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German Pages 321 [324] Year 2006
HERMAEA GERMANISTISCHE F O R S C H U N G E N NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON J O A C H I M HEINZLE U N D K L A U S - D E T L E F M Ü L L E R
BAND 110
INES HEISER
Autorität Freidank Studien zur Rezeption eines Spruchdichters im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2006
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-15110-9 ISBN-10: 3-484-15110-2
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www.niemeyer.de D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. A n ihrem erfolgreichen Zustandekommen waren viele Personen aus universitärem und außeruniversitärem Umfeld beteiligt, denen ich an dieser Stelle f ü r alle wissenschaftliche Kooperation, f ü r alle Unterstützung und Anregung herzlich danken möchte. A n erster Stelle gilt dieser D a n k meinem Doktorvater Professor Dr. Joachim Heinzle, der nicht nur den Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Rezeption des Freidank-Werkkomplexes gegeben, sondern mir auch im Verlauf der Arbeit jederzeit unter großem persönlichen und zeitlichen Engagement mit Rat, Tat und konstruktiver Kritik zur Seite gestanden hat. Auch für die Möglichkeit der A u f n a h m e der Arbeit in die Reihe der >Hermaea< bin ich ihm, wie auch Professor Dr. Klaus-Detlef Müller, zu D a n k verpflichtet. Gleichermaßen möchte ich dem Zweitkorrektor der Arbeit, Professor Dr. Wolfgang Brandt, für sein wohlwollendes Interesse und viele anregende Gespräche einen herzlichen D a n k aussprechen. Unverzichtbar war mir f ü r die Erstellung der Arbeit zudem die fruchtbare und kollegiale Kooperation mit den Mitarbeiterinnen des DFG-Projektes »Marburger Repertorium der Freidank-Überlieferung«, Barbara Leupold, Dr. Stefanie Hein und Barbara Stiewe, die durch viele Vorarbeiten in der Materialbeschaffung meine Untersuchungen sehr erleichtert und sie im fortgesetzten Austausch über die unterschiedlichen Überlieferungsbereiche produktiv begleitet und bereichert haben. Unterstützende und freundschaftliche Begleitung wurde mir gleichfalls durch die weiteren Mitglieder des Instituts f ü r Deutsche Philologie des Mittelalters entgegengebracht: Danken möchte ich hier insbesondere Professor Dr. Christa Bertelsmeier-Kierst f ü r viele anregende Oberseminarssitzungen, Dr. Klaus Klein für die Lösung von paläographischen Problemen unterschiedlichster Art und Professor Dr. Jürgen SchulzGrobert f ü r Information und Austausch zu den besonderen Fragestellungen spätmittelalterlicher städtischer Literatur. Viele Institutionen und Privatpersonen haben mir für meine Untersuchungen Quellenmaterial — sei es in Form von Handschriftenabbildungen oder als fotographische A u f n a h m e n von Inschriftentexten — zur Verfügung gestellt. Neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Bibliotheken und Museen möchte ich in diesem Zusammenhang besonders Dr. Ulrich Seelbach danken, der mich auf weitere Autoritätenhandschriften aufmerksam V
gemacht hat, sowie Herrn Helmut Walther, der mich auf das Ensemble der Freidank-Inschriften im Wiesbadener Kurhaus hinwies. Ein besonderer D a n k geht gleichfalls an Herrn Karsten Anglet vom Angermuseum Erfurt, der eine photographische A u f n a h m e der dort aufbewahrten Freidankschilde ermöglichte, an Herrn Martin Reingruber von der Marktgemeinde Ybbsitz, der die Ablichtung der Balkeninschrift im Gebäude Alte Poststraße 26 vornehmen ließ, an Dr. Peter Dräger, der die Abbildungen der Hausinschrift Göttingen, Weenderstraße 62 erstellte, sowie an Dr. Walter Keller, der die fotographische A u f n a h m e der Hausinschrift am Gebäude Salzmarkt 12 in Königsberg in Bayern gestattete und mir eigenes Forschungsmaterial zur Geschichte des Hauses und seiner Besitzer zur Verfügung stellte. Wichtig waren mir während der Erstellung der Arbeit zudem die guten Kontakte zum Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der PhilippsUniversität Marburg, sowie zur interdisziplinären Arbeitsgruppe des »Marburger Mittelalterzentrums« ( M M Z ) . Ebenso waren die Treffen unseres privaten Studienkreises von Doktoranden mediävistischer Fachgebiete f ü r mich jederzeit bereichernd und unterhaltend; allen Lehrern und Kollegen, mit denen ich dort zusammengetroffen bin, möchte ich für alle Hilfe, Unterstützung und Ermutigung danken — zu nennen wären stellvertretend für mehrere weitere Professor Dr. Andreas Meyer, Dr. Otto Volk, T i n a Römer, Dagmar Brönner, Nathanael Busch und T i n a Terrahe. Für die Bereitstellung des notwendigen finanziellen Hintergrundes danke ich der Philipps-Universität Marburg, die mir ein zweijähriges Promotionsstipendium im Rahmen des Hessischen Gesetzes zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlern gewährte und somit ideale Arbeitsbedingungen geboten hat. Ein großer D a n k geht gleichfalls an die V G Wort, die durch eine großzügige Druckbeihilfe die rasche Publikation der Arbeit ermöglichte. Neben diesen günstigen Bedingungen im Arbeitsumfeld haben mich auch meine Freunde und meine Familie in jeder Hinsicht unterstützt und die Auswirkungen des Projektes mit erstaunlicher Geduld und Langmut ertragen — zu danken habe ich neben meinen Eltern und Geschwistern ganz besonders meinem Lebensgefährten Dr. Thomas Hölting, dazu Oliver Steinbach und T i n a Pausch, die sich zum langwierigen Korrekturlesen bereiterklärten, sowie Dorothee Reinhardt und Lena Ottersbach. Ohne sie alle wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Marburg, im Januar 2 0 0 6
VI
LH.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung I. 1. 2.
3. 4. 5. 6.
7. 8. 9. IL 1. 2.
ι
Gereimte Autoritätenspruchreihen 5 >Autoritätensammlungen< als Texttypus 5 Grundlagen einer Autoritätenspruchtradition 9 2.1. Antike und antikisierende Spruchsammlungen 9 2.2. Die Florilegientradition 14 2.3. Apophtegmata Patrum/Verba Seniorum 19 2.4. Arabisch-spanische Tradition (>Bocados de OroAutoritätenfreidanke< 52 Form und Inhalt der Autoritätenfreidanke< 63 6.1. Forschungsüberblick 68 6.2. Freidankrezeption im Kontext der Autoritätensammlungen . . 76 6.2.1. Freidank als Autoritätsfigur 77 6.2.2. Übernahme von Spruchgut aus der >Bescheidenheit< . . . 83 6.3. Fazit 89 Uberlieferungskontexte 90 Geographische Ausbreitung 98 Soziales Umfeld 100 Freidank-Inschriften Forschungsüberblick Beschreibung der Inschriften 2.1. Rundschilde Erfurt 2.2. Ratsgestühl Bremen 2.3. Weberstube Augsburg 2.4. Wanddekorationen Marbach 2.5. Prophetenteppich 2.6. Scharren Hannover 2.7. Hausinschrift Göttingen 2.8. Schwerter aus dem Zeughaus Graz 2.9. Hausinschrift Fritzlar
105 105 108 108 113 116 120 122 128 132 134 137 VII
3. 4. 5.
2.ίο. Balkendecke Ybbsitz 2.11. Wappentafel Jebenhausen 2.12. Hausinschrift Königsberg in Bayern Typologie der Freidank-Inschriften Geographisches und soziales Umfeld der Freidank-Inschriften Fazit
138 140 143 146 153 156
III. Freidank als normative Autorität in weiteren Kontexten 161 1. Freidank-Zitate in der Kurzform des >Schwabenspiegels< 162 1.1. Rechtstext und Kommentar im >Schwabenspiegel< 164 1.2. Freidank als ethisch-moralische Autorität im >Schwabenspiegel< 171 1.3. Fazit 176 1.4. Tabelle der Kommentare im >Schwabenspiegel< 180 2. Freidankische Perikopenergänzungen in den sogenannten »Freidankpredigten« 184 2.1. Bestand freidankischer Perikopenergänzungen 184 2.1.1. Verzeichnis der Handschriften 184 2.1.2. Verzeichnis freidankischer Perikopenergänzungen und ihrer Parallelstellen in der weiteren Freidanküberlieferung nach Klapper 189 2.1.3. Verbreitung freidankischer Perikopenergänzungen und Zitate in den Handschriften 193 2.1.3.1. Freidankische Perikopenergänzungen und Zitate in der »ersten Sproßform« 193 2.1.3.2. Freidankische Perikopenergänzungen und Zitate in der »zweiten Sproßform« 195 2.2. Analyse der Freidankzitate im Predigtzyklus der sogenannten »Freidankpredigten« 196 2.2.1. Identifizierung freidankischer Perikopenergänzungen 200 2.2.2. Uberlieferung freidankischer Perikopenergänzungen in den Handschriften 206 2.2.2.1. Freidankische Perikopenergänzungen in der Handschriftengruppe der »zweiten Sproßform« (nach Klapper) 206 2.2.2.2. Freidankische Perikopenergänzungen in der Handschriftengruppe der »ersten Sproßform« (nach Klapper) 211 2.2.2.3. Freidankpredigten in Einzelüberlieferung in Jena, Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. Prov. q. 86 und München, Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. 85 217 VIII
2.3· Die »Freidankpredigten« als Zeugnis der Freidankrezeption
219
IV. Freidank als Autorität - Entwicklungsstufen und Manifestationsarten 1. Freidank-Nennungen und -Würdigungen in anderen Werken, Freidankzitate 1.1. Freidank-Würdigungen 1.2. Freidankzitate 2. Folge- bzw. Erweiterungsdichtungen
226 226 232 247
3. 4.
Freidank als literarische Figur Fazit
250 253
V.
Ausblick: Das Phänomen Freidank im Kontext der allgemeinen Rezeption hochmittelalterlicher Texte im Spätmittelalter ein Sonderfall?
1. 2.
Forschungsstand Rezeptionstechniken 2.1. Explizite Nennungen und Würdigungen von Dichtern in anderen Werken 2.1.1. Wolfram von Eschenbach 2.1.2. Neidhart 2.1.3. Fazit 2.2. N a c h - u n d Weiterdichtungen 2.2.1. Wolfram 2.2.2. Neidhart 2.2.3. Fazit 2.3. Das Auftreten von Autoren als literarischen Figuren Fazit
3.
Autorität Freidank - ein Fazit
223
257 259 264 264 264 272 276 278 278 280 282 283 286 289
Abkürzungs- und Literaturverzeichnis
293
Verzeichnis ungedruckter Quellen Autoren- und Werkregister
308 309
IX
Einleitung
Frage und ivisiu lere die bringent michel ere. ( F R 7 8 , 23f.)
Die Frage nach der Identität Freidanks hat die Freidank-Philologie neben der Frage nach ursprünglichem Umfang und ursprünglicher Anordnung seines Werkes seit ihren Anfängen bewegt. Größte Bekanntheit dürften in diesem Zusammenhang Wilhelm Grimms These eines Freidank-Pseudonyms Walthers von der Vogelweide 1 und die Diskussion der Authentizität eines Freidank-Grabmals in Treviso 2 erlangt haben; aber auch in der neueren Forschung scheint dieser Frage stete Aktualität zuzukommen, wie etwa die Untersuchungen Klaus Grubmüllers zu Werk und Legitimation Freidanks 3 oder die Alfred Mundhenks über eine mögliche Teilnahme Freidanks am Kreuzzug Friedrichs II. 4 belegen. Die Identitätsdiskussion überrascht in gewisser Weise, da die historische Quellenlage sich im Falle Freidanks reichhaltiger darstellt als in vielen anderen Fällen: Gleich zwei außerliterarische Berichte — die Annalen des Klosters Kaisheim und eine Colmarer Chronik De rebus Alsaticis ineuntis saeculi XIII nennen ihn als Gelehrten (magister) bzw. fahrenden Sänger (vagus);s die Todesnachricht in den Kaisheimer Annalen läßt eine ungefähre Datierung seines Werkes, der >BescheidenheitBescheidenheit< zu einem dem heutigen Leser fremden u n d in vieler Hinsicht unverständlichen Werk machen: So ist der einzelne Freidankspruch zwar pointiert formuliert; die Texte weisen aber dabei inhaltlich-thematisch oft so wenig Originalität auf, daß sich fast unausweichlich die Frage einstellt, wie ein mittelalterliches Publikum solchen Gemeinplätzen ein derartig tiefgreifendes Interesse entgegenbringen konnte. Dazu entbehrt die >Bescheidenheit< als Sammlung in den meisten Handschriften jeglicher systematischen Struktur; anders als etwa beim >Renner< Hugos von Trimberg handelt es sich bei ihr nicht u m ein durchkonzipiertes, einheitliches Werk, sondern u m eine lose, offene Zusammenstellung autarker Sprüche. Dieser Kompilationscharakter steht in deutlichem Gegensatz zu neueren ästhetischen Kriterien, die einen wechselseitigen Bezug der Teile eines Werkes, verstanden als organische Einheit, fordern. Die Suche der älteren Forschung nach einem solchen verbindenden Organisationssystem/ welches eine innere Einheit des Werkes über einen allgemein didaktischen Anspruch aller Teile hinausgehend doch noch herstellen könnte, scheint vor diesem H i n t e r g r u n d nachvollziehbar. Verbunden mit der aleatorischen A n o r d n u n g der Sprüche tritt eine weitere Frage, die nach der praktischen N u t z u n g der >BescheidenheitBescheidenheit< in ihrer Gesamtheit sind, gerade aufgrund der thematischen Disparität u n d der grundlegenden Schlichtheit u n d Konventionalität der Sprüche, k a u m als typische Form einer A u f f ü h r u n g s praxis der Freidanksprüche anzusetzen. 7 Schließlich — u n d dies ist möglicherweise als das grundlegendste Freidankproblem der neueren Forschung zu sehen — erhebt sich die Frage nach der Legitimation Freidanks. Andere mittelalterliche Didaktiker — zu verweisen wäre hier erneut etwa auf H u g o von Trimberg — empfehlen sich u n d ihr Werk durch A n f ü h r u n g von parallelen Zitaten aus den Schriften anerkannter Autoritäten, etwa der Kirchenväter oder der antiken Philosophen u n d Poeten u n d in erster Linie aus der Heiligen Schrift; sie demonstrieren die Wahrheit ihrer Lehren, indem sie diese in den Kontext illustrierender Exempla aus den unterschiedlichsten Bereichen stellen. Bei Freidank findet sich nichts von alledem: Er bietet allein die Didaxe, die nicht durch Zitate oder unterstützende u n d darauf h i n f ü h r e n d e beispielhafte Erzählungen abgesichert wird. Die Frage nach Freidanks Legitimation u n d die Diskussion sei-
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V g l . d a z u die A u s g a b e n v o n G r i m m (1834; i860), H . Paul: Ü b e r die ursprüngliche A n o r d n u n g v o n Freidanks Bescheidenheit. M S B 1899. Teil II, S. 167—294.
7
So auch G r u b m ü l l e r , S. 44: »Wir haben keinerlei H i n w e i s e darauf, d a ß Freidanksprüche (und schon gar n i c h t das ganze B u c h , als das sie überliefert sind) ö f f e n t l i c h vorgetragen w o r d e n wären; f ü r viele A b s c h n i t t e ist das auch k a u m vorstellbar. V o r allem die g n o m i s c h e n Partien sind schlechterdings ungeeignet f ü r jede A r t v o n >RezitationBescheidenheit< und weiteren Spruchgutes unter dem N a m e n Freidanks durchzieht das gesamte späte Mittelalter; sie bricht erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts ab - direkte, persönliche Bekanntschaft mit dem historischen Autor Freidank oder detailliertes Wissen über dessen Lebensumstände dürfte nur für den geringsten Teil dieser Rezipienten vorauszusetzen sein. Wenn die >Bescheidenheit< innerhalb von 300 Jahren kaum an Wirkungskraft und Geltungsanspruch verlor und die Rezipienten weiterhin die ohne unterstützende Begründung dargebotene Didaxe akzeptierten und schätzten, so geschah dies sicherlich nicht auf der Basis konkreten Wissens über den Autor, sondern auf der Grundlage eines mit der Zeit etablierten Freidankbildes: Freidank war als feste Größe Bestandteil mittelalterlicher Kultur und Kommunikation; im kulturellen Gedächtnis der Zeit muß ein bestimmtes Freidankbild, müssen bestimmte Informationen über Freidank enthalten gewesen sein, die seinen Sprüchen Legitimation verliehen. Ein Z u g r i f f auf dieses mittelalterliche Freidankbild ist über eine Analyse der in großem U m f a n g überlieferten Textzeugnisse zur Freidankrezeption möglich. Aufschlußreich im Zusammenhang einer solchen Analyse ist dabei weniger die Korpusüberlieferung der Sammlung >BescheidenheitSchwabenspiegelBescheidenheitAutoritätensammlungen< als Texttypus
Eine Sonderform der Freidanküberlieferung, die durch ihre besonderen Gegebenheiten großen Aufschluß über die Ein- und Wertschätzung Freidanks durch die Rezipienten des 14. und 15. Jahrhunderts verspricht, ist die Integration von freidankischem Spruchgut in die sogenannten Autoritätensammlungen. In diesen Sammlungen tritt dabei neben mit unterschiedlicher Autoritätenzuschreibung versehenen Versen aus der >Bescheidenheit< ein Korpus von Autoritätenfreidanken< auf; Sprüchen, die, hier ausdrücklich Freidank zugeschrieben, im Kontext der Uberlieferung der >Bescheidenheit< nicht zu finden sind. Bei diesem Spruchbestand der >Autoritätenfreidanke< handelt es sich um ein Korpus von insgesamt sieben mehrfach überlieferten Vierzeilern und einem Zweizeiler, die nicht dem Textkorpus der >Bescheidenheit< entnommen sind; dazu treten fünf weitere Sprüche, die bisher nur in Einzelüberlieferung in den Handschriften Er (FRA 8 und 9) und Be3 (FRA 10, 11, 12) vorliegen. Vor einer Analyse dieser Sonderform der Freidanküberlieferung muß zunächst eine genauere Beschreibung der Autoritätensammlung als Textsorte stehen, da grundlegende Untersuchungen zu diesem, dem Umfeld der wissensvermittelnden, im weitesten Sinne gnomischen Literatur zuzurechnenden Genre bisher nur in Ansätzen vorhanden sind.1 Formal ist der Texttypus der >Autoritätensammlung< wie folgt zu charakterisieren: Die Sammlungen bestehen aus mehreren untereinander inhaltlich weitgehend unabhängigen Sprüchen. Die Sprüche als Untereinheiten setzen sich zusammen aus einer Kopfzeile, die sie jeweils einer Autoritätsfigur zuschreibt, und dem eigentlichen Spruch. Die Kopfzeile kann dabei allein aus dem Namen der Autoritätsinstanz bestehen (etwa Aristotiles), fakultativ kann sie dazu weitere Namensergänzungen enthalten, in welchen die betreffende
1
Neben dem Artikel von Arne Holtorf und Kurt Gärtner im Verfasserlexikon, vgl. Arne Holtorf/Kurt Gärtner: s.v. Autoritäten (gereimt)Bollstatters SpruchsammlungDisticha Catonis< - die jedoch in ihrer im Mittelalter vorliegenden Form weniger als Zeugnisse authentischer antiker Tradition, denn als Zeugnisse mittelalterlicher Antikenrezeption gelten müssen. Als wichtiges Beispiel einer Spruchsammlung, die wenigstens im Grundbestand tatsächlich antiker Herkunft sein dürfte, sind im vorliegenden Zusammenhang die >Sententiae< des Publilius Syrus zu nennen. Der syrische Mimendichter lebte im i. Jahrhundert vor Christus und war bereits zu Lebzeiten ein gefeierter Schauspieler und Bühnenautor, dem öffentliche Ehrungen durch Julius Caesar und Cicero zuteil wurden. 1 1 Bei den >Sententiae< handelt es sich um eine nach Versanfang alphabetisch geordnete Zusammenstellung von pointiert formulierten, lebensweisheitlich-moralischen Sentenzen in jambischen Senaren und trochäischen Septenaren. Jeder Vers bildet eine unabhängig f ü r sich allein stehende Sinneinheit; die Anordnung der Verse folgt dabei streng dem alphabetischen Prinzip, inhaltliche bzw. thematische Verbindungen der Verse untereinander spielen für diese Reihenfolge keine Rolle. Der überlieferte Versbestand der >Sententiae< liegt bei etwa 700 Versen; ähnlich wie bei den Autoritätensammlungen ist eine große Uberlieferungsvarianz des Spruchbe-
11
Vgl. dazu und zum folgenden Brunhölzl (1995), Sp. 313.
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standes in den einzelnen Sammlungen zu beobachten. 12 Der Inhalt der >Sententiae< läßt sich als allgemein weltanschaulich und lebenspraktisch-pragmatisch beschreiben, wobei religiöse Kontexte weitestgehend ausgespart bleiben. Ihren Reiz und ihr literarisches Interesse beziehen die >Sententiae< denn auch weniger aus den vermittelten Inhalten an sich, als aus der prägnanten, pointierten Art, in der diese dargeboten werden: A r n e s p a r e n t e m , si aequus est; si aliter, feras. A v a r o n o n est vita, sed m o r s longior. B o n a r u m r e r u m c o n s u e t u d o p e s s i m a est. C u m se ipse v i n c i t sapiens, m i n i m e v i n c i t u r . ' 3
Die >Sententiae< standen nach dem Tod des Publilius weiter in hohem Ansehen und wurden auch in der Spätantike noch bis zu A n f a n g des 5. Jahrhunderts — trotz Protesten und Verboten durch die Kirche — als Schullektüre eingesetzt. 14 I m Mittelalter waren die >Sententiae< weiterhin zumindest den Gelehrten geläufig, wie sich durch eine Abschrift der Sprüche bei Sedulius Scottus (um 850), eine Exzerptensammlung des Hodoardus (9. Jahrhundert) und die Erläuterungen des Remigius von Auxerre (um 842-908) zu den >Disticha Catonis< belegen läßt. Auch in einem Widmungsgedicht an König Heinrich und seiner Gemahlin Agnes, entstanden 1054/56, zitiert der Mönch Arnulf die >SententiaeSententiae< nicht nur im lateinischen Originaltext bekannt waren und in verschiedenste Kontexte integriert wurden, sondern daß Bearbeitungen der Verse auch in den Volkssprachen entstanden, wobei sie an dort bereits existierende und für didaktische Literatur typische Textformen angeglichen wurden. 1 5
12
Eduard Wölfflin (1869) und Wilhelm Meyer (1880) haben bei der Erstellung ihrer bis heute maßgeblichen Ausgaben der >Sententiae< den Versuch unternommen, aus überwiegend mittelalterlichen Handschriften einen »authentischen« Bestand antiker Verse zu rekonstruieren, vgl. Publilii Syrii Sentenriae. Hrsg. von Eduard Woelfflin. Basel 1869; Wilhelm Meyer aus Speyer: Die Sammlungen der Spruchverse des Publilius Syrus. Darin X V I neugefundene Verse. Leipzig 1877. Für die moderne Forschung können solche allein auf der Grundlage unklar abgegrenzter philologischer Kriterien vorgenommenen Rekonstruktionsversuche indessen kaum eine Grundlage sein; zu fragen wäre vielmehr nach der Gestalt des Sentenzenkorpus in bestimmten Rezeptionszeiträumen, sowie nach dem konkret vorliegenden Sentenzenbestand einzelner Handschriften; eine Neuedition der >Sententiae< stellt sich somit als Forschungsdesiderat dar.
