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German Pages [241] Year 2021
Geist und 3 Geisteswissenschaft Jörg Noller (Hg.)
Über das Böse Interdisziplinäre Perspektiven
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823866
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B
Jörg Noller (Hg.) Über das Böse
VERLAG KARL ALBER
A
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Geist und 3 Geisteswissenschaft Herausgegeben von Hans Joas (Berlin) Martin Mulsow (Erfurt) Jörg Noller (München) Birgit Recki (Hamburg) Thomas Zwenger (München) Wissenschaftlicher Beirat: Karl Ameriks (Notre Dame), Myriam Bienenstock (Tours), Thomas Buchheim (München), Christoph Demmerling (Jena), Faustino Fabbianelli (Parma), Markus Gabriel (Bonn), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Isabelle Mandrella (München), Michael Quante (Münster), Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Violetta L. Waibel (Wien), Paul Ziche (Utrecht), Günter Zöller (München)
Band 3 Die Reihe bietet ein offenes Forum für Monographien, Tagungsbände und Editionen von Texten, welche Fragen nach den spezifischen Gegenständen, Bedingungen und Möglichkeiten der Geisteswissenschaften zum Thema haben. Im Zentrum steht der Begriff des Geistes, der kritisch auf sein hermeneutisches und systematisches Potential hin befragt werden soll. Die Reihe will insofern zur Selbstbestimmung und Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften beitragen. Dabei wird bewusst eine Verbindung von philosophischen Themen mit angrenzenden Bereichen wie Ideen-, Begriffsgeschichte sowie Soziologie, Kulturwissenschaft und Theologie angestrebt.
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Jörg Noller (Hg.)
Über das Böse Interdisziplinäre Perspektiven
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Jörg Noller (Ed.) On Evil Interdisciplinary Perspectives How can we understand evil? The contributions to this volume approach the phenomenon from an interdisciplinary perspective and highlight its interdisciplinary significance. Theologically, from a Jewish, Christian and Islamic point of view. Philosophically, from Augustine to Kant, Schelling, Kierkegaard and Arendt to the current analytical debate. Aesthetically, in literature, music and film. Finally, the phenomenon is approached from a legal and psychiatric perspective.
The Editor: Jörg Noller studied at the Universities of Tübingen and Munich. He was visiting researcher at the Universities of Notre Dame, Chicago, and Pittsburgh. He wrote his dissertation on the problem of autonomy after Kant, and is currently working on his habilitation on »personal life forms«.
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Jörg Noller (Hg.) Über das Böse Interdisziplinäre Perspektiven Wie können wir das Böse verstehen? Die Beiträge des Sammelbandes nähern sich dem Phänomen aus interdisziplinärer Perspektive an und zeigen seine fächerübergreifende Bedeutung auf. Theologisch aus jüdischer, christlicher und islamischer Sicht. Philosophisch beginnend mit Augustinus über Kant, Schelling, Kierkegaard und Arendt bis hin zur gegenwärtigen analytischen Debatte. Ästhetisch in der Literatur, der Musik und im Film. Schließlich wird das Phänomen auch aus juristischer und psychiatrischer Perspektive betrachtet.
Der Herausgeber: Jörg Noller studierte an den Universitäten Tübingen und München. Er war Gastforscher an den Universitäten Notre Dame, Chicago und Pittsburgh und promovierte über das Autonomieproblem im Ausgang von Kant. Zurzeit arbeitet er an seiner Habilitation zum Thema »personale Lebensformen«.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49024-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82386-6
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Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Noller
I.
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Theologie
Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen. Lehre, Quellen und die Kluft zwischen geschichtlicher Erfahrung und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amit Kravitz Das Böse zwischen Supranaturalismus und Naturalismus . . . . Armin Kreiner Sieben Zweifel des Teufels Eine Passage zur Theodizeeproblematik in der Doxographie des Muḥammad al-Šahrastānī . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Eichner
15
34
46
II. Philosophie Zwischen Privation und Perversion? Der böse Wille und seine Herkunft bei Augustinus . . . . . . . Jörn Müller Kants Theorie des radikal Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Buchheim
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95
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Inhalt
Der Geist des Bösen. Schelling und Kierkegaard über die Perversion der Freiheit mit einem Ausblick auf E. A. Poe . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Noller Das Monologische der Banalität des Bösen Ein Versuch zu Hannah Arendts Theorie des Bösen Manja Kisner
114
. . . . . . 127
Das Böse konzipieren. Probleme und Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zachary J. Goldberg
148
III. Ästhetik, Rechtswissenschaft und Psychiatrie Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film . . Sabrina Sontheimer Gewalt zeigen, um Böses zu verstehen? Nils Baratella
. . . . . . . . . . . . 191
Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts . . . . Petra Wittig Das Böse aus psychiatrischer Perspektive Nahlah Saimeh
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206
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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Jörg Noller
Immer wieder ist gerade aus philosophischer Sicht die Auffassung vertreten worden, dass der Begriff des Bösen analytisch ungeeignet sei. Der Philosoph Philip Cole etwa schreibt in seinem Buch, das den bezeichnenden Titel The Myth of Evil trägt: »[T]he idea of evil is not a philosophical concept, certainly not a psychological one, and not even a religious one. It is a mythological concept that has a role to play in grand narratives of world history.« 1 Tatsächlich hat gerade die missbräuchliche Verwendung des Begriffs des Bösen dazu geführt, dass seine moralische Bedeutung verdächtig geworden ist. Zu oft wurde er dazu gebraucht, andere Menschen oder gar Teile der Welt zu stigmatisieren und zu dämonisieren. Doch folgt daraus, dass auf den Begriff des Bösen ganz verzichtet werden kann und soll? Es scheint, dass das Böse nicht dadurch ad acta gelegt werden kann, dass man auf seinen Begriff verzichtet oder es zu einem Scheinproblem erklärt. Zu sehr erschrecken uns brutale Verbrechen immer wieder aufs Neue, so dass wir um einen Begriff ringen, der das Ungeheuerliche fassen kann. Zu sehr übt das Phänomen aber auch eine Faszination aus, der wir uns nur schwer entziehen können. In jüngster Zeit hat das Böse wieder mehr wissenschaftliche Beachtung gefunden, und zwar sowohl in der deutschsprachigen 2 als auch in der internationalen 3 Diskussion. Der vorliegende Sammelband teilt das neu erwachte Interesse am Bösen. Doch will er dieses nicht nur philosophisch, sondern interdisziplinär weiter erschließen
Phillip Cole: The Myth of Evil. Demonizing the Enemy, Westport/London 2006, 23. Jean-Claude Wolf: Das Böse. Berlin/New York 2011; Jörg Noller: Theorien des Bösen, Hamburg 2 2018; Jörg Noller: Gründe des Bösen. Versuch einer Theorie im Ausgang von Kant, de Sade und Arendt, Basel 2019. 3 Hierfür sei beispielhaft die Studien von Susan Neiman: Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy, Princeton 2002 und Luke Russell: Evil: A Philosophical Investigation, Oxford 2014, genannt. 1 2
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Jörg Noller
und seine Bedeutung auch in der Theologie, Ästhetik, Rechtswissenschaft und Psychiatrie erörtern. Der Band besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden dezidiert theologische und religiöse Zugänge zum Phänomen des Bösen thematisiert. Amit Kravitz (München/Jerusalem) befasst sich mit der Kluft von geschichtlicher Erfahrung und philosophischer Analyse des Bösen aus jüdischer Sicht. Armin Kreiner (München) untersucht das Problem des Bösen aus christlich-theistischer Perspektive und reflektiert auf das Spannungsverhältnis von naturalistischen und supranaturalistischen Erklärungsversuchen. Heidrun Eichner (Tübingen) untersucht Formen der Personalisierung des Bösen in der islamischen Theologie und reflektiert dabei auf die verschiedenen Darstellungen des Teufels. Der zweite Teil des Bandes enthält Beiträge, die sich in chronologischer Ordnung mit klassischen philosophischen Theorien des Bösen befassen. Jörn Müller (Würzburg) analysiert Augustins Begriff des Bösen vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern es eine Privation oder eine Perversion des Guten ist. Thomas Buchheim (München) befasst sich mit Immanuel Kants Theorie des radikal Bösen, welche uns immer noch vor große interpretatorische Schwierigkeiten stellt, da Kant für dessen Universalität im Menschen argumentiert. Jörg Noller (München) zeigt, wie im Anschluss an Kant Philosophen wie Schelling und Kierkegaard, aber auch Schriftsteller wie Edgar Allan Poe versuchten, den Grund des Bösen noch tiefer zu denken und zu veranschaulichen. Manja Kisner (München) widmet sich Hannah Arendts Konzeption einer »Banalität des Bösen« angesichts der Bedingungen moderner totalitärer Herrschaft. Zachary J. Goldberg (München) nimmt sich abschließend metaphilosophischer Fragestellungen an, welche die verschiedenen Methoden, das moralisch Böse zu thematisieren, betreffen. Der dritte Teil widmet sich dem Bösen aus ästhetischer, juristischer und psychiatrischer Perspektive. Sabrina Sontheimer (München) befasst sich mit den ästhetischen Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film und reflektiert dabei auf die filmische Kommunikationsstruktur. Nils Baratella (Oldenburg) untersucht das Phänomen des Bösen aus der spezifischen Perspektive des Phänomens der Gewalt. Petra Wittig (München) thematisiert das Böse aus der Sicht der Kriminologie als empirischer Wissenschaft und des Strafrechts als Normwissenschaft. Nahlah Saimeh (Düsseldorf) erörtert die Frage
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Einführung
nach dem Bösen aus psychiatrischer Perspektive entlang von Fallvignetten und medizinischen Störungsbildern. Die verschiedenen Beiträge des Bandes zeigen, dass das Phänomen des Bösen keiner wissenschaftlichen Disziplin exklusiv zugeordnet ist, sondern nur im interdisziplinären Verbund weiter aufgeklärt und – so steht es zu hoffen – vermieden werden kann.
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I. Theologie
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Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen Lehre, Quellen und die Kluft zwischen geschichtlicher Erfahrung und Philosophie Amit Kravitz
In diesem Beitrag werde ich drei Themen in Angriff nehmen: Erstens werde ich erklären, warum es besonders schwer ist, die jüdische Sicht des Bösen darzulegen; zweitens werde ich von zwei Antworten auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Genesis sprechen; drittens werde ich prüfen – angesichts dessen, was man aus der jüdischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts lernen kann –, ob es möglich ist, das Böse als Böses wissentlich zu wollen und zu realisieren. Wir werden sehen: In all diesen drei Themen zeigt sich eine gewisse Entfernung von dem Philosophischen – das kennzeichnet m. E. sowohl das jüdische Denken des Bösen wie auch die jüdische Erfahrung des Bösen.
1.
Eine Religion ohne Dogma, oder: warum es besonders schwer ist, über die jüdische Sicht des Bösen zu sprechen
Dass es schwer ist, die christliche bzw. die jüdische oder die muslimische Sicht des Bösen zu pauschalisieren, liegt auf der Hand; denn wie kann man so viele unterschiedliche Positionen, Einstellungen, Herangehensweisen und Auslegungen, welche innerhalb jeder Religion in jeglicher Generation – geschweige denn in unterschiedlichen Zeitaltern – zu finden sind, unter ein einziges Dach bringen? Jeder Satz, welcher mit den Worten »die christliche bzw. die jüdische Sicht des Bösen ist« anfängt, muss deshalb auf Anhieb verdächtigt sein. Philosophisch gesehen ist es schon herausfordernd genug, das, was die Identität einer einzelnen Person auf Dauer ausmacht, herauszuarbeiten und zu rechtfertigen, denn Unstimmigkeiten darüber – die mitunter bis zu einer Zurückweisung der Anwendbarkeit der Kategorie ›Identität‹ auf Personen reichen – ziehen sich wie ein roter Faden durch die moderne abendländische Philosophie von bspw. Locke bis in die Gegenwart. Wer würde es daher wagen, ›Identität‹ in Bezug auf 15 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Amit Kravitz
Religion anzuwenden bzw. zu behaupten, dass in jeder Religion einzigartige Züge zu finden sind, die hinreichend und notwendig sind, um eine Position als ›die jüdische‹ oder ›die christliche‹ schlechthin zu bezeichnen? Im Geiste Wittgensteins – ohne an dieser Stelle auf wichtige Feinheiten seiner Auffassung eingehen zu müssen – hätte man das Problem vielleicht auf folgende Weise lösen können: Es ist zwar unmöglich, anhand der faktischen Pluralität von Einstellungen, die ›jüdische‹ Sicht des Bösen im Gegensatz etwa zu der ›christlichen‹ Position aufzudecken; dies aber muss uns nicht zwangsläufig davon abhalten, darauf zu verweisen, dass im Judentum ein gewisser allgemeiner Zusammenhang existiert, innerhalb dessen die Frage nach dem Bösen gedacht wird (man darf diesen Zusammenhang, wenn man so will, das ›Spiel‹ des Judentums nennen). Als Hans Jonas bspw. versuchte, die Bedeutung des Bösen angesichts des Holocaust als Jude zu denken, schrieb er: Der Jude [ist] bei dieser Frage theologisch in einer schwierigeren Lage als der Christ. Denn für den Christen, der das wahre Heil vom Jenseits erwartet, ist diese Welt ohnehin weitgehend des Teufels […] aber für den Juden, der im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent Herr der Geschichte, und da stellt ›Auschwitz‹ selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage. 1
Mich interessiert die Frage, ob Jonas mit dieser Schilderung Recht hatte, an dieser Stelle nicht; ich möchte einzig betonen, dass erstens derartige Pauschalisierungen in der Literatur häufig zu finden sind, und zweitens, dass diese Herangehensweise der Pluralität der Positionen im Judentum – oder in jeder anderen Religion – nicht widersprechen muss. Denn aus der Position von Hans Jonas folgt keinesfalls, dass es nur eine Annäherung an das Problem des Bösen im Judentum gibt, sondern einzig, dass dieser Zusammenhang, den Jonas uns vor Augen führt, sozusagen als der allgemeine Horizont fungiert, bezüglich dessen eine Pluralität von jüdischen Positionen auftritt. Diese Herangehensweise soll flexibel genug sein, um – wie in Bezug auf jedes ›Spiel‹ – Ausnahmen und Grenzphänomene zu erlauben, die nicht leicht einzuordnen sind, z. B. jüdische Theologien, in denen sich gewisse Ähnlichkeiten zum Christentum anzukündigen scheinen (denn wenn die Grenze zwischen dem ›Judentum‹ und dem ›Chris1
Jonas (1987), 13 f.
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Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen
tentum‹ so klar gewesen wäre, wie hätte man bspw. auf den Einfluss der Kabbalah auf so viele christliche Denker, darunter die deutschen Idealisten 2 , verweisen können?). Ich bin allerdings der Meinung, dass in dieser Beschreibung etwas Wesentliches bezüglich des Judentums verloren geht – und zwar gerade in Bezug auf das Judentum, und nicht gleichermaßen bezüglich des Christentums. Denn mit dieser Beschreibung läuft man Gefahr, einen besonderen Zug des Judentums zu verkennen, und zwar dass das Judentum prinzipiell über kein philosophisches bzw. theologisches Dogma verfügt. Diese Tatsache macht den Versuch, die jüdische Einstellung zum Bösen herauszuarbeiten, besonders schwer im Vergleich zu den zwei anderen monotheistischen Religionen. Wie ist das genau zu verstehen? Die Tatsache, dass im Judentum prinzipiell kein theologisches Dogma zu finden ist, bezieht sich m. E. auf zwei Aspekte, die eng miteinander verknüpft sind. Erstens obwaltet im Judentum von Haus aus eine praktische und keine theoretische Verpflichtung (und das Praktische dient keineswegs als eine Folge des Theoretischen); zweitens werden im Judentum die ›Religion‹ – im Sinne des Inhalts des Glaubens – und die ›Nation‹ (oder das ›Volk‹ ; mit Feinheiten diesbezüglich werde ich mich hier nicht befassen) gewissermaßen ineinander eingebettet, was dazu führt, dass die Mitgliedschaft in dieser Religion in vielerlei Hinsicht einer Mitgliedschaft in einer Familie ähnelt. Wir versuchen nun, diesen beiden Sachverhalten näherzukommen. Ich beginne mit dem zweiten Aspekt. Bekannt ist, dass das Judentum die Religion eines spezifischen Volkes ist, und es besitzt deshalb vom Wesen her und im Gegensatz zum Christentum oder zum Islam keine Ambitionen bezüglich Mission. Für manche Denker – ein Paradebeispiel dafür ist wohl Mendelssohn 3 – bedeutet diese Tatsache eine grundsätzliche Toleranz, welche das Judentum im Gegensatz zum Islam oder Christentum kennzeichnet; für andere – bspw. für Kant 4 (aber in der Tat für beinahe jeden christlichen Denker seit Anbeginn des Christentums) – bedeutet diese Tatsache, dass das Judentum prinzipiell über kein Verhältnis zur ›Vernunft‹ verfügen kann, denn in ihm wird angeblich auf die Forderung nach ›Universalität‹
2 3 4
Vgl. Franks (2010), 254–79. Siehe Mendelssohn (2005). Laut Kant ist das Judentum »eigentlich gar keine Religion«; RGV, AA VI: 125.
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Amit Kravitz
Verzicht getan. Diese Diskussion ist sicherlich interessant, allerdings wird sie mich hier nicht besonders beschäftigen. Ich möchte Licht auf etwas Anderes werfen, nämlich auf die Tatsache, dass diese Einbettung von ›Religion‹ und ›Volk‹ – einerlei, ob deswegen das Judentum nun toleranter sein mag, oder unvernünftig – den Bedarf nach philosophischen oder theologischen Dogmen in vielerlei Hinsicht überflüssig macht. Ein berühmter jüdischer Autor namens Micha Josef Berdyczevski hat es auf den Punkt gebracht: »Wir waren Juden und dachten soundso, aber wir waren nicht Juden, weil wir soundso dachten.« 5 Es reicht bspw. – selbst in den Augen der strengsten jüdischen Ultraorthodoxen – dass die Mutter eines Menschen jüdisch ist, um ihn als Jude zu bezeichnen, einerlei was seine theologische Sicht bezüglich des Wesens Gottes oder dessen Verhältnis zur Existenz des Bösen auf der Welt sei. Sprich: Keine theologische Verpflichtung geht aus seinem Jude-Sein hervor. Das bedeutet nicht, dass im Judentum keine theologischen Diskussionen über solche Fragen zu finden sind; das heißt nur, dass das Hinnehmen oder das Ablehnen eines theologischen Dogmas beinahe nichts Wesentliches mit der Zugehörigkeit zum Judentum zu tun hat. 6 Die Zugehörigkeit zum Judentum ist dementsprechend eine Art Familienzugehörigkeit und keine Glaubens- oder Meinungszugehörigkeit; einer kann Christ und Deutscher sein, jedoch falls er seinen christlichen Glauben verloren hat – falls er bspw. nicht mehr glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist (egal wie er es versteht) – ist er nicht mehr Christ, aber immer noch Deutscher; denn Christ zu sein heißt genau an X zu glauben. Anders verhält es sich mit dem Judentum. Das ist also ein Grund, warum es besonders schwer ist, über das Böse aus ›der‹ jüdischen Sicht pauschalisierend zu sprechen – nicht, weil es viele Positionen diesbezüglich im Judentum gibt (was freilich wahr ist), sondern weil das Verhältnis seiner Mitglieder zum philosophi-
Berdyczevski (1996–2014), 38. Wichtig ist an dieser Stelle zwischen dem Hinnehmen eines geschichtlichen Faktums und eines theologischen Dogmas zu unterscheiden; denn freilich akzeptieren die gläubigen Juden als Grundsäule ihres Glaubens, dass die Offenbarung auf dem Berg Sinai sich ereignete (ich kenne beinahe keinen jüdischen Philosophen – außer Leibovitz vielleicht, dessen Position sowieso die absolute Ausnahme darstellt –, der diese Tatsache ablehnt). Und dennoch: Man kann das Ereignis dieser Offenbarung akzeptieren, ohne sich damit unmittelbar zu einem philosophischen Dogma bezüglich bspw. der Attribute Gottes zu verpflichten. 5 6
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Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen
schen Dogma im Judentum schwächer ist im Vergleich zum Christentum. Dies bringt mich zu dem anderen genannten Aspekt, nämlich zu der Tatsache, dass das Judentum vielmehr eine praktische (und nicht eine theoretische) Verpflichtung ist. Denn auch wenn man einzig und allein die praktizierenden Juden in Betracht zieht – also diejenigen, welche an den Geboten festhalten, welche an Gott glauben und welche die Offenbarung am Berg Sinai als geschichtliche Tatsache hinnehmen –, so ist selbst für diese Gruppe die Verpflichtung, die daraus folgt, eher eine praktische Verpflichtung – zu dem, was die Juden Halachah nennen – als eine theoretische Verpflichtung. Ein Jude aus dieser Gruppe darf sein Urteil zu theologischen Themen tausendmal ändern; solange er die Gebote einhält, bleibt sein Judentum intakt. Und die Art der praktischen Angelegenheiten innerhalb der jüdischen Halachah ist eher dem Juristischen als dem Theologischen zuzuordnen. Das heißt allerdings nicht, dass mit der Praxis keine dogmatischen Ideen bezüglich einer Reihe von theologischen Fragen einhergehen, das ›Theologische‹ dient im Judentum keineswegs bloß als zufälliger Zusatz zur Praxis; denn in jeder Strömung des Judentums lassen sich auch theologische Überzeugungen finden. Nur: Diese Komponente muss nicht soundso sein. Sprich: Im Werk eines jeden großen Denkers des Judentums sind immer auch Positionen zu theologischen Fragen zu finden, aber welche dies genau sind, kann prinzipiell dahingestellt bleiben und spielt keine konstitutive Rolle für ihr Jüdisch-Sein. Das Judentum ist in dieser Hinsicht wie eine Suppe 7 ; jede Suppe beinhaltet notwendigerweise Wasser wie auch noch irgendetwas Essbares; analog beinhaltet jede Version des Judentums – aus Sicht des Gläubigen – notwendigerweise die Praxis wie auch irgendeine theologische Position, fast einerlei, welcher Art sie ist. Bisher habe ich versucht zu zeigen, warum es besonders schwer ist, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen. Daraus ergibt sich nun die Frage, was man dann darüber überhaupt noch sagen kann. Ein möglicher Weg wäre, eine besonders prominente jüdische Einstellung als Beispiel darzulegen, etwa diejenige von Maimonides, dem größten jüdischen Philosophen. Stattdessen möchte ich jedoch dem Thema ›das Böse im Judentum‹ auf folgende Weise näherkommen: Ich werde mich erstens den beiden ersten Kapiteln des Buchs Genesis zuwen7
Buzaglo (2008), 148–158.
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den, um einiges über die Wurzeln der jüdischen Sicht auf den Ursprung des Bösen zu sagen. Denn es scheint mir offenkundig, dass jeder jüdische Denker, der sich mit dieser Frage befasst hat, sich immer – einerlei in welcher Form – auf diese Quelle beruft. Zweitens werde ich etwas über die jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert und deren Konsequenzen für das Denken über das Böse sagen. Es ist schwer – genauer gesagt, es ist für mich persönlich schwer – mich zu dem Thema ›Judentum‹ und ›das Böse‹ zu verhalten, ohne etwas über die jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert zu sagen. Kann uns diese Erfahrung etwas Wesentliches über das ›Böse‹ lehren? Kann überhaupt ein geschichtliches Ereignis etwas Wesentliches zur Philosophie beitragen? Ich werde diese Frage bejahen.
2.
Vom Ursprung des Bösen: Zwei Anfänge in der Genesis
Bekannt ist, dass im Buch Genesis zwei Versionen der Schöpfungsgeschichte zu finden sind. Selbst hier – am Anfang des heiligsten Textes für die Juden (die fünf Bücher Mosis, )חמישה חומשי תורה, welcher als das ewige Wort Gottes gilt – kommt der Pluralität eine große Rolle zu. Wichtig ist diesbezüglich zu betonen, dass es regelrecht um zwei getrennte Versionen geht bzw. dass die zweite Version nicht die Fortsetzung der ersten ist. Denn nicht umsonst steht auch am Anfang der zweiten Version der Satz »( ְבּיוֹם ֲעשׂוֹת ְיה ָוה ֱאל ִֹהיםֶא ֶרץ ְוָשָׁמ ִיםan dem Tag, an dem Gott Erde und Himmel in die Existenz gebracht hat«). Aus der Tatsache, dass es sich um zwei Versionen handelt, folgt keine besondere These bezüglich des Verhältnisses zwischen den zwei Schöpfungsgeschichten. Ein kritischer Leser mag behaupten, dass es sich hier um zwei getrennte Versionen handle, die bspw. in unterschiedlichen Zeiten verfasst wurden und in welchen sich zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Schöpfungsgeschichte zeigen, die einander sogar widersprechen können. Ein gläubiger Leser hingegen mag behaupten, dass die Tatsache, dass es zwei Versionen der Schöpfungsgeschichte gibt, keinesfalls als Zufall zu verstehen sei oder als Indiz dafür, dass der Text nicht göttlicher Herkunft sei, und dementsprechend versucht dieser gläubige Leser, die einheitliche göttliche Botschaft aus den zwei Versionen herauszudestillieren. Beide Lesarten teilen allerdings offenkundig denselben Ausgangspunkt – dass es ein Faktum ist, dass es in der jüdischen Bibel zwei Versionen der Schöpfungsgeschichte gibt. 20 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen
Nun, zwei Schöpfungsgeschichten zu haben, heißt gleichzeitig, mit zwei nicht gleichzusetzenden Versionen des Ursprungs des Bösen konfrontiert zu sein. Das, was uns interessiert, sind nicht die beiden Schöpfungsgeschichten als solche oder deren mögliches Verhältnis zueinander, sondern vielmehr die Frage, wie angesichts jeder Version der Ursprung des Bösen verdeutlicht wird. Richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die erste Version bzw. auf das erste Kapitel von Genesis. Die ersten Sätze der jüdischen Bibel lauten: ְבּ ֵראִשׁית ָבּ ָרא ֱאל ִֹהים ֵאת
ַהָשַּׁמ ִים ְוֵאת ָהאָ ֶרץ ְוָהאָ ֶרץ ָה ְיָתה ת ֹהוּ ָובֹהוּ ְוחֶֹשְׁך ַעל־ְפּ ֵני ְתהוֹם ְורוַּח ֱאל ִֹהים ְמ ַרֶחֶפת ַעל־ְפּ ֵני ַהָמּ ִים. Üblicherweise – bspw. von Luther – wird sie in diesem
Sinne übersetzt: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.« Diese und ähnliche Übersetzungen treffen in vielerlei Hinsicht zu, allein sie verkennen gleichzeitig einen besonderen Zug der hebräischen Sprache, dem direkte Relevanz für die Frage nach dem Ursprung des Bösen zukommt. Gemäß der hebräischen Grammatik – und dies hat bereits Raschi (Schlomo ben Jitzchak), zweifelsohne der wichtigste Kommentator der Bibel und des Talmud in der jüdischen Tradition, vermerkt – handelt es sich bei dem Wort ְבּ ֵראִשׁיתum eine Genitiv-Verbindung – von Luther wurde dies aber mit »Am Anfang« übersetzt und in der King James Version mit »in the beginning«. Bei der hebräischen GenitivKonstruktion »Am Anfang« handelt es sich jedoch um keine zeitliche Angabe, sondern vielmehr um eine Zustandsbeschreibung. Der Satz sollte also sinngemäß eher wie folgt übersetzt werden, was eventuell nicht so poetisch klingt, aber der Grammatik treu bleibt: »Als Gott mit dem Akt der Schöpfung begann, war die Erde bereits wüst und leer und Finsternis lag schon auf der Tiefe.« Das bedeutet, dass der Zustand der Erde als wüst, leer und finster der Schöpfung vorherging (der Schöpfung, aber nicht zwangsläufig Gott). Der Schöpfungsakt ist deshalb keineswegs als eine Schöpfung aus dem reinen NICHTS zu verstehen, sondern als eine Einordnung oder Unterwerfung dessen, was da – vor der Schöpfung – bereits ›war‹ ; Schöpfung ist demnach immer (zu) einem vorherigen Zustand relativ. Finsternis, Wasser, Tiefe (oder besser übersetzt: Abgrund, )ְתהוֹם, wüst und leer – all das ging dem göttlichen Satz »es werde Licht« vorher. Anhand dessen soll die berühmte Beschreibung am Ende jedes Schöpfungstages – »Und Gott sah, dass es gut war« (ַו ַיּ ְרא – )ֱאל ִֹהים ִכּי־טוֹבso verstanden werden: Das Gute, das Gott vor sich sah 21 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Amit Kravitz
und bezüglich dessen Gott sich zufriedenstellend äußerte, war nicht das ›Gute an sich‹, sondern vielmehr das ›Relativ-Gute‹. Innerhalb der Endlichkeit fungiert es als das ›Höchste-Gute‹ aber keineswegs als das ›Gute-Schlechthin‹, eine Tatsache, die der Schöpfung einen gewissen melancholischen Beiklang hinzufügt. Vorausgesetzt, dass »Finsternis« oder »Abgrund« hier Symbole für das Übel sind, lässt sich das Verhältnis zwischen Gut und Übel also auf zweierlei Arten auffassen. In der ersten Auffassung kommt dem Übel die Priorität zu; denn es geht wie gesagt sogar der Schöpfung vorher, und es obwaltet innerhalb (oder ›unterhalb‹) der Schöpfung immer eine frühere – ursprünglichere, wenn man so will – Schicht der Finsternis, die als ›Basis‹ oder ›(Ab-)Grund‹ der Schöpfung fungiert. Das Gute ist unter derartiger Beschreibung eine Überwindung des Vorherigen, und diese Überwindung muss als Unterwerfung und nicht als Vertilgung gedacht werden (selbst Gott hat den Abgrund im Schöpfungsakt nicht abgeschafft, sondern lediglich Licht in ihn (ein)gebracht). In der zweiten Auffassung aber und im Gegensatz zur ersten, kommt dem Guten die Priorität zu. Denn das Übel ging zwar der Schöpfung ›zeitlich‹ voraus, aber das Übel ging nicht wesentlich Gott voraus. Ontologisch gesehen – von der Dignität her, wenn man so will – kommt dem Guten der Vorrang zu. Es sei angemerkt, dass wir nicht wissen, wie dieser Abgrund, welcher der Schöpfung vorausging, zugleich als ein Bestandteil der Gottheit zu denken ist (im Geiste von Schellings Freiheitsschrift würde man fragen, wie ist Natur ›in Gott‹ 8 möglich); die jüdische Bibel ist kein philosophischer Text, aus dem Argumente herauszuarbeiten sind, sondern sie legt die Sachen erzählerisch dar 9 . Aber der biblische Text teilt uns dennoch mit, dass es so gedacht werden soll; der Text dient also als eine Art Horizont, im Lichte dessen wir die Schöpfung auch philosophisch weiterdenken können. Was endliche freie (moralische) Wesen angeht – diejenigen Wesen, die sich von Haus aus innerhalb der Schöpfung befinden –, mag diese Doppelsinnigkeit des Schöpfungsberichts in erster Linie zu Bescheidenheit anhalten. Bescheidenheit, denn die Vorbedingungen der ›Welt‹, in die sie – mit Heidegger gesprochen – geworfen sind, liegen Schelling (2011), 30, 47, 50. Dies gilt auch für psychologische Beschreibungen, die in der jüdischen Bibel nicht oft zu finden sind, eine Tatsache, die das Erzählen zu einer besonderen Kunst macht; siehe das berühmte erste Kapitel von Auerbach (2001).
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jenseits ihrer endlichen Macht, denn diese Vorbedingungen existieren, wie die hebräische Grammatik uns mitteilt, sogar vor dem Schöpfungsakt selbst. Ein absoluter Sieg über den vor dem Schöpfungsakt existierenden Abgrund lässt sich also zwar metaphysisch nicht ausschließen – denn er geht immerhin Gott nicht vorher –, aber dessen Möglichkeit bedarf übernatürlicher Mitwirkung; durch menschliche Kräfte allein kommt der Sieg nicht zustande. In der zweiten Version des Schöpfungsberichts hingegen befindet sich kein Satz, aus dem man schließen darf, dass dem Übel eine (relative) Unabhängigkeit zukommt. Andersherum: Das Übel, oder jetzt: das Böse, taucht einzig und allein als Folge einer Handlung eines Wesens auf, welches als frei von Gott geschaffen wurde. Das bedeutet, dass es (das Böse) gewissermaßen als zufällige Folge des Schöpfungsakts zu sehen ist und nicht – wie im Falle des Übels – als seine Vorbedingung. Das, was im zweiten Kapitel von Genesis angedeutet wird, nennt man heute in der analytischen Debatte ›free will defense‹ 10 . Dementsprechend bringt Gott erst freie Wesen in die Existenz – ein Akt, welcher an sich gut ist, denn Gott selbst ist gut – und infolgedessen befindet sich das freie Geschöpf sozusagen zwischen Gut und Böse. Das biblische Wort für Böse – – ָרעtaucht nicht bereits bezüglich der Schöpfung auf, sondern erst bezüglich des »Baums der Erkenntnis des Guten und Bösen« ()ֵעץ ַה ַדַּעת טוֹב ָו ָרע, als Gott später den Menschen warnt, von diesem Baum zu essen. Hier lassen sich zwei interessante Aspekte bezüglich des Begriffs ›Freiheit‹ anmerken, abgesehen von der Tatsache, dass das Auftreten von ›Freiheit‹ typischerweise eng mit einem gewissen Begriff von ›Verbot‹ verbunden ist. Der erste Aspekt bezieht sich auf die bloße Möglichkeit der ersten freien Entscheidung, im Gegensatz zu freien Entscheidungen, die danach folgen; denn die erste freie Entscheidung – die eine Entscheidung für das Böse war, nämlich trotz des göttlichen Verbots von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen –, diese erste freie Entscheidung ereignete sich, bevor das Bewusstsein des Guten und des Bösen überhaupt gegeben war. Denn erst nach dem Essen von der Frucht des Baums der Erkenntnis gilt das, was die Schlange zu Eva sagte, als sie sie dazu verführte: »so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (ִכּי יֹ ֵדַע ֱאל ִֹהים ִכּי ְבּיוֹם ֲאָכְלֶכם ִמֶמּנּוּ ְו ִנְפְקחוּ ;)ֵעי ֵניֶכם ִוְה ִייֶתם ֵכּאל ִֹהים יֹ ְדֵעי טוֹב ָו ָרעvor dieser Entscheidung aber gab 10
Zwei Beispiele dafür sind Hasker (2004) und Van Inwagen (2006).
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es Kenntnis von Gut und Böse in dem Sinne freilich nicht. ›Freiheit‹ beinhaltet also in dem biblischen Text sozusagen zwei Gebrauchsarten: neben der üblichen Freiheit eine ursprüngliche Freiheit, die vor der Kenntnis von Gut und Böse gilt. Der Gebrauch dieser Freiheit bzw. diese Ur-Entscheidung färbt die ganze moralische Welt, auch alle moralischen Entscheidungen, die sich hinterher ereignen, weil es sich um eine Ur-Entscheidung handelt, die wie eine Wolke über unserem ganzen Leben schwebt. Dieser Gedanke lässt sich auch in der Philosophie finden; Kant war sich bspw. dieses Unterschieds wohl bewusst und nannte diese ursprüngliche Tat – den ersten »Gebrauch […] [der] Freiheit überhaupt« 11 – eine »intelligible Tat« 12 . Mit dem zweiten Aspekt von ›Freiheit‹ werde ich mich hier ausführlicher beschäftigen, denn soweit ich weiß, wird er auf diese Weise in diesem Zusammenhang kaum – wenn überhaupt – dargelegt. Wie wir sahen, verbindet die jüdische Bibel ›Freiheit‹ im üblichen Sinne mit der Erkenntnis des Guten und des Bösen. In dieser biblischen Darlegung zeigt sich das, was ich hier ›common sense‹ nennen möchte, eine Darlegung, welche mit der üblichen philosophischen Darstellung – von Platon über Kant 13 bis heute – in gewisser Spannung zu stehen scheint. Laut dieser üblichen philosophischen Konzeption kann sich niemand bewusst und wissentlich für das Böse als Böses entscheiden (oder, in einer zutreffenden modernen Formulierung: »it is impossible to do evil when the knowledge is fully present that the act contempleted is evil« 14 ). Hätte ein freies Subjekt, welches sich für das Böse entschied, über die Erkenntnis verfügt, dass das, wofür es sich entschied, böse ist, hätte es sich nicht dafür entschieden (mit Platon gesprochen: Niemand täte mit Willen Unrecht, sondern alle Unrechttuenden täten Unrecht wider Willen). Gemäß dieser Definition würde man die NS-Täter so beschreiben: Sie waren überzeugt, dass das Ausrotten und die Vernichtung der Juden moralisch zu rechtfertigen war, dass das, worauf sie hinauswollten, richtig war; denn hätten sie gedacht, dass diese Handlung schlecht ist, hätten sie sie nicht aus-
RGV, AA VI: 21. RGV, AA VI: 31. 13 Zu Auseinandersetzung Kants sowie von Philosophen nach ihm mit dieser Problematik siehe Noller (2015). 14 Lang (1990), 32. 11 12
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geübt 15 . Daraus folgt nicht, dass sie Recht hatten oder dass sie deshalb unschuldig waren, sondern nur, dass sie im Besitz der falschen Erkenntnis waren, was sie dazu führte, das Böse auszuüben. Diese Schilderung ist schlichtweg eine Anwendung der oben erwähnten philosophischen Konzeption, wonach sich jemand, wenn er vollkommen weiß, was das Gute und was das Böse ist, ›notwendigerweise‹ für das Gute entscheiden wird. Diese philosophische Konzeption löst Schwierigkeiten aus. Als erstes fällt auf, dass dieser Definition gemäß sowohl eine gute wie auch eine böse Handlung nicht als freie Handlung zu begreifen ist. Denn sobald das Subjekt weiß, was das Gute ist, wird es es notwendigerweise tun; entscheidet es sich hingegen für das Böse, kann auch diese Entscheidung nicht als frei im vollen Sinne des Wortes gelten, denn sie wurzelt im Mangel an Erkenntnis. Jedoch möchte ich mich hier mit den inneren philosophischen Schwierigkeiten nicht befassen, sondern eher mit der Kluft zwischen dieser Apriori-Definition von Freiheit – laut der wie gesagt die Entscheidung für das Böse nicht wissentlich getroffen werden kann – und der ›common sense‹ Position, die sich auf die Erfahrung gründet, dass das Böse oft wissentlich und absichtlich ausgeübt zu werden scheint. Das zweite und dritte Kapitel der Genesis kann auch so gelesen werden, als ob in ihm die Herangehensweise des ›common sense‹ an das Problem des Bösen bevorzugt wird – und nicht die Herangehensweise der Philosophie. Wir haben zwei Erklärungen des Bösen. Welche ist zu präferieren, die der Philosophie oder die des ›common sense‹ ? Auf der einen Seite haben wir eine starke philosophische Tendenz, in der eine notwendige Verbindung zwischen ›Freiheit‹ und dem ›Guten‹ auftaucht. In diesem Geiste schreibt Kant: »[…] ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei« 16 . Auf der anderen Seite haben wir – so scheint es wenigstens – keinen besonderen Grund, die philosophische Definition vorzuziehen gegenüber dem, was uns in der Erfahrung zu begegnen scheint, nämlich dass die Freiheit – mit Schelling gesprochen – das Vermögen »des Guten und des Bösen« 17 gleicherweise ist. Handelt es sich im philosophischen Fall schlichtweg
Lang bermerkt diesbezüglich zutreffend: »here, as constantly in its history, evil does not speak its own name«; Lang (1990), 49. 16 GMS, AA IV: 447. 17 Schelling (2011), 25. 15
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um eine Definition, eine, die die Erfahrung prinzipiell nicht untergraben kann? Oder kann vielleicht eine spezifische geschichtliche Erfahrung – die des Holocaust – uns dennoch andeuten, welche Richtung zu präferieren ist? Wie ich nun zeigen möchte, ist das, was sich in der Geschichte abspielte, auch relevant für die philosophische Diskussion. Denn eine bestimmte Erfahrung gibt uns gute empirische Indizien (oder ›Unterstützung‹) dafür, die philosophische Konzeption abzulehnen. Damit behaupte ich keineswegs, dass etwas, welches sich in der Empirie ereignete, einer philosophischen Definition widersprechen kann. Denn die Möglichkeit bleibt bestehen, die Sachen auch der Philosophie entsprechend zu interpretieren und darauf zu beharren, dass das Böse auch im Falle des Holocaust nicht wissentlich und absichtlich als Böses ausgeübt wurde. Nun, diese Möglichkeit bleibt zwar bestehen, aber sie ist unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich. Der Holocaust – aus besonderen Gründen, die ich hier kurz skizziere – scheint die ›common sense‹-Position gegenüber der philosophischen Konzeption vielleicht klarer denn je zu bestätigen. 18
3.
Die jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert und die Möglichkeit, das Böse als Böses zu wollen und auszuüben
Die philosophische Konzeption des Bösen wirft einen langen Schatten bis in die Gegenwart; dies fällt m. E. durch das Beispiel Hannah Arendts deutlich auf. Ihre Theorie von der ›Banalität des Bösen‹ 19 beinhaltet zwei grundlegende Probleme. Das erste Problem bezieht sich auf die Tatsache, dass Arendts These in ihrem allerwichtigsten Aspekt – und im Gegensatz zu dem, was sie behauptet – der abendländischen Tradition durchaus entspricht und nicht widerspricht. Denn auch Arendt konnte den Gedanken, gemäß dem sich Eichmann – als Verkörperung des modernen Bösen – wissentlich und absichtlich für das Böse als Böses entschied, offenbar nicht ertragen. Denn wie ist sonst Arendts Theorie über Eichmann – er habe sich »niemals vorgestellt, was er eigentlich an-
Zu der Frage bezüglich der Besonderheit des Holocaust – auch im Vergleich zu anderen Völkermorden – siehe bspw. Margalit und Motzkin (1996). 19 Dieser Begriff erscheint im Titel ihres Buchs über Eichmann; siehe Arendt (1986). 18
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stellte« 20 , er sei zwar nicht dumm, aber freilich »gedankenlos« 21 gewesen – anders zu verstehen als eine Wiederholung der traditionellen Problematik bezüglich der Unmöglichkeit einer freien bösen Handlung? Dass Arendt vergeblich versuchte, zwischen ›Dummheit‹ und ›Gedankenlosigkeit‹ zu unterscheiden, tut nichts zur Sache; denn einerlei, was dieser Unterschied bedeuten soll, er bezeugt, dass Arendt sich letztendlich in den bekannten traditionellen Bahnen bewegte. Das zweite Problem bezieht sich auf die peinliche – aber symptomatische – Tatsache, dass Eichmann, wie Arendt ihn malte, ein reines Produkt ihrer Einbildungskraft war und nichts mit dem wirklichen Eichmann zu tun hatte, wie u. a. Bettina Stangneth in ihrem lesenswerten Buch Eichmann vor Jerusalem: Das unbehelligte Leben eines Massenmörders 22 zeigt. Diese Kluft zwischen Arendts Erfindung von Eichmann und dem wirklichen Eichmann schreit zum Himmel. Arendt hätte viel früher mehr von dem wirklichen Eichmann wissen können, hätte sie ein echtes Interesse an psychologischen Berichten über ihn gehabt, wie sie im Rahmen seines Gefängnisaufenthalts und des Gerichtsverfahrens in Israel angefertigt wurden, und wäre sie mehr als zwei oder dreimal an den Verhandlungstagen bei Gericht anwesend gewesen. Diese Kluft ist auch deshalb interessant, weil sie etwas Symptomatisches erschließt: das typische, oft wiederholte Beharren von Philosophen, ihre philosophischen aprioristischen Präkonzeptionen in die empirische Evidenz – die sie nur oberflächig zu studieren neigen – hineinzuinterpretieren. Eine m. E. aufschlussreichere und viel originellere, allerdings wenig bekannte Herangehensweise an diese Problematik lässt sich bei Berel Lang finden. Lang ist sich der traditionellen Konzeption des Bösen – laut der »the knowledge of evil as evil would preclude any such act« 23 – und der alternativen Möglichkeit, gemäß der »[…] evil often seems to be committed knowingly« 24 , überaus bewusst. Er weiß auch ganz genau, dass eine Interpretation dessen, was Arendt (1986), 56. »Er [Eichmann] war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist – die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten [Verbrecher] jener Zeit zu werden«; in Arendt (1986), 57. Siehe auch Arendt (1998), 14. 22 Siehe Stangneth (2011). 23 Lang (1990), 32. 24 Lang (1990), 32. 20 21
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der Fall in der Empirie zu sein scheint, eine philosophische Definition nicht ersetzen oder untergraben kann. Und dennoch verweist er auf den Bedarf »of establishing the relation between knowledge and wrongdoing as contingent rather than as determined and a priori« 25 . Und ein vorsichtiges Prüfen der Evidenz bezüglich des Holocaust gibt uns zwar keine Beweise im strengen Sinne des Wortes, aber immerhin starke ›empirische Unterstüzung‹ für die Behauptung, dass die philosophische Einstellung abzulehnen ist bzw. that evil can be done knowingly, and, more specifically, that the Nazis were aware of the wrongs they were doing. At the very least it will be possible to find these claims true or false on the basis of the evidence […]. 26
Die präzise Art und Weise, in der Lang dies durchführt, bedürfte eines eigenen Beitrags; an dieser Stelle werde ich nur kurz und bündig Grundlinien seiner Herangehensweise vor Augen führen. Lang schreibt: The more compelling evidence […] will not be found in the act alone 27 but in the conjunction with what else was said or done that might disclose the intentions or motives behind it. Three groups of such features are distinguishable in the events of the Nazi genocide; these will be referred here under the headings of »Contradiction«, »Shame« and »Invention«. 28
All diese Eigenschaften wurden bereits vor Lang getrennt diskutiert; ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander wurde allerdings nie berücksichtigt. Ich werde allein das Verhältnis zwischen Scham und Erfindung aufgreifen, und das Thema Widersprüchlichkeit beiseitelassen. Aus naheliegenden Gründen ist es unwahrscheinlich, schreibt Lang, dass sich den NS-Tätern ein Gefühl der Scham bezüglich ihrer Handlungen gegen die Juden zuschreiben lässt; allerdings stellt er fest, dass certain prominent aspects of Nazi conduct in the context of the genocide against the Jews suggest the presence of just this phenomenon; that the Nazis were aware not only of the practical consequence of their policies,
Lang (1990), 34. Lang (1990), 36; eigene Hervorhebung. 27 »For what is contested now is the question of what the Nazis really thought or believed about what they did, in contrast to what the apparent or prima-facie evidence suggests they really believed«; Lang (1990), 37. 28 Lang (1990), 36. 25 26
28 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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but of their moral character as well – an awareness disclosed in involuntary appearances of shame. 29
Was könnten aber »involuntary appearances« von Scham diesbezüglich heißen und wie kann man deren Anwesenheit beweisen? Hier kommt der bekannten Mühe der NS-Täter, ihre Handlungen zu verheimlichen, wichtige Bedeutung zu. Denn der einzelne NS-Täter verheimlichte seine Handlungen nicht nur vor der äußeren Welt und vor ihren Opfern, sondern seltsamerweise auch vor sich selbst. Der Versuch, den Völkermord durch die Sprache zu verheimlichen, kann als ein Beispiel dafür dienen; sogar der Gebrauch des Begriffs ›Endlösung‹, der selbst als Code fungierte, wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt verboten (und andere Termini, bspw. ›Sonderbehandlung‹, durften nur vorsichtig verwendet werden). Zeigt uns diese Verheimlichung nicht, dass die NS-Täter sich ihrer Handlungen schämten? Auf den ersten Blick wollen wir es freilich verneinen; denn warum sollen wir diese Verheimlichung als »involuntary evidence« 30 für ein Gefühl der Scham verstehen und nicht – was an sich naheliegender scheint – als einen Akt im Dienste praktischer Zwecke? Z. B.: Um den Widerstand der potentiellen Opfer zu minimieren, verschleierten die NS-Täter deren Schicksal – bspw. durch das Präsentieren der Gaskammern als gemeinschaftliche Dusche, dadurch, dass den Opfern mitunter Seife gegeben wurde, um ihr Vertrauen zu vergrößern usw. Es kann also behauptet werden, dass der genannte Sprachgebrauch auch aus praktischen Überlegungen verheimlicht wurde, bspw. aufgrund der naheliegenden Vermutung, dass die Judenvernichtung von der Welt moralisch verworfen werden würde, sobald sie bekannt würde. Allein die Frage ist nicht, ob das Verbergen sich auch durch das Praktische erklären lässt – dies wird niemand ernsthaft in Abrede stellen wollen –, sondern ob die praktische Erklärung erschöpfend ist. Methodologisch bemerkt Lang diesbezüglich: It is undoubtedly impossible to decide this issue conclusively without begging the question; this limitation seems […] a characteristic feature of disputes in which exclusive claims are made for instrumental values (and perhaps of historical explanation in general). 31
29 30 31
Lang (1990), 40 f. Lang (1990), 43. Lang (1990), 44.
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Lang glaubt, dass wir gleichwohl gute Gründe haben zu glauben, dass nicht alle Mühen um Verheimlichung – oder diese Bemühungen als Ganzes betrachtet – im praktischen Lichte geklärt werden könnten. Diese Position kann durch Unterstützung aus einem anderen Bereich gestärkt werden, durch das, was Lang ›Erfindung‹ nennt. Die empirische Evidenz zeigt klar, dass viele Momente des NSVölkermords ein starkes Verhältnis zur Imagination bzw. zur Erfindungskraft besitzen. Die NS-Täter übten ihre Brutalität nicht nur zum Zwecke der Kontrolle über ihre Opfer aus. Vielmehr war die Folter der Juden von einer Art, dass »only an imagination focused on its own elaboration, not on utilitarian or extrinsic purpose, could account for« 32 . Z. B.: die Forderung, dass die Juden in Konzentrationslagern, hungernd und beinahe tot, auf dem Weg zur täglichen Zwangsarbeit – welche ohnehin Bestandteil ihrer Vernichtung war – singen mussten. Oder: Ein Orchester wurde in Auschwitz gegründet, dessen Ziel die Begleitung der Zwangsarbeiter zur Arbeit und zurück war. Das Böse scheint hier ganz bewusst sich selbst als Böses zu zelebrieren, ohne dem Praktischen vollkommen zugeordnet werden zu können; mit Lang gesprochen, the recognition of evil at work is elaborated inventively and creatively by an imagination that not yet silenced the moral sensibility in its origins. Without this principle and its reiteration of the idea of evil, there might still be murder and brutality, and with them moral culpability. But with the additional evidence of the knowing imagination, even murder and brutality reach a different order of moral significance. 33
Und nichtsdestotrotz: Es kann sein, dass sich die Verheimlichung eventuell nicht durch das Praktische alleine erklären lässt, wie uns der Bereich ›Imagination‹ bzw. ›Erfindung‹ zeigt; aber reicht das, um zu behaupten, dass dieses Böse wissentlich als Böses durchgeführt wurde? Zur Klärung dieser Frage muss sich Lang mit einer bekannten Theorie – »the divided self« – auseinandersetzen. Um zu erklären, wie es sein konnte, dass innerhalb des Lagers viele NS-Täter – bspw. Ärzte – brutal und sadistisch waren, während sie sich außerhalb des Lagers ganz normal, der Moralität durchaus entsprechend, zu verhalten schienen, wird oft einfach behauptet, dass sie ein Doppelleben führten. Man sieht leicht, dass auch diese Theorie
32 33
Lang (1990), 46. Lang (1990), 48.
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Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen
sich als ein Echo der philosophischen aprioristischen Konzeption bezüglich der Unmöglichkeit, das Böse wissentlich als Böses auszuführen, erweist, insofern vorausgesetzt wird, dass »two moral codes« 34 , vollkommen getrennt voneinander, hier am Werke waren. Allein derartige Erklärungen, vermerkt Lang, sind problematisch in zweierlei Hinsicht. Erstens scheinen sie schlichtweg eine Wiederholung der vermeintlichen empirischen Evidenz und keine Erklärung zu sein, und zweitens ignorieren sie die Möglichkeit einer anderen Beschreibung, für die eine Erklärung verfügbar ist, die mit wenigen Voraussetzungen eine größere Bandbreite an empirischer Evidenz abdeckt. Ungeachtet dessen besteht »the (morally) divided self theory« nicht aus einer Erklärung für die unmittelbare empirische Evidenz, sondern aus einer Schlussfolgerung, die in philosophischen Vorurteilen verwurzelt ist. Denn wichtige empirische Zeugnisse verweisen auf die Tatsache, dass es sich nicht immer um zwei getrennte Verhaltensweisen – innerhalb und außerhalb des Lagers – handelt: It cannot simply be assumed that the brutality of a Dr. Josef Mengele at Auschwitz or an »Ivan the Terrible« at Treblinka was left behind at the walls of the camp, that it would not also have been reflected in their lives outside the walls – still less that there was such a division in their actions within the camps. The burden of evidence suggests the contrary. In Mengele, for instance, the claim for a morally divided self breaks down within the world of the camp itself, since his conduct in Auschwitz includes moments of apparent compunction interspersed with acts of violence and cruelty. On this evidence, it is more plausible to infer a single moral agent – one that granted greater to evil than to good – than two independent moral domains that were constantly being traversed, and this is the case notwithstanding statements that the agent himself might have made in his own defence. 35
Der letzte Satz impliziert natürlich eine Ablehnung von Arendts These, die das, was Eichmann über sich selbst aussagte, kritiklos akzeptiert. Wie dem auch sei: Da »the burden of evidence« darauf hinweist, dass es sich tatsächlich um eine einzige, keine gespaltene moralische Person handelt, ist die wissentliche Entscheidung für das Böse die plausiblere Erklärung für die Handlung. Das heißt nicht, dass es kein
34 35
Lang (1990), 50. Lang (1990), 53; eigene Hervorhebungen.
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»divided moral self« gab, sondern nur, dass es eigentlich aus dem »traditional moral self« 36 entstand: The divided self, as so far as one can speak of it at all, is constructed by the self in order to avoid admitting what a united self would have to – that is, the knowledge of evil. That knowledge, however, is presupposed in the emergence of the divided self […]. Only the knowledge of evil, it seems, would require a screen between the parts of the morally divided self […]. The knowledge of evil and good and their unity in a single self are thus presupposed in the doubling effect; the effect itself is evidence of their single existence. 37
Wenn wir also unser Augenmerk sorgfältig auf die empirische Evidenz richten und das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Bereichen ernsthaft in Betracht ziehen, sehen wir, dass es deutliche empirische Unterstützung – nicht Beweise, die hier ohnehin unmöglich sind – gibt für die Annahme, dass im Gegensatz zu der philosophischen Präkonzeption, welche das Vermögen des Bösen verunmöglicht, eine wissentliche Entscheidung für das Böse als Böses möglich und tatsächlich viel wahrscheinlicher ist. Zum Schluss möchte ich kurz die Verbindung zwischen den drei Teilen meines Beitrags wiederholen. Im ersten Teil wurde gezeigt, warum es besonders schwer ist, die jüdische Sicht des Bösen darzulegen. Die Antwort lautete, dass das Judentum eine Religion ohne Dogma ist bzw. dass das ›Philosophische‹ keine wichtige Rolle innerhalb dessen spielt. Im zweiten Teil wurden zwei unterschiedliche Aspekte der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Genesis dargelegt; dies bezeugt den Vorrang der Pluralität gegenüber einer einheitlichen Position, die bereits im heiligsten Text der Juden zum Vorschein kommt. Schlussendlich habe ich gezeigt, wie eine Analyse der jüdischen Erfahrung im 20. Jahrhundert zu einer Ablehnung der klassischen philosophischen Konzeption bezüglich der Möglichkeit einer freien bösen Handlung führen kann. In allen Teilen wird eine gewisse Entfernung von dem Philosophischen 38 angedeutet.
Lang (1990), 52. Lang (1990), 56. 38 Meine Position stimmt also mit der bekannten These von Leo Strauss überein; siehe Strauss (1980). 36 37
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Von der besonderen Schwierigkeit, die jüdische Sicht auf das Böse darzulegen
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Das Böse zwischen Supranaturalismus und Naturalismus Armin Kreiner
Traditionell wurde das Böse als Erscheinungsform des Übels betrachtet. Aus der Existenz des Übels wiederum resultiert der schlagkräftigste Einwand gegen die Existenz Gottes. Angeblich besteht zwischen zentralen Aussagen des theistischen Bekenntnisses und der Erfahrung von Übel und Leid ein offensichtlicher Widerspruch. Bestimmte Formen des Übels lassen sich jedoch auch als Indizien für die Existenz Gottes interpretieren. In dieser Perspektive spräche das Übel bzw. eine Form desselben nicht gegen die Existenz Gottes, sondern im Gegenteil eher dafür, weil es ein Phänomen darstellt, das sich einer naturalistischen 1 Erklärung hartnäckig widersetzt. Aus einleuchtenden Gründen kann Gott für dieses Übel nicht direkt verantwortlich gemacht werden. Die Erklärungsrelevanz des Theismus erschließt sich erst über einen Umweg, wenn nämlich weitere übernatürliche Entitäten bzw. Akteure ins Spiel gebracht werden. In den theistischen Traditionen fungierte Gott nie als die einzige übernatürliche Entität, die zu Erklärungszwecken bemüht wurde. Eine Vielzahl geschaffener Geistwesen bevölkerte die Welt des Übernatürlichen – darunter auch widergöttliche Mächte. Diese lassen sich unmittelbar für das Übel verantwortlich machen, ohne dadurch Gott zu sehr in die Bredouille zu bringen. Erst wenn es darum geht, die Existenz bzw. Entstehung dieser übernatürlichen Akteure zu erklären, kommt Gott wieder ins Spiel. Würden diese Akteure eine hohe Erklärungskraft besitzen, spräche dies somit für die Existenz Gottes, weil Geistwesen jedweder Art den Rahmen einer auch noch so weit gefassten naturalistischen Ontologie sprengen würden. Der Naturalismusbegriff wird hier nicht im reduktionistischen Sinn verstanden. Naturalismus bezeichnet das Gegenteil von Supranaturalismus. In diesem Sinn ist eine Theorie oder Erklärung naturalistisch, wenn sie auf übernatürliche Entitäten und Akteure verzichtet. Da dies für sämtliche wissenschaftliche Theorien gilt, können die Ausdrücke ›naturalistisch‹ und ›wissenschaftlich‹ als deckungsgleich betrachtet werden.
1
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Das Böse zwischen Supranaturalismus und Naturalismus
Die in diesem Kontext relevante Erscheinungsform des Übels ist das sog. moralische Übel, das malum morale. Dessen schlimmste Auswüchse werden üblicherweise unter dem vieldeutigen und umstrittenen Begriff des ›Bösen‹ subsumiert. Als mehr oder weniger ›böse‹ lassen sich zunächst Handlungen bezeichnen, durch die empfindungsfähigen Lebewesen zum eigenen Vorteil absichtlich und ungerechtfertigt 2 Schaden, Leid oder Zerstörung zugefügt wird. 3 Im abgeleiteten Sinn werden Personen, die verstärkt zu solchen Handlungen neigen, oder auch Institutionen oder Gesellschaftsformen, die Menschen tendenziell dazu verleiten, als böse bezeichnet. Zur Erklärung böser Handlungen wird üblicherweise eine Reihe einschlägiger Motive herangezogen: Unter anderem fügen Menschen einander Leid zu, weil sie habgierig, eifersüchtig, neidisch, ehrgeizig, rachsüchtig oder gekränkt sind, manchmal einfach nur, weil ihnen langweilig ist, 4 und in Einzelfällen auch aus überhaupt keinem ersichtlichen Grund. 5 Das hohe Erklärungspotenzial von Motiven wie Habgier, Eifersucht etc. dürfte damit zusammenhängen, dass sie kaum jemandem völlig fremd sind. Trotzdem resultieren daraus nicht zwangsläufig böse Handlungen. Habsucht, Neid, Eifersucht etc. sind wesentlich weiter verbreitet als Verbrechen, die aus Habsucht, Neid, Eifersucht etc. begangen werden. Vernünftiges 6 und mora-
Was als gerechtfertigt gilt, hängt vom Kontext ab und ist häufig umstritten. Ein Henker tötet absichtlich andere. Seine Handlung lässt sich aber nicht pauschal als böse beurteilen, weil sie von Rechts wegen geschieht. Ob sie moralisch gerechtfertigt ist, ist dagegen umstritten. – Aus der Sicht der Übeltäter sind ihre Handlungen in der Regel aus welchen Gründen auch immer gerechtfertigt. 3 Vgl. www.bbc.com/earth/story/20160401-how-did-evil-evolve-and-why-did-itpersist. 4 Vgl. Kekes (2005), 105–107. 5 Truman Capote schildert in seinem Tatsachenroman »In Cold Blood« den Mord an einer vierköpfigen Familie in Holcomb im Jahr 1959. Truman macht deutlich, wie schwierig es sein kann, für ein außergewöhnlich brutales Verbrechen ein nachvollziehbares Motiv zu finden. Letztlich bleiben die Motive sowohl den Tätern selbst als auch dem Betrachter unerklärlich. Beim Versuch, sich einen Reim darauf machen, kommt der ermittelnde Beamte zu dem Schluss, »dass kein eigentlicher Sinn in dem Ganzen zu erkennen war. Das Verbrechen war ein psychologischer Unfall, es war ein Akt, der im Grunde genommen mit den Personen selbst nichts zu tun hatte; die Opfer hätten ebenso gut durch einen Blitzschlag getötet worden sein können […]«. Vgl. Capote (2014), 343. 6 Unter ›Vernunft‹ wird hier das Abwägen der Konsequenzen von Handlungen verstanden. 2
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lisches 7 Abwägen kann verhindern, dass diese Motive oder Impulse in die Tat umgesetzt werden. Wo jedoch Vernunft und Moral versagen, kann sich das ›Böse‹ in all seinen Facetten und Schattierungen breit machen. Fraglich ist, was an dem so verstandenen ›Bösen‹ rätselhaft bzw. erklärungsbedürftig sein soll. Die erwähnten Motive machen das ›Böse‹ zumindest teilweise verstehbar oder nachvollziehbar, ohne es zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Sie erklären jedoch nicht, warum eine gewisse Neigung zum ›Bösen‹ oder zumindest eine Anfälligkeit dafür so weit verbreitet ist. Experimente wie die von Stanley Milgram und Philip Zimbardo legen nahe, dass unter bestimmten Umständen 8 kaum jemand davor gefeit ist, extrem schlimme Dinge zu tun. 9 Unerklärlich bleibt auch, warum die Taten bisweilen exzessive Ausmaße annehmen, denen sich kein Sinn mehr abgewinnen lässt, die trotz aller naheliegenden Motive letztlich unverständlich bleiben und häufig nur noch blankes Entsetzen auslösen. Es mag irgendwie nachvollziehbar, verständlich oder erklärbar sein, wenn Menschen sich auf Kosten anderer bereichern, sich für erlittenes Unrecht oder Kränkungen rächen, Angriffen anderer durch den Einsatz von Gewalt zuvorkommen, mutmaßliche Konkurrenten aus dem Weg räumen oder ihre Interessen ohne Rücksichtnahme auf andere durchsetzen. Rätselhaft bleibt die bisweilen frappierende Grausamkeit, mit der sie dies tun. Sie lässt die jeweiligen Taten häufig unangemessen, maßlos und letztlich grundlos erscheinen. Solche Taten sind nicht nur moralisch verwerflich und abstoßend, sie dienen auch keinem rational rekonstruierbaren Zweck mehr. In solchen Fällen greifen die in der Alltagspsychologie bemühten Motive nicht mehr richtig, eben weil die Brutalität der Taten jedes nachvollziehbare Maß überschreitet. Angesichts solcher Taten drängt sich die Kategorie des ›Bösen‹ auf. Sie zeigt einerseits die rätselhafte Unheimlichkeit der Taten an und bringt andererseits Mächte ins Spiel, die nicht allein von dieser Welt zu sein scheinen. Auf diese Weise soll bzw. kann das scheinbar Unter ›Moral‹ werden die Normen, Gebote, Verbote usw. verstanden, die das Handeln mehr oder weniger steuern. 8 Vgl. Zimbardo (2007). Zimbardo spricht von »powerful situational forces«, die Menschen dazu verleiten können, Dinge zu tun, die sie zuvor für undenkbar gehalten hatten. 9 Das ist eine der Schlussfolgerungen, die aus dem berühmten Milgram-Experiment zu ziehen sind. Vgl. Milgram (1975). 7
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Unerklärliche doch irgendwie erklärbar werden. So paradox es prima facie auch klingen mag, gerade das horrende Ausmaß des ›Bösen‹ scheint dem Supranaturalismus in die Hände zu spielen. Dies gilt besonders für die vielleicht schlimmste und zugleich rätselhafteste Form des ›Bösen‹, den Sadismus. Sadistische Motive können sich durchaus mit anderen vermischen, wenn jemand beispielsweise aus Habgier oder auf Befehl tötet, dabei gleichzeitig aber auch noch Freude am Töten empfindet. 10 Die Motive von Handlungen dürften in den seltensten Fällen sowohl eindeutig als auch restlos transparent sein. In Reinform tritt der Sadismus in Erscheinung, wenn das Zufügen von Leid keinem anderen Zweck als der eigenen Freude und Lust dient. Wie das ›Böse‹ generell tritt auch der Sadismus in unterschiedlichen Intensitätsgraden in Erscheinung, die bei der alltäglichen Schadenfreude beginnen und bei der Lust am Quälen und Töten enden. Nicht von ungefähr gilt der Sadismus vielfach als Synonym für Bösartigkeit. Der Sadist tut Böses nicht um eines anderen Zweckes willen, sondern gleichsam um des Bösen wegen. 11 Nietzsche hat behauptet, »Leiden-sehn« tue wohl und »Leiden-machen« noch wohler. Dies sei ein zwar »harter«, aber »alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz«. 12 Auch wenn der Sadismus nicht zu Unrecht als Inbegriff des Bösen betrachtet wird, spricht einiges dagegen, das Phänomen des Bösen darauf zu reduzieren. Unter anderem würde daraus folgen, dass ein Folterer nichts Böses tut, solange ihm das Foltern kein Vergnügen bereitet. Der Sadismus mag vielleicht die abstoßendste Form des Bösen sein, aber sicherlich nicht die einzige. 13 Aus naheliegenden Gründen lässt sich Gott für das ›Böse‹ nicht verantwortlich machen, jedenfalls nicht unmittelbar. Aus theistischer Perspektive hängt das ›Böse‹ zwar grundsätzlich damit zusammen, dass sich Menschen in Freiheit von Gott abwenden 14 und nicht dem Selbst unter den KZ-Aufsehern scheinen sich sowohl sadistisch veranlagte als auch solche befunden zu haben, die sich noch einen gewissen Rest an Mitgefühl bewahrt hatten. »Wesentlich für das Überleben im Lager war die Fähigkeit, die unterschiedlichen Charaktereigenschaften zu erkennen, die der Kapos wie der SS-Männer. Davon konnte ein Leben abhängen.« Vgl. dazu Rees (2015), 58. 11 Colin McGinn hat den Sadismus als »pure evil« bezeichnet, gewissermaßen als das Böse in Reinkultur. Vgl. McGinn (2003), 62: »… an evil character is one that derives pleasure from pain and pain from pleasure«. 12 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II,6 13 Vgl. Kekes (2005), 175. 14 Vgl. z. B. Katechismus der Katholischen Kirche, 386: »Um zu verstehen, was die 10
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göttlichen Willen oder Gebot entsprechend handeln. Fraglich bleibt dabei, ob das ›Böse‹ mit all seinen Facetten ausschließlich dem Menschen angelastet werden kann. So gut wie alle religiösen Traditionen verneinen diese Frage. Auch die monotheistischen Religionen postulieren übernatürliche widergöttliche Mächte, die den Menschen angeblich zum ›Bösen‹ verführen oder sogar von Einzelnen Besitz ergreifen. Der Mensch hat zwar eine »zum Bösen geneigte Natur« 15 . Diese Neigung und die unzähligen Fälle, in denen sie exzessiv ausgelebt wird, lassen sich aber angeblich nur verstehen, wenn eine widergöttliche Macht postuliert wird, die nicht nur – wie der Mensch – zum Bösen geneigt, sondern abgrundtief und irreversibel böse ist. In ihrer personifizierten Gestalt wird diese widergöttliche Macht als Teufel oder Satan bezeichnet. Auf den ersten Blick bringt die Existenz des Teufels den Monotheismus in gewisse Erklärungsnöte. Beim Teufel muss es sich einerseits um ein Geschöpf handeln, andernfalls würde aus dem Monotheismus ein Dualismus. Andererseits kann die Existenz des Teufels aber nicht unmittelbar auf Gott zurückgeführt werden, denn ein Gott, der ein abgrundtief böses Wesen erschaffen würde, geriete in Verdacht, selbst böse zu sein. Ein solches Wesen wäre aber per definitionem nicht mehr Gott, also nicht dasjenige, worüber hinaus sich nichts Größeres denken lässt. Die geläufige Lösung dieses Problems besagt, dass es sich beim Teufel um ein ursprünglich von Gott erschaffenes und damit eo ipso gutes Wesen handelt, das sich aber aus freien Stücken von Gott und damit vom Guten abwandte, dadurch irreversibel böse wurde und fortan alles daran setzt, andere ebenfalls zum Bösen zu verleiten. 16 Als personifizierte Bösartigkeit ist der Teufel also kein Gegengott, sondern ein gefallener Engel und somit ein Geschöpf, dessen Treiben Gott aus bestimmten Gründen zulässt, jedenfalls bis auf weiteres. Die Personifizierung des Bösen ermöglicht seine Vervielfältigung. Wird der Teufel als Individuum vorgestellt, liegt es nahe, ihm weitere Akteure beizugesellen, bei denen es sich Sünde ist, muss man zunächst den tiefen Zusammenhang des Menschen mit Gott beachten. Sieht man von diesem Zusammenhang ab, wird das Böse der Sünde nicht in ihrem eigentlichen Wesen – als Ablehnung Gottes, als Widerstand gegen ihn – entlarvt, obwohl sie weiterhin auf dem Leben und der Geschichte des Menschen lastet.« 15 Katechismus der Katholischen Kirche, 407. 16 Zur Entstehung und Geschichte der Teufelsvorstellung vgl. Russell (2000) und Flasch (2015).
