erlittene soziale Ungerechtigkeit zu entschädigen, hält Chaplin in seinen Tonfilmen der Gesellschaft den Spiegel vor, sein Spott wird beißend, sein Humor satirisch. Nicht mehr Pierrot, sondern Eulenspiegel,17 der den Menschen die Wahrheit über sie sagt, begegnet uns in diesen Filmen. Wie Verdoux mit flinken Händen das erbeutete Geld zählt, verrät unmissverständlich seine neue Leidenschaft. Der Film ist von einem Sarkasmus, der die Opfer nicht verschont. Wir haben kein Mitgefühl mit ihnen. Nur von der Geschichte des armen Mädchens lässt Verdoux sich rühren. Als er ihr später als Gattin eines Munitionsfabrikanten wieder begegnet, liefert er sich resigniert seinen Verfolgern aus. Ob Verbrecher oder Held, das sei eine Frage der Größenverhältnisse, sagt Verdoux und klagt zu seiner Verteidigung eine Gesellschaft an, deren Profitgier in Massenmord mündet. Und dennoch: In kleinem Maßstab ist er Teil dieser Welt. In heiterer Gelassenheit tritt Verdoux dem Priester und den Henkern gegenüber. Im Schlussbild sieht man Verdoux zwischen den Henkern von hinten: Er geht weg, wie man Charlie in vielen seiner Filme weggehen sah, aber sein Gang hat jeden Schwung verloren. Es ist Charlie, der Tramp, der hier hingerichtet wird; die kindliche Unschuld gibt es nicht mehr, das ist die Pointe des Film, ein Fingerzeit, den seine Kritiker nicht verstehen wollten. Dass er der Gesellschaft den Spiegel vorhält, hat sie ihm nicht gedankt. Eulenspiegel ergreift nach jedem seiner ›lustigen Streiche‹ die Flucht, um sich dem Zorn der Menge zu entziehen. 16 | H. Müller: »Ich wollte lieber Goliath sein«, in: Die Zeit vom 06.01.1978, S. 30. 17 | Zu Eulenspiegel, auch er »eine Fundgrube darstellenden Erkennens«, vgl. Heinrich, Klaus: »Exkurs über Eulenspiegel als Maieutiker«, in: Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1964, S. 89f.
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Monsieur Verdoux beschäftigte die amerikanischen Zensurbehörden. Nicht nur an der Moral der Figur wird Anstoß genommen. Die Pressekonferenz nach der Premiere des Films in New York 1947 geriet zu einem Verhör über Chaplins Verhältnis zum Kommunismus, zu Amerika, über seine persönliche Moral. Vertreter des Staates, Filmkritiker wie das amerikanische Publikum reagierten mit Ärger. Ihre Ablehnung geht nicht in der künstlerischen Kritik auf. Amerikas Liebling wird fallengelassen als er deutlich Stellung bezieht. Das Ausagieren der Katastrophen, wobei sich der komische Held und auch das lachende Publikum sich jeder Verantwortung begeben, verschiebt sich zugunsten der Katastrophenreflexion. Das Publikum war nicht willens diese Reflexion anzunehmen und sich in diesem Spiegel wiederzuerkennen. Der Held taugt nicht mehr zur Befreiung, nicht zur Identifikation, nicht für die ›olympische Perspektive‹. Chaplin hat immer wieder betont, dass es ihm nicht um Politik ging, sondern allein um die Komik. Zwecklos. Die Moral hat man unmittelbar dem Privatmann Chaplin zugeschrieben. Als Schauspieler, der ohne Maske agiert, wird er haftbar gemacht. Der Einspruch gegen die herrschende Moral, den Chaplin in seinen Tonfilmen zum Ausdruck bringt, in die seine Figuren in kleinem Maßstab selbst verstrickt sind, wird vom Publikum gegen ihn gewendet. In Limelight (USA 1952, R: Charlie Chaplin), eine melancholische Reflexion über den Beruf des Clowns, hat er dieses Trauma verarbeitet. Der Clown – alt, enttäuscht – sieht keinen Sinn mehr in seinem Metier. Er hat den Kontakt zu seinem Publikum verloren. Er fühlt sich zu alt für die Liebe. Seine Melancholie überträgt sich auf sein Privatleben. Am Ende der Vorführung stirbt der Clown in den Kulissen, um für eine andere stumme Kunst – die Kunst der Ballerina – die Bühne freizumachen. Am Ende der Katastrophe unseres Zeitalters angelangt, hat der komische Held seine Einspruchsmacht verloren. Das ist die resignative Botschaft dieses Films. Limelight ist der letzte Film, den Chaplin in Amerika gedreht hat. Er hat mit A King in New York dem Tod des Clowns noch eine letzte Komödie hinterhergeschickt, in der er selbst die Hauptrolle spielte: In diesem Film, sein bitterster, spielt er sich die Resignation vom Leibe und revanchiert sich am Amerika der McCarthy-Ära, das ihn so schmählich verstoßen hatte. Der Film spottet über die amerikanische Gesellschaft, die sich ganz dem Kommerz verschrieben hat, über ihre Unterhaltungsund Werbeindustrie, über die Maskenhaftigkeit ihrer Schönheitsideale,
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die auch an ihm exekutiert werden. Doch die eigentliche Kritik am Amerika der McCarthy-Ära wird in der Geschichte des Jungen erzählt, dem Sohn kommunistischer Eltern, durch dessen Bekanntschaft der König schließlich selbst in den Verdacht des Kommunismus gerät. Die Schlussszene im Gerichtssaal, in der sich der König wegen kommunistischer Gesinnung verantworten soll, ist reinster Slapstick. Der ganze Saal, Personal samt Mobiliar werden mit einem gewaltigen Strahl aus dem Feuerwehrschlauch weggeschwemmt; eine symbolische Brandlöschung des geistigen Klimas der McCarthy-Ära. Da ist er wieder, Chaplin, der sich mit sadistischer Lust an seinen Peinigern rächt, diesmal von der sicheren Schweiz aus – auch er, ein König auf der Flucht. Dem Clown hat er in einer kurzen Passage des Films eine Hommage gewidmet. Der König hat sich überreden lassen, sich einem Gesichtslifting zu unterziehen, aber als er das Resultat sieht, erschrickt er. Das starre Gesicht, das er vorerst nicht bewegen darf, ist ihm fremd. Als er einer Clownsvorführung zuschaut, bemüht er sich krampfhaft, keine Miene zu verziehen, doch als er sich vor Lachen nicht mehr halten kann, platzt seine Maske. Der Chirurg stellt danach sein natürliches Gesicht wieder her. Das Lachen hat ihn aus der Erstarrung befreit, die eine maskenhafte Gesellschaft ihm auferlegen wollte.
Düstere Clowns Figuren des Schreckens im Kino der Transgression Matthias Christen »P.T. Barnum said it some time ago … some clowns make you laugh, some make you cry. These pals love making you die.« (Titelsong, K iller K lowns F rom O uter S pace)
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Clowns, dass er im Kino anders als im Zirkus selten eine komische Figur abgibt. In den Zirkusmelodramen der 1910er und 20er Jahre tritt er als der glücklose Liebhaber auf, der im Werben um den jeweiligen love interest regelmäßig das Nachsehen hat gegenüber attraktiveren Konkurrenten aus dem milieueigenen Rollenangebot. Als tragische Figur appelliert er so entgegen dem gewohnten Rollenfach und emotionalen Register an die Empathiefähigkeit des Publikums. In Kriminal- und Gangsterfilmen figuriert er als der unwahrscheinliche Täter, den das Klischee des harmlosen Spaßmachers lange, wenn auch nicht dauerhaft, vor der Enthüllung der kriminellen Identität schützt, die er hinter seiner Maske versteckt. Und wenn dem Clown doch einmal die Rolle des Komikers zufällt, zeigen ihn die Filme meist weder in der Manege als bevorzugtem Raum seiner zirzensischen Performance noch im üblichen Habit. Im Kino der 1980er Jahre kommt zudem ein weiterer Figurentypus auf, der bis dahin weder im Zirkus noch im Zirkusfilm heimisch ist und die klassische Unterscheidung von Rot- und Weißclown und ihr performatives Repertoire um eine düstere Schattierung erweitert: der dunkle, gewalttätige, psychopathische Clown. Um seine, bislang erst in Ansätzen geklärte Entstehungsgeschichte wird es im Folgenden gehen. Für die Figur ist eine ganze Reihe von Bezeichnungen im Umlauf: Schwarzclown,
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»dark/scary clown«1, »clown maléfique«2 oder »böser Clown«.3 Der hier vorgeschlagene Begriff des »düsteren Clowns« hat ihnen gegenüber den Vorzug, dass er die Wertung der Figur in der Schwebe lässt und sie nicht vorab auf eine moralische Qualität festlegt. Die düsteren Clowns tun zwar Dinge, die den anderen Akteuren in der filmischen Erzählung ebenso wie den Zuschauern nach gängigen Kriterien als ›böse‹ erscheinen, ohne dass aber die Figur deswegen von Hause aus ›böse‹ sein müsste, wie sich etwa am Beispiel Balada triste (E/F 2010, R: Álex de Iglesia; dt. Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod) zeigen wird. Außerdem ist der Begriff offen für Zwischentöne und graduelle Übergänge in der Rollenphysiognomie, der Mimik und dem Habit des neuen Typus von Clown. Verstöße gegen gesellschaftliche Konventionen, Boshaftigkeiten und selbst Ausbrüche körperlicher Gewalt, die scheinbar über alles Maß hinausgehen, sind ein fester Bestandteil traditioneller Clownroutinen. Sie gewinnen mit dem Auftreten des düsteren Clowns allerdings eine neue Qualität, durch den Wegfall der performativen Rahmung in Gestalt des zirzensischen Nummernformats, durch die oftmals tödlichen Folgen, die der gewalttätige Akt anders als im Zirkus zeitigt, und ebenso durch das drohende Kippen des gewohnten emotionalen Registers vom freudigen Lachen in Angst und Schrecken. Zur Klärung der Herkunftsgeschichte der Figur sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Versuchen aus unterschiedlichen Fachrichtungen unternommen worden. An der Oberfläche verbleibt der kultur- und zeithistorische Verweis auf reale Kriminalfälle wie den des amerikanischen Serienmörders John Wayne Gacy, der in den 1970er Jahren Dutzende junger Männer umbrachte und als »Killer Clown« bekannt wurde, weil er zeitweilig als Clown auftrat und die letzten Jahre seiner
1 | McRobbie, Linda Rodriguez: »The History and Psychology of Clowns Being Scary« (2013) – www.smithsonianmag.com/arts-culture/the-history-and-psycho logy-of-clowns-being-scary-20394516 vom 08.08.2015. 2 | Peccatte, Patrick: »Les origines des clowns agressifs dans la culture populaire«, in: Déja vu (2014) – http://dejavu.hypotheses.org/2010 vom 08.08.2015. 3 | Siehe die gleichnamige Ausstellung des HMKV Hartware MedienKunstVereins, Dortmund (27. September 2014-08. März 2015) – www.hmkv.de/programm/pro grammpunkte/2014/Ausstellungen/2014_CLOW_Boese_Clowns.php vom 12.08. 2015.
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Haft damit zubrachte, Clownbilder zu malen.4 Im Rahmen literatur- und filmgeschichtlicher Ansätze wird häufig Stephen Kings 1986 erschienener Besteller It als Schlüsseltext angeführt, der 1990 die Vorlage für eine gleichnamige TV-Mini-Serie lieferte (R: Tommy Lee Wallace).5 Patrick Peccatte hat jedoch zu Recht moniert, dass der wiederholte Verweis auf einige wenige Roman- und Filmbeispiele aus den 1980er Jahren historisch zu kurz greift. Anhand von Werken der Trivialliteratur und des Comics verfolgt er die Genealogie des düsteren Clowns zurück ins ausgehende 19. Jahrhundert,6 und statt pauschal vom ›bösen Clown‹ zu sprechen, differenziert er zwischen vier verschiedenen »tropes visuels« – abgestuft nach dem Grad des »impact du personnage sur ceux qui le voient«: »le clown inquiétant, dérangeant, qui met mal à l’aise (scary clown), le clown effrayant, terrifiant (creepy clown), le clown agressif, violent, le plus souvent armé, le clown maléfique (evil clown) qui renvoie au ›fond malfaisant‹ du personnage« 7
Zusammen genommen ergeben sie in dieser Abfolge eine fortlaufende Entwicklungsgeschichte des düsteren Clowns als Figur der über Literatur und Film hinausweisenden Populärkultur: »Enfin, la figure du clown inquiétant s’estompe progressivement au long des années et seuls les clowns vraiment agressifs subsistent, sous forme de criminels classiques bientôt supplantés par des meurtriers maléfiques et psychopathes.« 8 Der amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Andrew McConnell Stott verfolgt die Genealogie der Figur noch weiter in die Literatur und den Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts zurück und sieht in Dickens Ver-
4 | Vgl. u.a. Durwin, Joseph: »Coulrophobia and the Trickster«, in: Trickster’s Way 3/1 (2004), article 4 – http://digitalcommons.trinity.edu/trickstersway/vol3/iss 1/4 vom 08.08.2015. 5 | Vgl. u.a. die Ausführungen von Inke Arns, der Kuratorin der Ausstellung »Böse Clowns« (Anm. 3). 6 | P. Peccatte: »Les origines des clowns agressifs dans la culture populaire«. 7 | Ebd. 8 | Ebd.
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sion der Memoiren von Joseph Grimaldi eine maßgebliche Quelle für die Wahrnehmung von Clowns als »frightening and psychopathic figures«.9 Psychologische Deutungsversuche setzen ihrerseits statt beim Figurentypus bei den phobischen Reaktionen an, die Clowns mitunter auslösen – unabhängig von der Art und dem Kontext ihres Auftretens. Dementsprechend orientieren sich die Erklärungen weniger an historischen Zusammenhängen im Allgemeinen als an der Ontogenese der betroffenen Betrachter, die Clowns als furchteinflößend und bedrohlich erfahren. Sie fragen nach den psychischen Entwicklungsstadien, in denen die so genannte »Coulrophobie« auftritt, die als emotionale Störung dem komischen Rollenprofil der Figur zuwiderläuft, und was sie auslöst.10 Kinder sind für derartige Ängste offenbar besonders empfänglich. Sofern sie mit dem Zirkus, seinem Rollenangebot und den dazugehörigen performativen Routinen nicht oder noch nicht vertraut sind, fällt es ihnen schwer, das unbotmäßige Verhalten des Clowns einzuordnen und das Verhältnis von Person und Rolle durch die Maske hindurch zu verstehen. Sie begreifen daher die in Benehmen und Körperlichkeit gleichermaßen ausgreifende, unförmige Figur als identitäres Gegenbild und Bedrohung für das sich formende Selbstbild.11 Die bestehenden genealogischen Modelle stoßen allerdings aus zwei Gründen an Grenzen. Zum einen sind die vorgebrachten Erklärungen mitunter kontingent. So lässt sich die Entstehung eines neuen, düsteren Typus von Clown nicht ernsthaft auf die Freizeitbeschäftigung realweltlicher Serienmörder zurückführen, v.a. wenn sich wie im Fall von John Wayne Gacy herausstellt, dass die Verbindung der Verbrechen mit dem Rollenimage des Clowns nachträglich und zu einem guten Teil den Tatsachen zuwider konstruiert wurde.12 Hier ist umgekehrt zu fragen, was die rückwirkende Assoziation des Mörders mit einem clownesken Alias 9 | Stott, Andrew McConnell: »Clowns on the Verge of a Nervous Breakdown: Dickens, Coulrophobia, and the Memoirs of Joseph Grimaldi«, in: Journal for Early Modern Cultural Studies 12/4 (2012), S. 3-25, hier S. 3. 10 | Vgl. J. Durwin: »Coulrophobia and the Trickster«. 11 | Zum Clown als Vertreter adverser, nicht in die (erwachsene) Persönlichkeit integrierter psychischer Faktoren siehe die ethnopsychologischen Untersuchungen von Lucile Hoerr Charles: »The Clown’s Function«, in: The Journal of American Folklore 58 (1945), S. 25-34. 12 | Vgl. J. Durwin: »Coulrophobia and the Trickster«.
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so einleuchtend macht. Zum anderen lösen die angebotenen Erklärungsmuster den Clown tendenziell aus dem Ensemble derjenigen Institution heraus, in der er in den vergangenen 200 Jahren vorzugsweise zu Hause war: dem Zirkus. Die nachfolgenden Überlegungen gehen daher in die entgegengesetzte Richtung und binden den düsteren Clown genealogisch an den Zirkus zurück. Der neue Figurentypus lässt sich, so die These, wenn nicht auf das milieueigene Programmangebot, so doch auf die Art und Weise zurückführen, wie der Zirkus sich in seiner doppelten Gestalt als Spektakel und Weltmodell auf die ihn umgebende Welt bezieht und wie er diese, als cultural performance (Victor Turner) oder code (Paul Bouissac) verstanden, reflektieren hilft. Der düstere Clown entsteht mit anderen Worten aus einer bestimmten Form des Umgangs mit den semantischen Reserven, die der Zirkus als Code bereithält. Die Genealogie des düsteren Clowns setzt daher zunächst einen kurzen Rekurs auf eine Theorie des Zirkus voraus, die auf Konzepten des kanadischen (Zirkus-)Semiotikers Paul Bouissac und des britischen Anthropologen Victor Turner auf baut, bevor es in der Folge um den Zirkusfilm als eine geschichtsmächtige Gebrauchsform des Zirkuscodes geht, die über Erzählungen und entsprechende Genrekonventionen steuert, wie die semantischen Ressourcen des Codes aktiviert werden. Von der narrativen Rahmung sind die Funktionen abhängig, die die einzelnen Filme dem Clown zuweisen. Vor diesem Hintergrund lässt sich dessen düstere Spielform als eine Figur des nachklassischen Zirkusfilms verorten und typologisch von denjenigen Clownfiguren absetzen, die der traditionelle Zirkusfilm bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausbildet. Höhepunkt und Abschluss der genealogischen Rekonstruktion des düsteren Clowns als Filmfigur bildet eine Analyse von Christopher Nolans The Dark Knight aus dem Jahr 2008, der ungeachtet des oberflächlich betrachtet minimierten Sujetbezugs in der Gestalt des Jokers zentrale Elemente des Zirkus als Code aufgreift und dessen utopisches Versprechen in ein dystopisches Weltmodell verkehrt.13
13 | Die nachfolgenden Abschnitte zur Zirkustheorie, dem Zirkusfilm und dessen klassischen Clownfiguren schließen an Überlegungen an, die ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift entwickelt habe (vgl.: Der Zirkusfilm. Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg: Schüren Verlag 2010).
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I. D er Z irkus als I nstitution und meta - kultureller C ode Als Institution des traditionellen Schaugeschäfts verfügt der Zirkus über ein ausdifferenziertes Angebot an Rollentypen (Artisten, Clowns, Freaks), performativen Routinen, Orten (Manege, Zelt, Wagen) und dramaturgischen Verlaufsformen (Nummer, Programm, Gastspiel). Diese bilden, wie Paul Bouissac in seiner Zirkussemiotik darlegt, die materiale Grundlage für einen hoch komplexen Code.14 Der Zirkus ist insofern zum einen ein sinnenfrohes Spektakel, eine populäre Unterhaltungskunst, aber zugleich auch etwas, das sich mit einem Begriff von Victor Turner als »cultural performance« bezeichnen lässt.15 Als solche erlaubt er, in Form einer kulturellen Selbstreflexion die basalen Regeln und Prinzipien zu befragen, die eine Gesellschaft strukturieren: »Cultural performances are not simple reflectors or expressions of culture or even of changing culture but may themselves be active agencies of change, representing the eye by which culture sees itself and the drawing board on which creative actors sketch out what they believe to be more apt or interesting ›designs for living‹. […] Performative reflexivity is a condition in which a sociocultural group, or its most perceptive members acting representatively, turn, bend or reflect back upon themselves, upon the relations, actions, symbols, meanings, codes, roles, statuses, social structures, ethical and legal rules, and other sociocultural components which make up their public ›selves‹«.16
Als cultural performance unterwirft der Zirkus die ihn umgebende Welt einer solchen reflexiven Befragung, indem er die für sie konstitutiven Re14 | Vgl. v.a. Bouissac, Paul: Circus and Culture. A Semiotic Approach, Bloomington/London: Indiana University Press 1976 und Semiotics at the Circus, Berlin: De Gruyter Mouton 2010. 15 | Turner bezieht sich nicht direkt auf den Zirkus. Dieser fällt jedoch in den Gegenstandsbereich der übergreifenden »anthropology of performance«, in der Turner die Institutionen und Praktiken der modernen Freizeit- und Unterhaltungskultur in einen genealogischen Zusammenhang mit den »rites de passages« bringt, über die traditionelle Gesellschaften ihr Lebens- und Weltverständnis organisieren; vgl. Turner, Victor: The Anthropology of Performance, New York: PAJ 1988, hier v.a.: S. 21-33. 16 | V. Turner: Anthropology of Performance, S. 24 (Hervorhebung v. M.C.).
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geln und Normen mit dem Anspruch größtmöglicher physischer Wahrhaftigkeit überschreitet. Im Rahmen dieser versuchten Generaltransgression der bestehenden Weltordnung erscheint vorübergehend alles möglich, was ansonsten den Gesetzen der Natur, dem Mangel an eigenen körperlichen Fähigkeiten oder sozialen Konventionen unterliegt. Dieses Moment der Freiheit von Beschränkungen und Zwängen versieht den Zirkus mit einem starken utopischen Potential. Die Transgression ansonsten unverrückbarer Standards kann jedoch mit gleichem Recht, wie sie als befreiend erfahren wird, auch als Bedrohung gelten. Um seinen Status als populäres Vergnügen – und damit seine wirtschaftliche Basis – zu sichern, muss der Zirkus daher im gleichen Zug, in dem er bestehende Normen bricht und überschreitet, seine eigene Transgressivität beschränken. Denn nicht die Grenzüberschreitung als solche macht ihn zu einer Form der Unterhaltung, sondern erst der Umstand, dass jene ihrerseits konsequent begrenzt wird. Der Zirkus hat zu diesem Zweck eine ganze Reihe von Mitteln der Selbstbeschränkung entwickelt. Das erste betrifft die Art und Weise, wie er sich im Rahmen von Manegenperformances auf die Welt jenseits seiner Grenzen bezieht. In den meisten Fällen zielen die im Ring vollzogenen Transgressionen nicht unmittelbar auf einen bestimmten, klar benennbaren Aspekt des täglichen Lebens. Stattdessen referieren sie zeichenhaft auf die allgemeinen, abstrakten Regeln und Normen, die den Alltag ordnen. Paul Bouissac bezeichnet den Zirkus daher treffend als einen »meta-cultural code«.17 Ob das schwerelose Auf und Ab der Bälle, die ein Jongleur gewandt in der Luft hält, bildhaft für eine erfolgreich in Gang gehaltene amouröse Affäre mit mehreren Partnern oder den riskanten, aber gewinnbringenden Umgang mit Finanzgeschäften steht, bleibt der Vorstellungskraft und den Bedürfnissen der einzelnen Zuschauer überlassen. Genauso gut kann es ihnen nicht mehr als den Ausdruck einer bewundernswerten körperlichen Geschichtlichkeit bedeuten. Auch in seiner Organisationsform ist der Zirkus ganz auf die Begrenzung der Transgressivität abgestellt. Diese ist mit der Manege räumlich an einen Ort gebunden, der von der übrigen Welt klar getrennt ist und zu dem das Publikum nur über einen Prozess der gestaffelten Initiation Zugang erhält. So bleibt der Bereich der Normüberschreitung insulär. Auch zeitlich sind dieser klare Grenzen gesetzt; in der Regel ohne festen Ort, 17 | P. Bouissac: Circus and Culture, S. 7 (Hervorhebung v. M.C.).