L
> Vgl. Beckby, S. 14, Z . 8; S. 16, Z . 47; S. 18, Z . 2; S. 22; Z . 38. Vgl. dazu und zu den antiken und mittelalterlichen Rezeptionszeugnissen: Beckby, S. 7—13 und S. 66—77. 15 So existiert beispielsweise eine italienische Ubersetzung der Publilius-Sprüche, angefertigt durch Fra Bartolommeo da San Concordio (1262—1347), vgl. dazu >Publilius Syruss S. 22. 14
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Als anschauliches Beispiel für eine solche volkssprachliche Adaption der >Sententiae< lassen sich die im Vernon Manuscript überlieferten >Proverbes of diverse profetes and of poetes and of othur seyntes< anführen, die im späten 14. Jahrhundert entstanden sind. 16 Bei den >Proverbes< handelt es sich um eine dreisprachige Autoritätensammlung, die unter dem Namen einer Autoritätsinstanz jeweils eine lateinische Sentenz, einen paargereimten altfranzösischen Vierzeiler als entsprechende Übertragung und daran anschließend eine mittelenglische Ubersetzung des altfranzösischen Textes in gleicher Form (Vierzeiler, Paarreim) enthalten. Mehrere der lateinischen Sentenzen sind Zitate aus Publilius' Syrus >SententiaeLiber ScintillarumLivre de Philosophie et de Moralite< des Alard von Cambrai vor, eine u m 1230 entstandene Sammlung von didaktischen Kurztraktaten, die Zitate antiker Autoren zum Ausgangspunkt nehmen, welche von Alard jeweils u m eine eigene Auslegung bzw. Erläuterung erweitert werden. 31 D e n Einzelabschnitten vorangestellt ist ein Prolog, in dem Alard sich und seine Intention bei der Abfassung des Textes vorstellt, 32 anschließend präsentiert er in einer aufzählenden Kurzcharakteristik die zwanzig Gelehrten (maistres clers), die er als Autoritäten anführen will. 33 A n diese E i n f ü h r u n g schließen sich die Einzelkapitel an, die Alard jeweils mit einem Autoritätenzitat beginnen läßt, welches er auslegt und erläutert, u m am Ende des jeweiligen Paragraphen noch einmal darauf zurückzukommen bzw. es erneut zu zitieren. 34
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Vorstellbar wäre auch eine Arbeitsweise, bei der der Bearbeiter nicht ein lateinisches Florileg in die Volkssprache überträgt, sondern einzelne Abschnitte aus den lateinischen Originalwerken in einer gemeinsamen Ubersetzung zusammenstellt, so daß ein lateinisches Florileg als Zwischenstufe zwischen den lateinischen Originalwerken und dem volkssprachlichen Florileg überflüssig wäre; der derzeitige Stand der Florilegienforschung läßt indessen noch keine genaueren Aussagen zur Arbeitsweise der Kompilatoren zu, vgl. dazu Schmidt, S. 19—23, der die Problematik der Provenienz von Zitaten am Beispiel von Konrads von Halberstadt >Tripartitus moralium< erörtert.
31
Edition: Le Livre de Philosophie et de Moralite d A l a r d de Cambrai. Hrsg. von Charles Payen. Paris 1970 (Bibliotheque francaise et romane, Serie B: Edicions critiques de textes Bd. 9). L P M , V. 17—28: Bone est la veritez troveej S'e/e est d'auctorite proveej Car parole d'auctorite1 Doit seneßer verite.l D'une oevre me weil entremetre/ Dont a testmoins puis traire et metre/ Les plus maistres elers qui ains furentj Qui tout seurent et tont connurent.! Je, Alars qui suis de Cambrai,! Qui de maint bei mot VennombraiJ Vous weil ramentevoir par rime/ de ce que dirent il me'isme. Vgl. L P M , V. 31—80. Neben Salomo als einziger biblischer Figur werden aufgeführt Tullius, Seneca, Terenz, Lucan, Perses, Boetius, Cicero, Diogenes, Horaz, Juvenal, Sokrates, Ovid, Sallust, Isidor, Aristoteles, Cato, Plato, Vergil und Macrobius. Vgl. etwa L P M , Kap. X L V. 4 1 1 - 4 3 8 . V. 4 1 1 - 4 1 4 nimmt die Übertragung des Lucanzitates ein (Lucan nous fait a touz entendre! Qu'on doit molt blamer et reprendre! L'homme qui orgueillex devient!Por riehesse e'ele Ii vient), dann folgt ein erweiterndes Lob der Freigebigkeit und Tadel des Hochmuts, anschließend wird das Zitat in abgewandelter Form wiederholt (V. 429—433: Por ce nos fait Lucans entendre! C'on doit molt laidement reprendre!Homme qui par sa grant riehesse! Encarche costume ne teche! Dont on soit orgueillex clamez.), der Paragraph wird beendet durch einen weiteren, abschließenden Tadel des Hochmuts.
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16
Die lateinischen Vorlagen überträgt er dabei in Paarreimverse, sein Vorgehen bei der Übertragung des lateinischen Textes entspricht somit der des Bearbeiters der Spruchsammlung im Vernon-Manuscript; die Übertragung von Prosa oder lateinischem Versmaß in der Vorlage in Paarreime in der volkssprachlichen Bearbeitung scheint daher nicht nur bei der Bearbeitung erzählender Literatur, sondern gleichfalls in der Übertragung pragmatisch-didaktischer Textformen ein verbreitetes Prinzip gewesen zu sein.35 Einige aufschlußreiche Beobachtungen zu der Frage nach der Existenz volkssprachlicher Florilegien bzw. Florilegienbearbeitungen im deutschen Sprachraum und deren Verhältnis zu den Autoritätensammlungen lassen sich aus einer Papierhandschrift der Universitätsbibliothek Innsbruck, dem zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstandenen Kodex 961 {In), ableiten: In enthält auf den Blättern i4r bis ijv des zweiten Heftes eine Autoritätensammlung (Vierzeiler im Paarreim mit dazugehöriger Kopfzeile, die den Namen der jeweiligen Autorität nennt). Im selben Heft der Handschrift finden sich vorher auf den Blättern 3V bis 9r Auszüge aus Hans Vintlers >Blumen der TugendFiore di virtüMussre ha-Philosophim< sind zugleich eine der wichtigsten Quellen f ü r die Ausgewählten Sentenzen und schönen Reden< des Abü-l-Wafä'al-Mubassir, entstanden 1 0 4 8 - 4 9 . In seiner spanischen Ubersetzung unter dem Titel >Bocados de Oro< w a r dieser ursprünglich arabische Text das ganze Spätmittelalter hindurch eine der bekanntesten und einflußreichsten Spruchsammlungen Europas. 4 9 Ausgehend von der spanischen Textvorlage enstanden noch im 13. Jahrhundert mehrere lateinische Ubersetzungen, die w i e d e r u m Vorlage f ü r eine altfranzösische Bearbeitung des G u i l l a u m e de Tignonville unter dem Titel >Ditz Moraulx< (um 1390) wurden. 5 0 D i e >Ditz Moraulx< schließlich w u r d e n ins Provenzalische und nach 1450 ins Englische übertragen. A u c h in E n g l a n d w a r die S p r u c h s a m m l u n g ein großer E r f o l g ; sie brachte schnell verschiedene Bearbeitungen hervor u n d war 1 4 7 7 Inhalt des vermutlich ersten in E n g l a n d gedruckten Buches. 5 1 Bei den >Bocados de Oro< handelt es sich u m einen Prosatext, der in mehrere Kapitel gegliedert ist; diese werden jeweils einer Autorität zugeordnet. D i e meisten Kapitel zerfallen in zwei Einheiten: Zuerst werden in einem biographischen Eingangsteil L e b e n und Taten einer Autoritätsfigur beschrieben, anschließend folgen in einem zweiten Teil die ihr zugeschriebenen Dicta. 5 2
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>SinnsprücheBocados< in Europa: >BocadosSprüche der Väter< von den späteren Autoritätensammlungen nur durch eine weniger strenge D u r c h f ü h r u n g einer in Ansätzen durchaus vorhandenen gemeinsamen Form unterscheiden: Die einzelnen Abschnitte sind von unterschiedlicher Länge; das später relativ streng durchgehaltene Schema der Zwei- und Vierzeiler ist nur rudimentär angelegt. Ein Paarreimsystem scheint angedacht zu sein, wird jedoch nicht konsequent durchgeführt. 6 0 Der Text ist fortlaufend geschrieben, weder Namensüber-
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Edition: Friedrich Maurer: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Bd. 1. Tübingen 1964, S. 76—93. Die drei erhaltenen Doppelblätter befinden sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 3004 Nr. C 26 a und b; die Hälfte eines weiteren Doppelblattes ist verschollen. Maurer konstatiert eine enge Verwandtschaft mit dem »Liber scintillarum< des Defensor von Liguge, schließt aber aus, daß es sich dabei um eine direkte Vorlage gehandelt haben könnte, vgl. ISV, S. 78. ISV, S. 82, 2v, Z . 1 - 3 . Maurer geht davon aus, daß es sich bei dem zugrundeliegenden Reimsystem um »binnengereimte Langzeilen«, d.h. um eine Vorform des Endreims handele und stellt eine Beziehung
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Schriften noch Versenden sind abgesetzt, jedoch sind die Autoritätennamen farblich hervorgehoben. Insgesamt läßt sich festellen, daß sowohl vom Autoritäteninventar - soweit dies auf Grundlage der Fragmente für die >Sprüche der Väter< feststellbar ist als auch von den angesprochenen Inhalten her (Geschwätzigkeit und Verschwiegenheit, Lob, Überheblichkeit, Demut, Völlerei und Fasten, asketische Lebensführung) eine enge Verwandtschaft zwischen den >Sprüchen der Väter< und den Autoritätensammlungen besteht. Die später obligatorischen formalen Elemente wie Paarreim und Kopfzeile mit Nennung der Autoritätsfigur sind bereits vorhanden, wenn sie auch nicht konsequent einheitlich angewendet werden. Die >Sprüche der Väter< sind somit als deutlicher Beleg dafür zu werten, daß bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine deutschsprachige Tradition von gereimten Versen didaktischen Inhaltes in Verbindung mit bestimmten Autoritätsinstanzen existierte. Weitere Uberlieferungszeugen f ü r eine deutschsprachige Autoritätentradition lassen sich danach erst wieder um 1300 in einer thüringisch-ostfränkischen Handschrift, cgm 142 der Bayerischen Staatsbibliothek München, nachweisen. 61 Über die Herkunft des Kodex ist wenig bekannt; wahrscheinlich wurde er in einem südthüringischen oder ostfränkischen Nonnenkloster geschrieben. 62 Die kleinformatige lateinisch-deutsche Sammelhandschrift enthält neben einer >Paradisus animaeBescheidenheit< und der späteren Autoritätensammlungen auf, d.h., es handelt sich bei dem ihm zugeschriebenen Text um einen paargereimten Zweizeiler: Vrigedank: Bure newe und kleider her/ die sint des tuvels ane wer.61 Der Freidankspruch hebt sich durch diese formale Gestalt deutlich von den übrigen Textelementen der Sammlung ab, ebenso wie durch die Tatsache, daß innerhalb der Gruppe der genannten Autoritätsinstanzen Freidank die einzige Figur ist, bei der neben der Tatsache der Einordnung in diesen Kontext keine offensichtliche religiöse Konnotierung vorliegt, da er nicht wie die übrigen genannten Autoritäten dem Kontext der Kirchenväter oder der biblischen Figuren zuzuordnen ist. Die Sammlung in egm 142 bildet somit einen deutlichen Beleg dafür, daß bereits um 1300 Freidank als Autoritätsfigur aufgefaßt wurde und trotz seiner Herkunft aus dem Bereich der weltlich-didaktischen, nicht in engerem Sinne religiös-theologischen Literatur in dezidiert religiöse Kontexte eingebunden werden konnte. Schon zu diesem recht frühen Zeitpunkt der Rezeptionsgeschichte scheint dabei eine feste Bindung zwischen dem Namen Freidank und der literarischen Form des Paarreimspruches zu existieren, da diese auch bei der Integration in eine Prosaspruchsammlung beibehalten wurde. Ein Text aus dem Bereich der erzählenden Literatur, welchem man neben denen seit dem 12. Jahrhundert entstehenden Spruchsammlungen eine nicht unbedeutende Rolle bei der Herausbildung einer deutschsprachigen Autoritätentradition zuschreiben sollte, ist das um 1280/90 entstandene >Väter-
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Dieses nimmt dann jeweils eine nachgestellte Position ein: »X spricheH. Insgesamt findet sich achtmal diese Wendung: fol. 651'- fol. 691· (2x), fol. 741· (ix), fol. 74V, fol. 8ir, fol. 831·. Am häufigsten sind in diesem Zusammenhang Enumerationen wie etwa fol. 66r: Dri dim: sint unsers herren luille an uns. Daz ivir in den sunden niht sterben. Und daz wir heilich werden. Und daz wir zu ime kamen·, oder Diz sint dri dinc die der mensche von sinen sunden gewinet. Daz ist schäme und schände und ungemach. Die große Heterogenität der Sammlung betont auch Petzet, S. 268: »Die Reihenfolge [der Einzeltexte] ist sehr bunt, eine klare Anordnung nicht erkennbar«. In der Ausgabe Grimm/Bezzenberger sind die entsprechenden Verse nicht enthalten, auch ist bisher keine Parallelüberlieferung bekannt.
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buchVitaspatrumVäterbuch< ist in Paarreimversen abgefaßt; es ähnelt v o m A u f b a u her der lateinischen Vorlage: D e r Inhalt besteht aus längeren Einzelviten und kürzeren Textabschnitten mit Beispielgeschichten und Lehrreden der Wüstenväter. Recht deutlich präsentiert sich das >Väterbuch< dennoch als geschlossenere Textform; d.h. ein innerer Z u s a m m e n h a l t der einzelnen Teile ist gegeben, der Sammlungscharakter ist weniger offensichtlich als in den S p r u c h s a m m l u n gen mit Autoritätennennungen. Für diesen inneren Z u s a m m e n h a l t der einzelnen Elemente ist außer der gemeinsamen T h e m a t i k der Sprüche (Anleitung zu weisem, gottgefälligen Leben, M ö n c h t u m ) u n d der H e r k u n f t der Autoritätsfiguren aus einem homogenen Autoritätenkanon (Anachoreten) entscheidend, daß es sich bei den einzelnen Lehrreden weniger ausgeprägt u m autarke literarische Kleinstformen handelt als bei den Autoritätensprüchen; die Lehrreden der Wüstenväter werden im Gegensatz zu diesen immer in einen - wenn auch o f t nur rudimentär umrissenen — Handlungskontext eingegliedert, wie etwa die folgende Textpassage zeigt: Ein bruder horte mere, Daz tot sine vater were. Z u dem boten sprach er do: >Se, wie sagestu mir so? Du irrest des gelouben dich, Min vater ist untotlich. In dem himelriche Da lebet er ewicliche.Väterbuch< damit nicht allzu eng; dennoch stellt das >Väterbuch< einen weiteren Beleg d a f ü r dar, daß zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein breiteres Interesse an Literatur mit den M e r k m a l e n der Autoritätensammlungen, also an didaktischer Literatur in deutschsprachigen Paarreimversen, die ihre guten Lehren durch den Rekurs auf angesehene Autoritäten bestätigt, bestand.
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Edition: Das Väterbuch aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift. Hrsg. von Karl Reissenberger. Berlin 1914 ( D T M Bd. 22). >VäterbuchVitaspatrum, >VäterbuchSumma biblia metricaDe instructione noviciorum excerpta de constitutionibus et libro noviciorum< (lateinische Haupttexte mit deutschen Randnotizen)
Fol. 8c)r/v, 249r/v: Autoritätensammlung (16 gereimte Vierzeiler, 11 gereimte Zweizeiler), darin FRA 1 (Nr. 23; unter Freydanck) und F R A 7 (Nr. 15; unter Freydanck) Beschreibung: Gustav Blinz: Die deutschen Handschriften der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel. Bd. 1: Die Handschriften der Abteilung A . Basel 1907, S. 110—126. Katalog der datierten Handschriften der Schweiz in lateinischer Schrift vom A n f a n g des Mittelalters bis 1550. Bd. 1: Die Handschriften der Bibliotheken von Aarau, Appenzell und Basel. Hrsg. von Beat Matthias von Scarpatteti. Dietikon/Zürich 1977, S. 74.
Ba2, Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A XI 59 Basel, Ende 15. Jh./Anfang 16. Jh. (Basler Kartause) Papier, 262 Bll. Traktate, Allegorien, katechetische Texte, Exempel, Gebete, Auszüge aus Bonaventura, >Peregrinationes Terrae Sanctae< (dt.), >Vom A n f a n g des Kartäuserordenss >Kartäuserbeichte
Von den 12 Patriarchen^ >SpiegelbuchGeistliches ABC
Zimmern'schen Totentanzes< (Erbauungsbuch des Grafen Wilhelm Wernher von Zimmern, vgl. Sti, St2; einfache Kopie f ü r einen Verwandten oder Bekannten ohne Repräsentationsanspruch)
Fol. 35r—38V: Autoritätensammlung (i gereimter Sechszeiler, 39 gereimte Vierzeiler [davon der letzte durch Textverlust verstümmelt], 11 gereimte Zweizeiler), darin F R A 1 (Nr. 39; unter Seneca), F R A 2 (Nr. 25; unter Freydanck,), FRA 5 (Nr. 30; unter Enoch), und FRA 7 (Nr. 19; unter Freydanck); FR 1, 7 10 (Nr. 28; unter Bernhardinus), FR 165, 9f. (Nr. 20; als zweiter Teil eines der Sibilla zugeschriebenen Vierzeilers) Beschreibung: Paul Wescher: Beschreibendes Verzeichnis der Miniaturen, Handschriften und Einzelblätter des Kupferstichkabinetts der staatlichen Museen zu Berlin. Leipzig 1931, S. 230—233. Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Bd. 1. Hrsg. von H . Frühmorgen-Voss, N . Ott, U. Bodemann, G . Fischer-Heetfeld. München 1991, S. 3o8f.
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B e i Berlin, Staatsbibliohek, mgf 1482 ripuarisch, um 1428 Papier, 185 Bll. >Cordiale quattuor novissimorum- (dt.), Isidor von Sevilla: >Synonymorum Liber II (Exzerpte, dt.), Leben der heiligen Elisabeth, Brief des Rabbi Samuel Maroccani an Rabbi Isaac, Anastasius Sinaita: >Disputatio adversus Judaeos< (dt.)
Fol. 92ra—95vb: Autoritätensammlung (14 gereimte Vierzeiler), darin FR 36, 2}f. + 54, 4f. (Nr. 7; unter Bernhardus), FR 40, 5-8 (Nr. 6; unter Seneca der heidensche meister), F R 1, 7 - 1 0 (Nr. 9; unter Jheremias) Beschreibung: Hans Otto Lantpert: Beschreibung der 23 bei Degering nicht mehr erfaßten Handschriften der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin. Magisterarbeit Tübingen 1970 (masch.), S· 34-37·
Be3 Berlin, Staatsbibliothek, mgq 760 niederdeutsch, 15. Jh. Papier, 1 + 282 Bll. (vorgebunden zwei Drucke: Thomas a Kempis: >Van de navolginghe cristi< [Magdeburg 1501]; >Spegel der Sielen< [Köln 1520]) Bruder Philipp: >Marienleben
12 Meisten), »Kölner VitaspatrumGrisardisMelusina
Vier Ratschläge Senecas an seinen Sohns 34 Prosasprüche unter Salome), darin F R A 11 (Nr. 7; unter Ffreydanck), FRA 12 (Nr. 11b; unter Ffreydannck), FR 90, i7f. (Nr. na; unter Ffreydannck), FR 110, 23f. + FR 107, 23f. (Nr. 2; unter Augustinus) Beschreibung: Katalog der Handschriften der Universitätsbibliothek Erlangen. Neubearbeitung. Bd. 4: Die deutschen Handschriften. Hrsg. von O. Pültz, A. Dietzel, G . Bauer. Wiesbaden 1973, S. 23f.
Gi Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 100 schwäbisch/alemannisch, Anfang 15. Jh. Papier, noch 38 Bll. Rudolf von Ems: >Weltchronik< (2 Fragmente), Bibelgeschichten, verschiedene Segen, Mariengebet und -hymnus
Fol. 36η Autoritätensammlung (19 gereimte Zweizeiler), darin FR 109, 2of. (Nr. 9; unter Fridank)
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Beschreibung: J . Valentino A d r i a n : C a t a l o g u s c o d i c u m m a n u s c r i p t o r u m bibliothecae academicae Gissensis. F r a n k f u r t a . M . 1840, S. 3gf.
G12. Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 1029 wohl Augsburg, um 1 4 6 2 und 1 5 2 1 - 1 5 3 0 (Schreiber: Hans Jacob Matheis Doldan) Papier, 172 Bll. A u g s b u r g e r Stadtbuch v o n 1 2 7 6 ; A u g s b u r g e r Rats- u n d Gerichtsordnung, Lehrrede Salomos (>Parabolae< dt.); deutsche Reimverse, S a m m l u n g von Augsburger Rats- und Gerichtsentscheidungen
Fol. i42r—145V: Autoritätensammlung (41 gereimte Vierzeiler, 18 gereimte Zweizeiler), darin F R i , 7-10 (Nr. 17, anonym), FR 36, 23f. + 54, 4t. (Nr. 13, anonym), FR 40, 5-8 (Nr. 16, anonym), FR 72, nf. (Nr. 59, anonym), FRA 1 (Nr. 19, anonym), FRA 2 (Nr. 9, anonym), F R A 6 (NR. 10, anonym) Beschreibung: J . Valentino A d r i a n : C a t a l o g u s c o d i c u m m a n u s c r i p t o r u m bibliothecae academicae Gissensis. F r a n k f u r t a . M . 1840, S. 315. Unveröffentlichter H a n d s c h r i f t e n k a t a l o g von U l r i c h Seelbach: s.v. >Hs. 1029· (6 Seiten).