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ebenfalls um ursprünglich gute Geistwesen handelt, die zu Dämonen wurden, nachdem es dem Teufel gelungen war, sie auf seine Seite zu ziehen. Im christlichen Mythos besteht die wichtigste Funktion des Teufels darin, die Sünde des ersten Menschenpaares zu erklären. Auf Anhieb leuchtet es nämlich nicht ein, aus welchen Gründen sich Menschen unter paradiesischen Bedingungen dazu entscheiden sollten, Gottes Gebot zu übertreten. Der Teufel kann Licht in diese Angelegenheit bringen, indem er tut, was er immer tut, weil es seiner Natur entspricht: Er verleitet andere zum Bösen. Somit ist er unmittelbar für die Ursünde verantwortlich und mittelbar für deren Auswirkungen, zu denen die Anfälligkeit der gefallenen menschlichen Natur für das ›Böse‹ und die anhaltende Versuchung durch den Teufel zählt. Über einen gewissen Zeitraum hinweg kann sich Gottes Schöpfung in eine Richtung entwickeln, die von ihm ursprünglich so nicht geplant, gewollt oder intendiert war, aber trotzdem zugelassen wird, weil er die ganze Geschichte langfristig doch zum Guten wenden kann und wird. Erklärungsbedürftig bleibt noch das Motiv, das ein ursprünglich gut erschaffenes Geistwesen dazu bewegen kann, sich von Gott abzuwenden. Verschiedene Motive – wie z. B. Stolz oder Neid – wurden im Laufe der Geschichte diskutiert. Allesamt wurden sie offensichtlich dem Repertoire menschlicher Beweggründe entlehnt und auf den Teufel projiziert, um sich einen Reim auf sein Handeln machen zu können. Die Details, mit denen diese Geschichte ausgemalt wurde, haben sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Ausschlaggebend blieb die Annahme, dass die Realität und Intensität des ›Bösen‹ ohne eine übernatürliche Macht unerklärlich blieben. Träfe dies zu, wäre eine Naturalisierung des ›Bösen‹ zum Scheitern verurteilt. Das ›Böse‹ würde unmittelbar für den Supranaturalismus und mittelbar für den Theismus sprechen. Somit scheint das Böse gerade in seinen schlimmsten Auswüchsen irgendwie das Übernatürliche vorauszusetzen. »Evil […] at its worst seems to involve the supernatural« 17 . Die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft lässt sich als Projekt rekonstruieren, in dessen Verlauf immer mehr Phänomene, die angeblich nur supranaturalistisch erklärt werden konnten, auf ihre natürlichen Ursachen zurückgeführt wurden. Wissenschaftliche Er17
Pagels (1996), XVIII.
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klärungen verzichten per definitionem auf übernatürliche Akteure und Entitäten wie Götter, Gott, Teufel oder Dämonen. Den diversen Naturalisierungsprojekten liegen üblicherweise zwei Strategien zugrunde: Entweder wird das einschlägige Phänomen geleugnet, so dass überhaupt kein Erklärungsbedarf entsteht – Plan A –, oder, falls dies nicht erfolgversprechend ist, wird es auf natürliche Weise erklärt – Plan B. Der Naturalisierung des ›Bösen‹ liegt zunächst Plan A zugrunde, also die Infragestellung des Phänomens. Allerdings läuft Plan A in diesem Fall nicht darauf hinaus, die Realität all dessen, was üblicherweise mit dem Begriff des ›Bösen‹ bezeichnet wird, zu leugnen. Der Naturalismus ist kein blauäugiger Optimismus, jedenfalls nicht zwangsläufig. Wohl aber lässt sich infrage stellen, ob es sinnvoll ist, den diffusen Phänomenbereich mit einem einzigen Begriff abzudecken und die unzähligen Formen, in denen Menschen einander absichtlich schaden, unter dem abstrakten Oberbegriff des ›Bösen‹ zu subsumieren. Derartige Abstrahierungen sind bedenklich, weil sie dazu verleiten, aus abstrakten Eigenschaften eigenständige Entitäten zu machen. Im Fall des ›Bösen‹ setzt dies dann eine Reihe von Fragestellungen in Gang, an deren Ende als Antwort Gott steht: Das hypostasierte ›Böse‹ verlangt zunächst nach einer einheitlichen Ursache, für die sich das personifizierte Böse nahelegt. Als dessen Ursache bietet sich wiederum der Rückgriff auf Gott an. Wird von Anfang an auf eine Hypostasierung des ›Bösen‹ verzichtet, entsteht auch kein Erklärungsbedarf, womit sich auch der Rückgriff auf übernatürliche Akteure erübrigt. Statt um das ›Böse‹ schlechthin, als solches oder an sich geht es um diverse Verhaltensweisen und -dispositionen, für die es unterschiedliche Erklärungen zu finden gilt. Das »Böse« löst sich dabei nicht einfach in Luft auf; es zerfällt vielmehr in seine einzelnen Bestandteile. Dies ermöglicht es, nach den verschiedenen Ursachen und Gründen zu fragen, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen einander umbringen oder schaden. Eine Reihe kleinmaschiger Fragestellungen tritt an die Stelle der großspurigen Frage nach dem ›Bösen‹ 18 schlechthin oder an sich. Vgl. Kekes (2005), 4: »Most of the explanations given in the framework of the religious or the Enlightenment world view assume that evil has a single cause. Evil, however, has many causes: various human propensities; outside influences on their development; and a multiplicity of circumstances in which we live and to which we must respond. Because these causes vary with person, time, and place, an attempt to find the cause of evil is doomed. There is no explanation that fits all or even most cases
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Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um Plan B in Kraft treten zu lassen. Aus einer ambitionierten Metaphysik (oder Theologie) des ›Bösen an sich‹ wird die Wissenschaft vom sog. Bösen. 19 Der Begriff des Bösen kann dabei weiterhin verwendet werden, solange klar bleibt, was damit gemeint ist, nämlich keine mysteriöse Entität, sondern eine Reihe von konkreten Phänomenen wie z. B. Gewalt, Grausamkeit oder Sadismus. Gefragt wird dann nicht mehr im abstrakten Sinn, woher das Böse kommt – unde malum, gefragt wird nach den biologischen, psychologischen, soziologischen oder anderweitigen Ursachen von Gewalt, 20 nach der Evolution egoistischer (und altruistischer) Verhaltensdispositionen, nach den Empathie unterdrückenden oder ausschaltenden Mechanismen 21 oder nach den anatomischen Besonderheiten der Gehirne von Verbrechern 22 , Psychopathen und Sadisten. Aus naturalistischer Sicht erweisen sich bei der Lösung dieser Einzelprobleme übernatürliche Geistwesen – wie der Teufel – als überflüssig. Genau genommen verkomplizieren sie die ganze Sache, indem sie die rätselhaft erscheinenden Beweggründe von Menschen durch das Wirken von Wesen zu erklären vorgeben, über deren Beweggründe so gut wie nichts bekannt ist. Was Menschen in bestimmten Situationen dazu bewegen kann, gewalttätig zu werden, lässt sich historisch und empirisch erforschen. Die Evolution der einschlägigen Motive und Dispositionen (wie z. B. Habgier, Eifersucht, Kränkung) lässt sich hypothetisch rekonstruieren. Was dagegen reine Geistwesen dazu bewegen könnte, von Gott abzufallen und sich irreversibel dem Bösen zu verschreiben, bleibt zwangsläufig im Dunkeln. Die Geneigtheit der menschlichen Natur zum Bösen zu erklären, ist kein einfaches Projekt; erklären zu wollen, warum sich Geistwesen für das Böse entscheiden, ist dagegen ein so gut wie aussichtsloses of evil. Weakness of will, ignorance of the good, defective reasoning, human destructiveness, bad political arrangements, excessive self-love, immoderate pleasure-seeking, revenge, greed, boredom, enjoyment, perversity, provocation, stupidity, fear, callousness, indoctrination, self-deception, negligence, and so forth may all explain some cases of evil.« 19 Vgl. Baron-Cohen (2011). Der Titel seines Buchs »The Science of Evil« signalisiert, dass die ehemals religiösen Erklärungen durch wissenschaftliche ersetzt werden sollen. Indem sich die Wissenschaft des Bösen annimmt, bemächtigt sie sich einer der letzten Themen, die traditionell als Domäne der Religion galten. 20 Vgl. Pinker (2016). 21 Vgl. Baron-Cohen (2011). 22 Vgl. Raine (2013).
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Unterfangen. Selbst der blühendsten Fantasie ist es bisher nicht gelungen, eine plausible Geschichte zu konstruieren. In einem evolutionären Kontext ergeben Motive wie Habgier, Eifersucht oder Neid möglicherweise Sinn, sofern sie für den reproduktiven Erfolg förderlich sind. Werden diese Motive auf Geistwesen projiziert, klingt die ganze Sache eher fantastisch und teilweise völlig abstrus. Wenn sie denn überhaupt existieren sollten, müssen sich Engel nicht um ihren Reproduktionserfolg kümmern, weil sie sich nicht fortpflanzen; sie konkurrieren auch nicht um chronisch zu knapp bemessene Ressourcen, weil sie keine Nahrung zu sich nehmen müssen; sie müssen sich auch nicht einer in ständigem Wandel begriffenen Umwelt anpassen, um überleben zu können, weil sie als reine Geistwesen ohnehin unsterblich sind; ihr Verhalten ist auch nicht vom Funktionieren eines störungsanfälligen Gehirns abhängig, weil sie ein solches per definitionem nicht besitzen. – Das alles sind denkbar schlechte Voraussetzungen, um unter Rückgriff auf derartige Wesen und ihre mutmaßlichen Beweggründe verstehbar zu machen, wie und warum das Böse in die Menschenwelt kam. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn supranaturalistische ›Theorien‹ über den Ursprung des Bösen auf die Auskunft hinauslaufen, der »Teufel und die anderen Dämonen« seien »ihrer Natur nach gut geschaffen«, aber »selbst durch sich böse« 23 geworden. Im Klartext besagt dies, der Teufel wurde böse, weil er sich dazu entschieden hat, böse zu sein. Hinsichtlich ihres Erklärungspotenzials kommt diese Formulierung eher dem Eingeständnis einer Kapitulation gleich. Aus diesem Grund wirken Versuche, das Mysterium menschlicher Bosheit durch die Bosheit übernatürlicher Akteure zu erklären, bei Licht betrachtet wenig erhellend. Wer sich mit Erklärungen à la »durch sich böse« zufrieden gibt, kann seine Ursachenforschung genauso gut schon auf der menschlichen Ebene einstellen, also ohne auf übernatürlicher Akteure zurückzugreifen. Die Auskunft, Menschen sind »durch sich böse« oder haben sich aus freien Stücken dazu entschieden, tut’s auch. Sie ist zwar psychologisch genauso unergiebig, aber wenigstens ontologisch sparsamer. Ein Phänomen bereitet allerdings auch dem Naturalismus Kopfzerbrechen: der Sadismus, also das absichtliche Zufügen von Schmerz, »ohne damit einen anderen Zweck zu verfolgen als sich am Vgl. die Formulierung des 4. Laterankonzils: »Diabolus enim et alii daemones a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali.« (DH 800).
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Leiden eines Menschen zu weiden«. Steven Pinker hat eingeräumt, der Sadismus sei nicht nur »moralisch monströs«, sondern auch »intellektuell verblüffend«. Der Sadist verschaffe sich nämlich »durch die Qualen des Opfers keinen offenkundigen persönlichen oder evolutionären Nutzen« 24 . Aus naturalistischer Sicht muss eine Verhaltensdisposition ohne jeden erkennbaren persönlichen oder evolutionären Nutzen schleierhaft bleiben. Die Formulierung von Pinker ist jedoch missverständlich. Der Sadist verschafft sich sehr wohl einen persönlichen Nutzen, nämlich die Freude oder Lust am Quälen anderer. Was sich nicht erschließt, ist der evolutionäre Nutzen, den eine sadistische Disposition mit sich bringen könnte. Sollte Nietzsche mit seinen Bemerkungen zum »Leiden-sehn« und »Leiden-machen« zwar etwas übertrieben haben, aber nicht ganz falsch liegen, erscheint der Sadismus noch rätselhafter. Aus welchen Gründen sollte eine Verhaltensdisposition, die nichts zur reproduktiven Fitness beiträgt, entstanden sein und sich so weit verbreitet haben? Bliebe dies unerklärlich, hätte der Naturalismus tatsächlich ein Problem mit dem Bösen, weil zumindest ein Phänomen unerklärlich bliebe, das nicht zu Unrecht als dessen Inbegriff gilt. Wenn schon nicht das Böse allgemein, könnte vielleicht doch zumindest der Sadismus das Werk des Teufels oder irgendeiner anderen übernatürlichen Instanz sein. Einiges spricht dafür, dass sich das Böse nicht unabhängig vom Guten verstehen lässt. Die uralte Streitfrage, ob die menschliche Natur zum Bösen oder zum Guten geneigt ist, stellt vor die Wahl zwischen einer pessimistischen und einer optimistischen Antwort. Die realistische Antwort dürfte lauten, dass die menschliche Natur ambivalent ist. »There are basic human propensities leading to both good and evil actions, such as altruism and selfishness, love and hate, justice and injustice, kindness and cruelty.« 25 Menschen schaden und töten einander aus unterschiedlichen Gründen; aber sie kooperieren auch miteinander oder stehen einander bei, und zwar ebenfalls aus unterschiedlichen Gründen. Frans de Waal betont seit geraumer Zeit, dass diese Ambivalenz nicht erst mit dem Homo sapiens in Erscheinung trat: »Everything started simple. This holds not only for our bodies […] but equally for our mind and behavior. The belief that morality somehow escapes this humble origin has been drilled into 24 25
Pinker (2016), 810. Kekes (2005), 183.
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us by religion and embraced by philosophy. It is sharply at odds, however, with what modern science tells us about the primacy of intuitions and emotions. It is also at odds with what we know about other animals. Some say that animals are what they are, whereas our own species follows ideals, but this is easily proven wrong. Not because we don’t have ideals, but because other species have them, too.« 26 Die Naturalisierung des Bösen ist Teil des breiter angelegten Projekts der Naturalisierung der Moral in einer Wissenschaft von Gut und Böse. In diesem Rahmen könnte auch Licht in das Dunkel des Sadismus gebracht werden. 27 Sadismus setzt eine Fähigkeit voraus, die auch dem zugrunde liegt, was mit dem Guten assoziiert wird: die Fähigkeit zur Empathie. Als kognitive Empathie wird die Fähigkeit bezeichnet, die Gefühle anderer erkennen bzw. ›lesen‹ zu können. Anders als etwa Autisten beherrschen Sadisten diese Fähigkeit, andernfalls könnte ihnen der Schmerz anderer keine Lust bereiten. Was Psychopathen 28 und Sadisten abgeht, ist die sog. emotionale Empathie, also das Empfinden von Mitgefühl bzw. Mitleid. Psychopathen und Sadisten nehmen den Schmerz ihrer Opfer durchaus wahr und verstehen, was in anderen vorgeht. Beide erleben den Schmerz anderer aber nicht als ihren eigenen. Erstere lässt er emotional unberührt, letzteren bereitet er Vergnügen oder Lust. Dem Sadismus könnte eine Fehlfunktion dessen zugrunde liegen, was Simon Baron-Cohen als Empathy Circuit bezeichnet hat, 29 als komplexen ›Schaltkreis‹, dessen reibungsloses Funktionieren Mitgefühl entstehen und wirksam werden lässt. Wie jedes hinreichend komplexe System ist auch dieses störungs- und fehleranfällig. Verschiedene Faktoren – neurologische, psychologische, soziologische – können die kognitive und/oder emotionale Empathiefähigkeit vorübergehend oder dauerhaft reduzieren oder komplett abschalten. Wenn sich in all den unzähligen Formen des Bösen überhaupt ein homogenes Muster abzeichnet, dann kommt dafür am ehesten der Mangel oder die Abwesenheit von Empathie infrage.
De Waal (2013), 226 f. Eine andere etwas verstiegen anmutende Erklärung schlägt Colin McGinn vor. Seines Erachtens geht es dem Sadisten um die Macht über sein Opfer, genaugenommen um die Macht, dem Opfer aufgrund der ihm zugefügten Qualen den Wert des Lebens zu vergällen. Das Opfer wünscht sich, tot zu sein. Vgl. McGinn (2003), 77. 28 Vgl. Hare (1993), 44 f. 29 Vgl. Baron-Cohen (2011), 171. 26 27
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Das Böse zwischen Supranaturalismus und Naturalismus
Die Wissenschaft von Gut und Böse lässt den Glauben an Teufel und Dämonen zwangsläufig wie Überbleibsel aus einer Zeit erscheinen, in der niemand »auch nur den Hauch einer Ahnung davon hatte, was passierte« 30 . Übernatürliche Akteure besitzen nicht nur keinerlei Erklärungsrelevanz, sondern erweisen sich beim Versuch, das Böse in den Griff zu bekommen, als kontraproduktiv: Sich auf den Teufel als Urheber des Bösen zu kaprizieren, heißt die wahren Ursachen von Gewalt, Grausamkeit usw. zu verkennen. Wer diese Ursachen nicht erkennt, kann ihnen auch nicht erfolgreich entgegensteuern.
Literaturverzeichnis Baron-Cohen, Simon (2011), The Science of Evil. On Empathy and the Origins of Cruelty, New York. Capote, Truman (2014), Kaltblütig. Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen, 40. Aufl., Reinbek. De Waal, Frans (2013), The Bonobo and the Atheist. In Search of Humanism Among the Primates, New York-London. Flasch, Kurt (2015), Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie, München. Hare, Robert D. (1993), Without Conscience. The Disturbing World of the Psychopaths Among Us, New York–London. Hitchens, Christopher (2007), Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, München. Kekes, John (2005), The Roots of Evil, Ithaca-London. McGinn, C. (2003), Ethics, Evil, and Fiction, Oxford. Milgram, Stanley (1975), Obedience to Authority, New York. Pagels, Elaine (1996), The Origin of Satan, New York. Pinker, Steven (2016), Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. Raine, Adrian (2013), The Anatomy of Violence. The Biological Roots of Crime, New York. Rees, Laurence (2015), Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens, 6. Aufl., Berlin. Russell, Jeffrey Burton (2000), Biographie des Teufels, Wien. Zimbardo, Philip G. (2007), The Lucifer Effect. How Good People Turn Evil, London.
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Hitchens (2007), 84.
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Sieben Zweifel des Teufels Eine Passage zur Theodizeeproblematik in der Doxographie des Muḥammad al-Šahrastānī Heidrun Eichner
In der diskursiv ausgerichteten Theologie (kalām) des Islam ist ›das Böse‹ als fundamentales Problem nur wenig prominent. Gegenüber dem Wirken des allmächtigen einen Gottes, das durch Güte und Gerechtigkeit geprägt ist, erlangt ein personalisiertes Gegenprinzip in Gestalt eines Teufels o. ä. nur wenig Wirkmächtigkeit. Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag einen für die orthodoxe islamische Theologie ungewöhnlichen Passus in der Doxographie Kitāb al-Milal wa-l-niḥal (›Buch der Religionen und Sekten‹) des Muḥammad al-Šahrastānī (st. 1153) vorstellen. Dort tritt der Satan Iblīs mit einer Serie von sieben Zweifeln an der Weisheit Gottes auf. In diesem Passus wird die Theodizeeproblematik mit der Existenz der Gestalt des Iblīs in Verbindung gebracht und auf diesen konzentriert, also eine sonst in der theologischen Tradition des sunnitischen Islam ungewöhnliche Verbindung. Zunächst beginne ich mit einem Überblick über die Kontexte von Theorien des Schlechten und Bösen im Islam, in die dieser Text al-Šahrastānīs einzufügen ist. 1 Der Text des Koran kennt durchaus Teufelsfiguren, die als eine Art Engel und Geistwesen konzipiert sind. Während ihr häufigster Name šayṭān/šayāṭīn im Koran sie als Wiedergänger des Satans der anderen abrahamitischen Religionen ausweist, erscheint die Beschreibung ihrer Aktivitäten an vielen Stellen des Koran eher durch Vorstellungen von Wüstengeistern und Dschinnen der arabischen Halbinsel geprägt. Die jeweilige Wirkmächtigkeit der šayāṭīn ist beEinen guten Überblick über verschiedene Kontexte des ›Bösen‹ im Rahmen des Islam bietet Schulze (2003), dabei wird auch die arabische Terminologie differenziert beleuchtet. Wichtige Einführungen sind auch die Bücher von Grunebaum (1972) sowie für die koranische Erzählung Beck (1976). Der Sammelband Das Böse in der Sicht des Islams [Berger (2009)] verbleibt eher an der Oberfläche. Die ›Biographie‹ des islamischen Satans im Kontext verschiedener Quellentypen (auch außerhalb des Sufismus) ist Gegenstand der grundlegenden Studie Satan’s Tragedy and Redemption: Iblīs in Sufi Psychology, Awn (1983).
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schränkt. Ähnlich wie ein Dichter durch seinen ǧinn inspiriert werden kann oder ein Wüstenreisender durch einen ġūl auf Abwege gelockt werden kann, gesellen sich diese Satane einzelnen Personen bei und bedenken sie mit (irreführenden) Einflüsterungen. 2 Eine besondere Rolle nimmt im koranischen Pandämonium die Gestalt des Iblīs ein: An mehreren Stellen des Koran wird die Geschichte der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies ausgeführt, und Iblīs ist hier der Satan, der die Ureltern der Menschen zum schweren Fehltritt verführt. 3 Iblīs’ Feindschaft dem Menschen gegenüber speist sich aus seinem Hochmut. Iblīs verweigert als einziger Gottes Befehl an die Engel, sich vor Adam niederzuwerfen. Iblīs argumentiert, er sei aus Licht (nūr) / Feuer (nār) erschaffen, während Adam nur aus Lehm (ṭīn) besteht. Gott verflucht Iblīs daraufhin, Iblīs erhält aber bis zum jüngsten Tag Aufschub – erst dann muss er in die Hölle. Zuvor kann er versuchen, Menschen als Anhänger zu gewinnen, die ihm dann in die Hölle folgen werden. 4 In der zweiten ausführlichen Schilderung verweigert Iblīs als Einziger der Engel die Proskynese vor dem soeben geschaffenen Adam, und trotz Gottes Warnung an Adam vor seiner Feindschaft gelingt es Iblīs, Adam dazu zu motivieren, vom ›Baum der Unsterblichkeit und der Herrschaft, die nicht vergeht‹ (šaǧarat al-ḫuld wa-mulk lā yablā) zu essen. Adam und Eva kannten vorher keinen Hunger und keine Nacktheit, nun aber müssen sie das Paradies verlassen, Gott bietet auf Erden aber weiter seine Rechtleitung an. 5 Ein weiterer hier relevanter Traditionsstrang im Koran neben den Parallelen zur alttestamentlichen Überlieferung ist durch die beiden letzten Suren 113 und 114 repräsentiert. Ihnen wird eine apotropäische Wirkung zugeschrieben. Diese beiden frühen, sehr kurzen und poetischen Suren sind unter dem Namen al-muʿ awwiḏatāni, ›die Zu Geistervorstellungen auf der arabischen Halbinsel vor dem Islam allgemein, siehe Fahd (1968). Ein breites Spektrum an Quellen zum Dämonenglauben in der islamischen Zeit bei Nünlist (2015), zur frühen theologischen Tradition vgl. auch van Ess (ThuG), 4:534–541. 3 Als wissenschaftlich fundierte Koranübersetzungen ins Deutsche sind grundsätzlich zu empfehlen Paret (1971) mit diversen Neuauflagen sowie (sprachlich schöner) Bobzin (2010). Zu den verschiedenen Elementen der Erzählung von Iblīs im Koran s. Beck (1976), zur Darstellung Adams im Koran allgemein s. Schöck (1993), überblicksweise zum Menschenbild in der islamischen Theologie s. Berger (2010), 178–183, spezifisch zur Sündhaftigkeit Adams s. Schöck (1993), 89–132. 4 Siehe Koran, Sure 38:71–85. 5 Siehe Koran, Sure 20:116–126. 2
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zwei Zufluchtgewährenden‹, bekannt. Gott in seiner Allmacht (›Herr der Morgenröte‹, ›Herr der Menschen‹, ›König der Menschen‹, ›Gott der Menschen‹) soll angerufen werden, um Zuflucht gegenüber Bösem und Schlechtem (šarr) zu gewähren. Dabei spielen beiden Suren auf magische Praktiken (›auf Knoten spucken‹) an, diese Praktiken werden zusammen mit Neid als Motivation für die Entstehung von Bösem genannt. 6 Der Text des Koran bietet also durchaus Anknüpfungspunkte für eine umfassendere Theorie des personalisierten Bösen. Die muslimischen Exegeten ziehen zur Interpretation des Koran in großem Umfang Material der jüdischen und christlichen Überlieferung heran, so auch zur Geschichte des Sündenfalls. Dennoch findet das Böse als eigenständiges oder gar kosmisches Wirkprinzip in der theologischen Diskussion des Islam keinen systematischen Platz. Die Natur (fiṭra) des Menschen ist grundsätzlich gut. 7 Zentral ist hier ein vielfach zitierter Ḥadīṯ (d. h.: überlieferter Ausspruch des Propheten): »Jeder Mensch wird gemäß der fitra geboren. Seine Eltern machen aus ihm einen Juden, Christen oder Zoroastrier.« Durch schlechte Einflüsse irrt der Mensch evtl. vom rechten Weg ab, aber die Grundanlage des Menschen ist gut und entspricht dem Islam. Eine konsequente Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen und Wirkweisen des Teufels finden am ehesten einen Platz in der Psychoedukation der Islamischen Mystik (taṣawwuf). Hier beschäftigen sich Autoren systematisch damit, wie man den diversen Schwachstellen der menschlichen Seele durch die Praxis des Mystikers begegnen kann. Die menschliche Triebseele stachelt dabei immer wieder zu schlechtem Handeln auf – in dieser Eigenschaft wird sie auch schon im Koran erwähnt. (Koran 12:53 al-nafs al-ammāra bil-sūʾ ›die Seele, wenn sie Schlechtes gebietet‹). Wir hören dabei öfters, dass dieser stete Kampf der Gottesdiener den Teufel auf den Plan ruft, der mit viel Engagement den Erfolg ihres Strebens verhindern möchte. 8 Für die systematische Theologie des Islam steht nicht das abstrakte Böse, sondern die konkrete ethische Bewertung von Einzelhandlungen und die Zuschreibung von Handlungskomponenten an Siehe Koran, Sure Sure 113 & 114. Für eine ausführliche Übersichtsdarstellung zu verschiedenen Kontexten, in denen der fiṭra-Begriff genutzt wird, s. Gobillot (2000). 8 Vgl. z. B. Schulze (2003), 185–196; Awn (1983), 57–89 und 122–149. 6 7
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Gott oder den Menschen im Vordergrund. Theorien zur ontologischen Begründung menschlicher Handlungsfähigkeit werden zu einem der wichtigsten Motoren für die Herausbildung einer theoretisch und diskursiv orientierten Theologie im frühen Islam. Im Laufe des 2. Jhdts. islamischer Zeitrechnung konzentrieren sich zunächst noch unsystematische Diskussionen um den Begriff des qadar, ›zugemessene Fähigkeit‹. Unter dem Namen Qadarīya wird dann eine theologische Strömung von ›Anhängern des qadar‹ gefaßt, die später in der theologischen Schule der Muʿ tazila aufgeht. 9 Mit der Muʿ tazila und der Ašʿ arīya bilden sich zwei grundlegende theologische Richtungen des Islam heraus, deren Antagonismus sehr prominent im Bereich der Handlungstheorie an den Tag tritt. Das Zusammenwirken von Gott und Mensch beim Zustandekommen der menschlichen Handlung wird in hochentwickelten Theorien behandelt, die weitgehend durch ein atomistisch geprägtes Handlungsverständnis geprägt sind: Die einzelne Handlung ist ermöglicht durch eine konkrete Handlungsmacht (qudra) im Menschen, die dem Menschen von Gott zugeteilt wird. 10 Die Ašʿ ariten verbinden mit der Bezeichnung qadarīya, die sie auf ihre muʿ tazilitischen Gegner anwenden, die Unterstellung, die Muʿ taziliten würden Gott beim Zustandekommen von Handlungen vollständig entmächtigen und alle Fähigkeit (qadar) nur dem Menschen zuschreiben. Die Muʿ taziliten ihrerseits bezeichnen die Ašʿ ariten als ǧabrīya (ǧabr ›Zwang‹), d. h., aus ihrer Sicht handelt gemäß der ašʿ aritischen Lehre der Mensch nicht selbst, sondern er steht unter dem steten Zwang Gottes. Mit Blick auf die ontologische Begründung der (juristischen und moralischen) Bewertung in ethischen Kategorien ist die grundlegende Streitfrage zwischen diesen beiden Schulen einerseits die Frage, ob Gott ›gut‹ und ›böse‹ als Bewertungskriterien einer menschlichen Handlung erst durch seine Offenbarung definiert (dies ist die Position der Ašʿ arīya), oder ob die Bewertungen ›gut‹ und ›böse‹ sich aus Vernunftkriterien herleiten lassen, die sich dann sekundär auch in der Offenbarung ausdrücken (dies ist die Position der Muʿ tazila). 11 Die Grundlegend zur Entwicklung der Qadarīya sowie der Herausbildung der Diskursformen islamischer Theologie van Ess (1975), Judd (2016). 10 Einen einführender Überblick zur Herausbildung von Aš ariya und Mu tazila gibt ʿ ʿ Berger (2010), 73–85. 11 Ein aš aritisches Handbuch des 13./14. Jhdts. stellt das so dar: »Wenn nun feststeht, ʿ dass das, was ›gut‹ und ›schlecht‹ beurteilt, die Offenbarung ist, steht es fest, dass es 9
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Muʿ tazila (die sich in ihrer frühen Eigenbezeichnung auch als ahl alʿ adl wa-l-tawḥīḍ, ›Leute der Gerechtigkeit und des Eingottglaubens‹ bezeichnen) tendiert dabei insgesamt dazu, sehr strenge Maßstäbe an die logische Stringenz der Gotteskonzeption zu legen, sei es die Konstituierung der göttlichen Einheit in Relation zu den göttlichen Eigenschaftsattributen, sei es die göttliche Gerechtigkeit. Eine weitverbreitete Anekdote, wieso al-Ašʿ arī sich anlässlich einer Schuldiskussion über das jenseitige Schicksal dreier Brüder von der Muʿ tazila abwendete und seine eigene Lehre begründete, knüpft genau an den Widersprüchen an, in die ein konsequentes Weiterdenken der göttlichen Strafgerechtigkeit führen kann. 12 Dort, wo die islamische Theologie mit aus der Antike fortgeführten philosophischen Traditionen in Berührung kommt, finden sich auch entsprechende Einflüsse. Für einen Philosophen wie Avicenna, der Gott mit dem ›reinen Guten‹ identifiziert, bietet sich die Übernahme neuplatonischer Privationstheorien an, aus Avicennas Werk wirkt dies direkt und indirekt auf spätere theologische Autoren. Dass die systematische Theologie des Islam so konsequent ›das Böse‹ nicht als kohärentes Wirkprinzip sieht, steht im auffälligen Gegensatz zur religiösen Stimmung der ausgehenden Spätantike, die das Umfeld des entstehenden Islam prägt. Der Islam kennt keine Erbsünde, es gehört zur Kernbotschaft des Islam, dass Jesus als ein Prophet
keine Beurteilung der Handlungen vor der Offenbarung gibt. Die Muʿ tazila sagt: Dasjenige, dessen Gutheit oder Schlechtheit durch den Intellekt beurteilt wird, teilt sich in fünf Gruppen …«. [al-Īǧī (o. J.), 327]. 12 Übersichtsweise mit weiteren Verweisen zur frühen Entwicklung der Theodizeeproblematik zwischen Muʿ tazila und Ašʿ arīya van Ess (1991–1997), 4:506–512. Eine knapp ausgestaltete Version der Konversionsanekdote in al-Īǧīs K. al-Mawāqif, s.alĪǧī (o. J.), 329,18–330,1: »al-Ašʿ arī sagte zu [seinem muʿ tazilitischen Lehrer] Abū ʿ Alī al-Ǧubbāʾ ī: Was sagst Du über diese drei Brüder? Einer lebte in Gehorsam, einer lebte in Sünde, einer starb als er noch klein war. Er [Abū ʿ Alī al-Ǧubbāʾ ī] sagte: Der erste wird mit dem Paradies belohnt, der zweite mit Feuer bestraft, der dritte weder belohnt noch bestraft. Er [al-Ašʿ arī] sagte: Was ist, wenn der dritte sagt: Oh Herr, wenn Du mich hättest leben lassen, so wäre ich rechtschaffen geworden und ins Paradies eingetreten? Er [Abū ʿ Alī al-Ǧubbāʾ ī] sagte: Dann sagt der Herr: Ich weiß, dass Du dann, wenn Du gelebt hättest, gesündigt hättest und schlecht geraten wärst, und Du ins Feuer eingegangen wärst. Er [al-Ašʿ arī] sagte: Dann sagt der zweite: Oh Herr, warum hast Du mich nicht sterben lassen, als ich noch klein war, damit ich nicht sündige und nicht ins Feuer eingehe, so wie Du meinen Bruder hast sterben lassen? Da schwieg er [Abū ʿ Alī al-Ǧubbāʾ ī], und al-Ašʿ arī verließ seine Lehre und schloss sich der wahren Lehre an.
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unter vielen auftritt, nicht aber als Gottessohn am Kreuz stirbt. 13 Entsprechend distanziert sich die positive Anthropologie des Islam, die dabei den Islam als grundsätzliche gesunde Naturanlage (fiṭra) des Menschen betrachtet, dezidiert von einer grundsätzlichen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Möglicherweise noch wichtiger als die Abgrenzung gegenüber dem Christentum ist aber, dass das expandierende islamische Gemeinwesen im Bereich des Iran immer wieder mit verschiedenen Ausprägungen dualistischer Religionen in Berührung kam. Das islamische Bekenntnis zum strikten Eingottglauben (tawḥīd) ist also nicht nur gegen eine trinitarische Christologie gerichtet, sondern auch gegen dualistische Weltbilder. Insbesondere der Manichäismus stellt dabei für die islamischen Doxographen eine abstrakte Faszination, aber durchaus auch einen real ernstzunehmenden Gegner dar. 14 In diesen Kontext möchte ich hier eine im Rahmen der ašʿ aritischen Theologie singuläre Textpassage stellen. Sie weist Iblīs eine herausragende Rolle als Häresiarch zu und beschreibt ihn dabei – anders als sonst in der islamisch-theologischen Tradition – als systematisch für das Böse in der Welt verantwortlich. Die Passage stammt aus Muḥammad al-Šahrastānīs Doxographie K. al-milal wa-l-niḥal, einem seit seiner Entstehung viel rezipierten Standardwerk. 15 Der Autor ist in seiner theologischen Dogmatik Ašʿ arit, der allerdings auch den Lehren der ismailitischen Schia zugeneigt war. In dieser Passage des K. al-milal wa-l-niḥal tritt Iblīs mit einer Reihe von sieben Vorwürfen gegen Gott auf, die systematisch die Gerechtigkeit Gottes und sein sinnhaftes Handeln infrage stellen. al-Šahrastānī schreibt diesen monologischen Fragenkatalog des Iblīs jüdischen und christlichen Bibelkommentaren zu – die Details der Diskussion lassen aber klar den Hintergrund der zeitgenössischen islamischen theologischen Handlungstheorie erkennen. Die Vorwürfe Satans werden im Rahmen einer Präambel § 3 zu al-Šahrastānīs Gesamtwerk präsentiert. Präambel § 3 hat den Titel: »Darlegung der ersten Zweifelsfrage (šubha) 16 in der Schöpfung – wer war ihr UrHierzu im Kontext der Koranexegese z. B. Busse (2001). Eine umfassende Zusammenstellung islamischer doxographischer Berichte zum Manichäismus in englischer Übersetzung bietet Reeves (2011). 15 Allgemein zu al-Šahrastānīs K. al-milal wa-l-niḥal van Ess (2011), 860–900. Das Werk lag bereits 1850 unter dem Titel Religionspartheien und Philosophen-Schulen in deutscher Übersetzung von Theodor Haarbrücker vor. 16 Die gesamte Diskussion zwischen Gott und Iblīs ist hier im Stil einer scholastischen 13 14
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heber zu Beginn, und bei wem manifestierte sie sich später«. Die folgende Präambel § 4 zählt dann 10 Meinungsverschiedenheiten (ḫilāf) als erste Zweifelsfragen (šubha) im Islam auf. Die von Iblīs vorgebrachten Einwände nehmen im Gesamtaufbau der Doxographie eine wichtige Rolle ein – sie sind laut alŠahrastānī die Punkte, auf die sich alle Häresien seit Beginn der Schöpfung zurückführen lassen: Wisse, dass die erste Zweifelsfrage (šubha), die sich in der Schöpfung ereignet hat, die Zweifelsfrage von Iblīs war – Gott möge ihn verfluchen. Ihr Ursprung war, dass er seine Meinung (raʾ y) gegenüber der wörtlichen Anweisung (naṣṣ) privilegieren wollte, und dass er sein Gutdünken (al-hawā) frei wählen wollte gegenüber dem Befehl (amr). Er hielt die Materie, aus der er geschaffen wurde, das Feuer, für wertvoller als die Materie, aus der Adam geschaffen wurde, nämlich Lehm. Aus dieser Zweifelsfrage verzweigten sich sieben Zweifelsfragen und breiteten sich in der Schöpfung aus. Sie breiteten sich aus in den Köpfen der Menschen, so dass sie Lehren wurden, die Neuerung und Irrtum beinhalteten. Diese Zweifelsfragen sind verzeichnet in den vier Evangelien […] und sie werden erwähnt in der Thora, aufgeteilt in der Form einer Diskussion zwischen ihm [= Iblīs] und den Engeln nach dem Befehl sich niederzuwerfen und seiner Weigerung. 17
Der ašʿ aritische Theologe Faḫr al-Dīn al-Rāzī (d. 1210) übernimmt etwas verkürzend in seinen al-Riyāḍ al-Mūniqa gleichfalls an zentraler Stelle diese Zweifel Satans aus dem K. al-milal wa-l-niḥal. 18 al-Rāzī merkt aber an, dass die dort ausgebreitete Theodizeeproblematik keineswegs das gesamte Spektrum möglicher Irrlehren abdeckt, sondern dass es vielmehr auch andere fundamental kontroverse Themen der Theologie gibt: al-Šahrastānī behauptet, dass der Ursprung des Irregehens in der Schöpfung bei sorgfältiger Betrachtung diese sieben Zweifelsfragen sind. So ist es aber nicht, denn all diese [erwähnten Fragen] haben ihren Ursprung im Bereich der Rechtfertigung [Gottes] (taʿ dīl wa-taǧwīr). Die Streitfragen, die sich aus der Frage der zeitlichen Entstehung der Welt ergeben, sowie
Diskussion (munāẓara) beschrieben. Der Terminus šubha bezeichnet einen Einwand, den man gegen eine feststehende Lehre oder ein Zwischenergebnis erhebt, um diese anzuzweifeln und zu entkräften. In einem weiteren Schritt werden solche šubahāt in der literarischen Konvention der scholastischen Diskussion dann entkräftet. šubha und noch stärker der Terminus tamwīh sind dabei negativ konnotiert. 17 al-Šahrastānī (1992), 7,5–12. 18 Das ganze Kapitel: s. al-Rāzī (2004), 43–45.
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aus dem Erweis des Schöpfers und der Attribute, stehen völlig außerhalb hiervon. 19
An der Wurzel der sieben Zweifel zur Theodizee sieht al-Šahrastānī zwei Grundprobleme, die Nichtbeachtung eines explizit angewiesenen Textes (naṣṣ) und eines expliziten Befehls (amr). Dies führt er auch nochmals aus: Dies ist erwähnt in der Thora und geschrieben im Evangelium, wie ich erwähnt habe. Eine Zeit lang habe ich nachgedacht. Ich sage: Es ist unzweifelhaft bekannt, dass jeder Zwist der das Menschengeschlecht befallen hat, nur durch die Irreführung des verdammten Satans und seine Einflüsterung stattgefunden hat und aus seinen Zweifelsfragen erwachsen ist. Wenn die Zweifelsfragen auf diese sieben beschränkt sind, gehen die großen ketzerischen Innovationen und Irrtümer auf diese sieben zurück. Die Streitfragen der irregehenden und ungläubigen Gruppierungen (firaq al-zayġ wa-lkufr) sind nicht mehr als diese, auch wenn die Worte verschieden und die Methoden unterschiedlich sind. Sie sind wie Saatkörner für die verschiedenen Arten des Irrtums. Allesamt gehen sie zurück auf das Verleugnen des Befehls (amr) nachdem man die Wahrheit anerkannt hat und auf die Neigung zum Gutdünken gegenüber dem expliziten Text (naṣṣ). 20
Grundsätzlich steht diese Rolle des Iblīs als Häresiarch durchaus in Einklang mit dem islamischen Verständnis der Rolle Satans als eines Unruhestifters und Urhebers von Einflüsterungen von begrenzter Wirkmächtigkeit. In vergleichbarer Weise ist der Einfluss des Iblīs auf Vertreter verschiedener Lehrmeinungen auch das Grundmotiv in Ibn al-Ǧawzīs Talbīs Iblīs (›Die verwirrende Verkleidung Satans‹). Hier handelt es sich um ein Werk, das systematisch verschiedene Lehren darstellt und dabei gelegentlich in Einschüben das Wirken Satans auf die Lehren der einzelnen Gruppen herausstreicht. Ob diese Konzeptionalisierung des Iblīs im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Doxographie bei Ibn al-Ǧawzī in direktem Zusammenhang mit der Darstellung bei al-Šahrastānī steht, lässt sich angesichts der derzeit noch sehr mangelhaften Situation der Erforschung der Quellenüberlieferung in der islamischen Doxographie nicht entscheiden. 21 al-Rāzī (2004), 45, 6–9. al-Šahrastānī (1992), 8,18–9,2. 21 Eine breit angelegte Untersuchung zur islamischen doxographischen Tradition liegt vor mit van Ess (2011). Eine systematische Quellenaufstellung wird dort aber nicht versucht. Für Informationen zu indischen Religionen erarbeitet Lawrence (2011) eine Stemmatisierungshypothese, für eine Zusammenschau der Überlieferung zum Manichäismus Reeves (2011). 19 20
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Ibn al-Ǧawzī preist in seiner Einführung in das Werk die Wichtigkeit des Intellekts (ʿ aql) im Zusammenspiel mit der Offenbarung. 22 Hier liegt allerdings der Angriffspunkt für Iblīs: Wisse, dass die Propheten eine ausreichende deutliche Erklärung (bayān kāfī) überbracht haben und den Krankheiten mit heilendem Medikament (dawāʾ šāfī) entgegengetreten sind und miteinander einig waren. Satan hat sich aufgemacht und die Erklärung mit Zweifeln (šubah) vermischt, und das Medikament mit Gift, und er hat den klar sichtbaren Weg mit irreführendem Gestrüpp versehen. Unaufhörlich trieb er sein Spiel mit den Intellekten. 23
Ibn al-Ǧawzī warnt weiter vor den Listen (makāyid) Satans, indem er die einzelnen Irrmeinungen darstellt. 24 Wie al-Šahrastānī greift Ibn al-Ǧawzī an zentraler Stelle seines Werkes auf eine an die Koranexegese zur verweigerten Proskynese des Iblīs angelehnte Tradition zurück. Genau wie al-Šahrastānī erklärt auch Ibn al-Ǧawzī die Auflehnung des Iblīs gegen Befehl (amr) und expliziten Text (naṣṣ) zum Grundproblem. Er nimmt dabei Bezug auf den Titel seines Werkes Talbīs Iblīs: Du musst wissen, dass Iblīs, dessen Tagewerk das verwirrende Anlegen von Verkleidungen (talbīs) ist, als erstes den Befehl (amr) verunklart hat. Er wandte sich vom deutlichen Text (al-naṣṣ al-ṣarīḥ) bezüglich der Proskynese ab und fing an, die Grundelemente gegeneinander auszuspielen: »Mich hat er aus Feuer geschaffen, und Dich hat er aus Lehm geschaffen«, dann fügte er hier einen Einwand (iʿ tirāḍ) gegen den weisen König ein […]. Dieser Einwand behauptete verblendet, dass das, was Er geschaffen hatte, nicht Weisheit (hikma) sei. Dann ließ er darauf Hochmut folgen […]. Er verweigerte sich der Niederwerfung, und er machte sich selbst verächtlich durch Fluch und Strafe, wo er doch eine Verherrlichung gewollt hatte. 25
Wir finden also in mehreren doxographisch orientierten Texten des 12. Jhdts. (möglicherweise in Abhängigkeit voneinander) eine vergleichbare Porträtierung von Iblīs als Wurzel aller willkürlich eingeschlagenen Irrlehren. al-Šahrastānīs Auflistung der Zweifel des Iblīs ist dabei in ihrer Konzentration auf die Theodizeefrage sehr ungewöhnlich für die theologische Tradition des Islam und wird von den anderen drei nahestehenden Texten so auch nicht völlig übernom22 23 24 25
Ibn al-Ǧawzī (1949), 2,11 ff. Ibn al-Ǧawzī (1949), 3,5–7. Cf. Ibn al-Ǧawzī (1949), 4,17–19. Ibn al-Ǧawzī (1949), 24,1–6.
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men. Bei al-Šahrastānī verbindet Iblīs eine fundamentale Kritik an der göttlichen Weisheit mit der Frage nach seiner eigenen Existenz. Die kolportierte Antwort, die Gott den Engeln als Antwort eingegeben hat, geht dabei nicht auf die einzelnen Argumente des Iblīs ein: Gott ist grundsätzlich keine Rechenschaft schuldig, und allein die Tatsache, dass Iblīs diskutieren möchte, zeigt seine Unaufrichtigkeit. Der Kommentator des Evangeliums berichtet: Gott verlieh den Engeln eine Eingebung und sie sagten: Du bist bei Deiner ersten Unterwerfung unter den Glauben (taslīm) »Ich bin Dein Gott und der Gott der Schöpfung« nicht wahrhaft und aufrichtig. Würdest Du nämlich »Ich bin der Gott der Welten« für wahr halten, dann würdest Du mit mir nicht rechten um ein »warum?«, denn ich bin der Gott, von dem es gilt »es gibt keinen Gott außer mir, ich frage nicht, was ich mache, so dass die Schöpfung gefragt wäre «. Das, was ich hier erwähnt habe, ist in der Thora erwähnt und im Evangelium geschrieben in der Art, die ich erwähnt habe. 26
Faḫr al-Dīn al-Rāzī führt die sieben Zweifel Satans (in wörtlich identischer Form gegenüber al-Šahrastānī genauso verkürzt wie in alRiyāḍ al-Mūniqa) auch in seinem großen Korankommentar zu Sure 2:34 an. Auch hier nennt Faḫr al-Dīn al-Rāzī al-Šahrastānīs K. almilal wa-l-niḥal als seine Quelle. 27 Er passt dies ein in eine Diskussion (Problem (masʾ ala) 6), ob Iblīs bereits vor der verweigerten Proskynese ungläubig war (Option 1, hierfür wird al-Šahrastānī herangezogen) oder erst danach ungläubig wurde (Option 2). Seine dezidierte Entscheidung dafür, dass Iblīs von Anbeginn ›ungläubig‹ war, stellt hierbei gegenüber der früheren exegetischen Tradition zu dieser Stelle eine erhebliche Innovation dar. 28 In seinem Korankommentar fügt al-Rāzī nochmals eine abschließende Bewertung der Zweifel des Iblīs ein und betont, dass nur die erwähnte von Gott eingegebene Antwort der Engel die aufgewor-
al-Šahrastānī (1992), 8,15–19. Ähnlich (leicht verkürzt) auch die beiden Texte von al-Rāzī. 27 al-Rāzī (2005), 256,11. 28 Die Darstellung bei Schulze (2005) bezieht sich auf die späte exegetische Tradition, die u. a. durch die hier diskutierte Stelle in Rāzīs großen Kommentar beeinflusst ist. Ältere Kommentare (z. B. al-Ṭabarī) diskutieren hier gerade nicht, ob Iblīs bereits vor der verweigerten Proskynese ungläubig war, sondern sie erklären die (aus ihrer Perspektive störende) Erwähnung seiner Ungläubigkeit im Korantext 2:34, »… wa-kāna min al-kāfirīn und er gehörte zu den Ungläubigen/Undankbaren« dahingehend, dass Gott bereits vorher gewusst habe, dass er später ungläubig werden würde. 26
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fenen Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes lösen kann – ansonsten müssten die Zweifel Satans ihre Gültigkeit behalten. Dabei wird das Argument von einem anti-muʿ tazilitische Impetus geleitet – wenn man Gutes und Schlechtes durch den Intellekt definieren möchte (wie es die Muʿ taziliten tun), kann man diese aufgeworfenen Fragen niemals befriedigend erklären: Wisse: Selbst wenn sich alle Geschöpfe, die früheren wie die späteren, einig wären und urteilten dass der Intellekt das Gute und Schlechte setzt, würden sie keinen Ausweg finden aus diesen Zweifeln, und alle [Zweifel] würden notwendig folgen. Wenn wir aber mit dieser von Gott erwähnten Antwort antworten, dann hören all die Zweifelsfragen auf, und die Einwendungen werden abgewehrt. 29
Obwohl die Passage in al-Šahrastānīs K. al-milal wa-l-niḥal Teil eines viel rezipierten Werkes ist, steht sie als Fremdkörper in der theologischen Tradition, und die eigentlichen Argumente der dort angerissenen Theodizeeproblematik werden in der weiteren Diskussion nicht fruchtbar aufgenommen: al-Rāzī bezieht sich zwar zweimal explizit auf die Passage, in seinem Korankommentar motiviert sie ihn sogar dazu, Iblīs entgegen dem sonstigen Standard der frühen sunnitischen Exegese als von Anbeginn der Schöpfung bösartig zu beschreiben. Jedoch sieht er sich in beiden Fällen veranlasst, eine kurze Bemerkung einzuschieben, die die zitierte Passage zurechtrückt und kontextualisiert. Ibn al-Ǧawzī scheint von der gleichen Tradition (entweder mit Rückgriff auf al-Šahrastānī oder eine verwandte Quelle) dazu motiviert, sein Werk von den Verkleidungen des Satans als systematische Kritik verschiedener Lehrmeinungen auszugestalten. Dabei ist der Einfluss allerdings wohl primär auf das Motiv der literarischen Ausgestaltung beschränkt.
Iblīs’ Zweifel – Text und Kommentar Hier möchte ich abschließend die sieben Zweifel in der Fassung alŠahrastānis in deutscher Übersetzung vorstellen und sie im Zusammenhang islamischer Handlungstheorien kontextualisieren. Dort wo Faḫr al-Dīn al-Rāzīs (meist verkürzte) Fassung in ihrer Zielrichtung
29
al-Rāzī (2005), 2:256, 24–27.
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deutlich von al-Šahrastānī abweicht, wird al-Rāzīs Fassung gleichfalls angeführt. 30 Frage 1: Er wusste bevor ich geschaffen wurde, was von mir ausgeht und zur Existenz kommt. Warum, zuallererst, hat er mich geschaffen, und welche Weisheit liegt darin, dass er mich geschaffen hat? Frage 1 (Version Faḫr al-Dīn al-Rāzī): Welche Weisheit liegt in der Erschaffung, insbesondere da er weiß dass der Ungläubige bei seiner Schöpfung nichts anderes notwendig nach sich zieht als Schmerz?
Die erste Frage in der Version al-Šahrastānīs (Iblīs verweist auf das, was von ihm ausgeht) bleibt sehr unbestimmt – denkbar ist beispielsweise ein Bezug auf die in den folgenden Fragen 2–7 geschilderten Etappen von Iblīs’s Aktivität, eine allgemeine Bezugnahme auf Vorstellungen von Iblīs’ Wirken oder Wirken der Satane in der islamischen Überlieferung, oder eine sehr grundsätzliche Frage nach dem Bösen und Leiden in der Welt. Interessanterweise wählt Faḫr al-Dīn al-Rāzī gerade diese letzte sehr weitgespannte Option – er präsentiert Satans erste Frage als Frage nach dem Schmerz, der durch den ungläubigen Iblīs in die Schöpfung gelangt. Frage 2: Er hat mich erschaffen entsprechend seinem Willen. Wieso hat er mir die Verpflichtung auferlegt (kallafanī), ihn zu kennen und zu gehorchen? Welche Weisheit liegt in dieser Verpflichtung, zumal er keinen Nutzen zieht aus dem Gehorsam und durch Zuwiderhandeln nicht geschädigt wird?
Die zweite Frage ist nicht auf die konkrete Situation des Iblīs gemünzt, sondern hinterfragt grundsätzlich das Konzept des taklīf, d. h. die religiöse Verpflichtung des vollwertigen Gläubigen. 31 Der Begriff des taklīf ist an der Schnittstelle zwischen islamischem Recht und Theologie situiert. Die von Iblīs genannten beiden Verpflichtungsinhalte (Gott erkennen, Gott gehorchen) entsprechen den Anforderungen, die die ašʿ aritische Theologie an den einzelnen Gläubigen stellt. Iblīs führt weiter aus, dass Gott hiervon ja weder Schaden noch Nutzen hat und hebt die Frage somit in den Bereich der Frage nach
Arabisch: al-Šahrastānī (1992), 7,15–8,15, al-Rāzī (2004), 44,3–45,2. Eine englische Übersetzung der gesamten Passage Präambel § 4 bietet al-Šahrastānī (1984), 12–16. 31 Allgemein ausführlich zu den Hintergründen des taklīf an der Schnittstelle zwischen Theologie und Recht, s. Oberauer (1999). 30
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einer Beziehung von Gott und Schöpfung, die im Einklang mit einem transzendenten Gottesbild steht. Frage 3: Da er mich nun geschaffen hat und mir die Verpflichtung auferlegt hat, und als ich der Verpflichtung zur Erkenntnis und zum Gehorsam nachgekommen war und erkannt und gehorcht habe – warum hat er mich verpflichtet, Adam zu gehorchen und mich vor ihm niederzuwerfen? Welche Weisheit liegt in dieser spezifischen Verpflichtung, da sie meiner Erkenntnis und meinem Gehorsam nichts hinzufügt?
Erst diese dritte Frage geht auf die spezifische Situation der Verpflichtung des Iblīs ein, nämlich sich vor Adam niederzuwerfen, obwohl dies mit Blick auf die Grundverpflichtung zu Gotteserkenntnis und Gehorsam keinen zusätzlichen Nutzen beinhaltet. Die Probleme, die sich aus dem Befehl an Iblīs ergeben, sich niederzuwerfen, werden in den klassischen Korankommentaren durchaus behandelt, allerdings mit anderer Zielsetzung, so dass sie hier nicht zur Erklärung herangezogen werden können. Jedoch deckt al-Šahrastānīs nur fragmentarisch erhaltener Korankommentar den Vers 2:38 ab.32 Dabei ist seine Exegese dieser Stelle stark durch ismailitische Tendenzen geprägt. 33 al-Šahrastānī erklärt dabei die Niederwerfung vor Adam als dem Stellvertreter Gottes zum Paradigma dafür, dass die Anerkennung eines Imāms als Vertreter Gottes eben das ist, wodurch sich der wahre Gläubige auszeichnet: So wie Iblīs den gegenwärtigen lebendigen aktiven Imam nicht anerkennt, so auch das gemeine Volk [= die Sunniten] und die abwartenden Schiiten, die einen anwesenden zu erwartenden Imam annehmen [d. h.: die schiitischen Gruppierungen, die Wiederkehr und Herrschaft des Imams erst für die Endzeit erwarten]. 34
Zum Glaubensbekenntnis in der verkürzten Form des Iblīs hören wir hierbei: Es herrscht Verwirrung darüber, wie die Proskynese vor Adam erfolgte, und wie sie auszulegen ist. Sie wissen nicht, dass die Proskynese vor Adam die Proskynese vor Gott ist, so wie das Wort ›Es gibt keinen Gott außer Gott‹ solange es nicht mit dem Wort ›und Muḥammad ist sein Gesandter‹ ver-
al-Šahrastānīs Korankommentar beginnt für die Textlemmata jeweils zunächst mit einer sehr textnahen (grammatischen, lexikographischen etc.) Sektion, dann folgt oft eine Sektion über die Arkana (asrār) der betreffenden Stelle. 33 Vgl. hierzu Anonymous Ismaili Institute (2009). 34 Šahrastānī (2008), 280,5–6 32
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bunden ist, nicht ein Wort des Glaubensbekenntnis und der Aufrichtigkeit (kalimat al-šahāda wa-l-iḫlāṣ) ist. 35
Faḫr al-Dīn al-Rāzī teilt solche schiitisierenden Tendenzen natürlich nicht. Er votiert allerdings (in Abweichung von der früheren sunnitischen Tradition) dafür, dass Iblīs bereits vor der verweigerten Proskynese ungläubig (kāfir) war (s. o.: masʾ ala 6 Option 1). 36 Sein Argument ist dabei, dass es nach ašʿ aritischer und muʿ tazilitischer Lehre nicht zulässig ist, dass jemand aufgrund einer einmaligen Verfehlung (maʿ ṣiya) ungläubig ist. 37 Frage 4: Da er mich nun geschaffen hat und mir eine Verpflichtung auferlegt hat, sowohl in einem allgemeinen Sinne wie auch diese spezifische Verpflichtung – und da ich nun mich nicht niedergeworfen habe – warum hat er mich verflucht und aus dem Paradies vertrieben? Welche Weisheit liegt darin, nachdem ich nichts Schlechtes (qabīḥ) begangen habe außer dass ich gesagt habe: »Ich werfe mich nur vor Dir nieder«? Frage 4 (Version Faḫr al-Dīn al-Rāzī’s): … Warum hat er mich verflucht und meine Bestrafung notwendig gemacht, obwohl weder er noch ein anderer einen Nutzen hieraus zieht, ich aber den allergrößten Schaden hieraus ziehe?
Faḫr al-Dīn al-Razī’s Version wendet die Frage in dieselbe Richtung wie Frage 2, während al-Šahrastānīs Version etwas detaillierter die juristische Beurteilung von Handlungen als Hintergrund erkennen lässt. Iblīs erkennt an, dass möglicherweise eine seiner Handlungen ›schlecht‹ (qabīḥ) war. Im Kontext der erzählten Geschichte ist klar, dass Iblīs gegen den Befehl Gottes gehandelt hat – sowohl nach ašʿ aritischer als auch nach muʿ tazilitischer Theorie gibt es gegen das Votum Gottes, eine Handlung (juristisch) als qabīḥ ›schlecht‹, nicht ḥasan ›gut‹ zu bewerten, keine Widerrede. Iblīs wähnte aber zunächst gute rationale Argumente auf seiner Seite, das betont al-Šahrastānī Šahrastānī (2008), 280, 18–21. al-Rāzī (2005), 2:258,8. al-Rāzī’s Korankommentar führt dabei das Zitat aus den K. al-milal wa-l-niḥal an als Beleg für die Meinung, Iblīs sei fundamental bereits vor der verweigerten Niederwerfung böse. Während die bei Ṭabarī angeführten Interpretationen (insbesondere auch die angeführten Erklärungen der Prophetengenossen) eine solche Ansicht nicht kennen, führt Šahrastānīs Korankommentar eine isolierte Überlieferung des [Muḥammad b. Kaʿ b] al-Kuraẓī (d. h.: aus dem jüdischen Stamm der Banū Kurayza) an: »Gott begann die Erschaffung des Iblīs in Unglaube und Irrtum. Er handelte [zunächst] wie ein Engel. Er wurde [wieder] so wie seine Erschaffung am Anfang war«, vgl. Šahrastānī (2008), 275, 23–24. 37 al-Rāzī (2005), 2:258,5–10 (al-baḥth al-thānī). 35 36
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mehrfach. So ist sein Schicksal auch eine Warnung (insbesondere an die Adresse der Muʿ taziliten), rationale Kriterien bei der Beurteilung von ›gut‹ und ›schlecht‹ gegenüber dem göttlichen Willen zu privilegieren. Frage 5: Da er mich nun geschaffen hat und mir eine Verpflichtung auferlegt hat, sowohl in einem allgemeinen Sinne wie auch diese spezifische Verpflichtung, und da ich nicht gehorcht habe und er mich verflucht und vertrieben hat – warum hat er mir zu Adam Zutritt gewährt, so dass ich das Paradies ein zweites Mal betreten habe und ihn mit meiner Einflüsterung verblendet habe, so dass er von dem verbotenen Baum gegessen hat so dass er mich zusammen mit ihm aus dem Paradies vertrieben hat? Welche Weisheit liegt darin? Zumal: Wenn er mich am Betreten gehindert hätte, hätte Adam seine Ruhe vor mir gehabt und wäre immerfort dort verblieben?
Al-Rāzī reißt diese Frage nur sehr kurz an – zentraler Punkt ist dabei, warum Iblīs sein Handeln ermöglicht wurde (tamkīn). Frage 6: Da er mich nun geschaffen hat und mir eine Verpflichtung auferlegt hat, […], und da er mich verflucht hat und mich dann in das Paradies gelassen hat und eine Feindschaft (ḫuṣūma) zwischen mir und Adam besteht – warum hat er mir Macht verliehen (sallaṭanī) über seine Nachkommen so dass ich sie sehe, ohne dass sie mich sehen, und so dass meine Einflüsterung auf sie wirkt, aber ohne dass sie auf ihre Kraft und Stärke (ḥawlahum wa-qūwatahum), Handlungsmacht (qudra) und Handlungsfähigkeit (istiṭāʿ a) wirkt? Welche Weisheit liegt darin? Zumal: Wenn er sie geschaffen hätte gemäß ihrer ursprünglichen Veranlagung (fiṭra) ohne das man sie mit List von ihr ablenkt, so dass sie rein, aufmerksam und gehorsam leben, wäre das besser geziemend für sie und der Weisheit angemessener gewesen!
Al-Rāzī reißt diese Frage nur sehr kurz an, der Verweis auf technische Details der Handlungstheorie fehlt. In dieser Frage wird das fortwährende Wirken von Iblīs auf die Menschheit thematisiert. Dabei wird eine differenzierte Terminologie der Handlungstheorie verwendet. Iblīs ist aus dem eigentlichen Bereich der Handlungsumsetzung ausgeschlossen, qudra und istiṭāʿ a bezeichnen konkrete Handlungsoptionen, die Gott vor der Handlung im Menschen erschafft. Iblīs hat Macht durch Einflüsterung, er kann die reine Naturanlage des Menschen ablenken, aber am Prozess des Zustandekommens von Handlung ist er nicht beteiligt. Frage 7: Ich gestehe all dies zu […] – aber wieso hat er, als ich um Aufschub gebeten habe, mir Aufschub gewährt, so dass ich sagte: »Lass mich warten
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Sieben Zweifel des Teufels
bis zum Tage, da sie wiedererweckt werden«, und er sage: »Du gehörst zu denen, die auf den Tag besagter Zeit warten«. Welche Weisheit liegt darin? Denn hätte er mich sofort zugrunde gehen lassen, hätte Adam und die Schöpfung Ruhe von mir gehabt, und keinerlei Böses wäre in der Welt verblieben. Ist es nicht besser, dass die Welt in der besten Ordnung verbleibt, als dass sie sich mit Bösem vermischt? Dies ist mein Argument gegen das, was Du behauptet hast, in jeder Frage.
In dieser letzten Frage wird noch einmal grundlegend die Sinnhaftigkeit der Präsenz des Bösen im Verlauf des Weltgeschehens thematisiert. Die Wortwahl einer Vermischung (imtizāǧ) des Bösen evoziert dabei Berichte über dualistische Lehren. Dieser Beitrag ist entstanden mit Förderung des Maimonides Centre for Advanced Studies, Hamburg, gefördert durch DFG-FOR 2311.