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macht der Zirkus als mobiles Unternehmen an den Etappen der Tournee jeweils nur vorübergehend Station. Er ist mit seinem unerhörten Angebot heute hier, aber morgen schon wieder weg. Die Verlaufsformen sind ebenso strikt geregelt und folgen, ob auf der Ebene einzelner Nummern oder ganzer Programme, fest stehenden dramaturgischen Regeln. So einzigartig die auftretenden Akteure mit ihren Nummern sein mögen, als Akrobaten, Kunstreiterinnen oder Löwenbändiger fügen sie sich in ein bestehendes Set an Rollenangeboten und Genres ein, das dem Publikum erlaubt, sich mühelos zurechtzufinden. Innerhalb dieses milieueigenen Fundus transgressiver Figuren hat der Clown seinen festen Platz und eine scharf umrissene Funktion: Er verkehrt die Stoßrichtung der artistischen Transgression in ihr Gegenteil. Während Akrobaten, Dompteure oder Schulreiterinnen Normen überbieten, bleibt der Clown ebenso konsequent wie hoffnungslos hinter diesen zurück. Er unterschreitet sie und scheitert, aber nicht im gewöhnlichen, aus dem Alltag vertrauten Umfang, sondern in einem derart übertriebenen Maß, dass das Resultat nicht Anlass zum Bedauern gibt, sondern ins Komische kippt. Überhaupt hat der Clown einen Hang zum Maßlosen, ob in seiner ausgreifenden Physis, seiner Mimik oder in der Wahl der Mittel, die dem Zweck nie im Sinne zweckrationaler Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dass er Normen missachtet und mutwillig hinter ihnen zurückbleibt, egal ob sie die Logik oder das soziale Miteinander betreffen, macht den Clown zu einer anarchischen, subversiven Figur. Er tritt daher in der Manege regelmäßig mit Partnern auf, die als Vertreter geordneter Verhältnisse – sei es in Gestalt des Direktors oder des Sprechstallmeisters – seine Abnormität herausstreichen; Paul Bouissac spricht in diesem Zusammenhang von der »opposition between cultural norms and cultural ›abnorms‹«18 als konstitutivem Element eines jeden Clownakts. Der Clown hat diesen grundlegenden Zwiespalt in der Doppelung von August und Weißclown internalisiert: Während der August als gewöhnlicher Clown auf allen Gebieten notorisch hinter den Anforderungen zurückbleibt, verkörpert der Weißclown als sein zivilisiertes Über-Ich deren groteske Übererfüllung.19
18 | P. Bouissac: Circus and Culture, S. 165. 19 | Zur Unterscheidung von August und Weißclown als Typen vgl. P. Bouissac: Circus and Culture, S. 151-175.
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Das klar umgrenzte Rollenrepertoire, die raumzeitliche Begrenzung und der notorisch deutungsoffene Wirklichkeitsbezug der Manegenperformance sorgen dafür, dass, was immer der Zirkus im Rahmen seiner Generaltransgression der bestehenden Weltordnung der Einbildungskraft an Freiheiten und utopischem Potential anbietet, in Form einer durchgängigen Ritualisierung ausbalanciert wird. Wie der utopische Zustand sich im einzelnen ausnimmt, den der Zirkus als cultural performance eröffnet, das bleibt der Phantasie als flüchtigem Medium überlassen, denn ein anderes, dauerhaftes Produkt, bei dem man ihn behaften könnten, hat der Zirkus nicht – und darin liegt die ultimative Begrenzung seiner Transgressivität. Die semantische Transaktion zwischen dem Zirkus und seinem Publikum bleibt jedoch nicht einseitig. Während der Zirkus als Institution die Bausteine desjenigen Codes liefert, dessen sich das Publikum bedient, fließt das, was die Adressaten auf dieser Grundlage an Bedeutungszuschreibungen vornehmen, an den Zirkus zurück und geht ein in das, was sich mit Jurij Lotman als seine »semantische Reserve« beschreiben lässt.20 Romane, Filme oder die von Patrick Peccatte für die Genealogie des düsteren Clowns angeführten Comics verfahren in dieser Hinsicht nicht anders als die privaten Phantasien von Zirkusbesuchern, nur dass sie im kulturellen Imaginationsraum dauerhaftere Spuren hinterlassen: Sie speisen sich aus einem gemeinsamen Code, dessen Bedeutungsumfang sie damit gleichzeitig erweitern. Als gemeinsam genutztes, den einzelnen Medien und Institutionen übergeordnetes Referenzsystem ergibt sich der Code aus dem Zusammenwirken aller am Austausch beteiligten Instanzen. Im Gebrauch entsteht so, was Bouissac als »crosscultural language of the creative imagination«21 bezeichnet.
20 | Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, aus dem Russ. v. Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja, hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 150. 21 | Bouissac, Paul: »The Circus as a Topos of European Literature and Art«, in: Earl Miner/Gafa Toru et al. (Hg.), The Force of Vision. Proceedings of the XIIIth Congress of the International Comparative Literature Association, Tokyo 1991. I: Dramas of Desire, Visions of Beauty, Tokyo: International Comparative Literature Association 1995, S. 447-454.
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II. C lownfiguren im kl assischen Z irkusfilm Der Zirkusfilm ist mit über 600 fiktionalen Langfilmen eine von vielen, wenn auch historisch prominente Form der Nutzung jener »cross-cultural language«. Zirkusfilme aktualisieren die semantischen Reserven, die der Zirkuscode bereithält, und sie tun dies auf eine für sie bezeichnende Weise, nämlich indem sie den Zirkus zum Gegenstand von Erzählungen machen. Sie folgen also einem anderen Bauprinzip als ein Manegenprogramm mit seiner Reihung einzelner Nummern, die einander nach der Maßgabe wechselnder Tempi, Genrezugehörigkeiten und Erlebnisqualitäten sowie nach dem übergeordneten Prinzip zunehmender Attraktivität folgen. In dem Maß, wie Filme die Bausteine des Zirkus – Figuren, Performances, Orte – in fortlaufende Geschichten einbinden, entgrenzen sie unweigerlich die Manege als raumzeitlich scharf umrissenen Schauplatz der milieueigenen Transgressionen. Während deren Tragweite dort semantisch in der Schwebe bleibt, beziehen sie die Zirkusfilme über die erzählte Handlung auf bestimmte lebensweltliche Problemlagen und konkrete Normklassen. Gesteuert wird die Ausdeutung über den jeweiligen Genrekontext. Während die artistische Transgression im Zirkus alles und nichts gleichzeitig meint, nimmt sie im Zirkusmelodram als überbordendes Gefühl greif bare Formen an und bestimmt z.B. den Dompteur im Kriminalfilm sein lebensgefährliches Geschick zum Kapitalverbrecher – beides oft mit vergleichbar desaströsem Ausgang. Als Figuren im Film verliert das Zirkusensemble notwendig seine Vieldeutigkeit. Als Erzählform, die über das Manegengeschehen hinausgreift, stört der Zirkusfilm das elaborierte System empfindlich, mit dessen Hilfe der Zirkus seine eigene Transgressivität in Grenzen hält und sich als Unterhaltungskunst behauptet. Der klassische Zirkusfilm hat daher, soweit er selbst als Form der Unterhaltung verstanden wurde, seinerseits ein System – narrativer – Regelungen zur Begrenzung der sujeteigenen Transgressivität entwickelt. So wird, was immer die Figuren an Normen überschreiten, von hochgradig konventionalisierten Storyschemata und festen Beziehungsmustern kontrolliert. Was für den Zirkusfilm im Allgemeinen gilt, trifft auch auf den Clown als Filmfigur im Besonderen zu. Wenn es also um Clowns im Film geht – zumal um düstere Clowns –, ist daher zu fragen, wie die Filme als Narrative der Normüberschreitung den Bedeutungsspielraum des Sujets nutzen und auf welche Aspekte der Clownerie sie sich beziehen, denn der Clown
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ist als Figur semantisch genauso polyvalent wie der Zirkus als ganzer. Es gibt nicht den Clown als filmische Figur, sondern eine Mehrzahl von funktional ausdifferenzierten Typen, die sich nach dem Erzählkontext und der Genrezugehörigkeit des jeweiligen Films unterscheiden lassen. So wird in Zirkusmelodramen wie He Who Gets Slapped (USA 1924, R: Victor Seastrom/Sjöström) oder Laugh, Clown, Laugh (USA 1928, R: Herbert Brenon) das komische Rollenimage nicht ausgespielt, sondern Gegenstand eines tragischen Konflikts mit den amourösen Interessen des Clowns und fällt als solcher auf ihn zurück. Der Zwiespalt verdichtet sich metonymisch im Rollenaccessoire der Maske, die der Clown als einzige Figur des Zirkusensembles trägt. Im Sinne der Unterscheidung, die Richard Weihe zwischen zwei »grundverschiedene[n] Denkmodelle[n] der Maske« trifft, fungiert sie in diesem Fall als maschera, die zwischen der äußeren Erscheinung und einem dahinter verborgenen, »wahren« Gesicht trennt, statt als prósopon die beiden Seiten als expressive Einheit zu umgreifen.22 Im Film He Who Gets Slapped, den der schwedische Regisseur Victor Sjöström 1924 unter seinem amerikanischen Alias Victor Seastrom für die Firma Metro-Goldwyn-Mayer realisiert, will die Zirkusreiterin partout nicht verstehen, was der Clown an privaten Gefühlen hinter seinem Whiteface für sie hegt. Sie vermag zwischen dem Rollenimage und der Person, die dieses verkörpert, genauso wenig zu unterscheiden, wie sie zwischen der Manege als Schauplatz einer rollengeleiteten Performance und dem backstage-Bereich als Ort des ›wahren‹ Gefühls trennt. Sie versteht daher jede neue Liebeserklärung als Fortsetzung einer komischen Routine und wirft die Hauptfigur damit ein ums andere Mal auf ihre komische Rollenidentität zurück. Lon Chaney, »the man with the thousand faces«,23 der den gleichen Part auch in der MGM-Produktion Laugh, Clown, Laugh von 1928 spielt und dessen mimische Wandlungsfähigkeit Kernstück seiner Starpersona im Stummfilmkino der 1920er Jahre ist, macht als Darsteller das Gesicht zum zentralen Schauplatz des tragischen Rollenkonflikts: Während er sich mit seinen privaten Gefühlen gegen die bewegliche Schminkmaske mit dem breiten, lachenden Mund und die komische Rollenidentität des Clowns mimisch durchzu22 | Vgl. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München: Wilhelm Fink 2004, S. 37. 23 | Blake, Michael F.: Lon Chaney: The Man Behind the Thousand Faces. Lanham: The Vestal Press 1993.
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setzen versucht, nimmt sein weibliches Gegenüber nur das konventionalisierte Äußere wahr und setzt Maske und Gesicht in eins. Zur Genrekonvention des Clownmelodrams gehört darüber hinaus, dass die Maske des Clowns nur für die (heimlich) geliebte Frau, nicht aber für das Kinopublikum undurchdringlich bleibt. Indem die Filme das Publikum über die Erzählung in die private (Gefühls-)Welt des Protagonisten einweihen, privilegieren sie es nicht nur im Verhältnis zum unverständigen love interest des Clowns, sondern auch dem innerdiegetischen Zirkuspublikum gegenüber. Wenn dieser in der Manege den Spaßmacher gibt, weiß das Filmpublikum – anders als das Publikum im Film –, dass der Figur der Sinn nicht nach Komik steht. Dem eingeweihten Betrachter muss die naheliegende, weil sujetkonforme Reaktion auf das Geschehen in der Manage – das Lachen des Zirkuspublikums – als unangemessen und grundfalsch erscheinen. Über das Mehrwissen, das sie dem Zuschauer durch die erzählerische Rahmung der Nummer und die Nahaufnahmen insbesondere vom Gesicht des Protagonisten verschaffen, treiben die Clownmelodramen die Aufspaltung der Publika und Erlebnisqualitäten regelmäßig so weit, dass das emotionale Register kippt: Der komische Akt wird zum tragischen Missverständnis. Der Genrekonvention des Melodrams, nicht aber dem komischen Rollenprofil entsprechend appellieren die Filme damit an die Empathieleistung des Publikums, auf die der Clown als tragische (Film-)Figur umso nachhaltiger Anspruch erhebt, je größer die Diskrepanz zwischen Rollenimage und Person ausfällt. In letzter Konsequenz erfährt der Clown in dieser Erzählanordnung immer erst dann Verständnis für seine amourösen Ambitionen, wenn sein Tod die vermeintliche Einheit von Rolle und Person mit tragischer Verspätung auf bricht und diese sich wenigstens rückblickend gegen die Maske des Spaßmachers behauptet. Der Clown muss im Melodram demnach sterben, um als Liebhaber Ernst genommen zu werden. Die Undurchdringlichkeit der Maske ist es jedoch nicht allein, die den Clown als Liebhaber zum Problem macht. Der Zirkusfilm bindet als narrative Gebrauchsform des Zirkuscodes die erotische Attraktivität der Figuren durchgängig an das Rollenprofil und den Schauwert ihrer Nummer. Sowohl der Weißclown mit seiner strengen, geschlechtslosen Eleganz wie der August mit seiner ausufernden Körperlichkeit haben daher regelmäßig das Nachsehen gegenüber den Löwenbändigern und Hochseilakrobaten und rangieren folgerichtig am unteren Ende der sujeteigenen amourösen Hierarchie. In Arthur Robisons Looping the Loop
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(D 1928) finden Artistin und Clown nur deshalb außer der Reihe zusammen, weil dieser die Verwechslung von Rolle und Person, die gewöhnlich zum Nachteil des Clowns ausschlägt, für einmal zu seinen Gunsten nutzt: Die Paarbildung gelingt in diesem Fall, weil der Clown es als Privatmann schafft, die Geliebte lange genug im Glauben zu lassen, hinter der Maske des Clowns verberge sich ein Anderer, also dadurch, dass er seine Rollenexistenz verleugnet. Auch in Anders Wilhelm Sandbergs Klovnen (DK 1916) und dessen Remake von 1926 macht sich der Clown als Hauptfigur das Moment der Verkennung zu eigen, indem er es gegen seine Kontrahenten wendet. Nachdem das Publikum im Film stets davon ausging, dass es sich beim Part des unglücklichen Liebenden, den der Clown in der Manege gab, um eine bloße Rolle, nicht aber um das private Schicksal des Akteurs handelte, bringt dieser auf dem abschließenden Höhepunkt der dramatischen Verwicklungen den amourösen Konkurrenten im Schutz seiner clownesken Rollenidentität ums Leben. Während das diegetische Zirkuspublikum in anhaltender Verkennung Spaß und Ernst einmal mehr nicht auseinander halten kann, sieht der Filmzuschauer als eigentlicher Adressat des doppelbödigen Manegengeschehens sich in der privilegierten Position bestätigt, die das Genre ihm zuweist. Durch die Verwandlung des Clowns in einen unglücklichen Liebhaber schlägt Sandbergs Klovnen eine Brücke vom Zirkusmelodram zu einem zweiten Subgenre, in dem Clowns prominent auftreten: dem Kriminalfilm. Wenn sich Clowns in Zirkusfilmen ab den 1950er vermehrt als Mörder und Kriminelle erweisen – wie in The Greatest Show on Earth (USA 1951, R: Cecil B. DeMille), The Fat Man (USA 1951, R: William Castle), Phantom des grossen Zeltes (BRD 1954, R: Paul May) oder in der Edgar-Wallace-Adaption Circus of Fear (GB 1966, R: John Llewellyn) –, geschieht dies v.a. aus zwei Gründen: Zum einen beuten die Filme die Diskrepanz zwischen dem sujeteigenen Rollenimage und der entsprechenden filmischen Genrekonvention aus. Neben vermeintlich gewaltaffinen Figuren wie dem Messerwerfer oder dem Dompteur gibt der Clown aufgrund seines komischen Rollenprofils den unwahrscheinlichsten Täter ab und bedient damit die spannungsmehrenden Ablenkungsstrategien des Genres. Zum anderen gehört es zur Darbietung eines Clowns dazu, dass er für die begrenzte Zeit des Auftritts eine Maske annimmt, und sei es nur in Form einer aufgesetzten roten Nase, die das Gesicht ansonsten freilässt. Diese Eigenheit der Clownperformance machen
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die Kriminalfilme zum Gegenstand eines planvollen Handelns mit der Absicht, die Identität einer Figur über die Manege hinaus dauerhaft zu schützen. Im Subgenre des Kriminalfilms spielen demnach wie im Zirkusmelodram das Moment der Verkennung und die sie begünstigende Maske – verstanden als undurchdringliche maschera – eine zentrale Rolle. In den genannten Kriminalfilmen der 1950er und 1960er Jahre geht die ins Verbrecherische gewandte Transgression des Clowns jedoch immer zulasten der Person hinter der Maske: Nicht der Clown als Rollentyp ist böse, sondern die Figur, die sich seiner bedient, um ihr ›wahres‹ Gesicht zu verbergen. Das unterscheidet die Clowns des traditionellen Kriminalfilms grundlegend vom Rollentypus des düsteren, bösen Clowns der jüngeren Filmgeschichte. Obwohl der glücklose Liebhaber und der heimliche Verbrecher als Rollentypen vorherrschen, tritt der Clown im Zirkusfilm mitunter auch dem angestammten Repertoire entsprechend als komische Figur auf. Praktisch durchweg handelt es sich in diesen Fällen um Starvehikel für ›echte‹ Clowns, die dem Kinopublikum aus der vorfilmischen Zirkus- oder Bühnenpraxis bekannt sind, wie Grock (Grock – son premier film, F 1926, R: Jean Kemm; Grock, D/F 1931, R: Carl Boese; Au revoir Monsieur Grock, CH/F 1949, R: Pierre Billon), Charlie Rivel (Akrobat schö-ö-ö-n, D 1943, R: Wolfgang Staudte) oder W.C. Fields (Sally of the Sawdust, USA 1923, R: D.W. Griffith). Diese Filme sind oft ganz auf die vorgängig etablierte komische Persona ihres Hauptdarstellers und dessen Repertoire zugeschnitten. So beschränkt sich in den Grock-Filmen die Handlung weitgehend darauf, dem Protagonisten einen dramaturgisch halbwegs plausiblen Grund zu liefern, seine berühmten Nummern im gewohnten institutionellen Umfeld – im Zirkus oder auf einer Bühne – zur Aufführung zu bringen. Die Rahmenerzählung erweist sich dabei der clownesken Performance gegenüber als nachrangig; so wurden für Grocks zweiten Film (Grock), mit dem sich dieser auf dem noch jungen Tonfilmmarkt zu etablieren versuchte, von der zentralen Bühnennummer fünf Sprachversionen gedreht (Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Ungarisch), von der Rahmenhandlung dagegen nur drei (Deutsch, Französisch, Englisch).24 24 | Für den Hinweis auf die unterschiedlichen Sprachversionen danke ich Raymond Naef (Zürich), einem Großneffen Grocks.
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Damit zeigt sich ein grundlegendes narratologisches Problem, mit dem Filme konfrontiert sind, die Clowns als komische Figuren zeigen. Zirkusfilme leben davon, dass sie im Akt der Erzählung die Grenzen der Manege überschreiten und das transgressive Potential der milieueigenen Figuren jenseits davon entfalten. Außerhalb des Rings sind Clowns jedoch nicht notwendig komischer als andere Figuren. Die meisten Zirkuskomödien lösen daher die Funktion des Clowns vom Clown als Figur ab, so dass der Protagonist sich in der erzählten Welt frei bewegen kann. Losgelöst vom entsprechenden Rollenprofil, können so auch andere Figuren aus dem sujeteigenen Personalfundus die Funktion des Clowns übernehmen, selbst solche, die ansonsten den Gegenpart markieren, an dem sich die anarchische Komik des Clowns entfaltet. So tritt W.C. Fields in George Marshalls You Can’t Cheat An Honest Man (USA 1939) gerade nicht als Clown, sondern als Direktor auf, der sein Unternehmen in eine weit über den Ring hinausgreifende Fundamentalopposition mit seinem gesellschaftlichen Umfeld verstrickt. Ein klassisches Beispiel für diese Art Clownerie zweiter Potenz ist Chaplins The Circus (USA 1928): Chaplin spielt darin die aus seinen früheren Filmen bekannte Figur des Tramp, die eher zufällig in die Rolle des Clowns rutscht. Ohne Bindung an das dazugehörige Rollenprofil und den Ring als performativen Rahmen steht es der Figur frei, der Reihe nach das gesamte Nummernangebot des Zirkus mitsamt den sozialen Hierarchien, die die Institution abseits des Manegengeschehens in The Circus gnadenlos beherrschen, zum Gegenstand einer komischen Subversion zu machen. Joseph Pevneys Three Ring Circus (USA 1954), eine »comedian comedy«25 mit Jerry Lewis und Dean Martin in den Hauptrollen, funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip: Die Clownerie wird gleichzeitig narrativiert und von der Manege als Schauplatz gelöst, indem sie als Berufswunsch des Protagonisten ausgegeben wird. Der komische Konflikt resultiert in diesem Fall aus dem überzogenen Missverhältnis zwischen den persönlichen Ambitionen der Figur und den ›ernsthaften‹ Aufgaben, die ihr innerhalb der Institution Zirkus übertragen werden. Erst nachdem er sich an ihnen versucht hat und ein ums andere Mal grandios gescheitert ist, darf der Protagonist offiziell in der Manege als der Clown auftreten, der er von Anfang an war. Die Funktion und das Rollenprofil des Clowns gehen erst dann zusammen, wenn der komische Konflikt und mit ihm der Film auserzählt sind. 25 | Vgl. dazu Seidman, Steve: Comedian Comedy. A Tradition in Hollywood, Ann Arbor: UMI Research Press 1979.
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Neben den Melodramen, den Kriminalfilmen und den Zirkuskomödien gibt es eine vierte, kleine Gruppe von Filmen, in denen der Clown weniger eine Figur als eine existenzielle Chiffre ist, über die grundlegende Fragen des Mensch- und In-der-Welt-Seins reflektiert werden. Von den beiden Seiten, die dem Zirkus eigen sind, setzen sie demnach stärker auf die Funktion eines philosophischen (Welt-)Modells als auf das Moment des Spektakels, in das diese eingelassen ist. Während in den ersten drei Gruppen die Konflikte, die die Handlung vorantreiben, am Ende regelmäßig gelöst werden und die Transgressivität der milieueigenen Figuren abgestellt wird – indem sie umkommen, verhaftet werden oder den Zirkus verlassen –, dominieren in der vierten Gruppe offene Erzählformen. Sie handeln von Zuständen und Befindlichkeiten; die Fragen, die sie aufwerfen, lassen sich daher im Gegensatz zu den genreüblichen dramatischen Konflikten nicht abschließend lösen. Mitunter geht beides zusammen, so wenn Victor Sjöström in He Who Gets Slapped die Konventionen des Zirkusmelodrams mit einer zweiten narrativen Ebene überformt. Im Rahmen der melodramatischen Erzählhandlung ist der titelgebende Clown He der unglückliche Liebhaber, der am Ende an seinem gebrochenen Herzen stirbt. Das Scheitern als Teil der Rollenphysiognomie des Clowns verliert damit das ihm eigene komische Moment. Dieses tragische Scheitern erhebt der Film auf der zweiten, parallel laufenden Erzählebene zu einer conditio humana und verwandelt den Clown in ein Sinnbild existenzieller Verworfenheit. In einer Reihe wiederkehrender, nicht durch die Dramenhandlung motivierter Überblendungen, die die Manege als Schauplatz und einen Globus als symbolisches Element frei ineinander transformieren, macht Sjöström den Clown in der konventionalisierten Rolle des unglücklichen Liebhabers filmästhetisch buchstäblich auf eine zweite, philosophische Bedeutungsdimension hin durchsichtig. Eine andere, weniger düstere Wendung gibt Federico Fellini dem Clown und dessen Grenzüberschreitungen, wenn er in La strada (I 1954) das Figurenrepertoire des Zirkus zu einem übergreifenden kosmologischen Rollenmodell ausbaut. Zwischen der dumpfen Immanenz des Kraftmenschen Zampanó und der flüchtigen Jenseitigkeit des Hochseilartisten Matto behauptet sich Gelsomina in der Rolle des Clowns als Inbegriff der Leichtigkeit, als Figur, die sich in existenziellen Schwebezuständen und kleinen Transzendenzen gegen die Zumutungen zu behaupten versucht, die ihr ihre vielseitig beschränkte Umwelt auferlegt.
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III. D er düstere C lown als F igur des nachkl assischen Z irkusfilms Indem sie Clowns zu Mördern und Verbrechern werden lassen, geben die Kriminalfilme der Figur und ihrem transgressiven Potential eine Wendung, die auf die Erscheinung des düsteren, bösen Clowns vorausweist. Dennoch setzt sein Aufkommen in der Geschichte des Zirkusfilms einen grundlegenden Paradigmenwechsel voraus. Die düsteren Clowns tauchen erst auf, nachdem die in den früheren 1910er Jahren in Europa und den USA einsetzende Hochzeit des klassischen Zirkusfilms Mitte des Jahrhunderts zu Ende geht und die bis dahin anhaltend hohen Produktionszahlen anfangen zu sinken.26 Der düstere Clown ist mit anderen Worten eine Figur des nachklassischen Zirkusfilms und als solche erst vor dem Hintergrund des entsprechenden filmhistorischen Paradigmenwechsels genealogisch angemessen zu begreifen. Als narrative Gebrauchsform des Zirkuscodes und seiner semantischen Ressourcen zeichnet sich der klassische Zirkusfilm durch eine Reihe von Charakteristika aus, die über die einzelnen Subgenres hinweg tragen: Er bezieht sich vorab auf den Zirkus als eine gelebte, dem Kinopublikum vertraute kulturelle Praxis, die er ihm vorgibt erzählerisch dadurch umfassend nahe zu bringen, dass er den Zuschauern gleichzeitig die milieuüblichen Schauwerte und einen Einblick in das ansonsten verschlossene Privatleben der Akteure bietet. Klassische Zirkusfilme entgrenzen die dem Sujet eigene Transgressivität, indem sie den Schauplatz der Handlung räumlich über die Manege hinaus erweitern und die ansonsten semantisch offenen Grenzüberschreitungen der Artistinnen und Artisten im Zug der Erzählung auf bestimmte Normen festlegen. Dennoch bleiben sie als Spielform der ritualisierten Transgression dem Zirkus verhaftet. Daher enden die Erzählungen vom ausgreifenden Normbruch häufig, indem sie für die abschließende Lösung des dramatischen Konflikts in die Manege zurückkehren, zu dem Ort, an dem der Zirkus als vorfilmische Institution seine Transgressivität räumlich und performativ unter Kontrolle hält. Von diesen Bindungen macht sich der nachklassische Zirkusfilm weitgehend frei: Er erhebt nicht mehr den Anspruch, den Zirkus als Institution mit entsprechenden Schauwerten und Erlebnisqualitäten zu er26 | Für die entsprechenden Statistiken siehe M. Christen: Der Zirkusfilm.