G13 Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 1247 Südwestdeutschland (Straßburg?), drittes Viertel 15. Jh. Papier, 346 Bll. Aeneas Silvius Piccolomini u.a. >EpistolaeRhetorica nova·. A n d r e a s G r u n e r A r s rhetorica< (Auszüge zur ars epistolandi)
Fol. 2i9va—220va: Autoritätensammlung (29 gereimte Vierzeiler), darin FR 1, 7 - 1 0 (Nr. 16, unter Daniel), FR 36, 23f. + 54, 4L· (Nr. 14, unter Bernhardus), FR 40, 5-8 (Nr. 13, unter Seneca), F R A 2 (Nr. 6, unter Fridang), FRA 3 (Nr. 5, unter Aristoteles), F R A 5 (Nr. 25, unter Frydang), F R A 6 (Nr. 29b, unter Saluatof) Beschreibung: J . Valentino A d r i a n : C a t a l o g u s c o d i c u m m a n u s c r i p t o r u m bibliothecae academicae Gissensis. F r a n k f u r t a . M . 1840, S. 3 7 j f . Unveröffentlichter H a n d s c h r i f t e n k a t a l o g von U l r i c h Seelbach: s.v. >Hs. i247< (14 Seiten).
Gö Göttingen, Universitätsbibliothek, Ms. Theol. 57 schwäbisch, 2. Hälfte 15. Jh. Papier, 10 Bll. Exzerpte aus der O f f e n b a r u n g des J o h a n n e s (dt.) mit Erläuterungen
Fol. 9v—ior: Autoritätensammlung (1 gereimter Sechszeiler, 1 gereimter Fünfzeiler, 28 gereimte Vierzeiler), darin F R A 2 (Nr. 6; unter Freidanck), F R A 3 34
(Nr. 5; unter Salmon), F R A 4 (Nr. 25; unter Freidank), F R A 5 (Nr. 20; unter Freidanck), F R A 6 (Nr. 15; unter Freidanck) und FR 1, 7-10 (Nr. 10; unter Freidanck), FR 36, xtf. + 54, 4t. (Nr. 17; unter Santpaulspertnhartus), FR 40, 5-8 (Nr. 22; unter Sennicd) Beschreibung: Verzeichnis der Handschriften im Preußischen Staate 1.2 (Göttingen 2). Berlin 1893, S. 331.
Go Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B. 237 westdeutsch, 15. Jh. (Besitzerin: Margarete von Rodemachern) Papier, 180 Bll. (aus zwei ursprünglich selbständigen Teilen zusammengebunden) religiöse Kurztexte und Traktate, Dekalogerklärung, Beichttraktat, Exempel, >Der König und die Vögel·, Gebete, >Geistliche Müllerin*, »Sieben Laden Christi'
Fol. U9r-i23v: Autoritätensammlung (15 gereimte Zweizeiler, 1 Dreizeiler, 40 Vierzeiler, 1 Fünfzeiler, 1 Sechszeiler, 3 Prosasprüche), darin FRA 2 (Nr. 6; unter Ffrygedanck), F R A 3 (Nr. 5; unter Aristotiles), F R A 4 (Nr. 27; unter Daniel), FRA 5 (Nr. 25; unter Ffrygedanck), FRA 6 (hier als Sechszeiler mit zwei vorangestellten Zeilen; Nr. 60; unter uns here got), FR 1, 7-10 (Nr. 16; unter Helyas), FR 36, 23f. + 54, 4f! (Nr. 14; unter Bernhardus), FR 40, 5-8 (Nr. 13; unter Senecd) [in Teil 2, nach 1458] Beschreibung: Ehwald: Archivbeschreibung der Bibliothek des Herzoglichen Hauses zu Gotha (16 Bll.). Eberhard Ereiherr Schenk zu Schweinsberg: Margarete von Rodemachern, eine deutsche Bücherfreundin in Lothringen. Zeitschrift für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. Beih. 23 (1941), S. 1 1 7 - 1 5 2 , S. 1 1 7 - 1 3 2 .
Gr Graz, Universitätsbibliothek, Cod. 568 St. Veit ob Graz, um 1403 (Besitzer: St. Lamprecht) Papier, 204 Bll. Jacobus de Cessolis: T i b e r de moribus h o m i n u m et de officiis nobilium super ludo scaccorum* (»Schachbuch«), Predigten des Nicolaus Lucius de Asculo, Predigt Conradus de Brundelsheim
Fol. 204r/v: Autoritätensammlung (27 gereimte Vierzeiler), darin FRA 2 (Nr. 6; unter Freidank), FRA 3 (Nr. 5; unter Aristotiles), FRA 5 (Nr. 22; unter Freydanck), F R A 6 (Nr. 27; unter Freydancü), FR 1, 7-10 (Nr. 16; unter Helias), FR 36, 23f. + 54, 4f. (Nr. 14; unter Bernhardus), FR 40, 5-8 (Nr. 13; unter Seneca) Beschreibung: M a r i a Mairold: Die datierten Handschriften der Universitätsbibliothek Graz bis zum Jahre 1600. Teil I (Text). Wien 1979, S. 55.
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In Innsbruck, Universitätsbibliothek, Cod. 961 Tirol, Ende des 15. Jh. Papier, 84 Bll., aus drei urspr. selbständigen Teilen zusammengebunden Auszüge aus H a n s Vintlers »Blumen der T u g e n d s lateinische Sentenzen, Rhetoriklehre (Predigtmaterial f ü r einen Geistlichen?)
Fol. I4r-i5v [Heft 2, eigenständige Zählung, Paginierung am unteren rechten Rand]: Autoritätensammlung (1 gereimter Achtzeiler, 22 gereimte Vierzeiler), darin FRA 4 (Nr. 19; unter Daniel), FRA 5 (Nr. 16; unter Freydanck), F R A 6 (Nr. 23; unter Freydanck), FR 36, 23f. + 54, 4E (Nr. 8; unter Bernhardus), FR 40, 5—8 (Nr. 7; unter Seneca) Beschreibung: A r c h i v b e s c h r e i b u n g H e l b i k 1913. Franz-Josef Schweitzer: T u g e n d und Laster in illustrierten didaktischen D i c h t u n g e n des späten Mittelalters. Studien zu H a n s Vintlers >Blumen der Tugend< u n d zu >Des Teufels NetzDer Laien Doktrinais Lüneburger Chronik
Fol. 83r—86v: Autoritätensammlung (33 Vierzeiler), darin FRA 2 (Nr. 6; unter Vridanck), FRA 5 (Nr. 27; unter Vrydanck), F R A 6 (Nr. 33; unter Vrydank), F R A 3 (Nr. 4; unter Aristoteles), FR 1, 7-10 (Nr. 17; unter Daniel), FR 36, 23f. + 54, 4f. (Nr. 15; unter Bernhardus), FR 40, 5-8 (Nr. 14; unter Seneca) Beschreibung: Conrad Borchling: Mittelniederdeutsche Handschriften in Wolfenbüttel und einigen benachbarten Bibliotheken, in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Beiheft phil.-hist. Klasse (1902), S. 116—120. Hans Butzmann: Die Blankenburger Handschriften. Frankfurt a . M . 1966 (Kataloge der Herzog August Bibliothek: Neue Reihe Bd. ir), S. 134—137.
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Zü Zürich, Zentralbibliothek, Cod. A 130 schwäbisch-alemannisch (nordostschweizerisch), um 1466 (Besitzer: Familie Fulach) Papier, 226 Bll. Marquart von Lindau: Dekalogserklärung, >Buch von der Inbildung des ewigen Lebens< (Bonaventura: >Soliloquium< dt.), Marienleben, Osterlied, Segen
Fol. 207v-2iir: Autoritätensammlung (21 gereimte Vierzeiler), darin FRA 7 (Nr. 16; unter Frydank) Beschreibung: Leo Cunibert Mohlberg: Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. I. Mittelalterliche Handschriften. Zürich 1951, S. 6f., 345. Beat Matthias von Scarpatteti: Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom A n f a n g des Mittelalters bis 1550. Bd. 3. Dietikon/Zürich 1991, S. 167.
Zü2 Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 108 Zürich, letztes Drittel des 15. Jh. (Schreiber und Besitzer: Gerold und Hans Edlibach) Papier, 98 Bll. Johann von Würzburg: »Wilhelm von Österreich-, Eneas Silvio: Beileidsschreiben an Caspar Schlick, Rudolf von Ems: >Willehalm von Orlens< (gekürzte Umarbeitung)
Fol. 65r-67r: Autoritätensammlung (Datierung 1481; 6 gereimte Vierzeiler, 9 gereimte Zweizeiler, 1 gereimter Sechszeiler, 1 Prosaspruch [Lehrrede mit Binnenreimen]), darin FRA 1 (Nr. 12; unter Seneca), FRA 7 (Nr. 2; unter Freidanckus) Beschreibung: Leo Cunibert Mohlberg: Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. I. Mittelalterliche Handschriften. Zürich 1951, S. 56, S. 361. Beat Matthias von Scarpatteti: Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom A n f a n g des Mittelalters bis 1550. Bd. 3. Dietikon/Zürich 1991, S. 180.
ZÜ3 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. S 318 Altstätten/Zürich, 1479—1580 (Schreiber und Besitzer: Hans Vogler d.Ä., Hans Vogler d.J.) Papier, 620 Seiten Familiengeschichtliche Notizen, Preislisten, >Pfaffe A m i s s Cisiojanus, historische Notizen, Notizen über die Vögte der Herrschaft Rheintal (1490-1530), Notizen über die Äbte von St. Gallen, Aktensammlung zur Reformation im Rheintal, Dr. Karlstadt: Traktate
S. 142—146: Autoritätensammlung (23 gereimte Vierzeiler, 1 Vierzehnzeiler), darin F R A 2 (Nr. 22; unter Seneca), FRA 7 (Nr. 15; unter Fridanckus) Beschreibung: Leo Cunibert Mohlberg: Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. I. Mittelalterliche Handschriften. Zürich 1951, S. 87, S. 366f.
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Ernst Gagliardi, Ludwig Eorrer: Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. IL Neuere Handschriften seit 1500. Zürich 1982, Sp. i293f.
ZÜ4 Zürich, Zentralbibliothek. Ms. C . 101/467 St. Gallen (?), zweites Drittel des 15. Jh. (Besitzer, Schreiber der Haupttexte frater Gallus Kemly f 1477; Fol. 169 von anderer Hand [eingeklebtes Blatt]) Papier, 178 Bll. verschiedene Notizen (lat./deutsch.): Komputnotizen, Kanonistische Bemerkungen, medizinische Rezepte, Anweisungen für den liturgischen Gesang, Exorzismen, Offenbarungen, Schreibregeln, Ablässe, Reimverse, Mirakelerzählungen, Brief des Priester Johannes
Fol. 169V: Autoritätensammlung (28 gereimte Zweizeiler), darin F R 29, 6f. (Nr. 12, unter Amon), FR 33, 22f. (Nr. 28, unter Josue), FR 50, 2of. (Nr. 17, unter Beda), FR 78, 9f. (Nr. 8, unter Johel), FR 95, i8f. (Nr. 25, unter Demes), F R 107, iof. (Nr. 11, unter David), FR 120, 25f. (Nr. 13, unter Meinster Conradus{?)), FR 164, 3f. (Nr. 20, unter Baruch) Beschreibung: Leo Cunibert Mohlberg: Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. I. Mittelalterliche Handschriften. Zürich 1951, S. 87, S. 52f. Jakob Werner: Beiträge zur Kunde der lateinischen Literatur des Mittelalters, Nachdr. d. Ausg. 1905. Hildesheim/New York 1979, S. 152-183.
4.
Gruppeneinteilung
In ihrer Charakterisierung des Genres der Autoritätensammlungen haben Arne Holtorf und Kurt Gärtner den Versuch unternommen, die verschiedenen Textzeugen, ausgehend von einem Korpus von insgesamt vierundzwanzig Handschriften und mehreren inschriftlichen Uberlieferungen, in ein Gruppensystem einzuordnen. 72 Als Grundlage für dieses Ordnungssystem sollten innerhalb der einzelnen Sammlungen Spruchreihen identifiziert werden, die jeweils als Korpus - wenn auch mit unterschiedlicher Reihenfolge der einzelnen Sprüche - im Uberlieferungsverlauf weitgehend konstant erhalten bleiben. Eine erste Gruppe bilden bei Holtorf/Gärtner Handschriften, die eine etwa zwölf Sprüche umfassende Zweizeiler-Spruchreihe überliefern; Incipit ist hier häufig F R A 1, üblicherweise mit Zuschreibung an Seneca: Hett sunde nicht sunde namen/ Dennoch wolt ich mich der sunden schämen. Dieser ersten Gruppe werden als Textzeugen zugeordnet Au, Lo, Nii, Sg, St, W12, Zii2, sowie eine inschriftliche Überlieferung in der Augsburger Weberstube.73
71 7!
Holtorf/Gärtner, Sp. 557-559. Holtorf/Gärtner, Sp. 557f.
47
Die zweite Gruppe nach Holtorf/Gärtner überliefert eine etwa zwanzig Sprüche umfassende Vierzeiler-Sammlung mit dem Incipit: Gott der herre spricht: Wer getaufft ist vnd in rechtem glauben statt! vnd wer mich vnd sein nechsten lieb hatt! vnd hie laydet durch mich vngemach vnd peinl der wirdet behalten vnd ewig bey mir sein;74 als Textzeugen sind angegeben Ba, Ba2, Lo (i), MÜ3, eine Sammlung in cod. 4120 (33V) der Osterreichischen Nationalbibliothek Wien, 75 Wo, Zii, dazu ein Einblattdruck: >Spiegel des Todes< des Hans Hauser (Ulm, 15. Jh.). 76 In einer dritten Gruppe fassen Holtorf/Gärtner die Uberlieferung einer weiteren Vierzeilersammlung von dreißig bis fünfunddreißig Sprüchen mit dem Incipit Salo?non: Aller weishait fundament! ist daz man got minnet und erkennt! tmd ane bettet ainen got! tmd darztio behelt sein gebot·,77 Textzeugen für diese dritte Gruppe sind Bw, Gr, In, Lo (1),78 Ol, Mü, MÜ2, Up, W03; als inschriftliche Überlieferung ist der Wirkteppich aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum verzeichnet. Zusätzlich zu diesen drei mehrfach überlieferten Sammlungen sind einige Unika angegeben: eine Übersetzung der >Quinquaginte bona proverbialia documenta philosophorum et sapientium< aus dem >Rostocker Liederbuchs inschriftliche Sammlungen im Kontext von Ratsstuben und anderen öffentlichen Gebäuden, 79 sowie eine Sammlung in Mü (i26ra—i27rb), die Sammlung in Ba3 und ein Teil der Sammlung in Up (gjr—96V).So Die neuaufgefundenen Handschriften würden sich — unter Vorbehalt — wie folgt in dieses Gruppensystem eingliedern:
74 75
76 77 78
79
So
Holtorf/Gärtner, Sp. 558. Diese Handschrift wird in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt, da sie keine vollständige Sammlung, sondern nur die beiden Eingangssprüche der zweiten Spruchreihe nach Holtorf/Gärtner (mit Zuschreibung an Gott der herre und Chrisostoimts) enthält und entsprechend für die Freidank-Uberlieferung nicht relevant ist. Dodgson, S. 21, Nr. 242. Holtorf/Gärtner, Sp. 558. Die dritte Spruchreihe nach Holtorf/Gärtner ist hier ab Spruch Nr. 22 an die zweite Spruchreihe nach Holtorf/Gärtner angeschlossen. Holtorf/Gärtner verweisen hier auf die Propheten-Reime des Magdeburger Rathauses, überliefert in einer Abschrift des 16. Jhs. (Vgl. Franz Nieländer: Die Propheten-Reime im alten Magdeburger Rathause. N d j b 48 (1922), S. 39—43), und auf die bei Trier erwähnten Prophetendarstellungen an oder in öffentlichen Gebäuden: das Portal des Brüsseler Rathauses, das Schöffenkammerportal des Rathauses in Brügge, die Fassade des Bremer Rathauses, zwei Prophetenbüsten aus dem Basler Rathaus, die Erfurter Rundschilde sowie die geschnitzten Ratsstühle in Bremen und Lübeck. Die von Trier untersuchten Prophetendarstellungen stehen jedoch bis auf das Bremer Gestühl und die Erfurter Schilde in Verbindung mit lateinischen Spruchinschriften (Basel), teilweise ist ihnen nur eine Namensinschrift beigegeben (Fassade Bremen), in anderen Fällen fehlen Inschriften ganz (Brüssel, Brügge), so daß eine Einbeziehung in den Kontext der deutschsprachigen Autoritätensammlungen nur bedingt möglich, eine Eingliederung in das vorgeschlagene Gruppensystem wenig sinnvoll ist. Holtorf/Gärtner, Sp. 557.
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Erste Gruppe Zweite Gruppe Dritte Gruppe Vierte Gruppe Unika:
(Zweizeiler): Ba4BeMü4St2 (Gott der herre spricht): ZÜ3 [Salome: Aller weihait fundament)·. Be2Be3DnGöGoLe LüOxPaSaWo2Wo4 (Zweizeiler): GiWi ErWi3
Einer neu zu erstellenden vierten Gruppe ist neben Gi und Wi cgm 270 der Bayerischen Staatsbibliothek zuzurechnen; 81 diese Handschriften enthalten eine gemeinsame Spruchreihe, die Ulrich Seelbach untersucht und ediert hat. 82 Für diese vierte Spruchreihe läßt sich darüber hinaus eine Seelbach nicht bekannte lateinische Fassung nachweisen: Im Hansasaal des alten Kölner Rathauses waren - wahrscheinlich in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts — Fresken angebracht worden, die Abbildungen von Propheten, Poeten, Philosophen und Königen, dazu Schriftbänder mit lateinischen Texten enthielten;83 diese Sprüche stellen eine lateinische Entsprechung der bei Seelbach edierten Spruchreihe dar, auch die Autoritätenzuschreibungen sind jeweils identisch. 84 Vor einer endgültigen Übernahme dieser Ordnungskonvention sollte jedoch die Frage nach deren Sinnhaftigkeit und Zuverlässigkeit stehen. Ein Gruppensystem wie das von Holtorf/Gärtner angedachte wäre aus pragmatischen Gründen durchaus wünschenswert, da es die Arbeit mit dem äußerst heterogenen Spruchmaterial sehr vereinfachen würde; Bedingung für die Erstellung eines solchen Systems jedoch muß in jedem Fall die adäquate Abbildung der Überlieferungsrealität sein — eine Voraussetzung, die durch das von Holtorf/ Gärtner vorgeschlagene System nicht erfüllt wird. Als Beispiel für die Inkongruenz zwischen der von Holtorf/Gärtner vorgenommenen Gruppeneinteilung und der tatsächlichen Gestalt der Autoritätensammlungen in den Handschriften ließe sich etwa die Sammlung in Sg nennen: Holtorf/Gärtner ordnen diese der ersten Gruppe (Zweizeilersammlung) zu.85 Die Sammlung beginnt tatsächlich mit dem häufig Seneca zugewiese-
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In der vorliegenden Untersuchung wird cgm 270 nicht ausführlicher berücksichtigt, da in der Handschrift nur ein Teil der Spruchsammlung überliefert ist, in dem sich kein freidankisches Spruchgut findet. Ulrich Seelbach: Der Meister, Propheten, Poeten und Könige Sprüche. Z f d P h 104 (1985), S.368-380. Z u den Fresken allgemein vgl. Eduard Trier: Die Prophetenfiguren des Kölner Rathauses II. Ein Beitrag zur Profan-Ikonographie des Mittelalters. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 19 (1957), S. 193—224: darin Edition der Spruchreihe nach einer Abschrift aus dem 16. Jh. (S. 221—224). Welche der beiden Fassungen der anderen gegenüber Priorität beanspruchen darf, kann abschließend nicht mehr geklärt werden, da die Fresken des Hansasaales nur in Abschrift erhalten sind und eine genauere Datierung der deutschsprachigen Handschriften problematisch ist. Holtorf/Gärtner, Sp. 557.
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nen Zweizeiler Hett sünd nit sünde namen ( F R A i); darauf folgen zwei weitere, Aristoteles und Moyses zugeschriebene Zweizeiler, die in anderen Zweizeilersammlungen ebenfalls nachweisbar sind; 86 beendet wird die Sammlung jedoch mit einem Jeremias zugeschriebenen Zehnzeiler, welcher sich aus zwei Zweizeilern der ersten Gruppe nach Holtorf/Gärtner und sechs »BescheidenheitsBescheidenheitAutoritätenfreidanke
Bescheidenheit< »entspreche«. 100 Stellt man die beiden Sprüche gegenüber, so fällt die Ähnlichkeit deutlich ins Auge: Sit reht unde Bescheidenheit der tugende cröne treit sö han ich niht bezzers gelesen den reht tuon unde vrölich wesen FRA 5
Ich bin genant bescheidenheit diu aller tugende kröne treit. mich hat berihtet Fridanc ein teil von sinnen die sint kranc. F R i, i - 4
Der Autoritätenspruch zitiert die Bescheidenheit* zwar nicht direkt, dennoch bildet das erste Reimpaar bescheidenheit/tugende krone treit unverkennbar eine Anspielung auf diesen Text. Der Anspielungscharakter tritt umso deutlicher hervor, da die Eingangsverse (FRi, 1-4) eine der prominentesten Textpartien darstellen. Eine Anbindung der zu vermittelnden Didaxe (reht tuon unde vrölich wesen) an die Autoritätsinstanz Freidank erfolgt also nicht nur durch bloße Namenszuschreibung, vielmehr wird zusätzlich das in der >Bescheidenheit< sonst nicht weiter nachweisbare zweite Reimpaar über ein erstes, das an einen sehr bekannten Teil der >Bescheidenheit< anklingt, zusätzlich als »freidankisch« legitimiert. Der vorliegende Spruch stellt sich also insgesamt bewußt und literarisch geschickt in die Nachfolge Freidanks. Auch für einen zweiten Spruch läßt sich ein engerer Bezug zur >Bescheidenheit< nachweisen:
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TOO
Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang nur F R A 7, f ü r den bisher keine Parallelüberlieferung unter anderer Zuschreibung nachgewiesen werden konnte; eine anonyme Uberlieferung des Spruches in Ba$ liegt vor, dort werden allerdings alle Sprüche ohne Autoritätenzuschreibung geführt. Q I (1887"), S. 29. G r i m m s Nummerierung der Sprüche wird im folgenden im Text zitiert als G l , G 2 etc. R
M
M
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Het sünd niht Sünden namen dennoch wolt ich mich der sünde schämen FRA ι
Ob sünd niht sünde waere, si solt doch sin unmaere F R 40, jf.