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II. Philosophie
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Zwischen Privation und Perversion? Der böse Wille und seine Herkunft bei Augustinus Jörn Müller
Jeder habe seine dunkle Seite, so sagt man, aber mittlerweile habe ich begriffen, wie wenig das bei den meisten Menschen moralisch aufzufassen ist, dass das Dunkel nicht dem Bösen und das Helle nicht dem Guten zugeordnet werden darf. Die finstere Seite ist einfach jene, der das Licht fehlt, und lange hat es gedauert, bis ich verstanden habe, dass in der Nacht die Katzen tatsächlich schwarz sind, also nicht nur schwarz scheinen, nein: Ihnen fehlt jede Farbe. (Lukas Bärfuss, Hagard, Göttingen 2 2017, 9)
Die Beschäftigung mit dem Bösen und seiner Herkunft bildete nach der Selbstauskunft von Augustinus (354–430 n. Chr.) in seinen Bekenntnissen früh ein zentrales Schwungrad seines philosophischen Denkens. 1 In seinem Œuvre überkreuzen sich dabei zwei höchst einflussreiche Paradigmen des philosophischen und des theologischen Diskurses über das Böse: Zum einen ist Augustinus hinsichtlich des ontologischen Status des malum unbestrittenermaßen ein zentraler Exponent, wenn nicht sogar der führende Theoretiker einer Privationstheorie des Bösen, die es wesentlich als eine Beraubung bzw. Ermangelung des Guten versteht. 2 Zum anderen werden insbesondere in seinen Ausführungen zum bösen Willen auch immer wieder AnVgl. Augustinus, conf. III, 7, 12; VII, 7, 11 und 14, 20. Diese Auseinandersetzung reicht zurück bis in die manichäische Phase seines Denkens, also bis in die Jahre 373– 382 n. Chr. Überblicke über die Entwicklung des Verständnisses des Bösen bei Augustinus bieten Häring (1979), der die theologischen Kontexte umfassend ausleuchtet, sowie Evans (1982), die die Begegnung mit dem Manichäismus und die Pelagianische Kontroverse als zentrale Stationen im augustinischen Denken über das malum sieht. Die verschiedenen semantischen Dimensionen erschließt informativ der Artikel »malum« im Augustinus-Lexikon: Häring (2004–10). 2 Vgl. Hermanni (2002), 31–62 (speziell zu Augustinus). Eine pointierte Erläuterung des augustinischen privatio boni-Konzepts in sieben Thesen bietet Wyrwa (2003), 154–160. Für die Entwicklung dieser Tradition vgl. neben Hermanni auch Dalferth (2008), 123–217, sowie Schönberger (1998). 1
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sätze einer Perversionstheorie sichtbar, der zufolge das malum dem bonum nicht bloß korrumpierend oder parasitär anhaftet, sondern regelrecht eine Eigenmacht, also eine Art eigenständiges Sein gewinnt. 3 In letzterem Falle erscheint das Böse dann als pervertiertes Produkt oder auch – mit Rüdiger Safranski gesprochen 4 – als Preis der Freiheit des menschlichen Willens, sich zwischen gut und böse entscheiden zu können. Das Ziel meines Beitrags ist es, das Verhältnis dieser beiden Theoriestränge von ›Privation‹ und ›Perversion‹ in Augustinus’ Theorie des bösen und d. h. sündigen Willens genauer zu bestimmen. In der jüngeren Forschung ist verschiedentlich diagnostiziert worden, dass bei Augustinus schon ein schleichender Übergang von einer (antiken) Privationstheorie zu einer (neuzeitlichen) Perversionstheorie stattfindet. 5 Eine differenziertere Auslotung, wie Privation und Perversion im augustinischen Verständnis des bösen Willens genauerhin zu deuten sind, liegt jedoch noch nicht vor. Dabei muss man mindestens zwei Fragen einer näheren Betrachtung unterziehen, nämlich (i) das Problem, worin das Böse des sündigen Willens liegt, also was das malum morale in der menschlichen Sünde eigentlich ist; dieser ontologischen Definitionsfrage werde ich in den Teilen 1–2 v. a. im Ausgang von Augustinus’ De libero arbitrio und seinen Confessiones nachgehen. (ii) In Teil 3 wird die zweite und ebenso gewichtige genealogische Frage nach der Herkunft bzw. der Ursächlichkeit dieses sündigen Willens thematisiert, im Ausgriff auf das augustinische Spätwerk und die Darlegungen zum Sündenfall der Menschen und der Engel. Die abschließende Synopse (Teil 4) wird dann die Leitproblematik aufgreifen, wo der böse Wille zwischen Privation und Perversion bei Augustinus zu verorten ist, inklusive einer kurzen kritischen Würdigung seiner Konzeption.
Mathewes (2001), 59–103. Vgl. Safranski (1999), 13. 5 Vgl. exemplarisch Noller (2017), 40–44, der konstatiert, »dass Augustinus in Ansätzen bereits eine Perversionstheorie vertritt« (ebd., 41). Siehe auch Mathewes (2001), 81: »Privation and perversion: together these terms capture, without significant remainder, the Augustinian tradition’s interpretive response to evil.« 3 4
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Zwischen Privation und Perversion?
1.
Was ist Sünde? Die ontologisch-begriffliche Bestimmung des bösen Willens
In seiner zwischen 388 und 395 in mehreren Stufen entstandenen Schrift De libero arbitrio 6 konzipiert Augustinus einen Begriff des Willens, der primär auf die Zurechenbarkeit von bzw. Verantwortlichkeit für sündhafte Handlungen abhebt. Hintergrund ist seine Auseinandersetzung mit den Manichäern über die Herkunft oder Autorschaft des Übels in der Welt: Während die Manichäer neben Gott als Prinzip des Lichtes bzw. des Guten ein zweites koaeternes Prinzip der Finsternis annehmen, welches das malum hervorbringt, will Augustinus (der selbst einige Jahre Anhänger des Manichäismus war) einen solchen Riss in der Weltordnung verhindern und propagiert folgerichtig einen schöpfungstheologischen Monismus. Doch die Bekämpfung des kosmologischen Dualismus führt sozusagen vom Regen in die Traufe, insofern dann um so dringender die Frage geklärt werden muss, »ob nicht Gott der Urheber des Übels ist«. 7 Dieses Problem betrifft nicht zuletzt die Kausalität der menschlichen Sünde: Wenn Gott der Schöpfer alles Seienden inklusive der menschlichen Seele ist, müssen dann nicht deren Verfehlungen über kurz oder lang auf Gott zurückgeführt werden? 8 Die manichäische Erklärung, dass das Sündigen auf eine dyadische Struktur der Seele im Menschen zurückgehe, indem die vom Prinzip der Finsternis geschaffene böse Seele allein für das Sündigen verantwortlich ist (während die gute Seele und Gott als ihr Schöpfer damit nichts zu tun haben), steht Augustinus ja gerade nicht zur Verfügung. 9 Die unde malum-Frage nach der Autorschaft des Übels führt Augustinus somit direkt in die Theodizee-Problematik. 10 Das Werk enthält, bedingt durch die Umstände seiner Abfassung, verschiedene redaktionelle Schichten, die von Lössl (1995) gut herausgearbeitet werden; seine Gesamtinterpretation des Werks auf Ad Simplicianum hin halte ich jedoch für missglückt. 7 Augustinus, lib. arb. I, 1, 1: »[…] utrum deus non sit auctor mali«. 8 Vgl. Augustinus, lib. arb. I, 2, 4: »Credimus autem ex uno deo esse omnia quae sunt et tamen non esse peccatorum auctorem deum. Movet autem animum, si peccata ex his animabus sunt quas deus creavit, illae autem animae ex deo, quomodo non parvo intervallo peccata referantur in deum.« 9 Zur manichäischen Auffassung vgl. Augustinus, conf. IV, 15, 24; V, 10, 18; uera rel. 9, 16. 10 Zur antiken Diskussion dieses unde malum-Problems, insbesondere in der neuplatonischen Tradition, vgl. Schäfer (2002). 6
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Dabei präfiguriert Augustinus in De libero arbitrio die leibnizianische Differenzierung von malum physicum und malum morale, bringt diese beiden Formen des Schlechten aber in eine Art Abhängigkeitsbeziehung: 11 Die Existenz physischer Übel ist eine von Gott gerechterweise verhängte oder zumindest zugelassene Strafe für das moralische Fehlverhalten der Menschen, also für ihre Sünden. Damit ist letztlich das malum morale das Kernproblem, das sich als Wurzel der Existenz aller Übel erweist. Die Frage nach dem Woher des Bösen wird dadurch zum Problem der Herkunft der Sünde: Die Frage »unde malum?« entpuppt sich somit schon früh als Problem des »unde malum morale?«. In der Behandlung dieser Frage folgt Augustinus nun einer Logik, die sich wiederum der Auseinandersetzung mit den Manichäern verdankt: 12 Bevor man klären kann, woher das Böse kommt, muss man sich darüber klarwerden, was das Böse eigentlich ist. Die ontologische Frage muss also der genealogischen vorangestellt werden. 13 Die Antwort, die Augustinus in seiner Frühschrift De moribus ecclesiae gibt, liefert das Rückgrat der Privationslehre des malum, die Augustinus über sein Schrifttum hinweg beibehält und weiter ausdifferenziert. Gegen die manichäische Vorstellung einer eigenständigen Substanz des Bösen betont er: »Wer ist nämlich so geistesblind, dass er nicht sieht, dass für jede Gattung dasjenige das Übel ist, was gegen deren Natur ist? Aber wenn dies akzeptiert ist, dann ist eure Häresie ruiniert: Das Schlechte ist nämlich keine Natur, wenn das, was gegen die Natur ist, das Schlechte sein soll.« 14 Setzt man voraus, wie Augustinus es an dieser Stelle tut, dass natura letztlich für dasselbe steht wie essentia oder substantia, ergibt sich dann aber folgender Begriff des malum: »Eben das ist also das Schlechte: […] von der essentia abzufallen und danach zu streben nicht zu sein.« Schlechtes ist eine Vgl. Augustinus, lib. arb. I, 1, 1–2. Vgl. zum Folgenden die Ausführungen in der antimanichäischen Frühschrift De moribus ecclesiae: Augustinus, mor. II, 2, 2 (Übers. F. Hermanni): »Oft, ja sogar fast immer, Manichäer, wollt ihr von den Leuten, die ihr von eurer Häresie zu überzeugen trachtet, wissen, woher das Schlechte sei. […] Ihr forscht mich darüber aus, woher das Schlechte sei. Nun aber forsche ich umgekehrt euch darüber aus, was das Schlechte sei. Wessen Fragestellung ist angemessener? Etwa die der Leute, die fragen, woher etwas ist, von dem sie nicht wissen, was es ist, oder die Fragestellung von dem, der meint, zuerst sei zu fragen, was etwas ist, damit nicht absurderweise nach dem Ursprung einer unbekannten Sache gefragt wird?« 13 Vgl. hierzu Hermanni (2002), 13. 14 Augustinus, mor. II, 2, 2. 11 12
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Tendenz zum Nichtsein, die den von Gott geschaffenen Naturen bzw. Substanzen schadet, genauer gesagt: die sie tendenziell ihrer Gutheit beraubt. 15 Das Schlechte ist eine privatio boni, ein Substanzverlust bzw. eine Art Korruption der ursprünglichen natürlichen Gutheit. Zu den ontologischen Implikationen dieser Privationstheorie werde ich später in Teil 4 noch Näheres ausführen. Sie bildet auf jeden Fall, wie gleich deutlich werden wird, den hermeneutischen Rahmen für das Verständnis des malum morale bzw. der Sünde bei Augustinus. Die Privationslehre ist, wie Dieter Wyrwa es einmal treffend ausgedrückt hat, der »Angelpunkt im literarischen Kampf gegen die Manichäer« und ihren ontologischen Dualismus von gutem und bösem Weltprinzip.16 Dem oben angeführten Prinzip der Priorität der ontologischen gegenüber der genealogischen Problemstellung folgt Augustinus nun auch konsequent in De libero arbitrio: Der Diskussion um die Kausalität des bösen Handelns beim Menschen ist eine Begriffsklärung vorangestellt, die auf das Wesen der Sünde abhebt. Deren Kern besteht in einem Verfehlen bzw. einer Umkehrung der ontologischen Wertordnung, indem man sich als Mensch vom wahrhaft und unveränderlich Seienden (i. e. Gott) abwendet und sich stattdessen der Welt des Veränderlichen und Unsicheren zuwendet. 17 Das Streben richtet sich auf Güter, die man nicht ausschließlich durch den eigenen Willen erreichen und die man auch gegen seinen Willen wieder verlieren kann, wie etwa Reichtümer, Ehren, Lusterlebnisse. 18 Das Wesen der Sünde ist somit ein auf falsche – da ontologisch minderwertige – Ziele hin orientiertes Wollen, das Ausdruck einer verkehrten Seelenordnung des Wollenden ist: Anstatt über die falschen Gelüste zu gebieten, macht sich der menschliche Geist ihnen untertan; er wird zum Sklaven der cupiditas bzw. der libido, die Augustinus bis in sein Spätwerk hinein konsequent als wesentliche Quelle des Übels sieht. 19 Dabei ist die cupiditas letztlich mit dem schlechten, i. e. verkehrten Wol-
Vgl. Augustinus, mor. II, 3, 5. Wyrwa (2003), 156. 17 Vgl. Augustinus, lib. arb. I, 16, 35: »[P]eccata omnia hoc uno genere contineri, cum quisque avertitur a divinis vereque manentibus et ad mutabilia atque incerta convertitur.« 18 Vgl. Augustinus, lib. arb. I, 15, 31. 19 Vgl. z. B. Augustinus, c. Fort. 21: »Radix omnium malorum est cupiditas.« Zu den verschiedenen Erscheinungsformen der cupiditas vgl. uera rel. 38, 69. 15 16
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len identisch. 20 Hier mischen sich erkennbar neuplatonische und stoische Theoreme, die Augustinus aber mit einer dezidiert theozentrischen Wendung ausstattet: Das böse Wollen und Handeln konstituiert einen bewusst vollzogenen Abfall von Gott und der normativen Hierarchie seiner Schöpfungsordnung. In der Sünde bzw. im Bösen liegt somit nach Augustinus eine Art »Transzendenzverrat«. 21 Aber wie kommt es zu diesem falschen Streben? Nach der Klärung der Ontologie der Sünde forciert Augustinus die Frage nach der Kausalität des Zustands, aus dem heraus böses Handeln möglich ist, also die genealogische Problematik: Wie kann sich die menschliche Seele überhaupt in die Unordnung des falschen Strebens verirren? Nachdem er ausgeschlossen hat, dass der menschliche Geist zu dieser Abwendung vom wahrhaft Guten in irgendeiner Form genötigt bzw. gezwungen werden kann, kommt Augustinus zu dem Resultat, es könne »nichts anderes den Geist zum Genossen der Begierde machen als der eigene Wille (propria voluntas) und die freie Entscheidung (liberum arbitrium)«. 22 Damit ist nun das entscheidende Grundmotiv angesprochen: Die Sünde muss wesenhaft als freier Entscheidungsakt verstanden werden, der sich einzig und allein dem Willen des Akteurs verdankt; 23 im Umkehrschluss bedeutet dies, dass überall dort, wo keine Willentlichkeit vorliegt, von Sünde bzw. Verantwortung keine Rede sein kann. 24 Die Zuschreibung von moralisch relevanten Handlungen an den Akteur wird somit grundsätzlich an seinen Willen geknüpft. 25 Um das moralische Übel nun nicht Gott, sondern dem menschlichen Willen zuzuschreiben, bedarf es mindestens zweier Bedingungen, die in der begriffsgeschichtlich bedeutsamen Doppelung des Wil-
Vgl. Augustinus, lib. arb. III, 17, 48: »[C]upiditas porro inproba voluntas est. Ergo inproba voluntas malorum omnium causa est.« Vgl. lib. arb. I, 13, 27: »Quid autem tam iniquum bonae voluntati est quam libido?« 21 Vgl. Safranski (1999), 48–62, bes. 60. 22 Augustinus, lib. arb. I, 11, 21. 23 Vgl. Augustinus, duab. an. 10, 14: »Non igitur nisi voluntate peccatur.« 24 Vgl. Augustinus, duab. an. 12, 17: »[D]icere autem peccare sine voluntate, magnum deliramentum est.« Vgl. auch Augustinus, c. Fort. 20: »Quia qui non voluntate peccat, non peccat. Hoc arbitror omnibus apertum esse atque perspicuum.« Siehe auch Augustinus, uera rel. 14, 27: »[N]ullo modo sit peccatum si non sit voluntarium.« 25 Vgl. Augustinus, diu. qu. 24: »Nec peccatum autem, nec recte factum imputari cuiquam iuste potest, qui nihil fecerit propria uoluntate. Est igitur et peccatum et recte factum in libero uoluntatis arbitrio.« 20
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lens in propria voluntas und liberum arbitrium im obigen Zitat bei Augustinus anklingen: (1) Die Selbstverfügbarkeit des Wollens. Wäre das Wollen in irgendeiner Weise fremddeterminiert, wäre es nicht mehr das Resultat meines eigenen Willens (propria voluntas). Augustinus bleibt bei allen Transformationen seiner Willenslehre doch der Grundidee treu, dass »das Wollen und Nicht-Wollen zum eigenen Willen gehört (velle enim et nolle propriae voluntatis est)«. 26 Dies schleudert Augustinus den Manichäern regelmäßig entgegen: Kann ich wirklich noch von ›meinem‹ Wollen sprechen, wenn in Wirklichkeit eine böse Seele in mir bzw. durch mich handelt? Auf diese für die Zurechnung von Handlungen erforderliche Selbstmächtigkeit des Wollens zielt die rhetorisch überspitzte Frage von Augustinus: »Denn was liegt so sehr beim Willen wie jener Wille selbst?« 27 Genau diese Zugehörigkeit des Willens zum Ich wird von Evodius, dem Gesprächspartner in De libero arbitrio, auf der Basis seiner inneren Erfahrung emphatisch bestätigt. 28 (2) Essenziell für die Zurechnung der Sünde ist das Vorhandensein einer freien Wahl bzw. Entscheidung (liberum arbitrium): Das Wollen ist nur dann frei, wenn es sich auch auf das Gegenteil des faktisch Gewollten hätte richten können. Wichtig ist, dass Augustinus hier die Freiheit bzw. Verantwortlichkeit des Handelns nicht bloß daran knüpft, dass anders hätte gehandelt werden können, wenn der Handelnde anders gewollt hätte; vielmehr wird explizit die reale Möglichkeit des entgegengesetzten Wollens einbezogen, um von Verantwortung für die Sünde sprechen zu können. 29 Damit ist das Wollen ein Akt der Setzung, der unter identischen Bedingungen auch anders hätte ausfallen können. Wir haben es hier also nicht bloß mit Handlungsfreiheit, sondern mit wirklicher Entscheidungs- bzw. WilAugustinus, gr. et lib. arb. 3, 5. Augustinus, lib. arb. I, 12, 26: »Quid enim tam in voluntate quam ipsa voluntas sita est?«. Vgl. auch lib. arb. III, 3, 7: »Non enim posses aliud sentire esse in potestate nostra, nisi quod cum volumus facimus. Quapropter nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas est.« 28 Vgl. Augustinus, lib. arb. III, 1, 3: »Non enim quicquam tam firme atque intime sentio quam me habere voluntatem eaque me moveri ad aliquid fruendum; quid autem meum dicam prorsus non invenio si voluntas qua volo et nolo non est mea. Quapropter cui tribuendum est si quid per illam male facio nisi mihi?« 29 Vgl. hierzu auch Augustinus lib. arb. III, 1, 2: Während ein Stein natürlicherweise nach unten fällt, kann der Geist seine Willensbewegung jederzeit abfangen bzw. ändern. 26 27
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lensfreiheit zu tun, im Sinne einer starken Lesart des von Harry Frankfurt so getauften »Prinzips der alternativen Möglichkeiten«. 30 Hier lässt sich im augustinischen Verständnis des Willens und seiner Freiheit insgesamt eine Entwicklung, und zwar im Sinne einer voluntaristischen Zuspitzung verzeichnen. 31 In seiner antimanichäischen Frühschrift De duabus animabus bestimmt er den Willen zuerst noch als »eine von nichts erzwungene Bewegung des Geistes, um etwas entweder nicht zu verlieren oder zu erlangen« 32 , und formuliert erst einmal nur zwei negative Bedingungen für Willentlichkeit von Handlungen: Ein Handeln ist nicht willentlich, wenn es aus Zwang oder aus Unwissenheit heraus erfolgt. 33 Augustinus verschärft allerdings in der Folgezeit den Begriff des Willens zunehmend, so dass er letztlich stärkere Bedingungen erfüllt als die schon von Aristoteles namhaft gemachte Freiheit von Zwang und Unwissenheit. Wie Christoph Horn gezeigt hat, bringt Augustinus erstmalig in der Geschichte der Philosophie eine starke Konzeption des Willens ins Spiel, der sich bewusst und absolut spontan (d. h. ohne kausalen Einfluss von außen) gegen das Gute und für das Böse entscheiden kann. 34 Mit seiner Fassung des Wollens als dezisionistischem liberum arbitrium voluntatis, das spätestens seit Contra Fortunatum (392) eindeutig nachweisbar ist, verlässt Augustinus die antike Konzeption des Wollens als eines rational informierten Strebens. 35 Das Vgl. Frankfurt (1969). Für entsprechende Formulierungen im augustinischen Frühwerk vgl. Augustinus, duab. an. 11, 15; 12, 17. 31 Zu den Entwicklungen im augustinischen Freiheitsverständnis, die eine genauere Betrachtung wert sind, vgl. Brachtendorf (2006), bes. 44–69, sowie Müller (2009), 355–361. 32 Vgl. Augustinus, duab. an. 10, 14: »Voluntas est animi motus, cogente nullo, ad aliquid vel non amittendum, vel adipiscendum.« 33 In ähnlicher Weise werden willentliche Handlungen auch in Augustinus, lib. arb. III, 18, 51 negativ abgegrenzt. Vgl. hierzu die Analyse bei Chappell (1995), 125–130. 34 Vgl. Horn (1996), 116: »Eine philosophische Position verfügt dann über die Konzeption eines Willens, wenn sie (1.) ein Vermögen anerkennt, auf das sich falsches Handeln bei vollem Bewusstsein zurückführen lässt, und wenn sie (2.) das Vermögen, das es erlaubt, sich bei vollem Bewusstsein für das Falsche zu entscheiden, für nicht weiter ableitbar hält. Der Wille kann das Falsche wählen, ohne dass eine Täuschung über die vorziehenswertere Option im Spiel ist und ohne dass ihn irgendeine weitere Größe dazu determiniert.« (116) Beide Bedingungen sieht Horn bereits in De libero arbitrio erfüllt. 35 Vgl. insbesondere: Augustinus, c. Fort. 22. Zur Unterscheidung von liberum arbitrium voluntatis und voluntas libera bei Augustinus vgl. den Bok (1994) sowie Trego (2005). 30
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hat aber auch Auswirkungen auf das Konzept der Sünde als Ausdruck des bösen Willens, mit dem Augustinus das Erbe des sokratischen Intellektualismus, d. h. die Charakterisierung des bösen Handelns als Resultat eines Vernunftirrtums, definitiv überschreitet. Bei ihm tritt eine voluntaristische an die Stelle einer kognitivistischen Erklärung des malum morale: Die Sünde liegt grundsätzlich im bösen Willen.
2.
Der zerrissene Wille: Macht der Sünde oder Ohnmacht des guten Willens?
Der böse Wille wird von Augustinus nach De libero arbitrio konsequent in Kategorien der Korruption bzw. der Privation beschrieben, und zwar vor allem hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die conditio humana. Schon durch den Sündenfall der Ureltern im Paradies, auf den unten in Teil 3 noch näher einzugehen ist, wird die menschliche Natur nachhaltig beschädigt, und zwar in doppelter Hinsicht. 36 Zum einen durch die von Gott dafür verhängten Straffolgen von ignorantia und difficultas, also das »Unwissen um Gottes Existenz, sein Wesen und seinen Charakter als höchstes Gut des Menschen« sowie das »Unvermögen, seinen Willen auf das höchste Gut auszurichten, selbst wenn er es erkennen sollte«. 37 Ignorantia und difficultas sind nun eindeutig zwei privative Bestimmungen, welche die Abwesenheit eines Vermögens bzw. Könnens anzeigen. Diese beiden Bestimmungen des bösen Willens werden von Augustinus in Confessiones VIII– IX aber konsequent durch die kraftvolle »Macht der Gewohnheit« ergänzt: Die Depravation des menschlichen Willens sedimentiert sich v. a. in der (mala) consuetudo. Die schlechte Gewohnheit erscheint bei Augustinus insgesamt als eine zweite Natur des Menschen, die den 36 Vgl. Augustinus, lib. arb. III, 18, 52: »Man darf sich nicht darüber wundern, dass er [scil. der sündige Mensch] infolge seiner Unwissenheit keine freie Willensentscheidung hat, das Rechte auszuwählen, oder dass er infolge des Widerstandes der fleischlichen Gewohnheit (carnalis consuetudo), die durch den Zwang der ererbten Todesverfallenheit gewissermaßen zur zweiten Natur geworden ist, das Rechte zwar sieht und auch will, aber nicht vollbringen kann. Denn darin besteht die gerechte Sündenstrafe, dass einer verliert, was er nicht gut gebrauchen wollte, als er es ohne Schwierigkeit, wenn er bloß wollte, konnte. Das ist es: Wer das Rechte weiß und nicht tut, verliert das Wissen um das Rechte, und wer nicht recht handeln wollte, als er konnte, verliert das Können, auch wenn er es will.« 37 Die beiden in Klammern angeführten Erläuterungen stammen von Brachtendorf (2005), 172.
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Menschen nachgerade zur Sünde nötigt, als eine nachhaltige Perversion seines Wollens: »Aber ich war gebunden, nicht durch fremden Zwang, sondern durch den eigenen Willen. Der Feind hielt mein Wollen in seinen Händen; er hatte mir daraus eine Kette geschmiedet und mich mit ihr umschlungen. Denn aus einem verkehrten Wollen entspringt die Begierde, und wer der Begierde dient, verfällt der Gewohnheit (consuetudo), und wer der Gewohnheit nicht widersteht, verfällt der Notwendigkeit.« 38 Mit der Betonung der Gewohnheit als Quelle des schlechten Handelns greift Augustinus auf eine für die Römerbriefauslegung von Origenes zentrale Idee zurück, 39 baut diese aber noch wesentlich aus. Consuetudo umfasst bei ihm nämlich sowohl eine individuelle als auch eine ›kollektive‹ Dimension: (1) In Anknüpfung an den antiken Habitus/hexis-Begriff bezeichnet consuetudo die fest verwurzelte Ausprägung des Charakters, die sich im Urteilen und Handeln zum Ausdruck bringt und die sich in ihrer Genese der Ausübung entsprechender Tätigkeiten verdankt. Während aber etwa bei Aristoteles diese zweite Natur v. a. mit Blick auf den Erwerb der Tugenden eine positive Konnotation aufweist, taugt sie bei Augustinus fast nur noch als Quelle der nezessitierenden Kontinuierung der Sünde. (2) Augustinus bezeichnet die Gewohnheit aber auch als poenalis consuetudo, also als eine Strafe. Hier meint die Rede von der zweiten Natur die gefallene Natur des Menschen, die ja als Straffolge für den Sündenfall im Paradies konzipiert ist. Diese Strafe umfasst neben der Sterblichkeit die zwei uns bereits bekannten Folgen, die sowohl das Urteilen des Menschen als auch sein Wollen betreffen: ignorantia und difficultas. Vor allem die »Schwierigkeit« ist dabei direkt auf die defizitäre Konstitution des menschlichen Wollens nach dem Sündenfall zu beziehen. Difficultas meint hier ein v. a. inneres Defizit bzw. eine Schwäche, die nichts anderes ist als ein partieller Kontrollverlust des Geistes gegenüber dem Körper und seinen Begierden. 40 Während im PaAugustinus, conf. VIII, 5, 10. Vgl. Müller (2016). 40 Vgl. die Beschreibung der Situation nach dem Sündenfall in Augustinus, ciu. XIII, 13: »Senserunt ergo novum motum inoboedientis carnis suae, tamquam reciprocam poenam inoboedientiae suae. Iam quippe anima libertate in perversum propria delectata et Deo dedignata servire pristino corporis servitio destituebatur. […] Tunc ergo coepit caro concupiscere adversus spiritum, cum qua controversia nati sumus.« Vgl. 38 39
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Zwischen Privation und Perversion?
radies der Körper dem Geist ganz entsprechend der natürlichen Wertordnung vollends untertan war, ist dieses Herrschaftsverhältnis in der gefallenen Natur des Menschen zerstört; das Niedere (der Körper) begehrt gegen das Höhere (den Geist) auf und drängt ihn zur Zustimmung – und damit zur Selbstentmachtung: Dies ist der Kern der von Augustinus in so vielen Formen beschriebenen concupiscentia. Diese Form der Gewohnheit verdankt sich somit nicht erst unserer eigenen Repetitierung schlechten Verhaltens, vielmehr stellt sie eine durch den paradiesischen Sündenfall vererbte Konstitution dar, die allen unseren persönlichen Handlungen vorausgeht und diese in Richtung der Sünde drängt. In Confessiones VIII entwickelt Augustinus aus diesen psychologischen und theologischen Prämissen heraus nun ein äußerst anspruchsvolles Modell des zerrissenen Willens, das in seiner Grundstruktur deutliche Anklänge an Harry Frankfurts Konzeption der hierarchischen Reflexivität von Wunsch- und Willensmomenten aufweist. 41 Dies ist hier nicht im Detail nachzuzeichnen. 42 Relevant für die vorliegende Problemstellung ist in erster Linie, ob in der obigen Skizze der »Macht der Gewohnheit« im sündigen Menschen, also in der Pervertierung seines Willens auf die Sünde hin, nicht doch ein substanzielles Verständnis des Bösen sichtbar wird, das den Rahmen der augustinischen Privationslehre sprengt. Dafür spricht prima facie, dass in der Schilderung der konkreten psychologischen Mechanismen, die verhindern, dass die neu gewonnene sittliche Einsicht von Augustinus de facto zum Tragen kommt, die Gewohnheit oft fast wie ein eigener innerseelischer Akteur erscheint (den Augustinus auch stellenweise in der zweiten Person adressiert). 43 Deren pervertierender Einfluss auf ihn und sein Handeln wird deutlich artikuliert: »Das Böse, an das ich gewöhnt war, hatte mehr Macht über mich als das
im Kontrast hierzu die ursprüngliche Harmonie von Seele und Körper, wie sie Augustinus in ciu. XIV, 26 beschreibt. 41 Vgl. Frankfurt (1971). Auf diese strukturellen Parallelen hat meines Wissens erstmalig Brachtendorf (2005), 167–171 hingewiesen. 42 Vgl. die ausführlichen Analysen bei Müller (2007), Kiesel (2011) und Noller (2016), 64–71, die jeweils andere Akzente in der Deutung setzen. 43 Zur Psychologie der Gewohnheit und der Selbsttäuschung in conf. VIII vgl. Müller (2009), 330–335.
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ungewohnte Gute.« 44 Klingt das nicht eher nach einer eigenen Kraft des Bösen als nach einer rein privativen Bestimmung? Obwohl manche Formulierungen hier äußerst suggestiv klingen – insbesondere in der Gegenüberstellung des alten (= bösen) Willens, der mittels Gewohnheit den neuen (= guten) Willen niederhält –, scheint mir dennoch Vorsicht angeraten, dieses Motiv einer ontologisch eigenständigen Macht bzw. Existenz des Bösen inhaltlich nicht zu überdehnen, und zwar aus zwei Gründen: (1) Die Ausführungen in Confessiones VIII sind immer noch erkennbar von einem antimanichäischen Duktus getragen, der einen wirklichen Dualismus zweier unabhängiger Willensvermögen ausschließt. 45 Deshalb spricht Augustinus letztlich von einem einzigen Willen, der in sich gespalten bzw. zerrissen ist, und nicht von zwei verschiedenen Entitäten. (2) Diesem Befund korrespondiert auch der Duktus der Beschreibung des menschlichen Willens in seiner Gespaltenheit. Augustinus konturiert hier v. a. ein Modell von Willensschwäche, also eines Versagens des Menschen bei der Umsetzung seiner guten Vorsätze. Die vorherrschende Metaphorik ist die der Ohnmacht bzw. der Unfähigkeit des handelnden Subjekts, die in der Spaltung seines Willens begründet liegt: »Teils Wollen, teils NichtWollen, das ist kein Naturungeheuer, sondern eine Krankheit des Geistes (aegritudo animi), der nicht mit ganzer Kraft aufstrebt, von der Wahrheit emporgehoben. Die Gewohnheit hält ihn nieder. Insofern gibt es da zwei Willen: Keiner von beiden ist der ganze Wille. Was der eine besitzt, fehlt dem anderen.« 46 Diese Betonung der Ohnmacht des zerrissenen Willens ist nicht zuletzt der Intention von Augustinus geschuldet, in Confessiones VIII den berühmten Ausruf des Paulus in Röm 7,19 zu illustrieren und zu analysieren: »Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich.« Die sich in der Willensspaltung offenbarende Korruption des menschlichen Wollens ist deshalb primär als Schwäche bzw. Verderbnis des Guten zu deuten, womit die Privationsidee weiterhin nachhaltig im Spiel ist. Bezeichnenderweise ersetzt Augustinus v. a. in seinem Spätwerk (insbesondere in den antipelagianischen Schriften) auch den Ausdruck difficultas zunehmend 44 45 46
Augustinus, conf. VIII, 11, 25. Vgl. z. B. die erkennbar antimanichäische Argumentation in conf. VIII, 10, 22–24. Augustinus, conf. VIII, 5, 10.
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Zwischen Privation und Perversion?
durch infirmitas, 47 was direkt auf den Willen bezogen wird. 48 Diese Willensschwäche ist dann letztlich nur durch Gnade heilbar. Die Perversion des Willens wird somit auch in den Confessiones in Kategorien der Privation gedeutet. Das in Röm 7 als Antagonist des guten Willens identifizierte »Gesetz der Sünde« (lex peccati) ist dabei in den Confessiones »die Übermacht der Gewohnheit«, und diese »zieht und fixiert den Geist auch gegen seinen Willen, und zwar mit Recht, da er sich freiwillig (volens) auf sie einließ«. 49 Aber inwiefern ist diese consuetudo selbst dem Menschen als freiwillig zurechenbar? Die Frage nach der Freiwilligkeit der Gewohnheit führt nun direkt in die unde mala voluntas-Problematik: Wenn der menschliche Wille erst einmal vom Bösen infiziert worden ist, leidet er unter der aegritudo animi, also der Krankheit des gespaltenen Willens. Augustinus entwirft hier eine Phänomenologie des schwachen Willens, die in eine ganz neuartige und dezidiert christliche Fassung des bereits seit der Antike gewälzten Problems der Unbeherrrschtheit (akrasia) bzw. Willensschwäche mündet. 50 Aber wie ist der Wille eigentlich ursprünglich böse geworden?
3.
Woher kommt der böse Wille? Augustinus’ Überlegungen zum Sündenfall
Zum Ende von De libero arbitrio III stößt Augustinus im Anschluss an seine oben erläuterten Ausführungen zu Unwissen (ignorantia) und Schwierigkeit (difficultas) als Straffolgen für den paradiesischen Sündenfall auf ein grundlegendes Problem: Wenn der erste Mensch weise (sapiens) war, wie konnte er sich dann zur Ursünde verführen lassen? Wenn er aber von Gott als Dummkopf (stultus) geschaffen wurde (und dieser Mangel an Weisheit seinen Fall verursachte) liegt Vgl. Fuhrer (2004–2010), 598, mit Nachweisen. Vgl. Augustinus, c. Iul. imp. III, 110: »[E]rgo etiam hinc convincimini, quod tam infirmae voluntatis ad agendum bonum homines Christus invenit et quod liberi arbitrii infirmitatem ad agendum bonum non nisi per Christi gratiam potest humana reparare natura.« Für weitere Nachweise von voluntas infirma bzw. infirmitas voluntatis vgl. Fuhrer (2004–2010), 599. 49 Vgl. Augustinus, conf. VIII 5, 12: »Lex enim peccati est violentia consuetudinis, qua trahitur et tenetur etiam invitus animus eo merito, quo in eam volens inlabitur.« 50 Zu Augustinus’ innovativem Verständnis von Unbeherrschtheit, das sich von antiken Deutungen willensschwachen Handelns markant abhebt, vgl. Horn (2004) und Müller (2009), 362–366; (2016). 47 48
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die Verantwortlichkeit für dieses Geschehen dann nicht doch wieder bei Gott? 51 Augustinus opponiert dezidiert: »Die Ureltern im Paradies waren für das Menschengeschlecht die Urheber des Übels, indem sie frei von Zwang, also mit freiem Willen sündigten, und zwar weil sie wissentlich gegen das Gebot handelten und jener Versucher sie zwar zu diesem Tun reizte, aber nicht zwang.« 52 Die Freiheit der Ureltern muss hier eben nicht bloß als eine Freiheit von äußerem Zwang (libertas a coactione), sondern als eine Wahlfreiheit im Vollsinne des Wortes verstanden werden, d. h. im Sinne einer libertas indifferentiae: Während der befreite Wille (voluntas liberata) der von Gott Erretteten gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er nicht mehr sündigen kann (non posse peccare), 53 ist der freie Wille (voluntas libera) im Paradies sowohl dazu fähig im Guten zu bleiben als auch zum Bösen abzufallen: Es war der freien Entscheidung des Menschen im Urzustand anheimgestellt, in der göttlichen Gnade zu verbleiben oder nicht, und er wollte eben nicht. 54 Damit ist die elementare Erklärung für den Sündenfall geliefert: Der Mensch hat gesündigt, weil er es wollte, obwohl er es auch nicht hätte wollen können. Augustinus ist es nun an vielen Stellen erkennbar daran gelegen, dass diese explanatorische Ebene nicht in der Weise unterlaufen wird, dass diesem Wollen noch einmal eine kausale Erklärung vorgeschoben wird: Der Wille ist nicht ein weiteres Glied einer vor ihn zurückreichenden Ursachenkette, sondern er muss selbst als der erste und unkonditionale Ausgangspunkt einer solchen Kette verstanden werden, also im Sinne einer Erstursächlichkeit. So Vgl. Augustinus, lib. arb. III, 24, 71: »Si sapiens factus est primus homo, cur seductus est? Si autem stultus factus est, quomodo non est deus auctor vitiorum, cum sit stultitia maximum vitium?« 52 Vgl. Augustinus, retr. I, 15, 3: »[Qu]i primi in paradiso fuerunt humano generi origo mali nullo cogente peccando, hoc est libera voluntate peccando, quia et scientes contra praeceptum fecerunt, et ille temptator suasit ut hoc fieret nec coegit.« 53 Vgl. Augustinus, corr. 12, 33: »Prima ergo libertas voluntatis erat, posse non peccare; novissima erit multo maior, non posse peccare. […] Prima erat perseverantiae potestas, bonum posse non deserere; novissima erit felicitas perseverantiae, bonum non posse deserere.« 54 Vgl. Augustinus, corr. 11, 32: »Tunc ergo dederat homini Deus bonam voluntatem: in illa quippe eum fecerat qui fecerat rectum; dederat adiutorium, sine quo in ea non posset permanere si vellet; ut autem vellet, in eius libero reliquit arbitrio. […] Posset enim perseverare si vellet; quod ut nollet, de libero descendit arbitrio, quod tunc ita liberum erat, ut et bene velle posset et male.« Adam hätte nur wollen müssen, aber er wollte nicht (noluit). Vgl. auch Augustinus, nat. b. 7 (»[…] si nolint, corrumpi non possint«). 51
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Zwischen Privation und Perversion?
betont Augustinus in De libero arbitrio, dass die persistente Frage nach der Ursache des Willens letztlich Gefahr läuft, einen infiniten Regress zu produzieren. 55 Dass der Wille hier der handlungstheoretische Fels ist, an dem sich der Spaten zurückbiegt, zeigt auch ein Gedankenexperiment aus De civitate Dei XII 6: Augustinus illustriert die Letztursächlichkeit des Willens dort am Beispiel zweier Menschen in identischer geistiger und körperlicher Verfassung, von denen sich der eine durch den Anblick eines schönen Körpers zur Unzucht hinreißen lässt, während der andere unentwegt in seinem keuschen Willen verharrt, und fragt: »Was sollen wir das als Ursache ansehen, dass wohl in dem einen, aber nicht in dem anderen böser Wille entsteht?« Weder die Schönheit des erstrebten Objekts (diese ist schließlich für beide dieselbe) noch ein differentes körperliches oder geistiges Begehren seitens des Betrachters können hierfür aufkommen, »da ja in beiden die körperliche und geistige Beschaffenheit die gleiche war«. 56 Auch eine Einflüsterung seitens eines boshaften Geistes kommt nicht als hinreichende Ursache in Frage, da der Wollende dieser Einflüsterung willentlich zugestimmt hat (voluntate sua consenserit). Für dieses unterschiedliche Wollen kann also keine willensexterne bewirkende Ursache, keine den Willen selbst bewegende causa efficiens ins Spiel gebracht werden. Und damit ist ein weiteres Leitmotiv der augustinischen Rede vom ersten bösen Wollen genannt: »Niemand suche also nach der bewirkenden Ursache des bösen Willens. Was ihn verursacht, ist nicht ein Tun, sondern ein Lassen. Sie ist keine Bewirkung (effectio), sondern eine Ermangelung (defectio). Ein Abfall vom höchsten Sein zum niedrigeren: das ist der Anfang des bösen Willens. Die Ursachen solcher Abnahmen finden zu wollen, die, wie ich sagte, keine bewirkenden, sondern ermangelnde sind, wäre so, wie wenn man die Finsternis sehen, das Schweigen hören wollte.« 57 Augustinus, lib. arb. III, 17, 48: »Da ja der Wille die Ursache der Sünde ist, du aber nach der Ursache des Willens fragst, würdest du da nicht, wenn ich sie ausfindig machen könnte, weiter nach der Ursache dieser aufgefundenen Ursache fragen? Wo bleibt da das Maß, und wie soll das Grübeln und Forschen je zu Ende kommen, wenn man außer Acht lässt, dass man mit seinen Fragen nicht weiter als bis zur Wurzel vordringen soll?« 56 Augustinus, ciu. XII, 6: »Ambos enim et animo et corpore aequaliter affectos fuisse.« 57 Augustinus, ciu. XII, 7: »Nemo igitur quaerat efficientem causam malae voluntatis; non enim est efficiens, sed deficiens, quia nec illa effectio, sed defectio. Deficere namque ab eo, quod summe est, ad id, quod minus est, hoc est incipere habere malam 55
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Das Böse hat also keine bewirkende Ursache (causa efficiens), sondern bloß eine causa deficiens. Diese Metaphorik wird von Augustinus selbst nicht eindeutig geklärt, 58 aber der hier verwendete Begriff des Defekts lässt sich zwanglos von der augustinischen Privationslehre des Bösen (malum) her verstehen: Zum einen, wie oben in Teil 1 gesehen, insofern die Abwendung (aversio) des Willens vom höchsten Guten, die in der Ursünde vollzogen wird, nur als ein Abfall (defectus) vom höchsten Seienden hin zu etwas, das weniger seiend ist, verstanden werden kann. 59 Zum anderen mit Blick auf das Verständnis der causa deficiens: Wenn man die referierten augustinischen Argumente für die Letztursächlichkeit des Willens ernst nimmt, kann es sich hier nämlich nur um eine innere Ermöglichungsbedingung, also um eine Art causa sine qua non handeln. Und bezeichnenderweise macht Augustinus genau eine solche Bedingung an einigen Stellen namhaft, um die generelle Möglichkeit des Bösen zu erklären: Der Mensch trägt ebenso wie auch die Engel eine Art ontologisch-metaphysischer Schwäche in sich, nämlich dass er von Gott nicht aus sich heraus, also aus der ewigen und unwandelbaren Seiendheit heraus, sondern aus dem Nichts (de nihilo) erschaffen wurde. 60 Die creatio ex nihilo ist gewissermaßen die notwendige Möglichkeitsbedingung, unter welcher sich der menschliche Wille selbst wieder »nichten« (oder weniger heideggerianisch gesprochen: dem Nichts zuwenden) kann. Es ist zu betonen, dass es sich hierbei nicht um eine hinreichende Ursache handeln kann, aus der heraus der Abfall von Gott wirklich ›rational‹ restlos erklärbar wäre, sondern nur voluntatem. Causas porro defectionum istarum, cum efficientes non sint, ut dixi, sed deficientes, velle invenire tale est, ac si quisquam velit videre tenebras vel audire silentium.« 58 Dementsprechend finden sich auch unterschiedliche Auslegungen in der Forschung. Kirwan (1989), 73, bietet z. B. folgende Erklärung: »The thought lying behind this unilluminating name is, I suggest, quasi-mechanical: goodness is like potential energy, and an efficient cause is like a motor which increases the energy by lifting; but a movement to badness is a movement downhill, needing no motor; so that whereas the good man must be lifted by God, the bad man freewheels into sin.« 59 Vgl. Augustinus, ciu. XIV, 11: »Mala uero uoluntas prima, quoniam omnia opera mala praecessit in homine, defectus potius fuit quidam ab opere Dei ad sua opera quam opus ullum.« Zur Sünde als motus defectivus vgl. auch Augustinus, lib. arb. II, 20, 54. 60 Vgl. Augustinus, ciu. XII, 6: Wenn man von einer Ursache des bösen Willens sprechen will, so liegt sie nicht darin, »dass der Sünder ein Naturwesen ist, sondern darin, dass er eine aus nichts geschaffene Natur ist (sed ex eo quod de nihilo facta natura est)«. Vgl. auch ciu. XII, 8: Das, was aus nichts geschaffen ist, kann abfallen. Siehe auch Augustinus, vera rel. 18,35; 19, 37; nat. b. 1 und 10; lib. arb. II, 20, 54.
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um eine conditio sine qua non, die den Sündenfall für Menschen wie für Engel überhaupt erst möglich macht. 61 Weiteres Licht in das Dunkel der ersten Sünde wirft nun der berühmte »Birnendiebstahl« in Confessiones II (4,9–10,18), der unverkennbar als eine literarische Parallele zur Ursünde modelliert ist. 62 Augustinus betont, dass bei ihm und auch bei seinen Spießgesellen überhaupt kein Verlangen nach den Früchten selbst vorliegt (weshalb sie dann auch später achtlos weggeworfen werden), und betont stattdessen, dass es sich um eine »grund- und zwecklose Untat« 63 handelt: Die Tat selbst verfolgt kein jenseits ihrer selbst liegendes Ziel, sondern geht auf den Diebstahl und die Sünde selbst, »ohne dass es für meine Bosheit einen Grund gab, ausgenommen die Bosheit selbst«. 64 Hier wird das Schlechte also nicht mehr sub ratione boni getan: Es wird weder absichtlich als Mittel zum guten Zweck noch irrtümlich (aufgrund einer Fehleinschätzung) gewählt, sondern als Schlechtes in sich, also sub ratione mali. Nichtsdestoweniger gibt Augustinus zwei mögliche psychologische Motive an, aus denen heraus der Diebstahl als schlechte Tat gewählt worden sein könnte. Neben der »Gruppendynamik« im Kreis seiner verdorbenen Freunde 65 führt Augustinus prononciert auch den Hochmut (superbia) als mögliche Quelle an, dessen Stoßrichtung er wie folgt ausführt: »Auf verkehrte Weise (perverse) ahmen dich alle nach, die sich von dir entfernen und sich gegen dich erheben. […] Was also habe ich an jenem Diebstahl geliebt, und worin habe ich, freilich verworfen und verkehrt, meinen Herrn nachgeahmt? War es etwa die Lust, wenigstens durch einen Betrug gegen das Gesetz zu handeln, da ich aus wirklichem Vermögen dazu nicht fähig war, um mir so als Sklave eine verstümmelte Freiheit vorzutäuschen, indem ich Unerlaubtes ungestraft tat in schattenhafter Ähnlichkeit mit der Allmacht?« 66 Vgl. in diesem Sinne auch O’Daly (2001), 87: »Adam, and all created beings […] are liable to sin because they are created out of nothing. This ›ontological‹ weakness does not entail their sinning, but it makes it possible that they will choose evil.« Dies ist zu betonen gegen Rist (1969), 442, der selbst die Wahlsituation in der Ursünde als durch die Schaffung aus dem Nichts determiniert ansieht: »As he [scil. Augustine] saw it, even Adam had no real choice; the elements of nothingness in his nature made his fall an inexplicable and […] irresistible phenomenon.« 62 Vgl. hierzu Ferrari (1970) mit den entsprechenden Parallelen. 63 Vgl. Augustinus, conf. II, 7, 15: »gratuitum facinus«. 64 Augustinus, conf. II, 4, 9: »[M]alitiae meae causa nulla esset nisi malitia.« 65 Vgl. Augustinus, conf. II, 9, 17. 66 Augustinus, conf. II, 6, 14: »Perverse te imitantur omnes, qui longe se a te faciunt et 61
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Der Hochmut entpuppt sich bei näherem Hinsehen somit als eine verfehlte imitatio dei in Folge einer Selbstverfallenheit: 67 In dieser Passage offeriert Augustinus nicht nur eine Erklärung für den eigenen Birnendiebstahl (so man diese Passage autobiografisch deuten möchte), sondern auch für die Motivation des paradiesischen Sündenfalls. 68 Dies zeigt auch der strukturanaloge Fall der Engelssünde, also des Abfalls des ersten Engels, Luzifer, von Gott. Als wahre Ursache der Engelssünde führt Augustinus das Laster des Hochmuts (superbia) ins Feld, insofern sich der Engel von Gott ab- und sich selbst zuwendet, also sich selbst an die Stelle Gottes als höchstes Gut setzt. Seine superbia brachte also den ersten Engel zu Fall, indem er sich selbst genießen wollte statt Gott. 69 Ebenso wie bei der menschlichen Ursünde geht es Augustinus hier darum zu zeigen, dass der Teufel in der Wahrheit hätte bleiben können (also eine freie Wahl hatte) und dass sich sein Abfall nicht durch seine Natur erklären lässt, sondern als Aberration von seiner natürlichen Bestimmung als geistiger Kreatur zu sehen ist. 70 Die Zurückführung des allerersten bösen Wollens in der Weltgeschichte auf Hochmut bringt Augustinus konsequenterweise auch des Öfteren explizit in die Diskussion der Sünde des Menschen im Urzustand ein: Der Hochmut der ersten Menschen erscheint als »Schattenbild der wahren Freiheit und Herrschaft (verae libertatis et veri regni umbra)« Gottes: »Denn nichts anderes erstrebt der Mensch darin, als der einzige zu sein, dem womöglich alles unter-
extollunt se adversum te. […] Quid ergo in illo furto ego dilexi et in quo dominum meum vel vitiose atque perverse imitatus sum? An libuit facere contra legem saltem fallacia, quia potentatu non poteram, ut mancam libertatem captivus imitarer faciendo impune quod non liceret tenebrosa omnipotentiae similitudine?« 67 Zur superbia als Selbstverfallenheit in ciu. XII und XIV vgl. Kohler (1993). 68 Auch Brachtendorf (2005), 63–68, stellt das Motiv des Hochmuts in den Mittelpunkt seiner Ausdeutung des Birnendiebstahls und betont dabei v. a. die Differenz zur antiken Philosophie: Während diese im bösen Tun einen Ausdruck der Verkehrung der Ordnung in der menschlichen Seele gesehen habe, gehe es Augustinus um die »ontologische« Perversion der Sünde, insofern der Mensch an die Stelle Gottes treten will. 69 Zum vitium superbiae als causa verissima der Engelssünde vgl. Augustimus, ciu. XII, 6. Vgl. auch uera rel. 13, 26: »Ille autem angelus magis se ipsum quam deum diligendo subditus ei esse noluit et intumuit per superbiam et a summa essentia deficit et lapsus est. Et ob hoc minus est quam fuit, quia eo quod minus erat frui voluit, cum magis voluit sua potentia frui quam dei.« 70 Vgl. hierzu Augustinus, ciu. XI, 13 u. 15.
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Zwischen Privation und Perversion?
worfen wäre, eine verkehrte Nachahmung (perversa imitatio) des allmächtigen Gottes«. 71 Ist nun das Verhältnis von Hochmut und erster Sünde, sei es nun bei den Ureltern oder bei Luzifer, ein ursächliches? Dagegen wendet sich etwa R. F. Brown, der argumentiert, dass Hochmut selbst nichts anderes als böser Wille ist. Hochmut sei keine Disposition, die als antezedente Ursache für die Hervorbringung des bösen Wollens verstanden werden sollte, sondern sei letztlich identisch mit dem ersten bösen Willensakt. 72 Diese Deutung hat gewissermaßen einen existenzialistischen Einschlag: Der Wille bestimmt sich durch seinen Abfall als hochmütiger bzw. böser, ohne dass diesem Akt eine so geartete Disposition vorausgeht. Diese Idee hat Sören Kierkegaard einmal auf die Formel gebracht: »Die Sünde ist durch eine Sünde in die Welt gekommen. […] Die Sünde kommt also hinein als das Plötzliche, d. h. durch den Sprung.« 73 Nun bietet aber Augustinus selbst durchaus einige Texte zur Ursünde, in denen zwischen der konkreten Volition des Sündenfalls und der generellen Willensausrichtung bzw. -orientierung, aus der heraus dieser Akt motiviert ist, unterschieden wird. Am deutlichsten wird dies in De civitate Dei artikuliert: »Aber sie [scil. die Ureltern] fingen erst an, insgeheim böse zu sein, um dann in offenen Ungehorsam zu fallen. Denn sie hätten das böse Werk nicht vollbracht, wäre nicht böser Wille vorausgegangen. Womit aber begann der böse Wille? Keine andere Antwort ist möglich als: mit Hochmut.« 74 Die Ureltern müssen selbst bereits bis zu einem gewissen Grade hochmütig gewesen sein (sich also selbst mehr als gebührlich gefallen haben), schon bevor die Versuchung durch die Schlange an sie herangetragen wurde; ansonsten wäre deren Versprechen »Ihr werdet sein
Augustinus, vera rel. 45, 83. Brown (1978), 322: »Pointing to pride therefore cannot constitute an explanation for the fall (an account of why the first evil will willed as it did). It is only the substitution of a synonym for the inexplicable free act of falling itself. […] [P]ride is the fall.« 73 Kierkegaard (1981), 29. Kierkegaard sieht insbesondere in Krankheit zum Tode (1849) in der augustinischen Idee einer Willenskorruption den maßgeblichen philosophischen Fortschritt des Christentums gegenüber einer intellektualistischen Erklärung des Bösen als Resultat eines Irrtums à la Sokrates; vgl. hierzu Horn (1995), 135 f. 74 Augustinus, ciu. XIV, 13: »In occulto autem mali esse coeperunt, ut in apertam inoboedientiam laberentur. Non enim ad malum opus perveniretur, nisi praececisset voluntas mala. Porro malae voluntatis initium quae potuit esse nisi superbia?« 71 72
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wie Gott« 75 bei ihnen überhaupt nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Dies spricht erst einmal gegen eine rein ›existenzialistische‹ Deutung des Sündenfalls. Die ersten Menschen bestimmen sich offensichtlich in ihrem Wollen nicht erst im Sündenakt als hochmütige Geschöpfe, sondern sie wollen bereits aus einer bestimmten Disposition heraus: »Dem offenbaren geht also der heimliche Sturz voraus.« 76 Kurzum: Hochmut kommt also doch, wie es das Sprichwort lehrt, vor dem Fall und nicht erst in ihm. Diese Disposition zur übertriebenen Selbstliebe kann nun nicht Bestandteil der ursprünglichen Schöpfungsnatur sein, sondern muss später hinzugekommen sein, da ansonsten die augustinische Theodizee-Rechnung nicht mehr aufgeht. Letztlich bleibt bei Augustinus jedoch unklar, ob es sich beim Hochmut wirklich um eine erschöpfende Letzterklärung des bösen Willensaktes handeln soll oder ob hier eher von einer Motivation die Rede ist, auf die hin der Mensch etwas wollen kann – oder eben auch nicht. Nimmt man Augustinus’ Betonung der Wahlfreiheit im Akt der Ursünde ernst, kann man nicht bezweifeln, dass auch das Streben nach wahrer Glückseligkeit, i. e. nach dem Verbleiben beim höchsten Gut, hier als alternative Motivation für eine entgegengesetzte Entscheidung hätte dienen können. Damit kommt hier wiederum ein dezisionistisches – oder wenn man will: voluntaristisches – Moment im Sündenfall ins Spiel: Weder ist die Güte Gottes unmittelbare causa efficiens für das Verbleiben bei ihm (ansonsten wären weder die Ureltern noch der böse Engel gefallen) noch ist die entstandene Hochmütigkeit des Geschöpfs eine in sich hinreichende Ursache für den Abfall von ihm (das erste böse Wollen hat ja gerade keine causa efficiens). Erst der Verweis auf den Willensakt bildet die kausale Letztinstanz. Dies ist m. E. der Hintergrund dafür, dass Augustinus den Birnendiebstahl mit verschiedenen alternativen Erklärungsmustern orchestriert, ohne sich doch ganz eindeutig auf eine davon festzulegen. Es handelt sich um mögliche Handlungsmotivationen bzw. –gründe, aber nicht um hinreichende Ursachen: Die einzige hinreichende Ursache für eine böse Handlung im Urzustand ist ein entsprechender Willensakt. Man muss es also ernst nehmen, wenn Augustinus an verschiedenen Stellen seines Werkes betont, dass die Bosheit des Wollens zumindest in ihrem UrGen. 3, 5: »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum«. Augustinus, ciu. XIV, 13: »[R]uina, quae fit in occulto, praecedit ruinam, quae fit in manifesto.« Vgl. auch Augustinus, trin. XI, 5, 8.
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sprung kausal irreduzibel ist. Ganz in diesem Sinne antwortet Augustinus schon in De lib. arb. auf die unde mala voluntas-Frage: »Antworte ich auf deine Frage, ich wisse es nicht, wirst du vielleicht traurig sein. Dennoch ist diese Antwort wahr. Denn man kann nichts wissen, was nichts ist (Sciri enim non potest quod nihil est).« 77 Dies ist Augustinus’ ultimative Auskunft mit Blick auf die unde mala voluntas-Frage. Seine verschiedenen Diskussionen der Frage führen im Kern immer wieder auf die rationale Unerklärbarkeit der Herkunft dieser Bosheit zurück. 78 Hier stößt man zugleich auch wieder auf die Privationslehre des Bösen, die zugleich seiner Intelligibilität Grenzen setzt: Was – wie das Böse – keine eigene Substanzialität bzw. Seiendheit besitzt, ist absolut gestalt- und formlos, und kann deshalb auch nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand unserer Erkenntnis sein. 79 Dem entsprechen in Confessiones VIII–IX die zahlreichen Bitten des sündigen Akteurs, Gott möge ihm bei der Selbsterkenntnis behilflich sein, zu der sich der Mensch aufgrund der Bosheit seines Willens selbst nicht mehr in der Lage sieht. 80
4. Synopse: Privation und Perversion in Augustinus’ mala voluntas Die augustinische Privationslehre des Bösen ist teilweise (z. B. von Nicolai Hartmann und Karl Jaspers) missverstanden worden, und zwar als eine Art Leugnung der Faktizität des Bösen, die natürlich angesichts offensichtlicher Gegenbelege absurd erscheint. 81 Doch die Augustinus, lib. arb. II, 20, 54. Vgl. in diesem Sinne auch Chappell (1995), 187: »On the best interpretation of his work, Augustine is not offering us any kind of positive explanation of the origin of bad will at all. Rather, what he means to offer us is an explanation of why there can be no such explanation.« 79 Vgl. Augustinus, uera rel. 18, 35: Alles, was ist oder sein kann, was geformt ist oder werden kann, ist ein Gut und stammt von Gott: Ergo ist das Nichts das Gestalt- und Formlose: »[Qu]od nullam speciem habet nullamque formam.« Übertragen auf den moralischen Bereich bedeutet das z. B., dass die Laster – verstanden als Privationen der Tugend – ebenso wenig erkannt werden können wie das Dunkle; vgl. Augustinus, duab. an. 6, 6. 80 Vgl. z. B. Augustinus, conf. X, 37, 62. 81 Vgl. hierzu Hermanni (2002), 52–57, der sich mit diesen verfehlten Lesarten auch kritisch auseinandersetzt. Eine Verteidigung der augustinischen Privationslehre gegenüber unangebrachten Einwänden formuliert auch Cress (1989). 77 78
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im Bösen erfolgende Privation des Guten geht gerade nicht in einer bloßen Negation seines Seins auf, so dass das Böse irgendwie nicht existierte. 82 Augustinus selbst führt an einer Stelle explizit den argumentativen Nachweis, dass die Annahme der Nichtexistenz des malum in Selbstwidersprüchlichkeiten führt. 83 Es geht ihm vielmehr um die Nichtsubstanzialität des malum, das selbst keine eigene essentia bzw. natura besitzt, sondern einem anderen substanziell Seienden, das in sich gut ist, immer nur akzidentell anhaftet, aber eben nicht als eine weitere positive Seinsbestimmung, sondern als bloße Schädigung bzw. Korruption. Böse kann damit also paradoxerweise nur das sein, was gut ist, und zwar dann, wenn es bei ihm Defizite in seinen wesenhaften Bestimmungen gibt: Das Böse »ist nichts anderes als die Verderbnis des natürlichen Maßes, der Gestalt oder Ordnung (corruptio vel modi vel speciei vel ordinis naturalis)«. 84 Das Böse als privatio boni ist also nicht mit jedem Fehlen einer beliebigen Bestimmung verbunden, sondern auf die normative Wesensnatur der Sache zu beziehen, also auf das, was sie nach der göttlichen Schöpfungsordnung sein sollte. Dem Stein geht zwar die Möglichkeit zum Sprechen ab, aber das war von Anfang an keine in ihm angelegte Seinsmöglichkeit, und deshalb ist diese Negation auch keine Privation. Menschen hingegen sind von ihrer Natur aus sprachbegabte Lebewesen, so dass Stummheit als Privation hier nicht bloß ›Abwesenheit von Sprache‹ meint, sondern ein defizitäres Zurückbleiben hinter der menschlichen Essenz. Wendet man diesen Gedanken nun auf den Willen als Quelle der menschlichen Sünde an, wird deutlich, worin seine Privation (und damit seine Bosheit) zu liegen hat: am Abfall von seiner natürlichen Ausrichtung auf das einzig wahre und uneingeschränkt gute Objekt seines Strebens, also auf Gott. Durch die Abwendung vom höchsten Guten und das Verfolgen niederer Güter bzw. durch die Ausrichtung auf sich selbst verliert der Wille seine rechte Ordnung: Er will nicht mehr, was er soll. Im reinen Selbstbezug des Hochmuts (superbia) ist er aber depraviert und büßt de facto das ein, was er ursprünglich besaß, nämlich die Freiheit zum effektiven Wollen des Guten und damit auch zum guten Handeln. Der freie Wille wird von Augustinus in der Güterhierarchie konsequent nur als »mittleres Gut« (medium 82 83 84
Zur Unterscheidung von Privation und Negation vgl. Hermanni (2002), 44 f. Vgl. Augustinus, conf. VII, 5, 7. Augustinus, nat. b. 4.