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zählen. Die Narration löst sich von der Manege als Schauplatz und dem einschlägigen Programmangebot. Die Einbindung der Figuren in ein funktional ausdifferenziertes Rollenrepertoire, die es erlaubte, etwa den Clown als (komischen) Part klar einzuordnen, entfällt. Und während der klassische Zirkusfilm mit dem Code das ganze Sujet aufruft, reicht in den nachklassischen Filmen oft ein minimaler Sujetbezug aus, um die historisch angesammelten semantischen Reserven zu aktualisieren. Neben dem besagten Paradigmenwechsel ist für die Entstehung des düsteren Clowns als Filmfigur ein zweite, genregeschichtliche Entwicklung entscheidend, nämlich die Hybridisierung von Zirkus- und Horrorfilm als Genres des transgressiven Kinos. Tod Browning machte mit dem Film Freaks (USA 1932) früh die Nähe deutlich, die der Zirkusfilm zum Horrorgenre unterhält. Allerdings sind dort für Angst und Schrecken als bevorzugte Zuschauerreaktionen nicht die Clowns, sondern die titelgebenden Freaks und ihre körperlichen Disfigurationen zuständig. Die Genrehybride der 1960er und 70er Jahre – Circus of Horrors (GB 1960, R: Sidney Hayers), Berserk (Arbeitstitel Circus of Blood, GB 1967, R: Jim O’Connolly) und die Hammer-Produktion Vampire Circus (GB 1971, R: Robert Young) – arbeiten ebenfalls mit den abnormen Körpern von Tätern und Opfern als Quelle von Angst und Schrecken. Auch da geht der Horror – noch – nicht von der Figur des Clowns aus. Das ändert sich in den Genrehybriden der 1980er, in Killer Klowns from Outer Space (USA 1988; R: Stephen Chiodo), Stephen King’s It (CAN/USA 1990, R: Tommy Lee Wallace) und Filmen wie Stitches (IR 2012, R: Conor McMahon). Der Clown ist dort nicht länger ein simpler Verbrecher oder Mörder wie im klassischen Zirkusfilm, sondern wird zu einer monströsen Figur, die umso verlässlicher für Angst und Schrecken sorgt, als ihr – anders als den Vorgängern und deren Normbrüchen – mit den genreüblichen polizeilichen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Mit Blick auf diese nachklassischen Produktionen und ihre düsteren Protagonisten lassen sich zwei Figurentypen und Erzählmuster unterscheiden, die sich teilweise überlappen: der Clown als körperliche Bedrohung der psychischen und sozialen Integrität eines jugendlichen Zielpublikums (Killer Klowns from Outer Space, Stitches, It) sowie der Clown als Agent und Wiedergänger traumatischer Vergangenheiten (It; Balada triste, dt. Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod, E/F 2010, R: Álex de Iglesia). Wenn Zirkusfilme narrative Gebrauchsformen eines kulturellen Codes sind, der auf der geregelten Überschreitung von
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Gesetzen und Normen beruht, stellen sich für die nachklassischen Produktionen ähnlich wie für die klassischen zwei Fragen. Erstens: Inwiefern aktualisieren die düsteren, bösen Clowns – auf den Zirkus als Code bezogen – in ihrem Handeln, ihrer Körperlichkeit und ihrem Habit – semantische – Möglichkeiten, die in der Figur des Clowns angelegt, aber für gewöhnlich durch die entsprechenden performativen Routinen gebändigt sind? Und zweitens, auf den Zirkusfilm als eigenes, kinematographisches Genre bezogen: Inwiefern greifen die jüngeren Produktionen auf Figuren- und Erzählstereotypen der bis Ende der 1950er Jahre währenden klassischen Phase zurück?
IV. D r amen instabiler K örper Filme wie Killer Klowns from Outer Space oder Stitches (IR 2012, R: Conor McMahon) wenden sich als so genannte ›teenpics‹ an ein klar umrissenes Zielpublikum. Die anvisierten Betrachter sind wie die Hauptfiguren bevorzugt Heranwachsende, wie sie im Rahmen eines demographischen Wandels des Kinopublikums ab den 1950er Jahren zunächst in den USA nicht zuletzt ökonomisch massiv an Bedeutung gewinnen.27 Killer Klowns from Outer Space und Stitches erzählen beide Geschichten von Körpern in Aufruhr. Aufgrund seiner eigenen unbändigen Physis ist der böse Clown zugleich Inbild und Bedrohung der jugendlichen Körper mit ihrer unsicheren Identität und erwachenden sexuellen Trieben. Killer Klowns From Outer Space setzt mit einem klassischen Erzählstereotyp ein: dem Einfall des Zirkus in die abgeschlossene, geordnete Welt einer Kleinstadt. Die Übertreibung, die als stilistisches Merkmal fest zu Clownperfomances gehört, erfährt dabei allerdings eine weitere, sie potenzierende Steigerung – und das in mehrfacher Hinsicht: Das zu Beginn anreisende Zirkusunternehmen besteht ausschließlich aus Clowns, die sich nicht bloß am Rand der Gesellschaft bewegen, sondern zum Ausweis ihrer ultimativen Exterritorialität geradewegs aus dem Weltall stammen. Auch in ihrer körperlichen Anlage folgen die Figuren dem Prinzip der doppelten Übertreibung: Ihre Gesichter und Körper gehen weit über das für Clowns 27 | Vgl. u.a. Doherty, Thomas Patrick: Teenagers and Teenpics. The Juvenilization of American Movies in the 1950s. Rev. and expanded ed., Philadelphia: Temple University Press 2002.
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normale Maß physischer Verformung hinaus. Ihre Gesichter sind riesenhaft, die Augen gelblich, hinter den unförmigen Lippen zeigen sich messerscharf fleckige Zähne. Und obwohl sie Kostüm und Maske von normalen Zirkusclowns übernehmen, richtet sich die körperliche Gewalttätigkeit der Killer Klowns nicht in gewohnt harmloser Weise gegen ihresgleichen, sondern trifft letal die Bewohner der Kleinstadt. Killer Klowns From Outer Space entgrenzt also nach dem bewährten Muster des klassischen Zirkusfilms die Manege als Ort der geregelten Transgression. Ungeachtet der tödlichen Folgen und des Horrors als kalkuliertem Genreeffekt bewahrt die Grenzüberschreitung der monströsen Clowns jedoch ein Moment von Komik und damit ein zentrales Element herkömmlicher Clownperformances: Die Killer Klowns bringen ihre Opfer nämlich nicht einfach ums Leben, sondern verwandeln sie in Zuckerwatte – ein Objekt, das metonymisch Zirkus, Jahrmarkt und Freizeitvergnügen aufruft, wie ihnen das jugendliche Publikum mit dem Besuch des Kinos selbst nachgeht. Entsprechend ambivalent fällt das Angebot aus, das Killer Klowns from Outer Space dem Publikum für die Positionierung den fiktionalen Figuren gegenüber macht. Zwar beteiligen sich die Protagonisten Mike und Debbie, die als idealtypische Verkörperungen einer Zuschauer und Charaktere verbindenden Jugendkultur aufgebaut werden, führend am einsetzenden Kampf gegen die monströsen Killer Clowns. Gleichzeitig erlauben diese jedoch, was Murray Smith in seinem ausdifferenzierten Stufenmodell des »character engagement« als »allegiance« bezeichnet: »To become allied with a character, the spectator must evaluate the character as representing a morally desirable (or at least preferable) set of traits, in relation to other characters in the fiction.«28 Mit der Verwandlung ihrer Opfer in Zuckerwatte appellieren die Clowns nicht nur an die Freizeitgewohnheiten ihres Publikums, sie bedienen durch ihre hochgradig selektive Gewaltanwendung einen sozialen Wertekanon, von dem angenommen werden kann, dass er dem des jugendlichen Zielpublikums entspricht. Zum Opfer fallen den Killer Clowns nämlich nur diejenigen Figuren im diegetischen Kleinstadtkosmos, die bei seinen jugendlichen Bewohnern ein gesteigertes Bedürfnis nach Abwechslung wecken, sei es durch ihre repressive Ausübung der Gesetzesmacht (Polizisten), mangelnde Coolness (Brillenträger), ihren schlechten Geschmack 28 | Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Clarendon Press 1995, S. 188.
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(Pralinenschachteln in Herzform) oder ihre schlichte Normalität. Zwar werden am Ende die Killer Clowns als eine von außen hereinbrechende Bedrohung bezwungen, sie lassen jedoch ein im Sinne der jugendlichen Helden reorganisiertes Kollektiv zurück. In ungebrochener Ambiguität wahrt damit der böse Clown ein Stück des utopischen Potentials, das dem Zirkus als versuchter Generaltransgression der bestehenden Weltordnung zukommt. Die irische Produktion Stitches greift die Bedrohung Jugendlicher durch den düsteren Clown und seine abnorme Körperlichkeit als Merkmalskombination auf, gibt ihr aber eine entwicklungspsychologische Wendung, indem sie den Clown zum Katalysator einer sexuellen ritesde-passage-Erzählung macht. Seit er bei einem Kindergeburtstag durch einen unglücklichen Zufall zu Tode gekommen ist, wird der titelgebende Clown Stitches nur mehr durch eine Reihe von Nähten notdürftig zusammengehalten. Jahre nach dem ersten Kindergeburtstag kehrt er anlässlich einer Party der nun adoleszenten Freunde als Untoter für einen zweiten ›Auftritt‹ zurück. Wie in Killer Klowns ist der böse Clown hier kein schlichtes Monster, sondern eine im höchsten Maß ambivalente Figur: Zwar kommt er als Rächer zurück, fungiert aber zugleich als alter ego seiner potentiellen Opfer. Sein fragiler Körper gibt ihrer psychischen Instabilität eine sichtbare Gestalt. Wenn sich die gewalttätigen Transgressionen des Clowns geradewegs gegen die Körpergrenzen seiner Opfer richten, indem er sie den Konventionen des Horrorgenres folgend aufschlitzt, aufreißt und in ihre Eingeweide greift, wird körperlich ausagiert, was sich als Auseinandersetzung um die Einheit der Person und ihre sexuelle Identität im Innern der Attackierten verbirgt. Dass es sich beim Clown ungeachtet der monströsen physischen Grenzüberschreitungen vorab um eine psychogene, im Innenleben seiner jugendlichen Opfer angesiedelte Figur handelt, markiert Stitches mit unterschiedlichen ästhetischen Mitteln. Zum einen stellt der Film jenseits der Verkettung der Ereignisse eine durchgängige topische Verbindung zwischen der Figur des Clowns und der Sexualität her, die die heranwachsenden Protagonisten als Komplex umtreibt. Anfang und Ende zeigen als Schlüsselszenen des Films Clowns als hochgradig sexualisierte, in ihren Trieben ungezügelte Wesen. Zum anderen deuten Sequenzen, die unmissverständlich als Visionen gekennzeichnet sind, die Möglichkeit an, dass es sich bei der Figur des bösen Clowns um eine bloße Projektion handelt und alles, was er an Schrecklichem anrichtet, sich allein in der Vorstellungswelt der Jugendlichen abspielt. Wenn
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er als identitäres Gegenbild auf die fragile psychische Einheit der Person zielt, die er als notdürftig zusammengehaltenes Wesen (»Stitches«) selbst verkörpert, muss der düstere Clown überwunden werden, wenn die rite de passage als Übergang ins Erwachsenenalter gelingen soll. Die adoleszenten Helden töten daher in der Schlusssequenz den Clown ein zweites Mal und zerstören seinen ohnehin prekären Körper nunmehr endgültig (Abb. 1). In der doppelten, psychologischen Lesart, die der Film anbietet, lösen sich damit der böse Clown und, was er als Figuration physisch vertritt, aber nicht einfach auf: Die jugendliche Hauptfigur des Films, Tom, dessen Geburtstage sinnfällig den Rahmen der Erzählhandlung abgeben, findet, nachdem Stitches bezwungen ist, endlich den Mut, seine Schüchternheit abzulegen und die bis dahin heimlich angebetete Freundin für sich zu gewinnen. Der düstere Clown kann sich am Ende deswegen auflösen, weil das Moment der Sexualität, mit dem er in der Erzählung topisch verbunden ist, abschließend in die Persönlichkeit der adoleszenten Hauptfigur integriert und in einer gelingenden (heterosexuellen) Paarbildung der herrschenden gesellschaftlichen Norm entsprechend gebändigt wird. Abb. 1: Gewaltsame Desintegration des Clownkörpers (Stitches, TC: 1:15:57)
Standbild: S titches . DVD. Kaleidoscope Home Entertainment. 2013
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V. D er C lown als W iedergänger tr aumatischer V ergangenheiten Indem ein Film wie Stitches den düsteren Clown als Bedrohung instabiler Identitäten psychologisiert, gibt er ihm eine (lebens-)geschichtliche Dimension und verweist auf einen zweiten dominanten Figurentypus: den düsteren Clown als Wiedergänger traumatischer Vergangenheiten. Die TV-Adaption von Stephen Kings gleichnamigem Beststeller It (CAN/ USA 1990) macht die historische Dimension über eine Doppelung der Erzählebenen auf: Eine Gruppe von Freunden kehrt wider Willen an den Ort der gemeinsam erlebten Kindheit zurück, weil der Kinder mordende Clown Pennywise, den sie glaubten vor Zeiten bezwungen zu haben, wieder da ist und neue Untaten begeht. Das Wiedersehen der Freunde bildet die Rahmenhandlung, während die Vergangenheit, die sie – bereits überwunden geglaubt – wieder einholt und bei den Figuren traumatische Rekurrenzen erzeugt, über eine Reihe von Flashbacks erzählt wird. Der Schrecken, den der Clown als Antagonist verbreitet, rührt in It daher, dass er das Moment kindlichen Vergnügens ansatzlos in den blanken Horror umschlagen lässt und damit das emotionale Register, auf das die Figur über das Rollenrepertoire des Zirkus abonniert ist, ins exakte Gegenteil verkehrt. In einer der ersten Szenen des Films lockt Pennywise aus einem Abwasserschacht heraus einen kleinen Jungen – den Bruder des Protagonisten – zu sich, der sich vom vertrauen Aufzug – dem weiß geschminkten Gesicht, der roten Nase und den ebenfalls rot gefärbten Haaren – täuschen lässt. Das eben noch freundlich lächelnde Gesicht des Clowns verwandelt sich mit einem Mal in eine monströse Fratze mit einem mörderischen Gebiss (Abb. 2-4). Während sich hinter der Maske des Clowns in den klassischen Zirkusmelodramen und Kriminalfilmen wahlweise Verbrecher oder glücklose Liebhaber verbergen, erweist sich die Trennung von Rolle und Person in der bruchlosen physiognomischen Transformation von Pennywise als hinfällig. Clown und Monster bilden eine körperliche Einheit. Der Aufzug des Clowns dient nicht länger als verstellende Maske, hinter der sich eine möglicherweise böse Figur verbirgt; die Figur des Clowns ist vielmehr als solche durch und durch böse. Mit der Trennung von Rolle und Person nimmt die körperliche Verwandlung des Clowns dem Betrachter die Distanz und die beruhigende Gewissheit, dass der verbreitete Schrecken auf einer angenommenen Rolle beruht. Der Horror ist offenkundig ein essentielles Charakteristikum der Figur und nicht Teil einer Rollenperformance.
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Abb. 2-4: Physiognomische Metamorphose (It, TC: 11:00/11:52/11:55)
Standbild: Stephen King’s I t. DVD. Warner Home Video. 2003
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Obwohl sich die Transgression des (bösen) Clowns in It wie in Killer Klowns from Outer Space und Stitches gegen die körperliche Integrität seiner Opfer richtet, verfolgt It ähnlich wie Stitches eine Strategie der narrativen Doppelung von Bedrohungsszenarien, indem die Mini-Serie den bösen Clown mit einem frei schwebenden – diegetischen – Realitätsstatus versieht. Zwar haben die Untaten des Monsters greifbare Folgen – eine ganze Reihe von Figuren kommt zu Tode –, sehen können Pennywise jedoch nur die Protagonisten. Zugleich erweisen diese sich in der Konfrontation mit dem bösen Clown, obwohl mittlerweile erwachsen, zunehmend als Figuren mit Schwächen und Defiziten (Bindungsunfähigkeit, Stottern, Ängste, nicht ausgelebte [Homo-]Sexualität), die aus ihrer offenbar nicht bewältigten Vergangenheit und damit aus der Zeit der ersten Konfrontation mit Pennywise rühren. Das Auftreten des bösen Clowns zwingt die Freunde als ›unfertige‹ Figuren geographisch und psychologisch an ihren Ursprung zurückzukehren und sich ihren Konflikten zu stellen. Im Sinn von Hoerrs ethnopsychologischer Deutung des Clowns fungiert Pennywise hier im Kontext des populären Kinos als »high priest of the psychological ritual re-inducting the earthly and neglected functions«.29 Im gestuften topographischen Aufbau der diegetischen Welt, in dem sich eine den Figuren unterstellte psychische Schichtung räumlich doppelt, wird Pennywise daher in seiner doppelten Bestimmung als Bedrohung und Verlockung im Untergrund verortet, im Abwassersystem der heimischen Kleinstadt und den höhlenartigen Gängen eines stillgelegten Wasserwerks. Die Auflösung des Konflikts ist ebenso wie das Subjektmodell, das ihm zugrunde liegt, hochgradig konventionell: Um die eigenen Defizite hinter sich zu lassen, müssen die Freunde Pennywise noch einmal und nun endgültig bezwingen. Der Tod des bösen Clowns und die gewaltsame Dissoziation seines Körpers (Abb. 5) sind der Preis für die gelingende Identitätsbildung der Protagonisten – nach dem auch in Stitches geltenden Prinzip, wonach die körperlichen und psychischen Aggregatzustände der Hauptfiguren sich reziprok zueinander verhalten. Hinsichtlich des Ausmaßes, mit dem das transgressive Potential des düsteren Clowns und die psychohistorischen Unsicherheiten, die er vertritt, abschließend begrenzt werden, erweist sich It allerdings als ideologisch problematisch. Denn die Bedrohung, die vom Clown als Katalysator einer innerpsychischen Entwicklung ausgeht, wird am Ende 29 | L.C. Charles: »The Clown’s Function«, S. 34.
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radikal externalisiert. Dramaturgisch schwer nachzuvollziehen, erlegen die Freunde zuletzt in den unterirdischen Gängen des Wasserwerks ein spinnenartiges Wesen, das sich als das ultimative Böse angeblich hinter Pennywise verbirgt. Der düstere Clown wäre demnach nur eine vorgeschobene Figuration desselben. Der Zustand der Befreiung, in die die Erzählung die Hauptfiguren am Ende entlässt, ist damit vom Clown als Katalysator ihrer Entwicklung zuverlässig entrückt. Mit der Überwindung eines ›wahren‹ Bösen scheint ihr Ergebnis auf Dauer sichergestellt. Die abschließend präsentierte Lösung wird jedoch nicht nur aus den Figuren ausgelagert, sie ist extrem restriktiv in dem, was sie an gelingenden Subjekt- und Lebensmodellen zulässt: Während die Schlusssequenz die meisten Freunde in glückhaften Paarbeziehung zeigt, überlebt die homoerotisch grundierte Figur des ›Junggesellen‹ Eddie die Begegnung mit dem Monster nicht. Abb. 5: Körperliche Auflösung des bösen Clowns (It, TC: 1:26:13)
Standbild: Stephen King’s I t. DVD. Warner Home Video. 2003
Als Agent traumatischer Vergangenheiten bleibt der düstere Clown im nachklassischen Zirkusfilm nicht auf private Psychogenesen beschränkt. In Álex de Iglesias Balada triste (E/F 2010) kehrt in Gestalt des Clowns Javier die Zeit der faschistischen Diktatur ins nachfrancistische, republikanische Spanien zurück, wobei sich die private Geschichte der Figur und die des Landes unheilvoll verschränken. Der biographische Erzählstrang folgt einem Stereotyp des klassischen Zirkusmelodrams: Der Clown wählt mit der Strapatenartistin das ›falsche‹, weil auf einer ande-
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ren Stufe der sujeteigenen erotischen Hierarchie angesiedelte love interest. Sie nimmt ihn folgerichtig nicht Ernst und wirft ihn auf die Rolle des unglücklichen Liebhabers zurück. Über eine historische Rückblende (»Madrid 1937«) wird zu Anfang des Films die Rollenzuschreibung des traurigen Clowns parallel zeitgeschichtlich motiviert: Angesichts der politischen Ohnmacht gegenüber dem siegreichen Francofaschismus erlegt der Vater, selbst ein Zirkusclown, dem jungen Javier als Hauptfigur den Rollentyp des traurigen Clowns für die Zukunft auf, obwohl dieser lieber ein lustiger August werden würde. Balada triste ruft also in der Tradition von Zirkusmelodramen wie He Who Gets Slapped das Scheitern als Element von Clownperformances auf und nimmt ihm dadurch das komische Potential, dass das Versagen der Person statt der Rolle zugeschrieben wird. De Iglesias geht in Balada triste aber noch einen Schritt weiter: Aus dem traurigen wird ein düsterer, böser Clown, sobald die politisch-historische Plotlinie die romantisch-biographische überlagert und Javier nach Jahren dem francistischen Oberst begegnet, der in der einleitenden Rückblende den republikanischen Widerstand brutal gebrochen hat. Der Wandel, der sich aus der Doppelung der beiden Plotlinien ergibt, betrifft nicht allein die moralische Wertigkeit der Figur (traurig/böse). Er versammelt eine Reihe von Merkmalen, die für den düsteren Clown insgesamt konstitutiv sind. Die Verwandlung zum midpoint des Films stellt den Rollenwechsel als körperliche Essentialisierung performativer Elemente dar: Hatte Javier sich bis dahin für seine Manegenperformances geschminkt, brennt er sich nun die neue Rollenidentität förmlich ein: Mit Lauge und Bügeleisen gibt er sich das Aussehen eines dauerhaft lachenden Clowns mit weißem Gesicht und roten Wangen. Die Grenze zwischen Maske und Person wird damit genauso aufgehoben wie die räumliche Trennung zwischen Manege und Umwelt. War er bis dahin an den institutionellen Rahmen des Zirkus gebunden, kehrt Javier als düsterer Clown die milieueigenen Transgressivität gewalttätig nach außen, indem er seine Kontrahenten wild um sich schießend aus dem Weg räumt und so das emotionale Register dreht, auf das die Clownerie als komödiantischer Akt abstellt. Anders als die Killer Klowns, die ihre Opfer im gleichnamigen Teenpic in Zuckerwatte verwandeln, behält der Clown in Balada triste vor dem historischen Hintergrund nichts von der der Figur des Clowns ansonsten eigenen Komik. Die Umkehr des emotionalen Registers hat maßgeblich mit der Starrheit zu tun, die dem gewaltsam entstellten Ge-
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sicht als verkörperlichte, von der Person untrennbare Maske eigen ist. Der traurige Clown des klassischen Zirkusmelodramas konnte deswegen die genreüblichen Empathieleistungen auf Seiten des Publikums mobilisieren, weil dieses aufgrund des Erzählzusammenhangs wusste, dass sich hinter der Clownsmaske eine Person verbirgt, die quer zum komischen Rollenstereotyp einen berechtigten Anspruch auf emotionale Anteilnahme hat. Wenn zum Finale, auf das die romantisch-biographische und die politisch-zeithistorische Plotlinie gemeinsam zulaufen, das love interest des Protagonisten, die Strapatenartistin, im symbolträchtigen »Valle de los Caidos« an dem riesenhaften Denkmal für Francos Sieg auf symbolträchtige Weise umkommt und Javier verhaftet wird, ist er als Clownfigur weder komisch noch empathiefähig. Die Halbnahe auf ihn lässt offen, ob er weint, wie es die tragischen Umstände erwarten ließen, oder ob er lacht, wie es seine entstellte Physiognomie zwanghaft vorgibt. Die Unsicherheit der emotionalen Zuschaueradressierung rührt nicht daher, dass unklar wäre, was sich hinter der Maske verbirgt, sondern dass die Maske als Entstellung untrennbar mit dem Gesicht verbunden ist und seine expressiven Äußerungen ununterscheidbar macht. Der düstere Clown erscheint am Ende von Balada triste als hochgradig ambigue, weil physiognomisch nicht lesbare, undurchdringliche Figur. Die physiologische Essentialisierung der Maske, der Wegfall der Unterscheidung von Rolle und Person, die eigentümliche Körperlichkeit und die besondere Rolle des – entstellten – Gesichts, das Kippen des adressierten emotionalen Registers und die notorische Ambiguität sind Merkmale, die die Figur des Jokers in Christopher Nolans The Dark Night (USA 2008) als Inbegriff des düsteren Clowns beispielhaft in sich vereinigt.