In diesem Fall ist zwar der R e i m geändert, die Satzkonstruktionen (Wenn Sünde nicht Sünde wäre/hieße) sind jedoch so gut wie identisch, auch der jeweils ausgedrückte Inhalt bleibt gleich. D a der Spruch aus der B e s c h e i d e n h e i t sich ebenfalls häufiger in den Autoritätensammlungen findet (allerdings üblicherweise mit Z u s c h r e i b u n g an den heiligen B e r n h a r d ) 1 0 1 ist hier eine zufällige, »versehentliche« Z u s c h r e i b u n g denkbar: W e n n beide Sprüche bekannt waren und unter starker formaler Ä h n l i c h k e i t den gleichen G e d a n ken f o r m u l i e r t e n , k a n n es z u m A u s t a u s c h der A u t o r i t ä t e n z u s c h r e i b u n g g e k o m m e n sein, besonders w e n n die Sprüche aus d e m G e d ä c h t n i s zitiert oder notiert wurden. Fragt m a n abschließend nach der Qualität der Beziehung der »Autoritätenfreidanke< zu einem authentischen Freidank und seiner S p r u c h s a m m l u n g , der >BescheidenheitBescheidenheit< enthalten gewesen sind. Die zweite Möglichkeit ist eine irrtümliche Zuschreibung sehr ähnlicher Sprüche, wie etwa bei dem oben erwähnten Freidank-Zweizeiler ( F R A i). D a didaktisches Spruchgut mit den formalen Merkmalen sowohl der Bescheidenheit als auch der Autoritätensprüche in großem U m f a n g innerhalb der mündlichen sowie der schriftlichen Überlieferung zirkulierte, ist es nicht unwahrscheinlich, daß es zur Bildung von »Parallelsprüchen« kam, die nur minimal in Inhalt und Form voneinander abwichen. Ein solcher zunächst zuschreibungsloser Parallelspruch würde aufgrund der großen Ähnlichkeit zum Ausgangsspruch auch eine erhebliche Affinität gegenüber der diesem zugeordneten Autoritätsinstanz zeigen; eine entsprechende Zuschreibung mußte späteren Rezipienten plausibel und authentisch erscheinen. Die dritte Möglichkeit stellt die absichtlich von einem Bearbeiter vollzogene Anbindung eines Spruches an die Freidankautorität dar, wie sie in F R A 5 begegnet. Voraussetzung für eine solche Arbeitsweise bei dem jeweiligen Redaktor einer Spruchsammlung wären Kenntnis der >Bescheidenheit< und eine allgemeine Anerkennung Freidanks als Autorität bei den vom Redaktor angenommenen Rezipienten. Der Redaktor würde hier die von ihm beabsichtigte Didaxe über Schlüsselworte und bekannte Formulierungen eng an die Bescheidenheit anschließen und damit die Relevanz des Spruches steigern. Welche der drei Möglichkeiten bei einem bestimmten Spruch ausschlaggebend f ü r die Bindung an die Freidankautorität war, läßt sich — wie bereits oben angedeutet — im Einzelfall nur vermuten. Die Existenz aller drei Möglichkeiten zeigt jedoch f ü r die Freidank-Rezeption deutlich zwei Tatsachen auf: Z u m einen wurde die >Bescheidenheit< anscheinend als offenes Werk verstanden, dem innerhalb bestimmter formaler Grenzen Material hinzugefügt werden konnte. Z u m anderen beweist die absichtliche A n b i n d u n g einiger Sprüche an Freidank als fiktive Urheberinstanz, daß dieser Autor tatsächlich Autoritätsstatus genoß: Sein N a m e und die angenommene Zugehörigkeit zu seinem Werk konnten didaktischen Sprüchen offensichtlich höheres Gewicht und stärkere Relevanz verleihen.
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6.1. Forschungsüberblick Bereits in den Anfängen der Freidankforschung wurde festgestellt, daß Spruchgut unter dem Namen Freidanks ohne nachweisbare Parallelüberlieferung in der >Bescheidenheit< in den Autoritätensammlungen zu finden ist. Die ersten Studien zu dieser Sonderform der Freidanküberlieferung befaßten sich hauptsächlich mit der Urheberschaft der dort befindlichen Verse, d.h. mit der Frage nach deren Authentizität. Einer ersten Untersuchung unterzog Wilhelm Grimm Sprüche in einer Innsbrucker Handschrift (In), welche er einem späteren Bearbeiter der Bescheidenheit mit Namen Bernhard Freidank zuschrieb.103 Grimm führte seine Untersuchung zu der Spruchsammlung in In hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt eines Beweises der Existenz dieses späteren Bearbeiters durch. Die Frage nach einem Bearbeiter Bernhard Freidank war durch Theodor Georg von Karajans Edition des sogenannten »Seifried Helbling< aufgeworfen worden: 104 In diesem satirischen Gedicht des 13. Jahrhunderts sind an zwei Stellen Zitate enthalten, die nicht aus der Bescheidenheit' stammen und einem Bernhard Freidank zugeschrieben werden. 105 Von Karajan hatte die Verse in Hinblick auf eine mögliche Verfasserschaft Freidanks für »unecht« erklärt und sie einem »Zeitgenossen und landsmann Seifrieds«Io6 zugewiesen. Grimm stimmte ihm darin bei; in der Innsbrucker Handschrift glaubte er einen weiteren Ausschnitt aus dem Werk dieses Bearbeiters zu erkennen, da als Autoritäten sowohl Freidank als auch Bernhardwenn auch niemals in Kombination — genannt werden. Seine Untersuchung der Spruchsammlung konzentrierte sich entsprechend allein auf die Sprüche, die entweder Bernhard oder Freidank zugeschrieben sind, 107 sowie auf die Frage, in welchem Verhältnis diese Sprüche zur >Bescheidenheit< stehen. Die Einbindung der Sprüche in den Sammlungskontext wurde von Grimm dagegen nicht beachtet, auch seine Edition beschränkt sich auf die für ihn relevanten Verse. Abschließend urteilte Grimm über den untersuchten Teilspruchbestand: D e n ersten und f ü n f t e n Spruch [Gl = Nr. 2; G5 = Nr. 22 = F R A 6] scheint Bernhart zugesetzt zu haben, der zweite entspricht Freid. 56, 24 und 54, 3 [G2 = Nr. 8 = Bezz. F R 36, 2) f. + Bezz. F R 54, 4f.], der dritte dem Eingang der Bescheidenheit [G3 = Nr. 15 = F R A 5], der vierte steht 40, 15. Der sechste ist noch nicht zu finden
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Vgl. Wilhelm Grimm: Über Freidank. In: Kleinere Schriften IV. Hrsg. von Gustav Hinrichs. Gütersloh 1887, S. 25-30. IO+ Theodor Georg von Karajan: Zu Seifried Helbling. ZfdA 4 (1844), S. 12-50. 1Q 5 Vgl. ,Seifried Helbling., Kap. VIII, V. 488-492. 106 Von Karajan, S. 246. 107 Dies sind die Sprüche Nr. 2 (Grimm 1), 8 (Grimm 8) und 16 (Grimm 4) der Sammlung, die Bernhard zugeschrieben sind, sowie Nr. 15 (Grimm 3) und 22 (Grimm 5) mit Zuschreibung an Freidank. 68
[G6 = FRA 2; aus einer Wiener Handschrift], aber er ist des echten Textes nicht unwerth und könnte zu den verlorenen gehören [...].108 Weiterhin stellte Grimm fest, daß in einer zweiten Autoritätensammlung, die ihm von Diemer zu Vergleichszwecken zur Verfügung gestellt worden war, 109 die Verse F R 1, 7 - 1 0 mit Zuschreibung an Helyas enthalten waren. 110 Die Identifikation von G 2 und des //i?/)>iM-Spruches aus der >Bescheidenheit< ist zutreffend; darüber hinaus sind die Angaben Grimms jedoch eher fragwürdig: G3 entspricht dem Anfang der >Bescheidenheit< nur insofern, als daß in beiden Fällen die Reimworte des ersten Zweizeilers bescheidenheit/crone trait lauten, ohne daß die Verse sonst identisch wären; das zweite Reimpaar des Autoritätenvierzeilers unterscheidet sich dagegen ganz erheblich von FR 1, 3f. Möglicherweise ist hier in Anklang an den bekannten Eingangsspruch der >Bescheidenheit< eine bewußte Nachdichtung vorgenommen worden; um eine mit diesem Anfangsspruch gleichzusetzende Version oder Fassung, wie dies Grimms Untersuchung nahelegt, handelt es sich indessen nicht. 111 G4 {Der flicht erhört die stymme des armen/ Und lat sich irpresten flicht erparmen/ Den wil auch got erhören nicht/ Wenn er kumt in sein gross verdriess) läßt sich nur insoweit auf F R 40, i5f. {Man sol sich gerne erbarmen/ über die edeln armen) beziehen, als beide Sprüche das Almosengeben zum Thema haben und wieder in beiden Fällen die gleichen Reimworte armen/erbarmen, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge, auftreten; der zweite Teil des Autoritätenspruches läßt sich in der >Bescheidenheit< nicht nachweisen, dazu werden inhaltlich in beiden Sprüchen grundsätzlich unterschiedliche Gedanken zum Ausdruck gebracht: Während der Freidankspruch eine einfache Aufforderung zum Almosengeben darstellt, setzt sich der Bernhardspruch mit den im Jenseits aus fehlender Freigebigkeit resultierenden Folgen auseinander. Für die weitere Annahme, daß G l und G5 auf den hypothetischen Bearbeiter Bernhard zurückzuführen seien, G6 aber einen »verlorenen« Originalspruch darstelle, brachte Grimm keine konkrete Begründung, ebensowenig wie für seine These, daß zwischen Bernhardsprüchen und Freidanksprüchen überhaupt eine Verbindung zu ziehen sei. Diese erste Untersuchung freidankischen Spruchgutes im Kontext der Autoritätensammlungen führte damit
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G r i m m (1887), S. 29. Welche zweite Handschrift (aus Wien?) G r i m m durch Diemer zugänglich gemacht wurde, läßt sich aus den vorhandenen Angaben nicht mehr erschließen. Dieser Spruch ist — gleichfalls mit Zuschreibung an Helias— ebenfalls in In enthalten (Nr. 10); da G r i m m nicht mit der Handschrift selbst arbeitete, sondern als Grundlage seiner Untersuchung eine Abschrift der Bernhard- und Freidanksprüche durch den Innsbrucker Bibliothekar Adolf Pichler benutzte (vgl. G r i m m (1887), S. 27), ist ihm diese Parallelstelle entgangen; auch daß Spruch Nr. 7 mit Zuschreibung an Seneca F R 40, 5—8 überliefert, war ihm offensichtlich nicht bekannt. Vgl. o. S. 65.
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im wesentlichen nur zu der Erkenntnis, daß neben dem Spruchbestand der >Bescheidenheit< weitere mit dem Namen Freidanks verbundene Sprüche existieren, die innerhalb der Autoritätenspruchsammlungen überliefert werden. Die Schwächen der Grimmschen Argumentation griff Franz Pfeiffer in einer polemischen Entgegnung auf. 1 1 2 Auch Pfeiffer war eine Autoritätensammlung bekannt, die er in Edition beifügte (Mü). Er betonte, daß die Sammlung als solche [...] mit der Bescheidenheit viel mehr Berührungspunkte darbietet, als mein Gegner [Wilhelm Grimm], dem es offenbar nur um die mit den N a m e n Bernhard und Freidank versehenen Sprüche zu thun war, zu wissen scheint [...]. 113
In der Münchener Sammlung wies er nicht weniger als neunzehn Sprüche aus der >Bescheidenheit< nach, dazu G 6 (FRA 2). Anders als Grimm befaßte sich Pfeiffer nicht nur mit dem Freidank oder Bernhard zugeschriebenen Spruchgut und mit möglichen Ableitungen dieser Sprüche aus der >BescheidenheitBescheidenheit< mit Zuschreibungen an andere Autoritäten in den Autoritätensammlungen enthalten seien. Mit der Frage der »unechten«, d.h. also Freidank zugeschriebenen, aber nicht in der >Bescheidenheit< enthaltenen Sprüche befaßte sich Pfeiffer nicht explizit," 5 da sein Hauptanliegen war, die Bearbeiterthese zu entkräften. Er
1,2
Vgl. Pfeiffer, S. 140-144. > Pfeiffer, S. 140. "4 Pfeiffer, S. 144. 111 In cgm 523 ist mit G6/FRA 2 allerdings auch nur ein Spruch mit Zuschreibung an Freidank LL
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stellte jedoch allgemein die A n f ä l l i g k e i t der >Bescheidenheit< f ü r »Unterschiebungen« fest: Hat man Wolfram umfangreiche Dichtungen, dem Konrad von Würzburg Erzählungen und Schwanke, dem Neithart eine Reihe von Liedern und Anderen Anderes untergeschoben und angedichtet, um wieviel leichter konnte solches Unterschieben fremder Sprüche bei Freidank statt finden. In der That finden sich in Gedichten und Hss. des 13. bis 15. Jahrh. da und dort dem Freidank zugeschriebene Sprüche, ja sogar größere Werke, die mit dem Freidank nichts als den Namen gemein haben. 116 Die Hss. der Bescheidenheit selbst weisen eine Menge unterschobener Sprüche auf [...]. Nichts war leichter, als ein Werk von so losem Gefüge auf der einen Seite zu verkürzen, auf der andern mit neuen Sprüchen zu vermehren." 7 Grundsätzlich scheint also P f e i f f e r G r i m m insofern zuzustimmen, als daß auch er die Authentizität einzelner Sprüche anzweifelte; allerdings vermutete er als deren Ursprung weniger einen einzelnen Bearbeiter als einen allgemeinen Bearbeitungsprozeß im Verlauf der Überlieferung. D e r Freidankforschung des 19. Jahrhunderts waren also die Autoritätensammlungen als Phänomen u n d als Texte - zumindest teilweise — bekannt. D e m W u n s c h entsprechend, ein möglichst vollständiges Korpus aller authentischen Freidanksprüche zu erhalten, lag der Fokus der Forschung in wesentlich größerem M a ß e auf dem jeweiligen Einzelspruch und dessen »Echtheit« als auf dem Sammlungskontext; die S a m m l u n g e n w u r d e n weniger als literarische Einheit verstanden, denn als eine Z u s a m m e n s t e l l u n g aus verschiedenen E i n zeltexten. D a die Autoritätensammlungen als eigenständige literarische Gattung k a u m ins Bewußtsein traten, unterblieb auch die Frage nach dem G r u n d der Integration von Versen aus der >Bescheidenheit< und der E i n b i n d u n g des N a m e n s Freidank in den Autoritätenkontext sowie nach den Prinzipien, die diesem Integrationsprozeß zugrunde liegen. In der neueren Freidankforschung w u r d e das Problem der Autoritätensammlungen erst wieder durch Berndt Jäger a u f g e g r i f f e n . 1 1 8 Jäger bietet in seiner U n t e r s u c h u n g zur F r e i d a n k ü b e r l i e f e r u n g i m Spätmittelalter eine Z u s a m menstellung von sechzehn H a n d s c h r i f t e n , in denen Autoritätensammlungen enthalten sind. In einer tabellarischen A u f l i s t u n g dieser S a m m l u n g e n erfaßt er jeweils den »Charakter der Handschrift« (zusammenfassende A n g a b e des
enthalten, für den sich keine Parallelüberlieferung in der Bescheidenheit* nachweisen läßt (Nr. 49 nach Pfeiffers Edition). 116 Pfeiffer, S. 137. "7 Pfeiffer, S. 138, A n n . 1. llS Jäger, S. 2 4 7 - 2 6 0 .
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Inhalts), Entstehung und Herkunft der Handschrift, sowie unter der Rubrik »Autoritätssignal« einige kurze Bemerkungen zur jeweiligen Sammlung und ein Inventar der identifizierten Freidanksprüche mit der jeweiligen Zuschreibung. Angegeben sind dabei nur Sprüche, die Freidank in der entsprechenden Sammlung zugeschrieben sind und solche, zu denen sich eine Parallelüberlieferung in der »Bescheidenheit findet; tritt dagegen ein Spruch, der in anderen Sammlungen unter dem Namen Freidanks geführt wird und nicht in der »Bescheidenheit belegt ist, unter »fremdem« Namen auf, so wird sein Vorkommen in der betreffenden Sammlung nicht erwähnt. Da die Autoritätenzuschreibungen bei den meisten Sprüchen mehrfach wechseln, ist infolgedessen ein Uberblick über die gesamte Parallelüberlieferung eines Spruches innerhalb der Autoritätensammlungen auf Grundlage von Jägers Aufstellung nicht möglich. Als weiterer Kritikpunkt wäre anzuführen, daß Jäger keine neue Edition der Autoritätenfreidanke leistet. Im allgemeinen behilft er sich damit, auf Eulings Edition der Wolfenbütteler Priamelhandschrift zu verweisen;119 nur in den Fällen, in denen Sprüche mit Zuschreibung an Freidank auftreten, die weder dort, noch in der »Bescheidenheit zu finden sind, fügt er seiner Tabelle eine Transkription des betreffenden Spruches bei. Es ist daher nur unter Schwierigkeiten festzustellen, wie groß der Bestand an >Autoritätenfreidanken< tatsächlich ist; Spruchvarianten bleiben vollständig unberücksichtigt. In seiner Analyse des vorgestellten Materials vertritt Jäger in Fragen der Urheberschaft der Sprüche die Position Pfeiffers: Er weist Grimms Bearbeiterthese zurück, indem er in Zusammenhang mit dem Namen Freidank eine literarische Entwicklung feststellt, die — von einem tatsächlichen Autor und seinem Werk ausgehend — zur Entstehung eines eigenen Genres hinführt: Dafür [für die A n n a h m e eines Bearbeiters] ist kein Anlaß, da Freidank bald über den Namen hinaus als »Typ« verstanden wird; also braucht eine Bindung an eine einzige Person kaum angenommen zu werden: in Freidanks »Rolle« wird vieles weitertradiert und weitergedichtet. 1 2 0
Die Autoritätensammlungen als literarischen Typus ordnet Jäger entsprechend der mitüberlieferten Umgebungstexte in den ihm bekannten Handschriften (v.a. Haus- und Erbauungsbücher) dem Bereich der Orthopraxis zu; er leistet eine Kurzbeschreibung der Genrekonventionen und eine provisorische Einteilung der Handschriften in Überlieferungsgruppen. Im abschließenden Fazit wertet Jäger das Auftreten von Freidanksprüchen in Autoritätensammlungen als Beleg für eine Verselbständigung einer Autoritätsinstanz Freidank, die unabhängig von der »Bescheidenheit existiert:
120
Vgl. Karl Euling: Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. II. Die Wolfenbütteler Handschrift 2.4. Aug. 20. Berlin 1908. ( D T M 14). Jäger, S. 256.
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Wir können folgern, daß — vor allem seit dem XV. Jhd. - Freidankoriginal und Freidankautorität getrennt werden können. Ein Symptom dafür ist, daß in Spruchzusammenhängen Echtheit eines Autors oder Werks nicht immer erstrebt ist. Bedürfnisse und Erwartungen der Rezipienten haben vielmehr die Bekanntheit des Namens und dann (damit zusammenhängend) die Autorität des »Fachmanns« verwertet; Freidank verbürgt für den Unsicheren reproduzierbare Wirksamkeit und Wirkung. [...] Die Rekonstruktion der Rezeptionsgewohnheiten ließ Offenheit und Verfügbarkeit der Freidankautorität erkennen, die in vielfältige und unterschiedliche Zusammenhänge übertragen werden kann [...]. Echtheit ist dort nicht das einzige Kriterium, wo Variationen und Permutationen der Uberlieferung eigentümlich sind, da sonst eine einzige Variationsstufe (Überlieferungsphase) absolut gesetzt wird. [...] Jede Überlieferungsphase hat vielmehr ihr eigenes Gewicht und dokumentiert eben nur eine mögliche, situationsgebundene Freidankauffassung. 121 Grundsätzlich ist Jäger in dieser Bewertung zuzustimmen; dennoch bleibt die Frage nach einer detaillierteren Auswertung sowohl der Autoritätenfreidanke an sich als auch der Autoritätensammlungen i m allgemeineren offen, da es k a u m ausreichen kann, diese Texte als normative Anleitung zum »rechten Verhalten« 122 zu charakterisieren, ohne die dargebotenen Normen und die d a f ü r bürgenden Autoritäten näher zu bestimmen u n d Unterschiede oder Gemeinsamkeiten dieser Textsorte in Hinblick auf die >Bescheidenheit< zu untersuchen. Auch die Frage nach dem Sinn eines »Echtheits«- bzw. Authentizitätsbegriffes innerhalb der Freidankforschung wird erneut zu stellen sein. Jäger ist sich der Problematik dieser Kategorie zwar bewußt, kommt aber dennoch nicht u m h i n , auf sie zurückzugreifen. Da er auf der einen Seite Freidank und dessen Werk als Rezeptionsphänomen auffaßt, auf der anderen Seite aber auch die Echtheitsfragen der älteren Forschung erneut untersucht, müssen einige seiner Ergebnisse unverständlich bleiben. In Zusammenhang mit der Frage nach den Autoritätenfreidanken ist besonders eine abschließende Bemerkung Jägers von Interesse: Was ist darunter zu verstehen, daß »in Spruchzusammenhängen Echtheit eines Autors oder Werks nicht immer erstrebt« wurde? Diese Formulierung legt nahe, d a ß nach Jägers Ansicht nachträglich Sprüche mit dem Namen Freidanks verbunden wurden, obwohl dem jeweiligen Schreiber bewußt war, d a ß es sich nicht u m authentische Sprüche handelte - mithin wären tatsächlich, wie schon Pfeiffer vermutete, absichtliche »Unterschiebungen« vorgenommen worden. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung wird danach zu fragen sein, welches Verständnis von Freidank als Autor und Autoritätsinstanz sowie von der »Bescheidenheit als geschlossenem oder offenem Werk bei den Rezipienten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
121 1Z1
Jäger, S. 259f. Jäger, S. 256.