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bonum) bestimmt, und zwar weil sein liberum arbitrium missbraucht werden kann zur Wahl des Schlechten. 85 In der Sünde offenbart sich die Korrumpierbarkeit des Willens durch die in ihm erfolgende privative Nichtung des Guten. Doch das beinhaltet zugleich eine normative Aussage über den richtigen Gebrauch des freien Willens: Dieser ist dem Menschen (und auch den Engeln) von Gott verliehen worden, um ihn – also Gott – zu lieben und sich für ihn zu entscheiden. Der freie Wille ist also kein neutrales Vermögen, das in der Mitte zwischen gut und böse stünde, sondern er sollte sich für das Gute entscheiden 86 – aber bei Luzifer und den Ureltern wendet er sich davon ab. Deswegen hat die Rede vom liberum arbitrium bzw. von der voluntas libera bei Augustinus bei näherem Hinsehen auch keine positiv ausmünzbare freiheitstheoretische Pointe. Die neuzeitliche Idee einer Autonomie des vernünftigen Subjekts, die sich gerade in einer freien Wahl seiner selbst bzw. einer moralischen Selbstgesetzgebung verwirklicht, steht in diametralem Gegensatz zur augustinischen Vorstellung, dass Gottesliebe letztlich in der Aufgabe der Subjektivität besteht: Nicht der Wille des Menschen soll geschehen, sondern der Gottes. 87 In der Wahl des Bösen liegt somit ein depravierter und pervertierter Selbstbezug sowie eine Selbstüberhöhung bzw. -verfallenheit des Menschen. 88 Die Korruption des menschlichen Willens, die den Menschen zum Sünder macht, besteht in der Entscheidung gegen Gott und in dem damit verbundenen Verlust der Freiheit zum Guten. Der böse gewordene Wille taugt nur noch zum Sündigen, aber nicht mehr zum guten Handeln, wovon v. a. die Ausführungen in Confessiones VIII beredtes Zeugnis ablegen: Hier wird deutlich, dass Willensschwäche zur Signatur der postlapsarischen conditio humana geworden ist. Diese Idee einer Perversion des menschlichen Wollens im und seit dem Sündenfall bleibt aber dennoch der Konzeptualisierung des Vgl. Augustinus, lib. arb. II, 19, 50–53. Vgl. Augustinus, lib. arb. II, 3, 5–6: Der freie Wille ist dem Menschen von Gott zum rechtschaffenen Handeln verliehen worden. 87 Vgl. in diesem Sinne auch Mathewes (2001), 66, und Kohler (1993), 76–78. Man darf nicht vergessen, dass die Menschheit gleich für den allerersten – freilich schlechten – Gebrauch der Willensfreiheit (in der Ursünde) von Gott hart bestraft wird: nämlich durch den weitgehenden Verlust des freien Willens, der dann zum schwachen, i. e. zerrissenen Willen von Confessiones VIII mutiert, was letztlich einer existenziellen Störung im menschlichen Selbstverhältnis und -verständnis entspricht; vgl. hierzu Müller (2016), 48–52. 88 Vgl. Kohler (1993), 69 f. 85 86
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malum morale als privatio boni in vielerlei Hinsicht verpflichtet, wie aus den obigen Ausführungen deutlich geworden ist. Man darf diesen Abfall nämlich keineswegs als Totalkorruption deuten, bei der von der ursprünglichen Substanz des guten Willens gar nichts mehr übrig bliebe. Würde der Wille alle Gutheit und damit alle Seiendheit einbüßen, also in einen radikal bösen Willen verwandelt werden, dann gäbe es ihn gar nicht mehr. 89 Das antike Standardbeispiel für Privation, von dem Augustinus auch selbst an zentralen Stellen des Öfteren Gebrauch macht, nämlich Dunkelheit als Abwesenheit von Licht, ist hier bis zu einem gewissen Grade irreführend. Denn die im Bild mitschwingende Vorstellung absoluter Schwärze suggeriert, dass überhaupt kein Licht mehr da ist, also eine vollständige Negation jeglicher Helligkeit vorliegt; 90 doch ein Wille, der alle Gutheit unwiderruflich eingebüßt hätte, könnte überhaupt keine ontologische Grundlage mehr für eine an ihm auftretende Privation bzw. Korruption bilden. Böses als Privation kann nur an etwas auftreten, was zumindest noch einen residualen Charakter von Gutheit besitzt, was also noch privationsfähig ist. 91 Im Falle des menschlichen Willens bedeutet das konkret, dass er seine Ausrichtung auf Gott als das höchste Gute nicht unwiderruflich für alle Zeiten eingebüßt hat, sondern dass er zur Produktion und Umsetzung eines solchen Strebens aus eigener Kraft vorläufig nicht mehr fähig ist. Aber er ist prinzipiell noch heilbar, d. h. in seiner effektiven Ausrichtung auf das Gute restituierbar. Nicht ganz überraschend kommt hier dann bei Augustinus die göttliche Gnade ins Spiel, ohne die der Wille nicht mehr in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt und damit von seiner Perversion befreit werden kann. 92 Der Wille hat sich also durch seine Abwendung von Gott Vgl. Augustinus, lib. arb. II, 54, 204. Vgl. auch Augustinus, nat. b. 17 und ciu. XIX, 12: »Denn kein Gebrechen (vitium) ist so wider die Natur, dass es die letzten Spuren der Natur auslöschen könnte.« 90 Demgegenüber betont Augustinus selbst in nat. b. 15: »So werden auch Helles und Dunkles als gleichsam einander entgegengesetzt bezeichnet. Dennoch hat auch das Dunkle noch etwas an Licht, denn wenn es dessen völlig entbehrt, herrscht durch die Abwesenheit des Lichts Finsternis.« 91 Vgl. Augustinus, nat. b. 6: »Corruptio autem si omnem modum, omnem speciem, omnem ordinem rebus corruptibilibus auferat, nulla natura remanebit. […] Omnia autem natura, quae corrumpi potest, etiam ipsa aliquod bonum est; non enim posset ei nocere corruptio nisi adimendo et minuendo, quod bonum est.« Vgl. hierzu auch Schäfer (2014), 64. 92 Die göttliche Gnade stärkt bzw. restituiert den zerrissenen menschlichen Willen, 89
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nicht ein für alle Mal ge- bzw. vernichtet, sondern in seiner wesenhaften Fähigkeit ›nur‹ beschädigt. Neben diesen gnadentheologischen Dimensionen des bösen Willens hat dieser stringent aus der Privationslehre abzuleitende Gedanke auch eine Art epistemologischer Pointe: Wenn der menschliche Wille nach dem Sündenfall nicht total korrupt ist, kann er auch in seinem depravierten Zustand nicht völlig unerkennbar sein. Die Bosheit des Willens limitiert zwar die Möglichkeiten der menschlichen Selbsterkenntnis, setzt sie aber nicht vollkommen außer Kraft. Auch hier bedarf es dann natürlich der Gnade bzw. der göttlichen Illumination, um der menschlichen Schwäche endgültig ›aufzuhelfen‹ ; dennoch darf man die augustinische Rede von der Unerkennbarkeit des Bösen nicht als eine Art Mythologisierung verstehen, so als sei das Böse an sich und in uns ein Buch mit sieben Siegeln. Man kann das Böse nicht nur in seinem Leben – und auch in seinem eigenen Willen – erfahren, sondern man kann es auch begreifen; allerdings stets nur vom korrespondierenden Guten her, dessen Privation es bildet. 93 Zentrale Aussagen zum Bösen finden sich deshalb auch nicht zufällig in der augustinischen Schrift Zur Natur des Guten. 94 Die Fassung des bösen bzw. sündigen Willens als eines pervertierten Selbstbezugs, einer hochmütigen Selbstliebe, wird von Augustinus konsequent als Privation der normativ geforderten Gottesliebe entwickelt. Man kann die diesem Gedanken zugrunde liegende positive Seinsordnung nicht aus ihrer Verneinung im bösen Willen erkennen, wohl aber umgekehrt: Wer diese normative Ordnung verstanden hat, weiß auch um ihre mögliche Unterminierung. Was das Böse am bösen Willen ist, lässt sich also durchaus begrifflich und inhaltlich bestimmen (vgl. Teile 1–2). Nichts mehr ultimativ Aussagekräftiges lässt sich nach Augustinus hingegen zu seiner hinreichenden Ursächlichkeit feststellen, also zur unde mala voluntas-Frage (Teil 3); nur so viel, dass der böse Wille erstens nicht von Gott stammen kann, und zweitens, dass er seine Ermöglichungsbedingung in der ontologischen Konstiindem sie ihm seine Einheit und damit seine Fähigkeit, das Gute auch handlungsleitend zu wollen, wieder zurückgibt. Dies heißt nichts anderes, als dass die Motivationsstruktur des Akteurs auf die wahren Güter ausgerichtet wird, so dass der Akteur im Vollzug seiner guten Handlungen an ihnen auch das entsprechende Gefallen findet. 93 Dass mit dieser Haltung bei Augustinus gerade keine Unterstellung der Sinnhaftigkeit des Bösen verbunden ist, zeigt Schäfer (2014), 15 f. 94 Vgl. Augustinus, nat. b. 3–23; zu diesem zentralen Text zum Verständnis des malum bei Augustinus vgl. auch Schäfer (2014), 64–78.
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tution der Geschöpflichkeit als Schaffung eines wandelbaren Seins aus dem Nichts hat. Dies erklärt das In-die-Welt-Kommen des malum morale nicht restlos, aber eine ultimative kausale Erklärung für Willensakte lehnt Augustinus, wie oben in Teil 3 am Beispiel des Birnendiebstahls gesehen, eben letztlich ab. Das abschließende Fazit in Bezug auf meine Leitfrage lautet somit: Die Privations- und die Perversionslehre des Bösen stehen bei Augustinus in einem erkennbaren inneren Zusammenhang, sind also nicht als zwei verschiedene Ansätze in der augustinischen Erklärung des Bösen zu konzeptualisieren, trotz mancher Spannungen an der Oberfläche der Texte. 95 Die Perversion des menschlichen Willens ist letztlich als vom Menschen in seiner Freiheit selbst zu verantwortende Korruption bzw. Privation zu verstehen, welche seine sittlichen Ohnmachtserfahrungen in der postlapsarischen Natur grundiert. Das ist innerhalb der Prämissen der augustinischen Ontotheologie konsequent gedacht, auch wenn es m. E. doch mindestens einen gravierenden philosophischen Pferdefuß hat. Zumindest partiell verlässt nämlich die creatio ex nihilo-Idee als letzte Auskunft für die unde mala voluntas-Frage den Boden der Privationslehre: Denn die Wandelbarkeit des Willens, welche die Voraussetzung für seinen Abfall vom Guten ist, liegt letztlich darin begründet, dass er nicht so geschaffen worden ist, dass er aus sich heraus ewig gleichbleibend wäre – im Gegensatz zu Gott und seinem Willen, auf den genau das zutrifft. 96 Die potenzielle Nichtigkeit des menschlichen Willens, also seine Fähigkeit zur – wenn auch nicht totalen – Selbstperversion wurzelt somit darin, dass Gott die Welt nicht aus sich und seiner eigenen Substanz heraus geschaffen hat, sondern eben aus dem Nichts. Deutet man das doch als eine Art konstitutiven Seinsmangel, wäre Augustinus’ Theologie wieder in Nöten. Also ist es konsequenter davon auszugehen, dass die prinzipielle Wandelbarkeit eine Wesensbestimmung all dessen darstellt, was außerhalb von Gott ist, also der gesamten Schöpfung. Wenn aber das Böse als privatio boni immer als Korruption einer wesenskonstitutiven Seinswirklichkeit zu verstehen ist, leuchtet nicht so recht ein, inwiefern die in der Freiheit des Willens angelegte Möglichkeit seiner Änderung zum Schlechten Contra: Mathewes (2001), 6 f. und 75–81, der »evil as privation« und »sin as perversion« als »two distinct conceptual mechanisms« sieht. 96 Zu diesem Verständnis von wahrer Seiendheit als ewiger Unveränderlichkeit vgl. Augustinus, mor. II, 1, 1. 95
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in ihrer Realisierung grundlegend als Privation begriffen werden kann. Dass sich etwas Wandelbares wandelt, kann zumindest nicht per se als Korruption seiner eigenen Natur begriffen werden; letztlich verbürgt ja auch die Wandelbarkeit des menschlichen Willens die soteriologische Möglichkeit seiner Rückkehr vom Bösen zum Guten mithilfe der göttlichen Gnade. In diesem Punkt, an dem Wandelbarkeit als ein Seinsmangel der geschöpflichen Natur in toto erscheint, wirkt die Fundierung der Theorie des bösen Willens in der ontotheologischen Privationslehre des malum bei Augustinus philosophisch unbefriedigend. 97
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Zur späteren Kritik an der augustinischen Privationslehre in der Neuzeit vgl. Hermanni (1998). Für theologische Einwendungen vgl. Dalferth (2008), 214–217. 98 Für die Abkürzungen der Werke von Augustinus verwende ich die gängigen Siglen aus dem von Cornelius Mayer u. a. herausgegebenen Augustinus-Lexikon (Basel 2004 ff.), die hier jeweils in eckigen Klammern angegeben sind. 97
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Kants Theorie des radikal Bösen Thomas Buchheim
1.
Kants Argument für die Universalität des radikal Bösen im Menschen
Die allem Anschein nach etwas zu kräftig geratene Behauptung Kants in seiner Religionsschrift, er habe einen »Beweis« darüber geführt, 1 dass das radikale Böse im Menschen nicht nur vom einzelnen Individuum gelte und zu behaupten sei, sondern von der ganzen Gattung, so dass kein Mensch davon ausgenommen wäre, hat die Kant-Interpreten immer wieder verwundert bis irritiert. Und es darf eigentlich bis heute der offiziellen Kantexegese nach als ungeklärt gelten, wie Kant zu dieser ungeheuerlichen Aussage hat kommen und wie ein solcher Beweis sich in zumindest seinen Augen hätte darstellen können. Angesichts der wiederholten Versicherungen Kants kann nie[1] »Daß wir aber unter dem Menschen, von dem wir sagen, er sei von Natur gut oder böse, nicht den einzelnen verstehen (da alsdann einer als von Natur gut, der andere als böse angenommen werden könnte), sondern die ganze Gattung zu verstehen befugt sind, kann nur weiterhin bewiesen werden, wenn es sich in der anthropologischen Nachforschung zeigt, daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charakteren als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte.« (RGV AA VI: 25 = B14 f.) [2] »Man wird bemerken: daß der Hang zum Bösen hier am Menschen, auch dem besten, (den Handlungen nach) aufgestellt wird, welches auch geschehen muß, wenn die Allgemeinheit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier dasselbe bedeutet, daß er mit der menschlichen Natur verwebt sei, bewiesen werden soll.« (RGV AA VI:30 = B23) [3] »[Kant zitiert den Apostel Paulus] ›es ist Keiner, der Gutes thue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer.‹* * Von diesem Verdammungsurtheile der moralisch richtenden Vernunft ist der eigentliche Beweis nicht in diesem, sondern im vorigen Abschnitte enthalten; dieser enthält nur die Bestätigung desselben durch Erfahrung, welche aber nie die Wurzel des Bösen in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz aufdecken kann, die als intelligibele That vor aller Erfahrung vorhergeht.« (RGV AA VI:39 = B 39)
1
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Thomas Buchheim
mand mit Aussicht auf Rechtfertigung behaupten, dass Kant gar nicht gemeint habe, einen strengen Beweis zu führen, sondern nur einige Anhaltspunkte vor allem empirischer oder gar autoritativer Art dafür ins Feld geführt habe, warum der Hang zum Bösen im Menschen so universell und in allen verwurzelt sei. Bereits vor mehr als 15 Jahren habe ich in einem kleinen Aufsatz über diese Frage in einem Kongressband versucht, den offenkundig intendierten »Beweis« Kants mit dafür hinreichenden Prämissen zu verbinden, die Kant in der Religionsschrift an die Hand gibt, und ihn so als nachvollziehbar schlüssig aufzuzeigen. 2 Da dieser Beitrag von der Kant-Forschung so gut wie gar nicht kritisch oder zustimmend wahrgenommen wurde, möchte ich heute einen zweiten Versuch in derselben Angelegenheit unternehmen. Entscheidend für den Beweis, den Kant führt, ist es, dass die Gründe, die erklären würden, warum irgendein Mensch einen Hang zum Bösen besitzt, so verfasst sein müssen, dass kein anderer Mensch als der bewusste, nicht ebenfalls von denselben Gründen gleichermaßen betroffen wäre. 3 Man kann also, wenn überhaupt, dann nur ein für alle Mal oder besser: bei einem Menschen für alle erklären, ob und warum auch jeder beliebige andere Mensch etwa einen originären Hang zum Bösen hätte oder nicht, sondern vielmehr zum Guten. Die besagten Gründe sucht Kant in einer, wie er sich ausdrückt, »anthropologischen Nachforschung« (AA VI:25) auf, die er unter der Überschrift »Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur« (AA VI:26) im ersten Stück der Religionsschrift angestrengt hat. Es ist aber klar, dass gewisse Anlagen der menschlichen Natur jedenfalls so sind, dass nichts, was immer ein Mensch wäre, von ihnen ausgenommen sein könnte. Und weiterhin scheint auch klar, dass das, was irgendein Mensch nur aufgrund seiner Anlagen ohne Einsatz von weiteren individuellen Besonderheiten tun würde, sich invariant gegenüber allem Wechsel von individuellen Besonderheiten und damit invariant gegenüber dem verhält, was ein menschliches Individuum von einem anderen unterscheidet. 4
Vgl. Buchheim (2001). Siehe oben Fn.1 Text [1]. 4 Diese Invarianz würde zumindest dann gelten, wenn man zugleich das Leibniz’sche Prinzip des zureichenden Grundes anerkennt, wonach nichts ohne Grund mehr so als anders geschieht. Kant affirmiert dieses Prinzip in Zitat [1], wenn er bekundet, dass dann »kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen«. 2 3
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2.
Anthropologische Nachforschung: Die drei Anlagen des Menschen und ihr Beitrag zum »Beweis«
Kant unterscheidet drei Anlagen des Menschen – die Anlage für die Tierheit, die Anlage für die Menschheit und die Anlage für die Persönlichkeit –, 5 von denen die ersten beiden weder Anlagen zum moralisch Guten noch zum Bösen sind, sondern moralisch völlig neutral, obwohl ihrem Natursinn nach förderlich für sein Gesamtleben und dessen innere Zwecke, während allein die dritte Anlage, nämlich die Anlage des Menschen zur Persönlichkeit, eine Anlage des Menschen zum moralisch Guten (nicht aber zum Bösen) ist. Das Böse hingegen ist dann vielmehr das, was der einzelne Mensch wider seine Anlage zum Guten selbst tut, und zwar allein aufgrund aller seiner Anlagen in ihrem Verhältnis zueinander ohne Einmischung irgendeiner individuellen Besonderheit. Die erste Anlage, die der Mensch nach Kant hat, ist die »Anlage für die Thierheit des Menschen als eines Lebenden«; sie besteht in dem, was Kant die »mechanische Selbstliebe« nennt, d. h. seine Neigung erstens zur Selbsterhaltung, zweitens zur Fortpflanzung und drittens zur Gemeinschaft mit anderen Menschen. All diese Triebe sind moralisch neutral, weder Anlagen zum Bösen noch zum moralisch Guten. (AA VI:26) Die zweite Anlage in ihm ist die »Anlage für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen« Wesens. Sie besteht in der physischen, aber doch zugleich immer »vergleichenden Selbstliebe«. Das Leben im Selbstvergleich und mit der Neigung, »sich einen Wert in der Meinung anderer zu verschaffen« (AA VI: 27), ist zwar eine Art Stamm für mögliche »Laster der Cultur« und damit für eine gewisse Bösartigkeit, die auf diesen Stamm leicht »gepfropft« werden kann, der aber für sich genommen auch noch weder moralisch gut noch böse ist. Allein die dritte Anlage des Menschen ist die Anlage »für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung 5 [4] »Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur. Wir können sie in Beziehung auf ihren Zweck füglich auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen: 1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden; 2. Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens« (AA VI: 26).
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fähigen Wesens« (26), welche uns Kant zufolge als einzige Anlage zum moralisch Guten gegeben ist. Diese Anlage für die Persönlichkeit ist nun auf sehr interessante und aufschlussreiche Weise verfasst: Sie besteht nach Kant in der »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür« (AA VI:27). 6 Diese Empfänglichkeit ist wiederum aus zwei Stücken zusammengesetzt: Erstens aus der »Persönlichkeit selbst« (AA VI:28), worunter, wie Kant erklärt, »die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung« zu verstehen ist. Dieses Element, dass in unserer Auffassung das moralische Gesetz Achtung verdient, ist nach Kant etwas ganz und gar Allgemeines, nämlich die »Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet« (ebd.). Ein solches Universale der Menschheit kann deshalb, so sagt Kant ausdrücklich, noch keine Anlage des einzelnen menschlichen Individuums genannt werden. Dazu, d. h. zu einer Anlage im Einzelindividuum, wird die Persönlichkeit vielmehr erst durch das zweite Stück, das einen Faktor in der Natur des Willensvermögens jedes einzelnen Menschen bezeichnet, der ihn geneigt macht, die Achtung für das Gesetz als Triebfeder der Willkür in seine persönliche Maxime aufzunehmen. Dieser subjektive Faktor oder »subjektive Grund« (ebd.) in jedem einzelnen Menschen sei dann eben jene Anlage für die Persönlichkeit, die jedem einzelnen Menschen qua individuellem moralischen Subjekt gleichermaßen zukommen muss, und sei zugleich eine Anlage zum moralisch Guten, auf die, wie Kant erklärt, »schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann« (AA VI:27). Weil dieser Faktor in der Anlage für die Persönlichkeit dem moralischen Gesetz gilt und das Gesetz das Gesetz ist (d. h. kategorisch unbedingt und allgemein), kann ihrer Natur nach die Anlage nur auf die oberste Maxime des betreffenden Subjekts gerichtet sein und ist deshalb eine Anlage zum (moralisch) Guten. Indessen ist aber auch klar, dass der Schritt dazu, dass die Persönlichkeit oder die Achtung fürs moralische Gesetz tatsächlich für sich hinreichende Triebfeder ist und damit zuoberst in die Maxime eines menschlichen Individuums eingegliedert wird, nicht das Werk der beschriebenen Natur-
[5] Anlage der Persönlichkeit = »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür« (AA VI:27).
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anlage für die Persönlichkeit, sondern nur das Werk der freien Willkür des betreffenden Individuums selbst sein kann. Das bedeutet: Die Anlage zum moralisch Guten begünstigt zwar in jedem Individuum die Aufnahme der Achtung für das Gesetz als Triebfeder in dessen Maxime, aber sie – die Anlage – kann, obwohl der Anspruch des Gesetzes auf den obersten Platz naturgemäß besteht, diese Triebfeder noch nicht für sich allein hinreichend machen. Dies vielmehr macht, wenn sie es macht, die freie Willkür dieses menschlichen Individuums. Ist nun – und dies ist ein entscheidender Gedankenschritt für den Beweis Kants – die Achtung für das Gesetz in irgendeinem moralischen Subjekt für sich hinreichende Triebfeder des Handelns (dieses Subjekt also im moralischen Sinn gut), dann kann es nicht anders sein, als dass die Triebfeder des moralischen Gesetzes die oberste Maxime der Willkür für dieses Subjekt abgebe – egal welche sonstigen Maximen und Willensneigungen ein solches Subjekt in concreto davon abgesehen auch noch haben würde. Das heißt, ungeachtet aller anderen Verfassungen und Willensneigungen irgendeines moralischen Subjekts, durch die sich das eine menschliche Individuum von anderen Individuen unterscheidet, müsste dessen freie Willkür die Achtung für das Gesetz zur hinreichenden Triebfeder und somit notwendigerweise obersten Maxime machen. Unbestreitbar ist ferner die oft erklärte Auffassung Kants, dass jedes einzelne menschliche Individuum dies »kann«, weil es es soll. So auch hier: 7 Welches menschliche Individuum auch immer in Betracht gezogen würde – ein jedes von ihnen kann gleicherweise, und zwar ungeachtet aller anderen individuellen Willensmeinungen und Umstände, in denen es sich befinden mag, aufgrund seiner Anlage zum moralisch Guten die Achtung für das Sittengesetz zur für sich hinreichenden Triebfeder seines Willens machen und so aus eigener [6] »Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein, sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern; er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht tut, der Zurechnung in dem Augenblick der Handlung ebenso fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. – Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser Tat fragen, um danach den Hang, d. i. den subjektiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und womöglich zu erklären.« (AA VI:41 = B43; Hvg. vom Vf.)
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Freiheit moralisch gut sein. Dies ist also ein ganz allgemeiner, für alle Individuen gleich und aus den gleichen Gründen zu absolvierender Schritt. Aus diesem Grund ist nun wiederum klar, dass auch, dieses aus Freiheit gegebenenfalls nicht zu tun, sondern aus Freiheit böse zu sein, d. h. der Achtung des Gesetzes zwar einen Platz in den eigenen Maximen, aber nicht den obersten einzuräumen (so dass die Gesetzesachtung immerhin zusammen mit anderen, aber nicht für sich allein genommen hinreichend als Triebfeder wäre) ein ebenso zuoberst (über allen individuellen Differenzen) angreifendes und damit für alle Individuen gleiches Momentum aufbieten müsste wie die umgekehrte Entscheidung zum Guten, die die gemeinsame Anlage dazu in Kraft setzte. Denn immer muss nach Kant das eventuelle Böse ein auf gleicher Ebene ansetzendes, positives Widerspiel des eventuellen moralischen Guten sein. Deshalb kann es also nicht anders sein, als dass auch die – obwohl freie – Torpedierung jenes für alle Individuen gleich gegebenen Könnens, ebenso allgemein und ohne Rücksicht auf alle anderen Willensmeinungen und Situationen, durch die sich menschliche Individuen voneinander unterscheiden, stattfindet wie dieses Können selbst. Die freie Torpedierung betrifft also immer die oberste Maxime in einem jeden menschlichen Individuum, und diese oberste ist eine ganz und gar allgemeine ohne Unterschied der Individuen: [7] Es kann aber der Ausdruck von einer Tat überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objekte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden.« (AA VI:31; Hvg. vom Vf.)
Und daraus folgt nun, dass ein aus Freiheit zugezogenes radikales Böses immer auf die gesamte Gattung aller Menschen gleich zu beziehen ist und nicht nur auf gewisse Einzelfälle. Genauso verhielte es sich allerdings, wenn irgendein Mensch sich frei dafür entschiede, die ursprüngliche Anlage zum moralisch Guten in ihm tatsächlich umzusetzen und zu tun, was er soll, nur weil er es soll (aus Pflicht), und was er aus dem gleichen Grund auch kann: nämlich die Achtung des Gesetzes zur obersten Maxime seines Wollens und damit zur für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür zu machen. Auch dies wäre automatisch der gleiche Freiheitsakt in dem einen und jedem insoweit 100 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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völlig gleich gekämmten und damit aller Menschen, so viele dieser Gattung zugehörig sind. Denn in beiden Fällen sind nur universelle Faktoren und Bedingungen der Entscheidung im Spiel, die transzendental vor einer individuellen Unterschiedlichkeit der Menschen liegen, während alle Verschiedenheit der Materie des Wollens verschiedener menschlicher Individuen erklärtermaßen völlig außer Betracht bleibt. Die somit notwendig in allen Menschen als gleichartig bewiesene oberste Maxime sagt allerdings strenggenommen noch nichts darüber, ob sie nun der moralischen Qualität nach böse oder gut ist. Dies vielmehr, dass sie böse ist (und nicht stattdessen gut), kann nach Kant nur die Erfahrung lehren und zwar am ehesten die, die ein menschliches Individuum mit sich selbst macht. Aber das können wir getrost dahingestellt sein lassen. Denn Kant spricht nur so, dass der Hang im vorliegenden Zusammenhang »als böse angenommen« wird, 8 aber nicht, dass er tatsächlich böse sei. Wie kommt es aber, dass Kant behaupten kann, dass, obwohl die Menschen individuell verschieden sind und in völlig unterschiedlichen Situationen entscheiden, diese Unterschiedlichkeiten sich nicht einmischen in die Grundentscheidung eines Menschen entweder zum Guten oder zum Bösen, sondern diese Grundentscheidung eine transzendental separierbare Tat sein muss, die allen seinen konkreten Freiheitsentscheidungen zugrunde liegt? Dies kommt daher, dass Kant auch im Falle des moralisch Guten das Dogma aufstellt, dass die reine praktische Vernunft in Gestalt der Achtung für das Gesetz allein für sich zum konkreten Handeln eines individuellen Menschen hinreichend sein könne und solle. Das ist die massive These der Kritik der praktischen Vernunft: Obwohl die Menschen so verschieden und in verschiedener Lage befangen sind, ist doch ein jeder nur aus reiner praktischer Vernunft vermögend zu handeln, egal was sonst bei ihm wichtig oder unwichtig ist. Es muss also so sein, dass eine transzendentale Nichteinmischung aller individuellen Unterschiede in die Freiheitsentscheidung eines jeden Menschen möglich und gefordert [8] »Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird); vornehmlich aber, weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses gerade unsere eigene Tat ist, ebensowenig weiter eine Ursache angeben können als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.« (AA VI:31 f.; Hvg. vom Verf.)
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ist. Und dieselbe transzendental mögliche Nichteinmischung individueller Unterschiede muss daher auch bei der freien Entscheidung zum Bösen der Fall sein – weswegen das Böse jedenfalls, wie Kant sich ausdrückt, einen »Vernunftursprung« besitzt (vgl. Zitat [9] und s. u. Abschnitt 3). 9 Denn nur ein Vernunftursprung wäre so zu denken, dass er universell der gleiche für ein jedes rationale Wesen von den Naturanlagen sein müsste, wie eben der Mensch nach obiger anthropologischer Untersuchung eines ist. Wir erkennen diesen Vernunftursprung zwar nicht, weil er vielmehr ein Konstituens unserer Vernünftigkeit ist, die bei aller Erfahrung und deshalb für jede mögliche Erkenntnis, die wir gewinnen, bereits beteiligt und in sie investiert werden muss, so dass sich der Vernunftursprung für uns nicht objektiv erkennen lässt. 10 Aber immerhin lassen sich auch nach Kant in der Weise plausibler Erzählungen gewisse Reime darauf geben, worin dieser Ursprung in der Vernunft liegen könnte, wie im dritten Abschnitt noch deutlich werden wird. Jedenfalls aber folgt aus dem im Haupttext zuletzt zitierten Satz (Zitat [7]) auch, dass die intelligible Tat nach Kant eine innere Bedingung jeder einzelnen mit Freiheit begangenen Handlung jedes Menschen sein muss. Denn diese, die einzelnen Freiheitshandlungen, werden immer »gemäß« jener obersten Maxime ausgeübt. Die intelligible Tat ist somit eine allgemeine und gleichartige Freiheitswurzel für alle Handlungen aller Menschen, so weit sie, der Behauptung [9] »Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein, sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern; er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht tut, der Zurechnung in dem Augenblick der Handlung ebenso fähig und unterworfen, als ob er, mit den natürlich Anlagen zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. – Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprung dieser Tat fragen, um danach den Hang, d. i. den subjektiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und womöglich zu erklären. Hiermit stimmt nun die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern, ganz wohl zusammen; indem sie ihn in einer Geschichte vorstellig macht, wo, was der Natur der Sache nach (ohne auf Zeitbedingung Rücksicht zu nehmen) als das Erste gedacht werden muß, als ein solches der Zeit nach erscheint.« (VI:41) 10 Vgl. AA VI:39 Fn.: »[…] Erfahrung, welche aber nie die Wurzel des Bösen in der obersten Maxime der freien Willkür aufdecken kann, die als intelligibele Tat vor aller Erfahrung vorhergeht.« 9
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nach, zurechenbar oder aus individueller Freiheit getan werden. Zurechenbare Handlungen müssen also nach Kant immer und mit Notwendigkeit eine transzendentale Unterfütterung oder Fundierung besitzen (in ihre allgemeine, vernunftursprüngliche Verwurzelung hinein), die unmöglich innerhalb der differenten Zeitbedingungen und Umstände verschiedener Individuen Grund fassen kann. Diesen Punkt – der notwendigen Allgemeinheit des radikal Bösen für alle Menschen – bekräftigt Kant noch einmal in folgendem Satz: [8] Die erste [sc. die rein intelligible Tat] heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird); vornehmlich aber, weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses gerade unsere eigene Tat ist, ebensowenig weiter eine Ursache angeben können als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört. (AA VI:31 f.; Hvg. vom Vf.)
Wenn wir genau hinsehen, dann kann also die Verderbnis der obersten Maxime einerseits nicht ausgerottet, andererseits für ihre verderbte moralische Qualität ebenso wenig weiter eine Ursache angegeben werden als von einer Grundeigenschaft unserer Natur. (1) Zum ersten Punkt (dass der Hang zum Bösen in der Gattung nicht ausgerottet werden kann), ist zu sagen, dass dies nicht ausschließt, diese Wurzel unserer Freiheit in ihren späteren Auswüchsen zum Guten zu restituieren. Denn jener Hang zum Bösen greift, wenn überhaupt wo, dann an unserer immer vorhandenen Anlage zum moralisch Guten an, die ihrerseits dadurch nicht hinweggeräumt, sondern von unserer intelligiblen Tat nur moduliert oder auf eine bestimmte Weise verzerrt wird. Wenn aber eine solche Verzerrung jemals behoben würde, dann jedenfalls könnte dies nur in je einzelnen Individuen im Unterschied zu anderen der Fall sein, je nach den zeitlichen und persönlichen Umständen, in denen sie existieren und wie sie über diese Umstände nachdenken. Die Freiheit, derer wir aufgrund jenes transzendentalen Unterbaus in unseren sinnlichen Handlungen erst fähig sind, kann also durch die aus Freiheit geprägten sinnlichen Umstände auch wieder zurück- und durchschlagen auf die Modulation unserer Anlage zum Guten. Dies ist es, was Kant später als eine »Revolution in der Gesinnung im Menschen« (AA VI:47) beschreibt, die aber wesentlich nur als eine »Änderung« des 103 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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Herzens in der Zeit und damit innerhalb des Feldes der individuellen Verschiedenheiten zwischen den Menschen Platz greifen könnte. Eine Revolution der Gesinnung kann nicht aus der reinen praktischen Vernunft des Menschen kommen und nicht einen Vernunftursprung haben so wie das Böse im Menschen. Obwohl die Verzerrung der moralischen Vernunft dadurch nicht ungeschehen gemacht wird, kann sie doch durch den Zeitlauf der Dinge und Handlungen in einzelnen Menschen geheilt und zum Guten restituiert werden. (2) Zum zweiten Punkt (dass ebenso wenig weiter eine Ursache für den Hang zum Bösen angegeben werden könne wie für eine Grundeigenschaft unserer menschlichen Natur) möchte ich nur noch bemerken, dass dies nicht ausschließt, eine das Böse nahelegende, wenn auch nicht zureichende Begründung dafür in eben den allgemeinen Grundeigenschaften des Menschen und ihrem Verhältnis zueinander aufzufinden und namhaft zu machen. Denn die drei Anlagen (zur Tierheit – Menschheit – Persönlichkeit) sind nicht isoliert voneinander, sondern sie bauen nach Kant aufeinander auf: Die mittlere, d. i. die zur Menschheit als eines lebenden und zugleich vernünftigen Wesens, baut explizit auf der ersten auf als derjenigen, aus welcher der Mensch ein lebendes Wesen ist; und die dritte wiederum baut auf der zweiten auf als die Anlage, aus der heraus der Mensch ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen ist; somit aber baut die dritte vermittels der zweiten ebenfalls auf der ersten auf, aus der heraus der Mensch ein lebendes Wesen ist. Das bedeutet zusammen: In der aus den Anlagen her aktualisierten Lebensweise und den in Gebrauch genommenen Vermögen des Menschen durchdringen sich alle drei Anlagen und zeitigen so gemeinsame und von ihnen allen auf einmal beschickte Tätigkeiten und Handlungen. Das gilt nun natürlich auch für die freie Willkür, und zwar bevor sie irgendwelche zwischen verschiedenen Menschen verschiedene Umstände und Verfassungen in Erwägung zieht. Die im Leben zu treffende Freiheitsentscheidung des Menschen kann daher nur in Konfrontation mit den Bedingungen seiner Sinnlichkeit überhaupt – nicht individuellen Bedingtheiten seiner persönlichen Lage – stattfinden. Die Reinheit der praktischen Vernunft und des moralischen Gesetzes in ihm müsste bewahrt werden gegenüber der Sinnlichkeit und dem Selbstvergleich mit anderen Menschen. Man kann nach Kant (und da gebe ich ihm Recht) unmöglich behaupten, dass der Mensch prinzipiell nicht in der Lage sei, diese Reinheit der praktischen Vernunft in seiner persönlichen Willkürentscheidung zu be104 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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wahren. Man kann aber andererseits auch nicht verneinen, dass eben die ihm zugemutete Konfrontation, die Zumutung sinnlichen Lebens für seine Vernunft es ihm nahelegt, der reinen Vernunft eine Unwucht und Trübung derart zu verschaffen, dass das Gesetz allein für ihn niemals hinreichend sei, sich einer Handlung in seinem Sinn zu verschreiben. Dieser Nahelegung scheint der Mensch in seiner Gattung erlegen zu sein, ohne dass ihr zu widerstehen unmöglich für ihn wäre.
Acht Kantische Propositionen, aus den sich der Beweis ergibt: (1) Die Gründe, die für einen Menschen ein radikal Böses konstatieren lassen, sind so, dass kein Grund bestehen kann, irgendwelche anderen Menschen davon auszunehmen. (B14 f.) (2) Das Böse kann generell nicht als Privation des Guten, sondern muss, wo immer es auftritt, als aus Freiheit getanes Widerspiel des Guten begriffen werden. (3) Ein radikal Böses im Menschen kann nur so gedacht werden, dass es einer noch zum Voraus (als transzendentale Grundlage) bestehenden, für alle Menschen gleichen und daher gattungsallgemeinen Anlage zum Guten positiv entgegenwirkt. (4) Ein radikal Böses kann nicht als umständehalber bedingte und damit individuell variierende Entkräftung der Anlage zum Guten in einzelnen Subjekten begriffen werden. (5) Ein radikal oder in der Wurzel einer freien Willkür des menschlichen Individuums liegendes Böses muss die oberste Maxime betreffen, mit der ein individueller Wille die Allgemeinheit der menschlichen Persönlichkeit zum subjektiven Grund seines individuellen Wollens macht. (6) Dieser Quellpunkt einer Umsetzung der allgemeinen Persönlichkeit in die subjektive Empfänglichkeit dafür, das moralische Gesetz zur allein hinreichenden Triebfeder des Handelns zu machen, kann kein »Zeitursprung«, sondern muss »Vernunftursprung« eines »sub-
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jektiven allgemeinen Grundes« (AA VI:41), d. i. eines Hanges entweder zum Guten oder zum Bösen sein. (7) Alle menschlichen Individuen sind in Ansehung eines bloßen Vernunftursprungs ihrer moralischen Handlungsweise ohne Rücksicht auf zeitlich bedingte Unterschiede zwischen ihnen notwendigerweise gleich. (8) Die Erfahrung zeigt, dass der moralische Hang, der die menschliche Willkür in ihrer obersten Maxime bestimmt, eher von der Qualität des Bösen als der des Guten ist.
3.
Philosophische Unerforschlichkeit und biblische Erzählung: Andeutungen zum »Vernunftursprung« des Bösen
Auffällig ist, dass Kant, obwohl er die erste Wurzel des Bösen im Vorhinein als unerkennbar für den Menschen erklärt hat, 11 dem Ersten Stück seiner Religionsschrift dennoch einen Abschnitt hinzugefügt hat, der »Vom Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur« überschrieben ist. Es ist nämlich trotz der besagten Unerforschlichkeit dem Menschen, wie Kant meint, »darnach zu fragen unvermeidlich« (s. Zitat [11]), wie es zu erklären sei, dass er entweder – und ziemlich offensichtlich – in der Wurzel böse, oder aber wenigstens nicht völlig chancenlos sei, durch eine Neugründung seiner Gesinnung ebenso aus Freiheit gut zu werden. Unvermeidlich ist diese Frage aber deshalb, weil seine Freiheit sich unmöglich damit abfinden könnte, dank eines factum brutum so oder anders zu sein, aber auch nicht damit zufrieden wäre zu sagen, dass der Grund dafür nicht an ihm selbst liege, sondern an einer Art von glücklichen oder unglücklichen UmVgl. AA VI:21: [10] »Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur so viel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund*) der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen […]«. »*) […] da […] außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjektiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.« Ferner AA VI:25: [11] »Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjektive Grund oder die Ursache erkannt werden (obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist: weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wieder ihren Grund haben muß).«
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ständen, denen er zufällig ausgesetzt ist. Diese unvermeidliche Frage, so setzt Kant im IV. Abschnitt mit der besagten Überschrift auseinander, dürfe einen aber nicht dazu verleiten, nach einem »Zeitursprung« oder einer Ursache im zeitlichen Verlauf der Dinge zu suchen, die sie beantworten könnte, sondern nur dazu, allgemeine Erwägungen eben über einen möglichen »Vernunftursprung« des Bösen anzustellen, der die »innere Möglichkeit« (AA VI:40) eines als wirklich angenommenen Bösen bei gegebenen Handlungen auf dafür vorauszusetzende Konstellationen einer freien Willkür beziehbar machen würde. Die »unschicklichste« aller diesbezüglichen Vorstellung sei aber die, dass man denke, das moralisch Böse sei durch »Anerbung« von den ersten Eltern auf uns gekommen; denn nichts, was wir nicht selbst getan haben, kann wie das Böse uns doch selbst zugerechnet werden. Dementsprechend können wir einen Vernunftursprung des Bösen nur so vorstellen, dass wir jederzeit »unmittelbar aus dem Stande der Unschuld« auf frei getanes Böses verfallen (AA VI:41), obwohl wir es ebenso frei unterlassen könnten: [12] Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein, sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern; er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht tut, der Zurechnung in dem Augenblick der Handlung ebenso fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. – Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprung dieser Tat fragen, um darnach den Hang, d. i. den subjektiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und womöglich zu erklären. (AA VI:41 = B43)
Obwohl nun Kant vorher erklärt hatte, dass eine »Anerbung« des Bösen nach dem Muster der sogenannten Erbsünde die »unschicklichste« aller diesbezüglichen Vorstellungsarten sei, nimmt er in der Folge dennoch Bezug auf die biblische Erzählung von dem Ursprung des Bösen bei Adam und Eva – gerade weil diese Erzählung so gebaut ist, dass die dort beschriebenen Menschen eben aus dem Stande der Unschuld zur gesetzeswidrigen Tat gelangt sind. Was die Erzählung von Adam und Eva in zeitlicher Anordnung auseinanderziehe, das müsse man so verstehen, dass es die nicht zeitlich, sondern begrifflich geordnete Konstellation von Vernunftvorstellungen sei, die einen Vernunftursprung des Bösen erklärlich machen könnten: 107 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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[13] Hiermit stimmt nun die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern, ganz wohl zusammen; indem sie ihn in einer Geschichte vorstellig macht, wo, was der Natur der Sache nach (ohne auf Zeitbedingung Rücksicht zu nehmen) als das Erste gedacht werden muß, als ein solches der Zeit nach erscheint. (AA VI:41)
Wesentlicher Anfangspunkt der Erzählung sei, dass der Ursprung des Bösen nicht in einem bereits vorhandenen Hang zum Bösen gesucht werde, »weil sonst der Anfang derselben nicht aus der Freiheit entspringen würde«, sondern »von der Sünde (worunter die Übertretung des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebots verstanden wird)«. (AA VI: 41 f.) Diese Konstellation der Erzählung nämlich erlaubt es erst, dass der, der das Gebot übertritt, aus einem davon ursprünglich unbelasteten und damit ihm gegenüber unschuldigen Anfangsverhältnis dazu betrachtet werde. Zugleich kann auf diese Weise davon abgesehen werden, dass die Quelle des Gebots in derselben Instanz zu suchen ist, die aus ihrer Freiheit heraus (in jenem Hang) ein bereits verdorbenes Verhältnis dazu besitzt: Die Sünde nimmt Anstoß an einem Gebot, das nicht von dem kommt, der sich aus Freiheit gegen es wendet, während das Böse, wie von Kant vorher gezeigt, immer schon nur auf der Grundlage einer aus dem Gebrauch der Freiheit entstammten Wendung gegen das Gesetz möglich ist. Kant benutzt demnach die Erzählung der Schrift, um den Vernunftursprung des Bösen in seinen komplexen inneren Erfordernissen (etwa die, dass das Böse aus der Unschuld heraus und trotz einer Anlage zum Guten, via der Gründung eines Hanges, zu jeder Gelegenheit einer bösen Handlung aus Freiheit erneut entsteht) in Form einer übersichtlichen Verlaufsgeschichte darzustellen. Die expliziten Konfigurationselemente der Geschichte sind implizite Momente in der Komplexität des Vernunftursprungs des Bösen, d. h. eines »subjektiv allgemeinen Grundes«, aus dem alle Menschen immer eine Übertretung in ihre Maxime der freien Willkür aufnehmen, so lange, bis sich einzelne zu einer Revolution ihrer Gesinnung entschließen. Ein (von jedem selbst sich zugezogener) Hang zum Bösen muss deshalb darin eine Rolle spielen, weil die gleiche Unschuld und gleiche Anlage zum Guten aller den Ausgangspunkt bildet, diese aber, nicht wie die einzelne böse Handlung eines Freiheitssubjekts in irgendeine Zeitsituation fallen können. Die Figur des Hanges macht es möglich, den Ursprung des Bösen abseits von jeglicher Zeitsituation und Einzelgelegenheit des Handelns eines bestimmten Menschen zu suchen, 108 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Kants Theorie des radikal Bösen
d. h. in der für alle gleichen und allgemeinen Vernunft selbst, insofern sie nur erst zum Willkürgebrauch eines je einzelnen Subjekts herangezogen wird. In diesem Abseits von jeglicher Zeitsituation und Einzelgelegenheit des Handelns spielt nun auch die Paradiesgeschichte der Bibel, die Kant aus dem erklärten Grund (um implizite Momente des komplexen Vernunftursprungs in expliziter Gestalt zur Abhebung zu bringen) so ausgiebig heranzieht, obwohl er sich am Ende dafür in einer Fußnote entschuldigt: »Das hier Gesagte muß nicht dafür angesehen werden, als ob es Schriftauslegung sein solle, welche außerhalb der Grenzen der Befugnis der bloßen Vernunft liegt.« (AA VI:43 Fn.) Es komme nur darauf an, dass der erklärte Sinn »für sich und ohne allen historischen Beweis wahr, dabei aber zugleich der einzige ist, nach welchem wir aus einer Schriftstelle für uns etwas zur Besserung ziehen können« (ebd.). In diesem Zusammenhang, um einen an sich wahren, aber verwickelten Sinn anhand einer Geschichte in einzelnen Gestaltelementen sichtbar zu machen, weist Kant zweimal auf eine Schriftpassage hin (Mose III, 6), die man meines Wissens bisher noch nicht für das Verständnis von Kants Theorie des Vernunftursprungs des Bösen beachtet hat. Er weist nämlich nur auf die Stelle hin, ohne sie des Näheren anzuführen oder ihren Sinn wiederzugeben. Der Zusammenhang bei Kants ist folgender: Gott habe das »moralische Gesetz« in Form eines generellen Verbots gegeben, von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Und weiter Kant: [14] Anstatt nun diesem Gesetze als hinreichender Triebfeder (die allein unbedingt gut ist, wobei auch weiter kein Bedenken stattfindet), geradezu zu folgen, sah sich der Mensch doch noch nach anderen Triebfedern um (III, 6), die nur bedingterweise (nämlich sofern dem Gesetze dadurch nicht Eintrag geschieht) gut sein können, und machte es sich, wenn man die Handlung als mit Bewußtsein aus Freiheit entspringend denkt, zur Maxime, dem Gesetze der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen. Mithin fing er damit an, die Strenge des Gebotes, welches den Einfluß jeder anderen Triebfeder ausschließt, zu bezweifeln, hernach den Gehorsam gegen dasselbe zu einem bloß (unter dem Prinzip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herabzuvernünfteln, woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz in die Maxime zu handeln aufgenommen und so gesündigt ward (III,6). (AA VI:42; Hvg. vom Vf.)
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Der zweimalige Hinweis auf die gleiche Bibelstelle erfolgt an dem Punkt, wo Kant am meisten über eben den Grund sagt, aus dem oder im Zuge dessen der Mensch sich hangmäßig zum Bösen wendet: Es ist die Einbettung der für sich hinreichenden Triebfeder des moralischen Gesetzes in zusätzliche Begründungen, warum man ihm folgen sollte. Diese Einbettung, nämlich ein Wissen, warum es an sich sinnvoll und vernünftig sei, dem Gesetz zu folgen, führt ihn im nächsten Schritt dazu, den eigenen Gehorsam gegenüber dem Gesetz zu einem »Mittel« der Begünstigung eigener Lebensverhältnisse »herabzuvernünfteln«, d. h. sich zu sagen, man würde letztendlich den eigenen Lebensinteressen Schaden zufügen, wenn man dem Gesetz nicht gehorcht; und dies führt im dritten Schritt dazu, dass die Eigeninteressen der Selbstliebe die Triebfeder aus dem Gesetz sogar überwiegen und in dieser korrupten Gestalt in die Maxime zu handeln aufgenommen werden, was dann bereits die erste Sünde ist (und hier verweist Kant eben erneut auf Mose »III, 6«). Die Botschaft, die Kant damit zur Abhebung bringt, ist also: Es ist der Anfang der Selbstverderbnis, in Bezug auf den Sinn des moralischen Gesetzes oder des göttlichen Gebots weise sein zu wollen und zu wissen glauben, warum es für einen selbst von Vorteil ist, dem Gesetz zu gehorchen. Denn das bringt unvermeidlicherweise konkurrierende Triebfedern außer der des Gesetzes selbst ins Spiel, aber das Gesetz sollte gerade als die für sich allein hinreichende Triebfeder des Handelns in meine und jedes anderen Maxime aufgenommen werden. Dadurch dass ich mich nach »anderen Triebfedern umsehe«, die das Gesetz in seiner Vernünftigkeit und Begründetheit unterstützen können, setze ich es bereits ansatzweise unter Bedingungen, in denen seine Gültigkeit sich mir anempfiehlt. Es hat damit nur mehr die zweite Stelle inne hinter der allgemeinen praktischen Vernünftigkeit, aus guten Gründen so zu verfahren, wie das Gesetz es vorschreibt. Man sieht also, dass es der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist, von dem der Mensch zu essen anfängt, indem er sich gewissermaßen naseweis zurechtlegt, warum es vernünftig und sinnvoll ist, dem moralischen Gesetz auch wirklich Folge zu leisten. Kann denn Weisheit – Einsicht über die Gründe des Verbots – Sünde sein? Das fragt sich eben auch Eva an der von Kant zweimal angegebenen, aber nicht zitierten Bibelstelle Mose III, 6: »Da sah die Frau, dass der Baum gut sei zum Essen und eine Lust zum Anschauen und begehrenswert, um weise zu werden.« Wohlgemerkt, es ist der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Es ist gut, von diesem Baum zu essen, 110 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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um eben selbst auch zu wissen, warum das moralische Gesetz zwischen Gut und Böse einen solch radikalen Unterschied macht. Aber selber wissen warum, bringt automatisch andere Triebfedern in das Feld der unumschränkten und eigentlich für sich hinreichend sein sollenden Triebfeder des Gesetzes ein, Triebfedern, die es auch für mich als das Beste erscheinen lassen, dem Gesetz Gehorsam zu leisten. Und schon ist es das auch für mich Beste, dem allgemeinen Gesetz zu folgen, d. h., wie Kant erklärt, die Folgeleistung oder der Gehorsam gegen das Gesetz wird zu einem legitimen Mittel der Selbstbegünstigung »herabvernünftelt«. Und schon ist es wiederum so weit, dass eine weitere Triebfeder über der des Gesetzes mich auch persönlich eben dazu antreibt, dem Gesetz zu folgen, was nach Kant eben das Böse oder wirkliche Essen von dem Baum ist, wie der Vers fortfährt: »Sie nahm von seiner Frucht, aß und gab auch ihrem Mann neben ihr, und auch er aß.« Der Ursprung von alledem ist: Sich »umsehen nach anderen Triebfedern«, weiteren Triebfedern, die das moralische Gesetz zu einem bloß mittreibenden Rädchen oder Funktionsgeber im übergeordneten Uhrwerk der praktischen Vernunft insgesamt machen, in dem jeder, der sich an seinen Part hält, auf seine Kosten kommt – aber damit auch nicht mehr »aus Pflicht«, sondern aus besserer Einsicht in den Gesamtzusammenhang handelt, wie er handelt. Es ist also, so scheint mir, die Anmaßung des einzelnen Subjekts, nicht mehr nur aus Pflicht, sondern vielmehr auch aus eigener Vernunfteinsicht, warum es im Ganzen das Beste sei, der Pflicht zu genügen und dem Gebot erst wirklich entsprechen zu wollen, welche nach Kants Inszenierung der biblischen Geschichte die erste Eintrübung des Standes der Unschuld abgibt. Sie lässt zuerst einen Vorbehalt des Individuums aufkeimen, dass dann, wenn es nicht eben vernünftig wäre, das, was die reine Vernunft gebietet, vielleicht auch einmal nicht zu tun sei. Auf diese Weise wird im Spiegel der biblischen Erzählung – ohne sie auslegen zu wollen, sondern weil sie das, was an und für sich wahr ist, in narrative Einzelmomente zu zerlegen erlaubt – der von Kant gemutmaßte Vernunftursprung des Bösen zumindest angedeutet: [15] Mutato nomine de te fabula narratur. Daß wir es täglich eben so machen, mithin »in Adam alle gesündigt haben« und noch sündigen, ist aus dem obigen klar; nur daß bei uns schon ein angeborener Hang zur Übertretung, in dem ersten Menschen aber kein solcher, sondern Unschuld der
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Zeit nach vorausgesetzt wird, mithin die Übertretung bei diesem ein Sündenfall heißt: statt daß sie bei uns als aus der schon angebornen Bösartigkeit unserer Natur erfolgend vorgestellt wird. (AA VI:42)
Indessen wird von Kant über diese Andeutung eines mutmaßlichen Ursprungs des Bösen sogleich wiederum der Vorhang der »Unerforschlichkeit« gebreitet. Denn wie zuvor systematisch erklärt worden war, stelle es auch die Schrift so dar, dass die Idee, »subordinirte Triebfedern« zur Begründung heranzuziehen und damit »zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen«, eben nicht zuerst vom Menschen stamme, sondern von der Schlange, die ihn dazu nur verführt habe. Es muss denn doch zumindest jede Absicht auf das Böse von woanders als dem Menschen und seiner Wissbegierde hergenommen werden, damit er noch wenigstens hoffen kann, dem radikal Bösen, obwohl aus eigener Freiheit sich zugezogen, dereinst und durch gegenseitige Unterstützung bei seinen Anstrengungen wieder entkommen zu können: [16] Diese Unbegreiflichkeit zusammt der näheren Bestimmung der Bösartigkeit unserer Gattung drückt die Schrift in der Geschichtserzählung dadurch aus, daß sie das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt: wodurch also der erste Anfang alles Bösen überhaupt als für uns unbegreiflich (denn woher bei jenem Geiste das Böse?), der Mensch aber nur als durch Verführung ins Böse gefallen, also nicht von Grund aus (selbst der ersten Anlage zum Guten nach) verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig […] vorgestellt und so dem ersteren, der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird. (AA VI:44)
Der Vernunftursprung ist selbst ein Element der Vernunft – wissen und erkennen zu wollen –, aber dies am falschen Platz. Es dorthin gesetzt zu haben, kommt von der Schlange in verführender Absicht, während der Mensch besser getan hätte, all sein naseweises Erkennenwollen nur auf die Natur der Dinge, nicht auch auf die Gründe des moralischen Gesetzes zu wenden.
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Kants Theorie des radikal Bösen
Literaturverzeichnis Alle Zitate der Schriften Kants erfolgen nach dem Wortlaut der Akademieausgabe (Kant, I. (1900 ff.), Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin.). Allen Seitenangaben geht die Sigle ›AA‹ zur Angabe der Akademieausgabe sowie eine römischen Kardinalzahl zur Angabe des zitierten Bandes voraus. Buchheim, Thomas (2001), »Die Universalität des Bösen nach Kants Religionsschrift«, in: Kant und die Berliner Aufklärung, hg. v. Volker Gerhardt, RolfPeter Horstmann u. Ralph Schumacher, Bd. 3, Berlin/New York, 652–661.
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Der Geist des Bösen Schelling und Kierkegaard über die Perversion der Freiheit mit einem Ausblick auf E. A. Poe* Jörg Noller
1.
Einleitung
Sind wir frei, das Böse zu wollen? Und falls ja, wie ist unsere Freiheit zum Bösen zu verstehen? Tun wir das Böse sehenden Auges? Können wir das Böse gar um seiner selbst willen tun? Und gibt es so etwas wie eine böse Vernunft? Zu diesen fundamentalen Fragen hat Immanuel Kant in seinen moral- und religionsphilosophischen Schriften Stellung bezogen. Fest steht für Kant, dass weder die natürlichen Triebe des Menschen noch seine Vernunft das Böse hervorbringen können: Um […] einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß Tierischen; eine vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. – Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar. (RGV, AA VI, 35 f.)
Wir müssen uns nach Kant im Guten wie im Bösen als frei denken. Die Begriffe des Guten und Bösen sind nur dann überhaupt sinnvoll verwendet, wenn sie den Begriff der Freiheit bereits voraussetzen und diesen nur näher bestimmen und qualifizieren. Doch worin liegt genau der Grund des Bösen nach Kant, wenn doch »der subjektive erste Grund seiner Maximen« dem Menschen »selbst unerforschlich ist«? (RGV, AA VI, 52) Wie Kant, so bestreitet auch Fichte, dass wir das Böse als Böses willentlich und wissentlich begehen können: * Die folgenden Überlegungen knüpfen an Noller (2 2016), Noller (2 2018), Noller (2018) und Noller (2019) an.
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Der Geist des Bösen
Es ist schlechthin unmöglich, und widersprechend, daß jemand bei dem deutlichen Bewußtseyn seiner Pflicht im Augenblicke des Handelns, mit gutem Bewußtseyn, sich entschließe, seine Pflicht nicht zu thun; daß er gegen das Gesetz sich empörend ihm den Gehorsam verweigere, und es sich zur Maxime mache, nicht zu thun, was seine Pflicht ist, darum weil es seine Pflicht ist. Eine solche Maxime wäre teuflisch: aber der Begriff des Teufels widerspricht sich selbst, und hebt sonach sich auf. (SSL, 176)
Es ist nach Fichte bereits begrifflich ausgeschlossen, dass der Mensch durch das Vermögen, welches ihm die Normativität der Moral vorhält – nämlich seine Vernunft – gegen dasselbe handelt: »Es wären sonach in demselben Momente durch dasselbe Vermögen in ihm widersprechende Forderungen, welche Voraussetzung sich selbst vernichtet, und der klarste offenbarste Widerspruch ist.« (Fichte, SSL, 176) So etwas wie eine »boshafte Vernunft« ist nach Fichte, wie auch nach Kant, grundsätzlich ausgeschlossen: Eine Vernunft, die zugleich gebietet, was gut ist, und in sich den Grund für das Zuwiderhandeln gegen ihr Gebot birgt, würde sich selbst aufheben. Kant und Fichte weisen damit auf ein philosophisches Problem hin, welches auch als das »Sokratische Paradox« bekannt ist. Es besteht in der Auffassung, dass »niemand mit Willen Unrecht tut, sondern alle Unrechttuenden Unrecht wider Willen tun« 1 , so »daß niemand aus freier Wahl dem Bösen nachgeht oder dem, was er für böse hält« 2 . Sind aber unmoralische Handlungen wirklich angemessen als unwillentlich und irrational zu charakterisieren, oder gründet unser Urteil der Schuldzuweisung nicht gerade auf der Annahme, dass die jeweilige Handlung aus bestimmten Motiven und Gründen erfolgte, die dem unmoralischen Akteur zurechenbar sind? Das »Sokratische Paradox« fußt auf folgendem Dilemma zweier notwendiger aber scheinbar unvereinbarer Anforderungen zur Erklärung unmoralischer Handlungen: (1) Privationsthese: Wir scheinen im Falle unmoralischer Handlungen unsere Vernunft nicht recht zu gebrauchen, einem Irrtum zu unterliegen, und daher irrational oder unabsichtlich böse zu handeln. Denn wären wir recht bei Verstand, dann würden wir nie unmoralisch handeln. 1 Platon, Gorgias, 509e5: »[…] μηδένα βουλόμενον ἀδικεῖν, ἀλλ’ ἄκοντας τοὺς ἀδικοῦντας πάντας ἀδικεῖν«. Übersetzungen nach Friedrich Schleiermacher. 2 Platon, Protagoras, 358c: »ἐπί γε τὰ κακὰ οὐδεὶς ἑκὼν ἔρχεται οὐδὲ ἐπὶ ἃ οἴεται κακὰ εἶναι«.
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(2) Rationalitätsthese: Wir sind für unsere unmoralischen Handlungen verantwortlich, sofern diese aus Freiheit erfolgen, so dass wir ihnen eine bestimmte Form von Reflexivität und Rationalität zugrunde legen müssen. Denn handelten wir unwillentlich und ohne Gründe, dann könnten wir schwerlich dafür zur Verantwortung gezogen werden. Ich werde mich im Folgenden mit drei nachkantischen Denkern befassen, welche die Freiheit gerade in ihrer Bösartigkeit philosophisch weiter zu bestimmen suchten, als Kant – und mit ihm Fichte – es getan hatten. Da sich der Versuch, die Perversion der Vernunft mit vernünftigen Mittel darzustellen, als überaus problematisch erweist, verwenden alle drei Denker – Schelling, Kierkegaard und Edgar Allan Poe – Metaphern und ästhetische Darstellungsformen, um das Phänomen in seiner paradoxen Struktur darzustellen. Dennoch vollzieht sich die Analyse des Phänomens des Bösen nicht jenseits der Grenzen der Rationalität. Denn die drei genannten Denker führen zu seiner Erklärung den Begriff des Geistes ein – und zwar in seiner Doppeldeutigkeit: als Dämon, aber auch als Reflexion. Geist ist insofern nicht etwas, was jenseits der Vernunft liegt, sondern etwas, was sich auf die moralische Vernunft willentlich bezieht. Geist lässt sich demnach als eine individuelle Ordnung verstehen, welche die universal-moralische Vernunft übersteigt, sich darin aber auch zur Ästhetik hin öffnet. Beginnen möchte ich meine Untersuchung aber nicht mit Schelling, sondern mit einem unbekannteren deutschen Denker und Schriftsteller, nämlich mit Karl Philipp Moritz. Im 2. Stück des 1. Bandes seines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde aus dem Jahr 1783, welches von der »Seelennaturkunde« handelt, beschreibt – oder besser bekennt – er seine »Eigne Erfahrung über Willensfreiheit« wie folgt: Ich stand verschiedenemal auf einem hohen Turme, wo mir das Geländer bis an die Brust ging, und ich also vor dem Herunterstürtzen völlig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich notwendig gedrungen fühlte, oben auf den Rand des Geländers zu steigen, und so herunterzuspringen! Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dies Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfüllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fürchtete; ich konnte den Zustand keine Minute länger ertragen, und mußte schnell herabsteigen. 3 3
Moritz (2006), 840.
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Der Geist des Bösen
Die von Moritz beschriebene Abgründigkeit der Freiheit – sie gleicht einem Sünden-Fall vom Turm hinab – ist aber nicht nur eine Metapher. Der Autor der Anekdote misstraut seiner Freiheit, er fürchtet sich vor der abgründigen Möglichkeit seines Willens. Diese Freiheit, vor der sich der Autor fürchtet, weil sie abgründig ist, ist die Freiheit zum Bösen.
2.
Schellings positiver Begriff des Bösen
Schelling hat den Versuch unternommen, die Möglichkeit und Wirklichkeit unserer Freiheit zum Bösen bis an die Grenzen des Verstandes weiter zu denken. Der Mensch besteht aus Eigenwille und Universalwille. Damit ist gemeint, dass er sowohl die Perspektive des Eigeninteresses wie auch die Perspektive des Allgemeininteresses einnehmen kann. In jedem Fall aber muss er, um zu einer Entscheidung zu kommen, beide Willensdimensionen in ein Verhältnis zueinander bringen, welches moralisch qualifizierbar ist. Im Gegensatz zum bloßen Tier ist der Mensch nicht nur seine Natur, sondern befindet sich in einem freien Verhältnis zu ihr. Schelling bezeichnet diese reflexive Verwobenheit des Eigenwillens mit dem Universalwillen als Geist: Dadurch aber, daß die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus dem Kreatürlichen ins Überkreatürliche gehoben, sie ist Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur ist. (FS, 36)
Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch also nicht ein bloßes Objekt des Universalwillens, sondern der Universalwille ist selbst Objekt des Menschen. Durch dieses reflexive Verhältnis zum Allgemeinwillen stellt der Mensch nicht nur, wie das Tier, besondere, sondern vielmehr geistige, d. h. individuelle Allgemeinheit dar. Schelling drückt dieses reflexive Verhältnis der geistigen Individualität der Person zum Universalwillen metaphorisch so aus, dass »der Geist über dem Licht steht« (FS, 37): Die individuelle Persönlichkeit kann sich, in Kantischer Terminologie gesprochen, frei zur allgemeinen und objektiven Vernunft verhalten und steht insofern über ihr, als sie Gebrauch von ihr machen kann. Wie lässt sich das komplexe Verhältnis von Eigen- und Universalwille in der individuellen Person freiheitstheoretisch weiter be117 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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stimmen? Während das im ›Grunde‹ bleibende Tier durch seinen dem Allgemeinwillen untergeordneten Eigenwillen nur Willenstendenzen erster Stufe auszubilden vermag, also im besten Fall nur Aktionsfreiheit besitzt, vermag die geistige Person durch ihre freie Verbindung mit dem Allgemeinwillen sich zu ihren Willenstendenzen erster Stufe zu verhalten und höherstufige Volitionen auszubilden. Geistigkeit lässt sich somit als diejenige Ebene von Volitionen zweiter Stufe bezeichnen, mithilfe derer sich die Person normativ positionieren kann, indem sie die relative Identität von Eigen- und Universalwille gewichtet. Persönlichkeit ist, wie Schelling prägnant formuliert, die »zur Geistigkeit erhobene Selbstheit« (FS, 43). Es handelt sich dabei also nicht um universelle, sondern um individuelle Allgemeinheit. Das »Geistige« der Person ist deswegen im Grunde auch ihr individueller Ausdruck und Charakter. 4 Als solche geistige Existenz ist die Persönlichkeit nicht ein ontologisch auf der selben Ebene wie Eigenund Universalwillen vorhandenes drittes Prinzip, sondern eine besondere Art der Verbindung und Modifikation beider Prinzipien, dergestalt, dass der Eigenwille durch Momente des Allgemeinwillens angereichert wird und sich so zum Allgemeinwillen verhalten kann. Eine Trennung vom Universellen bedeutet für ein geistiges Individuum nun aber nicht, dass der Eigenwille wieder seine Reflexivität verlöre und zurückfiele auf die Stufe von bloßen Wünschen erster Stufe – so wäre er nichts anderes als unreflektiertes Begehren. Vielmehr ist dem Individuum durch die Verbindung mit dem Universalwillen ein für alle Mal seine Freiheit ›angesteckt‹ – der Mensch verliert diese nicht mehr, selbst wenn er sich vom Universalwillen bewusst trennt. Ja, das bewusste Trennen vom Universalwillen beweist gerade seine Freiheit des Geistes als ein subjektiver Modus des Universalwillens, nämlich als sein Gebrauch. Wie ist dieser Gebrauch nun näher zu bestimmen? Im Gegensatz zu Kant, der die Freiheitsentscheidung in seiner Religionsschrift für »unerforschlich« gehalten hatte, 5 will Schelling gerade untersuchen, »wie nun im einzelnen Menschen die EntscheiVgl. auch Schelling, FS, 86: »Das Band unserer Persönlichkeit ist der Geist, und wenn nur die werktätige Verbindung beider Prinzipien schaffend und erzeugend werden kann, so ist Begeisterung im eigentlichen Sinn das wirksame Prinzip jeder erzeugenden und bildenden Kunst oder Wissenschaft.« 5 »Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich«. (RGV, AA VI, 43). 4
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dung für Böses oder Gutes vorgehe [Hervorh., J. N.]« (FS, 54). Schellings Begriff des Bösen gewinnt sein Profil in Abgrenzung von traditionellen Theorien der Privation, aber auch von spezifisch neuzeitlichen »Vorstellungen« des Bösen, die auf einen »Philanthropismus« zurückgehen und deren letzte Konsequenz nach Schelling gar die »Leugnung des Bösen« ist (FS, 43). Diesen Auffassungen des Bösen zufolge, so Schelling, besteht der »einzige Grund des Bösen« »in der Sinnlichkeit oder in der Animalität« (FS, 43). Dagegen betont Schelling, dass das Böse, »nie ohne eigne Tat vollbracht« (FS, 71) wird. Es besteht darin, dass der Eigenwille danach strebt, »das, was er nur in der Identität mit dem Universal willen ist, als Partikularwille zu sein«, und »das eigne Prinzip vom allgemeinen scheiden will« – ein Zustand, den Schelling den »Geist der Zwietracht [Hervorh. J. N.]« nennt und damit signalisiert, dass es sich auch in dieser Umkehrung der Ordnung immer noch um eine freie und selbstbewusste Aktion handelt. Das moralisch Gute hingegen besteht darin, dass »der Eigenwille des Menschen als Centralwille im Grunde bleibt, so daß das göttliche Verhältnis der Prinzipien besteht« – eine Ordnung, die Schelling als »Geist der Liebe« charakterisiert (FS, 37). Wie lässt sich das positive Wirken des Bösen als geistige Synthese genauer verstehen? »Das Böse«, so Schelling, »kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstsein erhobenen Endlichkeit« (FS, 42 Fn. 20). Da auch das Böse eine geistige Struktur besitzt, besteht es in der »Erhebung des Eigenwillens«, die zum Ziel hat, durch den Allgemeinwillen »das Verhältnis der Prinzipien umzukehren« (FS, 37), um so »ein eignes und absonderliches Leben zu formieren oder zusammenzusetzen [Hervorh. J. N.]« (FS, 38). Schelling charakterisiert diesen positiven Zustand des Bösen als »ein eignes, aber ein falsches Leben, ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbnis« (FS, 38). Es ist im Gegensatz zum Guten als einem »einigen Ganzen« ein »zertrennte[s] Ganze[s]« (FS, 42). Insofern in der Willensaktivität der (wenn auch falschen) Einheitsbildung ein Moment der Positivität liegt, spricht Schelling davon, dass auch im Bösen »ein Wesen sein muß« (FS, 42 f.). In seinem aktiven »Mißbrauch der Freiheit« (FS, 38) kann das Böse als eine sich behauptende »Unordnung« beschrieben werden und gleicht damit einer »Krankheit«, die einen Organismus befallen hat und durch diesen existiert (FS, 38). Die Freiheit des Individuums, die durch die Trennung des Eigenwillens vom Universalwillen ermöglicht wird, besitzt immer schon 119 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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eine Verlockung, eine »Sollizitation des Grundes« (FS, 71) oder eine »Lust zum Kreatürlichen«, wie Schelling sagt, »wie den, welchen auf einem hohen und jähen Gipfel Schwindel erfaßt, gleichsam eine geheime Stimme zu rufen scheint, daß er herabstürze« (FS, 53). Hier bedient sich Schelling derselben Fall-Metaphorik wie zuvor Karl Philipp Moritz in seinen »Erfahrungen über Willensfreiheit«. Das Böse besteht demnach auch nicht im Fehlen von Rationalität, sondern in deren geschicktem Ausnützen, wodurch es gegenüber dem Guten geradezu eine erweiterte Rationalität darstellt: »Der Verstand gibt das Prinzip des Bösen her«, denn »er enthält in sich den Grund der Zulassung des Bösen« (FS, 40), so dass das Böse »sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute begleitet« (FS, 41). Diese Positivität und Rationalität des Bösen hat Schelling in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) weiter analysiert. Es ist keine »bloße Privation des Guten, nicht bloße Verneinung der inneren Harmonie, sondern positive Disharmonie«. Schelling geht sogar so weit, das Böse als »das reinste Geistige« zu bestimmen, insofern »die höchste Corruption gerade auch die geistigste ist«. Nach Schelling gilt, dass »Irrthum und Bosheit beides geistig ist und aus dem Geiste stammt«. Er charakterisiert im Ausgang von dieser heiklen Zwischenstellung des Geistes die Phänomene des Irrtums und des Bösen nicht als Privationen, also Mangelerscheinungen, sondern als »etwas höchst Positives«, nicht als »Mangel an Geist, sondern verkehrter Geist« (SP, 468). Schelling vertritt die auf den ersten Blick kontraintuitive These, dass auch ein Irrtum »geistreich« sein könne. Der Grund hierfür liegt darin, dass wir uns willentlich irren können, indem wir ein falsches Leben im Schein leben, so dass der Irrtum unserer Freiheit zuzuschreiben ist.