VI. K ein O rt nirgends — der C lown als dystopische K ippfigur (The D ark K night) In Bezug auf die narrative Struktur und die Anlage der Figuren gleichermaßen komplex, mobilisiert Christopher Nolans The Dark Knight die gesammelten semantischen Reserven der Clownfigur und zieht eine vorläufige Bilanz aus einer langen Geschichte erzählerischer Deutungsformen, die über die unmittelbare Vorlage – Tim Burtons Batman (UK/USA 1989) – in die Filmgeschichte zurückgeht, über die Figur des Jokers aber auf eine sehr viel breitere populärkulturelle Tradition der Bilderzählung
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verweist, insbesondere im Bereich des Comics.30 In die Tradition des Zirkusfilms reiht sich The Dark Knight ein, indem er vorab einschlägige generische Versatzstücke zitiert: den Clown als Verbrecher und die Maske als schützende Verhüllung einer kriminellen Identität. Der Joker wird in der Eröffnungssequenz eingeführt, ohne dass klar wird, dass es sich um den künftigen Antagonisten Batmans und damit die zweite Hauptfigur des Films handelt (Abb. 6). Das Inkognito ist Programm; von dem kräftig gebauten Mann ist nur eine Rückenansicht, nicht aber das Gesicht zu sehen. In der linken Hand trägt er eine Clownmaske, die er offenbar gleich aufziehen wird. Bereits da ist absehbar, dass die Vollmaske, die die Gesichtszüge auf einige wenige, typische Merkmale der clownesken Physiognomie reduziert – Whiteface, Auge und Mund grob in Primärfarben markiert –, als maschera von beunruhigend starrer Ausdruckslosigkeit nichts von ihrem Träger preisgeben wird. Abb. 6: Der Clown als Maske des Kriminellen (The Dark Knight, TC: 1:24)
Standbild: The Dark K night. DVD. Warner Home Video. 2008
Obwohl es in der Eröffnungssequenz um einen groß angelegten Bankraub und mithin darum geht, einschlägige Genresignale zu setzen und 30 | Vgl. dazu u.a. P. Peccatte: »Les origines des clowns agressifs dans la culture populaire« und den Beitrag von Lena Sharma in diesem Band. Ich beziehe mich in meiner Analyse nur auf den Joker als Filmfigur und seine filmische Genealogie.
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Erwartungen zu wecken, teilt der Coup in der Art, wie er inszeniert ist, zentrale Eigenschaften mit einer Clownperformance – unabhängig von der oberflächliche Referenz, dass die Räuber alle Clownmasken tragen. Der Raubzug ist dramaturgisch wie ein Clownakt ganz auf Rhythmus und Timing abgestellt. Das gilt nicht nur für die einzelnen kriminellen Akte auf dem Weg zum angestrebten Ziel – dem Geld im Tresorraum –, sondern auch für die komischen Einlagen, die sie begleiten. Die als Clowns maskierten Bankräuber verwickeln sich in Übereinstimmung mit dem aufgesetzten Rollenimage fortwährend in Zweikämpfe (die allerdings regelmäßig tödlich enden). Sie bringen Dinge durcheinander, z.B. wenn einer der Clowns die verbleibenden Salven aus der Schrotflinte eines Bankmanagers falsch kalkuliert, was einen anderen beinahe das Leben kostet. Das existentiell bedrohliche Versagen gewinnt im Dialog zwischen den zwei Räubern in Clownmasken eine entsprechend komische Note (»Where did you learn to count?«). Und auch die übersteigerte Inkongruenz von Mittel und Zweck findet sich als Stilmittel clownesker Komik wieder: Der Anführer der Bande, der als einziger überlebende Joker, nutzt einen Schulbus, um mit einem losen Faden die Granate auszulösen, die er dem widerständigen Bankmanager in der Mund gesteckt hat. In Übereinstimmung mit der Dramaturgie einer Clownnummer beschließt ein letzter – verquerer – Scherz die Sequenz: Nach der vorausgehenden Explosion der Gewalt gibt die Granate am Ende wider Erwarten nur einen dünnen Rauch von sich und lässt den Banker am Leben. Der in der Eröffnungssequenz aufgerufene Erzählstereotyp vom Clown als Verbrecher, der hinter der rollenüblichen Maske seine Identität versteckt, wird jedoch dadurch umgehend gebrochen, dass die im klassischen Zirkusfilm bis zuletzt aufgeschobene Enthüllung der Täteridentität an den Anfang gesetzt wird: Gleich nach dem erfolgreichen Bankraub hebt der Joker seine Maske (Abb. 7). Statt des zu erwartenden ›wahren Gesichts‹ enthüllt der bedeutungsträchtige Akt jedoch eine zweite, ebenfalls clowneske Maske, die anders als die erste direkt auf das Gesicht aufgebracht ist. Hinter der angenommenen Rollenidentität des Clowns verbirgt sich also wiederum ein Clown, womit jene ihren Status ändert. Die Trennung von Rolle und Person wird eingezogen. Im Gegensatz zu der vom Joker anfänglich getragenen Vollmaske mit ihren starren Zügen bildet die zweite eine expressive Einheit mit dem Gesicht des Trägers. Um die oben angeführte Unterscheidung von Richard Weihe aufzugreifen, lässt sich damit ein wesentliches Element der Entstehung des düsteren
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Clowns maskentheoretisch als paradigmatischen Wechsel von der Maske als maschera, die Rollenidentität und Person klar zu trennen erlaubt, zur Maske als prósopon beschreiben, die beides in einer paradoxen Einheit miteinander verschränkt. Abb. 7: Der Clown hinter der Maske (The Dark Knight, TC: 5:35)
Standbild: The Dark K night. DVD. Warner Home Video. 2008
Wenn der Joker vorgibt, seine Maske abzulegen, nur um eine weitere, seinem Gesicht eingeprägte zu enthüllen, zeigt sich aber noch etwas anderes. Das täuschende Lüften der Verhüllung verstärkt das der Figur eigene Moment emphatischer Körperlichkeit. Rot überschminkt, verraten zwei Narben, die den Mund rechts und links in die weiß gefärbten Wangen hinein verlängern, dass die eigentümliche Physiognomie des Jokers ihrerseits Ergebnis massiver körperlicher Gewalt ist. Er ist wie alle düsteren, bösen Clowns eine physisch deformierte Figur. Trotz der bestehenden Parallelen ist der Joker daher genauso wenig ein gewöhnlicher Clown wie der einleitende Bankraub ein programmüblicher Clownakt. Die Frage ist allerdings nicht, ob der Joker dem Rollenprofil des Clowns entspricht, sondern wie er das semantische Potential aktualisiert, das diesem und dem Zirkus als vieldeutige Zeichen eigen ist. Entscheidend dafür ist die Art und Weise, wie die Figur und ihre Normüberschreitungen gerahmt werden, ob durch performative Routinen im Zirkus oder Erzählzusammenhänge im Zirkusfilm. Während in seiner klassischen Spielform die Transgressionen, die vom Milieu und den Figu-
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ren ausgehen, einer Begrenzung durch ein festes Set narrativer Konventionen und eine entsprechende Erzähltopographie unterliegen, scheinen in The Dark Knight sämtliche Schranken zu fallen. Die gewaltsamen Attacken des Jokers richten sich in ungeahnter Heftigkeit gegen jeden gesellschaftlichen Normbereich; Menschenleben haben für ihn genauso wenig Wert wie Geld als Inbegriff der kapitalistischen Wirtschaftsordnung; das gewaltige Vermögen, das er als Belohnung dafür erhält, dass er die Mafia von Gotham City im Kampf gegen Batman als Hüter von Recht und Ordnung unterstützt, setzt er – mitsamt dem dazugehörigen Buchhalter – achtlos in Brand und erhebt sich damit wie ein Zirkusclown, wenn auch mit ungleich weiter gehenden Lizenzen, über die gewohnten Werthierarchien. Im Gegensatz zum Zirkus und zum Zirkusfilm greifen hier die üblichen topographischen Zuordnungen nicht, was der Vergleich mit der älteren Adaption des Stoffs durch Tim Burton mit Bezug auf die Genrekonvention des Gangsterfilms deutlich macht. Während der Joker in der Erzähltopographie von Batman einen ihm fest zugewiesenen generischen (Rückzugs-)Raum hat,31 erweist er sich in The Dark Knight als ortlose Figur. Aus dem Nichts auftauchend, ist er überall und nirgends Hause und entsprechend schwer zu fassen. Auch fehlt ihm die übliche Entourage; seine namenlosen Gefährten kommen und gehen, ohne einen stabilen Zusammenhang zu bilden, der es erlauben würde, die Figur sozial einzubinden. Zudem ist der Joker in The Dark Knight eine Figur ohne (Vor-)Geschichte: Während in Batman das Publikum erfährt, wie aus dem Gangster Jack Napier der Joker wird und woher seine physiognomische Deformation rührt, wird im Remake jegliche genealogische Erklärung verweigert. Zwei Mal setzt der Joker in The Dark Knight dazu an, die Herkunftsgeschichte seiner Narben zu erzählen; die beiden Versionen schließen einander jedoch aus. So will er sich einmal die Verletzungen selbst beigebracht haben, ein anderes Mal stammen sie angeblich von seinem gewalttätigen Vater. Der Joker ist also nicht nur eine agenealogische, geschichtslose Figur, er ist, narratologisch betrachtet, ein unzuverlässiger, weil lügender Erzähler.32
31 | Vgl. Hartmann, Britta: »Topographische Ordnung und narrative Struktur im klassischen Gangsterfilm«, in: Montage AV 8/1 (1999), S. 111-133. 32 | Vgl. die Szenen TC 29:45 und 49:45. Eine dritte vom Joker vorgebrachte Erklärung zum Ende des Films wird gar nicht mehr ausgeführt.
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Abb. 8: S/Laughter is the best medicine (The Dark Knight, TC: 1:13:03)
Standbild: The Dark K night. DVD. Warner Home Video. 2008
Dass es sich trotz der scheinbar fehlenden Beschränkungen bei den Taten des Jokers um eine in letzter Konsequenz geregelte Form der Transgression handelt, macht ein metafiktionaler Verweis deutlich: In einer langen Sequenz, in der der Joker Batman herausfordert, indem er den Konvoi des rechtschaffenen Staatsanwalts von Gotham City angreift, fährt er auf einem Sattelschlepper, auf dem – am linken Bildrand – ein Zirkuszelt zu erkennen ist (Abb. 8). Für sich genommen beiläufig, markiert das ikonographische Versatzstück – ein Zirkuszelt – im Verbund mit anderen, topisch wiederkehrenden Elementen aus der Welt des Zirkus – Clownmasken, komische Routinen –, was der Joker als düsterer Clown an Normen bricht, als Gebrauchsform des Zirkuscodes und behauptet damit eine residuale Ordnung. Der Verweis, der über das Zelt als minimalen, aber hochkonventionalisierten Sujetbezug die angesammelten semantischen Reserven des Zirkus aufruft, reiht den Joker und sein Tun in die lange Tradition einer cultural performance (Victor Turner) ein, die die Grenzüberschreitung als Mittel der modellhaften Reflexion grundlegender Fragen versteht. Zugleich zeigt der metafiktionale Verweis an, wie der Gebrauch der Codes beschaffen ist, aus dem der Joker als düsterer Clown hervorgeht: In Verbindung mit dem Zirkuszelt als Bildmotiv gibt ein in der gleichen Farbe gehaltener Schriftzug die Devise »Laughter is the best medicine« aus, während ein in roter Farbe davor gesetztes »S« die Bot-
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schaft bei gleichbleibendem Wortlaut ins genaue Gegenteil verkehrt: Aus dem Lachen, das Zirkus und Jahrmarkt als Freizeitvergnügen begleitet, wird durch eine minimale – lautliche – Verschiebung ein tödliches Gemetzel. Während also die klassischen Zirkusfilme die Transgressivität des milieueigenen Personals auffalten, um sie abschließend zu begrenzen, stellt The Dark Knight sie mit dem düsteren, bösen Clown als Kippfigur auf Dauer. Diese semantische Operation bezieht sich über die filmästhetischen Register hinweg gleichermaßen auf die von der Figur adressierten Erfahrungsqualitäten, ihre taxonomische Zuordnung innerhalb des zirkuseigenen Figurenangebots, die Rollenperformance und ihr utopisches Potential. Auf Grund der massiven, tödlichen Gewalt, die von ihnen ausgeht, appellieren die Auftritte des Jokers an ein emotionales Register, das dem herkömmlicher Clownnummern zuwiderläuft. Die Komik, auf die diese ausgelegt sind, macht jedoch nicht einfach Angst und Schrecken als gegenläufigen Erlebnisqualitäten Platz, sie wird von ihnen affiziert und eingetrübt. In der semantischen Kippfigur des »S/Laughter« durchdringen die beiden Elemente – Komik und Schrecken – einander unauflöslich. Für die Angst als Genreeffekt sorgen in der klassischen, filmhistorischen Rollenaufteilung nicht die Clowns, sondern die Freaks (s. Tod Brownings gleichnamigen Film Freaks, USA 1932). Dementsprechend bringt The Dark Knight mit dem Joker die taxonomische Unterscheidung zwischen den beiden Figurentypen ins Wanken – im gleichen Maß, wie das anfängliche Enthüllen einer Maske hinter der Maske die Abgrenzung von Rolle und Person in Frage stellt. Als Phänomene mit einer langen, weit über den Zirkus hinausgehenden kulturgeschichtlichen Tradition sorgen die Freaks, wie Leslie Fiedler darlegt, für Angst und Abwehrreaktionen, weil sie eindeutige kategoriale Zuordnungen unterlaufen, wie Kulturen sie gewöhnlich als konstitutiv voraussetzen.33 Wie ein Freak zeichnet sich der Joker durch eine ungewöhnliche, von der Norm abweichende Physis aus. 33 | Vgl. Fiedler, Leslie: Freaks: Myths and Images of the Secret Self, Middlesex: Penguin 1978. Zur neueren Diskussion, die gegenüber Fiedlers tiefenpsychologischer Deutung stärker die gesellschaftliche Konstruiertheit von »freakishness« betont siehe u.a. Thomson, Rosemary Garland: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York: Columbia University Press 1996, Thomson, Rosemary Garland (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York, London: New York University Press 1996 und
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Zudem verwischt er als Figur Grenzen zwischen Mensch und Tier, indem er sich wie ein Reptil obsessiv die Lippen leckt, und zwischen Mann und Frau, wenn er in der Uniform einer Krankenschwester als Zwitterwesen unbestimmten Geschlechts ein Krankenhaus in Schutt und Asche legt und damit – ähnlich wie in Browning Freaks – eine direkte Verbindung zwischen körperlicher und moralischer Abnormität suggeriert (Abb. 9). Als böser Clown ist der Joker in The Dark Knight mithin Clown und Freak. Er hebt als Figur die Unsicherheit der kategorialen Zuordnung, die den Freak zum Anlass des Schreckens macht, in die zweite Potenz, indem er sie auf die traditionelle Rollenverteilung im Figurenrepertoire des Zirkus bezieht. Abb. 9: Der Clown als Freak (The Dark Knight, TC: 1:48:43)
Standbild: The Dark K night. DVD. Warner Home Video. 2008
Sich als Betrachter der Figur des Freaks zu entziehen, fällt deshalb schwer, weil Freaks anders als die übrigen Figuren aus dem zirkuseigenen Repertoire ihre Rollenidentität nicht einfach ablegen können, sondern mit ihr physisch verwachsen sind. The Dark Knight nimmt diese Eigentümlichkeit dadurch auf, dass die Anlage der Figuren ihre Körperlichkeit in den Vordergrund rückt. Die zentralen Fragen und Probleme, die der Joker aufwirft, werden durchweg als physische, unmittelbar den Körper Adams, Rahel: Sideshow U.S.A. Freaks and the American Cultural Imagination, Chicago: University of Chicago Press 2001.
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betreffende verhandelt. Nicht der Zirkus und die Manege, sondern die Gesichter der Figuren sind der Orte, wo die Transgression ausgetragen wird und bevorzugt ihre Spuren hinterlässt. Das gilt für den Joker mit seinem vernarbten Gesicht, aber genauso für den Gegenspieler, den Staatsanwalt Harvey Dent, der dem Joker – erfolglos – mit polizeilichen Mitteln beizukommen versucht. Der anders offenbar nicht zu fassende Joker verleitet ihn dazu, Recht und Gesetz selbst in die Hand zu nehmen und sie damit seinerseits zu brechen. Durch den Wandel, den er in der Folge durchläuft, wird Dent buchstäblich zu einer doppelgesichtigen Figur: Während die eine Hälfte seines Gesichts intakt bleibt, wird die andere in der Auseinandersetzung mit dem Joker entstellt (Abb. 10). Dent ist am Ende halb Mensch, halb monströser Freak.34 Eine der letzten Einstellungen setzt diese Wandlung als Kippphänomen ins Bild: In einer Aufsicht zeigt eine Nahaufnahme das entstellte, hässliche Gesicht des nun toten, im Kampf um Recht und Gesetz unterlegenen Dent. Batman wendet das Gesicht jedoch auf die andere, intakte Seite. Dent soll den Bewohnern Gothams als unbefleckter ›white knight‹ in Erinnerung bleiben; das Filmpublikum ist dagegen über die Erzählung in die unauflösliche, weil ihr physisch eingeschriebene Ambiguität der Figur eingeweiht. Die Aufhebung klarer Grenzen zugunsten von Kippfiguren lässt sich als durchgängiges ästhetisches Prinzip schließlich auch mit Blick auf das utopische Potential beobachten, das der Zirkus und sein Personal aus der versuchten Generaltransgression der bestehenden Weltordnung ziehen. Während der Joker daran erinnert, indem er auf das Geld als deren beherrschendes Prinzip nichts gibt und die kapitalistische Werthierarchie aussetzt, lässt er das utopische Moment dadurch in die Dystopie kippen, dass er mit dem Leben Unschuldiger genauso rücksichtslos verfährt. In dem Maß, wie die Transgressionen nicht mehr abschließend begrenzt, sondern in instabile Kippfiguren überführt werden, lassen sich die Probleme, die über sie reflektiert werden, nicht mehr dauerhaft lösen. Ähnlich 34 | Ausschlaggebend für die Zuschreibung ist dabei nicht der Freak als weitgehend historisch gewordener Schauwert des Zirkus, sondern die in The Dark K night selbst vorgenommene Assoziation von körperlicher Entstellung, Grenzen überschreitendem Handeln und sozialer Randständigkeit; in diesem Sinn wendet der von anderen Figuren innerdiegetisch als »freak« bezeichnete Joker die Zuschreibung auch gegen Batman, der – halb Mensch, halb Fledermaus – die Unsicherheit der kategorialen Zuordnung mit dem Freak als kulturhistorischer Figur teilt.
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wie He Who Gets Slapped, der als klassischer Zirkusfilm den Clown zu einer Chiffre existentieller Befindlichkeiten ausbaut, erzählt The Dark Knight die Geschichte seines düsteren, bösen Pendants auf zwei narrative Ebenen verteilt. Zwar wird der Joker am Ende dingfest gemacht und damit die einschlägige Erzählkonvention bedient, doch steht im Rückblick auf die Umschläge und Ambiguitäten, die sich als narratives und stilistisches Prinzip quer durch den Film und die Anlage der Figuren ziehen, auch fest, dass der Joker als dystopische Kippfigur, die überall und nirgends zu Hause ist, gegen jeden Versuch der Begrenzung eine anhaltende, geisterhafte Präsenz behauptet. Selbst Batman als Protagonist wird von ihr in Mitleidenschaft gezogen: Als Titelfigur der Dark-Knight-Reihe ist er selber als zunehmend düstere Figur gezeichnet. Abb. 10: Unauflösliche körperliche Ambiguität (The Dark Knight, TC: 1:37:48)
Standbild: The Dark K night. DVD. Warner Home Video. 2008
VII. F a zit — die G ene alogie des düsteren C lowns Ausgehend von The Dark Knight und dem Joker lassen sich nach dem Durchgang durch das Material die Züge des düsteren Clowns genauer fassen. Er ist als filmische Figur eine Erscheinung des nachklassischen Zirkusfilms, der in den 1960er und 1970er Jahren allmählich die klassische Spielform ablöst und überlagert, ohne sie je ganz zu verdrängen.
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Der klassische Zirkusfilm bleibt eng an den Zirkus als Ort der Handlung mit dem dazugehörigen Figuren- und Programmangebot gebunden und schafft mit dem glücklosen Liebhaber, dem unwahrscheinlichen Verbrecher und der Ablösung der Funktion vom Rollenfach Figuren, die selbst wenn sie zu Chiffren überhöht werden, dem Milieu verhaftet bleiben. Dagegen löst sich der düstere Clown als Figur des nachklassischen Zirkusfilms weitgehend vom Zirkus als Milieu und seinem Programmkontext. Er behält aber die Bindung an die semantischen Ressourcen, die der Zirkus als Code versammelt, und geht als (Film-)Figur aus den wechselnden Gebrauchsformen derselben hervor. Um die historisch akkumulierten semantischen Reserven aufzurufen, reichen jeweils einzelne Versatzstücke aus (Kostüme, Maske, performative Routinen). Während die klassischen Zirkusfilme – ob als Melodram oder Kriminalfilm – an der Unterscheidung von Rollenidentität und Person festhalten und die Maske genrespezifisch als Grund für die tragische Verkennung des Helden durch den love interest oder zum zeitweiligen Schutz einer Täteridentität nutzen, erweist sich die Trennung für den düsteren Clown als durchweg hinfällig; ganz im Sinne der von Peccatte als Charakteristikum des »clown méchant« beschriebenen »naturalisation d’un personnage«.35 Für die düstere Spielform wird der Clown als Rollenidentität, die für eine bestimmte Zeit angenommen und wieder abgelegt wird, ontologisiert. Die Maske als von der Person klar unterschiedene maschera macht dem prósopon als Leitmodell Platz, das beide als paradoxe Ausdruckseinheit körperlich miteinander verschränkt. Das rückt den düsteren Clown in die Nähe des Freaks, der Figur im Repertoire des Zirkus, die traditionell stärker über ihre Physis als über ihre performativen Fähigkeiten bestimmt ist. Während die ausgreifende Physis von Haus aus ein Merkmal des Clowns ist, erhält sie mit der Annäherung an den Freak, der für die düstere Spielform typisch ist, einen Zug ins Monströs-Abnorme (die unmenschlich scharfen Zähne von It und den Killer Klowns in den gleichnamigen Filmen, das in einem Akt der Selbstverstümmelung verätzte Gesicht Javiers in Balada Triste). Klassische Zirkusfilme lassen das emotionale Register kippen, an das das Manegengeschehen appelliert, halten aber am angestammten komischen Rollenimage des Clowns fest; sie nutzen die Doppelung von Rolle und Person, um beim eingeweihten 35 | Siehe P. Peccatte: »Les origines des clowns agressifs dans la culture populaire«, o.S.
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extra-diegetischen Publikum Empathie mit der von seinem diegetischen Gegenüber verkannten Person hinter der Maske zu mobilisieren. Im nachklassischen Zirkusfilm betrifft das Kippen des emotionalen Registers dagegen das Rollenimage selbst und folgerichtig bleibt die Figur des düsteren Clowns weitgehend unzugänglich für eine empathische Teilhabe seitens der Zuschauer; weder in Killer Klowns from Outer Space noch in Stitches gibt es eine Person hinter der Maske, die als Objekt dafür in Frage käme. Obwohl die nachklassischen Filme den Clown aus dem Programmverbund des Zirkus lösen und sich auf einen rudimentären Sujetbezug beschränken, halten sie an der Transgression als konstitutivem Prinzip des Zirkuscodes und als Medium der Reflexion fest. Als Marker biographischer Übergangsphasen, Figurationen nicht integrierter Triebe und Wiedergänger traumatischer Vergangenheiten dienen die düstern Clowns mit ihren Norm- und Grenzüberschreitungen der Reflexion von grundlegenden Fragen der Subjekt- und Gesellschaftskonstruktion, der persönlichen wie der nationalen Geschichte. In der Figur des bösen Clowns verlängert der nachklassische Zirkusfilm damit das semantische Potential des Zirkuscodes über den Zirkus und den Zirkusfilm als historische Rahmungen hinaus. Sofern er auf eine codegeleitete cultural performance zurückgeht, ist der düstere Clown keine allein dem Film zugehörige Figur. Neben dem Comic, den Graphic Novels oder der bildenden Kunst ist der Zirkusfilm nur eine von vielen Gebrauchsformen, die auf ein gemeinsames Reservoire an Deutungsmöglichkeiten zurückgreifen, wofür die Batman-Filme als Comic-Adaption ein passendes Beispiel abgeben. Ein Film wie The Dark Knight verdichtet jedoch in der Gestalt des Jokers eine lange Tradition von Clowndarstellungen paradigmatisch zu einer dystopischen Kippfigur, die den kulturellen Imaginationsraum, aus dessen Ressourcen sie schöpft, um eine Deutungsvariante erweitert und damit der düsteren Spielform des Clowns als Figur des Schreckens eine nachhaltige Präsenz verschafft.