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anzunehmen ist und ob in diesem Zusammenhang das Kriterium der »Echtheit« überhaupt eine Rolle spielen kann. Zuletzt verwiesen hat auf die Integration des Namens Freidank in die Autoritätensammlungen — in Verbindung mit Spruchgut aus der »Bescheidenheit, aber auch in Verbindung mit den Autoritätenfreidanken — Klaus Grubmüller.123 Grubmüller beschäftigt sich in seiner allgemeinen Untersuchung des Phänomens Freidank, der von ihm ausdrücklich als Autorität eingeschätzt wird, hauptsächlich mit der Frage nach der Legitimation Freidanks, nach dem Grund, warum dessen Sprüche als wahr und verbindlich angesehen wurden, mithin nach der »Wurzel seines Ruhmes«.124 Als innerhalb der mittelalterlichen Literatur gängige rhetorische Legitimationsprinzipien nennt er Zitation einer als Autorität eingeschätzten Quelle, Autorität des Sprechenden aufgrund von dessen Status als Weiser, Lehrer oder Prediger, sowie Präsentation des Textes als Summe allgemeinen Konsenses, herbeigeführt durch entsprechende Rahmenerzählungen. Grubmüllers Ansicht zufolge entziehen sich Freidank und sein Werk, die »Bescheidenheit, den genannten Kriterien: Der Autorität Freidanks fehlt in der »Bescheidenheit jede der beschriebenen Stützen: er beruft sich nicht auf Gewährsleute und Gewährstexte, nicht auf erzählte Situationen und deren legitimierende Kraft. Nicht einmal [...] auf die Autorität der künstlerischen Form kann er sich berufen, also darauf, daß die Beherrschung der Kunstregeln und der öffentliche Gesangsvortrag als Ausweis von Expertentum verstanden werden dürfen, der die Glaubwürdigkeit der vorgetragenen Inhalte stützt. 125
In der Folge ergebe sich - so Grubmüller - eine symptomatische Irritation der Freidankautorität gegenüber,126 da dieser als begründende und verbürgende Autoritätsinstanz »alle Wünsche offen« 127 lasse. Offensichtlichster Beleg für diese Irritation sei Wilhelm Grimms Versuch der Identifikation Freidanks mit Walther von der Vogelweide; um dessen Irrtum nicht allein als »neuzeitliches Mißverständnis« darzustellen zu müssen, führt Grubmüller die Autoritätensammlungen, die er exemplarisch anhand der Handschrift Mit untersucht, als Indiz dafür an, daß spätestens seit dem 15. Jahrhundert Freidank nicht oder nicht mehr als selbständige Autoritätsinstanz eingeschätzt worden sei: Es ist ganz offensichtlich, daß dem Freidank, der in den ihm sonst zugeschriebenen Sprüchen ganz ohne stützenden Namen auskommt, hier [Autoritätensammlung im cgm 523] durch etablierte Autoritäten aufgeholfen werden soll [...] Z u
12i 124 125 126 127
Grubmüller, S. 4 6 - 4 8 . Vgl. Grubmüller, S. 43. Grübmüller, S. 43f. Grubmüller, S. 46. Grubmüller, S. 45.
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beobachten ist also an der kleinen Münchener Sammlung und den anderen ihr ähnlichen [...] wie eine literarische Form und ein Autor, die aus sich heraus und ohne Stütze eines legitimierenden Namens lehrhafte Autorität gewonnen haben, nachträglich durch geborgte Autoritäten [...] in ihrem Anspruch (oder auch nur in ihrem Erfolg) begründet werden - doch wohl deswegen, weil die ursprüngliche Begründung in dieser anderen oder neuen Umgebung nicht mehr trägt. 128
Diese Interpretation der Autoritätensammlungen durch Grubmüller muß allerdings entschieden zurückgewiesen werden, da es sich dabei um das Ergebnis einer Perspektivenverzerrung handelt: Grubmüllers These wäre nur dann haltbar, wenn man die Autoritätensammlungen nicht als eigenständiges Genre betrachten würde, sondern - wie hier geschehen - lediglich als formal-literarische Verbrämung eines Ausgangstextes ansieht, der »eigentlich« überliefert werden soll. Intention der Autoritätensammlungen als Textgattung ist es indessen nicht, Freidanküberlieferung zu ermöglichen - Autoritätensammlungen sind als Kompilationen formalästhetisch vereinheitlichten Spruchund Wissensgutes aus unterschiedlichen Quellen zu verstehen, die sich jeweils durch höchste Weisheit, Relevanz und Zuverlässigkeit auszeichnen müssen. Ein Autoritätsstatus der betreffenden Instanz ist damit Voraussetzung dafür, daß die Aufnahme einer Figur bzw. eines Autors in den Kanon der legitimierenden Instanzen überhaupt erfolgen kann. Das Auftreten Freidanks in den Autoritätensammlungen bedeutet also gerade nicht, daß seine Autorität von den Rezipienten hinterfragt worden wäre und deshalb der Unterstützung durch andere, anerkanntere Autoritäten bedurft hätte; es ist im Gegenteil - entsprechend der Interpretation Jägers - ein deutlicher Beweis dafür, daß Freidank im Spätmittelalter größte Autorität besaß, da er gleichberechtigt und gleichwertig neben Kirchenvätern und antiken Philosophen genannt werden konnte. Die Schwierigkeiten, die sich für Wilhelm Grimm und — wie Grubmüllers Untersuchungsansatz plastisch demonstriert — in gewisser Weise auch noch für die neuere Forschung aus dem Autoritätsstatus einer nicht historisch faßbaren Figur ergeben, die sich durch nichts weiter als ein unscharf einzugrenzendes Werk empfiehlt, welchem zudem nach heutigen Maßstäben weder besondere Originalität und Eigenständigkeit, noch größere Wissenschaftlichkeit oder hoher ästhetischer Wert zugesprochen werden können, sind nicht damit zu lösen, daß man - wie Grubmüller - diese Autoritätsinstanz für grundsätzlich defizitär erklärt. Das Unbehagen Grimms und Grubmüllers dürfte vielmehr darauf beruhen, daß Autorität stets als ein konventionell vereinbartes und damit historischem Wandel unterworfenes Konzept zu sehen ist: Autoritätsinstanzen besitzen hauptsächlich deshalb Autorität, weil eine kulturelle Gemeinschaft ihnen diesen Status zuspricht und er als cha-
lzS
Grubmüller, S. 48.
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rakteristische Qualität der jeweiligen Instanz im kulturellen Gedächtnis dieser Gemeinschaft verankert ist. D a ß diese Konvention f ü r andere, im vorliegenden Fall spätere kulturelle Gemeinschaften nicht immer nachvollziehbar sein muß, ändert nichts an der Verbindlichkeit der Konvention f ü r die Gruppe, von der sie vereinbart und innerhalb derer sie weitergegeben und überliefert wird. Wenn daher Grubmüller Freidank alle einer Autorität notwendigen Eigenschaften abspricht und Wilhelm G r i m m durch die Identifizierung Freidanks mit Walther von der Vogelweide einen zweiten, großen N a m e n zu dessen Verteidigung als Autorität heranzieht, so kann dies nichts weiter besagen, als daß sich die Autoritätskriterien innerhalb der deutschen Literatur seit dem 14. Jahrhundert verändert haben und eine historisch und damit unwirksam gewordene Freidankautorität mit den modernen Kriterien nur schwer vereinbar 1st 129 — von einer symptomatischen, grundsätzlichen Irritation der Freidankautorität gegenüber, die sozusagen in ihr selbst angelegt wäre und als deren Manifestation die Autoritätensammlungen zu gelten hätten, kann dagegen kaum die Rede sein. Abschließend ist festzustellen, daß innerhalb der F r e i d a n k f o r s c h u n g das Phänomen der >Autoritätenfreidanke< und der Integration von Spruchgut aus der Bescheidenheit* in die Autoritätensammlungen bisher nur am Rande untersucht wurde, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der Identifizierung der Sprüche aus der >Bescheidenheit< sowie auf der Frage nach der Provenienz der dort nicht nachweisbaren Sprüche lag. Eine Deutung dieses Phänomens als besonderer Uberlieferungsform innerhalb der Freidankrezeption erfolgte nur in Ansätzen, eine Einordnung in den soziokulturellen Kontext steht weiterhin aus. 6.x. Freidankrezeption im Kontext der Autoritätensammlungen Eine Untersuchung der Autoritätensammlungen als einem Sonderphänomen der Freidankrezeption muß beide Formen der Freidankadaption berücksichtigen, die innerhalb dieses Kontextes auftreten: Z u m einen erscheint Freidank in den Autoritätensammlungen als Autoritätsfigur — meist in Verbindung mit Autoritätenfreidanken, mit Sprüchen also, die nicht in der >Bescheidenheit< nachweisbar sind; zum anderen ist in einigen Sammlungen Spruchgut aus der >Bescheidenheit< enthalten, welches in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit anderen Autoritätsinstanzen in Verbindung gebracht wird, aber auch eine Freidankzuschreibung erhalten kann.
129
Z u r historischen Entwicklung der Freidankautorität vgl. unten, Kap. IV. Es ist davon auszugeben, daß nach einer letzten Hochphase zu Beginn des 16. Jahrhunderts, nachweisbar durch die in großer Anzahl vorhandenen frühen Drucke der »Bescheidenheit, spätestens im 17. Jahrhundert Freidank seinen Status als Autorität verloren hatte.
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6.2.1. Freidank als Autoritätsfigur Die Integration von freidankischem Spruchgut als Freidank zugeschriebenem Zitat in andere Texte war gängige Praxis, mehrere solcher Freidankzitate sind von der Freidankphilologie seit ihren Anfängen zusammengetragen worden. 1 3 0 Der Freidank zugeschriebene Autoritätenspruch ist in seiner Intention von dieser Zitierpraxis in anderen Kontexten deutlich abzuheben, auch wenn formal (Uberlieferung eines oder weniger Sprüche in Verbindung mit einer Freidankzuschreibung innerhalb eines größeren Umgebungskontextes) keine Unterschiede zwischen beiden Rezeptionsformen bestehen und derselbe Spruch entweder als Zitat oder als Autoritätenspruch auftreten kann. Ziel des literarischen Freidankzitates ist es, den Haupttext zu kommentieren, dessen Aussage zu präzisieren oder zu intensivieren; damit ist es nicht notwendiger Bestandteil des Gesamttextes, sondern eine literarische Schmuckform, die gleichzeitig belehren und erfreuen soll. G a n z anders stellt sich der Bezug des freidankischen Autoritätenspruches auf seinen Umgebungstext dar: Der Autoritätenspruch ist Teil einer Sammlung, die mehrere Sprüche gleichberechtigt nebeneinander stellt; er ist damit nicht ergänzende Schmuckform, sondern gehört zum Haupttext selbst. Das M a ß an Autorität, welches in beiden Überlieferungsformen Freidank als Instanz zugeschrieben wird, ist daher ebenfalls unterschiedlich einzuschätzen: Das Zitat innerhalb eines literarischen Textes impliziert, daß Freidank eine verläßliche, zitierfähige Instanz ist, deren Worte zur Legitimation bestimmter Aussagen und Inhalte herangezogen werden können; die Autorität Freidanks, die sich im Kontext der Spruchsammlungen konstituiert, geht jedoch weit über eine einfache Zitierfähigkeit hinaus. Die Autoritätensammlungen haben den Anspruch, Weisheiten der Lehrer und Meister zusammenzustellen; somit ist bereits in ihrer grundsätzlichen Konzeption den einzelnen Sprüchen als Repräsentanten dieser Weisheit die Qualität höchster Relevanz eingeschrieben — sie stellen intentionsgemäß ein Konzentrat der wichtigsten ethischen Wissensinhalte des christlich-abendländischen Kulturkreises, beglaubigt durch herausragende Persönlichkeiten, dar. Wenn Freidank also innerhalb der Autoritätensammlungen als Autoritätsinstanz auftritt, so bedeutet dies, daß er selbst zum Lehrer und Meister wird, der den anderen Autoritäten — antiken Philosophen, biblischen Figuren und Kirchenlehrern — ebenbürtig ist. U m besser ermessen zu können, welche Qualität diese Freidank durch die A u f n a h m e in den Kreis der Meister zugeschriebene Autorität besitzt und in welche thematischen Kontexte er sich als Autoritätssymbol eingliedert, soll zunächst das Inventar der Autoritätsfiguren einer näheren Untersuchung unterzogen werden. D a vornehmlich wichtig ist, den Assoziationsrahmen abzu-
lio
Siehe unten, Kap. V I .
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stecken, innerhalb dessen sich die Freidankautorität bewegt, sollen hier nur die häufiger auftretenden Autoritätsfiguren berücksichtigt werden — eine Auflistung und Analyse aller in allen Sammlungen genannten Autoritäten kann nicht Ziel dieser Arbeit sein; statt dessen soll der Versuch unternommen werden, bestimmte typologisch homogene Autoritätengruppen zu identifizieren und festzustellen, welche Art von Autorität diese jeweils verkörpern. Die höchsten Autoritäten, die in den Sammlungen für Dicta bürgen, sind Gott selbst und Christus, die innerhalb eines christlich geprägten Legitimationssystems den Inbegriff von Wahrheit und Weisheit darstellen und entsprechend als höchste vorstellbare Legitimationsinstanzen gelten können. Entsprechend wird eine Anzahl der Sammlungen jeweils mit einem Gott zugeschriebenen Spruch eröffnet. 13 ' An derart prominenter Stelle piaziert, erfüllen die Gott zugeschriebenen Sprüche offensichtlich zwei Funktionen: Zum einen weisen sie vorausdeutend auf die hohe Relevanz der gesamten Spruchsammlung hin, zum anderen stellen sie die jeweilige Sammlung unmißverständlich in die Tradition christlicher Wissenskultur. 132 Eine weitere Gruppe von Autoritätsfiguren setzt sich aus biblischen Gestalten zusammen. Hervorstechender Repräsentant dieser Gruppe ist Salomo, dessen N a m e ebenfalls häufig am Beginn einzelner Spruchsammlungen steht. 133 D a ß Salomo als Legitimationsinstanz in den Autoritätensammlungen eine bedeutende Position einnimmt, ist k a u m verwunderlich, da Salomo das gesamte Mittelalter hindurch als Paradigma des weisen Herrschers galt; seine Weisheit und seine Gerechtigkeit waren sprichwörtlich. In ihrer Bedeutung als Eingangssignal sind die Salomosprüche ähnlich einzuschätzen wie die Gott zugeschriebenen Eingangssprüche: Durch Rekurs auf eine auf dem Gebiet der Weisheit hervorragende und kaum zu übertreffende Gestalt wird der mit dieser Figur verbundene assoziative Rahmen evoziert und auf die Sammlung in ihrer Gesamtheit übertragen, die so als besonders wahr und relevant gekennzeichnet wird. Als zweiter biblischer König tritt — ebenfalls mehrfach — David auf. Er verkörpert wie Salomo das Idealbild eines guten Herrschers, dessen Legitimation vor allem spiritueller Natur ist und sich auf eine direkte Beziehung zu Gott gründet, zusätzlich wurde er als Prophet und Psalmendichter geschätzt;
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So in Ba2, BW, Lo (1), Lo (2), Mü>','/.üund /ü>'. Eine hierarchischen Anordnung der Sprüche nach Rang der zugewiesenen Autoritätsfiguren, wie sie etwa im >Liber Scintillarum< des Defensor von Liguge durchgeführt ist (Reihenfolge der Autoritäten dort: Gott; biblische Autoritäten, zumeist Apostel; Kirchenväter, Auszüge aus anonymen Werken) scheint für das Genre der Autoritätensammlungen keine entscheidende Rolle zu spielen, da sich aus der jeweiligen Folge der Sprüche kein zugrundeliegendes Ordnungsschema feststellen läßt. So in Bez, Bej, Du, Gö, Go, Gr, Lit, Müz, Ol, Pa, Up, Wi} und W04.
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in der Oldenburger Handschrift wird David entsprechend als rex etpropheta bezeichnet. 134 Neben den Königen sind hauptsächlich Propheten in den Kanon der Autoritätsinstanzen aufgenommen worden. Besonders oft treten Mose, Jesaja, Elia und Daniel auf, aber auch die kleineren Propheten wie Habakuk, Micheas, Hosea, Joel, Arnos und Ezechiel werden hin und wieder als Autoritätsinstanzen genannt. Typologisch betrachtet sind sie den religiös-spirituell legitimierten Herrschern, repräsentiert durch David und Salomo, eng verwandt: W i e diese stehen sie in direkter Verbindung zu Gott, der sie als sein Sprachrohr einsetzt; wie diese sorgen sie — wenn auch als spirituelle Mahner und Führer, nicht als Herrscher — für die Umsetzung göttlichen Willens in der pragmatischen Sphäre sozialen und politischen Zusammenlebens. Da die jeweils zugewiesenen Sprüche nicht in thematischer Verbindung zum biblischen Hintergrund der jeweiligen Figur stehen, kann über die Motive, die zur Wahl eines bestimmten Propheten oder zum Ausschluß anderer geführt haben, nur spekuliert werden. An neutestamentlichen Figuren finden sich unter den Autoritäten der Evangelist Johannes, die Apostel Petrus und Paulus sowie Thomas, 135 jedoch liegt der quantitative Schwerpunkt der Spruchzuweisungen an biblische Instanzen deutlich bei den alttestamentlichen Propheten und Königen. Alle Autoritätsfiguren, die dem biblischen Kontext entstammen, qualifizieren sich dadurch als Meister und Lehrer, daß sie in engem persönlichen Kontakt zu Gott selbst stehen und als Verkünder seiner Worte hervorgetreten sind. Die Vermittlung göttlicher Worte reicht dabei qualitativ von der Einrichtung von Gesetzen (Mose und die Zehn Gebote) über die prophetische Vorausschau des Zukünftigen (Offenbarung des Johannes, Träume des Daniel) bis hin zur Verkündigung des Glaubens an die Heiden (Paulus). Autorität besitzen die Worte dieser Lehrer und Propheten, weil sie durch göttliche Eingebung zustande kommen; die persönliche Weisheit der jeweiligen Figur spielt gegenüber deren Ubermittlerfunktion eine untergeordnete
1,4
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Als weitere biblische Herrscher werden genannt Melchisedek fOx: Nr. 9), Saul fGr. Nr. 17; Wi\ Nr. 36) und Roboam {Gr. Nr. 16; Wi: Nr. 35). Melchisedek, der »Priesterkönig«, ist als Typus mit David vergleichbar, auch er symbolisiert religiös-spirituelle Herrschaft, vgl. 1. Mose 14, 1—24; Hebr. 7, 1—28. Saul und Roboam (Rehabeam nach der der Deutung Seelbachs, vgl. Seelbach, S. 380, Anm. zu Nr. 35) fungieren als Negativbeispiel: Sie repräsentieren schlechte Herrscher, die durch Gott bestraft werden, insgesamt ist ihr Auftreten in diesem Rahmen eher ungewöhnlich, da die Autoritätensammlungen hauptsächlich mit positiven Vorbildern arbeiten. Ob im Einzelfall tatsächlich der Apostel Thomas gemeint ist, oder ob sich der Name auf Thomas von Aquin bezieht, läßt sich nur dann entscheiden, wenn dem Namen eine weitere Titulatur beigegeben ist (Vgl. z.B. in Mi'u, Nr. 11: Thomas apostolus·, ittc Nr. 20: Thomas de Aquino doctor). Da beiden Figuren Sprüche zugewiesen werden und die Zuschreibungen oft wechseln, kann der Name Thomas allein nicht zu einer abschließenden Identifizierung führen.
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Rolle, 136 da der Ursprung ihrer Worte nicht als menschlich, sondern als göttlich angesehen wird. Eine zweite größere Gruppe von Autoritätsfiguren setzt sich aus Kirchenvätern und -lehrern zusammen. A m häufigsten genannt werden Augustinus, Bernhard, Gregorius und Hieronymus, daneben werden Ambrosius, Albertus Magnus, Beda Venerabiiis, Johannes Chrysostomus, Thomas von Aquin, Isidor von Sevilla oder auch Bonaventura Sprüche zugeschrieben. In Zusammenhang mit dieser Gruppe ist allerdings zu beachten, daß zum Zeitpunkt der Entstehung der Autoritätensammlungen bei weitem noch nicht alle der genannten Theologen tatsächlich zu Kirchenlehrern erklärt worden waren. 137 Intention der Autoritätensammlungen war daher wohl nicht die Zuschreibung von Sprüchen explizit an Kirchenlehrer, sondern allgemeiner die Zuschreibung an anerkannte Theologen. Die Autorität dieser zweiten Gruppe unterscheidet sich von der der biblischen Figuren. Anders als die Propheten vermitteln die Kirchenlehrer nicht neues Wissen; ihre Aufgabe ist vielmehr die richtige Auslegung der heiligen Schrift und die Lehre bestehender Inhalte. Entsprechend dieser anderen Qualität zeigen sich die Kirchenlehrer explizit als Gelehrte. Ihre Weisheit entspringt weniger direkter göttlicher Eingebung als dem Studium religiöser Schriften; entsprechend tritt die persönliche Weisheit bei diesen Autoritäten stärker in den Vordergrund, da sie aktiv nach Erkenntnis streben und diese nicht nur passiv empfangen. Schließlich ist festzuhalten, daß die Autorität der Kirchenlehrer eine institutionell durch die Kirche gestützte ist. Während sich bei den biblischen Figuren eine Art »natürlicher« Autorität aus der Tatsache ergibt, daß sie in der Heiligen Schrift erwähnt werden, ist auch bei hervorragenden Theologen eine Legitimierung durch die Kirche notwendig, um ihnen allgemeine Autorität unabhängig von regionalen und chronologischen Grenzen zu sichern. Die Präsenz dieser Gruppe der Kirchenlehrer innerhalb des Kanons der Autoritätsinstanzen charakterisiert die in ihnen dargebotenen Inhalte somit als im Einklang mit dem göttlichem Willen durch die Institution der Kirche bestätigtes und so zusätzlich legitimiertes Wissen. Eine dritte und letzte Gruppe schließlich umfaßt antike Philosophen und Poeten. Die meisten Zuschreibungen erhalten hier Aristoteles, Seneca, Cato und Plato; neben diesen treten Sokrates, Horaz, Lucan, Avian und Ovid als Garanten von Autoritätensprüchen auf.
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Besondere Weisheit wird als Attribut unter allen in den Autoritätensammlungen auftretenden biblischen Figuren innerhalb der Uberlieferungstradition allein Salomo zugesprochen. So wurde etwa Isidor von Sevilla erst 1722 zum Kirchenlehrer erklärt, Bernhard von Clairvaux 1830, Beda Venerabiiis 1899 und Albertus Magnus 1931. Vgl. Kaster (1990a), Sp. 3 1 2 - 3 1 4 .
