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German Pages 230 Year 2015
Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung
2008-07-21 14-03-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543933528|(S.
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Tina Hedwig Kaiser (Dr. phil.) promovierte an der Leuphana Universität Lüneburg und arbeitet als Bildwissenschaftlerin, Autorin und Regieassistentin in Berlin.
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Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung. Das Transitorische im Film
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Die Publikation wurde gefördert durch die Universitätsgesellschaft Lüneburg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Film-Still aus »Vanishing Point« von Richard C. Sarafian Lektorat & Satz: Tina Hedwig Kaiser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-931-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Antonioni and beyond – Schwellenbilder Zur Einführung 9
Übersicht: Bilder auf der Schwelle 13
Topographie und Bewegung 20
Zu einer conditio humana des Transitorischen Orte der zerstreuten Aufmerksamkeit 31
Nahferne und Fernnähe 36
Zustände des Erscheinens 41
Wahrnehmung zwischen Technik und Territorium Fluchtpunktwahn 45
Auge und Bewusstsein 49
Grenzen der Sichtbarkeit 52
Gestauchter Raum 55
Zeiten des Sehens 57
Kinoeskes Wahrnehmen: vom cultural interface zum perzeptiven Interface Licht und Leinwand 61
Sehraum und Sichtbarkeit 64
Abläufe im Raumbild 67
Text und Film 72
Film als außersprachliche Materie 75
Vor der Fahrt – Permanent Vacation From here to there or there to here 87
Bilder der dérive 92
Nullstufen 101
Bewegter Horizont 104
Travellingpanoramieren: Bartleby und Allie Parker Herman Melvilles Bartleby bei Deleuze und Agamben 115
Der Osten im Westen: Schopenhauer und Jullien 122
Das Diffuse und das Sehen 130
Jim Jarmusch und die Zeiten des Allie Parker 134
Transit-Räume: virtuelle und aktuelle Trajekte im Austausch Filmische Konstruktionen von Orten 137
Time Space Places 141
Berlin Gesundbrunnen and beyond 145
Aufmerksamkeit und Zerstreuung 147
Die sinnliche Stadt 151
Der Zustand der Fahrt: filmisches terrain vague Wider die Narrativik: Leere und gefüllte Räume 155
Schwebendes Bild und Warhol 158
Schifffahrt und Vagheit 160
Heterotopie 162
Dislokationen des Bildes 164
Bildschwellen 172
Landschaft und Film 198
Bahnungen 201
Quellenverzeichnis 211
Dank 225
ANTONIONI
AND BEYOND
– SCHWELLENBILDER
»Das Register der Kontinuation, der Bewegung (das bedeutet das Wort Kino: kontinuierliche Bewegung, nicht Darstellung, die durch Bewegung animiert wird, sondern Mobilität als das Wesen von Präsenz als ein Kommen, als Kommen und als Passage), Verschiebung, der Kontinuation, der Ausdauer, des Fortsetzens […]. Es handelt sich um ein Register des permanenten Bahnens.«1 »Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens; des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.«2
Zur Einführung Die omnipräsente Sichtbarkeit der heutigen Welt insbesondere in Form televisualisierender Bildschirmtechniken der Sendeanstalten, in denen es schon lange nicht mehr, mit Jean-Luc Godard gesprochen, um die Bilder geht, gebiert sich tagtäglich. Das Kino und sein Film scheinen dagegen innerhalb der Bilderproduktion einen visuellen Sonderstatus zu halten. Unabhängig davon, dass einige Tendenzen Kinofilme gerne in die didaktische Hier ist noch Kunst-Ecke stecken möchten, ist es nicht zuletzt gerade auch Hollywood und seinen unzähligen Blockbustern zu verdanken, dass es das bewegte und anders präsente Leinwandbild, und eben auch das Sensationsbild, im Kino gibt. Es ist eines der wenigen Systeme, in denen es einem Regisseur wie Terrence Malick möglich ist, und der mit seinem Erstling BADLANDS 1973 für Furore sorgte, kurz danach noch DAYS OF HEAVEN (1978) drehte, anschließend erst Jahrzehnte später mit THE THIN RED LINE (1998) mit der besten Schauspielerbesetzung, die das US-Kino zum Zeitpunkt zu bieten hatte, wieder zurückzukehren, und 1 2