3.
Kierkegaards reflexionslogische Bestimmung der Sünde
Wie bei Schelling, so hängt auch bei Kierkegaard der Begriff des Bösen aufs Engste mit der metaphysischen Bestimmung des Menschen zusammen. Auch Kierkegaard bestimmt den Menschen als ein geistiges Wesen, für das zwei entgegengesetzte Prinzipien konstitutiv sind. Der »Geist« oder das »Selbst« ist nach Kierkegaard
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ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. (KT, 9)
In dieser Grundkonstellation des Menschen ist, in auffälliger metaphorischer Nähe zu Schellings Bestimmung der Freiheit, die Möglichkeit des Bösen angelegt: Angst läßt sich mit Schwindel vergleichen. Kommt jemand dahin, daß sein Auge in eine gähnende Tiefe hinuntersieht, so wird ihm schwindelig. Aber was ist der Grund, es ist ebensosehr sein Auge wie der Abgrund; denn gesetzt, er hätte nicht hinuntergestarrt. So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder.« (BA, 64)
Die moralisch qualifizierte Selbstreflexivität allein macht jedoch noch nicht die ganze relationale Verfassung des Menschen aus. Als ein selbstreflexives Verhältnis zweier diametral entgegengesetzter Prinzipien steht das Selbst zugleich im Verhältnis zu seinem Grund, sofern es sich nicht selbst erschaffen hat. Diesen Grund des Selbst bestimmt Kierkegaard als Gott und reichert damit den moralphilosophischen Begriff des Bösen um die theologische Dimension der Sünde an. Aus der Struktur dieses komplexen Verhältnisses des Menschen kann das Wesen der Sünde bestimmt werden. Sie ist, ganz formal gesprochen, ein Missverhältnis: Sünde ist: vor Gott, oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, oder verzweifelt man selbst sein zu wollen. Die Sünde ist demnach potenzierte Schwäche oder potenzierter Trotz: die Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung. (KT, 77)
Bei seiner Bestimmung der Sünde als eines um eine weitere relationale Dimension erweiterten Begriffs des Bösen grenzt sich Kierkegaard von der antiken Tradition ab, die seiner Ansicht nach ihre Wurzeln bei Sokrates hat und der zufolge das Böse in einem kognitiven Defizit besteht, wie das »Sokratische Paradox« suggeriert. Darin liegt nach Kierkegaard aber gerade ein Problem, denn es stellt sich für ihn die Frage nach dem zurechenbaren Grund dieser Unwissenheit.
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Ist die Unwissenheit das letztere, so muß die Sünde ja eigentlich in etwas anderem als in der Unwissenheit stecken, sie muß in derjenigen Aktivität des Menschen stecken, mit der er daran gearbeitet hat, seine Erkenntnis zu verdunkeln. Aber auch wenn man das annimmt, so kehrt diese hartnäckige und sehr zählebige Mißlichkeit wieder, indem die Frage nun nämlich lautet, ob sich denn der Mensch in dem Augenblick, als er damit begann, seine Erkenntnis zu verdunkeln, dessen deutlich bewußt ist. (KT, 89)
Dagegen argumentiert Kierkegaard, dass die Sünde als Sünde nur dann eintreten kann, wenn sie mit Bewusstsein verbunden ist. Kierkegaard führt also die sokratische Argumentation durch eine immanente Kritik ad absurdum: »Ist nämlich die Sünde Unwissenheit, so existiert ja die Sünde eigentlich nicht; denn die Sünde ist ja gerade Bewußtheit. Bedeutet die Sünde, daß man das Richtige nicht kennt, so daß man deshalb das Falsche tut, so existiert die Sünde nicht.« (KT, 90) Der Grund der Unwissenheit kann nur im Willen liegen: »[D]ie Frage, die sich stellen müßte, ist die nach dem Verhältnis von Erkenntnis und Willen zueinander. Auf alles derartige (und hier könnte man nun viele Tage weiterfragen) läßt sich die sokratische Definition eigentlich nicht ein.« (KT, 89) Kierkegaard fasst diesen Willen auch als eine Art von »Trotz« (KT, 91) auf, d. h. als ein aktives und bewusstes Sich-Widersetzen gegenüber dem Guten. Wie kann es dann aber geschehen, dass der Mensch wissentlichwillentlich sündigt? Es ist nach Kierkegaard unwahrscheinlich, »daß der Wille hingeht und das Gegenteil von dem tut, was die Erkenntnis eingesehen hat« (KT, 95). Dafür aber ist es möglich, die Erkenntnis durch zeitlichen Aufschub willentlich zu verdunkeln: »[D]er Wille läßt dann einige Zeit vergehen, es entsteht ein Interim, es heißt: wir wollen es doch bis morgen überlegen. Bei all dem wird die Erkenntnis dunkler und dunkler, und das Niedere gewinnt mehr und mehr die Oberhand.« (Ebd.) Das Böse ist demnach kein Mangel oder Irrtum. Es ist auch nichts Dunkles, sondern verdunkelt, indem es uns hinters Licht führt: Allmählich hat der Wille nichts dagegen, daß das geschieht, er drückt fast ein Auge zu. Und wenn dann die Erkenntnis gehörig verdunkelt ist, dann verstehen Erkenntnis und Wille sich besser; schließlich sind sie ganz einer Meinung, denn nun ist die Erkenntnis zur Seite des Willens übergegangen, und erkennt, daß es ganz richtig ist, wie er es will. (KT, 96)
An dieser Kritik der antiken Tradition zeigt sich, dass Kierkegaard im Anschluss an Schelling eine positive und perversive Theorie des Bösen 122 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Der Geist des Bösen
vertritt. Für ihn gilt, »[d]aß die Sünde keine Negation, sondern eine Position ist« (KT, 98). Dieses ›Positive‹ der Sünde besteht gegenüber dem Bösen nicht darin, gegen die moralische Norm zu verstoßen, sondern dass sie vor Gott geschieht. Auch ist die Sünde kein einmaliges, punktuelles Ereignis, sondern eine »ponierende Kontinuierlichkeit« (KT, 109). Die Sünde gehorcht einer anderen Logik als dem Gedanken von positiven und negativen Werten, die sich aufaddieren lassen: »Der Zustand in der Sünde ist im tiefsten Sinne die Sünde, die einzelnen Sünden sind nicht die Fortsetzung der Sünde, sondern der Ausdruck für die Fortsetzung der Sünde.« (KT, 109) Demnach ist die Sünde als eine Art Lebensform zu verstehen, die den ganzen Charakter des Menschen fundiert und über die Zeit aufrechter hält. Deshalb ist die Sünde, wie Kierkegaard sagt, nichts Mangelhaftes, sondern »etwas Konsequentes, und in dieser Konsequenz in sich des Bösen hat sie auch eine gewisse Kraft« (KT, 110).
4.
Ausblick: Von der Philosophie zur Ästhetik des Bösen
Besonders im Werk von Edgar Allan Poe findet sich eine intensive literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Bösen, das hier nicht mehr im Dienste der Moral steht, sondern volle ästhetische Autonomie besitzt. In Poes Kurzerzählung The Imp of the Perverse (dt. etwa »Der Geist der Perversheit«) wird das Böse als ein »paradoxes Etwas« und als »Perversität« bezeichnet. Als solches entzieht es sich unserem gewöhnlichen Verstand, denn sein Grund besteht gerade darin, böse zu handeln, weil dieses Handeln böse ist: Bei der Erforschung der Neigungen und Triebe, der prima mobilia der Menschenseele, haben die Psychologen stets einen Hang übergangen, der, obwohl er sichtbar und deutlich als erstes, ursprüngliches, nur auf sich selbst zurückzuführendes Gefühl vorhanden ist, auch von den Moralisten, ihren Vorgängern, übersehen wurde. Wir alle haben ihn, durch die törichte Anmaßung unseres Verstandes unaufmerksam gemacht, nie beachtet, ja selbst der Möglichkeitsgedanke ist uns nie gekommen, weil wir das Bedürfnis nicht fühlten, die Tatsache jener Neigung, jenes Hanges festzustellen. […] Eine Induktion a posteriori würde die Psychologen zu der Einsicht gebracht haben, daß sie als ein primitives Prinzip menschlichen Handelns ein paradoxes Etwas annehmen müßten, das wir in Ermangelung eines charakteristischeren Ausdruckes mit dem Bösen, Krankhaften, kurz – mit Perversität bezeichnen wollen. In meinem Sinne ist sie in der Tat ein mobile ohne
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Jörg Noller
Motiv [im Englisch: not motivirt], ein nicht motiviertes Motiv. Unter ihrem Einfluß handeln wir ohne verständlichen Zweck, oder, sollte man dies für einen Widerspruch im Ausdruck halten, wir handeln aus dem Grunde, weil wir nicht handeln sollten […] Ich bin meines Lebens ebenso gewiß wie der Richtigkeit der Behauptung, daß das Böse, das Sündhafte oder Schädliche in irgendeiner Handlung oft die unwiderstehliche Macht ist, die uns zwingt, allein zwingt, dieselbe zu begehen. Und dieser zügellose Hang, das Böse um des Bösen willen zu tun, spottet jeder Analyse, jeder Auflösung in tiefer liegende Elemente. 6
Die Möglichkeit, das Böse um des Bösen willen zu tun, hatte noch Kant als unmöglich verworfen, da dies nur einem »teuflischen Wesen« möglich sei (RGV, 35 f.). Poe dagegen konstatiert, dieser Hang sei ein ganz allgemeiner »radikaler, primärer, elementarer Beweggrund«. Den Hang zum Bösen, den bereits Kant zugestanden und moralphilosophisch thematisiert hatte, analysiert Poe nun phänomenologisch eingehender, indem er ihn mit der Leidenschaft »eines Menschen, der am Rande eines Abgrundes schaudernd steht und sinnt, sich hineinzustürzen«, vergleicht, und damit an eine Metapher anknüpft, die wir bereits von Schelling und Kierkegaard kennen: Wir stehen am Rande eines Abgrundes. Wir starren in den Schlund, es wird uns übel und schwindlig. Unsere erste Bewegung war, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir. Allmählich verschmelzen unser Übelbefinden, unser Schwindel, unsere Angst in ein nebelhaftes, nicht zu benennendes Gefühl. Nach und nach und unbemerkbar nimmt der Nebel Gestalt an, wie sich aus dem Wölkchen aus jener bekannten Flasche in ›Tausendundeine Nacht‹ der Geist bildete. Aber aus unserer Wolke am Rande des Abgrundes bildet sich und wird immer greifbarer eine Gestalt, die hundertmal schreckhafter ist als irgendein Dämon oder Geist der Fabel; und doch ist es nur ein Gedanke, der das Mark in unseren Gebeinen gefrieren macht und mit wüsten Entzückungen schüttelt […] Prüfen wir solche und ähnliche Handlungsweisen, so finden wir, daß sie einzig und allein dem Geiste der Perversität entstammen. Wir begehen dieselben nur, weil wir fühlen, daß wir sie nicht begehen sollten. Darüber hinaus oder dahinter fehlt jeder Beweggrund. 7
Die von Poe beschriebenen Phänomene des Schwindels und der Angst verweisen im Grunde auf die menschliche Freiheit, sich zum Bösen entscheiden zu können. Die Möglichkeit einer teuflischen Natur
6 7
Poe (1911), 2 ff. Poe (1911), 7
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Der Geist des Bösen
wird, auch wenn sie anthropologisch und philosophisch widersprüchlich erscheint, in Poes Dichtung zur poetischen Realität. Von dieser poetischen Realität des Bösen, das um des Bösen willen getan wird, handelt seine im Jahr 1843 erschienene Kurzgeschichte The Black Cat. Darin beschreibt Poe, wie der anfangs als treusorgender und tierlieber Ehemann dargestellte, aber bald durch Trunksucht zunehmend geschwächte Protagonist einen »Geist der Perversität« (spirit of perverseness) in sich verspürt, der ihn dazu verleitet, böse um des Bösen willen zu handeln. Grundlos sticht er seiner unschuldigen Katze zunächst ein Auge aus und erhängt sie dann qualvoll, obwohl er dabei grausame Gewissensbisse leidet: »Ich erhängte sie, eben weil ich wußte, daß sie mich geliebt hatte, und weil ich fühlte, daß sie mir keinen Grund zu dieser Greueltat gegeben hatte; erhängte sie, weil ich wußte, daß ich damit eine Sünde beging« 8 . Den Protagonisten lässt Poe folgendermaßen über seine Tat reflektieren: »Geist des Eigensinns hinzu. Diesen Geist beachtet die Philosophie nicht, und dennoch bin ich wie von dem Leben meiner Seele davon überzeugt, daß Eigensinn eine der ursprünglichsten Regungen des menschlichen Wesens ist – eine der elementaren, primären Eigenschaften oder Empfindungen, die dem Charakter des Menschen seine Richtung geben« 9 . Eine böse Vernunft ist, so scheint es, nur poetisch imaginierbar.
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8 9
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Das Monologische der Banalität des Bösen Ein Versuch über Hannah Arendts Theorie des Bösen Manja Kisner
1.
Einleitung
Hannah Arendt ist überzeugt, dass sich das moderne – also das totalitäre – Böse mit den traditionellen philosophischen Begriffen nicht mehr angemessen beschreiben lässt. Zur Zeit ihrer TotalitarismusStudie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die 1951 zuerst auf Englisch erschienen ist, verwendet sie zwar noch immer den aus der Tradition stammenden Begriff des radikal Bösen und knüpft somit an Kants Konzeption an, deutet diesen Begriff aber schon in diesem Werk völlig anders als Kant. Doch besonders berühmt und berüchtigt ist Arendt nicht wegen ihres Begriffs des radikal Bösen geworden, sondern wegen ihrer späteren Konzeption der Banalität des Bösen, die sie im Hinblick auf den Eichmann-Prozess entwickelt hat. Obwohl meiner Überzeugung nach Arendts Begriff des radikal Bösen und ihre Phrase der ›Banalität des Bösen‹ überhaupt nicht weit auseinanderliegen, sondern vielmehr dasselbe Phänomen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven – einmal in Bezug auf die Taten und das andere Mal in Bezug auf die Täter – beschreiben, werde ich mich in der vorliegenden Interpretation vor allem mit Arendts Deutung der Banalität des Bösen befassen und dabei versuchen, eine mögliche Theorie der Banalität des Bösen aufzustellen. Arendt wählt den Ausdruck ›Banalität des Bösen‹, um damit auf das Besondere des totalitären Bösen zu verweisen und auf den Unterschied zu traditionellen Auffassungen des Bösen aufmerksam zu machen. Deswegen ist eine Aufarbeitung dieses Begriffs nicht nur aus geschichtlich-politischen Gründen interessant, sondern hat auch eine gewichtige philosophisch-theoretische Bedeutung. In meinem Beitrag werde ich mich ausdrücklich diesem zweiten, philosophischen Aspekt zuwenden und dabei die geschichtlich-politische Dimension beiseitelassen. Obwohl Arendt selbst nie eine ausgearbeitete Theorie der Banalität des Bösen entwickelt und auch kein systematisches 127 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Manja Kisner
Werk dazu geschrieben hat, stand die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Bösen dennoch stets im Mittelpunkt ihres Nachdenkens. Insofern lässt sich trotzdem behaupten, dass sie in ihren Werken auf der Suche nach einer neuen Beschreibung des Bösen ist. Dies lässt sich insbesondere ihren Vorlesungen Über das Böse, die sie 1965 an der New School for Social Research in New York unter dem englischen Titel Some Questions of Moral Philosophy gehalten hat, ebenso wie ihrem letzten, unvollendeten und posthum erschienenen Buch Vom Leben des Geistes (1978) entnehmen. Die beiden Werke werden mir deswegen als Grundlage bei meiner Rekonstruktion ihrer Theorie der Banalität des Bösen dienen. Ihr Buch Eichmann in Jerusalem (1963), das als ein Bericht zum Prozess und nicht als eine philosophische Studie geschrieben wurde, wird für meine philosophische Aufarbeitung dieses Begriffs hingegen nicht von zentraler Bedeutung sein. Die Frage, ob Arendts Charakterisierung von Eichmann wirklich zutreffend ist, ist für mein Vorhaben also nur nebensächlich. Mir geht es nicht um eine konkrete historisch-politische Analyse von Eichmann, sondern um eine philosophische Deutung der Banalität des Bösen, die letzten Endes auch eine breitere theoretische Relevanz haben könnte. Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass der Eichmann-Prozess dabei nicht ausschlaggebend war, ganz im Gegenteil, der Eichmann-Prozess gab ihr den wichtigsten Antrieb für ihre Konzeption der Banalität des Bösen. Wie sie sich in ihrem Buch Vom Leben des Geistes erinnert, ahnt sie schon in ihrem Eichmann-Buch, dass die Formulierung ›Banalität des Bösen‹ unserer literarischen, theologischen und philosophischen Denktradition über das Böse entgegenläuft. 1 Doch die wichtigsten Ansätze für ihre philosophische Behandlung des Bösen finden sich erst nach ihrem Eichmann-Buch, in den schon erwähnten Vorlesungen zum Bösen und in ihrem Buch Vom Leben des Geistes. Anhand dieser Werke werde ich versuchen, Arendts Begriff des Bösen als ein monologisches Böses zu bestimmen und dadurch zeigen, warum sich dieses Böse besser in Bezug auf unser Denkvermögen als in Bezug auf den Willen erfassen lässt. Mit dem Begriff des Monologischen will ich auf ein Denken verweisen, das sich nicht mehr als ein Zwiegespräch mit sich selbst konzipieren lässt – also nicht der Monolog als ein innerer Dialog – sondern als ein Denken, 1
Vgl. Arendt (1998), 13.
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Das Monologische der Banalität des Bösen
das zwar immer noch einen Gedankengang darstellt, aber trotzdem kein wirklich tätiges, kritisches und dialogisches Denken ist. Das ist es – meiner Meinung nach –, was Arendt betonen will, wenn sie die Banalität des Bösen mit der Gedankenlosigkeit verbindet – Gedankenlosigkeit beschreibt ein Denken, das kein Zwiegespräch ist. Zuerst werde ich im zweiten Abschnitt Arendts Übergang vom Begriff des radikal Bösen, den sie in ihrem Totalitarismus-Buch benutzt, zu ihrer Konzeption der Banalität des Bösen darlegen und die wichtigsten Elemente der beiden Konzeptionen zusammenfassen. Im dritten Abschnitt werde ich ihren Begriff des Bösen als das monologische Böse interpretieren und dabei meine Interpretation ihrer Theorie der Banalität des Bösen darstellen. Im vierten Abschnitt werde ich dann abschließend noch erläutern, wieso sich das Spezifische der Banalität des Bösen in Bezug auf den Willensbegriff und somit zu den traditionellen Auffassungen des Bösen nicht mehr vollständig erfassen lässt.
2.
Von der Radikalität zur Banalität des Bösen
Arendt verwendet in ihrer Totalitarismus-Studie den Begriff des radikal Bösen, um damit auf die verheerende Extremität dieses totalitären Bösen aufmerksam zu machen. Obwohl Arendts Bruch mit der philosophischen Tradition erst mit ihrer Konzeption der Banalität des Bösen vollständig zum Ausdruck kommt, werden schon durch ihre Deutung des radikal Bösen die spezifischen Merkmale hervorgehoben, die sich mit den traditionellen Begriffsbestimmungen des Bösen nicht mehr genau erfassen lassen. Deswegen werde ich in diesem Abschnitt zuerst Arendts Verständnis des radikal Bösen kurz darstellen und mich dann in einem zweiten Schritt noch ihrem Verständnis der Banalität des Bösen zuwenden. Für Arendts Begriff des radikal Bösen sind insbesondere zwei Elemente ausschlaggebend, die sich dann auch in ihrer Konzeption der Banalität des Bösen wiederfinden. Erstens behauptet Arendt, dass unsere philosophische Tradition nie in der Lage war, die wirkliche Radikalität des Bösen zu denken. Es liegt im Sinne unserer gesamten philosophischen Tradition, daß wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können, und dies gilt noch von der christlichen Theologie, die selbst Satan noch einen himmlischen
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Manja Kisner
Ursprung zugestand, wie von Kant, dem einzigen Philosophen, der in der einzigen Wortprägung seine Existenz zumindest geahnt haben muß, wenngleich er diese Ahnung in dem Begriff des pervertiert-bösen Willens sofort wieder in ein aus Motiven Begreifliches rationalisierte. 2
Hier sehen wir, dass Arendt den Begriff des radikal Bösen von Kant übernimmt, der diesen Ausdruck in seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) einführte. Aus diesem Grund könnte man erst einmal vermuten, dass Arendt mit dem Begriff des radikal Bösen im Rahmen der philosophischen Tradition bleibt. Doch dem ist nicht so. Sie betont ganz klar, dass auch Kant das radikal Böse nicht entsprechend erfasst hat. Diese Behauptung deutet eigentlich darauf hin, dass sie unter dem Begriff des radikal Bösen etwas ganz anderes als Kant verstehen muss. Kant benutzt den Begriff in seiner ursprünglichen etymologischen Bedeutung, nämlich das radikal Böse als das angeborene, also in menschlicher Natur verwurzelte Böse (lateinisch radix, Wurzel), für das jedoch nur der Mensch selbst verantwortlich sein kann. Somit ist das radikal Böse für Kant dennoch eine Folge menschlicher Freiheit. 3 Arendt hingegen benutzt das Prädikat ›radikal‹ im Sinne einer besonderen Extremität des Bösen, das gerade wegen seiner extremen Zerstörungskraft für uns unbegreiflich bleibt. Die philosophische Tradition war ihrer Meinung nach also nicht in der Lage, diese besonders extreme Form des Bösen zu denken.
Arendt (14 2011), 941 f. Des Weiteren beschreibt sie die traditionellen Auffassungen des Bösen auch in ihrem Buch Vom Leben des Geistes. Vgl. Arendt (1998), 13 f.: »Das Böse, so haben wir gelernt, ist etwas Dämonisches; seine Verkörperung ist der Satan, der ›vom Himmel fällt als ein Blitz‹ (Luk. 10,18), oder Luzifer, der gefallene Engel (›Auch der Teufel ist ein Engel‹ – Unamuno), dessen Sünde der Hochmut ist (›stolz wie Luzifer‹), jene superbia, zu der nur die Besten fähig sind: sie möchten Gott nicht dienen, sondern sein wie er. Böse Menschen, so heißt es, handeln aus Neid, sei es aus Enttäuschung darüber, daß ihnen der Erfolg ohne eigenes Verschulden versagt blieb (Richard III.), oder aus dem Neid eines Kain, der Abel erschlug, denn ›der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an‹ (1. Mos. 4,4–5). Oder sie handeln aus Schwäche (Macbeth); oder umgekehrt aus jenem mächtigen Haß heraus, den das Böse für das reine Gute empfindet (Jago: ›Ich hasse den Mohren; mein Grund kommt von Herzen‹ ; Claggarts Haß auf Billy Budds ›barbarische‹ Unschuld, den Melville eine ›Verworfenheit von Natur‹ nennt), oder aus Begierde, der ›Wurzel aller Übel‹ (radix omnium malorum cupiditas).« 3 Vgl. RGV, AA 06: 32. Insofern beschreibt Kant mit dem Begriff des radikal Bösen keine dämonische Tiefe des Bösen. 2
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Das Monologische der Banalität des Bösen
Das zweite Element, das Arendt in Bezug auf das radikale Böse hervorhebt, ist mit ihrer These verbunden, dass sich das totalitäre Böse durch böse Motive oder durch den bösen Willen nicht mehr erklären lässt: Bis jetzt scheint der totalitäre Glaube, daß alles möglich ist, nur bewiesen zu haben, daß alles zerstörbar ist, auch das Wesen des Menschen. Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, daß alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, daß es ein radikal Böses wirklich gibt und daß es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, daß es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen. 4
Wie wir im Zitat sehen können, lässt sich das Spezifische des radikal Bösen durch die bösen Motive nicht erfassen, weil für diese Art des Bösen gerade eine radikale Nutzlosigkeit charakteristisch ist, die keiner utilitaristischen Logik mehr folgt und jenseits jeglichen rationalen Kalküls liegt. 5 Deswegen verbindet Arendt das radikal Böse mit dem Phänomen, das sie die »Überflüssigmachung von Menschen als Menschen« nennt. 6 Damit bindet sie in ihrem Totalitarismus-Buch das radikal Böse an das totalitäre System an, weshalb im Fokus ihrer Untersuchung nicht die konkreten Täter mit ihren eigenen Motivationen und Intentionen stehen, sondern vielmehr die Zerstörung der Individualität und Menschlichkeit selbst. Das radikal Böse zeigt, dass Arendt (14 2011), 941. Vgl. Bernstein (1996), 145: »Radical evil differs from the main traditional Western understandings of evil because it has nothing to do with humanly understandable ›evil motives‹ – indeed, it has nothing to do with human motives at all. And this is precisely what Arendt says about Eichmann when she speaks of the ›banality of evil‹.« 6 Darüber schreibt Arendt in einem Brief an Jaspers aus dem Jahr 1951. Vgl. Arendt/ Jaspers (1993), 202: »Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie mit den folgenden Phänomenen zu tun: Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen (nicht sie als Mittel zu benutzen, was ja ihr Menschsein unangetastet läßt und nur ihre Menschenwürde verletzt), sondern sie qua Menschen überflüssig zu machen. Dies geschieht, sobald man alle unpredictability ausschaltet, der auf Seite des Menschen die Spontaneität entspricht. Dies alles wiederum entspringt, oder besser hängt zusammen mit dem Wahn von einer Allmacht (nicht einfach Machtsucht) des Menschen.« 4 5
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Manja Kisner
sich alles Menschliche vernichten lässt, weswegen für die Erfassung dieses Bösen der Bezug auf die bösen oder egoistischen Motive der Täter nicht mehr ausreicht. Im Hinblick auf die Totalitarismus-Studie lässt sich demnach schließen, dass Arendt den Begriff des radikal Bösen benutzt, um dadurch erstens seine besondere Extremität und zweitens seine Motivlosigkeit herauszustellen. Diese zwei Elemente des radikal Bösen fasst Arendt sehr deutlich auch in ihrem Brief an Jaspers aus dem Jahr 1951 zusammen: Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, daß das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat. 7
Zugleich sind diese zwei Aspekte nicht nur für die Erläuterung des radikal Bösen konstitutiv, sondern ebenso für Arendts spätere Konzeption der Banalität des Bösen, die sie zum ersten Mal in ihrem Eichmann-Buch angekündigt und philosophisch dann insbesondere in ihren Vorlesungen zum Bösen und in ihrem letzten Buch Vom Leben des Geistes behandelt hat. Deswegen bin ich der Meinung, dass Arendts Phrase der ›Banalität des Bösen‹ nicht eine fundamentale Umdeutung ihres alten Verständnisses des Bösen darstellt, sondern dass der neue Name nur noch besser den neuen Charakter dieses Bösen zum Ausdruck bringt. Ohne Zweifel hat sich die Perspektive, aus der sie nach dem Eichmann-Prozess das Böse beschreibt, verändert: Während sie mit der Radikalität auf die besondere Extremität des Bösen in den totalitären Regimen verweisen wollte, versucht sie mit ihrer Deutung der Banalität des Bösen vor allem den neuen Verbrechertypus zu bezeichnen, der für solche Systeme charakteristisch ist. Dennoch bleiben trotz des Perspektivenwechsels die Haupteigenschaften bei den beiden Konzeptionen des Bösen dieselben. Dies lässt sich auch in ihrem Brief an Gershom Scholem aus dem Jahr 1963 beobachten, wo sie ihre Meinungsänderung beschreibt: Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. […]. Unklar ist mir, warum Sie die Wendung von der ›Banalität des Bösen‹ ein ›Schlagwort‹ nennen. Soviel ich weiß, hat noch 7
Arendt/Jaspers (1993), 202.
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Das Monologische der Banalität des Bösen
niemand das Wort gebraucht; aber das ist ja egal. Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute. 8
Wie zu sehen ist, weist Arendt hier den Begriff des radikal Bösen zwar zurück, doch gleichzeitig beschreibt sie das Böse immer noch sehr ähnlich wie in ihrem Totalitarismus-Buch. 9 Was für die Banalität des Bösen charakteristisch ist, ist ihre ungeheuerliche Extremität und Grausamkeit, die aber keine Tiefe hat. Doch wie wir gezeigt haben, war auch ihr Begriff des radikal Bösen nicht mit Tiefe verbunden. Dies zeigt, dass sich die beiden Beschreibungen des Bösen nicht wesentlich voneinander unterscheiden; vielmehr verdeutlicht ihre Phrase der ›Banalität des Bösen‹ nur noch eindeutiger, dass es sich Arendt/Scholem (2010), 444. Eigentlich hat schon Karl Jaspers in einem Brief an Arendt aus dem Jahr 1946 eine sehr ähnliche Beschreibung des Bösen gegeben, die in die Richtung einer Banalität des Bösen weist. Vgl. Arendt/Jaspers (1993), 98 f.: »Was die Nazis getan haben, lasse sich als ›Verbrechen‹ nicht fassen, – Ihre Auffassung ist mir nicht ganz geheuer, weil die Schuld, die alle kriminelle Schuld übersteigt, unvermeidlich einen Zug von ›Größe‹ – satanischer Größe – bekommt, die meinem Gefühl angesichts der Nazis so fern ist, wie das Reden vom ›Dämonischen‹ in Hitler und dergleichen. Mir scheint, man muß, weil es wirklich so war, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, ihrer ganz nüchternen Nichtigkeit – Bakterien können völkervernichtende Seuchen machen und bleiben doch nur Bakterien.« 9 Insofern geht meine Interpretation in eine andere Richtung als die Interpretation von Dana Villa oder Peter Baehr. Villa geht von einem Widerspruch zwischen dem radikal Bösen und der Banalität des Bösen aus. Er versteht den Begriff des radikal Bösen als einen theologischen Begriff, der streng in der Tradition verwurzelt ist, während sich für ihn die Banalität des Bösen genau dieser Tradition entzieht. Vgl. Villa (1999), 57: »I believe that Arendt’s change of mind on the nature of evil reflected her own awareness that the concept of ›radical evil‹ (at least as she had deployed it in The Origins of Totalitarianism) was irreducibly theological. Evil can be radical, can have metaphysical depth and reality, only within a theological framework that posits transhuman forces working for good or evil. In describing the evil represented by the concentration camps as ›radical‹ rather than extreme, Arendt succumbed to the idea that totalitarianism expressed the inner nihilistic currents of the modern age, currents that had been destroying human dignity for some time before they reached their logical telos in a system of total domination, one that treats millions of human beings as superfluous, as waste to be eliminated.« Ähnlich auch Baehr (2010), 140. Gegen die Argumentation von Villa oder Baehr spricht die Tatsache, dass Arendt schon den Begriff des radikal Bösen nicht durch böse Motive oder einen bösen Willen beschreiben will, weswegen dieses Böse gerade keine metaphysische Tiefe haben kann. Eine theologische Komponente ist hier nicht vorhanden, Arendt beschäftigt sich ausschließlich mit gesellschaftspolitischen Aspekten der Totalitarismen. 8
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dabei nicht um ein verwurzeltes Böses handelt. 10 Gleichzeitig folgt daraus aber nicht, dass das totalitäre Böse deswegen weniger destruktiv wäre, ganz im Gegenteil, seine zerstörerische Kraft ist deswegen nur noch größer. Aufgrund von Arendts Perspektivenwechsel, mit dem jetzt insbesondere die Täter ins Visier genommen werden, werden die ungeheuerliche Banalität der Täter und zugleich die Entsetzlichkeit der Taten nur noch deutlicher zum Vorschein gebracht. Auch für ihren Begriff der Banalität des Bösen ist es zentral, dass er sich in Bezug auf die bösen Motive nicht erfassen lässt. Demzufolge stellt Arendt am Beispiel von Eichmann fest, dass wir hier mit einem neuen Verbrechertypus konfrontiert sind, der keine verbrecherischen Motive hat, keine besonderen Perversionen aufweist und der uns deshalb nicht als »Ungeheuer«, sondern eher als »Hanswurst« erscheint. 11 Die Kluft zwischen den Taten einerseits und dem Täter und seinen Motiven andererseits ist in Arendts neuer Konzeption des Bösen also nur noch deutlicher geworden: Ich aber stand vor etwas völlig anderem und doch unbestreitbar Wirklichem. Ich war frappiert von der offenbaren Seichtheit des Täters, die keine Zurückführung des unbestreitbar Bösen seiner Handlungen auf irgendwelche tieferen Wurzeln oder Beweggründe ermöglichte. Die Taten waren unDarin stimme ich mit Bernsteins Interpretation überein. Vgl. Bernstein (1996), 152: »Does radical evil as Arendt presents it in The Origins of Totalitarianism ›contradict‹ (as Scholem claims) Arendt’s notion of the banality of evil? No! I have argued that what Arendt means by radical evil is making human beings superfluous, eradicating the very conditions required for living a human life. This is entirely compatible with what she says about the banality of evil. Eichmann lacked the thoughtfulness to grasp that this was the consequence of his ›monstrous deeds.‹ Did Arendt ever believe that Nazi crimes could be adequately explained as the ›deeds of monsters and demons‹ ? No! She explicitly and consistently ›totally rejects‹ such an understanding of Nazi criminality. Did Arendt ever think that anything like ›satanic greatness‹ was a relevant concept for understanding the evil of totalitarian domination? No! Already in 1946 she makes it perfectly clear that she rejects such a notion and even criticizes those formulations she uses that suggest such an understanding of Nazi evil. Arendt resists all tendencies to mythologize or aestheticize the radical evil of totalitarianism.« 11 Vgl. Arendt (2011), 132: »Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, daß dieser Mann kein ›Ungeheuer‹ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen ad absurdum geführt hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.« 10
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Das Monologische der Banalität des Bösen
geheuerlich, doch der Täter – zumindest jene einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand – war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich. 12
In dieser Passage aus der Einleitung zu ihrem Buch Vom Leben des Geistes bezieht sich Arendt zwar konkret auf ihre Wahrnehmung von Eichmann, dennoch kann die Frage, ob Arendts Beschreibung und Charakterisierung von Eichmann treffend oder unzutreffend war, für unsere Bewertung des Begriffs der Banalität des Bösen nicht entscheidend sein. Damals standen Arendt noch nicht alle Informationen und Dokumente zu Eichmann zur Verfügung, weshalb später Zweifel darüber erhoben wurden, ob ihre Beschreibung von Eichmann als jemandem, der ohne starke ideologische Motive gehandelt hat, tatsächlich zutreffend war. In jüngster Zeit argumentierte zum Beispiel Bettina Stangneth in ihrem Buch Eichmann vor Jerusalem gegen Arendts Einschätzung von Eichmann und versuchte dementgegen zeigen, dass Eichmann sehr wohl ein überzeugter Ideologe des Nazismus war. 13 Doch auch wenn man Stangneths Einschätzung von Eichmann teilt, verliert Arendts Theorie der Banalität des Bösen nicht an Bedeutung. Arendt hat nie behauptet, dass alle Täter in den totalitären Regimen ohne besonders ausgeprägte ideologische Motivationen handeln. Ihre These war vielmehr, dass für ein erfolgreiches Funktionieren des totalitären Systems insbesondere die große Zahl von denjenigen Tätern konstitutiv ist, die keine besonders ausgeprägten bösen oder guten Motivationen haben. Bei diesen Tätern besteht dann eine Kluft zwischen ihren Motivationen und der Ungeheuerlichkeit der Taten. Deswegen bleibt ihr Begriff der Banalität des Bösen, unabhängig von der Frage nach Eichmanns Charakterzügen, für die philosophische Konzeptualisierung des Bösen noch immer von besonderer Bedeutung. Zugleich lässt sich der Begriff der Banalität des Bösen auch in Bezug auf weitere Taten anwenden, die nicht unbedingt in einem totalitären System geschehen müssen, für die aber die Kluft zwischen den Motiven einerseits und den Taten andererseits dennoch charakteristisch ist. Insofern muss der Begriff der Banalität des Bösen nicht nur die extremsten und schrecklichsten Verbrechen beschreiben, sondern auch andere schlechte Taten, die aufgrund einer verblüffenden 12 13
Arendt (1998), 14. Vgl. Stangneth (2011).
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Indifferenz geschehen. Deswegen bleibt Arendts Frage, ob böses Handeln auch dann möglich ist, wenn nicht nur böse Motive, sondern überhaupt alle Motive fehlen, noch immer äußerst relevant. Auf diese Frage versucht Arendt in ihren Vorlesungen zum Bösen und in ihrem letzten Buch eine Antwort zu geben: Ist böses Handeln (Unterlassungs- wie auch Begehungssünden) möglich, wenn nicht nur ›niedrige Motive‹ (wie es im Rechtswesen heißt) fehlen, sondern überhaupt jedes Motiv, jede spezielle Aktivität des Interesses oder Wollens? Ist Bosheit, wie immer man sie definieren möge, ist dieser ›Wille zum Bösen‹ vielleicht keine notwendige Bedingung des bösen Handelns? Hängt vielleicht das Problem von Gut und Böse, unsere Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammen? 14
Diese zwei Hauptfragen, wieso sich die Banalität des Bösen nicht mehr auf böse Motive oder einen bösen Willen zurückführen lässt und wieso die Banalität des Bösen vielmehr mit unserem Denkvermögen zusammenhängt, bilden den Ausgangspunkt für Arendts angedeutete, aber nie vollständig entwickelte Theorie des Bösen.
3.
Das Monologische der Banalität des Bösen
In dem vorigen Abschnitt habe ich die Eigenschaften geschildert, die für den Begriff der Banalität des Bösen typisch sind, doch eine systematische philosophische Analyse des Bösen bleibt in Arendts Opus aus. Trotzdem finden sich in ihren dem Eichmann-Buch folgenden Werken viele interessante philosophische Überlegungen zu diesem Thema, die mir hier zur Grundlage meiner Rekonstruktion ihrer Theorie des Bösen dienen werden. Schon in Arendts Vorlesungen zum Bösen aus dem Jahr 1965 legt sie – in groben Konturen – eine philosophische Bestimmung und Ableitung ihres Begriffs der Banalität des Bösen dar. Ebenso steht die Problematik des Bösen im Mittelpunkt ihrer Einleitung zum Buch Vom Leben des Geistes. Insofern scheint für Arendt die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Bösen auch eine Schlüsselrolle bei ihrer Analyse der drei Geistestätigkeiten – des Denkens, des Wollens, und des Urteilens – zu spielen. Trotz diesen vielversprechenden Ansätzen, die wir in der Einleitung finden, behandelt Arendt in dem Buch selbst 14
Arendt (1998), 14 f.
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den Begriff des Bösen kaum noch. In den zwei Teilen über das Denken und das Wollen (den dritten Teil zum Urteilen konnte sie nicht mehr zu Ende schreiben) wird das Problem des Bösen nicht direkt behandelt. Die tatsächliche Analyse des Bösen fehlt in ihrem letzten Buch. Trotzdem lassen sich in ihren Arbeiten viele hilfreiche Ansätze für die Behandlung des Bösen finden. In diesem Abschnitt werde ich mich deswegen auf diejenigen Aspekte fokussieren, die uns bei einer philosophischen Ausarbeitung der Banalität des Bösen dienlich sind. Dies wird mich dazu führen, dieses Böse als ein monologisches Böse zu definieren, das Arendt in Anknüpfung an das Vermögen des Denkens erläutert. Ich hatte schon am Ende des vorigen Abschnitts angedeutet, dass für Arendt das Problem des totalitären Bösen nicht so sehr mit der Frage nach einem bösen Willen zusammenhängt, sondern sich besser in Bezug auf unser Denkvermögen definieren lässt. Die Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist eine Folge unseres Denkvermögens: Wenn etwas Richtiges an dem oben von mir geäußerten Gedanken sein sollte, daß die Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, etwas mit dem Denkvermögen zu tun habe, dann müßten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen ›verlangen‹ können, gleichgültig, wie gebildet oder unwissend, intelligent oder dumm er zufällig ist. 15
Arendts Intention ist es also zu zeigen, wie das Böse mit unserem Denkvermögen einhergeht. Dies erläutert sie dadurch, dass sie die Banalität des Bösen gerade als eine totale Indifferenz gegenüber dem, was Recht und Unrecht ist, definiert. Deswegen verbindet Arendt die Banalität des Bösen mit der Gedankenlosigkeit, die aber keine Unfähigkeit zum Denken, also keine Dummheit ist, sondern eine Abschaffung des kritischen und reflektierenden Denkens darstellt: »Gedankenlosigkeit ist nicht Dummheit; sie findet sich auch bei hochintelligenten Menschen, und ihre Ursache ist nicht ein schlechtes Herz; wahrscheinlich kann umgekehrt Schlechtigkeit durch Gedankenlosigkeit entstehen.« 16 Diese These über die Verknüpfung des Bösen mit der Gedankenlosigkeit erläutert Arendt dann weiter mithilfe von Sokrates’ Deutung des Denkens als Zwiegesprächs mit sich selbst, die Platon in seinem Dialog Gorgias wiedergibt. 15 16
Arendt (1998), 23. Arendt (1998), 23.
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Die erste, obwohl nicht hinreichende Bedingung dafür, dass sich das Individuum als eine moralische Persönlichkeit verstehen lässt, ist bei Sokrates ebenso wie bei Arendt mit unserer Fähigkeit zum Denken und im Gespräch mit uns selbst zu sein verbunden. Das Selbstgespräch fungiert demnach als eine Art innerer Dialog. Nur wenn wir in der Lage sind, ein Zwiegespräch mit uns selbst zu führen, können wir am Ende auch in Harmonie mit uns selbst sein und als Einer, also als eine Person fungieren. 17 Deswegen geht für Arendt das Denken aus einer ursprünglichen Dualität hervor: »Das Leben des Geistes, in dem ich mit mir selbst umgehe, kann lautlos sein; es ist aber niemals stumm, und es kann niemals völlig selbstvergessen sein, weil alle seine Tätigkeiten reflexiv sind.« 18 Allerdings fordert diese Harmonie oder Widerspruchslosigkeit des Denkens keine komplette Einstimmigkeit, sondern nur die Fähigkeit, sich als Zwei-in-Einem begreifen zu können. Das Zwei-inEinem bedeutet, dass wir im Dialog mit uns selbst sind. Eine ursprüngliche Spaltung und Uneinigkeit ist nicht ausgeschlossen, sondern vorausgesetzt: Nur aufgrund der Spaltung können wir überhaupt über eine Übereinstimmung mit uns selbst sprechen. Insofern symbolisiert das wahre Denken für Arendt immer einen inneren Dialog, keinen Monolog. Diesem Verständnis nach sind auch die literarischen Monologe eher als innere Dialoge zu verstehen. Ein Monolog, der kein innerer Dialog ist, stellt somit noch immer einen Gedankengang dar, aber diese Gedanken bewahren uns in diesem Fall nicht mehr vor der Gedankenlosigkeit. Für die Analyse der Banalität des Bösen ist es dabei besonders wichtig, dass Arendt dieses Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst auch als die prä-philosophische Bedingung für die Moral ansieht. 19 Dementsprechend stützt sich Sokrates’ Behauptung, dass es In diesem Kontext erwähnt Arendt neben Sokrates auch Kant. Auch Kants Universalisierungsformel des kategorischen Imperativs erklärt sie mithilfe der Sokratischen Definition des Denkens als Zwiegesprächs: Jemand, der im Gespräch mit sich selbst ist, will sich nicht widersprechen, und deswegen kann dieser Mensch sich nicht selbst ausnehmen. Vgl. Arendt (2007), 34 f. 18 Arendt (1998), 81. 19 Vgl. Arendt (2007), 75: »Wenn die moralische Vorschrift aus der denkenden Tätigkeit selbst entsteht, wenn sie die auf welche Sache auch immer bezogene Bedingung ist, die dem stummen Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst innewohnt, dann ist sie eher die prä-philosophische Bedingung der Philosophie selbst, und deshalb eine Bedingung, die das philosophische Denken mit allen anderen nicht fachspezifischen Denkweisen gemein hat.« 17
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besser ist, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun, auf die Natur unseres Denkens; sie ist mithin aus den elementaren Charakteristiken des Denkens abgeleitet. Wenn wir Unrecht tun, sind wir laut Sokrates nicht mehr in Übereinstimmung mit uns selbst, was bedeutet, dass wir mit uns selbst uneins sind. Doch weil unser Denken nach Harmonie und Einstimmung strebt, können wir mit uns selbst nicht widerspruchsfrei zusammenleben, wenn wir Unrecht tun: Wenn ich Unrecht tue, bin ich dazu verdammt, in unerträglicher Intimität mit einem Unrechttuenden zusammenzuleben; ich kann ihn nie loswerden. Das Verbrechen also, das den Augen der Götter und Menschen verborgen bleibt – ein Verbrechen, das überhaupt nicht erscheint, weil es niemanden gibt, dem es erscheint, […] –, existiert eigentlich nicht: So wie ich mein eigener Partner bin, wenn ich denke, bin ich mein eigener Zeuge, wenn ich handle. Ich kenne den Täter und bin dazu verdammt, mit ihm zusammenzuleben. 20
Der Dialog, zuerst der innere Dialog mit uns selbst, fungiert also als die Grundlage des Moralischen. Arendt bekräftigt dies auch mit einer Stelle, in der Sokrates sagt, dass er es lieber sähe, dass seine Lyre verstimmt ist und dass die meisten Menschen mit ihm nicht einstimmen und ihm widersprechen, als dass er allein mit sich selbst nicht einstimmen und sich widersprechen würde. 21 Deswegen interpretiert Arendt Sokrates als jemanden, der als den Ausgangspunkt seiner Moraltheorie die Einstimmigkeit mit sich selbst nimmt. Die Phrase »Ich, der ich einer bin« stellt die Grundlage für das Moralische dar: »Das einzige Kriterium des Sokratischen Denkens ist die Übereinstimmung mit sich selbst.« 22 Dennoch kann ich aber als Einer nur dann fungieren, wenn ich nicht schlicht Einer bin. Arendt interpretiert diese These Sokrates’ auf folgende Weise: »Das Gemeinte ist klar: Selbst wenn ich Einer bin, bin ich nicht schlicht Einer; vielmehr habe ich ein Selbst und stehe zu diesem Selbst als meinem eigenen Selbst in Beziehung.« 23 Arendt (2007), 70 f. Vgl. Arendt (2007), 70. 22 Arendt (1998), 185. 23 Arendt (2007), 70. Vgl. ebenso Arendt (1998), 182: »Sokrates sagt, er sei Einer; und deshalb müsse er sich davor hüten, mit sich selbst in Zwiespalt zu geraten. Doch nichts, was mit sich selbst identisch ist, was wahrhaft und absolut Eines ist, wie A = A ist, kann mit sich selbst im Einklang stehen oder nicht stehen; man braucht mindestens zwei Töne, um einen harmonischen Klang zu erzeugen. […]. In mein Einssein hat sich ein Unterschied eingeschlichen.« 20 21
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Deswegen ist dieses Verhältnis mit mir selbst kein monologisches, sondern kann nur ein dialogisches Verhältnis sein. Diese ursprüngliche Dualität ist nicht nur wichtig für Einzelpersonen, sondern hat auch eine intersubjektive Bedeutung – Arendt versteht sie auch als den Ausgangspunkt für ihre Auffassung der Pluralität der Menschen: »Wir würden sagen: überall, wo es eine Mehrzahl – von Lebewesen, von Dingen, von Ideen – gibt, da ist Unterschied, und dieser kommt nicht von außen, sondern ist in jedem Gegenstand in Form der Dualität enthalten, woraus die Einheit als Vereinigung entsteht.« 24 Wenn ich jetzt noch einmal zu Arendts These zurückkomme, die besagt, dass es sich bei der Banalität des Bösen um eine Art der Gedankenlosigkeit handelt, dann lässt sich schlussfolgern, dass sie die Banalität des Bösen eigentlich als ein Fehlen des Zwiegesprächs und somit als ein monologisches – im Gegensatz zu einem dialogischen – Denken definiert. Sokrates’ These, dass es besser sei, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun, hat nur dann Bestand, wenn wir voraussetzen können, dass alle Menschen »das Bedürfnis haben, die Dinge durchzusprechen« und dass alle Menschen mit sich selbst sprechen können. 25 Doch die totalitären Systeme haben uns sehr deutlich gezeigt, dass diese elementare Bedingung auch zerstört werden kann – die Banalität des Bösen setzt sie nicht mehr voraus. Nur wenn ich als Mensch aufhöre, im Dialog mit mir selbst zu sein, kann ich meiner eigenen Unstimmigkeit gegenüber indifferent sein, und nur dann kann es mich nicht stören, wenn ich Unrecht tue. Menschen, die weder mit sich selbst noch mit anderen im Dialog stehen, bemühen sich nicht, gute Gesprächspartner zu sein. Wo der Mensch zwar noch immer denkt, sein Denken aber zugleich kein Zwiegespräch ist, lässt sich eine verblüffende Indifferenz feststellen, die Arendt als die Banalität bezeichnet. Nur in diesem besonderen Fall reicht eine Analyse der Motive der Handlungen nicht mehr aus, um die Täter angemessen zu charakterisieren und zu erfassen. Mit dem Ausdruck der ›Banalität des Bösen‹ verweist Arendt somit auf das Monologische dieses Bösen, welches eine besondere moralische Indifferenz darstellt, die alle moralischen Standards zu vernichten droht. In diesem speziellen Fall (und nur in diesem) lässt sich behaupten, dass die Taten zwar ungeheuerlich sind, die Täter aber als eher durchschnittlich und keinesfalls dämonisch erscheinen. Selbstver24 25
Arendt (1998), 183. Arendt (2007), 73.
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ständlich bedeutet das nicht, dass diese Täter für ihre Taten nicht mehr verantwortlich sind, ganz im Gegenteil. Für Arendt ist der wesentliche Bestandteil unserer Menschlichkeit, dass wir mit uns selbst und mit den anderen zusammenleben und kommunizieren können. Der, der sich diesem Zwiegespräch verweigern will, gibt auch die elementare Bedingung unserer menschlichen Pluralität auf. Deswegen ist die Banalität des Bösen viel gefährlicher und extremer als andere Arten des Bösen. Diese Ungeheuerlichkeit der Banalität des Bösen hat Arendt schon von Anfang an immer wieder klar herausgestellt. Auf diese Weise lässt sich auch ihre Beobachtung aus ihrem Totalitarismus-Buch verstehen, wo sie die Überflüssigmachung der Menschen als ein typisches Ziel totalitärer Regime ansieht, die sich bemühen, alle Menschen gleichermaßen überflüssig zu machen und somit ihre Menschlichkeit zu vernichten. 26 Diese monologische Banalität ist es, die viel gefährlicher als andere Arten des Bösen ist. Arendt verbindet sie mit dem Realitätsverlust und mit der Unfähigkeit, sich in andere zu versetzen und sie ebenso zu berücksichtigen. Das Denken selbst wird zu einem blinden, nicht reflektierten Mechanismus gemacht, der seine Gedanken nie hinterfragt und der sich auch nicht an der Realität misst. Das Nachdenken und das Hinterfragen fallen ebenso weg wie das Erinnern: Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. Das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet für menschliche Wesen, sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so daß man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird. Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten. 27
Insofern wird noch einmal bestätigt, dass ihr Begriff des radikal Bösen nicht im Gegensatz zu der Banalität des Bösen steht. Die Banalität des Bösen nimmt die Täter ins Visier, während sie mit der Radikalität die Taten selbst beschrieben hat. Deswegen wäre es irreführend, wenn wir darauf bestehen würden, dass sie ihr Verständnis des Bösen aufgrund des Eichmann-Prozesses verändert hat. Viel treffender ist es zu 26 27
Vgl. Arendt (14 2011), 941. Arendt (2007), 77.
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behaupten, dass sie ihren Blickwinkel geändert hat, wodurch sich dann auch ihr Bewusstsein, dass wir eine neue philosophische Beschreibung des Bösen brauchen, nur noch vergrößert hat. Wie wir gesehen haben, stellt das Denken als Zwiegespräch die prä-philosophische Bedingung für das Moralische dar. Die Banalität des Bösen hingegen beschreibt gerade die Täter, die auf das dialogische Denken verzichten. Doch wie Arendt deutlich herausstellt, ist die Bestimmung des Moralischen in Bezug auf das Denkvermögen nur eine negative Bestimmungsweise, die noch kein positives moralisches Handeln hervorbringt. 28 Aus diesem Grund ist die Rückbesinnung auf das Denken als Zwiegespräch von besonderer Relevanz gerade in Krisenzeiten und Ausnahmezuständen, 29 wo alte Normen und Werte zerstört worden sind und wo auch die Tatsache, dass Menschen mit sich selbst und mit anderen in einem aktiven Dialog stehen können, um wirklich als Personen zu fungieren, nicht mehr selbstverständlich ist. Der Mörder bei Shakespeare sagt: ›Jeder, der gut leben möchte, versucht … ohne es zu leben‹, und das gelingt leicht, weil man nichts anderes zu tun braucht, als nie das stumme, einsame Zwiegespräch anzufangen, das wir ›Denken‹ nennen, also nie nach Hause zu gehen und die Dinge kritisch zu untersuchen. Das ist keine Frage von gut oder böse, es hat nichts mit Intelligenz oder Dummheit zu tun. Wer jenen stummen Verkehr nicht kennt (in welchem man prüft, was man sagt und was man tut), der wird nichts dabei finden, sich selbst zu widersprechen, und das heißt, er ist weder fähig noch gewillt, für seine Rede oder sein Handeln Rechenschaft abzulegen; es macht
Vgl. Arendt (1998), 190: »Für den Denker selbst steht diese moralische Nebenwirkung nur am Rande. Und das Denken als solches bringt der Gesellschaft wenig Nutzen, viel weniger als der Wissensdrang, der das Denken als Mittel zu anderen Zwecken einsetzt. Das Denken schafft keine Werte; es sagt nicht ein für allemal, was ›das Gute‹ sei; anerkannte Verhaltensregeln bestätigt es nicht, sondern es löst sie auf. Und es hat keine politische Bedeutung, außer in speziellen Situationen. Daß ich, solange ich lebe, mit mir selbst leben können muß, dieser Gedanke tritt politisch nicht in Erscheinung, außer in ›Grenzsituationen‹.« 29 Vgl. Arendt (2007), 94: »Diese Überlegungen mögen vielleicht erklären, warum sich allein die Sokratische Moral mit ihren negativen, marginalen Merkmalen als die Moral herausgestellt hat, auf die in Grenzsituationen, das heißt, in Krisenzeiten und Ausnahmezuständen, Verlaß ist. Wenn Normen ohnehin nicht mehr gültig sind – wie in Athen im letzten Drittel des 5. und 4. Jahrhundert oder in Europa im letzten Drittel des 19. und im 20. Jahrhundert –, bleibt nichts als das Beispiel des Sokrates, der nicht der größte Philosoph gewesen sein mag, aber nach wie vor der Philosoph par excellence ist.« 28
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ihm auch nichts aus, jedes beliebige Verbrechen zu begehen, weil er darauf zählen kann, daß er es im nächsten Augenblick vergessen hat. 30
Demzufolge beschreibt Arendts Begriff der Banalität des Bösen nicht alle bösen und unmoralischen Verhaltensweisen, die man kennt, sondern stellt vielmehr nur eine besondere Art des Bösen dar, für die sogar die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht keinen Bestand mehr hat. So wie sich die elementare Bedingung des Moralischen aus dem Denken selbst ableiten lässt, so lässt sich die Banalität des Bösen als eine Gedankenlosigkeit – als ein monologisches Denken, das das Zwiegespräch aufgibt – erkennen. Gegen diese extremste Art des Bösen, die durch die völlige Indifferenz alles Menschliche zu zerstören droht, können wir nur so kämpfen, dass wir uns zuerst für ein dialogisches, kritisches und reflektierendes Denken einsetzen und somit das monologische Desinteresse überwinden.
4.
Der Wille und die Banalität des Bösen
Am Ende möchte ich noch Arendts Auffassung des Willensvermögens darlegen und dabei verdeutlichen, wieso sich der Begriff der Banalität des Bösen durch die Analyse des Willensbegriffs nicht mehr angemessen bestimmen lässt. Indem Arendt die Verknüpfung zwischen dem Willen und ihrem Begriff des Bösen zurückweist, veranschaulicht sie, wie und warum ihre Konzeption der Banalität des Bösen der philosophischen Tradition entgegenläuft. Doch das besagt noch nicht, dass sich das Böse nie in Bezug auf den Willen erfassen lässt. Im Gegenteil, die Abkoppelung des Bösen vom Willen ist spezifisch nur für Arendts Deutung der Banalität des Bösen und nicht für alle anderen Formen des Bösen. Deswegen wäre es meiner Meinung nach falsch, wenn man behaupten würde, dass Arendt mit dem Begriff der Banalität des Bösen alle traditionelle Auffassungen des Bösen ersetzen wollte. Vielmehr versucht sie dadurch nur eine spezifische Form hervorheben, die bis jetzt philosophisch noch nicht konzipiert wurde. Um dies weiter begründen zu können, werde ich mich zuletzt mit Arendts Verständnis des Willens auseinandersetzen. Arendt versteht den Willen als ein Vermögen, für das die Spaltung in zwei unterschiedliche Seiten konstitutiv ist. Die eine Seite 30
Arendt (1998), 189.
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gibt die Befehle, die andere befolgt sie. Ohne diesen grundlegenden Zwiespalt lässt sich das Willensvermögen nicht verstehen und definieren. Genauer bedeutet das, dass der Wille zwei entgegengesetzte Bestimmungsgründe voraussetzt. Diese Bestimmungsgründe wurden in der philosophischen Tradition meistens als entweder aus der Sinnlichkeit oder aus der Vernunft stammend verstanden, wie das zum Beispiel bei Kant der Fall war. Die Unterscheidung zwischen dem guten oder dem bösen Willen lässt sich demnach aufgrund des Unterschieds zwischen der befehlenden und der befolgenden Seite beschreiben. Der Wille ist gut, wenn er der Vernunft folgt und sich gegen die Antriebe der Sinnlichkeit stellt. In Anknüpfung an Kant deutet Arendt den guten Willen folgendermaßen: »Wenn wir die Widersprüche beiseite lassen und uns nur an das halten, was Kant sagen wollte, dann hat er offenbar an einen Guten Willen als den Willen gedacht, der ›Ja, ich will‹ antwortet, wenn ihm gesagt wird: ›Du sollst‹.« 31 Nach Arendts Interpretation steht im Mittelpunkt des Willensproblems die Frage, wie wir den Willen überreden können, dem Diktat der Vernunft zu folgen. Auf dieser Grundlage definiert sie den Willen als ein Vermögen, das ja oder nein zu den Geboten der Vernunft sagen kann, daß also mein Nachgeben gegenüber einem Begehren nicht durch Nicht-Wissen oder Schwäche hervorgerufen wird, sondern vom Willen, einem dritten Vermögen. Vernunft reicht nicht aus, und Begehren reicht nicht aus. […]. Der Wille ist der Schiedsrichter zwischen Vernunft und Begehren, und als solcher ist allein er frei. 32
Der Zwiespalt war zwar schon für Arendts Definition des Denkens als Zwiegesprächs entscheidend, in Bezug auf den Willen erhält dieser allerdings eine andere Bedeutung und Nachwirkung. 33 Das denkende Ich ist nicht weniger zwiegespalten als das wollende Ich, doch die Spaltung im Denken ist eine friedliche, während die Spaltung im Willen einem gnadenlosen Kampf ähnelt: »Diese Spaltung im Willen selbst ist jedoch ein Kampf und kein Dialog. Denn wenn der Wille Arendt (2007), 41. Arendt (2007), 104. 33 Vgl. Arendt (1998), 316 f.: »Das wollende Ich, so stellt sich heraus, ist nicht weniger zwiegespalten als das Sokratische Zwei-in-einem des Platonischen Zwiegesprächs des Denkens. Doch wie wir bei Paulus sahen, pflegen die beiden Teile des wollenden Ichs keineswegs einen friedlichen, harmonischen Verkehr miteinander.« 31 32
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Einer wäre, wäre er überflüssig, was heißt, daß er niemanden hätte, dem er Befehle erteilen könnte. Die bedeutendste Manifestation des Willens also ist, Befehle zu geben.« 34 Ein innerer Kampf mit sich selbst stellt somit die elementare Bedingung des Willens dar; ohne diese Spaltung könnte man über ein Willensvermögen überhaupt nicht sprechen. Schauen wir uns jetzt auf dieser Grundlage an, wieso uns bei der Erläuterung der Banalität des Bösen die Analyse des Willens nicht weiterhilft. Während die klassischen Definitionen des Bösen eine Spaltung im Willen für die Bestimmung des Guten und Bösen vorausgesetzt haben, ist für die Banalität des Bösen gerade ein Fehlen jeglicher Spaltung charakteristisch. Die Banalität des Bösen lässt sich deswegen nicht aufgrund des Kampfs zwischen den Motiven, die aus der Vernunft, und denen, die aus der Sinnlichkeit folgen, beschreiben. Wie wir gesehen haben, setzt der Wille immer schon eine Spaltung zwischen dem Teil, der die Befehle gibt, und dem Teil, der den Befehlen folgt, voraus. Dies hat allerdings zur Folge, dass der Wille auch einen Unterschied zwischen Recht und Unrecht immer schon voraussetzen muss. Diese elementare Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht ist nach Arendts Interpretation allerdings etwas, das nur aufgrund des Zwiegesprächs im Denken entstehen kann. Deswegen will ich behaupten, dass Arendt in ihrer Interpretation ein Primat des Denkens vor dem Willen darlegt. Wenn wir nicht mehr mit uns selbst im Zwiegespräch stehen, dann können wir wegen dieser monologischen Indifferenz auch keinen Kampf des Willens mehr haben, weil wir das, was uns zur Person macht – zu einem Zwei-in-Einem – aufgegeben haben. Dies ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum Arendt die Banalität des Bösen in Anknüpfung an das Denken definiert hat. Die Banalität des Bösen beschreibt die gänzliche Aufhebung des Moralischen und ist somit grundlegender als alle anderen Formen des Bösen, die sich in Bezug auf den Willen definieren lassen. Das Böse, das mit dem Willen einhergeht, setzt somit immer schon eine Unterscheidung zwischen den zwei Seiten voraus, die aber bei der Banalität
Arendt (2007), 115. Vgl. auch Arendt (2007), 112 f.: »Die Spaltung im Willen ist weit davon entfernt, eine friedliche zu sein – sie kündigt kein Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst an, sondern einen gnadenlosen Kampf, der bis zum Tode andauert.«
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des Bösen gerade verschwindet. Insofern sind die guten oder schlechten Motive für die Bestimmung der Banalität des Bösen nicht aufschlussreich, doch die Analyse dieser Motive ist dennoch von Bedeutung, wenn es um das Verständnis anderer Formen des Bösen geht, die aus der Spaltung im Willen hervorgehen. 35 Bei der positiven Frage, wie wir das tun können, was recht und gerecht ist, hilft uns eine Analyse des Willensvermögen mehr als nur der Bezug auf das Denken. Deswegen hat Arendt diese Rückbesinnung auf das Denken als das Zwiegespräch gerade für die Krisensituationen als konstitutiv gesehen, weil es primär nicht mehr um die konkreten individuellen Taten geht, sondern um die Zerstörung der Menschlichkeit der Menschen. Durch die Banalität des Bösen beschreibt Arendt somit ein völliges Desinteresse für die Welt und die Menschen. Im Gegensatz zur Gedankenlosigkeit, die für die Banalität des Bösen charakteristisch ist, ist in Bezug auf das Denken das Kriterium für das Moralische mit der Frage verbunden, ob ich mit mir selbst im Einklang und ohne Widerspruch leben kann. Arendt brachte das im abschließenden Zitat aus ihren Vorlesungen zum Bösen sehr deutlich auf den Punkt: Ich versuchte zu zeigen, daß unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden. […]. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt. Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, daß jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. […]. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ›skandala‹, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich ver-
Wenn man den Willen allerdings als ein blindes, grundloses Streben verstehen möchte – so wie das z. B. Schopenhauer oder Nietzsche angedeutet haben – dann lässt sich das Monologische der Banalität auch in Bezug auf den Willen finden. Doch dieser Wille entspricht nicht mehr Arendts Definition des Willens als eines inneren Kampfs, sondern beschreibt vielmehr das, was Arendt gerade durch die Kapitulation des Zwiegesprächs beschrieben und als eine elementare Gedankenlosigkeit erkannt hat.