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Die Position dieser antiken Meister innerhalb des mittelalterlichen Weisheits- und Autoritätensystems ist ambivalent: Auf der einen Seite spielten sie eine feste Rolle innerhalb der universitären Ausbildung, ihre Relevanz war allgemein anerkannt. Auf der anderen Seite bestand das grundsätzliche Problem, daß die antiken Meister als Heiden gelten mußten und einige ihrer Schriften nur schwer mit dem Christentum in Einklang zu bringen waren. Diese zwiespältige Situation führte zu immer neuen Versuchen, durch adäquate Auslegungen die antiken Gelehrten zu »Christen vor dem Christentum« zu erklären und somit als Autoritätsinstanzen zu erhalten, gleichzeitig wurden von der Kirche mehrfach Forschungs- und Leseverbote ausgesprochen, um die Ausbreitung antiker Philosophie zu verhindern. Die Autorität dieser antiken Figuren basiert mithin hauptsächlich auf deren persönlichem Wissen und ihrer persönlichen Weisheit; in noch größerem Maße als die Kirchenväter stellen sie sich als Wissenschaftler bzw. Poeten dar, deren Erkenntnisse auf wissenschaftliche und künstlerische Studien zurückzuführen sind. Ihr Wissen wird jedoch gleichzeitig als Beweis für das Wirken Gottes schon vor dem Christentum herangezogen, so daß ihr philosophisches Werk gleichfalls als Ausdruck der Manifestation göttlicher Weisheit aufgefaßt werden konnte. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich die Autoritätsfiguren in den Autoritätensammlungen aus allen Bereichen mittelalterlichen Wissens und mittelalterlicher Autorität rekrutieren; die herausragendsten Vertreter aus Theologie und Philosophie als den Bereichen menschlicher Wissenschaft treten neben die biblischen Propheten, Könige und Apostel als Repräsentanten einer direkt göttlich inspirierten Weisheit. Das Wissen und die Normen, welche in Zusammenhang mit der Figurengruppe in ihrer Gesamtheit vermittelt werden, sind also auf zweifache Weise legitimiert: Zum einen sind sie Ausdruck höchster menschlicher »wissenschaftlicher« Weisheit, für die höchste Koryphäen mit ihrem Namen bürgen, zum anderen sind sie immer — auch in Verbindung mit den antiken Philosophen und Poeten — zurückzuführen auf göttliche Inspiration und somit Ausdruck göttlicher Weisheit und göttlichen Willens. Insgesamt entspricht damit das in den Autoritätensammlungen repräsentierte, sich in den Autoritätsfiguren manifestierende Konzept der Weisheit der konventionellen Anschauung mittelalterlich-christlicher Theologie und Philosophie, daß Gott als Ursprung und Quelle aller Weisheit anzusehen sei und somit alle wissenschaftlichen Studien - auch wenn sie von Heiden, wie etwa den antiken Philosophen, nicht explizit unter diesem Gesichtspunkt durchgeführt wurden - letztendlich zur Erkenntnis göttlicher Wahrheit führen müssen, da die Erkenntnis der Wahrheit grundsätzlich mit der Erkenntnis göttlicher Prinzipien gleichzusetzen sei. Wie fügt sich nun Freidank in diesen Kanon der Autoritätsfiguren ein? Den Namen Freidank ergänzende Titulaturen, die näheren Aufschluß über dessen Status geben könnten, treten in den Handschriften nur selten auf: Die 81
Oldenburger Handschrift nennt ihn poeta,1^ Bollstatter tituliert ihn einmal als Freydank der heroltΛ19 Alle anderen Handschriften geben allein den Namen an, der anscheinend als Autoritätssignal ausreichend war. Aus chronologischer Sicht stellt sich Freidank relativ problemlos zu den übrigen Autoritätsfiguren. Wenn sich die Notiz aus den Annalen des Klosters Kaisheim, die zum Jahre 1233 den Tod eines Fridancus magister meldet, tatsächlich auf den Spruchdichter bezieht, 140 dann würde seine Lebens- und Schaffenszeit kurz vor der der jüngsten aufgenommenen theologischen Autoritätsfiguren Albertus Magnus (1200-1280), Bonaventura (1217-1274) und Thomas von Aquin (1225—1274) liegen; Freidank würde mithin zu einer Gruppe »moderner«, aktueller Autoritäten gehören. Schwierig dagegen ist die Frage nach dem Status, der Freidank im Vergleich zu den anderen Autoritätsfiguren zugebilligt wurde, bzw. nach dem Grund, der zu seiner Aufnahme in diesen Figurenkanon geführt hat. Eine offensichtliche Zugehörigkeit zu einer der drei Hauptgruppen läßt sich bereits auf den ersten Blick ausschließen: Freidank ist weder eine biblische Figur, noch ein Theologe, auch kein antiker Philosoph oder Poet. Erschwerend kommt hinzu, daß er sich mit seinem Werk, der >BescheidenheitEdlibachZimmernsche Totentanz< {Be, St, St2) ist gleichfalls im süddeutschen Raum zu verorten, vermutlich wurde er auf Wilhelm Wernhers von Zimmern Schloß Herrenzimmern in der Nähe von Rottweil geschrieben. 170 Z u dieser Gruppe treten weiter zwei in Nürnberg angefertigte Handschriften (Woi: >Nürnberger/Wolfenbütteler PriamelsammlungHistorii Herculis< des Pankratz Schwenter) sowie eine, die heute in Erlangen aufbewahrt wird {Er) und aus dem Besitz des Peter Volckamer, Landschreiber des Markgrafen Albrecht von Ansbach und Bayreuth stammt, 171 so daß sie gleichfalls mit großer Sicherheit dem süddeutschen Raum zuzuordnen ist. Die Handschrift des Spitalkaplans Friedrich Beuschel {Bw) ist in relativ großer Nähe zu Nürnberg, in Bad Windsheim, geschrieben und benutzt worden. Ins Gebiet des heutigen Osterreich gehören zwei Handschriften, die Grazer (Gr) und die Innsbrucker {In) Handschrift. Die Grazer Handschrift hat laut Besitzeintrag dem Kloster St. Lamprecht gehört; für die Innsbrucker Handschrift läßt sich die Herkunft nicht genauer lokalisieren, der weitere Inhalt (Hans Vintlers >Blumen der TugendVogler. C: St. Gallen'. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz. Bd. 7 (1934), S. 288; zur Handschrift und zur Rolle der Vogler während der Reformationsbestrebungen siehe Häne, S. 43—80. Z u r Familie Fulach vgl. Otto Stiefel-Bryner: s.v. >FulachRennersche Chronik* vom A n f a n g des 16. Jahrhunderts' 6 nur die rechteckige Form des aus vier Bänken bestehenden Ratsstuhles an, dazu überliefert sie die N a m e n der abgebildeten Autoritätsinstanzen sowie die jeweils zugehörigen Sprüche; Entstehungsjahr, Auftraggeber oder Künstler werden nicht genannt. 3 7 Gramatzki weist in seiner Untersuchung zur Ikonologie des Bremer Rathauses kunsthistorische Argumente als unzutreffend zurück, die für eine späte Datierung des Gestühls in das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts oder danach sprechen würden; er setzt dessen Entstehung parallel zum Bau des Rathauses um 1405 an. Als Hauptargument f ü r diese Frühdatierung nennt er die Existenz von Redensarten über den Ratsstuhl, die sich bereits für das Jahr 1426 sicher nachweisen lassen; als weiterer Beleg dienen ihm Ubereinstimmungen in einem Sprachvergleich zwischen den in der Renner sehen Chronik überlieferten Inschriftentexten und sicher datierten Texten vom A n f a n g des 15. Jahrhunderts. 3 8 Albrecht unterstützt eine solche Frühdatierung mit dem Hinweis auf die Anzahl der Sitze, die der der Ratsherren entsprechen sollte: Eine Übereinstimmung zwischen der von ihm aufgrund der überlieferten Inschriften ermittelten Anzahl der Plätze und der in der Verfassung vorgesehenen Anzahl der Ratsherren (jeweils vierundzwanzig) läßt sich lediglich zwischen 1398 und 1428 feststellen, so daß die Entstehung des Ratsstuhles in diesen Zeitraum fallen müßte. 39 Zusammengenommen machen die von Gramatzki und Albrecht zusammengetragenen Indizien eine Datierung des Gestühls auf den Beginn des 15. Jahrhunderts wahrscheinlich. Das Ratsgestühl hat sich ursprünglich wohl in der nordöstlichen Ecke des oberen Saals des Bremer Rathauses befunden. 4 0 Seine Maße sind nicht genau rekonstruierbar; die vier erhaltenen Wangen sind zwi-
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Bremen, Focke-Museum, Inv.-Nr. 00294—00297. Johann Renner: Chronica der Stadt Bremen, 2 Bde. (Manuskript), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Brem. a. 79, Bd. 1, S. 688-693. 37 Edition der gesamten Spruchreihe bei Gramatzki, S. 55f., bei Albrecht, S. sowie bei H . Meyer, S. 68—93. Edition der für die Freidank-Rezeption relevanten Sprüche in Heiser (2003), S. 242. 38 Gramatzki, S. 53-55. 59 Albrecht, S. 46.' Vgl. Gramatzki, S. J2f. 36
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sehen 229 cm und 263 cm hoch und zwischen 45 und 57 cm breit, Gramatzki nimmt für die Sitze jeweils eine Größe von circa 70 mal 50 cm an. 41 Das Gestühl war »mit Bilden und herlichen Sproeken geziret, Weichs schene antosehende was«,42 Bildschnitzereien befinden sich auch auf den noch erhaltenen Rathauswangen, die Petrus, Paulus, Karl den Großen und Bischof Willehad von Bremen darstellen, sie enthalten jedoch keinen Text. Nach den Beschreibungen in der Chronik waren die Sprüche auf Außen- und Innenseite des Stuhls — »binnen und buten«43 - angebracht, dazu befand sich über jedem Sitz ein geschnitztes Bild einer Autorität, begleitet von einem Spruchband, auf dem die in der Chronik überlieferten Sprüche enthalten waren. 44 Uber die praktische Nutzung des oberen Saales und des Ratsgestühls liegen wenige Informationen vor; wie der Saal des Erfurter Rathauses diente er wohl als Beratungs-, aber auch als Gerichtssaal. 45 Da ein weiterer, kleinerer Saal (die Wittheitsstube) für nichtöffentliche Beratungen zur Verfügung stand, ist davon auszugehen, daß der Bremer Saal wie auch der Erfurter in erster Linie weniger im politischen Tagesgeschäft als bei repräsentativen Akten genutzt wurde. 46 Deutlicher als die Erfurter Rundschilde stellt sich das Bremer Ratsgestühl in die Tradition der Autoritätensammlungen, da jeder Spruch in Verbindung mit einer namentlich identifizierten Autoritätsinstanz stand. Insgesamt sind fünfunddreißig Sprüche überliefert (sechs Einzeller, achtzehn Zweizeiler, elf Vierzeiler), von denen acht auf Freidank zurückzuführen sind. Alle Freidanksprüche sind der >Bescheidenheit< entnommen, einmal tritt Freidank selbst (.Friidanck) als Autoritätsinstanz auf. 47 Als weitere Quellen identifiziert Meyer die Bibel, die >Disticha CatonisBescheidenheitsBescheidenheit< als Vorlage für das freidankische Spruchgut gedient hat; andere Autoritäten, die jeweils in Verbindung mit Sprüchen aus dieser Sammlung stehen, wären demnach bewußt als fiktive Urheber eingesetzt worden. Denkbar ist dagegen allerdings auch die
+I
42 43 44 45
46 47 48
Gramatzki, S. 50—53. Gramatzki bietet dazu eine detaillierte Beschreibung der erhaltenen Teile sowie eine Skizze der Rekonstruktion im Grundriß (S. 53, Abb. 72). Renner, Chronik, zitiert nach H . Meyer, S. 75. Renner, Chronik, zitiert nach H . Meyer, S. 75. H . Meyer, S. 75. Vgl. D e n k m a l e , S. yf. Angaben zu historischen Quellen dieser Informationen fehlen. Gramatzki versteht den Ratsstuhl aufgrund seiner ikonographischen Gestaltung ebenfalls hauptsächlich als »Gerichtsstuhl«, bringt aber ebensowenig wie der Herausgeber der >Denkmale< Quellenbelege für diese Einschätzung, vgl. Gramtzki, S. 60. Vgl. Gramatzki, S. 53. Nr. 34; bestehend aus F R 54, 6f. und F R 171, 3f. H . Meyer, S. 7 7 - 8 4 .
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Übernahme der Sprüche aus einer schon vorher aus unterschiedlichen Quellen kompilierten Autoritätensammlung, in der die Sprüche bereits mit den jeweiligen fiktiven Zuschreibungen versehen waren, da die Autoritätsinstanzen, die Sprüche aus der >Bescheidenheit< begleiten, sich ohne Schwierigkeiten in das übliche Korpus von Autoritätsfiguren einordnen und keine spezifischen regionalen Bezüge feststellbar sind. 49 Im Unterschied zu den Erfurter Schilden, auf denen ohne erkennbare Ordnung eine größere Bandbreite an Themen angesprochen wird, zielen die Bremer Sprüche passend zu Umfeld und praktischem Nutzen des Inschriftenträgers auf das Hauptthema guter Herrschaft, demonstriert an den Fähigkeiten zu gerechtem Richten und guter Beratung, ab. Neben der umfangreichen Präsenz von freidankischem Spruchgut an sich sind vor allem zwei der Sprüche für den Kontext der Freidank-Rezeption von besonderem Interesse: 9. Seneca: Im Rahde nemande temet, D e Gut vor Ehre nemet.
F R 72, γ f.: In küneges rate nieman zimt, der guot für s riches ere nimt.
15. Horatius: Land und Lüde irret sint Wo der Richter is ein Kind.
F R 72, i£: Lant und liute geirret sint, swa der künec ist ein kint.
In beiden Fällen wurde durch kleinere Textänderungen der jeweilige Spruch aus dem ehemals feudalen Kontext gelöst und an das neue städtische Umfeld angepaßt. In Nr. 9 wird diese Umdeutung durch simple Auslassungen erreicht {kiineges rate — Rahde·, riches ere — Ehre), in Nr. 15 wird als Instanz, von der das Wohl des Landes und der Bevölkerung abhängt, die ursprünglich genannte Figur des Königs durch die des Richters ersetzt. Diese Beispiele zeigen, daß im Falle des Bremer Ratsstuhles keine simple Übernahme traditionellen Spruchgutes erfolgte, sondern daß vielmehr eine höchst reflektierte Inbesitznahme von existierendem Kulturgut für ein neu entstandenes soziales Umfeld stattfand. In ihnen manifestieren sich darüber hinaus Selbstbewußtsein und politischer Anspruch einer städtischen Führungsschicht, die ihre Selbstverwaltungsinstanzen ohne größere Umstände an die Stelle von König und Reich als in den Hintergrund getretener Einflußträger setzte.50
Ί
Die Autoritäten rekrutieren sich wie üblich aus einem Bestand von Theologen (z.B. Nr. 22: Ambrosius), antiken Philosophen (z.B. Nr. 9: Seneca) und biblischen Figuren (z.B. Nr. 26b: Tobias). Die einzige Figur des Ensembles, für die sich ein spezifischer Bezug zur Stadt Bremen feststellen läßt, ist der auf einer der Seitenwangen dargestellte Bischof Willehad von Bremen, der allerdings, wie die übrigen auf den Wangen angebrachten Figuren, ohne begleitendes Spruchband abgebildet ist.
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Albrecht bringt mit einigen gefälschten Urkunden des frühen 15. Jahrhunderts weitere Belege für Selbstbewußtsein und Machtanspruch des Bremer Stadtrates: Die Schriftstücke
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2.3- Weberstube Augsburg Ein weiteres Inschriftenensemble, welches Freidank-Sprüche enthält und ebenso wie die Inschriften auf dem Bremer Ratsstuhl dem Autoritätenkontext zuzurechnen ist, findet sich als Teil einer Wandverkleidung der Augsburger Weberzunftstube, die heute im Bayerischen Nationalmuseum München ausgestellt ist.51 Die Malereien wurden 1456-57 durch den Maler Peter Kaltenofen ausgeführt, 1538 wurden sie durch Jörg Breu den Jüngeren erneuert und erweitert, 1601 erfolgten noch einmal Erneuerungsarbeiten durch Johann Herzog. 52 Das umfangreiche Bildprogramm beinhaltet neben Z y k l e n biblischer Geschichten (Schöpfung bis zur Vertreibung aus dem Paradies, Leben Jesu von seinen Versuchungen bis zur Auferstehung) Szenen aus dem AlexanderRoman und Darstellungen der Neun Guten Helden, der Kurfürsten und des Kaisers sowie verschiedener Herrscher (Friedrich III., Maximilian I., Philipp der Schöne, Karl V., Ferdinand I., Ludwig von Ungarn), dazu mehrere Einzelszenen (Aristoteles und Phyllis, Enthauptung Johannes des Täufers). 53 Von Bedeutung für die Freidank-Uberlieferung ist eine Bilderreihe an der Ostwand der Weberstube, die fünf Philosophen (Seneca, Plato, Sokrates, Cicero, Aristoteles) und f ü n f Propheten (Isaias, Ezechiel, Jeremias, Arnos, Daniel), jeweils in Verbindung mit einem gereimten Zweizeiler, auf einem Spruchband zeigt. 54 Die Figuren stehen in fensterartigen, perspektivisch gegebenen O f f nungen, die nach oben mit spätgotischen, laubwergefüllten Kielbögen abschließen; der Schattenwurf auf Figuren und Gewändern war an die Lichtverhältnisse der Weberstube angepaßt. Ähnlich wie in der Darstellung der im Kontext der Wandvertäfelung direkt vorangehenden Figuren der Kaiser/Kurfürstenreihe und der Neun Guten Helden sind auch die Propheten und Philoso-
sollten d a z u dienen, Bremen der Z u s t ä n d i g k e i t der V e m e - G e r i c h t e z u entziehen, der Stadt die Erlaubnis zur militärischen B e f r i e d u n g der Weser zu erteilen u n d den Ratsmitgliedern ritterliche Kleidungsprivilegien z u gestatten; der Bremer R o l a n d sollte mit S c h i l d u n d kaiserlichem W a p p e n versehen w e r d e n . A l s Fälscher l ä ß t sich J o h a n n H e m e l i n g , Ratsmitglied, ehemaliger Bürgermeister u n d D o m b a u m e i s t e r ermitteln, der daneben die »Bremische Chronik< v o n G e r t Rynesberch u n d H e r b o r t Schene w e i t e r f ü h r t e u n d tendenziös bearbeitete, vgl. A l b r e c h t , S. 5 2 - 6 0 . 51
Bayerisches N a t i o n a l m u s e u m M ü n c h e n , Inv.-Nr. M A 856—S60. Eine ausführliche Beschreib u n g des B i l d p r o g r a m m s bietet M o n i k a M e i n e - S c h a w e : D i e A u g s b u r g e r W e b e r s t u b e i m Bayerischen N a t i o n a l m u s e u m . M ü n c h e n e r J a h r b u c h der B i l d e n d e n K u n s t , D r i t t e Folge B d . X L V I , M ü n c h e n 1995, S. 25-80.
1,1
Z e i t p u n k t u n d Urheber der einzelnen Arbeitsschritte sind jeweils in Inschriften festgehalten. Z u den Erweiterungsschritten und zu den M a l e r n vgl. Lieb, S. 22—25; M e i n e - S c h a w e , S. z 7 f .
53
E i n e n U b e r b l i c k über das B i l d p r o g r a m m in seiner G e s a m t h e i t sowie über die A n o r d n u n g der einzelnen Bildelemente bietet M e i n e - S c h a w e (S. 32); d a z u fotographische A b b i l d u n g e n u n d aquarellierte W i e d e r g a b e n der W a n d v e r k l e i d u n g (S. 65—74).
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Siehe A b b . 3. E d i t i o n der Spruchreihe bei M e i n e - S c h a w e , S. 64, E d i t i o n der f ü r die Freid a n k - R e z e p t i o n relevanten Sprüche bei Heiser (2003), S. 243f. Il6
Abbildung 3
phen im H ü f t b i l d dargestellt; auf einem Schild unterhalb des Kielbogens ist jeweils der N a m e vermerkt, die Spruchbänder laufen in einer geschwungenen S - F o r m die Autoritätsfigur überdeckend meist von der linken oberen zur rechten unteren E c k e der Fensteröffnung, bei vier der Figuren (Seneca, Socrates, Isaias und Arnos) umgekehrt von der rechten oberen zur linken unteren Ecke. In ihrer Kleidung unterscheiden sich die Propheten und Philosophen kaum untereinander: Alle tragen weite, talarartige Mäntel, die an Kragen und Ärmeln hermelinbesetzt sind, 55 dazu als orientalisch wirkende K o p f b e d e c k u n g unterschiedlich gestaltete Turbane; allein Seneca u n d Sokrates bilden hier eine Ausnahme: Seneca trägt einen pelzverbrämten Hut, Sokrates ein zweifarbige spitze Kappe. Haar- und Barttracht fallen individuell aus, wobei keine der Figuren bartlos dargestellt ist. Ikonographisch betrachtet verkörpern alle den gleichen Typus des Weisen Mannes; kleinere Unterschiede in der Darstellung sind offensichtlich allein dem W u n s c h nach Abwechslung geschuldet, klar deutbare Attribute, die der Identifizierung dienen würden, fehlen. D e r Textbestand auf den Spruchbändern läßt sich insgesamt auf die erste Gruppe der Autoritätensammlungen nach Holtorf/Gärtner (Zweizeilerspruchreihe) zurückführen; 5 6 die Autoritätenthematik wird, wie schon beim Bremer Ratsgestühl und in abgeschwächter Form bei den Erfurter Rundschilden, durch die zusätzliche bildliche Darstellung der Autoritätsfiguren unterstrichen.
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Bei Isaias, Jeremias und Arnos wird das Gewand an der H ü f t e durch eine breite Bauchbinde gerafft, Cicero trägt einen schalartigen U b e r w u r f über der linken Schulter, der über seiner linken Hüfte verknotet ist. Holtorf/Gärtner, Sp. 55yf. Die Inschriften der Weberstube werden dort als Textzeugnis genannt.