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Phänomen Evil Clown Der Trickster-Archetyp seit der Postmoderne Lena Sharma
Spitze, raubtierartige Zähne in einem weit klaffenden Mund, maliziös funkelnde Augen, die weiße Schminke blutverschmiert. Die Vorstellung vom Zirkusclown mit übergroßer Tramp-Hose und einem freundlichen Lächeln, der flapsig durch die Manege stolpert, verdunkelt seit einigen Jahrzehnten ein grotesk-furchterregendes Bild. Seit den 1980er Jahren verdrängt eine scharfe Konkurrenz den gutherzigen Zirkusclown aus der Manege der unbewussten Assoziation: ein soziopathischer, horrender Charakter, der diesem auf den ersten Blick in jedweder Hinsicht widerspricht und eine Welle der Abneigung einerseits, Faszination und Ehrfurcht andererseits verursacht. Dies ist das Bild des Narren, der sich an den Zeitgeist des anrollenden 21. Jahrhunderts ideal angepasst hat: des psychopathischen, blutrünstigen und anarchistischen Clowns der postmodernen westlichen Gesellschaft, der eine wissenschaftlich noch kaum erfasste, aber gleichwohl reale, weit verbreitete Phobie entfesselt hat. Hier liegt eine Entwicklung vor, die auf den ersten Blick abstrus und ungerechtfertigt erscheint und dabei folgende Fragen aufwirft: Was gab den Anstoß zu dieser radikalen Metamorphose, die den allseits bekannten unschuldig-naiven und rundum harmlosen Zirkusclown in eine Abwärtsspirale der Grausamkeit und Psychopathie beförderte? Wurden diese Charakterzüge dem Clown erst von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen jüngerer Dekaden auferlegt oder sind diese vielmehr in dessen urtypischer Natur angelegt – und machen sie sich bloß in jüngster Zeit eruptiv in entsprechenden Darstellungen bemerkbar? Welche gesellschaftlichen und soziohistorischen Umschwünge lösten diese Verschiebung in der Präsentation und Perzeption des Narren in der Postmoderne aus?
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Mit der geschliffenen Behauptung »There’s nothing funny about a clown in the moonlight« soll der [US-]amerikanische Stummfilmschauspieler Lon Chaney Jr. bereits in den 1920er Jahren die kontextbasierte Rezeption dieses paradoxen Charakters treffend beschrieben haben.1 Trotz der Tatsache, dass die von ihm gespielten clownesken Rollen noch der zeittypischen Auffassung des Clowns entsprechen und keineswegs schauderhafte Formen psychischer Störung und fratzenhaft verzerrter Aufmachung aufweisen, verweist das Zitat auf den dynamischen Einfluss des thematischen und räumlichen Kontexts, der wesentlich an der Konstruktion des Evil-Clown-Mythos2 beteiligt ist. Aus ihrer klischeehaft verbreiteten Zirkusumgebung herausgerissen und neu platziert in unheimlicher, dunkler und bedrohlicher Umgebung zeigt dieselbe Figur, dasselbe Konzept, eine gänzlich neue, dämonische Färbung und löst mitunter Panik und Todesangst aus – und das, ohne dass das äußere Erscheinungsbild oder die Art des Verhaltens sich notwendigerweise unterscheiden. Unbestritten ist, dass sich diese Panik mittlerweile nicht bloß auf horrorhafte Darstellungen des ›bösen Clowns‹ beschränkt, die seit den 1980er Jahren als unabkömmliches Stilmittel sowohl bei der Gestaltung von Protagonisten als auch von Randfiguren in allen erdenkbaren medialen Bereichen eingesetzt werden. Die englischsprachige Betitelung Evil Clown, die sich in amerikanischen medialen Inszenierungen des destruktiven, teils mordlustigen Clowns und in davon allerorts provozierten Debatten etabliert hat, gestattet eine kritische Auseinandersetzung mit dem medialen Phänomen sowie dem zugrunde liegenden Paradigmenwechsel, ohne sich im Verlauf dieser Analyse allzu schnell von einschlägig konnotierten, missverständlichen Assoziationen im Rahmen von Wertigkeiten wie Gut und Böse fehlleiten zu lassen. Diese zeugen vielmehr von einer von der christlichen Soziallehre etablierten binären Wertestruktur, die kein sensibles Verständnis des althergebrachten, paradoxen clownes1 | Vgl. Lon Chaney Jr. in Dery, Mark: A Pyrotechnic Insanitarium. American Culture on the Brink, New York: Groove Press 1999, S. 65. 2 | Trotz der mengenmäßig stark ansteigenden medialen Darstellungen des ›bösen Clowns‹ im späten 20. Jahrhundert und der davon ausgelösten Reaktionen in allen erdenklichen Medien sowie einiger wissenschaftlicher und journalistischer Referenzen kann kein eindeutiger Ursprung der Bezeichnung Evil Clown festgemacht werden. Sie erscheint vielmehr subtil als naheliegende, notwendige Betitelung eines vieldiskutierten medialen Phänomens entstanden zu sein.
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ken Charakters erlaubt. Bedeutende kulturelle Figuren und Konzepte vorchristlicher wie nicht-christlicher Kulturen zeichnen sich durch ein die Gegensätze vereinendes Prinzip aus – eine Tatsache, die bei der Dekonstruktion der archaischen Basis des Clowns von zentraler Bedeutung ist.3 Neben bekannteren Beispielen aus der Filmlandschaft, wie die des Kinder raubenden Killerclowns Pennywise4 aus der Verfilmung von Stephen Kings gleichnamigem Roman It und der Clownikone Joker aus der ebenfalls oft verfilmten Batman-Comic-Reihe, ist es zur Jahrtausendwende beinahe unmöglich, die negativ konnotierte Abwandlung des Clowns weit abseits vom Mainstream in Computerspielen (etwa in Form einer Clowninvasion in der Missionsreihe Strangers and Freaks des Computerspiels Grand Theft Auto V), in Comics, in der Musik (beispielsweise bei der Rap-Gruppe in grotesker Clownaufmachung Insane Clown Posse oder in Liedform gegossen in Sóleys Kill the Clown) auszublenden. Guerilla-artig flächendeckend überzieht daneben eine Masse subtiler, doch nicht weniger grausamer Evil Clowns sämtliche mediale Bereiche. Während der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich gar ein eigenes Sub-Genre von Low-Budget-Trash-Horrorfilmen mit der treffenden Bezeichnung Dark Carnival etabliert, das mit ironischem Unterton und skurril-schwarzem Humor um das Motiv des Jahrmarkts und des bitterbösen, lasterhaften Clowns rotiert. Der bösartige, anarchistische Clown scheint vorwiegend als Produkt der US-amerikanischen Populärkultur entstanden zu sein, findet man doch einen Großteil der Referenzen in US-amerikanischen Medien oder in von ihr beeinflussten medialen Sphären. Der Aussagekraft über die unbewussten, soziopsychologischen Entwicklungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, die eine Analyse seines rapiden Aufstiegs figurentypisch als Spiegel des Zeitgeists ermöglicht, tut dies dennoch keinen Abbruch. Durch globalisierte Medienströme breiten sich Erfolg und Einfluss der US-amerikanischen Popkultur während der Postmoderne über den gesamten Globus aus; der amerikanische Medienapparat stellt nun 3 | Anders als die in Gegensatzpaaren konstituierte Denkweise der Dialektik waren die Begriffe der indianischen Kulturen häufig gegensatzvereinend; der Trickster konnte sowohl asoziales Mitglied des Stammes, als auch ihr geheimer Anführer sein. Vgl. Fried, Annette/Keller, Joachim: Faszination Clown, Düsseldorf: Patmos Verlag 1996, S. 26. 4 | Stephen King’s I t (USA/CAN 1990, R: Tommy Lee Wallace).
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zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen elementaren Wirtschaftsfaktor der USA dar und beeinflusst Kulturen in jedem Winkel der Erde. Nicht zu Unrecht bemerkt der US-amerikanische Kulturkritiker James Twitchell in seiner Abhandlung Carnival Culture über die amerikanische Chaoskultur, als die er die international unverkennbare Popkultur des Trash und der Sensation bezeichnet: »American Popular culture, for better of for worse, is already world culture.«5 Vergleicht man seit der Postmoderne präsentierte und inszenierte Clowntypen mit archaischen artverwandten Versionen der Figur, entdeckt man trotz starker Kontraste ebenso eindeutige, ubiquitäre Gemeinsamkeiten, die ihrerseits eine Neuinterpretation des clownesken Typus – und seines maliziösen Derivats – ermöglichen.
D er A rche t yp und die k arne valistische L achkultur des M it tel alters — G renzgänger im E quilibrium der G egensät ze Das Konzept des Clowns, der sich durch destruktives, wahnsinniges und anarchistisches Verhalten auszeichnet und durch grotesk verfremdete Körperdarstellung auffällt, ist bei Weitem kein neues: In altertümlichen indianischen Stämmen nehmen urtümliche Narrentypen eine essentielle Rolle im Stammesgefüge ein und stehen auf einer Ebene mit dem Schamanen.6 Diese archaischen Clowns, die unter dem den Archetypus beschreibenden Überbegriff ›Trickster‹ zusammengefasst werden können, weisen bereits ähnliche hyperbolische Kostümierungen und ein mit späteren Clowntypen vergleichbares störendes, destabilisierendes Verhalten auf. Archaische, indianische Trickster halten in balanciertem Ausmaß heilende und zersetzende Energien bereit und gelten als Vermittler zwischen den Welten: zwischen dem Schamanen und den restlichen Stammesmitgliedern und zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, wodurch sie eine unmenschliche, transzendente, göttliche Aura umgibt. Als Kapriolen schlagender Störfaktor destabilisiert er die Hierarchien im Stamm und relativiert damit die Überlegenheit des Schamanen. Seine typeigene 5 | Twitchell, James B.: Carnival Culture. The Trashing of Taste in America, New York: Columbia University Press 1992. 6 | Vgl. A. Fried/J. Keller: Faszination Clown, S. 12ff.
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Narrenfreiheit löst ihn aus der üblichen Gesetzgebung, und es kommt nicht selten vor, dass er trotz Verbrechen bis hin zum Mord keine Konsequenzen zu tragen hat.7 Bei all dem störenden und provokativen Verhalten dynamisiert er eine stetige Fortbewegung, besetzt gleichzeitig die Rolle eines asozialen Außenseiters und die eines hochrangigen Mitglieds der Gemeinschaft. Mit dieser Position nimmt er bereits die subversive Funktion der Narrenfeste vorweg, die im Mittelalter als Gegenpol zur offiziellen, seriösen Kultur der Gottesfurcht und Arbeitsamkeit und so als fixer Bestandteil der Gesellschaft stattfinden.8 Michail Bachtin konstatiert in seiner Theorie zum Karneval und zur Groteske, dass diese mittelalterlichen Narrenfeste die breite Öffentlichkeit im Rahmen einer kurzzeitig umgestülpten Welt dazu befähigen, Autoritäten und Dogmen in Frage zu stellen und damit oberste Würdenträger zu relativieren, wodurch das karnevaleske Prinzip den Gegenpart einer kirchlichen Ideologie der Tradition, des Konservatismus und der Selbstkontrolle darstellt.9 Wenngleich zeitlich begrenzt, zeigen die Narrenfeste dennoch eine periodisch auftretende alternative Lebensweise auf und dienen dem gemeinen Volk als temporärer Zufluchtsort in eine Welt des »Umbruchs und der Erneuerung«,10 die sich statt einer Idealisierung der Tradition allein an der »unvollendbaren Zukunft«11 orientiert; befreit von Unterdrückung und voll von profaner Ungezwungenheit. Der mittelalterliche Narr bedient sich der Vorstellung des grotesk hyperbolischen, sich ständig erneuernden Körpers und spielt auch hier die essentielle Rolle des Grenzübertreters, der Hierarchien aufhebt und dem aufgrund seiner Narrenfreiheit keine Verhaltensgrenzen gesetzt werden.12 Der Narr, der durch sein Scheitern, das nie fatal endet, über den Tod triumphiert, führt nach christlich-religiöser Auffassung den Menschen teufelsartig in Versuchung und bedient sich eines grotesken Wahnsinns. 7 | Ebd.: S. 17. 8 | Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. 9 | Laut Twitchell wurde dieser Dualismus im 20. und im 21. Jahrhundert vom Show Business-Apparat wieder aufgegriffen. Vgl. J. Twitchell: Carnival Culture, S. 2. 10 | M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 58. 11 | Ebd. 12 | Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1996, S. 53.
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Bachtin sieht diesen temporären Wahnsinn der Narrenfeste als ein für das karnevalistische Weltempfinden essentielles Instrument fernab einer psychopathologischen Diagnose, als »Parodie auf die offizielle Denkart, auf die einseitige Seriosität der offiziellen ›Wahrheit‹«.13 Dieses archaische Konzept durchzieht selbst postmoderne Darstellungen des Evil Clowns. Die Renaissance schiebt der revolutionären Kraft des Karnevals und des Narren vorerst einen Riegel vor. Es verändern sich nicht nur Rahmen, Rolle und Aussehen des Narren, auch sein revolutionärer und erneuernder Charakter, evoziert durch das paradoxe Verhältnis zwischen Anarchismus und Gesellschaftskritik, wird in geregelte Bahnen gelenkt. Im Zuge der Aufklärung und der Herausbildung humanistischen Gedankenguts, einer vergnügungsfeindlichen Grundeinstellung und der Entstehung einer höfischen Festkultur verliert der irrationale Clown seinen Platz – in der Renaissance wird dieser als Sündenträger deklariert (beispielsweise in Sebastian Brants Narrenschiff ),14 wächst als weiser Strippenzieher aber auch zu einem populären Typus in Theaterstücken heran (wie die Zanni der Commedia dell’arte und Shakespeares weise Jester).15 Mit dem Aufkommen des Zirkus wird der Clown schließlich vielfach mit Naivität, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit assoziiert.16 Dass dieser in eine familienfreundliche Form gegossene Narr durch sein verhältnismäßig junges Alter noch heute eng mit der fidelen Zirkusästhetik verbunden ist, lenkt selbst in der Postmoderne die Assoziationen und verschleiert trotz kumulativ aufwallender Darstellungen des Anarcho-Clowns die Zusammenhänge zwischen diesen artverwandten Spaßmachern. Das Nebeneinander- und Nacheinander-Existieren beinahe identischer Narrentypen ist keineswegs ein historischer Zufall, sondern schlüssig erklärbar anhand der Archetypentheorie des Schweizer Psychoanalytikers Carl Gustav Jung. Auf bauend auf Patientenanalysen und internationale 13 | M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 90. 14 | Borne, Roswitha von dem: Der Clown. Geschichte einer Gestalt, Stuttgart: Urachhaus Verlag 1993, S. 20. 15 | R. v. d. Borne: Der Clown, S. 31ff. 16 | Die Entwicklung des Clowns verlief dabei keineswegs einseitig; so erfreuten sich Gewaltclown-Nummern in Zirkusmanegen des späten 19. Jahrhunderts größter Beliebtheit. Vgl. Von Brincken, Jörg: Tours de force. Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006.
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Feldforschung beschreibt Jung die Eckpfeiler der im kollektiven Unbewussten verankerten Archetypen, zu denen auch der Trickster mit all seinen Ausdrucksformen zählt. Archetypen im Jung’schen Sinn sind archaische Urbilder, die seit jeher im kollektiven Unbewussten des Menschen verankert sind und durch Vererbung weitergegeben werden.17 Jeder Archetyp, von denen es unzählige gibt, besitzt einen zweideutigen Charakter und vereint sowohl (vermeintlich) Böses als auch Gutes in sich, respektive Kreation und Destruktion. Er verändert sich jeweils durch »seine Bewußtwerdung und das Wahrgenommensein […], und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewußtseins, in welchem er auftaucht«18, und erscheint damit in unterschiedlicher Gestalt in religiösen Motiven, Mythen, Träumen oder sonstigen kulturellen Schöpfungen.19 Durch ihre Bewegung zwischen den entgegensetzten Polen des Instinkts und des entkörperlichten Geistprinzips besitzen Archetypen ein Identifikationspotential mit enormer Bandbreite, bergen jedoch für diejenigen, die sich mit übermäßiger Intensität mit ihnen identifizieren, ebenso eine Gefahr der Besessenheit,20 wenn diese Identifikation unbewusst abläuft und nicht ins Bewusstsein integriert wird.21 Eine einseitige Beurteilung der Archetypen im Rahmen von Gut und Böse ist selten möglich; so kann auch durch offensichtlich böses und destruktives Verhalten letztendlich Gutes bewirkt werden, wenn veraltete Normen zerschlagen werden und damit Raum für neue Entwicklungen geschaffen wird.22 Bei Bachtin findet man dieses Prinzip als »Karnevalisierung des Bewusst17 | Dem tiefer gelegenen, kollektiven Unbewussten, das allen Menschen gemeinsam zugrunde liegt, stellt Jung das persönliche Unbewusste gegenüber: die oberflächliche, von persönlicher Erfahrung geprägte Sphäre des Unbewussten. Vgl. C.G. Jung: Grundwerk. Bd. 2, Archetyp und Unbewußtes. Olten: Walter Verlag 1984, S. 47. 18 | C.G. Jung: Archetyp und Unbewußtes, S. 79. 19 | Als weitere prominente Archetypen nennt Jung die Anima, als Inbegriff des Lebens, und den alten Weisen. Vgl. ebd., S. 110. 20 | Vgl. ebd., S. 112. 21 | Eine derartige psychopathologische Identifikation mit dem Clown-Archetypen ist beispielsweise an den Fällen des amerikanischen Serienkillers John Gacy und des Weary Willie-Darstellers Paul Kelly erkennbar. Vgl. Durwin, James: »Coulrophobia and the Trickster«, in: Tricksters Way 3/1 (2004), o.P. 22 | Battke, Marion: Das Böse bei Sigmund Freud und C.G. Jung, Düsseldorf: Patmos-Verlag 1978, S. 103ff.
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seins«, die eine unvermeidliche Durchgangsstufe großer Entwicklungen darstellt, indem zeitgenössische Denkmuster gesprengt werden: »Daher geht großen Umbrüchen, selbst in der Wissenschaft, immer eine gewisse Karnevalisierung des Bewusstseins voraus.«23 Die Durchleuchtung dieser beider Theorien ermöglicht es schließlich, eine umfassende Analyse der Tricksterfigur in all ihren Ausdrucksformen, ihrer psychologischen Wirkkraft sowie des jüngsten Umschwungs in der Darstellung des späten 20. Jahrhunderts durchzuführen. Während Jungs Archetypentheorie die psychologische Verankerung des Tricksters als eines von vielen kollektiv-unbewussten Urbildern beschreibt, das historisch seit Urzeiten von Menschen überliefert, interpretiert und dargestellt wird, verdeutlicht der volkstümliche Karneval den ursprünglichen Umgang der mittelalterlichen Gesellschaft mit diesem speziellen Archetypus sowie dessen soziopsychologische Bedeutung als populäres Gegenbild in einer von Kirche und Staat dominierten Gesellschaft.
E ntfesselung des C haos -C lowns — im leuchtenden Tr auml and der I rr ationalität Die horrorhafte Abwandlung des mittelalterlichen Narren und die Darstellung der diabolischen, vermeintlich bösen Charakterzüge des Clowns erfahren seit dem späten 20. Jahrhundert eine Forcierung.24 Die Grundlage für diese Entwicklung wurde bereits während der Zweiten Industriellen Revolution um die Jahrhundertwende gelegt, als die westliche Welt aufgrund von revolutionären technologischen und kulturellen Neuerungen starke Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen erfährt. Auf soziologischer und populärkultureller Ebene äußert sich diese gesellschaftliche Aufbruchsstimmung in eine technisierte Zukunft durch eine Verschiebung der Unterhaltungsmechanismen und -instrumente, die die amerikanisierte Popkultur bis in die Postmoderne prägt. Neuartige, technisierte Unterhaltungsformen, die die Erwartungen einer breiten Masse erfüllen 23 | M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 28. 24 | Dem raketenhaften Aufstieg des Evil Clowns wird allerdings bereits vor der Jahrhundertwende im Zirkus und in der Literatur von gewalttätigen, populären Clowns wie den Gewaltpantomimen der Hanlon Lees, Joris-Karl Huysmans Pierrot sceptique oder Alfred Jarrys Ubu Roi der Weg geebnet.
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und ein eskapistisches Bedürfnis befriedigen, stehen nun im Mittelpunkt. Eine entscheidende Rolle spielt in dieser Entwicklung der Ausbau der Eisenbahn, die selbst der ärmeren Bevölkerung nun erstmals nicht nur den Besuch anderer Städte, sondern generell eine höhere Flexibilität hinsichtlich der Freizeitgestaltung ermöglicht. Ab 1895 erreichen diese Entwicklungen ihren vorläufigen Höhepunkt auf der New Yorker Halbinsel Coney Island im großflächigen Vergnügungsparkkomplex mit Publikumsmagneten wie Dreamland, Lunapark und dem Steeplechase Park. Die neuartigen Errungenschaften des Industriezeitalters, die auf Coney Island mit für die damalige Zeit hochmodernen Konstruktionen wie Riesenrädern und Hochschaubahnen, den Scenic Railways, zur Schau gestellt werden, symbolisieren Stolz auf Fortschritt und Technik.25 Die Coney Island Parks des jungen 20. Jahrhunderts zelebrieren Irrationalität, Ekstase und Chaos; wer den Park betritt, wird überwältigt von einer neuen, leuchtenden Welt der Absurditäten und kaleidoskopischen Eindrücke, in der es schier unendliche Möglichkeiten zu geben scheint. Mit dieser zeitgemäßen Version einer profanisierten, völkischen Lachkultur verlieren sich die Besucherinnen und Besucher in der prächtigen Welt der Vergnügungsparks, während außerhalb der Tore wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit und Gewalt herrschen.26 Der amerikanische Kulturkritiker Mark Dery schlussfolgert, die Coney-Island-Jahrmarktskultur habe sich direkt aus dem mittelalterlichen Karneval abgeleitet, deren Teilaspekte übernommen und dem Zeitgeist zur Wende ins 20. Jahrhundert entsprechend abgewandelt.27 In der surrealen Welt der Coney Island Parks verlaufen Hochkultur (etwa in Form neoklassizistischer Architektur und getrimmter Gärten), technischer Fortschritt und das subtile Ausleben unterdrückter Sexualität parallel zueinander (beispielsweise durch im Boden versteckte Ventilatoren, die Besucherinnen die Röcke hochwehen).28 Mark Dery prägt für dieses Zusammenspiel von sinnlich anre25 | Vgl. Szabo, Sacha-Roger: Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld: transcript Verlag 2006, S. 162. 26 | M. Dery: A Pyrotechnic Insanitarium, S. 8. 27 | Ebd.: S. 83. 28 | Bredderman, Will: »›Face of Steeplechase‹ recalls bygone park and logo«, www.brooklynpaper.com/stories/37/22/24-steeplechase-face-2014-05-30bk_37_22.html vom 02.08.2015.