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Das Monologische der Banalität des Bösen
ständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität. 36
Wegen dieser verblüffenden Indifferenz stellt die Banalität des Bösen für Arendt eine Form des Bösen dar, die moralisch und gesellschaftlich gesehen die gefährlichste ist. Dennoch hat dieser Begriff in der philosophischen Tradition bisher noch keine Berücksichtigung und Beschreibung gefunden. Deswegen ist es meiner Meinung nach berechtigt, wenn wir behaupten, dass Arendt durchaus auf der Suche nach einer neuen Definition des Bösen war, ohne dass sie damit alle anderen Auffassungen des Bösen zurückweisen wollte.
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Arendt (2007), 149 f.
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Das Böse konzipieren Probleme und Lösungen Zachary J. Goldberg
Der vorliegende Beitrag beschreibt und bewertet verschiedene Methoden, die moralisch Böses thematisieren. Es gibt drei methodische Möglichkeiten: Erstens kann man die Behauptung zurückweisen, dass der Begriff des Bösen ein geeignetes Thema ernsthafter, säkularer, wissenschaftlicher Betätigung ist. Die Überlegungen zur Unterstützung dieser Perspektive sind anziehend, aber letztendlich nicht überzeugend. Wenn es um die Formulierung positiver Theorien des Bösen geht, gibt es zwei andere anwendbare Methoden: Die eine ist platonisch und die andere wittgensteinisch. Der platonische Ansatz bringt die Position vor, dass die notwendigen und hinreichenden Bedingungen aller Begriffe bestimmt werden können. Der wittgensteinsche Ansatz besteht darauf, dass viele Begriffe unter einem solchem platonischen Exaktheitsideal nicht hinreichend erfasst werden können. Begriffe können unscharfe, verschwommene Grenzen haben. Darauf aufbauend müssen viele Begriffe durch paradigmatische Anwendungsfälle und »Familienähnlichkeiten« verstanden werden. Beide Ansätze haben deutliche Vorteile und spezifische Nachteile, die sich direkt auf unser Verständnis böser Handlungen auswirken. Ich schlage daher einen gesamtheitlichen Ansatz vor, der die Vorteile jeder Methodik bewahrt und die Nachteile vermeidet. Der erste Ansatz zur Darstellung des Bösen ist die Ablehnung der Möglichkeit, dies zu tun. Man könnte argumentieren, dass das Konzept des Bösen kein geeignetes Thema einer ernsthaften, säkularen und wissenschaftlichen Diskussion sei. Zur Untermauerung dieser These gibt es mehrere Überlegungen. 1 Erstens kann man behaupten, dass der Begriff ›Böses‹ nur zu fiktiven Kontexten gehört. Der Begriff des Bösen ruft sofort Bilder Für eine Zusammenfassung einiger Argumente für die Ablehnung des Begriffs »Böse« als angemessene Form der moralischen Bewertung sowie ein Argument gegen diese Ansichten vgl. Garrard und McNaughton (2012).
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Das Böse konzipieren
vom Teufel, höllischen Monstern oder psychotischen Mördern hervor, die in prickelnder Fiktion erscheinen. Wir bezeichnen bereitwillig und angemessen Charaktere wie Satan oder Nosferatu als böse. Solche Charaktere stehen im Widerspruch zum moralisch Guten und sie streben danach, Anderen Schmerzen, Angst und Schrecken zu bereiten. Aber solche Geschichten und Mythen sind natürlich reine Fantasien. Und wenn der Begriff des ›Bösen‹ angemessen auf solche fiktiven Charaktere verweist, bezieht er sich vielleicht nur auf fiktive Wesen. Daraus könnte man schließen, dass nur Wissenschaftler, die sich für die religiöse oder zeitgenössische Mythologie interessieren, dem Begriff des Bösen Beachtung schenken sollen. Es besteht auch eine lange Tradition, das Böse als eine übernatürliche Kraft in der Welt zu betrachten. Viele Religionen der Welt schließt diese Tradition mit ein, aber ich werde den Manichäismus als deutlichstes Beispiel herausgreifen. Vereinfacht gesagt predigt der Manichäismus eine dualistische Kosmologie, in der die Kräfte des Guten und des Bösen gegeneinander ausgespielt und durch menschliche Aktionen und Interaktion durchgeführt werden. 2 Außerhalb dieses übernatürlichen und mythologischen Kontextes spielt das Böse vielleicht keine Rolle. Philip Cole behauptet: [Evil] only works as an explanation at a mythological level, and it only works […] if we suppose there is some other force at work other than the [agent] in question, either some kind of force that chooses to work through her, or some kind of narrative force, a story unfolding in which she is simply a character playing a specific and prescribed role […]. If we do not believe in the existence of these forces, then there is no explanation here at all, and the concept of evil has no role to play in a secular understanding of human behavior. 3
Wenn der eigentliche Bereich des Begriffs des ›Bösen‹ nur fiktive und übernatürliche Geschichten umfasst, dann sollten die meisten säkularen wissenschaftlichen Fachbereiche das Böse nicht berücksichtigen. Jede Analyse des Bösen sei rein soziologisch: eine Analyse darüber, wie eine Gesellschaft über Monster und Dämonen denkt und welche Rolle diese Figuren in den verschiedenen Religionen oder populären Natürlich ist der Manichäismus komplizierter als das Bild, das ich hier kurz darstelle. So interessant diese Komplexitäten auch sein mögen, liefern sie keine Beweise gegen mein Argument. Für eine andere philosophische Ablehnung eines manichäischen Verständnisses des Bösen vgl. Midgley (1986), 17. 3 Cole (2006), 5 f. 2
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Unterhaltungsformen einer bestimmten Gesellschaft spielen. Man könnte argumentieren, dass das Böse kein Begriff ist, der menschlicher Interaktion und moralischer Bewertung entspricht. Darüber hinaus dämonisieren Täter eines Völkermords oder Massenmords oft ihre Opfer, indem sie sie als böse bezeichnen und sie deshalb einer Ausrottung für würdig deklarieren. Auch aus diesem Grund ist vielleicht eine Darstellung des Bösen abzulehnen. In seiner Analyse der Mentalität des Massenmordes skizziert der Soziologe Abram de Swaan die vielfältigen Arten, auf welche Opfer kollektiver Gewalt gesetzlich, sozial und psychologisch ausgegrenzt werden. Eine Ausgrenzung ermöglicht den Tätern, ihre Brutalität auszuleben und eine Massenvernichtung zu organisieren. Eine der bedeutendsten Ausgrenzungsarten tritt durch die »Desidentifizierung« der Opfergruppe als Menschen auf. Durch verschiedene Propagandaformen werden die Opfer als »ganz andere« und oft als untermenschlich oder unmenschlich dargestellt. Die Existenz der Opfergruppe wird als Anathema und eine Bedrohung der Lebensweise der Tätergruppe interpretiert. Die Tätergruppe wird ermutigt, manipuliert oder angewiesen, die Bedrohung zu beseitigen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Opfer als ›böse‹ bezeichnet. A genocidal regime singles out certain groups of the population as the object of mass hatred. It must then make an intensive and sustained effort to spread this message of hatred among »the regime’s own people.« But it can do so only if its propaganda connects with widespread ideas and emotions about the target population […]. Hazy popular notions must be absolutized (the target people are not just »worse«, they are »totally evil«) […]. 4
Der Begriff des ›Bösen‹ hat oft den Zweck eine Zielpopulation zu befremden, diese »Anderen« ihrer Menschlichkeit zu berauben und die Angst eines Volkes vor diesen anderen »unmenschlichen Kreaturen« zu manipulieren, um Massengewalt gegen sie zu motivieren. Darüber hinaus kann der Begriff des ›Bösen‹ mit ruchlosen politischen Absichten verwendet werden (auch ohne die Absicht der vollständigen Vernichtung einer Bevölkerung). Beispielsweise beschrieb Präsident Trump die Massenschießerei bei einem Straßenkonzert in Las Vegas, USA, im Herbst 2017 als einen »Akt des reinen Bösen«. Kurz nach dieser Aussage schlossen sich konservative Politiker an
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de Swaan (2015), 50 f.
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und äußerten, »man kann das Böse nicht regulieren«, um Forderungen nach strengeren Waffenkontrollen zu entgehen. 5 Auf diese Weise haben sich diese Politiker auf unser natürliches Angstgefühl angesichts des Bösen verlassen und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit hinzugefügt. Ihre Absicht bestand eindeutig darin, die Bevölkerung davon abzuhalten Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Böse in der Zukunft zu verringern, weil sie durch solche Maßnahmen Geld verlieren würden. Diese Politiker bedienten sich des Begriffs des ›Bösen‹, um andere davon zu überzeugen, dass die Ereignisse des Bösen zwar entsetzlich, aber auch unvermeidbar sind. In diesem Zusammenhang wird das Wort ›böse‹ benutzt, um andere Menschen für eigene politische und finanzielle Zwecke zu manipulieren. Vielleicht ist dies Grund genug, um den Begriff aus unserem akademischen Wortschatz zu streichen. Außerdem kann der Begriff des Bösen dazu benutzt werden, uns von einer Untersuchung der Motivationen von Tätern abzuhalten. Die Historikerin Inga Clendinnen behauptet, dass die Bezeichnung der Nazis und ihrer Taten als ›böse‹ dazu diente, sie als teuflische, monströse oder unmenschliche Individuen zu kategorisieren. Diese Individuen und ihre Handlungen als ›böse‹ zu bezeichnen könnte darauf hindeuten, dass Täter brutaler Gewalttaten unmenschlich sind. Die Einstufung solcher Personen oder ihrer Handlungen außerhalb der Grenzen der Menschheit führt zu einem Abbruch der Ermittlungen hinsichtlich der Gründe für ihre Handlungen. Falls Täter böser Handlungen unmenschliche Monster sind, können wir sie als irrationale Wesen kategorisieren, die nicht verstanden werden können. Man könnte behaupten, dass Täter tragische Ausnahmen einer grundsätzlich guten Menschheit sind. Die Fakten zeigen jedoch, dass viele Täter von Gräueltaten wie Völkermord ganz gewöhnliche Menschen sind. 6 Wie Clendinnen über die Nazis sagt: »We are a long way from monsters here.« 7 Das Gegenteil zu behaupten wäre falsch zu verstehen, dass gewöhnliche Menschen die einzigen Akteure der Gräueltaten sind.
Green (2017). Interessanterweise beruft sich die Verwendung dieser Bezeichnung auf die manichäische Idee, dass das Böse eine Kraft in der Welt ist, die wir nicht kontrollieren können. 6 Milgram (1974); Browning (1992); Straus (2006); Zimbardo (2008); Fujii, (2009); Waller (2014). 7 Clendinnen (2002), 111. 5
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Wenn wir diese Kontexte der Verwendung des Begriffs des Bösen gemeinsam betrachten – fiktive und übernatürliche Geschichten, Dämonisierung einer Bevölkerung, Manipulation Anderer, die Menschlichkeit der Täter von Gräueltaten falsch darzustellen –, gibt es anscheinend ausreichende Gründe für eine ernsthafte säkulare Wissenschaft, von dem Begriff des Bösen abzurücken. Daraus ließe sich vielleicht folgern, dass der Begriff nicht für menschliches Verhalten gilt oder dass seine Verwendung finstere Folgen hat. Auf der anderen Seite können dieselben Überlegungen gute Gründe für die weitere Untersuchung des Konzepts liefern. Nur weil ein Begriff in fiktiven und übernatürlichen Kontexten verwendet wird, bedeutet das nicht, dass er nur in diesen Zusammenhängen verwendet werden kann oder dass er von der menschlichen Realität getrennt wird. Mythen thematisieren bedeutende Merkmale menschlicher Realität und Verhaltensweisen, die nähere Aufmerksamkeit verdienen. Ein solcher Bereich beleuchtet die vielschichtigen Weisen, auf welche Menschen anderen erheblich schaden. Dass ein Begriff von Tätern missbraucht wird, um ihre Feinde zu dämonisieren, oder von Politikern benutzt wird, um ihr Volk zu manipulieren, heißt außerdem nicht, dass der Begriff nur dafür verwendet werden kann. Sprache kann manipulativ und gefährlich sein, muss es jedoch nicht. Weiterhin, dass die Verwendung des Begriffs des Bösen manchmal die Untersuchung menschlicher Motivationen verhindert, bedeutet nicht unbedingt, dass das Wort ›böse‹ auf solche Personen oder ihre Handlungen nicht richtig angewandt wird. Böse muss nicht monströs bedeuten; es heißt stattdessen »der moralisch schlimmste menschliche Charakter oder Handlung«. Schließlich, dass der Begriff des Bösen in vielerlei Hinsicht missbraucht wird, ist vielleicht ein guter Grund dafür uns der Idee zuzuwenden und zu fragen, ob das Konzept ausschließlich zu solchen Kontexten gehört oder uns auch etwas über menschliches Verhalten und Interaktion beibringen kann. Nur durch eine seriöse analytische Analyse des Konzepts können wir es aus seinem Missbrauchskontext entfernen und beurteilen, ob es wesentliche Merkmale der Menschheit verdeutlichen kann. Auf diese Weise vermenschlichen wir das Böse und fragen, wer (einschließlich uns selbst) des Bösen fähig ist. Zu diesem Zweck nehmen wir die zwei Hauptmethoden zum Verständnis des Bösen in Anspruch: die platonische und die wittgensteinische. Jeder dieser Ansätze hat Vorteile und Nachteile, die direkt für unser Verständnis böser Handlung relevant sind. Zunächst werde 152 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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ich kurz erläutern, was diese Ansätze umfassen und warum sie gleichzeitig vorteilhaft und nachteilig sind. Danach werde ich auf jeden Ansatz näher eingehen. Der platonische Ansatz erfordert eine genaue Definition des Bösen durch die Bestimmung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Konzepts. Dieser Ansatz hat zwei Vorteile: Erstens bietet er ein volles Verständnis des Bösen und ermöglicht dessen Identifizierung durch seine Bedingungen. Dieser Ansatz war schon recht erfolgreich; wir haben derzeit mehrere überzeugende Definitionen des Bösen in der philosophischen Literatur. Die Existenz mehrerer überzeugender Thesen bedeutet jedoch auch, dass unklar bleibt, welche Theorie wahr ist. Eine Position des konzeptuellen Pluralismus für das Konzept des Bösen ist ein mögliches Ergebnis dieser Vielzahl plausibler Theorien. 8 Der Nachteil dieser Position ist, dass konzeptueller Pluralismus möglicherweise zu konzeptueller Unbestimmtheit führt. Der wittgensteinsche Ansatz zum Bösen verwirft das Ziel, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu bestimmen. Stattdessen fordert er, dass paradigmatische Fälle des Bösen zuerst identifiziert werden. Dann soll bewertet werden, ob andere Fälle den paradigmatischen ausreichend ähneln, damit sie auch als Böses identifiziert werden können. Der indirekte Vorteil dieses Ansatzes ist, dass wir uns nicht auf die notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Bösen konzentrieren müssen, sondern die Signifikanz des Bösen in unserem Leben in den Fokus nehmen können. Die Tatsache, dass das Böse ein fester Bestandteil des menschlichen Verhaltens ist, hat entscheidende Auswirkungen darauf, wie wir über uns selbst und unsere Interaktion mit anderen denken sollten. Der wittgensteinische Ansatz bietet einen entscheidenden Einblick in die menschliche Akteurschaft und in unsere moralischen Beziehungen. Der Nachteil dieses Ansatzes ist, dass wir ohne eine vorherige und genaue Definition des Bösen dieses erst erkennen können, nachdem es aufgetreten ist. Und wenn wir darauf warten, etwas Böses nur dann zu benennen, nachdem es sich enthüllt hat – das heißt, wenn wir es nur durch seine entsetzlichen Konsequenzen identifizieren können –, dann sind wir nicht mehr in der Lage, seine schädlichen Auswirkungen zu lindern oder sein Auftreten aufzuhalten. Wir kommen zu spät an den Ort des
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Russell (2014), 112–132.
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Bösen und können nichts anderes tun, als angesichts seines häufigen Erscheinens zu trauern. Ich nenne den ersten Ansatz platonisch ganz einfach deswegen, weil seine Methodik auf Platon zurückgeht. Sokrates engagierte seine Gesprächspartner, um schwer fassbare Begriffe wie Frömmigkeit, Gerechtigkeit oder Wissen klar zu definieren. Laut Platon passt alles auf der Welt in eine Kategorie, und Kategorien können klar definiert werden. Wenn wir die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Konzepte finden, wissen wir genau, was sie bedeuten. Diese Methodik ist in der gesamten Geschichte der Philosophie, besonders in der analytischen Philosophie, zentral geblieben. 9 Die Bestimmung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen eines Begriffs verdeutlicht, welche Bedingungen zu einer bestimmten Instanz des Begriffs führen. Wir erfahren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen (notwendig) und welche Bedingungen das Vorkommen eines bestimmten Falls oder einer bestimmten Instanz oder Situation garantieren (hinreichend). Ein präzises und wahres Verständnis von Konzepten ist nicht nur an sich wertvoll. Oft kann dieses Verständnis auch praktische Konsequenzen haben. Zum Beispiel findet Sokrates Untersuchung von Euthyphron statt, gerade als Euthyphron Mordanklage gegen seinen eigenen Vater erhoben hat. Mord galt damals als religiöses Vergehen, also als ein Akt der Gottlosigkeit. Aber ein Sohn, der solche Handlungen gegen seinen Vater unternimmt, könnte auch als gottlos betrachtet werden. Wie Sokrates klar ausführt, bevor man den eigenen Vater für das Verbrechen der Gottlosigkeit beschuldigt, sollte man wissen, was sie ist. Aus der Untersuchung von Sokrates erfahren wir, dass wir nur durch das Verständnis des Kerns eines Konzepts wissen können, welche Bedingungen zu einem bestimmten Fall des Konzepts Anlass geben, und dadurch können wir einen solchen Fall richtig erkennen, wenn er auftritt. Auch für den Begriff des moralischen Bösen folgen bestimmte praktische Konsequenzen, wenn wir seine notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestimmen können. Genau wie bei Begriffen wie Frömmigkeit, Gerechtigkeit oder Wissen kann das Verständnis der Essenz des Bösen das Wissen über seine transzendentalen Bedingungen – die Bedingungen, die sein Auftreten ermöglichen – erzeugen. Dieses Verständnis ist unabdingbar für eine bestimmte prakti9
Beispiele hierfür sind reichlich vorhanden. Vgl. Carnap (1947), 7 f.
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sche Konsequenz, die – wenn es um böses Handeln geht – von entscheidender Bedeutung ist. Wenn wir daran interessiert sind, die Fälle von bösem Handeln in der Zukunft zu verringern, dann brauchen wir ein klares Verständnis der Bedingungen, die das Auftreten des Bösen ermöglichen. Mit diesem Wissen können wir böses Handeln erkennen, bevor es sich zeigt. Ich halte dies für den stärksten Vorteil des platonischen Ansatzes. Was sind die plausibelsten Theorien der notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Bösen? Es gibt zwei Hauptkategorien. Beide setzen sich das Ziel, das Böse von weltlichem Fehlverhalten zu unterscheiden, um das Böse zu definieren. Ich nenne die erste Kategorie »Täter-Ansätze« und die zweite »nuancierte Schadens-Ansätze« aus Gründen, die ich erläutern werde. 10 Obwohl »Täter-Ansätze« viele unserer Intuitionen in Bezug auf die Essenz des Bösen treffen, wird dargestellt werden, dass die »nuancierten Schadens-Ansätze« das Wesen des moralischen Bösen besser erfassen und weniger begrifflichen Schwierigkeiten begegnen. Zuerst werte ich »Täter-Ansätze« aus und wende mich dann »nuancierten Schadens-Ansätzen« zu. Verfechter der »Täter-Ansätze« suchen die definierenden Charakteristika des Bösen in der psychologischen Verfassung des Täters oder einer Gruppe von Tätern, die böse Handlungen ausführen. »Täter-Ansätze« sind charakteristisch »psychologisch-dichte« Theorien, was bedeutet, dass sie ein »komplexes psychologisches Merkmal bösartigen Handelns« identifizieren. 11 Diese Theorien stellen dar, dass das Böse durch eine oder mehrere bestimmte Eigenschaften eines Täters böser Handlungen definiert wird. Es gibt mehrere prima facie plausible psychologische Merkmale, die eine weltliche Handlung zu einer bösen Handlung machen können. Ein Vorschlag ist, dass das Böse durch sadistische Absichten und Motive hervorgerufen wird. Colin McGinn argumentiert, dass ein böser Akt durchgeführt wird, wenn der Täter sich am Schmerz der Opfer erfreut. 12 Hillel Steiner behauptet in ähnlicher Weise, dass »böse Handlungen falsche Handlungen sind, die ihren Tätern gefallen« 13 . Alternativ behauptet Roy Perrett, dass das Böse gegen die Vgl. Goldberg 2018a und 2018b. Russell (2014), 3. Vgl. Russell (2014), 69–111. 12 McGinn (1997), 62. 13 Steiner (2002), 189. Ähnlich behauptet Laurence Thomas (1993), 77: »A person performs an evil act, then, if he delights in performing a harmful act that has a certain moral gravity to it.« »Moral gravity« bedeutet für Thomas, dass ein Akt entweder von 10 11
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Moral verstößt oder »Fehlverhalten [ist], das getan wird, weil es falsch ist«. Jede dieser Theorien lokalisiert die Bosheit des bösen Handelns in der psychologischen Verfassung des Täters. Andere Philosophen finden, dass das Böse nicht durch die Anwesenheit, sondern durch das Fehlen gewisser Motivationen oder psychologischer Merkmale charakterisiert ist. Eve Garrard behauptet, dass böses Handeln von jemandem ausgeführt wird, der bewusst oder vielleicht sogar unbewusst auf das Vorhandensein bedeutsamer Gründe gegen ihr Handeln verzichtet. 14 Stellen wir uns zum Beispiel vor, es gäbe zwei Soldaten, die jeweils 20 Menschen vor einem Massengrab erschießen werden. Ein Soldat denkt über Gründe nach, die Opfer nicht zu töten. Er lässt aber zu, dass Überlegungen zur Notwendigkeit überwiegen (wie er es versteht), Befehlen zu gehorchen. Der andere Soldat »verstummt« oder ist »psychologisch blind« gegenüber den Gründen nicht zu töten. Laut Garrard kämpft der Agent des Bösen weder mit moralischen Gründen, noch entscheidet er, dass unmoralische oder amoralische Gründe die moralischen Gründe überwiegen. Der böse Täter verstummt gegenüber moralischen Gründen allgemein. Adam Morton definiert das Böse auf folgende Weise: »A person’s act is evil when it results from a strategy or learned procedure which allows that person’s deliberations over the choice of actions not to be inhibited by barriers against considering harming or humiliating others that ought to have been in place.« 15 Die Definition stützt sich auf die Beobachtung, dass die meisten von uns psychologische Barrieren gegen die Berücksichtigung bestimmter Handlungsoptionen haben, die Schaden an anderen oder das Leiden anderer veranlassen. 16 Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass jemand seinen Schlüssel in seinem Auto eingesperrt hat. Er oder sie denkt über verschiedene Handlungsoptionen nach, um Zugang zu dem Schlüssel zu bekommen, wie z. B. das Fenster zu zerschlagen oder nach Hause zu laufen, um einen Ersatzschlüssel zu suchen. Jedoch würden die meisten Leute nicht in Betracht ziehen, den Kopf eines Passanten zu benutzen, um
Natur aus »abscheulich« ist, beispielsweise bei der Vergewaltigung eines Kindes, oder quantitativ, beispielsweise beim Massaker an Hunderten von Menschen. Einige böse Taten verbinden beide Arten von »moral gravity«. Vgl. Thomas (1993), 78 f. 14 Garrard, (1998), (2002). 15 Morton (2004), 57. 16 Morton (2004), 55.
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das Autofenster kaputtzuschlagen und den Schlüssel zu holen. 17 Wenn solche psychologischen Barriere überwunden oder erodiert werden, tritt das Böse auf. 18 Der Vorteil dieser psychologisch dichten Ansätze ist, dass sie eindeutig ein bestimmtes Merkmal identifizieren, das das Böse von einem bloßen Fehlverhalten unterscheidet und die notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Bösen bereitstellt. Wenn eine Handlung aufgrund von Sadismus, Missachtung der Moral, psychologischem Verstummen moralischer Gründe, der Abwesenheit moralischer Barrieren oder einer anderen spezifischen psychologischen Komponente auftritt, dann ist die Handlung böse. Diese philosophischen Theorien können anscheinend die schrecklichsten bösen Taten und böse Täter verdeutlichen. Serienmörder wie Gerard John Schaefer scheinen diese Definitionen des Bösen empirisch zu untermauern. 19 Schaefer folterte, vergewaltigte, ermordete und verging sich an den Leichnamen der Opfer. Er beschreibt in Briefen seine Freude über das Flehen eines Opfers um ihr Leben und die »lohnende Erfahrung«, zwei Opfer auf einmal töten zu können. Vielleicht ist es das Vorhandensein oder Fehlen eines dieser psychologischen Merkmale, das Schaefers Handeln unter die Kategorie des Bösen stellt. Trotz ihrer scheinbaren Plausibilität werden »Täter-Ansätze« des Bösen von konzeptuellen Nachteilen bedroht. Der erste Nachteil der psychologisch dichten Theorien des Bösen ist, dass sie zu anspruchsvoll sind. Es ist wohl möglich, dass einige Täter des Bösen die genannten Beweggründe haben. Diese Charakteristika sind aber zu begrenzt, um alle bösen Taten zu erklären. Empirische Beweise stützen die Schlussfolgerung, dass gewöhnliche individuelle Handlungen des Bösen alltägliche Motivationen haben, wie z. B. Gehorsamkeit gegenüber Autorität, Angst oder Gruppenzwang. Mehr dazu später. Zweitens sind Täter-Ansätze philosophisch mangelhaft, weil sie behaupten, dass jede durchgeführte Handlung unter der als böse ermittelten Motivation selbst böse sein muss. Zum Beispiel bedeutet dies für Steiner und McGinn, dass jede sadistisch motivierte Handlung böse ist. Infolgedessen qualifizieren sich als böse selbst Handlungen, die harmlos sind oder Menschen gar nicht schädigen, solange Morton (2004), 54. Morton (2004), 62. 19 Für eine Diskussion über Schaefer in Bezug auf die Theorien des Externalismus und Internalismus zur Motivation vgl. Goldberg (2017a). 17 18
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sie die relevanten Beweggründe besitzen. Diese Position ist jedoch unzumutbar. »Shoplifting is wrong, and mildly insulting a bus driver is wrong. Taking great pleasure in either of these actions might well make them worse actions, but it is implausible that it would render either action evil.« 20 Die bloße Anwesenheit eines spezifischen psychologischen Merkmals, selbst eines gänzlich zu verurteilenden, kann eine alltäglich falsche Tat nicht in eine böse Tat verwandeln. Die nächste Kategorie von Definitionen, die ich »nuancierte Schadens-Ansätze« nenne, betrachtet sowohl die Opfer als auch die Täter als wesentliche Bestandteile böser Handlungen. Diese Theorien behaupten, dass eine schwerwiegende Art von Schaden notwendigerweise einen bösen Akt charakterisiert und dieser Schaden von einem menschlichen Agenten schuldhaft verursacht worden sein muss. In der philosophischen Literatur gibt es mehrere philosophisch attraktive Versionen des »nuancierten Schadens-Ansatzes«. Claudia Card definiert das Böse als »reasonably foreseeable intolerable harms produced by culpable wrongdoing« 21 . Luke Russell erörtert es als »extreme culpable wrongdoing«, wobei sich die Extremität auf den potentiellen oder tatsächlichen Schaden der Handlung bezieht. 22 Paul Formosa stellt dar, was er als »combination conception of evil« bezeichnet. Er beschreibt die wesentliche Art von Schaden als »lifewrecking« Schaden, wobei »life-wrecking harms interfere with a person’s ability to live a full and complete life« 23 . Todd Calder behauptet, dass das Böse zwei Eigenschaften hat: signifikanter Schaden und eine unentschuldbare Absicht, ein unwürdiges Ziel zu bewirken, zuzulassen oder zu bezeugen. 24 Diese Theorien vermeiden die Einwände gegen »Täter-Ansätze«. Erstens, indem sie in der bösen Handlung eine bestimmte Art von Schaden identifizieren – nämlich unerträglichen, extremen, signifikanten oder lebenszerstörenden Schäden – schließen sie Handlungen von der Kategorie »Böse« aus, die harmlos sind. Zweitens bleiben »nuancierte Schadens-Ansätze« offen für die Möglichkeit einer Vielzahl von Motivationen hinter bösem Handeln. Sie bieten ein »psychologisch dünnes« Modell an statt der psychologisch restriktiven
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Russell (2007), 670. Vgl. Formosa (2008), 223. Card (2002), 16. Russell (2014), 46, 59–68. Formosa (2008) 229 f. Calder (2013), 188; Calder (2015), 119.
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Anforderungen der »Täter-Ansätze«. Auf diese Art und Weise vermeiden sie die restriktiven Definitionen, die das Böse auf eine bestimmte Motivation beschränken. »Psychologisch dünne« Modelle behaupten, dass ein Aspekt der Psychologie eines Täters relevant für die Definition des Bösen sei, aber sie identifizieren keine bestimmte Motivation oder Absicht als notwendig. 25 Trotz dieser konzeptuellen Vorteile haben »nuancierte Schadens-Ansätze« drei Nachteile. Erstens ist nicht ganz klar, was Schaden unerträglich, extrem, signifikant oder lebenszerstörend macht. Card versucht, »unerträglich« klarer zu definieren, indem sie feststellt, dass solche Schäden diejenigen sind, die das Leben an sich wertlos macht. 26 In ähnlicher Weise behauptet Calder, dass signifikante Schäden diejenigen sind, die ein normaler vernünftiger Mensch zu vermeiden versuchen würde. 27 Und Formosa behauptet, »obwohl ein lebenszerstörender Schaden nicht leicht quantifizierbar ist, ist es ein Schadensniveau, das moralisch signifikant ist und das wir ziemlich gut erkennen können« 28 . Sogar mit diesen zusätzlichen Erklärungen bleiben diese Definitionen noch vage. »Unerträglich«, »lebenszerstörend«, »signifikant« und »extrem« treffen plausibel unsere Intuitionen hinsichtlich der Art von Schaden, die für das Böse charakteristisch sein muss. Nichtsdestoweniger könnte man behaupten, dass es für diese Adjektive keine objektiven Kriterien gibt. Verschiedene Menschen tolerieren Schäden unterschiedlich und verschiedene Menschen haben unterschiedliche Widerstandsfähigkeiten, um die Auswirkungen bestimmter ungeheuerlicher Schäden zu überwinden. Drittens könnte man auch einwenden, dass, obwohl diese Definitionen sich ähneln, sie immer noch unterschiedlich sind und die Definition des Bösen unklar bleibt. Luke Russell betrachtet diese Vielheit plausibler Theorien als einen Grund, eine Position des konzeptuellen Pluralismus des Bösen zu vertreten. 29 Er argumentiert, dass die Kollektion plausibler Theorien des Bösen zeigt, dass mehrere philosophische Konzepte des Bösen kohärent und wertvoll sind, nicht
Russell (2014), 74–78 Card, (2002), 16. 27 Calder (2013), 188. Calder gibt zu, dass »significant« vage ist, aber behauptet »it is easy enough to get the general idea«. 28 Formosa (2008), 229. 29 Russell (2014),112–132. 25 26
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nur ein einzelnes. Es gibt keinen Grund, die konzeptuelle Priorität einer einzigen Theorie zu beanspruchen. Ich stimme Russell zu, dass die Annahme einer Position des konzeptuellen Pluralismus aufgrund seiner konzeptuellen Offenheit attraktiv sein kann. Ich befürchte aber, dass konzeptuelle Breite leicht zu konzeptueller Unklarheit führen kann. Als Antwort auf diese Sorge könnte man argumentieren, dass wir die Vielzahl der plausiblen Definitionen als Hinweis darauf interpretieren sollten, dass es keine einzige Definition des Bösen gibt, die alle möglichen Fälle von bösem Handeln abdeckt. Vielleicht ist der Grund dafür, dass menschliches Böses so vielfältig und kreativ ist, dass nicht eine einzige Definition seine Eigenschaften genau beschreiben kann. Wenn diese Behauptung wahr wäre, wäre es sinnvoll die Suche nach den wesentlichen Eigenschaften des Bösen ganz aufzugeben. Aber die Suche nach der Essenz des Bösen aufzugeben, bedeutet nicht gleich, auf eine philosophische Analyse des Bösen zu verzichten. In einem sehr anerkannten und ausführlich diskutierten Abschnitt der Philosophischen Untersuchungen stellt Wittgenstein fest, dass Dinge oder Begriffe, die oft als wesentlich miteinander verbunden angesehen werden, tatsächlich durch viele einander überlappende Ähnlichkeiten verbunden sein können, die aber keine allgemeine Gemeinsamkeit aufweisen. Anstatt nach einer einzigen Essenz eines Begriffs zu suchen, sollten wir nach »Ähnlichkeiten, Beziehungen und einer ganzen Reihe davon« 30 suchen. Wittgenstein nennt solche Ähnlichkeiten und Beziehungen »Familienähnlichkeiten«. Wittgensteins Diskussion über Familienähnlichkeiten ist bereits bekannt, und sein Einfluss auf Philosophen und Wissenschaftler in verschiedenen Bereichen ist gut dokumentiert. Was wir dieser Einsicht entnehmen können, ist dies: Sobald wir uns nicht mehr damit beschäftigen, das Wesen des Bösen zu identifizieren (das es sowieso vielleicht gar nicht gibt), oder nicht mehr darüber streiten, welche konkurrierende Definition die richtige ist (wobei jede auf eine gewisse Weise richtig ist), und nachdem wir die Familienähnlichkeiten des Bösen bestimmt haben, können wir uns der Frage nach der Signifikanz des Bösen für Menschen zuwenden. Das heißt, die Abkehr von der Suche nach der Essenz des Bösen zugunsten seiner Familienähnlichkeiten führt uns nicht nur näher zu einem korrekten Verständnis 30
Wittgenstein (1958), § 66.
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des Bösen, sondern bewirkt eine Aufmerksamkeitswendung hin zu einem Aspekt böser Taten, der wohl wichtiger ist als seine notwendigen und hinreichenden Bedingungen – und das ist seine Auswirkung auf unser Leben. Obwohl dieser Ansatz weiter geht als Wittgensteins Methodik, soweit er die Aufmerksamkeit hinsichtlich der Signifikanz eines Konzepts fördert, ergibt sich diese Strategie dennoch aus Wittgensteins Einsicht bezüglich Familienähnlichkeiten und daher nenne ich ihn den wittgensteinischen Ansatz. 31 Die prominenteste zeitgenössische Verfechterin dieser Ansicht ist Susan Neiman. Sie schreibt: »General definitions of evil are either so broad as to be almost meaningless, or so narrow as to exclude everything but the evil you currently have in view.« 32 Darüber hinaus kann die Konzentration auf die wesentlichen Eigenschaften des Bösen und seine notwendigen und ausreichenden Bedingungen dazu führen, dass wir die Bedeutung des Bösen für uns aus den Augen verlieren, nämlich dass es »threatens the trust in the world that we need to orient ourselves in it […]. Since I do not think an intrinsic property of evil can be defined, I am, rather, concerned with tracing what evil does to us.« 33 Wenn Neiman die Frage stellt, was das Böse mit uns macht, will sie nicht ihre Diskussion auf die unmittelbaren Opfer des Bösen begrenzen. Sie meint wirklich »uns«. Das heißt, wir alle, die in der Welt leben und menschliche Geschichte erleben, die uns manchmal wie »eine undurchdringliche Monotonie der Grausamkeiten« erscheint. 34 Wenn wir uns auf die Signifikanz des Bösen konzentrieren, werden drei Fakten über die Menschheit und unsere Welt offenbart, die unsere Überzeugungen informieren oder drastisch verändern. Jede dieser Tatsachen allein reicht aus, um das Vertrauen der Menschen in die Welt und in die Menschheit zu erschüttern. Zuerst wird erkannt, dass das Böse eine durchdringende und tief verwurzelte Eigenschaft des menschlichen Verhaltens ist. Menschliche Interaktion mit anderen (einschließlich anderer Menschen und nichtmenschlicher Tiere) ist gekennzeichnet durch die zahlreichen und phantasievollen Weisen andere zu schädigen. Der Holocaust, die Killing Fields in Kambodscha, die Vergewaltigungslager in Bosnien – 31 32 33 34
Susan Neiman bezieht sich explizit auf Wittgenstein. Vgl. Neiman (2009), 348 f. Neiman (2009), 348. Neiman (2002), 8 f. Waller (2002), xvii.
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die Zahl der unumstrittenen Beispiele des Bösen ist riesig (und das sind nur drei Beispiele aus den letzten 75 Jahren). 35 Es gibt leider keinen Mangel an bösen Ereignissen, auf die wir zurückgreifen können, um nach Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zu suchen. Das Böse ist kein Sonderweg und ist auch nicht vergänglich. Vielmehr ist es ein dauerhafter Zustand der menschlichen Interaktion. Aus dem häufigen Vorkommen böser Handlungen ergibt sich eindeutig, dass die Welt nicht ist, wie sie sein sollte. Die Fakten zeigen, dass unschuldige Menschen oft auf enorme Art und Weise leiden, während moralisch verachtenswerte Menschen gedeihen. Wenn das Böse in der Tat und in menschlicher Interaktion allgegenwärtig ist, dann kann man nicht mehr naiv glauben, dass die Welt ist, wie sie sein soll. Es gibt eine große Kluft zwischen »sein« und »sollen«, und sie ist unüberwindbar. 36 Zweitens wird erkannt, dass, damit das Böse ein so weit verbreitetes und dauerhaftes Merkmal der menschlichen Interaktion sein kann, es dem einfachen Menschen möglich sein muss, Taten des Bösen zu begehen. Es gibt nicht genug moralische Monster jetzt oder in der Geschichte der Welt, um alle Instanzen des Bösen zu umfassen. Es ist wahr, dass die meisten Menschen nicht völkermordende Täter oder fanatische Folterer werden. Aber diejenigen, die böse Taten ausführen, sind keine teuflischen oder monströsen Personen. Gewöhnliche Menschen begehen außergewöhnlich böse Taten. Hannah Arendts bekannte Äußerung, dass die Beweggründe böser Handlung banal sein können, ist durch eine Reihe von bekannten historischen und psychologischen Studien verstärkt worden. Christopher Browning vertritt in seiner Arbeit die These, dass gewöhnliche Deutsche und nicht antisemitische Fanatiker am Holocaust willfährig teilgenommen haben. 37 Neugierig auf die Frage, warum sich so viele gewöhnliche Individuen an der Begehung des Holocaust beteiligt haben, testen die Milgram-Experimente die Bereitschaft von Menschen Befehle zu befolgen. Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass der Gehorsam gegenüber autoritären Befehlen bis hin zur Ermordung einer unschuldigen Person ein weit verbreitetes und kulturübergreifendes psychologisches Phänomen ist. 38 Darüber hinaus 35 36 37 38
Eine umfassende Geschichte der Massenvernichtung findet sich in Kiernan (2007). Neiman (2002), 322–325. Browning, (1992). Vgl. Fulbrook (2012); Lifton (2000). Vgl. Adorno et al. (1951/1993).
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Das Böse konzipieren
unterstützen Philip Zimbardos bekanntes Stanford-Prison Experiment und seine Forschung über die Folter-Vorfälle in Abu Ghraib die Ansicht, dass gewöhnliche Menschen unter bestimmten situativen Belastungen böses Handeln leisten können. 39 Diese »situationistische« Ansicht ist wertvoll, denn wir sind gezwungen das Böse außerhalb eines Zusammenhangs mit Psychopathie zu betrachten. Wenn alle Täter des Bösen verrückt wären, könnten wir sie aus dem Bereich des normativen menschlichen Verhaltens entfernen. Banale böse Täter, wie z. B. Arendts Eichmann, erschrecken uns aufgrund ihrer Normalität. Durch die Annahme der Banalität des Bösen sehen wir uns mit der Möglichkeit konfrontiert, dass jede gewöhnliche Person, auch wir selbst, eine böse Tat begehen könnte. 40 Diese Tatsachen über das Böse spiegeln deutlich eine immense Kluft zwischen »sein« und »sollen«. Das Böse sollte nicht so weit verbreitet sein, doch es ist es. Gewöhnliche Menschen sollten nicht anfällig für Handlungen von schrecklicher Brutalität sein, aber wir sind es. Um Neimans Beobachtung zu wiederholen, diese Tatsachen können uns dazu bringen, Vertrauen in die Welt zu verlieren und fordern unser Bedürfnis heraus, uns in der Welt zu orientieren. Dieser Verlust und diese Herausforderung haben jedoch einen normativen Wert. Das heißt nicht, dass das gewonnene Wissen über uns selbst oder über die Welt böse Handlungen rechtfertigt – der Preis ist einfach zu hoch. Jedoch kann die Anerkennung der Fakten bezüglich moralischer Interaktion eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Fähigkeit spielen, auf andere Menschen angemessen zu reagieren. Insbesondere beunruhigende moralische Fakten können zu dieser Fähigkeit beitragen. Zur Veranschaulichung werde ich zunächst den Gerechte-WeltGlauben und seine Folgen skizzieren. Der Gerechte-Welt-Glaube ist Zimbardo (2008). Vgl. Waller (2014). Diese Schlussfolgerung mindert jedoch nicht die moralische Verantwortung für Handlungen des Bösen. Nur weil jeder von uns einen bösen Akt durchführen könnte, ist es in keiner Weise so, dass diejenigen, die böse Taten durchführen, irgendwie dafür entschuldigt werden. Tatsächlich ist es wichtig zu erkennen, dass viele Menschen in derselben Situation wie Täter andere Entscheidungen treffen und sich nicht an der bösen Tat beteiligen. Diese Tatsache zeigt, dass die Täter für ihre Taten moralisch verantwortlich sind. Selbst wenn situative Belastungen und die Evolutionsbiologie erklären, wie es möglich ist, Böses zu tun, stützen diese Erklärungen nicht die Schlussfolgerung, dass jeder Mensch Böses tun muss.
39 40
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Zachary J. Goldberg
die Vorstellung, dass die Welt oder das Universum gute Taten belohnt und böse Taten bestraft. Der Glaube muss sich nicht explizit auf eine Gottheit beziehen, obwohl der Theismus oft seine Grundlage ist. Aber er stützt sich auf eine kosmische moralische Gerechtigkeit, die den menschlichen Handlungen und ihren Konsequenzen zugrunde liegt. Dieser Glaube wird in üblichen Ausdrücken wie »Man erntet, was man sät« geäußert. Trotz der Allgegenwärtigkeit solcher Ausdrücke sind sie einfach falsch. Das Leid, das böse Handlung charakterisiert, ist unverdient und unzumutbar. Die Prävalenz des Bösen erklärt sich dadurch, dass es von gewöhnlichen Menschen begangen wird und es nie einer kosmisch wohlverdienten Strafe unterliegt. Für unsere Zwecke ist es relevant, dass zahlreiche psychologische Studien gezeigt haben, dass die Aufrechterhaltung des Gerechte-Welt-Glaubens negative Konsequenzen hat. Aufgrund dieses Glaubens werden Opfer für ihr eigenes Leid beschuldigt und ungerechte Politik unterstützt. 41 Daraus kann man schließen, dass falsche Vorstellungen über das Böse Vorkommnisse des Bösen erhöhen oder verschlechtern. Wenn die Ablehnung von Wahrheiten über das Böse negative Folgen für moralische Interaktion haben kann, dann könnte wiederum die Akzeptanz dieser Wahrheiten positive Auswirkungen haben. Indem wir akzeptieren, dass das Böse sowohl ein tief verwurzeltes Merkmal menschlicher Interaktion ist, als auch, dass gewöhnliche Menschen Täter des Bösen sind, müssen wir auch Überzeugungen, wie z. B. den Gerechte-Welt-Glauben, aufgeben. Mit der Erkennung der Signifikanz des Bösen – nämlich, dass das Böse immer ungerechtfertigt und allgegenwärtig ist und nie die von einer kosmischen Gerechtigkeit verhängte Strafe – kommen wir zu zwei kritischen und klaren Schlussfolgerungen: Opfer des Bösen verdienen ihr Leiden nicht; und wir müssen alles dafür tun, um situative Belastungen und biologische Dispositionen, die zu bösen Handlungen führen, zu erkennen, damit wir möglicherweise das Auftreten des Bösen minimieren können. Ein Fokus auf die Signifikanz des Bösen könnte diese nützlichen praktischen Konsequenzen haben. 42 Wenn diese positiven Folgen eine bessere Chance haben, mithilfe eines Fokus auf die Signifikanz des Bösen und nicht auf dessen notwendige und hinreichende Bedingungen umgesetzt zu werden, Lerner und Simmons (1966); Rubin und Peplau (1975); Imhoff und Banse (2009); Wilkins und Wenger (2014). Vgl. Neiman (2002), 324. 42 Aber ich behaupte nicht, dass er dies haben muss. 41
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Das Böse konzipieren
dann sollten wir vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die Suche nach der Definition des Bösen entweder weniger wichtig ist als seine Signifikanz für unser Leben oder die Anerkennung seiner Signifikanz sogar behindert. Wenn ja, dann sollten wir auf die Suche nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Bösen verzichten. Stattdessen sollten wir unsere gesamten wissenschaftlichen Ressourcen nutzen, um die Signifikanz des Bösen in unserem Leben zu verstehen. Trotz des eindeutigen normativen Werts dieses Ansatzes hat er einen potenziellen Fehler. Indem wir die Suche auf das Wesen des Bösen verlassen und uns nur auf seine Familienähnlichkeiten konzentrieren, geben wir zu, dass wir das Böse nur dann identifizieren können, wenn wir es sehen. Auf diese Weise kommen wir immer zu spät an den Ort des Bösen, erst nachdem die schrecklichen Folgen bereits aufgetreten sind. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, uns auf die Bedeutung zu konzentrieren, die das Böse bei der menschlichen Interaktion hat, aber er tut dies auf Kosten des Wartens auf das Böse, damit wir diese Signifikanz erkennen können. Das gilt vor allem für neues Böses. Neue Technologien eröffnen neue Weisen Böses zu begehen. Ohne eine genaue Definition des Bösen sind wir vielleicht nicht dafür gerüstet, böse Taten und Absichten vor ihrem Vorkommen zu erkennen. Wenn beide Ansätze, der platonische und der wittgensteinische, entscheidende Vorteile und Nachteile haben, wie sollten wir dann eine Verdeutlichung des Bösen darlegen? Die Vorteile beider Ansätze sind zu stark, um einen aufzugeben. Wenn wir es schaffen würden, eine Definition des Bösen zu formulieren, dann könnten wir vielleicht die Quelle und die Möglichkeit des Bösen erkennen – seine transzendentalen Bedingungen. Damit wird zumindest die Möglichkeit für seine Prävention eröffnet, auch wenn wir nicht darauf hoffen können, dass es vollständig aus dem menschlichen Verhalten eliminiert werden kann. 43 Hauptsächlich aus diesem Grund denke ich, dass wir nicht aufgeben sollten, das Böse genau zu definieren und nach seinen notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu suchen. Andererseits ist es klar, dass wir auch unsere wissenschaftlichen Ressourcen dafür einsetzen sollten, die Signifikanz des Bösen für unser Leben zu verstehen. Das Böse ist ein festes Merkmal menschlicher
43
Dies ist eine kantische Einsicht bezüglich des Bösen. Vgl. Goldberg (2017b), 412.
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Zachary J. Goldberg
Interaktion. Die Anerkennung dieser Eigenschaft beeinflusst unsere Selbstreflexion und wie wir anderen moralischen Akteuren begegnen. Vielleicht können wir Elemente jedes Ansatzes kombinieren; wir bemühen uns darum, das Böse zu definieren, während wir gleichzeitig bedenken, dass das Streben nach dieser Definition nicht wichtiger ist als die Anerkennung seiner Signifikanz. Bei dieser Methode sehe ich keinen inhärenten Konflikt. Ein solcher umfassender Ansatz würde die Vorteile beider Ansätze potenziell vereinigen, während er ihre Nachteile ausgleicht. Zugegebenermaßen ist dieser Vorschlag zwar elementar, jedoch ist er nicht trivial. So ein umfassender Ansatz in Bezug auf das Böse ist noch nicht in der zeitgenössischen philosophischen Literatur erschienen, was bedeutet, dass seine Umsetzung eine willkommene Ergänzung wäre. Die detaillierte Ausführung dieses Ansatzes muss auf eine andere Zeit verschoben werden. Aber jetzt sind wir uns klar darüber, wie wir vorgehen können. In diesem Essay habe ich die verschiedenen Möglichkeiten einer Darstellung des Bösen bewertet. Drei mögliche Vorgehensweisen wurden beschrieben: dass das Böse kein geeignetes Thema wissenschaftlicher Analysen ist, die Definition der notwendigen und hinreichenden Bedingungen und die Konzentration auf die Signifikanz des Bösen, die die Kluft zwischen dem Sein und Sollen zeigt, und den gewöhnlichen, pluralen und unauslöschlichen Charakter des Bösen hervorhebt. Es wurde nachgewiesen, dass das Böse ein geeignetes Thema für eine seriöse, säkulare Wissenschaft ist. Anschließend wurden die Vor- und Nachteile des platonischen und wittgensteinischen Ansatzes dargestellt und die Überlegungen kamen zu dem Schluss, dass ein umfassender Ansatz die optimale Methode ist, um das Böse zu betrachten. Zugleich das Böse zu definieren und sich auch auf seine Signifikanz zu konzentrieren, ermöglicht ein Verständnis des Bösen und das Erkennen, dass es eine dauerhafte Eigenschaft des menschlichen Verhaltens ist. Daraus folgt die Möglichkeit seines künftigen Rückgangs, auch wenn wir akzeptieren müssen, dass das Böse immer ein Kennzeichen der menschlichen Interaktion bleibt.
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Das Böse konzipieren
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III. Ästhetik, Rechtswissenschaft und Psychatrie
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Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film Sabrina Sontheimer
1.
Zur Unbestimmbarkeit des Bösen im Film
Wenn man sich anschickt, ›das Böse im Film‹ zu bestimmen, seine Essenz zu ergründen, kann man sich dem Phänomen über die zwei Primärbedeutungen des Wortes ›böse‹, die im Duden verzeichnet sind, nähern: erstens »moralisch schlecht; verwerflich« oder zweitens »schlecht, schlimm, übel«. 1 Die erste Bedeutung des Wortes kann, wie Jörg Noller 2017 in Theorien des Bösen zur Einführung beschrieben hat, »freiheitstheoretisch im Sinne eines bewussten, willentlichen und aktiven Zufügens von Schaden begriffen werden, was im Ausgang von Augustinus als moralisches Übel (malum morale) bezeichnet wird.« 2 In der zweiten Bedeutung wird das Böse im Sinne des Schlechten oder des Übels (lat. malum) verstanden […], etwa in Gestalt von Krankheiten oder anderen natürlichen Defekten. In der theologischen und philosophischen Tradition wird diese Form des Bösen als natürliches Übel (malum physicum) bezeichnet. Es folgt nicht aus der menschlichen Freiheit, kann also keinem Willen zugerechnet werden, sondern stellt ein passives Übel dar, welches Menschen und anderen Lebewesen zustößt, ihr Leben gefährdet und beeinträchtigt. 3
Das sich aus dieser Breite der Begriffsbestimmung ergebende Problem ist, dass das Böse im Film dadurch praktisch alles sein kann. Einen Grund hierfür findet man darin, dass Literatur und somit auch im Sinne des erweiterten Textbegriffes 4 Filmtexte als Gegendiskurs
1 Duden: »böse« (Adjektiv, Bedeutung 1. a. und b.), https://www.duden.de/recht schreibung/boese#Bedeutung1a (letzter Zugriff 18. 03. 2019). 2 Noller (2017), 12 f. 3 Noller (2017), 12. 4 Zum erweiterten Textbegriff vgl. z. B. Kallmeyer et al. (1986): »Text ist die Gesamtmenge der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden kommunikativen Signale. Dieser Textbegriff ist so weit gefaßt, daß alle kommunikativen Äußerungen
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zu begreifen sind, da Literatur (nach Foucault seit dem 19. Jahrhundert) »nur in ihrer Autonomie existiert [hat], von jeder andern Sprache durch einen tiefen Einschnitt nur sich losgelöst, indem sie eine Art ›Gegendiskurs‹ bildete […].« 5 Rainer Warning hat dementsprechend von poetischer Konter-Diskursivität gesprochen und führt aus, »daß Foucault poetische Texte grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur ›Ordnung des Diskurses‹ sieht, als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven«. 6 Wie Sara Mills zusammenfasst, »[charakterisiert] literarische Texte […] eine komplexe Beziehung bezüglich ihres Status von Wahrheit und Wert. Einerseits, weil davon ausgegangen wird, dass sie etwas ›Wahrhaftiges‹ über die conditio humana mitteilen, aber dies andererseits in fiktionaler, also ›unwahrer‹ Form tun.« 7 Dies bedeutet, dass Literatur und somit auch Film schlichtweg ›alles darf‹, da diese Form des Diskurses losgelöst von ›normalen‹ Diskursen funktioniert. Folglich kann auch das Böse im Film grundsätzlich alles sein. Die Bandbreite des Bösen im Film reicht daher von übernatürlichen Wesen, wie klassischen Teufelsfiguren, die entweder als Fabelwesen mit Hörnern, wie z. B. in dem Film Legende von 1985 8 , auftreten; oder sie zeigen sich als Verführer in modernen Alltagskontexten, wie Al Pacino als diabolischer Anwalt im Anzug in Im Auftrag des Teufels (1997) oder der attraktive, junge Brad Pitt in Rendezvous mit Joe Black (1998). 9 Weitere böse Figuren mit dem Bezug zum Übernatürlichen können Hexen und Magier darstellen, wie Sauron in der Filmtrilogie Der Herr der Ringe (2001–2003), oder Monster wie Godzilla, der seit 1954 in zahlreichen japanischen und amerikanischen Filmen aufgetreten ist. Blickt man auf menschliche Charaktere, ist die klassische Schurkenfigur (engl.: villain) ein zentraler stock character zum Ausdruck des Bösen im Film, wie z. B. im Wesdarunter fallen, gleichgültig, ob sie sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art sind.« (45) 5 Foucault (1971), 76. 6 Warning (1999), 317. 7 Mills (2007), 25. 8 Um das Literaturverzeichnis kurz zu halten, werden die genannten Filme nicht aufgeführt. Anhand der angegebenen Jahreszahlen sind die Filme eindeutig zu identifizieren. 9 Eine umfangreiche Darstellung der Repräsentationen, Funktionen und der Aktualität von Teufelsfiguren im Film seit 1980 legt Verena Bach (2006) vor.
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Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film
tern, mit Lee van Cleef aus Zwölf Uhr mittags (1952) als Musterbeispiel. Obwohl diese Figuren oftmals Männerrollen sind, gibt es auch eine Reihe von typisch weiblichen Stereotypen, wie ›die böse Stiefmutter‹ als Märchenmotiv in einer Reihe von Disney- 10 oder Actionfilmen, wie Charlize Theron in Snow White & the Huntsman (2012). Eine weitere Kategorie kann als das ›pervertierte Böse‹ bezeichnet werden, indem eigentlich positiv besetzte Figuren ins Negative verkehrt und somit zur Inkarnation des Bösen werden, etwa Clowns (z. B. in Stephen Kings Es von 1990 oder Es Kapitel 2 von 2019) oder Kinder (wie in Der Exorzist von 1973). Aber auch natürliche Phänomene können im Film zum malum physicum werden, so in Katastrophenfilmen wie Volcano (1997), Outbreak (1995) oder 2012 (2009), in denen die tödliche Übermacht der Natur ›schlechte, schlimme oder üble‹ Folgen für den Menschen hat. Diesem Bereich können auch Filme mit bösen, wilden Tieren zugeordnet werden, z. B. der Klassiker Der weiße Hai (1975) oder Anaconda (1997). Im Film können aber auch unbelebte Objekte und Orte zum Bösen werden, wie das Gesellschaftsspiel in Jumanji (1995), die anthropomorphisierten Spiegel in Mirrors (2008) oder die mit Geistern belebten Räume in Das Geisterschloss (1999) oder Zimmer 1408 (2007). Als letzter Bereich sollten auch sozial-politische Strukturen und Gesellschaftsordnungen in dystopischen Filmen Erwähnung finden, die – zwar von Menschen gemacht – ein ›böses‹ Eigenleben entwickeln können, unter denen die darin lebenden Figuren zu leiden haben: Die Tribute von Panem (2012–2015) als Mediendystopie oder Blade Runner (1982) bzw. Blade Runner 2049 (2017) als düstere Zukunftsvision in Bezug auf das Thema der Gentechnik weisen eingeschränkten Gegenwartsbezug auf, während sich Formate wie der Tatort (seit 1970) auf aktuelle Verhältnisse und Diskurse beziehen. Diese Liste gibt einen groben Überblick darüber, dass im Film tatsächlich jegliche Form von Figuren, Dingen, Ereignissen und Strukturen als ›böse‹ klassifizierbar sein kann. 11 Wenn das Böse also alles sein kann, dann hilft die Frage nach der Essenz des Bösen im Film nicht dabei, es fassbar zu machen oder zu
Vgl. hierzu z. B. Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937), Cinderella (1950) oder Rapunzel – Neu verföhnt (2010). 11 Eine große Sammlung filmanalytischer Essays zum Thema findet sich in Sharon Packers und Jody Penningtons Band A History of Evil in Popular Culture (2014), Kap. 1–26. 10
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definieren. Das Wesentliche des Bösen im Film liegt daher in seiner ästhetischen Funktion für das filmische Gesamtprodukt. Ähnlich wie Phillip Cole in The Myth of Evil (2006) ausgeführt hat, übernimmt das Böse immer eine bestimmte Rolle bzw. Funktion, denn »[…] the idea of evil […] is a mythological concept that has a role to play in grand narratives of world history.« 12 Und ähnlich wie das Böse eine Rolle in geschichtlichen Narrativen spielt, hat es auch immer eine bestimmte Rolle im jeweiligen Filmnarrativ mit einer bestimmten Funktion für das ästhetische Produkt. Um diese ästhetische Funktion zu erfassen, ist es zuerst notwendig, die Kommunikationsstruktur im Film näher zu betrachten.
2.
Filmische Kommunikationsstruktur
Wie bereits erwähnt, wird in diesem Artikel Film als textlich-kommunikatives Medium begriffen. Um die wesentlichen Ebenen des Filmtextes zu berücksichtigen, wird das einfache Kommunikationsmodell von Roman Jakobson, in dem die konstitutiven Faktoren von Sprechakten beschrieben werden, als Grundlage genommen (Abb. 1). CONTEXT ADDRESSER
MESSAGE CONTACT
ADDRESSEE
CODE Abbildung 1: Roman Jakobsons konstitutive Faktoren sprachlicher Kommunikation. 13 Sprachliche Kommunikation läuft entsprechend des Modells in folgender Weise ab: Der SENDER sendet eine BOTSCHAFT an einen EMPFÄNGER. Um wirksam sein zu können, benötigt die Botschaft einen KONTEXT, auf den sie sich bezieht (»Referent« in einer anderen, etwas ambigen Terminologie). Dieser Kontext muß dem Empfänger verständlich sein und entweder verbaler oder verbalisierbarer Art sein. Ferner gibt es einen KODE, der voll-
12 13
Cole (2006), 23, Hervorh. d. Verf. Jakobson (1960), 353.
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Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film
ständig oder zumindest teilweise dem Sender und Empfänger (oder i. a. W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Botschaft) gemeinsam sein muß. Schließlich ermöglicht es ein KONTAKT, ein physikalischer Kanal und eine psychologische Verbindung zwischen dem Sender und dem Empfänger, daß beide in Verbindung treten und die Kommunikation aufrecht erhalten. 14
Demgemäß können auch im Film die Konstituenten folgendermaßen visuell dargestellt werden:
Historischer Kontext
Sender: Produktionsteam
Botschaft: Filmnarrativ
Empfänger: Rezipient/ Zuschauer
Kontakt: Medium Film
Filmische Codes
Abbildung 2: Filmisches Kommunikationsmodell auf Basis von Roman Jakobsons Modell sprachlicher Kommunikation. Das Kommunikationsmodell visualisiert auf der extra-textuellen Ebene auf der Produktionsseite des Films den Einfluss des Produktionsteams, bestehend aus den verschiedenen Akteuren, die bei der Erstellung des Filmmaterials mitwirken: Drehbuchautoren, Regisseure, Kameraleute, Schauspieler und Schauspielerinnen, Beteiligte an der Postproduktion etc. Diese Akteure stellen den Sender bzw. ein Senderkollektiv der Botschaft dar. Die Botschaft selbst – das Filmnarrativ – erzählt eine Geschichte, medial vermittelt als Film (Kontakt) über visuelle und auditive Codes, wie Kostüme, Körper, Objekte, Geräusche, Musik etc. Die Codes wie Kameraführung und -perspektive,
14
Jakobson zit. n. Nöth (2000), 105.
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Montage (Schnitt), Bildbearbeitung oder voice over sind filmspezifisch und können einen mehr oder minder starken Einfluss auf den Realitätseffekt des Mediums haben, der über die grundsätzlich mimetische Darstellung im Film erzeugt wird. 15 Auf der extra-textuellen Rezeptionsseite steht das reale Publikum, das die Filmbotschaft als kompetente ›Leserschaft‹ des Filmtextes entschlüsseln kann, wenn es über einen gemeinsamen Code mit dem Produktionsteam verfügt. Diese Codes können neben der Sprache (bzw. dem sprachlichen Verständnis durch Untertitel) ein Wissen über eine gewachsene Bildsprache des Films sowie Genretraditionen sein, wodurch Informationen vermittelt und decodiert werden. Der historische Kontext beschreibt in dem Modell die Hintergrundfolie für die Botschaft ›Film‹ mit politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen des kulturellen Rahmens, in dem sich Produzenten und Rezipienten bewegen. Bezüglich der ästhetischen Funktionen des Bösen können Bezugspunkte auf allen Ebenen des Modells gefunden werden. Im Folgenden werden die einzelnen Aspekte des Modells anhand von Beispielen vorgestellt, um das Panorama der funktionalen Möglichkeiten aufzuzeigen, die das Böse im Film realisieren kann. Als Bezugsfeld dient an dieser Stelle der anglo-amerikanische und europäische Film, da er die in unserem Kulturkreis verbreiteten Codes aufweist.
3.
Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film
Die ästhetischen Funktionen des Bösen auf den verschiedenen Ebenen des Modells können in drei Schritten näher betrachtet werden: 1) 2) 3)
auf der Ebene der Botschaft, auf den Ebenen des Mediums und des Codes und auf den Ebenen des Kontexts, der Produktions- und der Rezeptionsseite.
Zu einer genaueren Betrachtung der text-internen Kommunikationsebenen und -instanzen vgl. Kuhn (2011), 83–87. Die dort aufgeführte genaue Binnendifferenzierung führt in diesem Artikel jedoch zu weit und wird im Folgenden nicht berücksichtigt.
15
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Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film
3.1 Die Botschaft Wie bereits erwähnt, stellt die Ebene der Botschaft des Filmes das Flimnarrativ dar, das über die visuellen und akustischen Informationen dem Publikum als Filmhandlung erfahrbar gemacht wird. Auf dieser Ebene werden nun die verschiedenen Formen betrachtet, in denen das Böse in der Filmhandlung auftreten kann und somit seine Funktionen für die plot-Entwicklung übernimmt. Die Funktionalität des Bösen auf der Botschafts- bzw. Handlungsebene leitet sich aus verschiedenen Einflussfaktoren ab: Erstens ist die Frage des Zeitpunktes relevant; wann tritt das Böse im Handlungsverlauf auf bzw. ein und wie entwickelt es sich daraufhin? Daran schließen sich die Fragen an, ob das Böse schon zu Beginn vorhanden und somit als konstituierendes Element der story world zu betrachten ist oder ob es erst im plot-Verlauf entsteht und somit durch gewisse Ereignisse problematisch wird. Auch die Frage, wie es zum Ende der Handlung aufgelöst wird, ist hier entscheidend: Wird das Böse im Happy End des Filmes zerstört, um die soziale Ordnung wiederherzustellen, oder bleibt es nach Filmende weiter bestehen und/oder kommt es ungestraft davon? Zweitens ist die Frage des point of view, der Perspektive, entscheidend: Wer konstruiert wen oder was als das Böse im Handlungsgefüge und welcher Zweck wird damit verfolgt, eine Figur, ein Objekt oder ein natürliches Phänomen als böse zu klassifizieren? Hier wird deutlich, dass die Konstruktion des Bösen eine Form des othering ist und im Foucault’schen Sinne direkt an die diskursive Funktion der Machtausübung gekoppelt ist. Das Böse kann entweder ›auktorial‹ als böse charakterisiert werden, wodurch die Zuschreibung durch eine Aussage der »most authoritative voice in the text« 16 weniger hinterfragbar ist als in einer Konstruktion des Bösen durch bestimmte Figuren. Hier ist immer zu beurteilen, wie zuverlässig eine entsprechende Charakterisierung zu bewerten ist, wenn eigene (Macht-)Interessen von Figuren erkennbar sind. Die Art des Bösen, die zu Beginn als nicht eingrenzbare Vielfalt bereits aufgelistet wurde, stellt den dritten Einflussfaktor dar, der in der Betrachtung berücksichtigt werden muss. Neben dieser Bestimmung ist es viertens notwendig, auch die graduelle Abstufung des Bösen zu berücksichtigen und somit seine 16
Rimmon-Kenan (1992), 60.