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Insgesamt drei der Figuren stehen in Verbindung mit freidankischem Spruchgut: Ezechiel in rotem Mantel mit Hermelinkante und einem Turban mit dreizipfeligem Kappenaufsatz begleitet F R A i; Cicero, ebenfalls in rotem, hermelinbesetzen Mantel mit togaähnlicher Schärpe über der linken Schulter und unter dem Kinn festgebundenen Turban präsentiert FR 54, 6f. Aristoteles schließlich in grünem Mantel mit Hermelinkante trägt einen oben auf dem Kopf sitzenden Turban ohne weitere Verzierungen, auf seinem Spruchband ist der in Parallelüberlieferung in der verbrannten Straßburger Handschrift C. V I . 7 nachweisbare und zusätzlich durch Hans Sachs für Freidank belegte Spruch Der ist weis und ivolgelert57 enthalten; bei einem Gesamtbestand von zehn Sprüchen ist damit fast ein Drittel des Textes dem Umfeld der Freidank-Uberlieferung zuzuschreiben.58 Einen Versuch zur Deutung der Propheten- und Philosophenfiguren im Rahmen des gesamten Bildensembles unter Berücksichtigung des besonderen Standortes in einer Zunftstube hat zuletzt Jörg Rogge unternommen.59 Rogges allgemeine Bemerkungen zur Funktion der Propheten als Mahner zu tugendhaftem und gottesfürchtigem Verhalten, als Repräsentanten der Gerechtigkeit und weise Ratgeber sind durchaus zutreffend. 60 Der Autoritätenzyklus findet sich von seiner pragmatischen Funktion her in einem den Erfurter und Bremer Inschriftenzeugnissen sehr ähnlichen Kontext: In der Amtstube wurden Beratungen und Versammlungen der Zunft abgehalten, in ihr tagte das Schiedsgericht der Weber, dort wurden verschiedene offizielle Akte der Zunft, wie die Verleihung der Meisterwürde oder die Lossprechung der Lehrknappen zu Gesellen, vorgenommen. 61 Die Weberstube bildete damit auf der Ebene der Zunftorganisation für die kleinere städtische Ordnungseinheit der Weberzunft ein Äquivalent zum Beratungssaal eines Rathauses, in dem die gleichen offiziellen Akte, Rechtsprechung und Beratung wie für die Stadt als nächstgrößerer Organisationseinheit vorgenommen wurden. Die Bedeutung des Bildprogramms in der Weberstube ist damit auf die Weberzunft bezogen ähnlich wie die Aussage der Erfurter Rundschilde für die Stadt Erfurt oder des Bremer Ratsstuhles für die Stadt Bremen zu deuten: Nach innen, an die Gruppe der Inschriftenstifter gerichtet, dienten die Propheten und Philosophen der Erinnerung an bestimmte Normen sowie der Mahnung, diese einzuhalten und gerecht und weise zum Nutzen aller zu handeln. Nach außen, an mögliche Besucher und Repräsentanten anderer Grup-
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50 55 60 61
Vgl. Graff, S. 325. Bei Hans Sachs wird der Spruch im -Haintz Widerporst' zitiert, vgl. >WiderporstDe officiis< war im Mittelalter weit verbreitet, und mit ihm wurden die vier Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung) als virtutes
politicae tradiert.61
Dazu ist zunächst zu bemerken, daß Ciceros Spruchband nicht »die Tugend behandelt«, sondern sich mit dem Problem der Hierarchie der Stände und dem Wert der Zugehörigkeit zu einem bestimmten ordo befaßt. Der Spruch zielt weniger darauf ab, tugendhaftes Handeln zu propagieren, er dient vielmehr der Aufwertung des sozialen Status der Stadtbürger, indem er das Argument vorbringt, nicht die von Geburt an festgelegte Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, sondern tugendhafte Lebensführung sei entscheidendes Kriterium für die Zubilligung einer herausgehobenen Stellung: »Wer tugendhaft lebt, ist von Adel, ohne Tugend ist Adel vollkommen wertlos«. Einer zwingenden Zuordnung dieses Spruches an Cicero - und sei eine solche auch nur im Kontext einer inschriftlichen Verwendung gegeben - widerspricht zudem die Tatsache, daß der hier Cicero zugeschriebene Spruch auch auf dem Bremer Ratsstuhl zu finden war, dort allerdings verknüpft mit einer »authentischen« Zuschreibung an Freidank. 63 Dieser Befund legt die Vermutung nahe, daß das Hauptinteresse bei der Anbringung der Inschrift auf dem inhaltlichen Aspekt des Textes, der gut in den stadtbürgerlichen Kontext passenden Aussage, Tugendadel sei adeliger Herkunft vorzuziehen, lag. Die Wahl der beglaubigenden Autoritätsfigur dürfte demgegenüber von untergeordneter Bedeutung gewesen sein. Im speziellen Fall der Augsburger Weberstube ist weiter zu beobachten, daß das Autoritätenrepertoire offensichtlich bewußt auf Propheten und Philosophen beschränkt wurde; andere biblische Figuren oder Kirchenlehrer treten nicht auf, auch Freidank hätte als Figur in dieses Autoritätenkonzept nicht gepaßt. Die Wahl des Cicero als Beglaubigungsinstanz könnte daher auch auf systempraktische Überlegungen zurückzuführen sein: Da der Spruch
61 6 !
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Rogge, S. 330. Vgl. Heiser (2003), S. 242, Nr. 34.
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offensichtlich verwendet werden sollte, die originale Quelle aber — soweit sie überhaupt bekannt war — aus Gründen der Systemkohärenz nicht eingesetzt werden konnte, war es notwendig, sie durch eine andere (antike) Instanz zu ersetzen, wobei Cicero als Stadtrömer und Senator sich als besonders passende Alternative anbot. Z u betonen ist also, daß es im Augsburger Fall offensichtlich nicht darum ging, eine zum jeweiligen Spruch passende Autoritätsinstanz zu finden, sondern vielmehr darum, ein einheitliches Figurenensemble zu erstellen. Die Beschränkung der Autoritätsfiguren auf alttestamentliche Propheten und antike Philosophen ist nicht leicht zu deuten, da eine solche in der vergleichbaren parallelen Uberlieferung von Autoritätenbildensembles, soweit solche bisher bekannt sind (Bremer Ratsstuhl, Prophetenteppich), an keiner Stelle vorgenommen wird. Es kann hier lediglich die Vermutung formuliert werden, daß zum Zeitpunkt der Erstellung der Wandvertäfelung eine Distanzierung von explizit kirchlichen Autoritäten erwünscht war, möglicherweise, weil die Präsenz solcher Figuren in einem dezidiert profaner Nutzung durch weltliche Ordnungsinstanzen gewidmeten R a u m als unpassend empfunden wurde. 2.4. Wanddekorationen Marbach Als Teil einer Wanddekoration eines privaten fürstlichen Schlafzimmers war eine Freidank-Inschrift in der Marbacher Residenz des Grafen Ulrich V. von Württemberg angebracht. Die Residenz wurde 1697 zerstört; eine 1597 von dem Marbacher Präzeptor Simon Studion angefertigte Beschreibung der Ausstattung des Schlafgemachs, die auch Abzeichnungen der Wandmalereien enthält, befindet sich heute in der Landesbibliothek Stuttgart. 6 4 Das Bildensemble bestand aus mehreren Teilen: A n der Ostwand des Raumes waren untereinander zwei querrechteckige Gemälde angebracht, eine Randinschrift oben und rechts davon nannte als Auftraggeber Ulrich V. und gab 1467 als Entstehungsjahr der Raumausstattung an. A u f dem oberen der beiden Bilder kniete der G r a f im Harnisch vor einer Kreuzigungsszene, rechts neben ihm war sein Wappen zu sehen, ein geschwungenes Schriftband enthielt ein Gebet an Christus und Maria mit einer Bitte u m deren Schutz. 6 5 Das Bild darunter zeigte den Grafen im Leibrock mit einem Rosenkranz vor einer M a d o n n a in der Aureole knieend. Ein drittes Gemälde mit einer Jagdszene (der G r a f zu Pferd stellt mit seiner Hundemeute einen Bären) war ebenfalls an der Ostwand angebracht, es enthielt wie das erste ein verschlungenes
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Simon Studion: Vera origo domus Wirtembergicae, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, C o d . hist. F. 57, fol. I5ir-i53r. Edition der Inschriften: Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99; Abbildungen der Abzeichnungen Studions: Tafel X V I I , Abb. 45 und 46.
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S p r u c h b a n d mit einer Jagddevise. 6 6 E i n e zweite Jagdszene befand sich an der S ü d w a n d (der G r a f und ein weiterer Jäger zielen mit A r m b r ü s t e n auf einen Hirsch), auf einem Spruchband w a r eine scherzhafte, auf die Jagdsituation bezogene Beischrift a n g e f ü g t . 6 7 A n der W e s t w a n d w a r ein zwölfzeiliger Inschriftenblock angebracht, in dem der G r a f ein i h m geschehenes, nicht näher spezifiziertes Unrecht beklagt und seinen d a r a u f h i n erfolgten Kriegszug als N o t w e h r deklariert; abschließend betont er M a r i a gegenüber noch einmal seine Unschuld an den Ereignissen. D i e kryptisch wirkende Inschrift bezieht sich wahrscheinlich auf die Niederlage Ulrichs V. in den Pfälzerkriegen, seine anschließende G e f a n g e n schaft sowie die Tatsache, daß er durch den Friedensvertrag von 1462 gezwungen wurde, Schloß, Stadt u n d A m t M a r b a c h v o m Pfalzgrafen Friedrich dem Siegreichen zu Lehen zu nehmen. 6 8 A u f der T ü r waren an Innen- und Außenseite zwei weitere Inschriften angebracht. A u f der Außenseite stand ein Hinweis auf die F u n k t i o n des R a u m e s als Schlafgemach, verbunden mit der A u f f o r d e r u n g , den Schlaf des G r a f e n nicht zu stören, 6 9 auf der Innenseite w a r eine Inschrift mit einer Version des >Regenbogenspruches< ( F R 1, 7 - 1 0 ) angebracht: Wer Dieß leben gibt Vmb das Ewig leben, Der hat sich betrogen, Vndt Zimmert V f f Einen Regenbogen. 70 Bemerkenswerterweise ist die Intention des Spruches hier umgekehrt zu der Aussage in allen übrigen Überlieferungszeugnissen: N i c h t der ist betrogen, der f ü r die Freuden der Welt das ewige Leben aufs Spiel setzt, betrogen ist vielmehr jener, der das irdische Leben in der H o f f n u n g auf das Paradies aufgibt. E i n Abschreibefehler Studions liegt hier w o h l nicht vor, da schon dieser seiner Irritation über die ungewöhnliche Aussage damit beizukommen versuchte, daß er dem Spruch eine umständliche E r k l ä r u n g i m R ü c k g r i f f auf einen Bibeltext, Philipperbrief, Kapitel 3, 4 - 9 , beifügte - der Bezug auf einen Freidank-Spruch war i h m anscheinend nicht bewußt:
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Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99 C: Ich Jage wie gern Ich Wöll. Mein Hoffnung ich AUerzitt Zue Gott Stell. Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99 D: Hiirsch Laß Dich nicht Verdrießen Baldt will ich Vnnßer Jeegen Beschiiiessen. Vgl. dazu Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99, S. 67; sowie Fleischhauer, S. 69. Zu den Hintergründen der Pfälzerkriege im allgemeinen und den Friedensbedingungen vgl. Fritz, S. 277-281. Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99 F: Dieß gemach heißt das Paradeis/ Mein herr Der schlaft Darumb gähnt Leiß. Seeliger-Zeiss/Schäfer, Nr. 99 G.
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C u m e n i m nostra vita d o n u m D e i sit sed b o n u m f r a g i l e , atque p r i m a ex c o r r u p tione sua c o i n q u i n a t u m et d e f a d a t u m o m n i p e c c a t o r u m genere. V i t a vero caelestis sit aeterna, nulli c o r r u p t i o n i a b n o x i a , sed, atque S a n c t a C Y R D E U S igitur h a n c i n a e q u a l e m utriusque vitae c o m m u t a t i o n e m et m u t u u m c o n t r a c t u m , u t i a e q u u m simpliciter susciperet, sine iustitia fidei, q u a e in C h r i s t o est. E r g o C o m e s hie sola D e i gratia et d e m e n t i a f e t u s , in ipsis I'ontificia superstitionis tenebris, n o n ex iustitia o p r u m sibi v i t a m a e t e r n a m sollicitus est. 7 1
Die hier vorgebrachte theologische Begründung, der G r a f habe ausdrücken wollen, daß er sich den H i m m e l nicht durch irdische Guttaten erzwingen, sondern nur als Gnade annehmen wolle, wirkt etwas gezwungen; inwieweit sie tatsächlich als Aussageintention angenommen werden kann, muß fraglich bleiben. Denkbar wäre auch ein Zusammenhang mit der desillusionierten Aussage des längsten Inschriftenblockes: D o r t wird als Selbstzeugnis des Grafen formuliert, er habe seine — nicht konkreter gefaßten — Verpflichtungen eingehalten, wofür ihm nur Undank zuteil geworden sei. Die Inschrift auf der Innenseite der T ü r ließe sich also möglicherweise als pointierte Kurzfassung des längeren Textes verstehen: Es betrüge sich selbst, wer seine eigenen Interessen zurückstelle, um höheren Werten zu folgen. Eine abschließende Interpretation der Inschrift ist auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht möglich. Bemerkenswert ist indessen, daß offensichtlich auch im adelig-fürstlichen Bereich Freidank-Inschriften benutzt werden konnten; dazu tritt hier wie in anderen inschriftlichen Überlieferungszeugnissen die große Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des freidankischen Spruchgutes hervor, welches anscheinend in fast alle Kontexte individuell eingefügt und nach Belieben geändert werden konnte, u m bestimmte Aussagen zu ermöglichen. 2.5. Prophetenteppich Ein weiteres inschriftliches Zeugnis der Freidanküberlieferung liegt mit dem sogenannten >Propheten- oder Kirchenväterteppich< v o r / 2 Der Wirkteppich ist nur fragmentarisch erhalten; von den drei in der Forschung bekannten Fragmenten sind zwei aneinandergenähte Teilstücke seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen, 73 das dritte befindet sich heute im Kunstgewerbemuseum Berlin. 7 4
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Simon Studion: Vera origo domus Wirtembergicae, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. F. 57, fol. I52r/v. Beschreibung des Teppichs bei Lothar Lambacher: »Weise Männer« und mittelalterliche Epigramme. Der sogenannte Kirchenväterteppich. Berlin 2001 (Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, Kunstgewerbemuseum Informationsblatt Nr. 1421). Ehemals Berlin, Kunstgewerbemuseum, Inv. Nr. 1879, 33a. Abbildungen der verschollenen Stücke bei Kurth, Bd. 1, S. 316, Tafel 190 sowie bei Herzog in Bayern, Bd. 2, Tafeln 56 b, c. Berlin, Kunstgewerbemuseum, Inv. Nr. 1879, 33b.
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Datierung und Herkunftsbestimmung bereiten einige Schwierigkeiten, da über die Provenienz des Teppichs wenig bekannt ist. Schmitz datiert den Teppich aufgrund stilistischer Anklänge an die Spätgotik ins späte 15. Jahrhundert und ordnet ihn dem Nürnberger Raum zu, da er einen Zusammenhang mit einem Nürnberger Prophetenteppich vermutet. 75 Betty Kurth und Luitpold Herzog in Bayern folgen Schmitz in der Datierung, Luitpold Herzog in Bayern nimmt jedoch eine rheinfränkische Herkunft des Teppichs — hauptsächlich aufgrund der sprachlichen Gestalt der Inschriften — an/ 6 Göbel greift die Herkunftsfrage ebenfalls auf; schwierig erscheint ihm in diesem Zusammenhang besonders die Divergenz zwischen hoher technischer Perfektion in der Gestaltung und der Verwendung archaisierender Stilelemente, einer Darstellungstechnik, die er für die Nürnberger Webkunst als untypisch charakterisiert. Die Sprache der Inschriften bezeichnet auch Göbel als rheinfränkisch, dennoch nimmt er keine entsprechende Zuordnung des Teppichs vor, da sich weitere Beispiele für die ungewöhnliche Webtechnik auch im rheinischen Raum nicht nachweisen lassen. Als Lösung des Problems schlägt Göbel die Hypothese vor, den Teppich als Kopie einer früheren Arbeit zu betrachten und damit aufgrund der stilistischen Besonderheiten in der Darstellungsweise endgültig den Nürnberger Raum als Herkunftsgebiet festzulegen. 77 Die neuere Forschung geht mit Luitpold Herzog in Bayern und gegen Schmitz und Göbel von einer Herstellung des Teppichs im mittel- oder oberrheinischen Raum aus; die sprachliche Form der Inschriften wird hier jeweils als aussagekräftigstes Argument herangezogen, gestützt durch die ornamentale Gestaltung des Hintergrundes, die in den rheinischen Regionen verbreitet war 78 Das erhaltene Fragment ist 148 cm hoch und 338 cm lang; den Abbildungen zufolge besaß das verlorene Stück, welches aus zwei unterschiedlich breiten Teilen zusammengesetzt war, ähnliche Maße. 79 A u f jedem der bekannten Stücke sind vor einem floral-ornamentalen Hintergrund f ü n f Autoritätsfiguren zu sehen, die jeweils von einem Spruchband umgeben sind; ein weiteres Textband
1
S c h m i t z , S. 82—84. B e i d e m z u m Vergleich herangezogenen N ü r n b e r g e r Bildteppich handelt es sich u m den bereits o b e n e r w ä h n t e n Prophetenteppich der St. L o r e n z - K i r c h e , der sich als L e i h g a b e i m G e r m a n i s c h e n N a t i o n a l m u s e u m N ü r n b e r g befindet; vgl. A b b . 2. Freid a n k s p r ü c h e sind nicht unter den dort auf den S p r u c h b ä n d e r n überlieferten T e x t e n enthalten. E i n Z u s a m m e n h a n g zu d e m hier angesprochenen Propheten- oder Kirchenväterteppich ist nicht z w i n g e n d herzustellen, da zwar beide Teppiche sich in die T r a d i t i o n der b i l d l i c h e n A u t o r i t ä t e n d a r s t e l l u n g e n einordnen, der unterschiedliche T e x t b e s t a n d ebenso w i e das unterschiedliche A u t o r i t ä t e n k o n z e p t (anonymisierte vs. n a m e n t l i c h identifizierte Autoritätsfiguren) jedoch ein direktes A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s u n w a h r s c h e i n l i c h m a c h t .
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H e r z o g in Bayern, B d . i, S. 86. A l s weiteres A r g u m e n t w i r d a n g e f ü h r t , d a ß der A n k a u f des T e p p i c h s bei einem K ö l n e r S a m m l e r erfolgte.
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G ö b e l , S. i 7 5 f .
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So Berner-Laschinski, S. 36; v o n W i l c k e n s (1984), S. 61; Lambacher, S. 1. V g l . Berner-Laschinski, S. 36.
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über dem Kopf jeder Figur identifiziert den Dargestellten namentlich. Die Figuren auf dem erhaltenen Fragment sind demzufolge Augustinus, Hiob {her Job), Cato, Seneca und Salomo (Salamori)·, auf dem verlorenen Fragment waren Gregorius, Freidank ( F r i g e d a n g ) , David, Elia (Helyas) und Thomas von Aquin zu sehen. Die Figuren stehen auf gotischen Konsolen und sind sich jeweils paarweise zugewandt, die Hände im Sprech- oder Zeigegestus erhoben; Thomas, Gregorius, Augustinus, Cato und Freidank tragen in einer Hand ein Buch, Seneca eine Schriftrolle. Augustinus ist im Bischofsgewand, Thomas in einer Ordenstracht dargestellt, beide sind mit dem Nimbus versehen. 80 Die beiden Könige David und Salomo sind in Königstracht - Krone und hermelinbesetzter Mantel — abgebildet. Uber die ursprüngliche Gestalt des Teppichs läßt sich nur spekulieren. Den Rekonstruktionsversuchen Leonie von Wilckens ist insofern zuzustimmen, als der Teppich mindestens aus zwölf Figuren bestanden haben muß, um eine paarweise Anordnung der Autoritäten zu ermöglichen. 81 Davon ausgehend konstruiert von Wilckens weiter ein Ensemble von sechzehn Figuren, die ihrer Meinung nach das Motiv des Teppichs gebildet haben müssen: Since Augustine and Gregory are present, St. Jerome and St. Ambrose may have completed the quartet of fathers of the church; similarly, there may have been two further philosophers from antiquity as well as Cato and Seneca, and at least one further prophet to go with Solomon, David and Elijah; it is impossible to be sure who partnered St. Thomas. In this way we arrive at an assembly of sixteen W i s e Men, four from the Old Testament, four from antiquity, four fathers of the church and finally four others, mostly from the medieval period, St. Thomas and his partner, Freidank and Job. 8 2
Von Wilckens entwirft ihre Theorie offensichtlich in Unkenntnis der Tatsache, daß mit den Autoritätensammlungen eine literarische Vorlage zu den Texten des Teppichs existiert, die die Auswahl der dargestellten Figuren ebenso wie die auf den Spruchbändern enthaltenen Texte bestimmt. Tatsächlich lassen sich alle auf dem Teppich enthaltenen Sprüche mit Zuweisung an die entsprechenden Autoritätsfiguren auch in den Autoritätensammlungen der dritten Spruchreihe nach Holtorf/Gärtner nachweisen, so daß davon auszugehen ist, daß eine solche Sammlung als Vorlage gedient hat. 83
So
81 82 83
Der Rest der Figur des Gregorius legt die Vermutung nahe, daß auch dieser im Ordensgewand gezeigt wurde; (die Ähnlichkeiten mit der Thomas-Figur scheinen recht groß zu sein), eine endgültige Aussage über sein G e w a n d ist jedoch nicht möglich, da ein zu großer Teil der Figur verloren ist. Von Wilckens (1984), S. 61. Von Wilckens (1984), S. 61. Holtorf/Gärtner führen den Teppich als inschriftliches Uberlieferungszeugnis f ü r diese dritte Gruppe in ihrem Textzeugeninventar, vgl. Holtorf/Gärtner, Sp. 558.