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gendem, elektrischen Pomp und der subtilen Satisfaktion auf der Ebene der unterdrückten, unbewussten Triebe, dem Freud’schen Es, die präzise Bezeichnung Electric Id (Abb. 1).29 Auf archetypische und populärkulturelle Aspekte reduziert, befindet sich diese neuartige bzw. neu interpretierte Unterhaltungsform auf einer Zwischenstufe zwischen dem altertümlichen Karneval nach Bachtin und dem postmodernen, panmedialen Unterhaltungsapparat. Abb. 1: Funny Face, das morbid grinsende Maskottchen des Steeplechase Parks
Foto: Funny Face and Wonder Wheel, Eden James and Jim (CC-Lizenz, flickr)
Verschiedene Voraussetzungen begünstigen die Wendung der amerikanischen, post-viktorianischen Mentalität in Richtung einer Konsumkultur nach dem Prinzip »pay up and see what you want«.30 Zum einen verlieren 29 | Vgl. M. Dery: A Pyrotechnic Insanitarium, S. 6. 30 | J.B. Twitchell: Carnival Culture, S. 2. Der britische Einfluss in Amerika während der Viktorianischen Ära war immens, trotz offizieller politischer Unabhängigkeit, deshalb wird der Begriff auch für die Beschreibung der Gesellschaft Amerikas oft verwendet. Zudem hat sich die Bezeichnung ›American Victorianism‹ entwi-
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sublime Geschmacksvorstellungen in den kulturellen Praktiken des späten 20. Jahrhunderts an Bedeutung, zudem kommt es sukzessive zu einer Entstehung des Show Business als internationales Unterhaltungssystem. Unterhaltung bekommt damit für breite Massen den hohen Stellenwert der Zerstreuung. Statt einer eingrenzenden Benimmkultur der Sparsamkeit, Ambition und Nüchternheit entwickelt sich eine impulsive Konsumkultur der Ungezwungenheit und der unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse. Analog zum stetig schrumpfenden Einfluss der Kirche erstarkt somit nach Twitchell das karnevaleske Konzept als ihr urtümlicher Konterpart.31 Das dadurch verursachte moralische Ungleichgewicht führt letztendlich zu infantilen und eskapistischen Tendenzen in für Massen konzipierten Unterhaltungsformen, die die amerikanische Popkultur maßgeblich beeinflussen. Mit dem Aufkommen der Massenmedien der postmodernen Informationsgesellschaft besteht keine Notwendigkeit für die Unterhaltungsformen der Vergnügungsparks, um Publikumserwartungen zu befriedigen: Nun kann alles gezeigt werden, zu jedem Zeitpunkt. Diese wirtschaftlichen, soziologischen und damit einhergehenden psychologischen Entwicklungen begünstigen den medialen Aufstieg von anarchistischen, diabolischen Figuren wie dem Evil Clown. Bis ins späte 20. Jahrhundert begeistert er viele noch vorwiegend als naiv-frecher Familienunterhalter, als konstant scheiternder Optimist oder als willkommenes Interludium zwischen den eigentlichen Zirkusauftritten. Im Verlauf der 1980er Jahre, mit der kumulativen Produktion zahlreicher Low-Budget-Trash-Filme und von in der Zahl geringeren, doch ihrerseits einflussreichen Mainstreamrollen wie Pennywise in Stephen Kings It, verbreitet sich der mordlustige, psychopathische Evil Clown schneeballartig in sämtlichen Medien und erscheint nicht selten maskenlos (wie etwa als geistig verwirrter Johnny in Stanley Kubricks Shining [USA 1980]). Einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen gefriert beim Anblick der stark hyperbolischen, grotesken Gesichtszüge mit spitzen Reißzähnen das Blut in den Adern; andere bewundern das anarchische, sich keiner Autorität unterordnende Geschöpf. Ein archetypisches Konzept, das polarisiert wie kaum ein anderes und doch bei-
ckelt. Vgl. Howe, Daniel Walker: »American Victorianism as a Culture«, American Quarterly 27/5 (1975), S. 507-532. 31 | M. Dery: A Pyrotechnic Insanitarium, S. 6.
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de Riegen darin vereint, dass selten die persönlichen Gründe für die jeweilige Haltung dem Evil Clown gegenüber genannt werden können.32 Abb. 2: Killer-Clown-Maske
Hersteller/Foto: Ghoulish Productions
Die von Weltkriegen, Genozid und Wirtschaftskrisen erschöpfte Nachkriegsgesellschaft erlebt eine graduelle Zuwendung zu infantilen Verdrängungsmechanismen, die ihr ideales Äquivalent in den impulsiven 32 | »It’s bizarre, because you are feeling, you know, ›What a great guy!‹ for a madman.« So lauteten u.a. Reaktionen einiger Kinobesucher und -besucherinnen hinsichtlich der Joker-Figur aus dem Blockbuster The Dark K night. Vgl. M. Dery: A Pyrotecnic Insanitarium, S. 85.
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Charakterzügen des Clowns finden. Diese impulsive, kindliche Seite ist bereits Teil der Wesensart des dem Evil Clown zugrundeliegenden Trickster-Archetypen und erlaubt ein mannigfaltiges Interpretationsspektrum. Äußert sie sich jedoch als »zwanghafte Infantilisierung«,33 wie Ralph Rugoff sie nennt, umgibt diese eine listige und schädliche Form der Gewalt. Während Infantilismus beim kindlich-naiven Dummen August im Zirkus Verspieltheit ausdrückt und ihn stetig an der »Tücke des Objekts«34 scheitern lässt, ergibt die Kombination mit einer schizoiden, bösartigen Natur eine psychopathische, unberechenbare Figur. Maskenkonzepte des Evil Clowns, die im späten 20. Jahrhundert nicht nur dankbar vom Horrorgenre übernommen wurden, weisen unverkennbar Parallelen zu archaischen grotesken Elementen auf (Abb. 2). Der Mund als »Eingang zur Körperhölle«,35 den Bachtin als zentrales Körperteil der grotesken Körperkonzeption beschreibt, wird in Masken des Evil Clowns stark verzerrt und übertrieben dargestellt, um das clowneske Lachen – der zeitgemäßen Auffassung des Clowns entsprechend als diabolisches AusLachen – darzustellen. Ein raubtierartiges Gebiss verdeutlicht seine Unmenschlichkeit und Wildheit, während das weiß geschminkte Gesicht die althergebrachte Verbindung des Tricksters mit dem Tod aufgreift.36 Wie der Gevatter Tod mokiert er sich über die flüchtigen, sinnlosen Genüsse des Menschen und triumphiert trotz seines ewigen Scheiterns selbst stets über diesen. Diese Unmenschlichkeit, gar Übermenschlichkeit, greift auch der Künstler Randy Johnson auf und kreiert ein digital collagiertes Röntgenbild eines clownesken Körpers mit stark vergrößerter, deformierter Schädeldecke außerirdischer Physiognomie (Abb. 3).37 Die Clown-Nase ist Teil der Röntgenaufnahme und damit körpereigen, kein Maskenelement; der Unterkiefer steht affenartig hervor und erweckt den wilden, barbarischen Eindruck eines unkultivierten Tieres oder eines prähistorischen Menschen.
33 | Rugoff, Ralph: Circus Americanus, New York: Verso 1995, S. 147. 34 | A. Fried/J. Keller: Faszination Clown, S. 184. 35 | M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 18. 36 | Willeford, William: The clown, the kingdom and the stage. A study in the forms of our relationship to folly, Zürich: Juris Verlag 1967, S. 89. 37 | Vgl. M. Dery: A Pyrotechnic Insanitarium, S. 76.
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Abb. 3: Randy Johnson, Homo sapiens scurra bozus (Ausschnitt)
Foto: ©Randy J. Johnson, 2014
»A clown can ge t away with murder « — D er (gar nicht) ne t te C lown von nebenan Eindeutig erkennbar ist, dass sich neuere Clowndarstellungen, insbesondere ab dem späten 20. Jahrhundert, immer häufiger von freundlich konnotierten Merkmalen entfernen und anhand von furchterregenden, betont horrorhaften Körperinszenierungen mit Abneigung und Angst bis hin zur Panik spielen. Dass sich u.a. dadurch eine eigene Kategorie der Phobien entwickelt hat, die inoffiziell als »Coulrophobie«38 bezeichnet wird, ist wenig verwunderlich. Da es sich hierbei um ein relative neu38 | Robertson, John G.: An Excess in Phobias and Manias, Los Angeles: Senior Scribe Publications 2003, S. 62.
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es und wenig untersuchtes Phänomen handelt, wurde es noch nicht als feststehender Begriff in psychologischen Sammlungen übernommen, sondern vielmehr von Leidtragenden im Internet selbst geprägt und verbreitet, die sich in einschlägigen Foren über das Thema und über die Angst austauschen.39 Grundsätzlich können wenige konkrete Gründe für die exponentiell steigende Tendenz der Clownpanik genannt werden, die gewissermaßen einander intensivieren und im Zusammenspiel eine unumstößliche Antipathie dieser obskuren Figur gegenüber rechtfertigen. Der Evil Clown tauchte zu einer Zeit und in einem Klima allgemeinen Misstrauens an die Oberfläche. Mit der zunehmenden Individualisierung und damit häufig einhergehenden Isolation geht ein Vertrauensverlust allem Unbekannten und Undurchsichtigen gegenüber einher. Die Angst vor dem maskierten Clown spiegelt dabei mit einem unbewussten Konnex die Angst vor dem unergründlichen, wahren Ich des eigenen Nachbarn wieder, der – wie so häufig klischeehaft berichtet – doch immer als freundlicher und zuvorkommender Zeitgenosse auftrat, bis die Öffentlichkeit von seinem Doppelleben erfuhr. Ein realer Fall dieser Art ereignete sich im Laufe der 1980er Jahre in den USA, als das geheime Leben des Serienkillers John Wayne Gacy publik und medial aufgegriffen wurde. Gacy galt als ambitionierter und hilfsbereiter amerikanischer Bürger, der sich in seiner Freizeit als Pogo the Clown verkleidete und auf Benefizveranstaltungen auftrat. Sehr spät wurde bekannt, dass Gacy seine Clown-Persona auch dafür einsetzte, um dutzende junge Männer anzulocken, zu verführen und letztendlich zu ermorden. Gacy, der bereits früher von der Polizei verdächtigt, jedoch nicht weiter beobachtet wurde, erklärte den Polizisten mit eigenen Worten: »You know… a clown can get
39 | Geständnisse von Blogbesuchenden, Forenmitgliedern etc., die unter Coulrophobie leiden, ziehen meist eine Unzahl an zustimmenden Kommentaren nach sich: »clown verstecken ihre wahre identität, malen sich unheimliche gesichter, täuschen emotionen vor und alles an ihnen wirkt aufgesetzt. [sic!]«; »nur schon wenn ich an solche bunt bemalten gesichter und ihre völlig geschmacklosen klamotten denke, fange ich an zu zittern und mir kommen fast die tränen… [sic!]«; »Ich bin echt erstaunt, zu sehen, wieviele Menschen auch an einer Clownphobie leiden! Ich persönlich bekomme riesen Panik, wenn ich Clowns sehe. […] Und ich habe den Film ›Es‹ noch nie gesehen!!!«; u.v.m., zu finden auf: www.allesroger. net/archives/572-coulrophobie-die-angst-vor-clowns.html vom 08.08.2015.
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away with murder«.40 Gacy identifizierte sich in pathologischer Weise mit seiner Clown-Persona und vermarktete diese selbst noch während seiner 14-jährigen Inhaftierung im Todestrakt, indem er Clownbilder malte und an hingebungsvolle Serienkiller-Fans vertrieb.41 Die amerikanischen Medien haben Gacys Fall in einschlägiger Weise entsprechend ausgebeutet und damit wesentlich zur Festigung der Anti-Clown-Haltung bei gleichzeitiger, immenser Faszination für den Mythos beigetragen. Die Canal Street Gallery in Gacys Heimatstadt Chicago exponierte am Tag vor seiner Exekution einige seiner selbstgemalten Clownbilder. Repräsentativ für den Umgang der Medien mit der Thematik ist hierbei, dass, obwohl Gacy selbst heitere Clowndarstellungen favorisierte, der Kurator für die Ausstellung auf morbidere Exemplare aus der Sammlung zurückgriff, da er nach eigener Aussage die Anforderungen des Marktes erkannt hatte.42 Die Entwicklungen der westlichen Gesellschaft tragen also dazu bei, dass sich die Präsentation und Perzeption des unbewusst verankerten Trickster-Archetypus grundlegend verändert, dass dieser einerseits eine eigenständige, weit verbreitete Phobie entstehen ließ, und sich andererseits zu einer reizvollen Ikone, einem Leitbild jüngerer Gesellschaftsschichten entwickelt, die in vormals vorherrschenden Leitbildern wie der kirchlichen Ideologie nicht die nötigen Stimuli finden. In der massenmedial infiltrierten Informationsgesellschaft, in der das Individuum paradoxerweise trotz globaler Vernetzung in sozialer Isolation leben kann, sinkt das Vertrauen dem Mitmenschen gegenüber, wodurch hinter einer Maske in Obskurität versteckte und unkontrollierbare Figuren in Verruf geraten. Zusammenfassend lässt sich anhand weniger osmotisch verbundener Gegebenheiten und Entwicklungen festmachen, wie das Phänomen Coulrophobie entstehen konnte: • Durch den mythologischen Ursprung des Clowns als non-transparente Figur, die als Gestaltenwandler zwischen den Welten in Verbindung mit dem Tod und dem Teufel steht.
40 | C rimes of the 20 th C entury (USA 2007, R: Norm Anderson). 41 | Vgl. M. Dery: A Pyrotechnic Insanitarium, S. 72. 42 | Kifner, John: »Gacy, Killer of 33, Is Put to Death as Appeals Fail«, in: The New York Times vom 11.5.1994, S. A19.
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• Durch die archetypischen Pole des paradoxen Tricksters zwischen Gut und Böse (im ursprünglichen Sinne von Kreation und Destruktion), dessen Aussehen und Verhalten mitunter starke Kontraste aufweisen und verunsichern können. • Durch die althergebrachte Äquivalenz des Clowns mit dem Prinzip Chaos als Gegenpol der Ordnung und Kontrolle, das ihn für diejenigen, die an Angst vor Kontrollverlust und Unsicherheit leiden, zum idealen Prügelknaben macht. Die auffallenden Analogien zum mittelalterlichen Karneval, dessen Notwendigkeit die staatlichen und geistigen Oberhäupter zwar anerkennen, den diese aber aufgrund seines anarchischen, subversiven Moments gleichzeitig fürchten, unterstreichen die ubiquitäre und zeitlose Verbindung des Trickster-Archetypen mit dem Chaos-Prinzip.43 • Durch ein allgemeines Klima des Misstrauens, verursacht durch Individualisierung und Isolation, in der impulsive, anarchische Figuren als unerwünscht diskreditiert werden. • Durch urbane Mythen44 und reale Fälle, wie der des Serienkillers John Wayne Gacy, die von Effektenhaschern der Medienbranche aufgegriffen und zu einer Massenparanoia geschürt wurden. Diese teils unzusammenhängend erscheinenden, aber sich in gewisser Weise gegenseitig bedingenden Faktoren kumulierten etwa in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – Gacys Machenschaften beispielsweise wurden 1981 einer breiten Öffentlichkeit berichtet. Unbewusst vervielfältigte sich diese kollektiv ausgetragene Phobie seither und zeigt selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch ihre Wirkung.
43 | »Die provokativ-heitere Umstülpung der geltenden Institutionen und ihrer Hierarchie [zeigt] […] eine permanente Alternative auf. Und es ist diese nicht zum Schweigen bringende Energie des alternativen Appells – und nicht so sehr die konkreten Einzelformen kultureller Praxis, die die institutionelle Kultur in Unruhe versetzt.« M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 15. 44 | http://urbanlegends.about.com/od/horrors/a/clown_statue.htm vom 28. 04.2015.
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N otausgang W ahnsinn — D er J oker als schizoider P sychokiller oder G esellschaf tskritiker ? Im selben Maß führen dagegen die Überforderung einer den Massenmedien ausgelieferten Gesellschaft, der Verlust an Sicherheit und die gesteigerte Eigenverantwortung des Selbst dazu, dass die Flucht in Infantilismus und Zwanglosigkeit nach wie vor als allzu verlockend erscheint. Anarchistische, destruktive Figuren wie die des Evil Clowns werden damit – ähnlich dem Karneval des Mittelalters – als Ikonen eines sozialen, ideologischen und wirtschaftlichen Umbruchs und der Auflehnung gegen bestehende Systeme zelebriert, in einer Zeit, in der es an alternativen, revoltierenden Vorbildern mangelt.45 Dies liefert eine mögliche Erklärung dafür, dass selbst der psychopathische Killer-Clown trotz aller Morbidität und Brutalität bei vielen Rezipientinnen und Rezipienten Sympathie zu erregen vermag. Der wohl bekannteste und beliebteste Vertreter des PsychokillerClowns mit Identifikationspotential ist der Joker, dessen Popularität sich ebenfalls seit den 1980er Jahren stark intensivierte. Dieser erblickte bereits 1940 im Rahmen der DC Comics-Reihe das Licht der Graphic-NovelWelt und wurde 1960 für die Batman-Fernsehserie adaptiert. Der Joker verkörpert die direkte Antithese zum gesetzestreuen Kontroll-Freak Batman und macht diesem seit Tim Burtons Batman-Verfilmung im Jahre 1988 erhebliche Konkurrenz. Im Kampf zwischen der Vernunft und dem moralischem Verfall, zwischen Ordnung und Chaos, der häufig als Konflikt zwischen den Wertvorstellungen von Gut und Böse interpretiert wird, verändert sich die Rolle des Jokers im ausgehenden 20. Jahrhundert und nähert sich graduell an gesellschaftliche Verhältnisse zur Jahrhundertwende an. Um überblickshaft ein Profil dieses wahnsinnigen KillerClowns und seiner jüngeren Entwicklung zu zeichnen, bietet es sich an, aus der Vielzahl von Joker-Referenzen u.a. aus Comics, Romanen und im Film, zwei einander gegenüberzustellen, die von besonderem Erfolg ge45 | Generell ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein starker Anstieg an Superhelden-Darstellungen, beispielsweise in den Comics der populären Verlage DC Comics und Marvel Comics bemerkbar; dies steht jedoch in Opposition zu den Clown-Darstellungen, insofern hier eine relativ homogene, archaische Figur in allen erdenklichen Medien wie im Alltag unverhältnismäßig häufig und in ähnlicher Weise präsentiert, rezipiert und personifiziert wird.
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krönt sind: Alan Moores Comic The Killing Joke 46 aus dem Jahre 1988 und Christopher Nolans 2008 The Dark Knight.47 The Killing Joke stellt einen Wendepunkt in der Beschaffenheit des Joker-Mythos dar: Erstmals wird hier Batmans Erzfeind mit einer Hintergrundgeschichte versehen, wird dessen Transformation anhand von Rückblenden in einen von tragischen Vorfällen durchzogenen Tag erklärt. Von der eingeschworenen Fangemeinde wurde diese Entscheidung mitunter stark kritisiert – bei seinem Debüt 1941 und lange Zeit danach trat der Joker als namenloser Spitzbube ohne Vergangenheit auf und strahlte damit eine mysteriöse Aura aus. In The Killing Joke macht der Joker es sich zum Ziel, Batman endgültig davon zu überzeugen, dass dessen Kampf für Recht und Ordnung und darüber hinaus die gesamten menschlichen Vorstellungen von Moral und Vernunft veraltete Konzepte ohne Gebrauchswert sind. Der verlassene, baufällige Jahrmarkt als Austragungsort dieses psychologischen Experiments ist nicht zufällig gewählt und essentiell für seine Absicht: Nur in der umgestülpten Welt des Karnevals, in der alltägliche Regeln und Hierarchien nicht gelten, vermag der Außenseiter zu beweisen, dass kein Unterschied zwischen ihm und dem Rest der Gesellschaft besteht. Mit höhnischer Determination konstatiert er, dass der einzige Weg, um mit der Tragik und Ungerechtigkeit der Welt umgehen zu können, die Verdrängung jeglicher negativer Erfahrung und Erinnerung sei, weshalb sich der Joker seine Persönlichkeit flexibel zusammenbastelt: »Sometimes I remember it one way, sometimes another. If I’m going to have a past, I prefer it to be multiple choice! Ha Ha Ha!«48 Dadurch wird die Unzuverlässigkeit seiner Aussagen offengelegt: Selbst der vermeintliche Einblick in seine Vergangenheit ist damit mit Vorsicht zu genießen und könnte bloß einer weiteren, schizophrenen Phantasie entsprungen sein (Abb. 4). Mit tragikomischem Optimismus erlangt er die Einsicht: »Madness is the emergency exit.«49 Es ist sein schizophrener, fragmentarischer Charakter latenter Aggression, der den Joker zu einem willkürlichen, unberechenbaren Gegner macht. Gewissermaßen erhebt ihn dies zu einer 46 | Moore, Alan/Bolland, Brian: Batman. The Killing Joke. The Deluxe Edition, New York: DC Comics 2008. 47 | Batman: The Dark K night (USA 2008, R: Christopher Nolan) 48 | Vgl. A. Moore/B. Bolland: The Killing Joke, S. 29. 49 | Ebd., S. 21.
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optimal an die Postmoderne angepassten Figur, wie ihre Psychiater der Nervenheilanstalt Arkham Asylum im gleichnamigen Graphic-Novel diagnostizieren: »We’re not even sure if he can be properly defined as insane […] It’s quite possible we may actually be looking at some kind of super-sanity here. A brilliant new modification of human perception. More suited to urban life at the end of the twentieth century. Unlike you and I, the Joker seems to have no control over the sensory information he’s receiving from the outside world. He can only cope with that chaotic barrage of input by going with the flow. That’s why some days he’s a mischievous clown, others a psychopathic killer. He has no real personality«. 50
Abb. 4: Der Joker in The Killing Joke, Alan Moore, Brian Bolland
Zeichnung: ©DC Comics, 2008
Am entführten Kommissar Gordon will der Joker in The Killing Joke ein Exempel statuieren, das darin besteht, ihn in den Wahnsinn zu treiben, um zu beweisen, dass Wahnsinn und Irrationalität die einzigen funktionierenden und gerechten Methoden seien, um in einer grausamen, chaotischen Welt zu überleben. Letztendlich misslingt der Plan und der Joker 50 | Morrison, Grant/McKean, Dave: Arkham Asylum. A serious house on serious earth, New York: DC Comics 1997, o.P.
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wird von Batman zur Strecke gebracht. 1988 geht der Konflikt zwischen den Entitäten Ordnung und Chaos, von Moral und Vernunft losgelöster Freiheit also zugunsten der Kontrolle aus, und der Plan des Jokers wird streng nach den Regeln des Gesetzes vereitelt.
E ine unaufhaltsame K raf t triff t auf ein unbewegliches O bjekt — der J oker des frühen 21 . J ahrhunderts Exakt drei Jahrzehnte später, in Christopher Nolans von erheblichem Erfolg gekrönten Blockbuster The Dark Knight, wird dieser Konflikt bemerkenswerterweise ähnlich präsentiert, zeichnet jedoch in diesem Punkt ein wesentlich davon abweichendes Ende. Das Joker-Profil, an den Zeitgeist des frühen 21. Jahrhundert angepasst, übertrifft vorangegangene Derivate des Tricksters ein weiteres Mal an Grausamkeit und Zerstörungswut. Der Charakter des Jokers ermöglicht aufgrund seiner immensen Beliebtheit trotz Mordlust, ekstatischen Wahnsinns und Brutalität vielversprechende Interpretationen. Die folgenden Theorien und Aspekte stechen besonders hervor und greifen Denkmuster des Karnevals nach Bachtin und Charaktereigenschaften des archaischen Tricksters auf. Spiel: Mit infantil-willkürlicher Experimentierfreude spielt der Joker mit der Welt des Menschen und erschüttert diese durch unerwartete Gräueltaten, um die Lächerlichkeit der menschlichen Moral sowie des Kontroll- und Ordnungszwangs offenzulegen. Vom üblichen Verbrecherklischee grenzt er sich angewidert ab und verbrennt das erbeutete Geld: »All you care about is money. This town deserves a better class of criminals«.51 Seine Spielfreude lebt er aus, indem er lineare Ordnungen zerschlägt und Chaos verursacht. Wahnsinn: Der Joker zelebriert Chaos und Wahnsinn bei gleichzeitiger Negierung der Normalität, Ordnung und der auferlegten Moral. Diese geistige Umnachtung befreit ihn aus dem moralischen Korsett und verleiht ihm gewissermaßen eine objektive Sichtweise, von der er sein jeweiliges Versuchskaninchen überzeugen möchte. Während ihm dies in The Killing Joke misslingt, gesteht der Staatssekretär Harvey Dent in The Dark Knight schlussendlich: »You thought we could be decent men in 51 | Batman: The Dark K night.