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Ausprägung zu bestimmen. Die eindeutigste Ausprägung des Bösen im Film besteht selbstverständlich in der Darstellung des absolut Bösen: das Böse, das einfach durch und durch bösartig und grausam ist; oftmals ist hier nicht einmal eine Erklärung oder eine Motivation notwendig. Diese Form des Bösen steht üblicherweise diametral zum Guten und konstituiert sich durch eine klare Dichotomie zu diesem. In den meisten Fällen ist in diesen Formen auch keine Entwicklungsdynamik der Figuren, Monster, Objekte oder Phänomene möglich. Als Beispiel hierfür kann Lord Voldemort in den Harry Potter-Filmen dienen, der zwar mit einer motivationalen Vorgeschichte als Begründung seiner Boshaftigkeit ausgestattet ist, aber dennoch als Gegenentwurf zur Welt der guten Magie und als eindeutiger Antagonist zu Harry als statische, stereotype Figur das Böse an sich verkörpert und die handlungstreibende Kraft in den acht Filmteilen darstellt. Als etwas abgeschwächtere Form können Figuren betrachtet werden, die als das konflikthafte Böse bezeichnet werden können. Dies sind Figuren, die wie Darth Vader aus Star Wars ein Potenzial zur Figurendynamik aufweisen, welches auch an einer bestimmten Stelle des Films realisiert wird. Das Böse ist diesen Figuren nicht inhärent, sondern sie entwickeln sich entweder von einer guten zu einer bösen Figur oder umgekehrt. Im Falle Darth Vaders erfolgt diese Transformation sogar in beide Richtungen: Der junge Anakin Skywalker lässt sich zuerst in Episode 3 der Saga von der dunklen Seite der Macht verführen und nimmt die Identität des düsteren Lord Vader an, während er später in Episode 6 seinen Sohn Luke vor dem Imperator rettet und wieder zur guten Seite der Macht übertritt, kurz bevor er stirbt. Diese Form der Figurendynamik verdeutlicht die Idee, dass das Böse keine alles konsumierende Macht ist, sondern stets im Kampf mit dem Guten steht. Die Frage, welche Seite in diesem Kampf die Oberhand gewinnt, wird zumeist als offene Frage formuliert, in der sich die Figuren selbst für eine Seite entscheiden müssen. Diese Mischformen, in denen Gut und Böse als Teile der menschlichen Natur begriffen werden, beschreiben ein wesentlich komplexeres Bild von der Idee des Bösen und entsprechen somit der (post-) modernen Bevorzugung des Sowohl-als-auch gegenüber einem Entweder-oder. Eine solche Darstellung erfordert eine Repräsentation komplexerer multidimensionaler Figuren und findet sich seltener in Form von Objekten, natürlichen Phänomenen oder monsterhaften Kreaturen. Gerade in neueren Filmen zeigt sich eine Tendenz zu der Darstellung der Komplexität des Bösen, wie beispielsweise in der 178 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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Serie Game of Thrones (seit 2011), in der ein Panorama unterschiedlicher Charaktere von gut bis böse präsentiert wird. Auf diese Weise wird eine Hinwendung zur realistischeren Widergabe des Bösen, der menschlichen Psyche und deren Abhängigkeit von äußeren Umständen erreicht. Eine noch etwas abgeschwächtere Form des Bösen findet sich in der Figur des Anti-Helden bzw. der Anti-Heldin, was auch den noch schwächeren Typus des bad boy oder bad girl beinhalten kann. Diese Figuren können als eigentliche Helden begriffen werden, die aber eine gewisse (moralische) Schwäche aufweisen und dadurch ›böse‹ Dinge tun. Diese Figuren sind jedoch als im Grunde liebenswerte Charaktere realisiert, die am Ende in irgendeiner Weise geläutert sind und sich zu einem ›richtigen‹ Helden oder einer ›richtigen‹ Heldin entwickeln können. Ein Beispiel hierfür wäre die Figur des Hancock, der im gleichnamigen Film von 2008 mit seinen übernatürlichen Kräften nicht zurechtkommt und als Alkohol konsumierender, leicht cholerischer Anti-Superheld seine Rolle erst nach einem Reifungsprozess positiv ausfüllen kann. Letztlich kann auch eine Kategorie eröffnet werden, die als das unschuldige, unfreiwillige oder situative Böse bezeichnet werden kann. Hier verfallen Figuren unfreiwillig und auch nur kurzzeitig dem Bösen oder sogar unwissentlich. Diese Ausprägung hat eine primär handlungsrelevante Funktion und rückt ebenfalls von einem statischen Begriff des Bösen ab. Anstelle der Implikation, das Böse sei eine wie auch immer geartete essenzialistische Existenzform, steht hier die Repräsentation böser Taten im Vordergrund, die kontextbezogen sind. In Kinderfilmen, in denen die Helden und Heldinnen eine böse Tat begehen, dafür Buße tun müssen und am Ende Einsicht in ihr Fehlverhalten erhalten, hat diese Darstellung selbstverständlich eine didaktische Funktion. In Disneys Die Eiskönigin (2013) beispielsweise wird Königin Elsa von ihrer Angst getrieben, sie könne andere durch ihre Fähigkeit, das Eis zu beherrschen, verletzen. Diese Vorstellung verunsichert sie so sehr, dass sie die Kontrolle über ihre Kraft verliert und die Menschen in ihrer Umgebung gefährdet und verletzt. Erst in der abschließenden Einsicht, ihre Fähigkeit für das Gute einsetzen zu können, und durch einen Akt der Liebe kann sie wieder in die Dorfgemeinschaft zurückkehren und ihre Isolation als beängstigende Eiskönigin aufgeben. Das Böse ist also auch genretheoretisch nicht eingrenzbar: Horror- oder Splatterfilme, Krimis, Thriller und exploitation films stellen 179 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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das Böse in den Vordergrund, sind aber nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes. Selbst in Kinder- und Jugendfilmen oder Komödien tritt das Böse als Entität oder handlungsrelevanter Impuls auf und wird thematisch. Das Böse kann also auf der Ebene der Filmbotschaft nicht nur alles sein, sondern ist auch genreunspezifisch. Diese vier genannten Punkte – der Zeitpunkt des Auftretens und die Entwicklung des Bösen, die Perspektive auf das Böse, die Art und die Ausprägung des Bösen – definieren die Handlungsfunktionalität des Bösen im Film. Aus der Analyse dieser Punkte kann die idiosynkratische Funktion des Bösen abgeleitet werden, die auf der Ebene der Botschaft primär handlungsorientiert ist: Das Böse liefert das Konfliktpotenzial, damit eine Handlung entweder in Gang kommt, sich weiterentwickelt, verkompliziert oder aufgelöst wird. Generell sind zwei Formen des Konfliktes im Film möglich: erstens der Antagonismus von außen (äußerer Konflikt), wobei der Held oder die Heldin mit einer aktiven Opposition von außen konfrontiert wird; beispielsweise die klassische Antagonistenfigur, die oftmals als Spiegelfigur zum Protagonisten/zur Protagonistin auftritt. Alternativ kann auch ein passives Hindernis, das überwunden werden muss, diese Funktion erfüllen. Hier tritt der Antagonismus in Form der Objektwelt, wie beispielsweise als schlechtes Wetter, auf. Die zweite Konfliktform stellt das Böse im Innern (innerer Konflikt) dar, das intrasubjektiv als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Bösen ausgetragen wird. Hier gibt es wieder Abstufungen vom Kampf mit eigenen Schwächen bis zu Extremformen wie Perversität, Gewaltpotenzialen oder Ähnlichem. Innere und äußere Konflikte können sich auch gegenseitig bedingen und ein innerer einen äußeren Konflikt nach sich ziehen oder umgekehrt. Genau diese Formen von Konflikten, die durch das Böse entstehen, sind notwendig, damit ein Ereignis stattfinden kann. 17 Durch dieses Ereignis entsteht dann das (Film-)Narrativ. Letztendlich entsteht also durch das Böse überhaupt erst das Erzählpotenzial, wodurch sich Filmhandlungen entwickeln können. Das Böse ist folglich ein wesentlicher Bestandteil der formalen Ordnung des narrativen und somit auch filmischen Textes, da es ganz wesentliche Handlungsfunktionen auf der Ebene der Filmbotschaft übernimmt.
»Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.« (Lotman [1993], 332 [Hervorh. i. O.])
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3.2 Medium und Code Auf den Ebenen des Mediums und des Codes ist festzuhalten, dass die filmischen Darstellungsmittel nicht per se ›bösen‹ Kategorien zugeordnet werden können: Farben, Schnitt, Musikeinsatz etc. entwickeln erst durch Bedeutungsaufladung einen ›Effekt des Bösen‹. Das Böse auf diesen formalen Ebenen entsteht also erst durch Zuschreibung und Interpretation (was wiederum auf die Qualität des Bösen als Diskursformation hinweist). Diese Form der Funktionalisierung der auditiven und visuellen Codes, um ›böse Effekte‹ zu erzeugen, kann über zwei Wege erfolgen: entweder über die tradierte Filmsprache oder über eine im jeweiligen Film erzeugte filmische Motivik, indem bestimmte Elemente situativ mit Bedeutung versehen werden. Über die Jahrzehnte haben sich Konventionen entwickelt (oftmals auch von bereits älteren künstlerischen und literarischen Traditionen geprägt), welche gewisse filmische Mittel mit entsprechenden Bedeutungen belegt haben. Das Böse entsteht hier aus einer kulturellen Übereinkunft. Dies lässt sich am Beispiel des japanischen Filmes verdeutlichen, dessen Codes für ein westliches Publikum zum Teil nicht zugänglich und somit unverständlich sind: In japanischen Horrorfilmen, im sogenannten J-Horror, wird beispielsweise das Böse traditionell weiblich dargestellt. 18 Das Wissen bzw. Nichtwissen über diesen Umstand nimmt direkt Einfluss auf die Art und Weise, wie ein Film vom Zuschauer gelesen wird oder werden kann. Im europäischen und anglo-amerikanischen Kulturkreis bestehen ebenso festgefügte Visualisierungsnormen des Bösen, die einem kompetenten Zuschauer vertraut sind. Allgemein bekannt ist die klassische Optik des Bösen, das über ein klares colour coding erfolgt: Düstere Farben, mit überwiegend schwarzen Elementen, sind im westlichen Kontext als stereotype Darstellungsweisen des Bösen kodifiziert, was beispielsweise an Figuren wie der des Joker aus The Dark Knight (2008), der bösen Königin aus Maleficient (2014) oder sogar Gargamel bei den Schlümpfen erkennbar ist. Das Böse kann traditionell auch über körperliche Merkmale repräsentiert sein, wie bei einem der wichtigsten James-Bond-Gegner Blofeld, der mittels einer auffälligen Narbe im Gesicht als böse Figur markiert wird. Eine derartig lineare Darstellung, bei der das Aussehen einer Figur ihre 18
Vgl. Wee (2014), 99.
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(schlechten) Eigenschaften widerspiegelt, geht zurück auf Lavater, einen Schweizer Philosophen und Theologen, »[who] analysed portraits of various historical figures as well as people of his own time […] in order to demonstrate the necessary and direct connection between facial features and personality traits.« 19 Bis heute wird diese Art der »metonymic relation between external appearance and character-traits« 20 in Literatur und Film für die Typisierung von Charakteren genutzt, um das Innere des Menschen über sein äußeres Erscheinungsbild erkennbar zu machen. Während eine derartige Visualisierung des Bösen heutzutage sehr simplifizierend erscheint, werden entsprechende Farbschemata sowie körperliche Erkennungsmerkmale durchaus noch verwendet. Aber auch hier ist eine große Bandbreite an Differenzierungen erkennbar, indem auffällig unschuldige und/oder mit hellen Farben markierte Figurationen des Bösen genauso vertreten sind wie sämtliche Nuancen innerhalb des Spektrums zwischen diesen beiden Polen. Als Beispiel kann das süße Häschen Boingo in der Rotkäppchen-Verschwörung (2005) dienen, welches am Ende des Films als evil mastermind der ganzen Geschichte entlarvt wird. Im zeitgenössischen Film werden weiterhin auch die visuellen Codes der Kameraperspektive und des Schnitts oft selbst zu einer Form der ›körperlichen Gewaltanwendung‹ genutzt, um einen bösartigen Effekt zu generieren: Die Herstellung einer klaustrophobischen Enge oder einer unangenehmen Nähe zur Gewalt durch Detailaufnahmen können körperliche Schreckmomente im Zuschauer genauso auslösen wie schockartige oder extrem schnelle Schnitte. Eine solche Erfahrung kann die gesamte weitere Rezeption des Filmes beeinflussen und den Zuschauer in einen Zustand der Anspannung und Angst versetzen, der körperlich spürbar wird. Bestes Beispiel hierfür ist wohl der Horror-Klassiker Blair Witch Project (1999), in dem die subjektive Handkamera-Führung der Opfer nicht nur einen Effekt der Beklemmung hervorruft, da man sich als Zuschauer selbst verfolgt fühlt, sondern auch Übelkeitsempfindungen auslösen kann, weil das wackelige Kamerabild auf den Gleichgewichtssinn einwirkt. 21 Auch die auditiven Codes können ähnlich verstörende Effekte hervorrufen, wenn durch schockhafte Geräusche oder plötzlich 19 20 21
Rimmon-Kenan (1992), 65. Rimmon-Kenan (1992), 65. Vgl. Derry (2009), 229.
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einsetzende Lautstärke der Zuschauer in Alarmbereitschaft versetzt wird. Musikalisch kann ebenso eine Atmosphäre von Horror und Gefahr evoziert werden und über musikalische Leitmotive eine Figur emotional als böse entziffert werden; man denke nur an John Williams’ Klassiker »The Imperial March«, der die Figur des Darth Vader in der Star-Wars-Saga leitmotivisch ankündigt und auditiv als furchteinflößend und bedrohlich charakterisiert. Über die visuellen und auditiven Codes wird so eine Nähe zum Bösen hergestellt und teils sogar eine Identifikation mit dem Bösen erreicht, wodurch das Böse nicht nur ›gesehen‹, sondern zur körperlichen Erfahrung wird. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die Art der Darstellung, die durch das Medium und die Codes des Filmes geprägt ist, eine Effektfunktion hat. Viele dieser Effekte des Mediums entstehen einerseits durch den starken Realitätsbezug des Filmes, aber auch andererseits durch die visuellen und auditiven Verzerrungen und Untermalungen, die speziell im Medium des Filmes möglich sind.
3.3 Historischer Kontext, Produktions- und Rezeptionsseite Die text-externen Ebenen des historischen Kontextes, der Produktions- und Rezeptionsseite hängen eng zusammen und machen verschiedene Wirkfunktionen des Bösen erkennbar. 22 Die Wirkfunktionen des Bösen auf der Produktionsseite des Films betreffen die an der Entwicklung des Films Beteiligten, wobei an dieser Stelle die Wirkung des Bösen über das ästhetische Produkt hinausweist. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass die Wirkung von Filmfiguren auf den Schauspieler bzw. die Schauspielerin überZur Unterscheidung von Effekt- und Wirkfunktionen vgl. die Bedeutungsnuancen der beiden Begriffe im Duden: Effekte zielen auf eine »überraschende, beeindruckende« Wirkung ab; ihr Ziel im Film stellt also das momenthafte, körperliche Erleben eines visuellen oder auditiven Reizes in den Vordergrund. Dies ist von Wirkungen zu unterscheiden, die auf eine »Veränderung« oder »Beeinflussung« bzw. »ein bewirktes Ergebnis« abzielen – hier steht im Film eine längerfristige, kognitive Beeinflussung oder Entwicklung, z. B. der Vorstellungen und Konzepte der Zuschauer im Vordergrund. (Duden: »Effekt, der« [Substantiv, maskulin, Bedeutung 1.], https:// www.duden.de/rechtschreibung/Effekt#Bedeutung1 [letzter Zugriff 18. 03. 2019] und »Wirkung, die« [Substantiv, feminin, Bedeutung 1.], https://www.duden.de/ rechtschreibung/Wirkung#Bedeutung1 [letzter Zugriff 18. 03. 2019]).
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gehen kann und sie selbst dadurch zu einer Art »Metabösewicht« 23 werden. Dabei gehen Rolle und reale Person für den Zuschauer eine Symbiose ein. 24 Dies ist nachzuvollziehen an dem Schauspieler Anthony Hopkins, der u. a. durch seine Paraderolle als Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer (1991) sein Rollenfach als »epitome of evil« 25 etabliert hat und in anderen Filmen weiter ausbaut oder mit dem entsprechenden Image spielt, wie z. B. in Hannibal (2001), Red Dragon (2002), Das perfekte Verbrechen (2007) oder The Rite – Das Ritual (2011). Auch umgekehrt ist eine derartige performative Vermischung von Fiktion und Realität möglich, wie in der Debatte um den Schauspieler Kevin Spacey zu sehen war, der aufgrund von Vorwürfen wegen sexueller Nötigung als Hauptdarsteller aus der seit 2013 laufenden Serie House of Cards entfernt wurde. 26 Ein weiteres Beispiel dieser Art bezieht sich auf den ästhetischen Stil bestimmter Regisseure. Im Falle Quentin Tarantinos ist die von seinen Filmen ausgehende Skandalwirkung bereits bekannt und überträgt sich auf den Produzenten. 27 In diesen Fällen wird die Skandalisierung durch den Ruf des Regisseurs und die entsprechend starke Affektwirkung des Bösen dieser Filme nicht zuletzt als Vermarktungsstrategie genutzt, was an den großen kommerziellen Erfolgen seiner Filme erkennbar ist. Betrachtet man die Wirkfunktionen des Bösen auf der Rezeptionsseite im Film, so bildet entweder die privative oder die perversive Dimension des Bösen die Grundlage der Interpretation. Bei der privativen Dimension gilt das Gute noch als die überlegene, normative Folie, der das Böse gegenübergestellt wird. 28 Das Böse ist demnach »etwas prinzipiell Defizitäres […], das sich aus menschlichem Unvermögen, Schwäche oder einem Mangel an Freiheit und Reflexion speist (Privationstheorie des Bösen).« 29 Bezieht sich ein Film auf diese Dimension, können unterschiedliche Wirkungen als Ziel intendiert sein. Eine mögliche Funktion stellt der kathartische Effekt für Neumann (1986), 11. Vgl. Neumann (1986), 11. 25 Pomerance (2004), 7. 26 Zeit Online (2017). 27 So wurde beispielsweise in einem Online-Artikel verbreitet, Quentin Tarantinos Vater hätte behauptet »a producer once said his son would have been a serial killer if he had not become a filmmaker.« (Nussbaum 2015) 28 Vgl. Noller (2017), 19. 29 Noller (2017), 13. 23 24
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den Zuschauer dar, der entweder im aristotelischen oder im Lessing’schen Sinne erzeugt wird. Die Katharsis, welche Aristoteles in seiner Tragödientheorie in der Poetik beschreibt, zielt auf eine Affektbefreiung des Zuschauers ab: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. 30
Bezüglich der Wirkfunktion des Bösen kann eine aristotelische Katharsis in Form einer Affektbefreiung von Grusel, Grauen und Angst vonstattengehen. Die körperliche Erfahrung des Bösen führt zu einer affektiven Reaktion, die zu einer Reinigung dieser Erregungszustände führt. Gerade in plot-Konstruktionen, welche eine eindeutige binäre Opposition von Gut und Böse aufstellen und bei denen am Ende das Gute siegt, hat der finale Triumph einen rückversichernden, befriedigenden und damit reinigenden Effekt auf den Zuschauer. Eine derartige Reinigung kann auf der historischen Kontextebene auch eine soziale Funktion haben, indem eine Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Ängsten vorgenommen wird. Nicht grundlos erfreuen sich Katastrophenfilme und Dystopien, die das Ende der Menschheit oder die zukünftige Unterdrückung unserer Gesellschaften durch diktatorische Regime prognostizieren und durchspielen, großer Beliebtheit. Die oftmals geschlossenen Enden dieser Filme durch das Überstehen der Katastrophe oder die Zerstörung der dystopischen Gesellschaftsordnung dienen an dieser Stelle der reinigenden Wirkung der Filmerfahrung, wie in 2012 oder den Tributen von Panem. Eine kathartische Wirkung des Bösen im Film kann aber auch im Sinne einer moralischen Erziehung des Zuschauers erfolgen, wie sie Gotthold Ephraim Lessing im 78. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie bezüglich der Tragödie beschreibt. Lessings Übersetzung von Aristoteles war geprägt von den in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorherrschenden, strengen Moralvorstellungen des Bürgertums. Die aristotelische Reinigung wurde von ihm entsprechend interpretiert, da diese seiner Auffassung nach »in nichts anders be30
Aristoteles (2018), 19.
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ruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten […].« 31 Im Film kann das Böse somit ebenfalls als didaktisch-moralische Botschaft an den Zuschauer gerichtet sein. Oftmals werden hier verdrängte Inhalte, wie Tod, Gewalt, sexuelle Übergriffe etc., explizit gemacht oder die dunklen Seiten der eigenen Ordnungssysteme aufgedeckt, indem das Böse als negative Spiegelung des aktuell Eigenen imaginiert wird. Als Beispiel können hier eine Reihe von Verfilmungen über das Thema des Klonens dienen, die eine dystopische Gesellschaft imaginieren, in der das Klonen zum hehren Ziel der Heilung heute bekannter Krankheiten eingesetzt wird, jedoch die geklonten Menschen als Ersatzteillager für die ›normale‹ Bevölkerung eingesetzt und somit zum Tode verurteilt werden [z. B. in Alles, was wir geben mussten (2010) oder Die Insel (2005)]. Diese Filme sind neben dem Aufgreifen der aktuellen Klondebatte auch als kritische Metapher für ›böse Strukturen‹ westlicher Gesellschaften zu lesen, die ihre Umwelt zur Erlangung des eigenen Wohlstands ausbeuten. Die didaktische Botschaft an den Zuschauer wird hier visuell erfassbar, indem ein eindeutiger Bezug zu aktuellen Praktiken von Tierversuchen hergestellt wird. Als Alternative zu dieser didaktisch-moralischen Aufforderung, das bestehende System zu hinterfragen und zu ändern, kann die Lessing’sche Moral-Katharsis aber auch in Form einer moralischen Identitätsstiftung erfolgen, indem das Böse bewusst als das »radikal Andere« 32 ausgegrenzt wird. Das Böse hat hier auch eine moralischdidaktische Funktion, aber eben durch die Stärkung eines positiv moralischen Gruppengefühls durch die gemeinsame Ablehnung eines wie auch immer gearteten bösen Anderen, so beispielsweise in Filmen über den Nationalsozialismus wie Schindlers Liste (1993). Wird im Film hingegen die perversive Dimension des Bösen thematisiert, wird das Böse als andere Seinsform betrachtet. Hier besteht Lessing (1978), 401. Habermann und Schabert (2002), 8. Vgl. zur Definition des Begriffes Habermann und Schabert: »Wir erfassen Welt in Dichotomien wie Ich und Nicht-Ich, innen und außen, Subjekt und Objekt, männlich und weiblich, Geist und Körper, Form und Materie, Leben und Tod, Kultur und Natur. Indem wir so Ordnung und Sinn schaffen, vollziehen wir stillschweigend zugleich einen Ausschluß grundsätzlicher Art, denn alles, was weder das eine noch das andere im Raster dieser Kategorien ist, was sich nicht klar abhebt und damit der gedanklichen und sprachlichen Aneignung entgleitet, wird unterdrückt, abgedrängt, ignoriert. Es ist für ein Denken in Oppositionen das ganz Andere, das an der Grenze zum nicht mehr Denkbaren, nicht mehr Wahrnehmbaren liegt, das absolut Negative.« (2002, 7)
31 32
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die Auffassung, dass das Böse dem Guten hinsichtlich seiner Realität gleichrangig ist. Das Böse ist demnach kein Mangel an Sein oder Freiheit, sondern nur eine andere Seinsweise, die die gute Ordnung nicht bekräftigt, sondern diese vielmehr aktiv auf den Kopf stellt, also pervertiert und damit letztlich zerstört (Perversionstheorie des Bösen). 33
Der Einsatz dieser Idee zielt anders als die privative darauf ab, die Lust am Gruseln und am Grauenhaften zu befriedigen. Der Film, im Besonderen der Horrorfilm, der sich dieser Dimension bedient, bietet den Zuschauern die Freiheit, das Böse auf sicherem Terrain zu erleben und durchzuspielen, ohne echte negative Konsequenzen auf sich nehmen zu müssen, denn »Horror ist eine Gattung der Phantastik, in deren Fiktionen das Unmögliche in einer Welt möglich und real wird, die der unseren weitgehend gleicht […].« 34 Diese Erfahrung macht einen ästhetischen Genuss des Bösen möglich. Menschliche Triebe wie Neugier, Sensationslust und Voyeurismus können so in einem geschützten Rahmen befriedigt werden. Vor allem in der perversiven Dimension kann es zu einer Ästhetisierung des Bösen kommen, indem die Faszination des Bösen durch eine Identifikation mit dem Abgründigen ermöglicht wird. Die Skandalisierungswirkung des Bösen auf der Rezeptionsseite kann zu Unterhaltung, Aufmerksamkeit und kommerziellem Erfolg und/oder zu Ablehnung und Zensur führen. Dies liegt an den zwei von Reinhold Zwick konstatierten Zielen von Gewaltdarstellungen, die dem Bösen an dieser Stelle zugrunde liegen: »Gewalt kann einerseits der Unterhaltung dienen, indem sie die Schaulust befriedigt. […] Gewaltdarstellungen können aber auch zutiefst bestürzend sein, sei es dass sie im Leiden der Opfer den Schrecken der Gewalt aufdecken, oder dass sie dem Rezipienten seine eigene Gewaltneigung schockierend bewusst machen.« 35 An dieser Stelle schreiben sich Filme, welche das Böse thematisch werden lassen, in den Diskurs über den Zusammenhang von Ästhetik und Ethik ein. 36 Die Diskussion bezieht sich dabei oftmals auf mögliche unintendierte oder von der Gesellschaft vermutete und abgelehnte Wirkungen, wie die Gefahr, »dass sich der Betrachter seiner eigenen Freiheit zum Bösen bewusst wird.« 37 Die 33 34 35 36 37
Noller (2017), 13. Baumann (1993), 109. Zwick (2017), 266 f. (Hervorh. i. O.). Vgl. hierzu Noller (2017), 104. Noller (2017), 106.
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wiederkehrende Debatte über eine jugendgefährdende Immersion bei Ego-Shooter-Videospielen ist ein Beispiel dieser Auswirkung. In diesem Zusammenhang wäre auch die Frage nach einer Normalisierung des Bösen über den Konsum von Filmen, in denen das Böse explizit repräsentiert wird, zu sehen. Die Furcht eines sozialen Verfalls durch eine filmisch induzierte »normality of evil«, 38 wie Lance Morrow es nennt, sind Teil der Diskussion über die langfristigen Folgen einer grenzenlosen Beschäftigung mit dem Bösen im Film.
4.
Das Gute des Bösen im Film
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Böse im Film sehr unspezifisch und breit angelegt ist. Entscheidend ist aber, dass es im Filmnarrativ nur über seine Funktionalität relevant wird. Über diese einzelnen Funktionalitäten des Bösen im Kommunikationsprozess des Films ist es aber durchaus kategorisierbar. Drei Untergruppen können dabei unterschieden werden: 1) 2)
Die Handlungsfunktionen auf der Ebene des Filmnarrativs, die Effektfunktionen auf den Ebenen des Mediums und des Codes und die Wirkfunktionen auf den Ebenen des Kontexts, der Produktion und der Rezeption.
3)
Selbstverständlich sind die drei Ebenen letztlich nicht getrennt voneinander zu sehen; vielmehr wird das Böse im Film üblicherweise auf allen drei Ebenen wirksam und ergibt sich in deren Interaktion. Daher gilt es in der Betrachtung des jeweiligen Filmes herauszufinden, wie die drei Ebenen zusammenwirken, um die spezifische »Signatur des Bösen« im jeweiligen Filmprodukt zu bestimmen. Das Wesentliche des Bösen im Film ist dabei, dass es lediglich durch Zuschreibung entsteht; so muss das Böse als Diskurs begriffen werden, der im klassisch Foucault’schen Sinne Machtverhältnisse widerspiegelt und produziert. Aber anstatt das Böse im Film als etwas zu begreifen, das selbst schlecht ist und nicht sein darf, muss es im Film sogar sein, damit ein plot überhaupt zustande kommt. Dies spricht für die Produktivität des Bösen für den filmischen und allgemein für 38
Morrow zit. n. Norden (2007), XV.
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Ästhetische Funktionen des Bösen im zeitgenössischen Film
den ästhetischen Diskurs. Dementsprechend ist das Böse genre-, epochen- und handlungsunabhängig, also für die Filmästhetik grundlegend und somit dem Filmästhetischen inhärent. Als abschließende Beobachtung kann über die zeitgenössische Filmlandschaft gesagt werden, dass neben einer Entwicklung zu größerer Vielfalt und Komplexität in der Repräsentation des Bösen auch ein konservatives Beibehalten des Altbekannten zu verzeichnen ist: Stetig neue, unvorhersehbare und uneindeutige Formen des Bösen stehen neben Filmtexten, welche die klassische Struktur der binären Opposition zwischen Gut und Böse aufrechterhalten. Dies spricht für einen zunehmend kritischen Umgang mit dem Bösen, da das Böse weniger abstrakt und oberflächlich erscheint. Somit ist das Böse im Film keinesfalls böse, sondern tatsächlich etwas Gutes, da es die Möglichkeiten zur kritischen Reflexion inspiriert und die Bandbreite der filmischen Möglichkeiten stetig erweitert, während die klassischen Dichotomisierungen zu Zwecken der simplen Unterhaltung beibehalten werden.
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Gewalt zeigen, um Böses zu verstehen? Nils Baratella
1.
Einleitung
Nicht selten wird das Böse als etwas definiert, das sich jeder Verstehbarkeit entzieht und damit undefinierbar bleiben muss. 1 Will man dann plastisch machen, was das Böse ist, so wird meist auf Phänomene der Gewalt verwiesen. Gewalt und Böses erscheinen nahezu gleichbedeutend zu sein. Gewalt ist das prototypische Beispiel für Böses, das in der Welt und im Handeln der Menschen miteinander stattfindet. Und doch ist Gewalt allgegenwärtig. Sie ist permanentes Thema im öffentlichen Raum. Sie scheint ebenso zu faszinieren, wie es notwendig zu sein scheint, sie zu thematisieren. In unserer okzidentalen Kultur ist es zumeist Gewalt zwischen Menschen, die ebenso fasziniert wie erschreckt und als prototypisches Beispiel bösen Handelns dient. Sind Darstellungen von Gewalt im öffentlichen Raum also als Auseinandersetzungen mit Vorstellungen eines Bösen zu verstehen, das nicht mehr als jenseitiges, metaphysisches Prinzip gilt, sondern eine Handlungsweise der Menschen miteinander und untereinander darstellt? Und wenn dies so ist, sind dann öffentlich aufgeführte Formen von Gewalt als metaphorische Darstellung eines Begriffs vom Bösen zu verstehen, das zwischen den Menschen verortet wird? Diesen Fragen möchte sich dieser Text stellen. Um sie zu beantworten, zeige ich, dass der moderne, zumeist juridisch intendierte Begriff von Gewalt deren ästhetische Seite übersieht und so nur ein einseitiges Gewaltverständnis entwickeln kann, durch das diese in den Bereich eines unverstehbar Bösen verdrängt wird. Dem entgegen kennen kulturelle Formen der öffentlichen Aufführung gewalttätiger Interaktionen Differenzierungen des Gewaltbegriffs, die deren Vielgestaltigkeit ansichtig werden lassen und ein Verständnis
1
Prototypisch für diese Position steht: Ricœur (2006), 21–61.
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davon ermöglichen, wie Gewalt nach ethischen Begriffen wie Gut und Böse bewertet werden kann.
2.
Die Grenzen des Rechts
Worüber reden wir, wenn wir über das Böse reden? In der Geschichte der Philosophie hat der Begriff des Bösen vielfach einen Bedeutungswandel erlebt und ist doch ein zentrales Thema geblieben. 2 Während er in Antike und Mittelalter noch als Ermangelung des durch Gott gewährleisteten Guten herhalten musste 3 , hat in der Moderne eine deutliche Minderung seines metaphysischen Bedeutungsgehalts stattgefunden. Auch wenn bereits seit Augustinus das Böse mit dem freien Willen des Menschen verknüpft ist 4 , zeichnen sich moderne Verwendungen des Begriffs nicht zuletzt dadurch aus, dass damit explizit und hauptsächlich menschliche Verhaltensweisen thematisiert werden, die als zivilisiert geltenden Verhaltensweisen widersprechen. Als böse gilt meist gewaltsames Handeln. Jedoch nicht jedes gewaltsame Handeln. Vielmehr scheint es allgemein um Gewalt zu gehen, die nicht in irgendeiner Form institutionalisiert ist und für die keine rechtlichen Gründe angegeben werden können. Als böse gilt Gewalt, die nicht dazu dient, Sozialstrukturen wie Recht zu erhalten, sondern sich den grundlegenden Formen und Strukturen guten, menschlichen Zusammenlebens entzieht oder dieses explizit zu zerstören sucht. Diese Differenzierung von guter, rechtmäßiger und böser, unrechtmäßiger Gewalt ist freilich nicht neu. Für die Moderne prägend, wird sie bereits von Thomas Hobbes formuliert, der die Gründe für gewaltsames und egoistisches Handeln von Menschen in der natürlichen Aggressivität des Menschen verortet. 5 Diese Aggressivität prägt das menschliche Leben in einem Naturzustand, der vor jeder ZivilisaDass die Auseinandersetzung mit dem Bösen eine grundlegende Frage der Philosophie ist, zeigt: Neiman (2006). In jüngerer Zeit: Noller (2017). 3 So bei Augustinus (2010), 89–107. 4 »Nun ist aber die Sünde in einem solch hohen Maß ein freiwillig verübtes Übel, daß sie schlechterdings nicht Sünde wäre, wenn sie nicht freiwillig wäre. […] Durch den Willen also sündigen wir; und da außer Zweifel steht, daß gesündigt wird, sehe ich freilich auch nicht, daß man bezweifeln dürfte, daß die Seelen einen freien Willen haben.« Vgl. auch: Kreuzer (2005), 16. 5 Zur Bedeutung von Hobbes’ Anthropologie für die moderne Subjekttheorie vgl. Geyer (2007), 76 ff. 2
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tion liegen soll oder zumindest einen Gegensatz zu Zivilisation bilden soll. Denn der Einzelne, so Hobbes »pessimistische« Anthropologie 6 , strebt immer mit aller Gewalt nach seinem persönlichen Vorteil. Dieses Streben kann nur und muss sozial eingehegt werden. Auch wenn dieser Annahme einer besonderen Aggressivität des Menschen, wie sie im 20. Jahrhundert dann wirkmächtig von Konrad Lorenz ausformuliert werden wird 7 , heute aufgrund von neurophysiologischen Erkenntnissen, die Aggressivität eher auf mangelnde Anerkennung zurückführen 8 , widersprochen werden kann, so ist ihre Wirkung auf das moderne Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Gewalt weithin ungebrochen. 9 Zivilisation ist für Hobbes maßgeblich dadurch charakterisiert, dass in ihr die natürliche, zwischenmenschliche Gewalt eingehegt ist. Dies gelingt, indem Gewalt durch einen Gesellschaftsvertrag monopolisiert und aus dem alltäglichen, gesellschaftlichen Verkehr dadurch ausgeschlossen wird, dass ihre ungeregelte Form als natürliche abgelehnt wird, während ihre zivilisierte Form in Gestalt eines gewaltausübenden Rechts zur Grundlage der Gewährleistung friedlichen Zusammenlebens erklärt wird. Damit tritt eine klare Differenzierung zwischen der Gewaltsamkeit des Rechts und einer Gewaltsamkeit als einer natürlichen und zugleich ungeregelten und hemmungslosen Ausdrucksform menschlichen Verhaltens ein. Die Gewalt des Rechts soll jede Gewalt beenden, die sich der Unterwerfung unter Recht und Gemeinschaft verweigert oder sich explizit gegen diese richtet und damit zerstört, was menschliches Zusammenleben ausmachen soll: der Verzicht des Einzelnen auf Gewalt zugunsten eines Gewaltmonopols des Rechts. Durch diese strenge Differenzierung wird jede ungeregelte Gewalt auf der Seite individuellen Eigensinns verortet. Die Individuen, die sich ihrer Natur hingeben, ihre Triebe nicht zu unterdrücken wissen und das Gewaltmonopol des Staates missachten, werden zur Gefahr für die Geltung des Rechts. Gegen sie muss das Gesetz mit ganzer Härte durchgesetzt werden. Schon am Anfang der modernen In diesem Sinne greift Carl Schmitt Hobbes’ Anthropologie in seiner Grundlegung eines Begriffs des Politischen auf, der bekanntlich auf Vorstellungen natürlicher Feindschaft beruht und diese gar zum Inbegriff des Politischen an sich erhebt. Siehe: Schmitt (2009). 7 Lorenz (1963). 8 Bauer (2011). 9 Siehe dazu auch Hirsch (2004). 6
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politischen Philosophie geht es also nicht mehr um die ethische Bewertbarkeit gewaltsamen Verhaltens, sondern um die Differenzierung von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt. Folgerichtig sind für Hobbes die Begriffe Gut und Böse innerhalb dieser sozialen Einhegung allein relative und sozial gebundene Bewertungskategorien individueller Verhaltensweisen. »Denn diese Worte gut, schlecht und verächtlich werden stets mit Beziehung auf die Person benutzt, die sie gebraucht; nichts ist nämlich einfach und absolut so, und es kann auch keine allgemeine Regel von Gut und Schlecht aus der Natur der Objekte selbst abgeleitet werden, sondern von der Person des Menschen, wo es kein Gemeinwesen gibt, oder in einem Gemeinwesen von der Person, die es repräsentiert, oder von einem Unparteiischen oder Richter, den die Menschen, wenn sie uneins sind, einmütig einsetzen und dessen Urteil sie zur Regel machen sollten.« 10 Hobbes verfasst den Leviathan bekanntlich aus der Erfahrung der massiven, entfesselten Gewalt der Religions- und Bürgerkriege heraus. 11 Sie sind ihm prägendes Beispiel eines Zustands absoluter Rechtlosigkeit. Hier hat sich für Hobbes gezeigt, was passiert, wenn das aggressive und egoistische Lebewesen Mensch aus den Bändigungen, die Recht und Kultur ihm auferlegen, entlassen wird: Es zeigt sich seine gewaltsame Natur in einem Zustand der ungeregelten und hemmungslosen Gewalt. »Außerhalb von Staatswesen herrscht immer ein Krieg eines Jeden gegen Jeden. Hierdurch ist offenbar, daß sich die Menschen, solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt, und zwar im Krieg eines jeden gegen jeden.« 12 Der Grund für diesen permanenten Krieg besteht in der grundsätzlichen, natürlichen Gleichheit der Menschen (schon hierin drückt sich der aufklärerische Charakter des hobbesschen Denkens aus). Denn aus dieser Gleichheit erwächst ein massiver und zur Rücksichtslosigkeit anstiftender Distinktionswille. Die Menschen sind sich gleich, weil sie dasselbe begehren: sich voneinander zu unterscheiden, ungleich zu werden. 13 Die Installation dieser Ungleichheit erreichen sie mit GeHobbes (1996), 42. Koselleck (1979), 11 ff. 12 Hobbes (1996), 104. 13 In einer ähnlichen Weise erklärt Rene Girárd die allgegenwärtige Gewalt zwischen Menschen mit dem, was er »mimetisches Potenzial« nennt. Aufgrund dessen begehre der Mensch, was sein Gegenüber begehrt. Dieses »mimetische Potenzial«, das Menschen einander angleiche, sei zugleich die größte Bedrohung für das menschliche Zu10 11
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walt, oder sie institutionalisieren sie, indem Gewalt monopolisiert wird. Gewalt wird so also nicht ausgeschlossen, sondern allein in angemessene, weil rechtlich gebundene und unangemessene, weil dem Recht widerstehende, Gewalt unterteilt. 14 Aber kann so Gewalt außerhalb des juridischen Verfahrens noch definiert werden oder ist genau diese Gewalt dann die, die in der Moderne als Böses gilt? Das Recht kennt Gewalt nur als die seine oder als eine, die gegen das Recht verstößt. Gewalt wird somit allein von einem Mehr oder Weniger an Recht definiert. Damit erkennt das Recht in der Gewalt nur sich selbst – in positiver wie in negativer Weise. Eine Definition dessen, was als Gewalt gilt, wird damit aber problematisch, denn sie bleibt ausschließlich ein Weniger an Recht. Darin geht aber keineswegs jede Gewalterfahrung auf, und eine solche Annahme ignoriert, dass es Mördern wie Adolf Eichmann durchaus möglich war und ist, sich auf geltendes Recht zu berufen. 15 Stellt man sich diesem Problem aber, so müssen Begriffe der Gewalt jenseits eines ausschließlich rechtlichen Verständnisses gefunden werden. Dazu muss der Begriff der Gewalt differenzierter gefasst werden. Einen Vorschlag hierzu formuliert Walter Benjamin. Ihm geht es explizit darum, einen Begriff der Gewalt zu finden, der nicht allein vom Recht her oder aus Zweck-Mittel-Relationen verstanden werden kann. Benjamin skizziert hierfür die Vorstellung einer reinen Gewalt jenseits des Rechts. Diese nennt er göttliche Gewalt: »Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.« 16 Die göttliche Gewalt liegt nicht historisch vor dem Recht, sondern steht diesem permanent als ein unabhängiges und getrenntes Anderes gegenüber. Den Begriff der Gewalt in mythische und göttliche Gewalt zu trennen, lässt Benjamin einen Begriff der Gewalt gewinnen, der jenseits des Ein- und Ausschlusses der Gewalt sammenleben, weil aus dieser Gleichheit ein gleiches Begehren entstehe, das zwangsläufig zu Rivalität führe. Menschen werden somit zu Lebewesen erklärt, denen ihre natürliche Gleichheit zum Problem wird, die sich voneinander absetzen wollen und einander bekämpfen. Siehe: Girard (2002), 437–454. 14 Gewalt ist somit konstitutiv für Recht, wie Christoph Menke zeigt. Vgl. Menke (2012). 15 Siehe dazu: Arendt (2014), 231 ff. 16 Benjamin (1977), 199.
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durch das Recht gelagert ist. Die Gewalt des Rechts wird so vollständig von einer Gewalt getrennt, die ihren Bestand ganz außerhalb dieses Rechtes hat. Diese Gewalt ist zugleich das rechtliche Gefüge eines jeweiligen Staates transzendierend in dem Sinne, dass sie ganz außerhalb dieses Gefüges gedacht wird, und doch ist sie permanent drohend, weil sie jederzeit in die Welt einbrechen kann. Sie hat ihren Bestand gerade in dem Wissen darum, dass keine Monopolisierung von Gewalt, kein Recht so absolut sein kann, dass es nicht permanent durch den Einbruch von Gewalt zumindest temporär gebrochen werden kann. Die göttliche oder autotelische Gewalt droht jederzeit, trotz jedes festgefügten Rechts. »In dieser Welt«, schreibt Benjamin pathetisch über die göttliche Gewalt, »atmet sie nur Zerstörung.« 17 Sie ist rein destruktiv und nur von dieser Destruktivität her definierbar. Gewalt muss einbrechen und überraschen, wie Hans-Georg Soeffner festhält: »Die Eruption von Gewalt erschreckt und fasziniert durch ihre Plötzlichkeit. Ihr ›Ort‹ ist der Augenblick, ihr Werkzeug die Überraschung – und ihre Gegnerin die Dauer: die Veralltäglichung ›der großen Tat‹ in vielen kleinen Handlungen.« 18 Jan Philipp Reemtsma nennt diese Gewalt autotelisch. Sie kann als Einbruch und massive Irritation erscheinen, weil die Moderne jeden Begriff verloren hat. Diese Gewalt erscheint uns als eine fremde, weil wir gewohnt sind, Gewalt vom Recht her zu denken und dessen Gewalt als notwendig und berechtigt ansehen, während jede Andere als fremd und unbotmäßig erscheint. Damit wird »autotelische Gewalt zu dem besonderen Problem […], als das wir sie wahrnehmen – und weshalb wir sie, auch theoretisch, nicht wahrzunehmen versuchen. Sie hat – bei uns – keinen kulturellen Ort. Viele andere uns wohlbekannte Kulturen betrieben sie gewohnheitsmäßig und institutionalisiert. Man kreuzigte, pfählte, weidete aus, man ließ Menschen einander in öffentlichen Theateraufführungen zerfleischen, marterte Gefangene im Rahmen von Festlichkeiten langsam zu Tode, verstümmelte Tote und trug ihre Körperreste mit Stolz herum. Nur tat man es in einem definierten Rahmen, und wo der Rahmen so nicht definiert war – auf dem Schlachtfeld vor Troja etwa –, war autotelische Gewalt ein grässlicher Überschuss, ein Zuviel, das den Täter und tendenziell diejenigen desavouierte, die sich mit ihm, sagen wir: ko-kulturell fühlten. Wir, die Angehörigen der atlantischen Kultur der 17 18
Benjamin (1972), 99. Soeffner (2004), 73.
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Moderne, die aus den Gewaltkrisen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen ist, haben für autotelische Gewalt keinen legitimierbaren Ort mehr.« 19
3.
Wie über Gewalt sprechen?
Doch auch wenn es keinen Raum der autotelischen Gewalt in unserer Kultur mehr zu geben scheint, heißt dies nicht, dass sie schwindet. Im Gegenteil. Auch wenn manch einer behaupten mag, dass wir in friedlicheren Zeiten als vorhergehende Generationen leben würden 20 , so erleben wir doch immer weiterhin massive, verstörende Gewaltausbrüche. Gewalt kommt in nahezu allen Sozialformen und insbesondere zwischen Menschen vor, die sich nahe stehen. 21 Kann Gewalt aber nicht gänzlich vermieden werden, so muss sie verstanden werden. Das Mittel des Verstehens aber ist unsere Vernunftfähigkeit. Nur begründetes Handeln können wir, im Gegensatz zum Handeln strafender Götter oder der Natur, so beurteilen, dass wir versuchen können, es zu vermeiden. Die Welt der Natur ist nicht dazu geschaffen, den Menschen glückselig werden zu lassen, wie Kant in Reaktion auf das verheerende Erdbeben von Lissabon schreibt: »Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten. – Der Mensch ist nicht geboren, um auf der irdischen Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. – Alle diese Verheerungen scheinen uns zu erinnern, dass die Güter der Erde unserem Triebe zur Glückseligkeit keine Genugtuung verschaffen können.« 22 Die Welt steht dem Menschen gleichgültig gegenüber, und wie Gott dem Menschen gegenüber eingestellt ist, bleibt ebenso unerschließbar. Doch einander können die Menschen nicht gleichgültig sein, denn sonst verlören sie, was sie als Menschen ausmacht. Über die Gewalt also, die Menschen einander antun, können sie sprechen. Sie kann gedeutet werden.
19 20 21 22
Reemtsma (2008), 123. Pinker (2011). Siehe dazu: Jacoby/Russell (2011). Kant (1968), 431.
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Für gewalttätiges Handeln gibt es Gründe, auch wenn Gewalt jede Kommunikation verweigert und sie »als Widerfahrnis […] dem Versuch, sie auf den Begriff zu bringen, allemal voraus[geht]« 23 . Die Gewalt selbst ist keine Sprache, die eine Antwort ermöglicht. Sie will vielmehr jede Kommunikation abbrechen. »Das spezifisch Böse der Gewalt ist ihre Stummheit«, so Hannah Arendt 24 . Das Böse der Gewalt besteht darin, dass sich der böse Handelnde bewusst der Gemeinschaft der Menschen zu entziehen sucht oder zerstört, was diese ausmacht und ermöglicht – darum hat das Böse »keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen« 25 . Der Gewalttäter interessiert sich nicht dafür, was sein Handeln beim Anderen bewirkt – dessen Präsenz negiert er geradezu. 26 Seine Handlungen sind Gewalt, weil er »handelt, als wäre [er] allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen.« 27 Hier werden die Begriffe der Gewalt und des Bösen zusammengeführt. Dies impliziert damit, dass der böse Handelnde, der Gewalttäter immer auch anders hätte handeln können. Ist Böses gewalttätiges Handeln, so kann es verhindert werden. Dieser Rede von der Gewalt liegt der Gedanke zugrunde, den Kant im Einleitungssatz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert: »Es ist überall nichts in der Welt, ja auch überhaupt außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 28 Wie Otfried Höffe nahelegt, könnte man hier ebenso den Begriff des Bösen einsetzen. 29 Auch wenn man dem egoistischen Lebewesen Mensch, einen »Hang« zum Bösen unterstellt, so wie dies Kant tut, so heißt die Verwendung des Begriffes Hang doch nichts anderes, als dass der Mensch dem nicht nachgeben muss. 30 Ihm entgegen steht die »Freiheit im praktischen Verstande« als »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« 31 . Auch gewalttätiges Handeln muss demnach mit den Mitteln der Urteilskraft verstanden werden, 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Liebsch (2001), 315. Arendt (2002), 345. Arendt (2006), 77. Siehe dazu Arendt (1998), 14 ff. Lévinas (1992), 15. Kant (1977), BA 1,2. Siehe Höffe (2001), 94. Siehe dazu: Höffe, (2001), 99. Kant (1974), B 562.
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die sich auch im ethischen und politischen Sinne an einem sensus communis orientieren muss, wie es Hannah Arendt in ihrer Schrift über das Urteilen herausarbeitet. 32 Wenn Gewalt sich also jeder Sprache verweigert, so müssen Metaphern gefunden werden, die sie verstehbar machen. Der Sinn von Metaphern ist, »das nie erfahrbare, nicht übersehbare Ganze der Realität« 33 zu repräsentieren. Und doch sind Metaphern kulturell gebunden. Können wir über Gewalt also nur metaphorisch sprechen, so sind die Formen, die Erfahrung, die Artikulation und die Thematisierung bzw. Nicht-Thematisierung von Gewalt allein aus kulturellen und historischen Kontexten zu verstehen. 34 Das Böse ist möglicherweise in diesem Sinne eine Metapher, deren Bedeutungsgehalt von hoher Wandelbarkeit ist. Denn Kulturen und Gesellschaften müssen sich darüber verständigen, wie über was gesprochen wird, wenn über Gewalt gesprochen wird, weil sie über Gewalt sprechen müssen, um sie zu vermeiden. Diese Verständigung schreibt sich bis in die Körperlichkeit der Subjekte ein. 35 Denn sie sind der Ort, an dem Gewalt reguliert werden kann, indem Aggressionen in sozialverträgliche Formen übertragen und kanalisiert werden. 36 Kollektive Verständnisse dessen, was als Gewalt gilt, der Geist der Gewalt, prägen Gesellschaften. Mithin prägen sie damit auch das subjektive Verständnis der Einzelnen, welche Praktiken und Erfahrungen als rechtmäßige und unrechtmäßige, als gute und böse Gewalt verstanden werden können. 37 So führt die Auseinandersetzung mit der Gewalt, ihrer Rechtmäßigkeit und ihrer Unrechtmäßigkeit, quasi zwangsläufig zu unterschiedlichsten Menschenbildern, die in ein und derselben Zeit und Kultur höchst unterschiedlich sein können. 38 Sprechen wir darüber, was Gewalt ist, so sprechen wir immer auch darüber, was Menschlichkeit bedeutet. Führen wir uns wiederum Ge-
Siehe Arendt (2012). Blumenberg (1999), 23. 34 In beeindruckender Genauigkeit zeigt dies: Zimmermann (2013). 35 Siehe dazu: Lorenz (2004), 9–24. 36 Siehe dazu ausführlich Baratella (2015). 37 Inwiefern beispielsweise das, was heute als Europa verstanden werden kann, auf einer gemeinsamen Erfahrung von kollektiver Gewalt und deren Deutung beruht, zeigt: Staudigl (2014). 38 Dass dies beispielsweise in der Antike ganz anders verstanden wurde, zeigt Vernant (1998), 22–48. 32 33
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walt vor Augen, so führen wir uns auch die Grenzen von Menschlichkeit vor Augen. Die öffentliche Aufführung von Gewalt hat eine lange Tradition. Der Prototyp der öffentlichen Aufführung brutaler Gewalt, die römischen Gladiatorenspiele, faszinieren vielleicht nicht zuletzt deswegen bis heute, weil in ihnen die Gewalt »sichtbar und manifest [ist]. Ihr fehlt jede Scham. Sie ist hier weder stumm noch nackt, sondern beredt und bedeutend.« 39 Mag es anderen Gesellschaften, wie den antiken, angemessen erschienen sein, die Tötung Wehrloser öffentlich aufzuführen, um die absolute Macht herrschenden Rechts zu demonstrieren 40 , so scheint heute der Fokus darauf zu liegen, die Regelhaftigkeit gewaltsamer Interaktion in Wettkämpfen zu demonstrieren. Im geregelten Wettkampf tritt das Begriffspaar Gut und Böse vollständig in den Hintergrund. Hier sind die entscheidenden Bewertungskategorien die der Regelkonformität.
4.
Der Tragik ins Gesicht sehen
Doch wie sich mit Gewalt auseinandersetzen? Hier ist ein Sprung zurück in der Geschichte der Philosophie möglicherweise hilfreich. Denn es ist bereits Aristoteles, der dem Tragischen die Macht zuspricht, sich mit Gewalt auseinanderzusetzen, die sich nicht allein als Rechtsverstoß definieren lässt. In der Tragödie steht die Gewalt als Widerfahrnis im Zentrum. Widerfahrnis ist sie aber nur für den Protagonisten, dem Zuschauer aber ist sie erklärlich und damit verstehbar. In den Mythen, die traditionellerweise in den Tragödien verhandelt werden, sind Tod, Mord, Verrat nahezu zwangsläufig thematisch. Wie Aristoteles anmerkt, werden sie aber schon hier nicht in ihrer bloßen und realen Form dargestellt, sondern in einer durch den Dichter aufbereiteten. So wird es möglich, die Auseinandersetzung der Zuschauer mit den Themen zu beeinflussen. Die Tragödien führen schreckliche Schicksale in all ihrer Tragik vor Augen, um einen reinigenden Effekt bei den Zuschauern zu erzeugen. »Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todes-
Han (2011), 13. Eindrücklich beschreibt Michel Foucault dies in den Anfangspassagen von »Überwachen und Strafen«. Siehe Foucault (1996), 9 ff.
39 40
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fälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.« 41 Diese Themen erzeugen sowohl Furcht (phobos) als auch Mitleid (eleos) und auf diesem Wege die berühmte Reinigung (katharsis) von dementsprechenden üblen Gefühlen und Begehren beim Zuschauer. Dies ist das eigentliche Ziel der Auseinandersetzung mit den schrecklichen und brutalen Geschehnissen der Tragödien. 42 Sie dürfen nicht irgendwelche brutalen Gewalttaten sein, sondern müssen das Kriterium erfüllen, zumindest den Protagonisten unerklärbar zu sein. Der tragische Held ist einer, der »nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers« 43 . Die Gewalt, die den Einzelnen trifft, ist damit tatsächliche Gewalt, denn sie ist dem Opfer unerklärlich. Diese Gewalt ist es, die besonderes Mitleid hervorzurufen weiß, denn in ihr wird sichtbar, dass deren Opfer den Zuschauern ähnlich sind und sie Leid widerfahren, das sie nicht verschuldet haben. 44 Dies unterscheidet die hier dargestellte Gewalt, der kathartische Wirkung zugesprochen wird, explizit von Gewalt, die einen Grund hat, wie bspw. die zwischen Feinden. 45 Der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt kommt somit eine Funktion zu. Sie ist Auseinandersetzung mit etwas, das zugleich da ist und nicht da sein soll. Zudem ist sie Auseinandersetzung mit dem, was unaussprechbar ist. Die Gewalt hat keine Sprache, sie ist vielmehr die Aufkündigung des Sprechens. Und eben weil sie dies ist, muss über sie gesprochen werden, um sie nicht geschehen zu lassen. Darum dürfen diese besonderen Räume, in denen Gewalt thematisch wird, diese Ausnahmeräume, keine Orte sein, die außerhalb von Gesellschaften liegen, sie müssen vielmehr in deren Zentrum liegen. Vielleicht ist gerade darum das Phänomen der Gewalt so omnipräsent.
41 42 43 44 45
Aristoteles (1994), 1452b. Aristoteles (1994), 1449b Aristoteles (1994), 1453a. Aristoteles (1999), 1385b. Aristoteles (1994), 1453b.
201 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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5.
Schluss
Die Gewalt im Menetekel der Gewaltsubstitute ist damit immer Gewalt, die die Grenze dessen aufzeigt, was gesellschaftlich akzeptabel ist (vielleicht auch nur, indem sie fasziniert). So wird eine scharfe Hierarchie zwischen der angesehenen Ratio und ihren diversen Antipoden gezogen. Diese Trennung legt nahe, dass Gewalt auf der Seite des Natürlich-Authentischen verortet ist, weil sie körperlich, affektiv und irrational ist. Sie wirkt ungekünstelt, pur, ehrlich in einer Welt, die als vernunftorientierter Entfremdungs-, Verblendungs- und Zurichtungszusammenhang aufgefasst wird. 46 Die Gewalt, die das Gegenstück zur Ratio verkörpert, ist gleichsam Projektion dieser Ratio, ein Negativ- und zugleich ein Wunschbild des Auszuschließenden. So legitimiert sich die rationale Gewalt des Ausschlusses und ermöglicht zugleich eine Auseinandersetzung mit dem, was ausgeschlossen ist. Diese Auseinandersetzung ist aber nur möglich, wenn auch das Ausgeschlossene noch inszeniert und verarbeitet wird. Was also in den Ausnahmeräumen der Gewalt gesehen werden kann, ist nicht das ganz Andere und Unverstehbare, sondern eine Gewalt, die in einer verstehbaren Weise inszeniert wird. Sie ist die Darstellung von Bösem, das eben nicht metaphysisch fremd, sondern ganz und gar plastisch geworden ist. An einer Stelle hält Platon fest: »Für Feindschaft nun mit dem Befreundeten gilt der Name Zwietracht, für die mit dem Fremden aber Krieg.« 47 Hier gibt es eine Differenzierung zwischen Zwietracht und Krieg, die sich nicht zuletzt in den spezifischen Praktiken, wie miteinander zu kämpfen sei, ausdrückt. Während Gewalt dadurch definiert ist, jede Interaktion zu unterbinden, kann Kampf als eine agonale Interaktion gelten, die der Wechselseitigkeit bedarf. Es kann also im Kampf erhalten werden, was durch Gewalt zerstört wird: die Beziehungsebene zwischen zwei sich gleichwohl bekämpfenden Kontrahenten. Kann hier durch den Kampf das Böse der Gewalt überwunden oder zumindest in reglementierter Weise ansichtig gemacht und so aus der Distanz erträglich werden? Offensichtlich gibt es hier einen schmalen Grad. – Wo und was ist noch ein Kampf, und wie endet oder beginnt im Kampf die Gewalt? 46 In besonderer Weise führt dies der Film Fight-Club vor Augen: Siehe dazu: Žižek (2002), 78 ff. 47 Platon (1993), 470/208.
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Diese Grenze gekannt zu haben, mit ihr gespielt zu haben, ist, was Nietzsche an der agonalen Kultur der Antike schätzte. Im Gegensatz zu der moralischen Vermeidungs- und Verdeckungskultur, die Nietzsche der Moderne diagnostiziert, liegt für ihn in der Antike völlig offen, dass der Triumph des Einen mit dem Leid des Anderen einhergeht. Die Größe der antiken Kultur sieht Nietzsche darin, Kampf als kulturschöpfend begriffen zu haben. »Der Kampf und die Lust des Sieges wurden anerkannt: und nichts scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren, als die hieraus abzuleitende Färbung einzelner ethischer Begriff, z. B. der Eris und des Neides.« 48 Das Böse könnte dieser Auflistung noch hinzugefügt werden. Denn das Böse ist in dieser Hinsicht nicht jede Gewalt, sondern allein die, die vernichten will, anstatt sich zu messen. »Und nicht Aristoteles allein, sondern das gesamte griechische Altertum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegeneinander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur Tat reizt, aber nicht zur Tat des Vernichtungskampfes, sondern zur Tat des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohltätigen Gottheit.« 49 Diese Unterscheidung von Gewalt und Wettkampf ist Nietzsche wichtig, denn erst dann, wenn die Übertragung von Gewalt in einen geformten Kampf gelingt, bietet sich die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit Gewalt, die diese nicht vollständig zu negieren sucht. Dazu muss aber Kampf, der nicht auf Vernichtung zielen soll, streng reglementiert sein. Ist demnach der reglementierte Kampf das Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Böse, dessen Manifestation dahingegen die Gewalt ist? Verknüpft man den Begriff des Bösen also mit dem der regellosen Gewalt, so wird Böses als Willkürliches deutbar. Ein solches Böses widerfährt nicht und geschieht nicht zufällig. Ist Böses willkürliche Gewalt, so können Urheber festgestellt werden. Es gibt nun Verantwortliche, die Andere willentlich, in Abweichung von allgemeinen moralischen Gesetzen verletzen und dabei um diese Abweichung wissen. Gewaltsam verletzen heißt dabei, den Anderen wie ein Objekt zu behandeln, das aus der Welt geschafft werden soll, und auf dessen 48 49
Nietzsche (2003), 787. Nietzsche (2003), 787.
203 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Nils Baratella
Reaktion, dessen Responsibilität und die Konsequenzen, die diese Verletzung für ihr Opfer hat, kein Augenmerk zu richten. Gewalt kann auch jenseits von juridischen Definitionen erkannt und verstanden werden. Sie tritt dann ein, wenn das Gegenüber ganz zum Schweigen gebracht werden soll. Den Anderen als Gegenüber aber anzuerkennen, bedeutet, ihn nicht zum Schweigen zu bringen. Erst hier kann das Verstehen beginnen.
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205 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts Petra Wittig 1
1.
Vorüberlegung
Bei einigen, besonders gravierenden Straftaten scheint für viele Bürger eine Charakterisierung als kriminell nicht mehr auszureichen, sodass eine Gleichsetzung von Kriminalität und ›Bösem‹ erfolgt. Weil diese Taten oft unbegreiflich sind, wird der Täter als eine Verkörperung des ›Bösen‹ schlechthin betrachtet. Das ›Böse‹ ist in diesem Sinn eine Metapher für etwas unbegreiflich Grauenhaftes, etwas schlechthin Verwerfliches, das sich einer rationalen Erklärung entzieht. 2 Es ist meist auch mehr als eine bloße Charakterisierung der Tat oder einer Verhaltensweise, es wird zu einer Eigenschaft des Täters. Der Täter ist ›böse‹ oder eine ›Verkörperung‹ des ›Bösen‹. Die Argumentation ist zirkulär: Weil der Täter etwas ›Böses‹, also etwas Grauenerregendes und Unerklärliches getan hat, ist er ›böse‹, weil er ›böse‹ ist, hat er etwas derartig ›Böses‹ getan.
2.
Beispiele
Die Rede vom Bösen spielt zunächst dort eine Rolle, wo es um die großen Kollektivverbrechen, wie z. B. NS-Verbrechen, Terrorismus oder (Bürger-)Kriegsverbrechen, geht. Sie ist aber keineswegs auf diese Makrophänomene beschränkt. Gerade in der jüngeren Zeit gibt es zahlreiche Beispiele aus den Printmedien, die bei der Bezeichnung von Straftätern oder Straftäterinnen das Attribut ›böse‹ verwenden. Drei aktuelle aufmerksamkeitserregende Fälle, der Fall Josef Fritzl in Österreich, der des Massenmörders Anders Behring Breivik in NorDie Autorin ist Inhaberin der Professur für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2 Vgl. Vossenkuhl (2008), 34. 1
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
wegen und der Prozess um Beate Zschäpe hierzulande, illustrieren dies eindrucksvoll. Die Überschrift auf einer Titelseite einer überregionalen deutschen Zeitschrift zum österreichischen Fall, in dem ein Mann seine Tochter über fast vierundzwanzig Jahre im Keller gefangen hielt und mit ihr sieben Kinder zeugte, lautete etwa: »Das Böse nebenan. Wenn Menschen unmenschlich werden: Das monströse Doppelleben des Josef Fritzl« 3 . Ein Artikel zu ihm trug die Überschrift »Das Gesicht des Bösen« 4 . Ähnlich bezeichnete ein Teil der Presse Anders Behring Breivik, der im Jahr 2011 einen Anschlag im Regierungsviertel von Oslo und auf ein sozialdemokratisch organisiertes Jugendzeltlager auf der Insel Utøya aus islamophoben und sich gegen ›Multikulturalismus‹ sowie die Einwanderungspolitik der damals sozialdemokratischen Regierung richtenden Motiven verübte. Er wird mit einer Bestie oder als Tötungswerkzeug des Teufels identifiziert: »Der Teufels-Killer von Norwegen tötete 77 Menschen. Wie macht man einer Bestie den Prozess?« 5 bzw. »Gutachter: Teufels-Killer Breivik zurechnungsfähig« 6 . Noch expliziter erfolgt eine Gleichsetzung mit dem Bösen bei Beate Zschäpe, die mutmaßlich Mitglied der rechtsextremen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) war, welche zehn rassistisch motivierte Morde sowie Anschläge und Raubüberfälle verübte. In Anspielung zum Untertitel von Hannah Arendts Buch zu Adolf Eichmann 7 , der überdies zum geflügelten Wort geworden ist, heißt es in einer Überschrift zu Zschäpe: »Die Banalität der Bösen« 8 . Nachdem die Angeklagte über lange Zeit während des Gerichtsprozesses geschwiegen hatte, dann aber eine Aussage vornahm, hieß es: »Was von der Aussage bleibt. Zschäpe offenbart nicht das große Böse« 9 . In einem Online-Artikel zum Prozess um den NSU lautet der Untertitel zu einer Fotografie, welche ihr Profil in einem die Augen betonenden Ausschnitt zeigt, »Die Augen des Bösen: Angeklagte Beate Zschäpe
3 4 5 6 7 8 9
Der Spiegel (2008), 1. Spilcker/Sturm (2009). Bild-Redaktion (2011). Bild-Redaktion (2012). Vgl. Arendt (1964). Topçu (2015). Graf (2015).
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Petra Wittig
(38)« 10 . Ein auf Antrag der Wahlverteidiger zum psychologischen Gutachter von Zschäpe bestellter, später aber vom Gericht wegen Befangenheit abgelehnter Psychiater, Joachim Bauer, bemerkte diese Verknüpfung und setzte sie in den gegenläufigen Kontext der Hexenverbrennung aus dem Mittelalter: »Das Stereotyp, dass Frau Zschäpe das nackte Böse in einem weiblichen Körper ist, darf nicht beschädigt werden. Eine Hexenverbrennung soll ja schließlich Spaß machen.« 11 Anhand dieser Beispiele lässt sich feststellen, dass die öffentliche gesellschaftliche Beschäftigung mit Kriminalität das Böse braucht: »Die Rolle des Bösen ist immer besetzt, allerdings wechseln die Täter, die diese Rolle ausfüllen. Neuere Beispiele sind ›der Terrorist‹, ›der Kinderschänder‹ und ›der jugendliche Gewalttäter‹.« 12 Auch im juristischen Diskurs wird Tätern gelegentlich, wenn auch selten, das Attribut ›böse‹ zugeschrieben. In der Urteilsbegründung einer Strafkammer des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) im Verfahren wegen Völkermords (Art. 4 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien) 13 gegen Radislav Krstić, einen Ex-General, wegen des Massakers von Srebrenica, bei dem er als Kommandant das ausführende Drina-Corps befehligte, 14 heißt es: »In July 1995, General Kristic, you agreed to evil. This is why the Trial Chamber convicts you today and sentences you to 46 years in prison.« 15 Dies zeigt exemplarisch, dass das Wort ›böse‹ im Zusammenhang mit juristischen Sachverhalten sowohl bei deren medialer gesellschaftlicher als auch bei deren juristischer Aufarbeitung für die Charakterisierung des Straftäters oder der Straftäterin verwendet wird.
Bild-Redaktion (2013). Bauer in einer Email vom 22. Mai 2017 an die Zeitung »Welt«, zitiert nach: Friedrichsen (2017). 12 Dölling (2011), 1907. 13 Vom Berufungsgericht desselben Tribunals wurde später auf Beihilfe zum Völkermord gem. Art. 7 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien erkannt, vgl. ICTY (2004). 14 Vgl. ICTY (2001), 169. 15 ICTY (2001a). 10 11
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
3.