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Die Abhängigkeit des Teppichs zu den Autoritätensammlungen müßte nun nicht notwendigerweise der durch von Wilckens vorgeschlagenen Sechzehnzahl der Weisen Männer widersprechen; doch läßt sich zeigen, daß das gesamte System auf nicht haltbaren Prämissen basiert. Grundlage für die Annahme, daß die Autoritäten jeweils in Vierergruppen aufgetreten sein müssen, ist für von Wilckens die Beobachtung, daß zwei der wichtigen Kirchenväter — Augustinus und Gregorius — abgebildet wurden; im Umkehrschluß geht sie davon aus, daß notwendigerweise auch Ambrosius und Hieronymus Teil des Figurenensembles gewesen sein müssen und daß die übrigen Gruppen ebenfalls aus entsprechenden Viererreihen bestanden hätten. Völlig unverständlich muß bleiben, warum sie bei der anschließend vorgenommenen Zuordnung der Figuren Hiob aus der Gruppe der alttestamentlichen Figuren ausschließt und statt dessen einen anderen verlorenen Propheten voraussetzt, ebenso wenig nachvollziehbar ist die spätere Einordnung Hiobs in eine Gruppe »meist mittelalterlicher« Figuren. Dem hier angenommenen Symmetriekonzept widerspricht weiterhin die Abbildung des Thomas von Aquin, die einen deutlichen Beweis dafür darstellt, daß nicht eine Darstellung allein der Kirchenväter, sondern allgemeiner von bedeutenden Theologen beabsichtigt war; darüber hinaus sind auch die übrigen Figurenpaarungen in keiner Weise mit dem vorgeschlagenen Konzept in Übereinstimmung zu bringen. Zwar bilden die beiden antiken Philosophen, Seneca und Cato, ein Paar, ebenso wie mit David und Elia zwei der alttestamentlichen Figuren direkt gegenübergestellt sind; die beiden weiteren erhaltenen Paare, Freidank und Gregorius sowie Hiob und Augustinus bilden aber einen deutlichen Gegensatz zu dem von Wilckens'schen Kategoriensystem, da hier jeder der Kirchenväter mit einer gruppenfremden Figur — einem mittelalterlichen Poeten bzw. einem biblischen Propheten — verbunden wird. Über die ehemalige Gesamtgröße des Teppichs und die ursprüngliche Anzahl der dargestellten Figuren lassen sich also keine klaren Aussagen treffen. Es steht lediglich fest, daß mindestens zwei weitere Figuren — die Gegenüber Salomos und des Thomas von Aquin — vorhanden gewesen sind; mit hoher Wahrscheinlichkeit müssen auch diese zum Figurenrepertoire der dritten Gruppe der Autoritätensammlungen nach Holtorf/Gärtner gehört haben und von entsprechendem Spruchgut begleitet gewesen sein. Der ursprüngliche Standort des Teppichs ist ebensowenig bekannt wie die Identität des Auftraggebers oder Besitzers; Lambacher vermutet aufgrund der »appelativ-moralisierenden Tendenz« und wegen der »Einbeziehung antiker Philosophen und mittelalterlicher Denker« eine Anbringung in einem öffentlichen, profanen Gebäude - einem Rathaus oder einer Universität. 84 Diese Vermutung steht in Einklang mit dem Befund, daß auch die weiteren bekann-
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Lambacher, S. 1. 125
ten Autoritäteninschriften an entsprechenden Orten zu finden sind; da sich Uberlieferungszeugnisse bisher auf den städtisch-politischen Rahmen konzentrieren, f ü r den universitären Kontext dagegen bisher noch keine Funde zu verzeichnen sind, ist wohl ein Rats- oder Zunftsaal als wahrscheinlichster Standort anzunehmen. Eine sichere Zuordnung muß jedoch auch hier unmöglich bleiben, solange keine weiteren Quellen zur Entstehungsgeschichte des Objekts herangezogen werden können. Für den Kontext der Freidank-Uberlieferung sind besonders drei Figuren von Interesse, von denen zwei auf den verlorenen Teilstücken des Teppichs abgebildet waren; nur die dritte einen Freidankspruch präsentierende Figur Seneca mit einer Version von F R 40, 5-8 8 5 — ist bis heute erhalten. A u f dem größeren der verschollenen Fragmente trat dazu Elia (Helyas) mit dem >Regenbogenspruch< ( F R 1, 7—io);sRegenbogenspruch< sich sowohl in einem nürnbergischen (Wo) als auch in einem rheinfränkischen Textzeugen (Pa) nachweisen läßt; die Zuschreibung von F R 40, 5-8 an Seneca ist in allen Autoritätensammlungen, in denen der Spruch auftritt, feste Konvention. 8 7 Das zweite, kleinere der verlorenen Teilstücke zeigte neben der nur teilweise erhaltenen Figur des Gregorius Freidank selbst; auf dem Spruchband war F R A 2 angegeben. 88 Für die Untersuchung der Freidank-Rezeption ist diese Figur von höchster Bedeutung, da sie die einzige bisher bekannte eindeutig identifizierte bildliche Darstellung Freidanks im Kontext der Autoritätenthematik darstellt. 89 Freidank trägt ein langes, faltenreiches rot-gelbes Gewand mit Flügelärmeln und schmalem Hermelinsaum, darüber einen grünen Mantel mit rotem Innenfutter, an den Füßen Sandalen mit einer Kordelbindung, die Kopfbedeckung besteht aus einer turbanähnlichen Konstruktion
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Abb. 6. A b b . 4. 8 ? Vgl. oben, S. 85. 88 A b b . 5. Die entsprechende Kombination Freidankfigur — F R A 2 ist in allen H a n d s c h r i f t e n mit der Elia->RegenbogenspruchSchwsp.< Art 201, S. 278—293. >Schwsp.< Landrecht Art. 201a, S. 278. 168
dicz sind deu wort die got selb sprach zu moysen auf dem perg synai. (Landrecht Art. 201h, Schwsp. S. 285) noch sprach got mer. (Landrecht Art. 2011, Schwsp. S. 285)
Neben den Quellenverweisen im Paragraphentext nennen auch die Zwischenüberschriften regelmäßig den Ursprung des Textes: Wie got selb mit moysi ret auf dem perg synai (214, Schwsp. S. 278); Nach gocz bort{ 215, Schwsp. S. 282); Das ret noch got mit moyse (216, Schwsp. S. 283); Gotes wort (217, Schwsp. S. 283); Das sind alles gotes ivort (218, Schwsp. S. 289). Die Markierung des Abschnitts Landrecht Artikel 201 als Bibelzitat und Wort Gottes ist also überdeutlich, sie wird gegen Ende des Textabschnitts noch verstärkt durch den an Deuteronomium 27, 15-26 angelehnten sanktionierenden Fluchparagraphen 201t und die daran anschließende Segensverheißung 201U, die auf Deuteronomium 28, i—12 zurückgeht. Nach einer letzten eindringlichen Aufforderung zur Befolgung der vorangehenden Rechtsbestimmungen schließt der Paragraph mit den Worten: hie habent deu wort ain ende die got selber sprach wider moisen. dy hat man dar umb in dicz puch geschriben das man da pey merkch das dicz puch uon der barhait gocz genomen ist. 1 ''
Als Motivation, die zur Integration dieses inhaltlich kaum Neues bringenden Artikels führte, wird damit explizit das Bestreben ausgeprochen, den >Schwabenspiegel< als »göttliche Wahrheit« erkennbar zu machen und — durch Überprüfbarkeit des übrigen Rechtstextes an der Bibel als offiziellem Wort Gottes — Transparenz der Rechtssätze als Umsetzung göttlichen Rechtes zu ermöglichen. 27 Die Rückführung des >Schwabenspiegels< auf die Gebote, die Gott Mose auf dem Sinai gab, steckt den Legitimationsrahmen deutlich ab, innerhalb dessen sich die Bestimmungen des Rechtsbuches bewegen: Gott selbst als höchste Autorität ist Urheber und Garant ihres Inhaltes. Die Urheberschaft Gottes wird in Landrecht Artikel 201 auf formaler Ebene durch alle drei Formen des Kommentars belegt: Durch direkte Zitate aus der Bibel, durch den Verweis auf die Bibel als schriftliche Quelle und durch den Verweis auf eine historische, Recht übermittelnde und verkündende Autoritätsfigur - Moses - sowie ein historisches Ereignis: die Ubergabe der Gebote an Mose auf dem Berg Sinai. Als zuerst durch Mose vermittelte Gebote Gottes
26 27
>Schwsp.< Landrecht Art. 201V, S. 292. Schon früher wird in Landrecht Artikel 201 auf den konstituierenden Charakter der von Mose übermittelten Gesetze für die Inhalte des vorliegenden Rechtsbuches hingewiesen, vgl. Art. 201h: von disen borten sind alle gericht dy geistlich vnd werntlich sind (>Schwsp.< S. 285); ähnlich 201U: von disen Worten sind alle die gericht genomen dy bir haben (>Schwsp.< S. 292). 169
werden die Bestimmungen des >Schwabenspiegels< bereits im einführenden Anfangsteil des Landrechtes (Artikel ib) definiert: vnd do er [Gott] moysi die zehen gepot gab auf dem perg synai do west er bol das die lewt vil manigerlai krieg mit einander b u r d e n haben v n d gab in nicht allain dy zehen gepot. er gab f ü n f gepot v n d sechs h u n d e r t gepot. 2 S das was nicht änderst w a n n das er da uon nem wie er ein yetlich sach richten solt. vnd uon den selben gepoten habent seint alle k u n i g vnd all richter nach gericht vncz her in die neuen ee. do n a m e n n aber die pabst v n d die kaiser vnd die k u n i g ir gericht nach den selben gepoten. vnd also stet auch an disem puch chainer slacht lantrecht noch lehenrecht noch vrteil w a n n als es mit recht nach der romischen phächte vnd uon karls recht her c h o m e n ist. vnd ist auch aus ainem puch genomen das haisset decretal, do vint m a n alle die recht i n n der geistleiches vnd werntliches gericht wedarff. 2 9
Schon zu Beginn w i r d also die hinter d e m >Schwabenspiegel< stehende Rechtskonzeption anschaulich dargelegt: Das wahre Recht ist unteilbar und geht von Gott aus; alle historischen Rechtsordnungen — sofern sie gute, »richtige« Bestimmungen enthalten — stellen lediglich neue Manifestationen dieses einen göttlichen Rechtes dar. In der Konsequenz stützen, beglaubigen und bestätigen sich die einzelnen historischen Rechtsordnungen u n d Bestimmungen — die der biblischen Richter u n d Könige, die der römischen Kaiser u n d die Karls des Großen — untereinander, da sie aufgrund ihrer gemeinsamen göttlichen Quelle eine gemeinsame Intention u n d eine gemeinsame Aussage besitzen müssen. Diese A n n a h m e der ewigen Identität des göttlichen Rechtes vorausgesetzt, gewinnt die Aussage des Verfassers, er habe den biblischen Vergleichstext angegeben, u m zu belegen, daß der >Schwabenspiegel< »uon der barhait gocz genomen« sei, ein neues Gewicht auch für die weiteren Kommentare: Sie bieten nicht einfach historische Präzedenzfälle, vielmehr garantiert die Übereinstimmung der Rechtssätze des >Schwabenspiegels< mit ihren historischen Vorläufern deren Identität mit dem göttlichen Recht u n d ihre Teilhabe daran. Folgerichtig treten historische Exempel im Kontext des >Schwabenspiegels< nicht als Recht konstituierende Ereignisse hervor, die neue rechtliche Bestimmungen begründen würden, in ihnen manifestiert sich lediglich immer wieder erneut göttliches Recht, welches in der Zeit unbegrenzt Bestand hat. In der oben zitierten Darstellung bewegt sich die göttlich legitimerte Rechtssetzung dabei im historischen Verlauf gemeinsam mit der Herrschaft entlang von Traditionslinien, die durch ein Kontinuitätsmodell die biblischen Herrscher mit den römischen Kaisern der Antike u n d schließlich den deut-
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Die hier angesprochenen fünf gepot vnd sechs hundert gepot sind die weiteren Gesetze, die Mose von Gott erhält, nachdem er den Dekalog zum zweiten M a l aufgezeichnet hat, vgl. Deut. 1 2 - 2 7 . >Schwsp.< Landrecht Art. ib, S. 4$f.
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sehen Kaisern verbinden. In Anbetracht der engen Verquickung von Herrschaft und Rechtspflege ist diese Darlegung wenig überraschend, da göttlich legitimierte Herrschaft qua definitionem die Aufgabe erfüllen muß, f ü r die Durchsetzung göttlichen Rechtes im weltlichen Bereich durch die Einsetzung entsprechender Gesetze zu sorgen. Den Redaktoren des >Schwabenspiegels< stand es somit frei, zur Kenntlichmachung des neu zusammenzustellenden oder zu erweiternden Rechtsbuches als »richtigem«, göttlichem Recht Vergleichsfälle aus allen drei der als teleologischer Einheit begriffenen historischen Bereichen — biblischer, römisch-antiker und mittelalterlicher Geschichte - heranzuziehen, da diese im übergeordneten Sinn eine unteilbare Einheit darstellten. Quantitativ gesehen, ist die Bibel — sowohl im direkten Zitat als auch in den Berichten über bestimmte Ereignisse - die am häufigsten genutzte Quelle; Verweise auf römisch-antike Geschichte bzw. römische Herrscher als Gesetzgeber stehen von der Häufigkeit der Nennungen an zweiter, die Bezüge auf deutsche Geschichte und Herrscher an dritter Stelle. 30 Relativ oft finden sich auch allgemein formulierte Urheber- oder Quellenverweise, die als Referenz lediglich »die Könige« oder »die Meister der Rechtssprechung« angeben. 31 In aller Regel sind die Beispiele - ihrem Anwendungszweck entsprechend dem juristischen Kontext entnommen: Herrscher werden als Gesetzgeber zitiert, daneben kann exemplarisch die juristische Vorgehensweise in einer historischen Situation beschrieben werden; 32 auch der Verweis auf Personen, die Anstoß zu juristischem Vorgehen oder zur Einsetzung bestimmter Regelungen gegeben haben, ist möglich. 3 3 1.2. Freidank als ethisch-moralische Autorität im >Schwabenspiegel< W i e ist nun auf der Grundlage der oben skizzierten Kommentartechnik des >SchwabenspiegelsSchwabenspiegels< enthält sieben Verweise auf römische Kontexte (Vgl. Tabelle S. 1 8 0 - 1 8 4 : Nr. 2, 18, 20, 25, 36, 39, 40) und vier Verweise auf deutsche Herrscher bzw. Ereignisse der deutschen Geschichte (Tabelle S. 180—184: Nr. 4, 6, 19, 43)· Tabelle Nr. 8, 13, 29, 35, 37, 42, 44. Vgl. Tabelle Nr. 17: Beschreibung des Vorgehens bei der Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane. Vgl. Tabelle Nr. 36: Verweis auf Carfania, deren Verhalten vor Gericht zum Ausschluß der Frauen allgemein vom Recht juristischer Selbstvertretung führte. Eine ausführliche Analyse der kommentierenden Passagen des >SchwabenspiegelsSchwabenspiegelSchwsp.< Landrecht Art. 86a, S. 134t.
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besonderen mit Bezug auf den Richter gefordert wird, ist — so suggeriert der Redaktor, indem er den Spruch an dieser Stelle einfügt — so selbstverständlich und grundlegend richtig, daß es bereits als Ausdruck der opinio communis in einer sprichwörtlichen, als bekannt vorausgesetzten Redensart — eben dem Freidank-Spruch — überliefert wird. Aus welcher Quelle der Redaktor den Spruch schöpfte, läßt sich aufgrund des geringen Umfanges des Sentenz und weil diese Art des freidankischen Zitates innerhalb des >Schwabenspiegels< nicht häufiger angewendet wird, nicht feststellen. Möglicherweise lag ihm dieser nur in anonymer Form ohne einen Freidankbezug vor - es ist denkbar, daß es sich um einen schon vor Zusammenstellung der >Bescheidenheit< existenten Spruch handelt, der eventuell auch nach seiner Integration in dieses Spruchkorpus parallel anonym weiterüberliefert wurde. Die Aufnahme des Spruchs in den >Schwabenspiegel< hätte dann bereits im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in der frühesten Fassung dieses Rechtsbuches erfolgen können; ein direkter Freidankbezug wäre in diesem Fall aufgrund der großen zeitlichen Nähe zum Auftreten in der >Bescheidenheit< eher unwahrscheinlich. Die anonyme Freidank-Sentenz im >Schwabenspiegel< kann damit nur eingeschränkt zu einer Analyse der Freidankrezeption herangezogen werden, da unklar bleiben muß, inwieweit in diesem Fall überhaupt von einem freidankischen Kontext des Spruches auszugehen ist. Indessen zeigt dieses Beispiel — wie auch einige der vorhergehenden Uberlieferungszeugnisse aus dem Bereich der Freidankrezeption in Inschriften und im Autoritätenkontext Gründe für den durchschlagenden Erfolg des freidankischen Spruchgutes auf: Die Sprüche entwickelten ihre Wirkung schon allein aufgrund ihrer pointierten, treffsicheren Form und wurden auch ohne verstärkende Bindung an eine Autorität als gültiger Ausdruck allgemein akzeptierter Normen anerkannt. Anders als die anonyme Freidanksentenz steht die zweite, längere FreidankPassage in Landrecht Artikel 160b deutlich im Kontext der Autoritätenrezeption: Neben der Übernahme eines Korpus von Sprüchen aus der Bescheidenheit wird hier ausdrücklich auch die Freidankfigur als Legitimationsinstanz rezipiert: das hat vns manig heylig man chunt getan vnd manig beiser man. vnd das hat auch ain beiser man von in [den Wuchereren] gesprochen, der hies herr freydanck der manigen guten spruch gesprochen hat.' 6
Freidank wird hier als Spruchdichter vorgestellt, der zum Kanon der »weisen Männer« zu rechnen ist und dessen Werk — seine Sprüche - ausdrücklich als gut37 charakterisiert wird. Die Beilegung der Anrede herr, die außer
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>Schwsp.i Landrecht Art. 160b, S. 237^ Im hier gegebenen Kontext wohl zu übersetzen als »nützlich, wahr«.
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Freidank keiner der anderen i m >Schwabenspiegel< genannten Autoritätsinstanzen zugebilligt wird, ist Indiz für die Ehrerbietung, die der Kommentator dem weisen Spruchdichter entgegenbringt. O b sie zusätzlich auf bestimmte Anredekonventionen zurückzuführen ist, läßt sich aufgrund des Fehlens von Vergleichsfällen nicht abschließend feststellen — Freidank ist die einzige mittelalterliche Figur, die nicht dem Kreis der Herrscher und politischen Funktionsträger, denen jeweils als entsprechender Titel kunig, herzog oder papst beigeordnet wird, zuzurechnen ist. In der Reihe der sonst zitierten Referenzfiguren nimmt Freidank als Autoritätsinstanz eine bezeichnende Stellung ein: Wie oben erwähnt, rekurrieren die Exempel und Zitate meist auf Personen, die konkret in Zusammenhang mit juristischen Kontexten stehen: Entweder üben sie als Herrscher juristische, o f t gesetzgebende Tätigkeiten aus (Karl der Große, Kaiser Hadrian, Julius Caesar, Titus, Vespasian) oder sie geben durch ein bestimmtes Verhalten Anlaß zu juristischen Reaktionen (Absalom, Gerold von Schwaben, Carfania). Auch zwei biblische Figuren - Salomo u n d Mose - sind diesem Kreis zuzuordnen, da sie innerhalb des kulturellen Gedächtnisses beide mit stark juristisch konnotierten Klischees verbunden sind: Salomo fungiert in der Uberlieferung als Prototyp des gerechten Richters - sinnfällig manifestiert in der Geschichte v o m Salomonischen Urteil; Mose ist Überbringer und Verkünder der göttlichen Gebote, die i h m in Form des Dekalogs auf dem Sinai von G o t t übergeben wurden. D i e Rolle des Mose als erster Übermittler göttlichen Rechtes und als dessen Begründer in der irdischen Sphäre wird vom Verfasser des >Schwabenspiegels< im oben zitierten Landrechtsartikel 201 sowie in der ebenfalls zitierten historischen Herleitung des Rechts im Einleitungsparagraphen ib besonders hervorgehoben. 38 Für Freidank läßt sich indessen kein wie auch immer gearteter juristischer Kontext konstruieren: Weder tritt er selbst explizit als Gesetzgeber in Erscheinung, noch ist mit seinem N a m e n in irgendeiner Weise ein bemerkenswerter juristischer Fall verbunden. Diese Sonderstellung teilt er sich mit nur zwei weiteren der zitierten Autoritäten: In Landrecht Artikel 2 tritt Origenes ( O r l ens,I mit seiner Prophezeiung über die sieben Weltalter als Gewährsmann f ü r die ebenfalls siebengliedrige Heeresschildordnung auf; 3 9 in Analogiebildung wird von der ungewissen Dauer des siebten Weltalters auf die Ungewißheit der Lehensfähigkeit der Mitglieder des siebten Heerschildes geschlossen. Als zweite nicht streng juristisch konnotierte Autorität wird in Landrecht Artikel 170a Paulus zitiert. 40 Der Artikel behandelt die von den checzern bestrittene Rechtmäßigkeit des Schwurs, die anhand mehrerer biblischer Präze-
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Vgl. oben, S. i 6 8 f f . >Schwsp.< Landrecht A r t . 2, S. 4jf. >Schwsp.< L a n d r e c h t A r t . 1 7 0 a , S. 2 4 j f .
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denzfälle nachgewiesen werden soll. 41 Nachdem mittels der biblischen Exempel die Rechtmäßigkeit des Schwurs belegt worden ist (da mit felschen wir dy checzer dy iehent man still nicht ayd sweren die recht sind) folgen zwei Zitate eines Salomo, das zweite Paulus zugeschrieben —, welche die richtige Art des Schwörens demonstrieren sollen. Das Salomo-Zitat bezieht sich dabei sachlich tatsächlich auf die Ausübung des Schwurs, 42 das folgende Paulus-Zitat dagegen spricht sich gegen übermäßigen Weingenuß und dessen Folgen aus, die mit einem positiven, maßvollen Gebrauch konterkariert werden. Dieses zweite Zitat nutzt der Verfasser des >Schwabenspiegels< erneut zur Bildung einer Analogie, die eine Parallele zwischen den negativen Auswirkungen übermäßigen Weingenusses und zu häufigem Schwören zieht.43 Weder Paulus noch Origenes werden also Rechtsvorschriften in den Mund gelegt, statt dessen werden ihre zwar inhaltsfremden, aber als wahr anerkannten und durch ihre persönliche Autorität legitimierten Aussagen aufgrund struktureller Ähnlichkeiten im Argumentationsaufbau (Origenes: Siebenzahl mit nicht genau bestimmbaren Endglied; Paulus: Übermaß einer grundsätzlich positiven oder neutralen Verhaltensweise schadet) über das rhetorische Mittel der Analogiebildung zur Beglaubigung bestimmter Inhalte herangezogen. Das Freidank-Zitat in Landrecht Artikel 160b entspricht dieser hier beobachteten, auf Analogieschlüssen beruhenden Legitimationstechnik nicht. Die Freidankpassage ist inhaltlich eng mit dem Paragraphentext verknüpft: Dieser beschreibt die Restriktionen gegen Wucherer und die auf Wucher stehenden Strafen; der direkt anschließende Kommentar betont die außerordentliche Verwerflichkeit und Sündigkeit des Wuchernehmens, die neben einer allgemeingehaltenen Quellenberufung auf »viele heilige und weise Männer« (:manig heylig man [...] vnd manig beiser man) durch das Freidank-Zitat, welches den Wucherer und sein Schicksal nach dem Tod auf das Unvorteilhafteste beschreibt, bezeugt wird. Freidank tritt also nicht als juristische, sondern als moralische Legitimationsinstanz auf. Er bürgt nicht, wie etwa Karl der Große oder Mose für die Einsetzung eines Rechtssatzes, vielmehr begründet er Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des juristischen Vorgehens gegen eine Handlungsweise, die gegen die christliche Ethik verstößt. Welch großes Gewicht dabei seinen Wor-
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Verweis auf Schwören Gottes, auf Schwur eines Engels in Apoc. 10, 5-7, sowie, allgemeiner, auf die guten und die heyligen im Alten und Neuen Testament, die ebenfalls geschworen haben. Landrecht Art. 170a, S. 246: Salomon spricht, luelich man vil ayd sbert der wirt erfuit uil sunden vnd cbumpt der slag uon seinem haus nicht, der auch der warhait zeuil swert der wirt got vnd den leuten unwert. Beim ersten Teil des Zitates handelt es sich um eine Paraphrase von Sir. 23, 12: Wer oft schwört, der sündigt oft und die Plage wird von seinem Hause nicht bleiben. Die Quelle für den zweiten, gereimten Teil konnte bisher nicht ermittelt werden. Landrecht Art. 170a, S. 246: also ist es vmb die ayd. wie war sj sind man mag ir doch zeuil sivern das sy sund vnd schant sind.
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ten zukommt, belegt schon die Tatsache, daß er in der Zitateinleitung selbst zu den Weisen und Heiligen gezählt wird. Berücksichtig man ergänzend den vollen Umfang des Legitimationsanspruches, den der Redaktor in Artikel 201 des Landrechtes seiner Kommentar- und Zitationspraxis im »Schwabenspiegel< zugrunde legt - den Anspruch nämlich, sein Werk als »«