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an indecent time. But you were wrong. The world is cruel, and the only morality in a cruel world is chance. Unbiased. Unprejudiced. Fair.«52 Unberechenbarkeit: Er ist unberechenbar und willkürlich und zwingt den Menschen dazu, sich mit gesellschaftlichen Schwachstellen auseinanderzusetzen. Indem er diesen vor moralische Dilemmata und psychologische Zwickmühlen stellt, beispielsweise wenn er sie dazu zwingt, sich zwischen der Errettung zweier Menschen zu entscheiden, reißt er ihn aus seiner behüteten Umgebung und stellt alltägliche Paradigmata auf eine harte Probe. Die alltagstaugliche Scheinheiligkeit entlarvt er mit dem Vergleich der von ihm begangenen Morde mit dem tagtäglichen Massensterben von Verstoßenen und Kriegsopfern, über die hinweggesehen wird. Der Evil Clown nimmt damit die unerwartete Position eines subtilen Gesellschaftskritikers ein, der als Verfechter des Zufalls auftritt: eines Prinzips, das Hierarchien und Kategorien wie Armut und Reichtum, würdig und unwürdig außer Acht lässt. Die von Bachtin thematisierte »Karnevalisierung des Bewusstseins« spielt daher auch in postmodernen Darstellungen des Evil Clowns eine Rolle – dem Zeitgeist entsprechend in Kombination mit Grausamkeit, Chaos und Brutalität. Der Vergleich dieser beiden Joker-Interpretationen liefert einen wesentlichen Unterschied: Während der Joker 1988 im letzten Moment besiegt wird, gelingt es ihm 2008 in The Dark Knight zu beweisen: »See, madness, as you know, is like gravity. All it takes is a little push!«53 Als Bewahrer der Ordnung und des Rechts behält sein Widersacher nicht mehr eindeutig die Oberhand.54 52 | Ebd. 53 | Ebd. 54 | ›Recht‹ und ›Ordnung‹ sind in diesem Kontext nicht notwendigerweise als positiv zu betrachten, da die Ordnung, die Batman aufrechterhalten bzw. wiederherstellen möchte, eine von der Autorität, vom Establishment forcierte und dementsprechend definierte ist, die gleichermaßen die gültigen Fundamente des Rechts bestimmt. Durch diese überschattete Stellung wird Batman als Held kritisierbar und als Antiheld, durch seinen Ausschluss von der Öffentlichkeit, zur heroisch besetzten Figur. Sowohl der Joker als auch Batman überschreiten die Schwelle der ihnen zugeteilten Rollen konstant; dadurch und durch die uneigentlich positive Konnotation Batmans wird eine eindeutige negative Bewertung des Jokers – trotz vermeintlich menschenverachtender Aktionen – unmöglich. Vgl. Gaine, Vincent M.: »Genre and Super-Heroism. Batman and the New Millenium«, in: Richard J. Gray II/
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Die schizoide Persönlichkeit des Jokers hilft diesem, nicht an der Welt und ihrem Überfluss an Impulsen zu zerbrechen und fungiert damit stellvertretend nicht nur für andere mordlustige Clowns, sondern ist eine Manifestation unbewusster Entwicklungen der Postmoderne. Der Clown trifft auf eine mediengesättigte Gesellschaft, die geprägt ist von einer Überforderung durch die allgegenwärtige Informationsflut und vom Vertrauensverlust in Staat und Religion. Die vormals großen Konzepte von Gott, Marxismus und vom wirtschaftlichen Fortschritt, die »Grand Narratives«55 nach Jean-François Lyotard, verlieren an Gewicht und fungieren damit nicht mehr als Motoren der gesellschaftlichen Fortentwicklung. Zurück bleibt ein Vakuum der Unsicherheit ob der großen Verantwortung, die durch den eigenen Lebensentwurf mit schier endlosen Möglichkeiten auferlegt wird. Weit über die Grenzen der Bildkader hinaus infiltriert der Evil Clown bereits Ebenen des Alltags, beispielsweise in Subkulturen privat ausgelebter Killer-Clown-Personae wie den Juggalos,56 bizarr geschminkte Anhänger der Rap-Gruppe Insane Clown Posse, die darin nach eigenen Aussagen einen Weg gefunden haben, ihre Aggressionen auszuleben, oder in Form von Streichen, in denen Hobby-Killer-Clowns mit Messern bewaffnet hinter Büschen hervorspringen – und ihrerseits wieder auf dem Videoportal YouTube landen. Erneut nimmt der Trickster die Vermittlerrolle seiner Vorfahren auf, um auf herablassend-zynische Weise den menschlichen Vorstellungen der Linearität und Moral zu spotten und zeitgenössische Denkmuster zu sprengen. Durch seine ambivalente Natur und die facettenreichen Interpretationsmöglichkeiten birgt die Figur ein gewisses Gefahrenpotential für unausgeglichene Gemüter; trotz der einseitigen Umsetzung als Evil Clown der jüngsten Zeit sei vor einem vorschnellen Urteil gewarnt. Wird das stellenweise psychopathische, grausame Wesen von hinten beleuchtet, offenbaren sich in manchen Fällen feine Nuancen der GesellschaftsBetty Kaklamanidou (Hg.), The 21st Century Superhero. Essays on Gender, Genre and Globalization in Film, Jefferson: McFarland 2011, S. 111-128. 55 | Lyotard, Jean-François: The Postmodern Condition. A Report on Knowledge, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984. 56 | Vgl. Davila, Florangela: Hanging with the Juggalos, auf: http://community. seattletimes.nwsource.com/archive/?date=20060718&slug=juggalo18 vom 23. 03.2011.
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kritik, des Protests und der Auf bruchsstimmung. Der Clown als Jedermann, der sich der konstanten geistigen Fortbewegung verschrieben hat und gegen gesellschaftlichen Stillstand protestiert, findet sich beispielsweise in der Gruppierung C.I.R.C.A., der Clandestine Insurgent Rebel Clown Army [Geheime, aufrührerische, rebellische Clown-Armee; Übers. d. Verf.], die sich in Militärkleidung gehüllt und als Clowns geschminkt zu provokanten Aktionen zusammenfindet, um gegen Autoritäten, Ungerechtigkeit und den gesellschaftlichen Stillstand zu protestieren: »We are circa because we are approximate and ambivalent, neither here nor there, but in the most powerful of all places, the place in-between order and chaos.«57 Die Diskrepanz zwischen einer für das soziale Zusammenleben notwendigen Ordnung und dem Chaos, indirekt repräsentativ für die persönliche Freiheit, stellt einen der ältesten sozialen Konflikte dar. In der schwer aufrechtzuerhaltenden Ordnung der Postmoderne, die der ChaosClown stets aufs Neue provoziert, scheint die »Karnevalisierung des Bewusstseins« in vollem Gange zu sein, weshalb der Joker verlangt: »Introduce a little anarchy. Upset the established order, and everything becomes chaos. I’m an agent of chaos. You know one thing about chaos? It’s fair.«58
57 | Selbstbeschreibung der CIRCA Vereinigung: www.clownarmy.org/about/ about.html vom 04.04.2011. 58 | Batman: The Dark K night.
Die Paradoxie des Clowns — sieben Spielformen Schlussbemerkungen Richard Weihe Was macht einen Clown zum Clown? Im ersten Teil dieses Bandes haben Clowns und eine CLOWNerin ihren Werdegang und ihre künstlerische Praxis beschrieben, um diese Frage zu beantworten; im zweiten Teil wurden Praktiken und Darstellungsformen des Clowns aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchtet. In den Beiträgen tritt der Clown auch unter den Bezeichnungen Spaßmacher, Gaukler, Schelm, Hofnarr, Trickster, Zanni, Comico, Bouffon, Tramp, Zirkuskunstfigur auf. Der Titel dieses Buchs – Über den Clown – enthält zugleich eine These: ›Clown‹ dient als generischer Begriff, der viele Varianten komischer Figuren und sozialer Funktionen aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten umfasst. Im Folgenden verwende ich ›Clown‹ in diesem Sinn als Oberbegriff. Die aufgesetzte rote Nase ist zum universellen Erkennungszeichen und Symbol des Clowns geworden. Selbst wenn die rote Nase nur einen kleinen Teil des Gesichts bedeckt, funktioniert sie wie eine Maske: Sie ersetzt einen natürlichen Gesichtsteil durch einen künstlichen. Es braucht keine rote Nase zu sein (der Zweifingerbart des Tramps hat die gleiche Funktion), doch – so die zweite These – eine wie auch immer geartete Form der Maskierung (welche Kleidung oder Kostümierung einschließt), ist das wesentliche Merkmal des Clowns und seiner Varianten. Ebenso wichtig wie das visuelle Kriterium der Maskierung ist das verhaltensbezogene, performative Kriterium des Spiels. Den Bezug zum Ludischen betrachte ich – so meine dritte These – als konstitutives Element des Clowns. Heranwachsende entdecken oft in einem gewissen Alter die Lust am Theater als spielerische Identitätserfahrung: mimeti-
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sches Vermögen, Rollenaneignung, Täuschungsstrategien im Spielraum zwischen der Person, die ich bin und der, für die ich gehalten werden möchte. Wenn uns Theater existenziell angeht, dann deshalb, weil es uns zeigt, wie wir uns täuschen lassen (von anderen und von uns selbst) und dass jeder Ent-Täuschung eine Täuschung vorausgegangen sein muss. Ich interpretiere das Clownspiel als Vorstufe zu dieser Theatererfahrung von Jugendlichen. Dem Clown geht es nicht um Identität, Täuschung, Glaubwürdigkeit. Clownerie ist die bewusste, spielerische Rückführung der Erwachsenen in die frühe Kindheit, in der wir alle einmal Laufen und Sprechen lernen mussten, ohne uns des Lernvorgangs bewusst zu sein, denn Erinnerungen an unsere ersten zwei bis vier Lebensjahre fehlen uns weitgehend.1 Dabei unterscheidet sich die Spielweise des Clowns von derjenigen eines Schauspielers, dessen Verhältnis zum Menschen, den er darstellt, ein anderes ist: Der Schauspieler führt sich das Bild der authentischen, unverstellten Person vor Augen, um es zu reproduzieren; seine Spielweise ist psychologisch begründet. Der Clown hingegen produziert ein vergrößertes, übertriebenes, stark vereinfachtes Bild vom Menschen und veranschaulicht dadurch dessen »exzentrische Weise des Daseins«.2 Die Spielweise des Clowns ist eher eine mechanistisch-funktionale. Freud prägte das Bild des Ich, das »nicht Herr in seinem eigenen Haus« ist.3 Dieses Ich hat immerhin ein Haus, das Stabilität und Geschichte nahelegt. Um die Metapher auf den Clown zu übertragen: Beim Clown-Ich 1 | Die Frage, inwiefern der Körper Geschehenes, insbesondere alles Traumatische, auf andere Weisen speichert und unbewusst ›erinnert‹, bleibt hier ausgeklammert. 2 | Ich verwende den Begriff ›Exzentrizität‹ im Sinne von Helmuth Plessner, vgl. u.a. seinen Aufsatz Zur Anthropologie des Schauspielers (1948): »In seinem Sichselber-präsent-Sein liegt der Bruch, die ›Stelle‹ möglichen Sich-von-sich-Unterscheidens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir die exzentrische genannt haben, anweist.«, in Plessner, Helmuth: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd. VII, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 399-418, hier S. 417. 3 | Freud, Sigmund: »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Bd. V (1917), S. 1-7, hier S. 7.
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droht nicht Gefahr, dass der Hausherr die Kontrolle verliert (er hat sie nie gehabt), sondern dass das Haus zusammenbricht oder explodiert, weil der Druck zwischen innen und außen zu groß ist. Dem Clown müsste man mit dem Werbespruch der Uhrenmarke Tag Heuer zurufen: »Don’t crack under pressure!« Der Clown ersetzt die kontrollierende soziale Maske durch eine unnatürliche, groteske Maske: Diese Maske entzieht sich der gesellschaftlichen Kontrolle und öffnet dem Clown zugleich den Raum des Asozialen. Hierin zeigt sich der rebellische, subversive, anarchische Zug des Clowns, den verschiedene Beiträge ansprechen. Mit Spielmitteln wie Parodie, Groteske, Hyperbolik, Spott, Narrenfreiheit oder bloßes Gelächter hat der Clown die Kraft, Autoritäten und Machtstrukturen anzufechten und zu unterminieren. Wir fragen bei Spielen nach den bindenden Regeln. Wenn aber ein Kind mit einer Puppe, einer Modelleisenbahn oder einer Maske spielt, sind dies keine regelgeleiteten, sondern improvisierte Spiele. In seinem Spiel hält sich der Clown nicht an Regeln, er erhebt die Regellosigkeit zum Prinzip oder erfindet eigene Regeln: Er spielt nicht ein Spiel, er spielt. Wenn es Regeln gäbe, bestünde das Spiel darin, sie zu umgehen oder zu brechen. Der Clown bevorzugt Unregelmäßigkeit: Überraschungen, Tricks, Kehrtwendungen, Alogik, Inkongruenz, Gedankensprünge – und jede andere Form des Sprunghaften. Der Clown spielt mit seinesgleichen zusammen, sein wesentlicher Partner ist jedoch das Publikum. Die erste Instanz, auf die sich der Clown bezieht, ist nicht die Spielregel, sondern die Aufmerksamkeit des Publikums. Ein wiederkehrendes Motiv in vielen Beiträgen ist das widersprüchliche, paradoxe Verhalten des Clowns. Leo Bassi schreibt, der Clown solle heilig gesprochen werden, da er die Fähigkeit besitze, Menschen zum Lachen zu bringen. So gründete Bassi die Iglésia patolica, wörtlich die ›Entenkirche‹, als Parodie auf die katholischen Kirche: In seiner blasphemischen Institution huldigt Bassi als Clown dem Clown als Heiligem. Pierre Byland beschreibt die Entstehung des Clowns aus dem Fiasko: Der Clown ist dann lustig, wenn er daran scheitert, lustig zu sein. Das Scheitern des Clowns ist in Wahrheit sein Erfolg, denn er bringt Leute zum Lachen und in seiner Publikumswirkung liegt gerade seine Existenzberechtigung. Christoph Posselt bemerkt, wie die Konfusionen und Paradoxien, die wir im Alltag zu vermeiden suchen, umgekehrt den Clown anziehen. Jef Johnson erinnert sich an den paradoxen Kleidungsstil seiner Mutter: Unterwäsche verwendete sie als Kopf bedeckung, eine Bluse als Hose. Als
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Jugendlicher ist Johnson von Absurdem und Widersprüchlichem fasziniert. Eines Tages entdeckt er: Seine Mutter stammt von den Lakota ab und er begreift, der Geist des Heyoka, der gegensätzlich denkende und sich verhaltende ›verkehrte Krieger‹ (Contrary) bei den nordamerikanischen Plainsindianern, lebt in ihr und in ihm fort. Constantin von Barloewen spricht von der »Dialektik des Clowns«, von der für den Clown spezifischen Auseinandersetzung mit Gegensätzen, die z.B. im Clownduo Weißclown und Rotclown zum Ausdruck komme, als Aufrechterhaltung und Auflösung der Norm. Demis Quadri charaktierisiert die Clownlogik als ›delirio controllato‹, ›beherrschte Verrücktheit‹ oder ›Wahnsinn mit Methode‹ und schließlich beschreibt Lena Sharma den »paradoxen Charakter« des psychopathischen, blutrünstigen ›bösen Clowns‹. Dieses in den Beiträgen verschiedentlich angedeutete Prinzip des Clownesken erfasse ich mit der paradoxen Formel der ›Einheit des Unterschiedenen‹. Um beim Beispiel des Zirkusclowns zu bleiben: Man unterscheidet zwischen Weißclown und Rotclown (Dummer August), doch der Clown umfasst beide Formen, auch wenn sie als separate Figuren auftreten. Der Clown verkörpert die Einheit der Gegensätze: So verstanden wird der Clown zu einer paradoxen Denkfigur. Diese Denkfigur erkenne ich in sieben verschiedenen Spielformen des Clowns, die ich abschließend beschreibe. 1. Die erste Spielform betrifft grundsätzlich den Umgang mit Unterscheidungen. Im Titel seines Beitrags verwendet Matthias Christen den Begriff ›Transgression‹. Wörtlich verstanden als ›Überschreitung‹ oder ›Übertretung‹ setzt Transgression eine Grenze voraus, die überschritten wird. Der Clown ist ein Grenzgänger, er spielt entlang und über Grenzen hinweg im konkreten oder übertragenen Sinn. Seine Grenzstellung oder Liminalität4 (lat. limes, Grenzlinie) betrachte ich als grundlegend für das Verständnis des Clownesken: Der Clown operiert an der Grenzlinie zwischen der Bühne oder der Manege, seinem Spielfeld, und dem Zuschau4 | Der vom Ethnologen Victor Turner geprägte Begriff ›Liminalität‹ bezeichnet einen »Schwellenzustand« als mittlere Phase eines Rituals, siehe Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M.: Campus 2005. Zu Liminalität als theaterwissenschaftlicher Begriff siehe Warstat, Matthias: Art. »Liminalität« in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/ Warstat, Matthias, Stuttgart: J.B. Metzler 2005, S. 186-188.
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erraum. Dabei – und darauf kommt es an – kann er zwischen beiden Räumen hin- und herwechseln. Die Grenze kann eine physische sein wie im Fall der Theaterrampe, aber auch eine politische (Gesetze, ›politische Korrektheit‹) oder eine gesellschaftliche (Moral, Norm, Tabu). Das Publikum vertritt die andere Seite der Grenze; somit ist das ›Grenzspiel‹ des Clowns ein Spiel mit dem Publikum. In diesem Grenzspiel sehe ich die erste Spielform einer paradoxen Einheit des Unterschiedenen: Der Clown verbindet die eine und die andere Seite der Unterscheidung, indem er den limes im Spiel auflöst. 2. Der Clown (zumal in der Gestalt des August) verhält sich wie ein Kind. »Kinder treiben Kindisches«, heißt es. Der Clown ist kein Kind mehr, sondern ein Erwachsener, der sich kindlich und kindisch verhält. Clown Dimitri hat das Bibelwort »Seid wie die Kinder!« zu seinem Leitspruch gemacht und Oleg Popow riete einem Clownschüler: »Erhalte dir deine Kinderseele!« Bücher über den Clown ermuntern uns, den ›inneren Clown‹ freizusetzen, das kleine Kind von früher, das noch in uns steckt. Das Paradoxe daran ist, dass wir als ›erwachsene Kinder‹ gleichzeitig zwei Generationen parallel (er)leben sollen: das Verhalten eines Kindes mit dem Körper eines Erwachsenen, wenn der Clown wie ein Kind stolpert, das mit viel zu großen Schuhen (und Füßen!) eines Erwachsenen laufen lernt. Wir können das klassische Clownduo des Zirkus, Weißclown und Rotclown (August) als Verkörperungen dieser beiden Lebensalter verstehen. Der Weißclown ist die Vaterfigur, der Rotclown das Kind (oder allgemein eine frühe Entwicklungsstufe des Menschen), das erzogen werden soll. Doch das Zusammenspiel von Generationen in der Gestalt zweier Männer, lässt den Clown als alterslose Figur erscheinen. Tatsächlich wird aus dem Clown kein Vater. Dadurch vermeidet er die Grenzziehung zwischen seiner und einer neuen Generation. Der Übergang ist vielmehr fließend, der Clown spielt nur mit der Idee der Generationen. Die zweite Spielform einer ›Paradoxie der Einheit des Unterschiedenen‹ beim Clown bezeichne ich deshalb als ›Generationenspiel‹: Im Generationenspiel vereint der Clown das Kind und den Erwachsenen.
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3. Constantin von Barloewen gibt seinem Buch über Clowns den Untertitel »Versuch über das Stolpern«. Müsste man den Clown mit einer einzigen Bewegung charakterisieren, wäre es wohl das Stolpern und auf die Nase Fallen. Das Straucheln des Clowns lässt mangelnde Körperbeherrschung vermuten. Der Clown, der in die Manege stolpert, ist die Kontrastfigur zum Artisten, der zwischen zwei Trapezschwüngen einen Salto macht. Die Antwort auf die virtuose Körperbeherrschung des Artisten ist die Ungeschicklichkeit des Clowns. Doch seine Körperbeherrschung ist nicht weniger virtuos, denn der Unfall ist gespielt. Der absichtliche Sturz darf nicht unkontrolliert ablaufen, damit sich der Clown nicht verletzt. Er stolpert nicht, er demonstriert die Kunst des Stolperns. Wie im Theater sollen seine Aktionen keine körperlichen Schäden verursachen. Der Clown zeigt den Sturz, den sich der Trapezkünstler niemals erlauben darf. Je größer der Unterschied zwischen der scheinbaren Tollpatschigkeit des Clowns und seinen eigentlichen akrobatischen Fähigkeiten, desto größer die komische Wirkung. Im Lachen des Publikums schwingt die Erleichterung mit, dass sich der Clown beim Hinfallen nicht verletzt hat. Wenn ein Artist auf dem Hochseil ausrutscht und abstürzt, lacht niemand, und sei er auch als Clown verkleidet. Ich nenne die dritte Spielform einer paradoxen Einheit des Unterschiedenen das ›Körperspiel‹ des Clowns: In seinem Körperspiel vereint er Ungeschicklichkeit mit Akrobatik. 4. Sexualität und Gender-Ambivalenz sind beliebte Motive in der Clownerie. Zu den Ausdrucksmitteln des Clowns in diesem Bereich gehören Androgynität, Cross-Dressing, Diva- oder Machoverhalten, Sexismus, Asexualität u.a. So tritt etwa Charlie Rivel in einer Clownreprise als Operndiva auf. In ihren Clownverkleidungen zeigt die amerikanische Performance-Künstlerin und Fotografin Cindy Sherman eigenartig geschlechtslose Wesen. Eine häufige Routine des Dummen August ist die Parodie auf das weibliche Verhalten beim Tragen von High Heels, wobei er gerade seine Ungeschicklichkeit betont. Während Akrobaten und Akrobatinnen figurbetonte Trikots tragen, die ihre Geschlechtsidentität hervorheben, verändern Clowns ihr Äußeres durch verschiedenste Formen der Maskierung und Kostümierung: Sie stellen nicht ihren Körper zur Schau, sondern ihre Kleidung. Dabei bedienen sie nicht die typischen Genderrollen. Wenn Frauen einen Clown spielen, ist es meist die Figur des Weißclowns, nur selten der Rotclown. Das schimmernde Pailettenkostüm des Weißclowns, kombiniert mit weißen Kniestrümpfen, erin-
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nert eher an weibliche als an männliche Mode. Dagegen sind die breiten Sakkoschultern und sein traditionell autoritäres Verhalten stereotype männliche Attribute.5 Im Gegensatz dazu trägt der August bunte, übergroße, schlecht sitzende Kleider und zu große Schuhe. Die orange oder rote Perücke kontrastiert mit dem eleganten weißen Kegelhütchen des Weißclowns. Verhalten und Stimmgebrauch sind zu kindlich, um sie geschlechtlich zu definieren – der Rotclown wirkt vorpubertär oder asexuell. So nenne ich die vierte Spielform der Paradoxie des Clowns das ›GenderSpiel‹: Im Genderspiel vereint der Clown Männlichkeit und Weiblichkeit. 5. Der Clown spiele mit dem Spruch: »Vom Lachen zum Weinen ist es nur ein Schritt«, meint Oleg Popow. Das Theater wird oft mit einer lachenden und einer weinenden Maske symbolisiert. Im Theater sind die beiden Formen Komödie und Tragödie getrennt, im Clownspiel sind sie, so Popow, vereint. Der Clown lacht und bringt uns zum Lachen oder er weint, um Mitleid zu erregen oder um unser Lachen zu verstärken. Wie ein Kind kann er leicht zwischen Lachen und Weinen wechseln. Den Wechsel vollzieht er mühelos, weil er keine eigenen Gefühlszustände zum Ausdruck bringt. Der Clown liebt es zu zeigen, dass er fühlt, ohne zu fühlen.6 Bei einem Kind ist der Gesichtsausdruck beim Lachen oft schwer von dem beim Weinen zu unterscheiden. Lachen und Weinen sind überdies vergleichbare pneumatische Vorgänge: Beim Lachen wird in einem rhythmischen Stakkato des Zwerchfells Luft aus der Lunge gepresst. Weinen kommt durch die gegenläufige Bewegung zustande, durch Einatmen von Luft. Die unterschiedlichen Richtungen der Luftströme ermöglichen den fließenden Übergang von Lachen zu Weinen und umgekehrt. Wenn einmal im Körper der Lachreiz oder der Tränenfluss aktiviert worden ist, verselbstständigt sich der Vorgang und ist willentlich kaum noch aufzuhalten. Wenn z.B. zwei Kinder während einer stillen Feier in einer Gruppe zu kichern beginnen, erhöht der Versuch, das Kichern zu unterdrücken, nur den Druck in der Lunge. Dann kann es sein, dass die Kinder 5 | Vgl. Bouissac, Paul: The Semiotics of Clowns and Clowning. Rituals of Transgression and the Theory of Laughter, London/New York: Bloomsbury Academic 2015, S. 142f. 6 | Gaulier, Philippe: Le gégéneur, Paris: Èditions Filmiko 2007, zitiert nach Davison, Jon: Clown. Readings in Theater Practice, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 227.
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– wie man sagt – plötzlich ›in Gelächter ausbrechen‹. Beim Weinen gibt es dieselbe Wendung: Man ›bricht in Tränen aus‹. Daher verwendet der Philosoph und Anthropologe Helmuth Plessner einmal statt »Ausdrucksweisen« den Begriff »Ausbruchsweisen« 7 für Lachen und Weinen als physiologische Reaktionen. In Anlehnung an diesen Begriff formuliere ich das Prinzip der fünften paradoxen Spielform des Clowns: Im Ausbruchsspiel vereint der Clown Lachen und Weinen. 6. Zur Bezeichnung einer weiteren – sechsten – Spielform der Paradoxie des Clowns verwende ich den Begriff des »Sprachspiels« 8 von Ludwig Wittgenstein. Das Sprachspiel des Clowns umfasst zwei gegensätzliche Beziehungen zur Sprache: zum einen virtuose Sprachbeherrschung, zum anderen Sprachlosigkeit, rudimentäres Sprachvermögen oder Stottern. Der Hofnarr ist ein Meister der Sprache und des Sprechens, zudem steht ihm ein besonderes sprachliches Mittel zur Verfügung, die Narrenfreiheit: die Möglichkeit, ungestraft die Wahrheit zu sagen bzw. sich politisch undiplomatisch zu äußern. Demgegenüber spricht der August im Zirkus oft wie ein Kind, das gerade erst zu sprechen gelernt hat und jetzt die ersten Wörter probiert. Grock verwendete bei seinen Auftritten repetitiv die Wendung »Nit möööglich!« Im Spanischen bedeutet la lengua sowohl ›die Sprache‹ als auch ›die Zunge‹. Diese Dopplbedeutung findet sich auch in den anderen romanischen Sprachen. Die zweite Bedeutung betrifft die anatomische Voraussetzung für das Sprechen. In Bezug auf Zungenfertigkeit passt lengua genau zum Sprachspiel des Clowns: Dort ist Zungenfertigkeit sowohl vorhanden (Hofnarr) als auch nicht vorhanden (August). 7. In ihren Bemerkungen zu Der grosse Diktator betont Renate Jurzik, dass beide Hauptfiguren, Diktator Hynkel als Hitler-Karikatur und der jüdische Friseur als Vertreter des ›kleinen Mannes‹, von Charlie Chaplin gespielt werden. Beide, der böse Gewaltherrscher und der brave Friseur tragen, wie Jurzik vermerkt, das Markenzeichen des Tramps, den Zwei7 | Plessner, Helmuth: »Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941)«, in: Ders.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 201-387, hier S. 207. Ich danke Rafiu Raji für diesen Hinweis. 8 | Zu Wittgensteins Begriff des ›Sprachspiels‹ siehe Glock, Hans-Johann: Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 325-330.