Juristische Annäherungen an ›das Böse‹
3.1 Ausgangspunkt Es stellt sich die Frage, ob die Kategorie des Bösen aus Perspektive des Rechts nachvollziehbar und sinnvoll ist. Soweit es um das ›Böse‹ als strafrechtswissenschaftliche Kategorie geht, ist zwischen der Kriminologie als empirischer Wissenschaft und dem Strafrecht als Normwissenschaft zu unterscheiden. 16 Während die Kriminologie Kausalitätserklärungen für kriminelles Verhalten sucht, geht es dem Strafrecht um dessen normative Bewertung. Folgend wird zunächst erläutert, wie sich innerhalb der Kriminologie (2.) das Phänomen des »Bösen« fassen und einordnen lässt, dann wie sich das Böse innerhalb des Strafrechts (3.) gestaltet.
3.2 Kriminologische Erklärungsversuche a)
Zur Aufgabe und zum Gegenstand der Kriminologie
Gegenstand der Kriminologie ist Kriminalität als eine Form abweichenden Verhaltens und der gesellschaftliche Umgang mit Kriminalität. 17 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kriminologie eine empirische Wissenschaft ist. Aufgabe der Kriminologie ist unter anderem die Erforschung der Ursachen und der Erscheinungsformen der Kriminalität. 18 Als Disziplin entstand sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade in dem Bemühen, Verbrechen rational und jenseits der Kategorie des Bösen zu begreifen. 19 Unabhängig von der Frage der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis 20 muss sich die Kriminologie als rationale Wissenschaft zumindest das Ziel setzen, Kriminalität im gesellschaftlichen Zusammenhang zu verstehen und zu erklären. Welche Konsequenzen daraus dann normativ für die strafrechtliche Sanktionierung zu ziehen sind, ist eine kriminalpolitische Fragestellung.
16 17 18 19 20
Vgl. Roxin (2006), § 1 Rn. 13; Kunz/Singelnstein (2016), § 1 Rn. 3. Vgl. Sutherland (1939), 1; Gassin (2011), 3 ff.; Eisenberg/Kölbel (2017), § 1 Rn. 2. Vgl. Mergen (1995), 1; Meier (2016), § 1 Rn. 5. Vgl. z. B. Bock (2013), § 1 Rn. 19 ff. Vgl. Weber (1904).
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Petra Wittig
b)
Fragestellung
Im Folgenden werden einige der Kriminalitätstheorien kurz erläutert. Es stellt sich die Frage, ob sich anhand von ihnen auch ›das Böse‹, soweit man es mit bestimmten Formen kriminellen Verhaltens gleichsetzt, zumindest im Ansatz verstehen lässt oder ob hier ›die Rede vom Bösen‹ mehr leistet. Hierbei ist vorab einem möglichen Vorwurf zu begegnen: Das Bemühen um »Verstehen der gesellschaftlichen, familiären und situativen Gründe, die zu einer Straftat geführt haben«, beinhaltet – so zutreffend Haffke – »nicht die Entlassung des Individuums aus seiner Verantwortlichkeit, die Entlastung von seiner Schuld, seine Exkulpation«. 21 Es gilt eben nicht, dass alles verstehen alles verzeihen heißt. 22 Aber: »Verstehen dämpft das Bedürfnis nach Rache im Gewand der Strafe und fördert das Bemühen um rationale Antworten auf abweichendes Verhalten« 23 . c)
Bezugswissenschaften der Kriminologie
Zur Erklärung und zum Verständnis von Kriminalität finden sich zahlreiche Theorien, die häufig anhand der Bezugswissenschaften kategorisiert werden. 24 Bezugswissenschaften der Kriminologie sind vor allem Soziologie, (Sozial-)Psychologie, Psychiatrie und Biologie (heute insbesondere Neuro- und Evolutionsbiologie). 25 Die Wahl der Bezugswissenschaft beinhaltet bereits eine Festlegung, insbesondere die Wahl zwischen individualistischen und kollektivistischen Ansätzen. Im Folgenden werden beispielhaft einige besonders prägende Ausrichtungen der ätiologischen Kriminologie kurz skizziert und dann gefragt, ob das ›Böse‹ innerhalb des jeweiligen Theorierahmens Relevanz gewinnen kann. 26 Haffke (2010), 357, auch 363 f.; vgl. hierzu auch Günther (1998). Der Ausspruch: »Alles verstehen heißt alles verzeihen« wird der Französin Madame de Staël zugeschrieben, ist aber in seiner Verwendung schillernd; vgl. Haffke (2010), 355 f. 23 Haffke (2010), 357. 24 Vgl. z. B. Schwind (2016), 98 ff. 25 Vgl. Kunz/Singelnstein (2016), § 1 Rn. 4. 26 Hierbei handelt es sich notwendigerweise nur um eine der Verdeutlichung dienende Auswahl. Unberücksichtigt bleibt auch, dass heutzutage vielfach ein Mehrfaktorenansatz vertreten wird, vgl. hierzu z. B. den Überblick bei Cohen (1968); Göppinger (2008), § 2 Rn. 49 ff.; Schwind (2016), § 8 Rn. 21 ff. Ein Beispiel für einen multifaktoriellen Ansatz ist die Studie von Glueck/Glueck (1950). 21 22
210 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
d)
Biologische Kriminalitätstheorien (›das angeborene Böse‹)
Der italienische Nervenarzt Cesare Lombroso (1835–1909) gilt als Vater der wissenschaftlichen Kriminologie. 27 In seinem vom Darwinismus und wissenschaftlichem Positivismus beeinflussten Hauptwerk L’uomo delinquente von 1876 vertrat er die These, dass Straftäter einem Menschenaffen gleich auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe zurückgeblieben seien. 28 Nach Lombroso gibt es verschiedene Verbrechertypen, die schon an äußeren Merkmalen (stigmata), wie z. B. der Schädelform, zu erkennen seien. 29 Auch wenn Lombrosos Lehre vom geborenen Verbrecher in dieser Form nicht mehr vertreten wird, 30 wird heute noch nach der Bedeutung der Vererbung für die Entstehung von Kriminalität 31 gefragt. 32 Zudem rücken neurobiologische Einflussfaktoren in den Blickpunkt. 33 Für biologische Theorien basiert Kriminalität auf (neuro-)biologischen Defekten. Dabei mag »die schauerliche Faszination der Vorstellung, dass es Menschen mit ›bösen‹ Gehirnen oder Genen gibt, […] die Antriebsquelle der Biokriminologie« sein. 34 Durch die Charakterisierung des »geborenen Verbrechers« als »böse« 35 erfolgt eine (weitere) Stigmatisierung und Exklusion, die zudem keinen eigenständigen Erklärungsgehalt aufweist. Dies läuft im Ergebnis auf eine Maßregellogik hinaus, bei der die gefährlich-kranken-bösen Täter zur Sicherung der Allgemeinheit einzusperren sind. 36 Denn anders als bei vielen anderen tradierten kriminalätiologischen Theorien ist eine Rehabilitation und Resozialisierung des Täters nicht möglich, ihm wird Lernunfähigkeit unterstellt.
Vgl. Göppinger (2008), § 2 Rn. 12; Bock (2013), § 1 Rn. 21. Vgl. Lombroso (1894), 3. Teil, 537. 29 Vgl. Lombroso (1894), 2. Teil, 136 ff. 30 Entsprechende spätere Experimente der Nationalsozialisten im Dritten Reich fußten u. a. auch auf Lombrosos Theorien, siehe Schwind (2016), § 4 Rn. 21 m. w. N. 31 Vgl. Mednick/Volavka (1980), 85 ff.; Walters (1992), 595 ff.; vgl. auch den Überblick bei Schwind (2016), § 5 zu den biologischen Kriminalitätstheorien. 32 So findet sich in dem »Kriminologie-Lehrbuchklassiker« von Schwind (2016), § 5 Rn. 1 die Frage: »Gibt es einen biologischen Sitz des Bösen?«. 33 Vgl. Markowitsch/Siefer (2007), 170; Lück/Strüber/Roth (2005), 11 ff., 121 ff.; Überblick bei Kunz/Singelnstein (2016), § 7 Rn. 16 ff. 34 So kritisch Kunz/Singelnstein (2016), § 7 Rn. 26. 35 Darin liegt eine Herabstufung zu einem »malum physicum«, Noller (2017), 160. 36 Vgl. Kölbel (2016), 212. 27 28
211 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Petra Wittig
e)
Der psychologische und psychiatrische Erklärungsversuch (›das krankhaft Böse‹)
Psychologische und psychiatrische Theorien legen nahe, dass individuelle psychische Störungen insbesondere für bestimmte besonders schwerwiegende Verbrechen verantwortlich sind. Das Verbrechen wird als Ausdruck einer defizitären oder gestörten Persönlichkeit und damit einer geistig kranken (psycho- oder sozialpathologischen) Persönlichkeit betrachtet. 37 Diese Pathologisierung impliziert ebenfalls, dass der Täter nicht den freien Willen hat, zwischen dem Recht (dem Guten) und dem Unrecht (dem Bösen) zu entscheiden. Das Verbrechen wird nicht als Ausdruck menschlicher Freiheit betrachtet, sondern als der einer defizitären Persönlichkeit. Die Bezeichnung eines solchen Verhaltens als ›böse‹ erklärt darüber hinaus nichts. Handelt es sich bei Kriminalität um ein pathologisches Verhalten, steht die Heilung (Behandlung) im Vordergrund und nicht die Bestrafung. 38 Ein diesem »rehabilitatorischen Ideal« entsprechendes Strafrechtssystem ist »resozialisatorisch ausgerichtet«. 39 f)
Soziologische Erklärungsversuche (›das sozial Böse‹)
Soziologische Erklärungsversuche erklären Kriminalität als Folge vorhandener Sozialstrukturen. Durkheim behauptet in seiner Theorie der strukturell-funktionalen Bedingtheit von Kriminalität (auch Anomietheorie) beispielsweise, dass Kriminalität in funktionierenden Gesellschaften normal sei. 40 Ähnlich lautet auch die Übertragung der Anomietheorie durch Merton: Danach werden Menschen kriminell, weil sie bestimmte gesellschaftliche Ziele anerkennen, nicht aber die Mittel haben, diese auf legalem Weg zu verwirklichen. 41 Schließlich sucht sich, nach der Subkulturtheorie, ein Individuum, das nicht in Vgl. z. B. Cleckley (1988); siehe auch die international verbreiteten Klassifikationssysteme wie die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) sowie das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-10), hierzu aus kriminologischer Perspektive Kunz/Singelnstein (2016), § 8 Rn. 16 ff. 38 Vgl. Kölbel (2016), 206. Dies stellt im Übrigen das strafrechtliche Schuldprinzip (hierzu unten 3. b), welches auf der Annahme eines freien Willens basiert, infrage. 39 Kölbel (2016), 206 f. 40 Vgl. Durkheim (1992), 122, 130 f., 134. 41 Vgl. Merton (1968), 283 ff. Eine frühe Weiterentwicklung ist die Theorie der differenziellen Gelegenheiten von Cloward/Ohlin (1960). 37
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
die Gesellschaft integriert ist, eine eigene soziale Gruppe und passt sich an die Werte und Normen dieser Subkultur an. 42 Weichen die Normen dieser Subkultur von denen der vorherrschenden Gesellschaft ab und verhält sich ein Individuum entsprechend, so ist sein Verhalten als deviant oder kriminell zu beurteilen. 43 Die von Sellin entwickelte Kulturkonflikttheorie schließlich setzt bei der Feststellung an, dass Strafgesetze Ausdruck der in einer Gesellschaft dominierenden Mehrheitskultur sind, die Kultur der Mehrheitsgesellschaft sich aber nicht mit allen in der Gesellschaft vertretenen Wertvorstellungen deckt; dies kann dann zu abweichendem Verhalten führen. 44 Nach allen diesen soziologischen Theorien ist Kriminalität zumindest auch gesellschaftlich bedingt. Geändert werden müssen somit primär die gesellschaftlichen Bedingungen, die zur Kriminalität führen. Bei soziologischen Kriminalitätstheorien stehen Sozialpolitik und Sozialreform und nicht Strafe im Vordergrund. 45 Dies führt ebenfalls zu einer resozialisatorischen Ausrichtung des Strafrechtssystems. In diesem hat die Bezeichnung der individuellen Entscheidung für kriminelles Verhalten als ›böse‹ keinen Platz, weil es die wahren, nämlich gesellschaftlichen Ursachen kriminellen Verhaltens verschleiert. g)
Labeling Approach
Der Labeling Approach befasst sich in erster Linie mit Zuschreibung von Kriminalität durch förmliche strafrechtliche und informelle gesellschaftliche Reaktionen. Die Instanzen der Kriminalitätskontrolle werden als etikettierende, stigmatisierende und isolierende Institutionen angesehen. 46 Wer Macht hat, kann andere als kriminell, ja als böse etikettieren. Diese Etikettierung (das ›Labeling‹) erzeugt Angst, so dass Maßnahmen, die sich gegen ›die Bösen‹ richten, gerechtfertigt werden können, sogar wenn sie nicht schuldangemessen sind. Eben durch dieses Vorgehen gegen ›das Böse‹ wird aber wiederum ›Böses‹, im Sinne von das Vorurteil bestätigenden kriminellen Gegenhand-
42 43 44 45 46
Vgl. Cohen/Short (1968), 378 ff. Vgl. Cohen/Short (1968), 378 ff. Vgl. Sellin (1938). Vgl. Kölbel (2016), 206. Vgl. Tannenbaum (1938), 25 ff.; Williams (2012), 410 ff.; Becker (2014), 169 ff.
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Petra Wittig
lungen, hervorgerufen. 47 Tannenbaum fasst das so: »The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good« 48 . Im Rahmen der Kriminologie wird der Labeling Approach vor allem als macht- und herrschaftskritischer Denkansatz verstanden und findet seine Fortsetzung in der kritischen Kriminologie. Die Betonung von Zuschreibungsprozessen und die Hinwendung zu soziostrukturellen Zusammenhängen sind erst recht bei einer (stigmatisierenden) Etikettierung eines Täters als ›böse‹ zu bedenken. Darauf weist Dölling zutreffend hin: Der Begriff des Bösen ist weiterhin ein soziales Konstrukt, ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung, das unter den Gesichtspunkten von Macht und Herrschaft von Bedeutung ist. Wem es gelingt, sich selbst als gut und konkurrierende andere als böse darzustellen, der erlangt einen Machtvorteil […]. Mit einem Kampf gegen das Böse kann auch von Problemen abgelenkt werden, die sonst die Herrschenden in Schwierigkeiten bringen würden. 49
h)
Zusammenfassung
Für keine der genannten Theorien kann also die Rede vom Bösen sinnvollerweise mehr leisten als das, was die Theorien jeweils erfassen. Innerhalb der Kriminologie als empirischer Wissenschaft ist folglich das ›Böse‹ keine aussagekräftige Kategorie und nicht zu verwenden. Zudem sind die sozialen Folgen einer durch den Begriff des Bösen erfolgenden Stigmatisierung zu bedenken. »Prekär ist die Lage für diejenigen, die als Böse definiert werden. […]. Das Böse erweckt Abscheu und löst Furcht aus. […]. Zur Bekämpfung des Bösen erscheinen alle Mittel erlaubt. Das Vorgehen gegen das Böse verliert Maß und Grenzen. Der Kampf gegen das Böse erzeugt selbst Böses.« 50
47 48 49 50
Vgl. Dölling (2011), 1908 f. Tannenbaum (1938), 17. Dölling (2011), 1908. So zutreffend Dölling (2011), 1908 f.
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
3.3 Die strafrechtliche Perspektive a)
Gegenstand und Aufgabe des Strafrechts
Das Strafrecht ist im Gegensatz zur Kriminologie eine normative Wissenschaft. Es beinhaltet die Summe aller Vorschriften, die Voraussetzungen oder Folgen eines mit Strafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung bedrohten Verhaltens regeln. 51 Das heutige Strafrecht sieht, anders als das früher stark moralisch-religiös geprägte Strafrecht, seine Aufgabe in der Gewährleistung eines friedlichen und freien Zusammenlebens der Menschen durch Rechtsgüterschutz. 52 Es grenzt sich von der Moral ab. 53 Explizit knüpft keine Vorschrift des Strafrechts an den Begriff des Bösen an, der im Rahmen der normativen Wissenschaften vor allem in der Moralphilosophie und Theologie Tradition hat. 54 Annäherungen gibt es allerdings im Konzept des sogenannten Feindstrafrechts (Jakobs) 55 , wonach Individuen, die nicht mehr verlässlich Rechtstreue gewährleisten, nicht mehr als Personen behandelt werden, sondern als Feinde. 56 Gegen die von ihnen ausgehende Gefahr kann sich die Gesellschaft schützen, neben das Bürgerstrafrecht tritt ein Feindstrafrecht. 57 Dieses Konzept wird aber überwiegend abgelehnt, insbesondere weil es durch seine Entpersonalisierung der ›Feinde‹ Art. 1 Grundgesetz widerspricht, der allen Menschen, auch gefährlichen Straftätern, die Achtung ihrer Menschenwürde garantiert. 58 Maßgebliche Kategorien sind vielmehr Schuld für die Strafe (b.) und Gefährlichkeit für die sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung (c.)
Vgl. Roxin (2006), § 1 Rn. 1. Vgl. Roxin (2006), § 1 Rn. 7 ff. 53 Vgl. Roxin (2006), § 2 Rn. 17 ff. 54 Vgl. den Überblick bei Noller (2017) sowie die Beiträge in diesem Sammelband. 55 Vgl. Jakobs (1985), 751 ff.; (2004), 88 ff.; (2005), 839 ff.; (2010), 167 ff. 56 Vgl. Jakobs (2004), 90 ff.; (2005), 841 ff. 57 Feindstrafrecht findet sich nach Jakobs sowohl im materiellen Recht, z. B. die Vorschriften gegen die Bildung einer terroristischen Vereinigung nach §§ 129a f. StGB (Jakobs [2005], 840), als auch im prozessualen Recht, z. B. die Kontaktsperre nach §§ 31 ff. EGGVG (Jakobs [2004], 93). 58 Siehe nur Roxin (2006), § 2 Rn. 126 ff.; Heinrich (2009), 94 ff.; Dölling (2011), 1911. 51 52
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Petra Wittig
b)
Das Schuldprinzip
Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen 59 und nicht sein »SoSein«, sein Charakter oder seine rechtsfeindliche Gesinnung. 60 Die individuelle Schuld des Täters ist Grundlage und Maßstab der Strafe (nulla poena sine culpa). Das Schuldprinzip gilt heute als unantastbarer Grundsatz und zwingende Voraussetzung für die Legitimität staatlichen Strafens und genießt Verfassungsrang. Dieser ergibt sich aus dem Menschenbild des Grundgesetzes, der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz). 61 Auch ist das Schuldprinzip in § 46 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) in den Grundsätzen der Strafzumessung festgeschrieben: (1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
Schuldhaft handelt, so die deutsche Rechtsprechung, wer sich für das Unrecht entscheidet, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können. 62 Diese Idee von Schuld – auch genannt das Prinzip des Anders-Handeln-Könnens – setzt damit eine freie Willensbildung und -betätigung voraus, unabhängig von der empirischen Beweisbarkeit dieser Annahme 63 ; in den Worten des Bundesgerichtshofs: »Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden […].« 64 Gegenstand des Schuldvorwurfs ist immer eine konkrete Einzeltatschuld. Das moderne deutsche Strafrecht ist somit ein Tatstrafrecht und kein Täterstrafrecht. 65 Niemand darf allein deshalb bestraft 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. BVerfGE 133, 168, 198. Vgl. hierzu nur Roxin (2006), § 19 Rn. 23 ff. Vgl. BVerfGE 133, 168, 198. Vgl. BGHSt 2, 194, 200. Zur Kritik dieses Schuldverständnisses siehe nur Roxin (2006), § 19 Rn. 21 ff. BGHSt 2, 194, 198. Vgl. Roxin (2006), § 6 Rn. 1 f.
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
werden, weil er ›böse‹ ist, sondern nur weil und soweit er schuldhaft gehandelt hat. Wenn sich ein Täter frei für das Unrecht entscheidet, handelt er nach dieser normativen Vorgabe schuldhaft. Er kann bestraft werden. Kann der Täter sich nicht frei für oder gegen das Unrecht entscheiden, handelt er ohne Schuld und kann nicht bestraft werden. Hierzu lässt sich beispielhaft § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen behandelt, heranziehen: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Wenn ein Täter nicht schuldhaft handelt, kommen aber Maßregeln der Besserung oder Sicherung gem. §§ 61 ff. StGB in Betracht, die nicht an die Schuld, sondern an die künftige Gefährlichkeit des Täters anknüpfen.
c)
Maßregeln der Besserung und Sicherung
aa) Zielsetzung und Voraussetzungen Ist ein Täter fortdauernd gefährlich, kann unter engen Voraussetzungen eine Maßregel der Besserung oder Sicherung angeordnet werden. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind anders als die Strafe nicht vergangenheits-, sondern zukunftsbezogen. Sie sind in §§ 61 ff. StGB normiert und regeln z. B. die Unterbringung in der Psychiatrie (§ 62 StGB) und die Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB). Zweck aller Maßregeln ist es, gefährliche Täter zu bessern und die Allgemeinheit zu schützen, also die Vorbeugung künftiger Straftaten. 66 Anknüpfungspunkt ist bei allen Maßregeln der Besserung und Sicherung die künftige Gefährlichkeit des Täters (und anders als bei der Strafe nicht die Schuld). Ein Täter ist im Sinne des Maßregelrechts gefährlich, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, wobei die bloße Möglichkeit der Wiederholung nicht ausreicht, sondern ein »überwiegender Grad der Möglichkeit« einer Wiederholung erforderlich sein soll. 67 Es ist da66 67
Vgl. Kaspar (2016), Vor §§ 61 ff. Rn. 10; Schöch (2008), Vor § 61 Rn. 29. Vgl. Schöch (2008), Vor § 61 Rn. 57. Zu beachten ist aber, dass der Grad der Wie-
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mit entscheidend, ob aufgrund einer Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat zu erwarten ist, dass er nach der Strafverbüßung die Freiheit zu weiteren Straftaten missbrauchen wird. Bei der künftigen Gefährlichkeit handelt es sich somit um eine Zukunftsprognose. 68 Zu beachten ist bei allen Maßregeln der Besserung und Sicherung der Grundsatz der Subsidiarität gegenüber weniger einschneidenden Maßnahmen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. § 62 StGB). 69 Bei § 63 StGB, der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, ist unter anderem Voraussetzung, dass der Täter eine rechtswidrige Tat im Zustand der (verminderten) Schuldfähigkeit (§§ 20 f. StGB) begangen hat. Bei diesem den Betroffenen außerordentlich belastenden Eingriff in seine Freiheitsrechte geht es auch um die (Zwangs-)Behandlung kranker Straftäter. 70 Dagegen geht es bei der Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) vorrangig um die Sicherung besonders gefährlicher Täter durch Freiheitsentzug. Bekannt geworden ist der Ausspruch des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder in der Bild am Sonntag, »wegsperren – und zwar für immer« 71 , in dem sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Sicherungsverwahrung widerspiegelt. Die Sicherungsverwahrung ist jedoch die »letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik« 72 . bb) Hang zu erheblichen Straftaten als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung Für die Sicherungsverwahrung ist neben dem Vorliegen bestimmter besonders schwerer Anlasstaten und bestimmter Vorverurteilungen Voraussetzung, dass ein »Hang« zu erheblichen Straftaten besteht. Den gesetzlichen Anknüpfungspunkt dafür liefert § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StGB: […] und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, derholungswahrscheinlichkeit von Maßregel zu Maßregel wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Voraussetzungen der Anordnung variiert. 68 Zu den Grundlagen der Kriminalprognose Göppinger (2008), § 14; Kaspar (2016), Vor §§ 61 ff. Rn. 34 ff. 69 Überblick bei Schöch (2008), Vor § 61 Rn. 74 ff.; Kaspar (2016), Vor §§ 61 ff. Rn. 22 ff. 70 Vgl. Kaspar (2016), § 63 Rn. 1 f. 71 Spiegel Online-Redaktion (2001). 72 BGHSt 30, 220, 222.
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Das Böse aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts
durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Hangtäter ist demnach »derjenige, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist, oder der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.« 73 Anders als bei der Gefährlichkeit, die eine Prognose darstellt, bei der neben der Persönlichkeit auch bestimmte äußere Faktoren einzubeziehen sind, handelt es sich bei Hang um eine »Tätereigenschaft, eine individuelle Disposition zur Begehung von Straftaten« 74 . Das impliziert, dass sich gerade bei der Sicherungsverwahrung Tendenzen einer Exklusionslogik im Hinblick auf besonders gefährliche Verbrecher zeigen, also auf solche, die als ›böse‹ etikettiert werden.
4.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bestimmte besonders gravierende Straftaten, wie z. B. Terrorakte, als böse zu bezeichnen, ist verbreitet und entspricht einem allgemeinen Bedürfnis, diese besonders zu verurteilen. Auch im wissenschaftlichen Diskurs (Politik- und Sozialwissenschaften, Völker[straf]recht, Kriminologie, Strafrecht) ist in neuerer Zeit eine Tendenz dahingehend zu erkennen, kriminelles Verhalten schlicht als ›böse‹ zu bezeichnen. Garland spricht in diesem Zusammenhang von »criminology of the other« 75 . Die bloße Bezeichnung ›böse‹ für kriminelles Verhalten enthält keinen rationalen Erklärungsgehalt, kann aber Auswirkungen auf den gesellschaftlichen, gar juristischen Umgang mit solchen Taten haben. Deshalb sollte das stigmatisierende und exkludierende Label ›böse‹ keinen Platz im kriminologischen Diskurs über kriminelles Verhalten allgemein oder im konkreten Einzelfall haben. Auch im Strafrecht ist ›das Böse‹ keine Kategorie, die herangezogen werden darf, um zu beurteilen, ob ein Verhalten sanktioniert werden kann. Dies gilt sowohl für eine Bestrafung als auch für die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung. Im ersten 73 74 75
BGH NStZ 1995, 178; BGH NStZ-RR 2014, 272. Rissing-van Saan/Peglau (2008), § 66 Rn. 138. Garland (1996), 461.
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Petra Wittig
Fall ist ein tatbezogenes schuldhaftes Verhalten erforderlich, im zweiten Fall muss der Täter künftig gefährlich sein. Gerade in dem Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere bei der Sicherungsverwahrung, finden sich jedoch Ansatzpunkte für eine täterorientierte Betrachtung, die bei besonders gefährlichen Tätern, also gerade solchen, die etwas besonders Unbegreifliches getan haben, zur Exklusion aus der Gesellschaft führen kann. Zumindest insoweit kommt das Strafrecht dem gesellschaftlichen Bedürfnis entgegen, bestimmte Tätergruppen (›die Bösen‹) zu stigmatisieren und aus der Gesellschaft auszuschließen (»wegzusperren«), auch wenn es explizit um Krankheit, Gefährlichkeit und Prävention geht. Was die Bestrafung eines Verbrechens, das möglicherweise im öffentlichen Diskurs als ›böse‹ bezeichnet wird, grundsätzlich aus der Perspektive des Strafrechts angeht, könnte man im Anschluss an Hannah Arendt aber auch sagen: Wenn das Böse banal ist, dann kann es auch die Strafe sein. Eine Kriminalpolitik, die sich als Bekämpfung des Bösen versteht, neigt dazu, Verantwortung ohne Verstehen der situativen und gesellschaftlichen Gründe für das kriminelle Verhalten zuzuschreiben. 76 Dem ist eine aufgeklärte Kriminalpolitik entgegen zu stellen, die sich um ein Verstehen der Ursachen von Kriminalität bemüht, ohne jedoch auf eine legitime Zuschreibung gesellschaftlicher Verantwortung auf Grundlage der im positiven Recht normierten Voraussetzungen, insbesondere des Schuldprinzips, zu verzichten.
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76
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Das Böse aus psychiatrischer Perspektive Nahlah Saimeh
1.
Das Böse und die Psychiatrie
Die Psychiatrie kennt den Begriff des Bösen nicht und interessanterweise auch die Forensische Psychiatrie kennt ihn nicht. Als forensische Psychiaterin befasse ich mich sozusagen professionell mit Mord, Totschlag, Raub und Vergewaltigung, arbeite aber nicht mit dem Begriff des Bösen. Ich kann zu diesem Themenkomplex nur etwas sagen unter dem Mikroskop einer déformation professionelle, das heißt, ich bilde als Forensische Psychiaterin nur eine Facette zu diesem ganzen Thema ab. Ich glaube auch offen gestanden, dass weder die juristischen Wissenschaften noch die Psychiatrie noch die Psychologie letztlich wirklich auf einer ganz tiefen und existenziellen Ebene etwas über das Wesen des Bösen sagen kann. Mir scheint, dass dies den Fakultäten der Theologie und der Philosophie vorbehalten ist. Vielleicht muss man auch einfach eine jahrzehntelange Meditationspraxis haben, um hinter die Gründe und Ursprünge des Bösen zu kommen. Ich erlaube mir hier als Mensch und nicht als Psychiaterin die Anmerkung, dass mir das Bild von der Vertreibung aus dem Paradies als eine sehr komplexe und sehr weise Metapher erscheint. Diese Metapher verweist auf einen Ur-Zustand allen Seins, in dem alles mit allem verbunden, alles eine einzige große Einheit und Wahrheit ist. Man muss nicht einmal Christ sein, um der Metapher etwas abzugewinnen. Das Übel fängt damit an, dass der Baum der Erkenntnis gewissermaßen für die Zerteilung dieser Einheit steht, für die analytische Fraktionierung. Nun werden wir, im landläufigen Sinne verstanden, Erkenntnis sicherlich für absolut wichtig halten. Das ist sie auch und gerade in diesen politisch irritierten Zeiten und der Verbreitung von jeder Menge Unsinn und dem Zerfallen von Gesellschaften entlang der bestehenden Bildungsgräben ist Erkenntnis im Sinne von Wissensvermittlung, Befähigung zum kritischen Denken und Bildung notwendig und hilft im 224 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
gesellschaftlichen Sinne, uns vor den Einflüssen böser Absichten zu schützen. Auf dieser angewandten Ebene des Alltagsverständnisses meine ich den Begriff der Erkenntnis hier nicht. Ich meine ihn auf einer tieferen spirituellen Ebene. Wir sind in unserem Leben, in unserer Existenz getrennt von der Welt. Wir sind abgekoppelt von dem großen Ganzen, und je isolierter wir uns betrachten und empfinden, desto größer ist die Anfälligkeit für Gier, falschen Ehrgeiz und für die Bereitschaft, den Anderen und das Andere nicht als Varianten ein und desselben Prinzips zu verstehen, dem wir alle angehören. Kurzum bin ich der Ansicht: Das Böse resultiert aus der Erfahrung des Getrenntseins. Da das aber für uns alle gilt und nicht jeder Böses tut, wenden wir uns nun wieder dem Individuum aus der Sicht der Forensischen Psychiatrie zu, und weil es mir wichtig ist, möchte ich betonen, dass jede Disziplin ihre eigene Perspektive, ihre eigenen Facetten in diesen Diskurs einbringt. Es ist klar ersichtlich, dass viele Disziplinen mit dieser Thematik irgendwie befasst sind, ohne dass – und da bin ich sehr apodiktisch – eine einzige Disziplin sich anheischig machen dürfte, den Stein der Weisen diesbezüglich gefunden zu haben. Auch die Soziologie bildet nur eine Facette, nur eine Teilgruppe dessen ab. Die forensische Psychiatrie ist ein Spezialgebiet der Psychiatrie. Sie befasst sich mit Normenverstößen, die strafrechtliche Relevanz haben, im Zusammenspiel mit der Untersuchung von Persönlichkeit und Psychopathologie. Das heißt, wir befassen uns immer mit dem Einzeltäter, also mit einer Person, die etwas getan hat, was strafrechtlich relevant sein soll, also ein Delikt darstellt. Und wir untersuchen, was der Täter für eine Persönlichkeit ist und wie er zu dem Menschen geworden ist, der er jetzt ist, der diese Tat begangen hat oder begangen haben soll. Wir blicken nur auf das Individuum und seinen Werdegang, seine Entwicklung, seine Struktur. Was macht ihn aus, was macht ihn aus vom Temperament, vom Charakter, von seinen Einstellungen, von seiner Impulskontrolle, von seiner Art der Beziehungsaufnahme zu anderen Menschen, von seinem Denken, seinem Erleben, seiner Innenwelt, sofern er darüber entsprechend Auskunft geben kann. Insofern haben wir auch da nur eine ganz kleine Teilfacette, die das abbildet, und auch wir können natürlich nicht die Ursache benennen, warum ein Mensch so ist. Den eigentlichen Grund können wir natürlich auch nicht benennen. Wenn zum Beispiel ein Mensch die unkorrigierbare und realitätsferne Überzeugung hat, seine Mutter habe ihn seit dem Kleinkindalter vergiftet und sie tue das 225 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Nahlah Saimeh
immer noch, und er spürt, wie das Gift in den Blutbahnen zirkuliert und sich seines Körpers bemächtigt, und er beschließt, dass die Mutter getötet werden muss, dann kann man aus forensisch-psychiatrischer Sicht ziemlich genau sagen, dass dieser Mensch an einer paranoid halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidet und die Tat eine sogenannte Symptomtat ist. Kausal hängt sie zusammen mit den nicht mehr realitätsgerechten Denkinhalten krankhafter Ursache. Man kann auch sagen, die Schizophrenie hat eine gewisse genetische Prädisposition. Man kommt mit einer genetischen Prädisposition für die Entwicklung dieser Erkrankung auf die Welt. Man kann sagen, die Schizophrenie ist eine Hirnstoffwechselstörung, wo viele Transmittersysteme etwas aus dem Gleichgewicht geraten sind. Man findet auf der neurobiologischen Ebene Besonderheiten in der mikroskopischen Zellstruktur in bestimmten Gehirnarealen, die für die Informationsverarbeitung zuständig sind. Das heißt, man kann sagen, die Ursache für diese absurden Gedanken ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn. Auch das bleibt aber letztendlich natürlich eine oberflächliche, deskriptive Ebene. Schizophrenie kommt in allen Gesellschaftsgruppen weltweit vor. Ein Prozent der Menschen erkranken daran. Das kann man nicht begründen. Die forensische Psychiatrie befasst sich mit der Diagnostik der Schuldfähigkeit und Prognose, also dem Erstellen von Risikoprofilen und dem Risikomanagement von Menschen, die Straftaten begangen haben. Das sogenannte Böse aus der forensisch-psychiatrischen Perspektive beschreibt eindeutig einen ganz kleinen Ausschnitt, eine ganz kleine Facette in diesem ganzen Themenkomplex. Sie betrachtet das Böse, das böse Tun unter dem Gesichtspunkt einer Informationsverarbeitungsstörung der Realitätsverzerrung, der Impulskontrollstörung, der Enthemmungsphänomene, der sexuellen Präferenzstörungen, der Persönlichkeitsstruktur, Temperamentseigenschaften und Charaktereigenschaften wie Gewaltaffinität, Sensation-Seeking, Intoxikationszuständen, natürlich kognitiven Überzeugungen. Wenn wir eine Person beschreiben, einen Straftäter beschreiben, um zu sagen, was hat denn in seiner Persönlichkeit, in seiner Person dazu geführt oder was hängt damit zusammen, dass er sich für eine Straftat entschieden hat. Das Libet-Experiment, das vor einigen Jahren die Diskurse bestimmte zum Thema Schuld und Vorwerfbarkeit ist mittlerweile widerlegt. In diesem Zusammenhang will ich zunächst einige ganz kurze Fallskizzen nennen, um zu veranschaulichen, womit sich die forensische Psychiatrie befasst. Ich will danach ein paar Störungs226 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
bilder benennen, die durchaus einen gewissen Zusammenhang mit Kriminalität haben.
2.
Störungsbilder der Psychiatrie
Der junge Mann, der seine Mutter erschlägt, weil er meint, dass die Mutter ihn vergiftet hat, und der seine Wohnung verhängt und mit Alufolie auskleidet, weil er meint, dass möglicherweise das Gift durch die Strahlungen, die von der Alufolie ausgehen, unschädlich gemacht werden könnte, ist offensichtlich psychisch krank im engeren Sinne. Wahrscheinlich ist dieser Mann nicht schuldfähig. Die forensische Psychiatrie bewegt sich in der Schnittmenge zwischen psychiatrischer Diagnostik und normativen Strafrechtswissenschaften. Sie bewegt sich im Feld der normativen Ansprechbarkeit, das heißt ein forensischer Psychiater muss beurteilen können, ob jemand so psychisch krank ist, dass er nicht mehr normativ ansprechbar ist, oder er ziemlich unauffällig ist oder ist er vielleicht persönlichkeitsakzentuiert ist. Das zweispurige Strafrecht legt an die normative Ansprechbarkeit eine sehr hohe Hürde an. Als forensischer Psychiater würde man seinen Beruf falsch verstehen, wenn man meint, man müsse über jeden Straftäter irgendeine psychiatrische Diagnose legen und sagen, eigentlich ist das ein armer Mensch, der kann nichts dafür. Die meisten Menschen sind normativ ansprechbar, ob sie es dann tun, ob sie sich danach verhalten oder nicht, ist eine andere Frage. Es hieße die Forensische Psychiatrie und überhaupt die Psychiatrie falsch zu verstehen, wenn man sagt, Forensische Psychiater haben Verständnis für das Böse oder Verständnis für Straftaten. Wenn also Verständnis eine Bagatellisierung oder Legitimation bedeutete, dann müsste man sagen, dass das sicher die falsche Herangehensweise wäre. Zunächst ein paar Fallvignetten. Fall 1. Ein Mann verbringt die ersten Jahre seines Erwachsenenlebens in Haft wegen Serienvergewaltigung. Er wohnt auf einem relativ entlegenen Gehöft mit seiner damaligen Frau. Im übrigen kontaktiert er eine ganze Reihe von sozial verwahrlosten und emotional vernachlässigten Jugendlichen männlichen und weiblichen Geschlechts, und er lädt sie zu sogenannten Sexparties auf seinem Gehöft ein. Er lebt wirtschaftlich von einer florierenden Forellenzucht, so viel zum bürgerlichen Setting. Er zwingt diese Jugendlichen unter Waffengewalt, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen, mit ihm vorzunehmen, aber auch untereinan227 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Nahlah Saimeh
der vorzunehmen. Aufgrund dieser Straftaten wird der Mann zu acht Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis beginnt er sich für Segeltörns zu interessieren. Er bestellt die Zeitschrift »Yacht«, also ein Hochglanzmagazin, und er bestellt sich entsprechend Literatur zum Thema »Segeln«. Irgendwann wird er aus der Haft entlassen. Er nimmt sich vor, einen weiten Segeltörn, eine Weltumsegelung zu machen. In deutschen Justizvollzugsanstalten ist zwar das Beziehen von Yacht-Zeitschriften möglich, aber dass Erwerben eines Segelschiffs nicht. Er hat keinen Segelschein, das macht aber nichts, weil er in seiner Persönlichkeit so aufgestellt ist, dass er sich sagt: »Wofür einen Segelschein, segeln ist ganz easy, da fahre ich mal als Tourist an die italienische Riviera und gucke mal, welche Segelboote dort liegen, eins davon wird schon für mich passen.« So fährt er an die Riviera und sieht sich alle möglichen Boote an und fragt auch Touristen und Gäste, ob er einmal mit ihnen aufs Meer darf. Die meisten lehnen dankend ab, aber eine Familie sagt zu, weil es mittlerweile ein gesetzter Mann in etwas reiferen Jahren ist. Sie nehmen ihn mit auf See, und von dieser Familie bleibt nichts übrig. Man kann später rekonstruieren, dass die Eltern erschossen wurden. Was man rekonstruieren kann ist, dass der Mann mit dem 13-jährigen Mädchen der Eltern, welches im Übrigen perfekt in sein sexuelles Muster passte, wieder an Land gegangen ist. Am nächsten Tag war auch dieses Kind verschwunden, und er räumt freimütig ein, dass er auch dieses Kind getötet hat. Jetzt kann man sich zunächst einmal fragen, warum er das Kind überhaupt mit an Land gebracht hat. Die Antwort darauf fällt nicht schwer, weil das Kind in seinen Augen für den nächsten Segeltörn noch eine gewisse sexuelle Geselligkeit besaß. Wenn es dann zu viel geworden wäre, hätte man es natürlich auch auf hoher See entsprechend beseitigen können. Die Eltern waren in seinen Augen jedoch zu gar nichts nütze, außer ihm das Boot zu überlassen. Insofern mussten sie sofort liquidiert werden. Der Mann sitzt in Sicherungsverwahrung. Das ist eine ziemlich böse Tat, das ist abgrundtief böse. Die Frage, ob er sich dafür entscheiden oder nicht entscheiden konnte, stellt sich eigentlich im engeren Sinne nicht, denn es war ein völlig zweckrationales Handeln. Im Rahmen der Anhörung bei der Fortdauerentscheidung zur Sicherungsverwahrung und Gefährlichkeitsprognose hat er damals gesagt: »Ja was hätte ich denn tun sollen, ich hatte ja kein Geld für ein Boot.« Darauf habe ich ihm in der Anhörung gesagt: »Na ja, so geht es uns ja allen – meistens ist der Geldbeutel kleiner als die Wünsche. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder arbeiten und sparen, oder aber sich 228 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
die Wünsche kleiner denken.« So etwas Absurdes hatte der Mann wohl noch nie gehört, er sah mich erstaunt an und wusste nichts mehr zu sagen. Eine solche Überlegung, wie ich sie darlegte, war für ihn gar nicht zu denken. Er meinte schließlich, das ganze sei sowieso alles ein Unfall gewesen, weil er eine so große Waffe an Bord gehabt habe, dass er erwartet hätte, dass man ihm aufgrund dieses eindrucksvollen Gerätes das Boot freiwillig überlassen würde. Der Familienvater sei so dämlich gewesen, ihn anzugreifen. Leider hätte er da natürlich schießen müssen. Den Rest brauche ich nicht weiter auszuführen, aber dies ist eine Fallvignette, die Aufschluss geben könnte zur Frage nach den Fähigkeiten zur bürgerlichen Integration. Fallvignette 2: Ein Metzger, ein Mann aus einer Familie, in der sein Vater schwer gewalttätig und ein schwerer Alkoholiker war, alle Söhne in der Kindheit schwer misshandelt wurden und alle Söhne ebenso wie er das Metzgereigewerbe erlernt haben. Einer dieser Söhne war lange Zeit Kopfschlachter. Das ist eine Tätigkeit, die im Akkord vonstatten geht, und er hat 60 Schweine in 60 Minuten zerlegt. Dieser Mann geht eines Tages zu seiner Nachbarin, einer älteren Frau, ebenfalls Alkoholikerin. Er trinkt augenscheinlich bei ihr und raucht eine Zigarette. Dann ruft er abends die Feuerwehr an und sagt, er habe die Nachbarin lange Zeit nicht mehr gesehen. Es sei kein Licht in der Wohnung und sie sei auch nicht am Fenster, und dies sei ganz untypisch und er mache sich deswegen viele Sorgen um seine Nachbarin. Man möge doch bitte vorbeikommen. Die Feuerwehr kommt daraufhin, und er leitet die Helfer noch bis an die Wohnungstür dieser Nachbarin. Dann findet man folgendes Bild vor: Eine alte Frau, der Darmschlingen um den hals hängen und die zwar eingetrübt, aber noch ansprechbar ist. Einer der Helfer fragt sie, ob sie sich umbringen wollte. Doch sie verneint, und das ist auch das Letzte, was sie sagt. Die Darmschlingen waren ihr durch den Analkanal entfernt worden. Der Täter hatte die Frau durch den Anus ausgeweidet und ihr dann die Darmschlingen wie einen Schal 4,25 Meter um den Hals gelegt. Hier kann man nun auf die schwierige Kindheit und Gewalt verweisen. Sicherlich, aber der Täter hatte eine stehende Redewendung mit seinen Saufkumpanen. Wenn er in seiner Freizeit nicht gearbeitet hat, hat er substanziell viel getrunken, und wenn er betrunken war, war er sehr aggressiv. Wenn er dann beim Kartenspiel den Eindruck hatte, beim Kartenspiel übervorteilt zu werden, dann verwendete er diese stehende Redewendung: »Pass auf, ich ziehe dir das Geschlinge aus dem Arsch und häng es dir um den Hals.« 229 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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Fall 3. Eine Frau arbeitet an der Tankstelle, verheiratet, eigentlich ganz seriös verheiratet. Sie lernt in ihrem Fitnessstudio einen jungen Mann kennen, gestählter Körper diverse Piercings, sonnenbankgebräunt, smarter Typ. Er lädt sie ein auf Cocktails, und sie fängt an, sich mit ihm zu verabreden. Sie gehen in Discos mit Türstehern, die auch so bereit sind wie er, denen er freundschaftlich auf die Schulter haut und ihr den Eindruck vermittelt, er sei in exklusiven Kreisen unterwegs. Sie verliebt sich in ihn und er sich auch in sie. Sie möchte sich scheiden lassen, aber sie möchte eigentlich die Auseinandersetzung mit ihrem Mann vermeiden. Am schönsten wäre natürlich die Lösung, wenn man eigentlich gar nichts dafür tun müsste, sondern wenn ihrem Mann wie von Geisterhand gewissermaßen etwas Schreckliches zustößt und er einfach gar nicht mehr da wäre. Nun ist es doch so, dass den allermeisten Menschen glücklicherweise nicht so ganz von jetzt auf gleich etwas Schreckliches zustößt, so dass für wenig Geld ein randständig Krimineller angeheuert wird, der für ein paar tausend Euro diesen Mann liquidieren soll. Schließlich wird der Mann auf eine ziemlich grausame Art und Weise liquidiert, was auch durchaus mit damit zusammenhängt, dass derjenige, der dafür das Geld bekommen hat, dies bisher nicht gemacht hatte, relativ ungeübt war. Wir haben es hier also mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tun, mit und ohne Vorstrafen. Der eine ein Serienvergewaltiger, die anderen überhaupt nicht vorbestraft. Das sind die Fälle, die die Forensische Psychiatrie mehr oder minder jeden Tag beschäftigen. Wir fragen uns bezüglich der normativen Ansprechbarkeit, ob jemand die Tat auch hätte unterlassen können. Wir kommen relativ schnell dazu, bei dem jungen Mann mit der Mutter zu sagen, er war im Rahmen seines wahnhaften Denkens nicht mehr in der Lage, die kopernikanische Wende zu vollziehen und zu erkennen, dass er vielleicht doch psychisch krank sei und das Gift nur verspüre, das aber in Wirklichkeit gar nicht existiert. Sein Wahn dürfte auf eine Stoffwechselstörung im Gehirn zurückzuführen sein. Diese verändert das Denken und Fühlen sowie die soziale Wahrnehmung, was dazu führte, dass sich der junge Mann entschloss, seine Mutter zu töten. Der Mann war schuldunfähig, normativ nicht mehr ansprechbar. Bei den anderen Fällen verhält es sich aber anders. Man konnte bei dem Fall des Metzgers rekonstruieren, dass er zum Tatzeitpunkt nicht betrunken gewesen sein kann. Folglich war er für seine Tat voll schuldfähig. Auch die 230 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
junge Frau hätte ihren Ehemann leben lassen können und sich vielleicht für ein konventionelles Scheidungsverfahren entscheiden können. Hätte der Herr mit dem Segeltörn das Ehepaar umbringen müssen? Sicherlich nicht.
3.
Persönlichkeitsstörungen und die Frage nach der Schuld
Welche psychischen Störungen haben überhaupt Relevanz für das Begehen von Straftaten, und welche Störungen bleiben unterhalb der Schwelle der Dekulpationsfähigkeit? Eine psychische Störung oder eine Persönlichkeitsstörung, insbesondere eine schwere andere seelische Abartigkeit nach § 20 StGB zu diagnostizieren, heißt noch längst nicht, dass jemand vermindert schuldfähig oder gar schuldunfähig ist. Wir kennen im § 20 StGB vier Eingangsmerkmale: die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn und schwere andere seelische Abartigkeit. Diese vier Eingangsmerkmale sind überhaupt die Grundvoraussetzungen dafür, die Schuldfähigkeit zu prüfen. Wenn ich keines der vier Eingangsmerkmale vorfinde, dann muss ich auch nicht weiter prüfen. Dann ist jemand per definitionem normativ ansprechbar. Menschen sind im Allgemeinen gesund und tun Dinge, die sie nicht tun sollen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Relevant wird die Überprüfung der Schuldfähigkeit bei so klassischen schweren psychischen Erkrankungen wie der Schizophrenie, die mit einem Verlust der Realitätskontrolle, Verschiebung, Effektregulation und Verflachung der Persönlichkeit zu tun haben. Rund die Hälfte aller Patienten in einer Forensik leidet an einer schizophrenen Psychose und hat Taten unter dem Einfluss von Wahnerleben und Sinnestäuschungen begangen. Weitere 15 Prozent der Patienten leiden an einer gravierenden intellektuellen Leistungsminderung. Mit ihrer intellektuellen Einbuße gehen auch Verzögerungen und Reifungsdefizite in der Persönlichkeitsentwicklung einher. Typische Delikte von Menschen mit dem sogenannten Schwachsinn sind Brandstiftungsdelikte und Sexualdelikte an Kindern. Letzteres kann man sich auch relativ leicht erklären, weil diese Menschen ein kindliches Gemüt haben, aber gleichzeitig eine biologische Reife. Daher erleben sie Kinder als sozial adäquate Ansprechpartner. Kinder sind natürlich keine sexuell adäquaten Ansprechpartner. Aber sie stellen für den Täter eine Möglichkeit dar, Sexualität zu leben und auch dort 231 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
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eine dominante Position einzunehmen und führend zu sein, was sie eben im allgemeinen Kontakt mit anderen Erwachsenen nicht sind. Bei der juristischen Kategorie der schweren anderen seelischen Abartigkeit gibt es vor allem zwei wichtige Diagnosen: Persönlichkeitsstörungen und die sexuellen Präferenzstörungen. Bei den Persönlichkeitsstörungen handelt es sich insbesondere um sogenannte ClusterB-Störungen: narzisstische Persönlichkeit, antisoziale Persönlichkeit und die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Aber sie führen nicht zur Schuldunfähigkeit und sie führen auch im Regelfall nicht zur verminderten Schuldfähigkeit. Sie führen nur dann zur verminderten Schuldfähigkeit, wenn das Ausmaß der Persönlichkeitsstörung in den sozialen bzw. psychosozialen Funktionseinschränkungen einer Psychose vergleichbar ist. Dieser Maßstab gilt auch beim Vorliegen von sexuellen Präferenzstörungen. Nur wenn sie so gravierend sind, dass sie das normale Leben und auch die Beziehung zu anderen Menschen negativ beeinflussen, kommt eine Schuldminderung bei einem Sexualdelikt in Betracht. Die normale Persönlichkeit erfordert ein kohärentes Gefühl für das Selbst, einen stabilen Selbstwert und vor allen Dingen auch ein Selbstwert-Erleben, das einigermaßen mit der Realität gekoppelt und nicht grandios ist. Genussfähigkeit, ein breites Spektrum der affektiven Ansprechbarkeit, die Fähigkeit zur Normen- und Werte-Internalisierung, die Persönlichkeitsreife, Normen und Werte zu internalisieren, auch dann, wenn eine Fremdaufsicht nicht mehr gegeben ist, Affektkontrolle und Impulskontrolle, stabile Beziehungen und intime Beziehungen eingehen können, Intimität erleben können, das alles macht eine normale, eine nicht gestörte Persönlichkeit aus. Eine Persönlichkeitsstörung liegt grundsätzlich erst dann vor, wenn all diese Faktoren seit der Jugendzeit in verschiedenen psychosozialen Funktionsbereichen – Schule, Beruf, Freundeskreis, Interessenspflege, Berufsausbildung, Einordnung in Hierarchien, Partnerschaften – gestört sind. Wenn man nachweisen kann, dass verschiedene Aspekte des Lebens nicht richtig funktionieren, weil da eine Störung ist, erst dann haben wir überhaupt die Schwelle überschritten, um von einer Persönlichkeitsstörung sprechen zu können. Vorher sprechen wir von einer Persönlichkeitsakzentuierung. Es gibt ein schönes Zitat von Otto Kernberg, einem deutschamerikanischen Psychoanalytiker, der sich sehr intensiv mit dem
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Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
Phänomen des Narzissmus, den psychodynamischen Bedingungen des Nazismus und der Borderline-Störung befasst hat: Die echte antisoziale Persönlichkeit macht den Eindruck, als identifiziere sie sich mit einer primitiven, rücksichtslosen, vollkommen amoralischen Macht, die nur durch die Manifestation ungemilderter Aggression Befriedigung erlangt und weder Rationalisierung ihres Verhaltens noch Bindung an irgendeinen konsistenten Wert außer der Ausübung solcher Macht braucht. 1
Das ist ein Satz, der die destruktive extremistische Grundhaltung etwa von Terroristen genau trifft, aber auch den Mafioso, den professionellen Zuhälter. Diese Charakterisierung passt auf Menschen mit einer kernkriminellen Identitätsbildung. Zu der Sozialität gehört eine Über-Ich-Störung, also die mangelnde Fähigkeit der Normen- und Werte-Internalisierung, ein Empathie-Mangel, die fehlende Reue, das fehlende Schuldgefühl, die Legitimation von Gewalt, mitunter auch durchaus die Affinität zur Gewalt, die Bindungslosigkeit, die Unfähigkeit, stabile Objekt-Beziehungen zu pflegen. Auf der dynamischen Ebene ist es so, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die eigentlich eine gestörte Autonomie-Entwicklung haben, die häufig von ihrer Persönlichkeit her eher ein depressives Erleben haben, was sie aber durch ihre Dissozialität eigentlich ständig abwehren. Platt gesprochen könnte man sagen: Kriminalität als Ersatz für emotionale Mangel-Erfahrung. Böse Objekte, Feindbilder sind notwendig zur Stabilisierung und zum Schutz der inneren Leere. Im Grunde läuft die Dissozialität auf eine schwere narzisstische Störung hinaus. Ferner gibt es noch einen Sonderbereich, den Psychopathen. Dies betrifft den Mann in Fallvignette 1. Psychopathen sind eine kleine Untergruppe hochgradig antisozialer Personen, die durch große trickreiche Manipulationsfähigkeit, durch einen oberflächlichen Charme, durch pathologisches Lügen, durch politische Kriminalität, durch völlige Empathielosigkeit, durch mangelndes Schuldbewusstsein auffallen. Psychopathen sind besonders gefühlskalte, strikt egozentrische Menschen wobei nicht jeder Psychopath kriminell ist oder zumindest nicht in dem Sinne, dass er in der Forensischen Psychiatrie im Rahmen einer Kasuistik auftaucht. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist eine Störung der narzisstischen Selbstwertregulation. Narzissmus ist zunächst einmal eine gesunde Eigenschaft, eine Fähigkeit, 1
Kernberg (1984), 404.
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sich positiv selbst zu besetzen und damit grundsätzlich auch liebesfähig anderen Menschen gegenüber zu sein. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung bedeutet die Störung der gesunden und lebensnotwendigen Selbstwertregulation, und diese Störung zeigt sich darin, dass Menschen nach ständiger Grandiosität streben – meistens, ohne grandios zu sein. Das ist eigentlich das besonders Ärgerliche an ihnen, dass sie ständig das Bedürfnis haben nach Grandiosität, Bewunderung, bedingungslosem Gehorsam und dabei völlig empathielos sind. Sie verlangen nach Bewunderung, am besten grenzenlos. Es kann gar nicht zu viel davon geben, nur Kritik ist nicht erwünscht. Das besonders Unerfreuliche an ihnen ist im Rahmen ihrer Unfähigkeit, mit Zurückweisung und Kränkung umzugehen, dass sie im Sinne eines malignen Nazismus alles das zerstören wollen, was ihrer Grandiosität im Wege steht. Der Neid kann bis zur massiven bösartigen Zerstörung von Kollegen, Konkurrenten und anderen Personen gehen. Ein klassisches Delikt im familiären Bereich auf dem Boden einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit ist die Tötung des Intimpartners: Der Partner will sich scheiden lassen, also etwa die Frau von ihrem Mann, und der Mann denkt sich, wenn du nicht an meiner Seite bleibst, dann hast du dein Recht auf Leben verwirkt. Das ist hochgradig narzisstisch gestört. Auch Täter sogenannter Amoktaten, zum Beispiel school shootings, zeigen fast immer eine schwere narzisstische Selbstwertregulationsstörung. Man muss also nach den Besonderheiten in der Persönlichkeit fragen und untersuchen, welches Ausmaß sie haben.
4.
Das Problem des Terrorismus
Zunächst einmal ist Terrorismus ein politisches und gesellschaftliches Problem und kein medizinisches. Man macht es sich zu leicht damit, Terroristen als verrückt abzustempeln; »verrückt« im engeren Sinne sind nicht sonderlich viele. Es handelt sich hierbei um ein sehr komplexes Problem. Die Forensische Psychiatrie betrachtet auch hier den Täter als Individualperson mit seinem Normen- und Wertegefüge, seiner Affinität zur Kriminalität, seinen Denkmustern, seiner Handlungsbereitschaft, seinen sozialen Kontakten: Wie sind seine kognitiven Überzeugungen beschaffen, wie seine Legitimationsstrategien und wie seine Empathiefähigkeit, die Fähigkeit der Affektregulation, der Impulskontrolle geartet? 234 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Das Böse aus psychiatrischer Perspektive
Für gewöhnlich begreifen sich die Attentäter in ihrem mörderischen, menschenverachtenden Tun als moralisch über alle Anderen erhaben und überlegen. Dieses Phänomen ist auch nicht neu; man findet es schon in der Französischen Revolution. Extremistische Gruppen definieren eine absolute Moral durch eine sehr individuelle Definition, aber es ist eine absolute Moral, die sie über alles andere stellen. Dadurch kippt das ganze letztendlich in Richtung tiefer Amoralität. Ein anderer Punkt ist die Selbststabilisierung. Ideologien vermitteln moralische Überlegenheit, so dass das Individuum eine Funktion und eine Bedeutung erhält und angenommen wird, in einer Weise, die ihm die Gesellschaft offenbar versagt. Wenn es einem Individuum nicht gelingt, Teil der Gesellschaft zu werden, dann entwirft es mitunter eine Gegen- und Scheinwelt. Wenn jemand aber grundsätzlich in der Lage ist, unsere Wirklichkeit als solche normal zu dechiffrieren, dann sind auch absurde politische Gedankengebäude kein Grund, die Schuldfähigkeit eines Täters in Abrede zu stellen. Menschen legen sich krude Ideologien und Utopien zurecht. Man kann eben in alle Richtungen denken.
5.
Schlussgedanke
Abschließend möchte ich meine Darlegungen noch mit Gedanken zweier berühmter Denker verbinden. Von Kant stammt das Zitat, dass die Selbstliebe »als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.« 2 Das Böse kann das Ergebnis des Strebens nach Selbstliebe sein, was zumindest das Thema der narzisstischen Selbstwerteregulationsstörung ist. Es gibt auch noch ein denkwürdiges Zitat von Novalis: »Sonderbar, daß der eigentliche Grund der Grausamkeit Wollust ist.« 3 Wenn wir uns dieses Zitat noch einmal vergegenwärtigen, nicht nur in Bezug auf Sexualstraftäter, sondern auch in Bezug auf jene Terroristen, deren Paradiesvorstellungen einem ewig währenden Sauna-Club gleichen, dann gewinnt Novalis’ Bemerkung doch irritierende Aktualität.
2 3
Kant, AA VI, 45. Novalis (1946), 231.
235 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Nahlah Saimeh
Literaturverzeichnis Kant, Immanuel (1794), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akademie-Ausgabe [AA], Bd. VI, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Kernberg, Otto F. (1984), Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helga Steinmetz-Schünemann. Stuttgart. Novalis (1946), Gesammelte Werke, hg. v. Carl Seelig, 4. Band: Fragmente III, Herrliberg-Zürich.
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Die Autorinnen und Autoren
Nils Baratella ist seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Geschichte der Philosophie und der Forschungsstelle Hannah Arendt-Zentrum des Instituts für Philosophie der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Er promovierte 2015 im DFG-Graduiertenkolleg Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung mit der Arbeit Das kämpferische Subjekt. Der Kampf als Subtext moderner Subjektphilosophie und seine Aufführung im Boxring (erschienen Paderborn 2015). Gegenwärtig arbeitet er an einem Habilitationsprojekt mit dem Titel Distanznahme. Von einer notwendigen Bedingung kritischer Vernunft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Phänomenologie, dem Deutschen Idealismus und seinen Nachwirkungen, der Subjekttheorie und der Sportphilosophie. Thomas Buchheim, Professor der Philosophie, insb. Metaphysik und Ontologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Geschäftsführender Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft. Mitherausgeber der historisch-kritischen Schellingausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2010-13 Vorsitzender der Gesellschaft für antike Philosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen zur systematischen Philosophie der Freiheit, zum Begriff des Lebendigen und der Person. Daneben Kommentare, Übersetzungen und Interpretationen zur Aristotelischen Philosophie, der Philosophie Schellings und Kants. Wichtigste Veröffentlichungen: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie 1992. Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994. Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg: Meiner 2006. Aristoteles – Einführung in seine Philosophie 2 2015. Heidrun Eichner promovierte 2011 im Fach Islamkunde an der Universität Bochum. Von 2001-2003 war sie wissenschaftliche Mitarbei237 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Die Autorinnen und Autoren
terin am Projekt Averrois Opera/Bochum. Von 2004-2006 war sie visiting research associate am Institute of Islamic Studies, McGill University/Montreal. Sie habilitierte sich 2009 an der Universität Halle im Fach Arabistik und Islamwissenschaft. Seit 2010 hat sie den Lehrstuhl für Islamwissenschaft an der Universität Tübingen inne. Zachary Goldberg erwarb seinen B.A. an der Emory University und seinen M.A. an der Stony Brook University. Im Jahr 2012 promovierte er an der Arizona State University. Von 2013 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für praktische Philosophie an der Universität Regensburg. Von 2016 bis 2019 leitete er das DFG-Projekt »Components of Evil« an der LMU München am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Ethik von Prof. Monika Betzler, wo er auch seine Habilitation abschloss. Seit 2019 ist er Senior Research Analyst bei Trilateral Research. Manja Kisner promovierte 2016 an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Thema Schopenhauer und seine Anknüpfung an die Klassische Deutsche Philosophie. Seit 2017 war sie als Postdoktorandin in München tätig und verbrachte Forschungsaufenthalte an der KU Leuven und Brown University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Klassische Deutsche Philosophie und die Philosophie Arendts und Adornos. Amit Kravitz hat Philosophie und Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem studiert, wo er auch im Fach Philosophie über Kant und Schelling promoviert wurde. Er verbrachte Forschungsaufenthalte an den Universitäten Freiburg und Heidelberg. Zur Zeit forscht und lehrt er an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klassischen deutschen und jüdischen Philosophie. Er hat u.a. Schellings »Briefe über Dogmatismus und Kritizismus« ins Hebräische übersetzt, ein Buch über das Theodizee-Problem veröffentlicht wie auch Aufsätze über Kant und den deutschen Idealismus in Zeitschriften wie Kant-Studien, Archiv für Geschichte der Philosophie, Journal of the History of Ideas und Philosophisches Jahrbuch. Armin Kreiner studierte ab 1976 Theologie und Philosophie an der LMU in München, wo er 1985 promovierte und sich 1991 habilitierte. Ab 1982 arbeitete er dort als Assistent, bis er 1994 zum Professor für 238 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Die Autorinnen und Autoren
Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an die KatholischTheologische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen wurde. Seit 2003 lehrt Kreiner Fundamentaltheologie an der Universität München. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie und das Theodizee-Problem. Jörn Müller studierte Philosophie, Geschichte und Pädagogik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und an der University of Edinburgh. 1997 legte er sein erstes Staatsexamen ab. 2001 beendete er seine Promotion in Bonn. Das Thema seiner Dissertation lautete: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus. 2002 bis 2003 arbeitete Müller zuerst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie, ab November 2003 dann als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Philosophie des Mittelalters der Universität Bonn. 2008 habilitierte er sich über das Thema "Willensschwäche im Denken der Antike und des Mittelalters. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus". Nach Lehrstuhlvertretungen in Würzburg und Bochum sowie einer Tätigkeit als akademischer Rat wurde er im März 2014 zum ordentlichen Professor für antike und mittelalterliche Philosophie an der Universität Würzburg ernannt. Seit 2007 ist er Mitglied des Vorstands in der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH); seit 2008 gehört er dem Lenkungsausschuss des Zentrums für Augustinusforschung (ZAF) in Würzburg an. Jörg Noller studierte an den Universitäten Tübingen und München Philosophie, neuere deutsche Literatur, neuere und neueste Geschichte und evangelische Theologie. Von 2011-2012 war er Gastforscher an den Universitäten Notre Dame/USA (bei Prof. Karl Ameriks) und an der University of Chicago (bei Prof. Robert Pippin). Er promovierte mit einer Studie zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant. 2018 war er Gastforscher an der University of Pittsburgh (bei Prof. Nicholas Rescher). sZur Zeit arbeitet er an seiner Habilitationsschrift über personale Lebensformen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Philosophie der Person und die Philosophie der Freiheit. Nahlah Saimeh studierte Humanmedizin in Bochum und Essen. Von 1992 bis 1997 absolvierte sie ihre Facharztausbildung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 1998 wurde sie dort Ober239 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .
Die Autorinnen und Autoren
ärztin in der Abteilung Allgemeine Psychiatrie. Nach ihrer Promotion 1999 in Bochum war sie von 2000 bis 2004 Chefärztin der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost. Von 2004 bis 2018 war sie Ärztliche Direktorin im LWLZentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Im Mai 2018 machte sie sich als Sachverständige für Forensische Psychiatrie mit Bürositz in Düsseldorf selbständig. Sie ist Dozentin an den Universitäten Konstanz und Jena. Sabrina Sontheimer (geb. Kessler) studierte Englische Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Deutsche Linguistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2011 bis 2019 arbeitete sie als Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für englische Literatur der Moderne von Prof. Dr. Christoph Bode an der LMU. Ihre Dissertation mit dem Titel Kartographien von Identität und Alterität in englischen Reiseberichten über die Neue Welt. 1560–1630 ist 2016 im Peter Lang Verlag erschienen. Aktuell ist sie freiberufliche Dozentin und Trainerin u.a. für Hochschuldidaktik, Kommunikation und wissenschaftliches Schreiben. Sie ist Lehrbeauftragte an der LMU München. Petra Wittig studierte von 1981 bis 1987 Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nachdem sie 1987 das Erste und 1990 das Zweite juristische Staatsexamen abgelegt hatte, arbeitete Wittig bis 1992 zunächst als Rechtsanwältin in einer Münchner Wirtschaftskanzlei. 1992 promovierte sie an der Universität Passau bei Bernhard Haffke, dessen wissenschaftliche Assistentin sie in der Folge wurde. Ihre Habilitation vollendete sie 2001 in Passau und erhielt damit die venia legendi für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie, Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Von 2000 bis 2006 war sie als Rechtsanwältin auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts tätig. 2005 und 2006 vertrat sie Lehrstühle an der HU Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2007 hat sie eine Professur für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität inne. Seit 2018 ist sie Rechtsanwältin bei Roxin Rechtsanwälte LL.P und außerplanmäßige Professorin für Strafrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
240 https://doi.org/10.5771/9783495823866 .