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fingerbart. Am Schluss vereinen sich der Friseur und der Diktator zu einer ambivalenten Figur: Der jüdische Barbier hält in der Uniform des Führers eine flammende Rede auf die Menschlichkeit und erntet dafür tosenden Beifall wie der wirkliche Führer bei seinen Reden. Wem gilt der Applaus? Dem Redner oder dem Inhalt der Rede? Die siebente Spielform der Paradoxie betrifft den Gegensatz zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹. Wir halten den lachenden Clown intuitiv für eine positive Figur; die Vorstellung, ein Clown könnte böse sein, erscheint uns abwegig. Michel de Ghelderode veröffentlicht 1937 (drei Jahre vor der Uraufführung des Großen Diktators) ein Theaterstück mit dem Titel L’école des bouffons. In der Schule der bouffons, die man je nachdem mit Schule der Hofnarren, Clowns, Schelme, Possenreißer, Spaßmacher oder Schälke übersetzen könnte, warten die Schüler am letzten Tag ihrer Ausbildung ungeduldig auf den Höhepunkt: Ihr Lehrer will ihnen noch das letzte Geheimnis des bouffon verraten. Die Essenz des Bouffon, offenbart er ihnen, ist die »cruauté«: Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Unbarmherzigkeit, Mordlust, Unmenschlichkeit.9 Warum das so ist, bleibt offen, aber man könnte diese Brutalität als eine dem ›unkaputtbaren‹ Ich des Clowns gemäße Aggression interpretieren. Wie Matthias Christen und Lena Sharma in ihren Beiträgen zeigen, dominiert in der Populärkultur spätestens seit den 1980er Jahren der böse, aggressive, destruktive Clowntyp. Unabhängig davon, ob er nun Evil/Böser Clown (Sharma), Killer Clown, Clown maléfique oder – um eine moralische Wertung zu vermeiden – ›düsterer Clown‹ (Christen) oder ›Schwarzclown‹ (Weihe) genannt wird: Die traditionell komische Figur hat sich ins Gegenteil verkehrt und ist eine Horrorfigur geworden. Für diese Wirkung gibt es einen neuen Spezialbegriff: ›Coulrophobie‹ – Angst vor dem Clown. Doch der Clown ist weder ›gut‹ noch ›böse‹ im moralischen Sinn, auch wenn wir ihm gerne einen eindeutigen Charakter zuschreiben. Aber das trifft nicht zu, denn er steht außerhalb der Moral, er spielt nur den Guten oder Bösen. So sehe ich im ›Moralitätsspiel‹ die siebte Spielform der Paradoxie des Clowns: Im Moralitätsspiel vereint der Clown das Gute und das Böse.
9 | Ghelderode, Michel de: Théâtre. Vol. III. La pie sur le gibet. Pantagleize. D’un diable qui prêcha merveilles. Sortie de l’acteur. L’école des bouffons, Paris: Gallimard 1953, S. 331.
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Ein unerlässliches Kriterium für die Brauchbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie ist ihre Widerspruchsfreiheit. Philosophisch gesehen ist Widerspruchsfreiheit dann gegeben, wenn etwas nicht gleichzeitig durch etwas Gegenteiliges aufgehoben wird. Wenn das aber der Fall ist, entsteht ein Paradox im Sinne einer Aussage, die scheinbar einen unauflösbaren Widerspruch enthält. Ich verstehe den Clown als paradoxe Figur: Der Clown, so die These, verkörpert die Paradoxie einer ›Einheit des Verschiedenen‹. Er ist etwas Bestimmtes und gleichzeitig dessen Gegensatz. Ich habe sieben Varianten des Clowns als Denkfigur des Sowohl-Als-Auch analysiert. I. Grenzspiel: sowohl auf dieser Seite als auch auf der anderen Seite, 2. Generationenspiel: sowohl Kind als auch Erwachsener, 3. Körperspiel: sowohl Körperbeherrschung als auch Ungeschicklichkeit, 4. Genderspiel: sowohl das Männliche als auch das Weibliche, 5. Ausbruchsspiel: sowohl Lachen als auch Weinen, 6. Sprachspiel: sowohl Sprachbeherrschung als auch Sprachlosigkeit, 7. Moralitätsspiel: sowohl das Gute als auch das Böse. Die logische Unauflösbarkeit der Widersprüche wird in der Logik des Clowns durch die Vereinigung der Gegensätze aufgelöst. Eine Theorie der Clownlogik, die den Widerspruch zum Prinzip erhebt, ist per definitionem ›unwissenschaftlich‹, weil sie das Kriterium der Widerspruchsfreiheit mit Füßen tritt. Der Clown interpretiert das Wort ›Widerspruchsfreiheit‹ jedoch anders: als ›Freiheit dem Widerspruch‹. Der Clown nimmt sich die Freiheit, Widersprüche auszuleben – und hat die Kraft, sie auszuhalten. Er kann in seinen Spielformen lustig und angsteinflößend, behaglich und unbehaglich wirken, das haben die Beiträge in diesem Band gezeigt.
Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen
Constantin von Barloewen, Prof. Dr., geboren in Buenos Aires, ist Anthropologe und vergleichender Kulturwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte Nord- und Lateinamerikas sowie kulturtheoretische Aspekte der Globalisierung. Er hat an verschiedenen europäischen und amerikanischen Universitäten geforscht und gelehrt, in den 1980er Jahren an der Harvard University, der Princeton University, an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, der Maison des Sciences de l’Homme in Paris und an der Hochschule für Philosophie in München. Von 1993-1996 war Constantin von Barloewen Professor für vergleichende Kulturwissenschaften an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2001 ist er Mitglied im Beratungsgremium der Harvard Academy for International Studies sowie Senior Fellow & Advisor am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. Zahlreiche anthropologische, kulturhistorische und -philosophische Publikationen, besonders zu Lateinamerika, Nordamerika und Japan; Constantin von Barloewen schreibt u.a. für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, Le Nouvel Observateur, Le Monde diplomatique und Lettre International. 1981 erschien die Erstausgabe seines Buchs Clowns: Zur Phänomenologie des Stolperns; 2009 gab er unter dem Titel Das Buch des Wissens eine Sammlung seiner Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit heraus. Leo Bassi entstammt einer kosmopolitischen italienisch-französischen Zirkusfamilie, die über 170 Jahre durchgängig auftrat. Mit sieben Jahren debütierte er in Australien in der Roadshow seiner Eltern. Nach 1970 begann Leo Bassi sich vom traditionellen Zirkus zu lösen und eigene Wege zu gehen – als Straßenkünstler mit seinem Kleinsten Circus der Welt (Circo más pequeño del mundo), als Komiker in Stücken wie Instintos Ocultos, La
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Vendetta, Golf, 12 Settembre, La Revelacion, Utopia im Rahmen von Fernsehshows sowie als Polit-Clown. Seit 1978 ist der Performer und Provokateur Bassi nicht nur mit seinen Bühnenarbeiten auf internationalen Theaterfestivals ein prominenter Gast, sondern auch in ganz verschiedenen Formaten präsent. So besaß er 2001-2003 eine eigene Sendung im spanischen Fernsehen. Viele seiner Aktionen – wie die Störung des RealityFormats Big Brother – sind provokante Spiele mit den Medien. Aufsehen erregt er zudem immer wieder mit seinen Performances, in denen er die katholische Kirche und Glaubenssysteme grundsätzlich herausfordert. 2012 gründete er in Madrid die einer gelben Plastikente geweihte Iglesia Patólica (span. el pato, die Ente) mit einer Kapelle zu Ehren aller Clowns, Bajazzos und Freidenker. Pierre Byland ist Schauspieler, Pädagoge, Pianist sowie Autor und Regisseur eigener Stücke (Les Assiettes, L’Homme à la valise, Le Concert, Confusion, Homo Stupidens u.v.a.). Er besuchte die École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq in Paris, wo er anschließend als Mitarbeiter des Schulgründers zwölf Jahre lang unterrichtete. Mit seinem ehemaligen Schüler Philippe Gaulier gründete er 1971 die Compagnie Byland-Gaulier, zehn Jahre später mit Mareike Schnitker die Compagnie Les Fusains. In Châlonsen-Champagne initiierte Pierre Byland das Centre National des Arts du Cirque, wo er mit der Formation de l’acteur du cirque (FAC) eine eigene Ausbildung entwickelte. In Cavigliano/Schweiz begründeten er und Mareike Schnitker 1981 das Burlesk Center – Europäisches Zentrum für zeitgenössische burleske Kunst in der Schweiz. Als Schauspieler hat Pierre Byland mit namhaften Autoren und Regisseuren zusammengearbeitet wie Benno Besson, Roger Blin, Samuel Beckett, Jérôme Savary, Jan Kratochvil, Jossy Wyler. In Le corps poétique schreibt Jacques Lecoq 1997: »Und es war Pierre Byland, selbst Schüler an der Schule, bevor er später hier unterrichtete, der uns die berühmte ›rote Nase‹ brachte, diese kleinste Maske der Welt, die dem Individuum seine Naivität und Verletzlichkeit entlocken würde.« (Der poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen, aus dem Französischen von Katja Douvier, Berlin: Alexander Verlag 2000, S. 200.) Matthias Christen, Prof. Dr., lehrt Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth mit den Schwerpunkten Film und Fotografie. Zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Konstanz, Prag, Zürich, Bochum, Münster und der FU Berlin. Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds (1993-1994;
Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen
2001-2004). Promotion an der Universität Konstanz (1997), Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum (2009). Fotografische Ausbildung an der Schule »fas – Fotografie am Schiff bauerdamm«, Berlin. Zusammen mit Dr. Kathrin Rothemund forscht er gegenwärtig zum kosmopolitischen Kino, zu dem ein gemeinsam herausgegebener Sammelband im Schüren Verlag erscheinen wird und eine englischsprachige Monographie in Koautorschaft in Vorbereitung ist. Matthias Christen ist Autor von Büchern zum Zirkusfilm (Der Zirkusfilm. Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg: Schüren 2010), zur fotografischen Memorialkultur (Die letzten Bilder, Baden: hier und jetzt 2010) sowie zur Formgeschichte und Semantik der Lebensreise in Bild- und Textmedien (To the end of the line, München: Fink 1999). Dimitri ist in Ascona als Kind einer Künstlerfamilie aufgewachsen und tritt seit seiner Jugend als Clown auf. Nach einer Töpferlehre in Bern, während der er gleichzeitig Schauspiel- und Musikunterricht nahm und Klassen für Akrobatik und Ballett besuchte, ging Dimitri nach Paris, wo er sich bei Étienne Decroux zum Pantomimen ausbilden ließ. Nach einem Engagement in der Truppe des Mimen Marcel Marceau trat er in der Rolle des August zusammen mit dem Weißclown Maïss im Cirque Médrano in Paris auf. Es folgten Soloauftritte (Porteur, Teatro, Ritratto) erst in Ascona, dann auf Tourneen durch die ganze Welt. 1971 gründete er das Teatro Dimitri, 1975 zusammen mit seiner Frau Gunda und dem tschechischen Mimen Richard Weber die Scuola Teatro Dimitri in Verscio (Schweiz). Clown Dimitri kreierte und inszenierte zahlreiche Stücke für die Compagnia Teatro Dimitri, später auch für seine Familie (Famiglia Dimitri, DimiTRIgenerations). 1976 wurde Dimitri für sein Theaterschaffen mit dem Hans Reinhart-Ring ausgezeichnet; 2013 mit dem Swiss Lifetime Award. Gardi Hutter, alias Hanna, tourt seit 1981 mit ihrem Clownesken Theater durch die halbe Welt, bisher gab sie 3.500 Vorstellungen in 31 Ländern. Die Schweizer Clownin hat, mit wechselnden Kollegen, sieben abendfüllende Theaterstücke und ein Zirkusprogramm (Schweizer National Circus Knie, 2000) kreiert – und dafür 13 Kunstpreise im In- und Ausland erhalten. Als Höhepunkt trat sie 1991 anlässlich der 700-Jahr-Feier als putzende ›Hofnärrin‹ im Schweizer Parlament auf. Nach der Ausbildung an der Schauspiel-Akademie Zürich (heute Hochschule der Künste/ZHdK) ent-
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wickelte sie am Centro di Ricerca per il Teatro/CRT, Mailand, in drei ›Gesellenjahren‹ – mit Unterstützung der Maestri Ferruccio Cainero, Mario Gonzales und Nani Colombaioni – ihren eigenen Stil clownesker quasi wortloser Theatergeschichten. Gardi Hutter spielt in Schauspielhäusern und Scheunen, in Konzertsälen und Kulturfabriken, in Festivals und Favelas – von Publikum und Presse überall mit Begeisterung empfangen. Jef Johnson ist der Gründer des nach ihm benannten Clown Lab in New York, das seit 25 Jahren zum Bereich Performance forscht. Als Clown tourte er weltweit mit der Broadway-Produktion Slava’s Snowshow. Er hält Vorträge und leitet Workshops an Schauspielschulen, Zirkussen (Cirque du Soleil, American Circus/Chile, Cirko de Mente u.a.), Universitäten (University of Houston, University of Pennsylvania, Columbia University/New York, Wesleyan University) sowie Kulturinstituten wie dem Centro Nacional de las Artes/CENART, Mexico City. Johnson ist Gründungsmitglied des Nouveau Clown-Instituts in Barcelona und Autor der Bühnenaktionen Azar, Sótao, Manantial und White Noise. Kennzeichnend für seine theoretisch-praktischen Untersuchungen ist die Verbindung kreativen Ausdrucks mit der Erkundung von Identitätsfragen. Dabei löst sich Johnson von der traditionellen Vorstellung der Zirkus-Clownerie als Demonstration eingeübter Ungeschicklichkeit; im Mittelpunt seiner Konzeption des clown condition steht die Untersuchung der »bio-energetische Frequenz« des Blödelns und ihre Anwendungsmöglichkeiten. In letzter Zeit ist Jef Johnson vermehrt als Berater und ›Querdenker‹ für kreative Köpfe in Kunst und Pädagogik tätig. Anna-Sophie Jürgens hat im Juli 2015 ihre Promotion an der LMU München im Fach Komparatistik über die »Poetik des Zirkus«, d.h. über die Erscheinungsformen des Zirkus im Roman des 20. und 21. Jahrhunderts, abgeschlossen. Sie studierte Komparatistik, Slavistik und Romanistik in München und setzt(e) sich intensiv mit Tibet-/Indologie, Theaterwissenschaft und Osteuropäischer Geschichte auseinander. Ein Studienjahr verbrachte sie in St. Petersburg, arbeitete an den Goethe-Instituten Tbilissi und Taschkent sowie bei Artevent in Wien. Ihr Studium sowie die Promotion fördert/e die Studienstiftung des deutschen Volkes. Publikationen (Auswahl): Das versehrte Lachen. Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur, in: Kevin Liggieri (Hg.), »Fröhliche Wissenschaft.« Zur Genealogie des Lachens, Freiburg: Karl Alber 2015, S. 298-320; The Joker, a neo-modern
Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen
Clown of Violence, in: Journal of Graphic Novels and Comics 5/4 (2014), S. 441-454. 2015 erschien bei transcript der Sammelband LaborARTorium. Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst, den sie mit Tassilo Tesche herausgab. Renate Jurzik studierte Soziologie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in Regensburg und Berlin. Von 1977-1982 war sie Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Lehr- und Arbeitsschwerpunkte waren Kultur- und Literatursoziologie, u.a. Studien über den Existentialismus in Literatur und Film, über die Literatur des Unheimlichen und des Komischen, zur Geschichte der Emotionen und zur gesellschaftswissenschaftlichen Funktion der Psychoanalyse, ergänzt durch Studien zur Kunst der Renaissance während eines halbjährigen Aufenthalts in Rom. Sie promovierte zum Thema Der Stoff des Lachens. Drei Studien über Komik, erschienen im Campus Verlag Frankfurt a.M. 1985. Behandelt werden darin die Komik in Literatur, Film und Theater am Beispiel von Don Quijote, Buster Keaton und Molière. Ihre Rundfunkbeiträge zur zeitgenössischen Literatur führten sie schließlich in die Hörspiel- und Featureabteilung des Senders Freies Berlin, ab 2003 Rundfunk Berlin Brandenburg, wo sie bis 2015 Hörspiele und künstlerische Features redaktionell betreute. Von 2009-2015 leitete sie die Redaktion Künstlerisches Wort im Kulturradio des Rundfunks Berlin Brandenburg. Ihre meist mehrsprachigen Projekte mit internationalen Autoren, decken ein weites kulturelles und politisches Spektrum ab und wurden mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Oleg Konstantinowitsch Popow ist mit seiner Figur des Iwanuschka, die an ›Hans im Glück‹ erinnert, einer der bekanntesten Clowns und Zirkusartisten der Gegenwart. Mit 14 Jahren geht er auf die Schule des Staatszirkus in Moskau, wo er Jonglage, Tanz, Gesang, Musizieren lernt und eine mimische und akrobatische Ausbildung erhält. Der zu dieser Zeit berühmte Clown Karandasch wird sein Mentor. Nach ersten Erfolgen u.a. in Tiflis, gelingt Oleg Popow 1954 der Durchbruch: Er wird zur Ikone des sowjetischen Staatszirkus und feiert bei dessen internationalen Gastspielen Triumphe (u.a. in Japan und Australien). 1960 trifft er Charlie Chaplin in Venedig – ihre gemeinsame Sprache ist der Humor. Weitere Tourneen folgen, z.B. in die USA und nach Kuba. 1972 bekommt Popow in der Sowjetunion eine
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Über den Clown
eigene Fernsehsendung, sein Clowngesicht ist das Werbebild für Schokoladentorten. 1982 gewinnt er den Goldenen Clown in Monte Carlo, den Oskar der Zirkuswelt. Der 85-jährige Popow, der weiterhin auftritt, lebt mit seiner Ehefrau seit 25 Jahren in Deutschland. 2015 wurde er vom russischen Kulturministerium in sein Heimatland eingeladen und in Sotschi für sein Lebenswerk geehrt. Christoph Posselt begann seine berufliche Lauf bahn 1974 als Gründungsmitglied des Pantomimen-Ensembles am Deutschen Theater Berlin (DDR). Er trat in tragenden Rollen auf und inszenierte mit café fatal eine der erfolgreichsten Produktionen des Ensembles. Zudem arbeitete er als Opernregisseur an der Staatsoper Berlin, am Staatstheater Schwerin sowie an der Semperoper in Dresden. Früh entdeckte Posselt seinen besonderen Bezug zur Figur des Clowns. Bei Auftritten an Großveranstaltungen entwickelte er eine eigene künstlerische Ausdrucksform: eine pantomimisch geprägte, clowneske und provokante Spielweise in unmittelbarem Kontakt zum Publikum. Als Clown gastierte er in verschiedenen ost- und westeuropäischen Ländern, in Nord- und Mittelamerika (Mexiko, Kuba, Nicaragua) sowie Südostasien (Vietnam, Laos und Kambodscha). Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung des Pantomimen-Ensembles hatte er Engagements als Clown bei Pomp Duck and Circumstance und Cirque du Soleil. 2002 wechselte er von der aktiven Bühnentätigkeit zur Lehre an Hochschulen. Mit seinem Konzept Clown im Management etablierte er sich als Kommunikationstrainer bei deutschen und internationalen Wirtschaftsunternehmen. Demis Quadri hat einen Studienabschluss in italienischer Sprache und Literatur, Romanischer Philologie und Ethnologie von der Université de Fribourg (2004). Im Universitätsjahr 2006/07 Forschungsaufenthalt am Istituto Svizzero di Roma. Zusammenarbeit mit dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern an einem Forschungsprojekt zur Commedia dell’arte. Seit 2009 Dozent an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio/Schweiz; derzeit Forscher und Verantwortlicher für Advanced Studies. 2010 Zusammenarbeit mit der Haute école de musique de Genève im Rahmen verschiedener Blockseminare. 2011 Doppelpromotion in italienischer Sprache und Literatur an der Université de Fribourg sowie in Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Als Journalist schreibt Demis Quadri für die Wochenzeitung Ticino7. 2014 veröffentlicht er
Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen
in Zusammenarbeit mit Stefan Hulfeld, Sebastian Hauck und Stefano Mengarelli Scenari più scelti d’istrioni. Italienisch-Deutsche Edition der einhundert Commedia all’improvviso – Szenarien aus der Sammlung Corsiniana (Vienna University Press, 2 Bde.). Demis Quadri ist Mitglied der Kulturkommission des Centro culturale Elisarion in Minusio/Schweiz. Rafiu Raji ist Projektphilosoph in Berlin. Er studierte Philosophie und Kulturreflexion in Witten, Hagen und Berlin. Seine theoretischen Schwerpunkte spannen einen Bogen von der soziologischen Systemtheorie bis zu grundlegenden Fragen philosophischer Praxen. Rafiu Raji versucht über die Form des Projekts eine Brücke zwischen freier und institutionalisierter Philosophie zu schlagen. Als Projektphilosoph dekontextualisiert er tradierte Kultur- und Wissenspraxen und fixiert sie in einem diagrammatischen Entwurf. Das geometrisch angelegte Begriffsdiagramm dient ihm als eine Choreographieskizze für philosophische Reflexionstänze. Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungsprojekts zum Clown und ›Physical Theater‹ an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio/Schweiz (2012-2015) übernahm Raji die Rolle eines kritisch mit- und gegendenkenen Projektphilosophen. In seinen eigenen Untersuchungen ging er u.a. dem Zusammenhang zwischen der psychosozialen Entwicklungstheorie von Freud und Darstellungsformen des Infantilen im Clownspiel nach. Lena Sharma studierte an der Universität Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft. In ihrer im VDM-Verlag publizierten Magisterarbeit (2011) befasst sie sich mit den historischen, soziokulturellen und psychologischen Hintergründen des Tricksters, auf bauend auf der Archetypentheorie des Schweizer Psychoanalytikers C.G. Jung und der Transformation des Narrentypus seit dem gesellschaftlich institutionalisierten Karneval des Mittelalters. Im Fokus ihrer Forschung liegt der in der amerikanischen Popkultur seit der Postmoderne populäre Evil Clown – ein maliziöses, psychopathisches Derivat vergangener Clown-Typen – und die seit einigen Jahrzehnten kumulativ auftretende, irrationale ClownPhobie. Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts erforscht sie die Rolle des karnevalesken Prinzips in massenmedialen Systemen des frühen 21. Jahrhunderts sowie das revolutionäre Potenzial zeitgenössischer Clowndarstellungen. Derzeit arbeitet sie in Wien als Kommunikationsmanagerin.
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Über den Clown
Richard Weihe, Dr. phil. habil., ist Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Accademia Teatro Dimitri/SUPSI (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) in Verscio/Schweiz. Ausbildung an der Schauspiel-Akademie Zürich und Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie an den Universitäten Zürich, Bonn, Oxford (MLitt) und Cambridge. Promotion an der Universität Zürich, Habilitation an der Universität Witten/Herdecke beim Soziologen und Kulturtheoretiker Dirk Baecker. 2006 Fellow im Arts, Science & Business-Programm der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart; im WS 2006/07 Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/IFK, Wien. 2011-2015 Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mentor an der Fakultät für Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar. 2012-2015 Leiter des SNF-Forschungsprojekts zum Clown und Physical Theatre an der Accademia Teatro Dimitri. Zuletzt erschienen die Artikel Theater denken. Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen? (in Anna-Sophie Jürgens/ Tassilo Tesche, Hg.: LaborARTorium. Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript 2015, S. 133-151) und Von der komischen Figur zum Bürger. Harlekin und seine Masken im deutschen Theater (in Christiane Kruse, Hg.: Maske, Maskerade und die Kunst der Verstellung. Vom Barock zur Moderne, Wiesbaden: Harrassowitz 2014, S. 81-98) sowie das Theaterstück Maskerade. Shakespeare & Co. (Weinheim: Deutscher Theaterverlag 2015).
Edition Kulturwissenschaft Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2
Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
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