Nancy, Jean-Luc: Evidenz des Films. Abbas Kiarostami. Berlin: Brinkmann & Bose 2005, S. 51. Foucault, Michel: Dits et Écrits. Schriften in vier Bänden, Bd. IV, S. 931. 9
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
dennoch nicht allein diese ins Zentrum zu stellen: Die Familie vergisst dich nicht. Nein, nicht nur das, hier gibt es natürlich andere Arbeitsstrukturen, natürlich nicht immer und nicht nur, aber es gibt einen anderen Umgang mit der Wertschätzung, Herstellung und Wirkweise der, man könnte mittlerweile sagen: guten alten Bildwelten des Kinos. Und man könnte auch sagen: Hier, im Kino und im dafür produzierten Film, gibt es die einzig nachhaltige bewegte Bildwelt, eben auch und gerade mit Hollywood. Und dies kann nur eine sein, die insbesondere auch mit dem Unsichtbaren zu arbeiten weiß. Oder, und so hat es Malick in seinem vermeintlichen Antikriegsfilm THE THIN RED LINE vorgeführt: mit dem, was einfach da ist – das Gras und der Wind stellen die eigentliche Sensation des ganzen Films dar. Das Leben, die Bewegtheit auch im Stillen, die Natur – in unendlichen Leerlaufsequenzen zwischen den altbekannten Erzählsträngen des Kinofilms. Zugegeben: Diese Arbeit steht nicht auf der narrativen Seite des Kinos, und hier insbesondere Hollywoods, aber sie weiß dessen Wert zu schätzen. Und sie untersucht gerade jene Bild-Nischen innerhalb des Erzählkinos, um auf das aufmerksam zu machen, was dieses Kino, selbstverständlich oftmals mit einer vollkommen anderen Produktionsintention, mittransportiert: das Sehen außerhalb des Handlungsflusses, ein gleichzeitiges Bewusst- und Überwältigtsein den bewegten Oberflächen gegenüber, nicht zuletzt als ein Aufreißen des filmischen Bildes und seines Sehens: den Schock und die fließende Ruhe seiner eigenen Sicht- und Unsichtbarkeitsarbeit zugleich. Die Kadrierung, die Einstellungswahl, denkt in einem bewegten Bildablauf wie kein anderes Bildgenerierungswerkzeug an all das, was sie nicht zeigt. Und dies in gedoppelter Funktion: die Rahmung, die Kamerafahrt, der Schnitt, etc. – alle sorgen dafür, dass gerade im und mit dem Nicht-Sehen gesehen wird. Der Film existiert nur mit seinem Off, mit dem hors-champ, mit dem, was er nicht zeigt. Und genau dieses Nicht-Sehen kann er gleichzeitig mit und in seinen Sichtweisen transportieren. Sie enthalten einander, das Sichtbare und das Unsichtbare, in einem maßvollen und gegenseitig bedingten Verhältnis. Die Übersichtsfiktionen des Fernsehens können dabei außer Acht gelassen werden. In diesem Format geht es weder um Bilder noch um Sehweisen. Im besten Sinne ist es ein schlichter Servicepool – eine völlig andere Arbeit also. Bewegungsbewusstsein, Horizontlinien, Ortsveränderungsperspektiven und Raumerfahrungen sind woanders: draußen, während der Fahrt – und im narrativen Kino als Leerlauf- oder Sensationspassagen neben dem normalen Handlungsfluss. Das Kino hat im Gegenzug zum flirrenden Infomeer des Fernsehens sowohl Zeit und Raum als auch Unsichtbares. Nicht zuletzt Andy Warhol
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ANTONIONI AND BEYOND – SCHWELLENBILDER
machte dies mit seinen Filmen deutlich. Seine ewig langen, zähen Einstellungen ohne konstruierte Narrativik widerstehen sämtlichen Anmaßungen von Schnelligkeit, Bildergier und Übersicht. Sie sind detailliert genau im Kleinsten, was sie zeigen, ist das schöne unaufgeregte Nichts alltäglicher Handlungen inmitten einer wunderbaren Banalität. Bei Warhol geht es um Präsenz in einer reinen Form und Qualität, an die sich nur noch selten jemand wagt. Kein bürgerliches Kunstverständnis und kein TV-Format. Es geht um das schlichte Filmmaterial, die Erfahrung eines stillen Bildflusses, und um achtsame Seherfahrungen im Hier und Jetzt. Nochmal die »Warhol’sche Seherfahrung zu machen. Nochmal diesen Blick zu erleben, der sich fast wie das Auge eines Neugeborenen auf die Welt richtet. Zuerst unschuldig, cool, aseptisch, später auch skeptisch und melancholisch. Warhol würde Fallen auslegen, schreibt Jonas Mekas, um die Wahrheit einzufangen. Er würde die Möglichkeiten und Materialien des Mediums dazu benutzen, mehrere Leinwände, Doppelbelichtungen […]. Schließlich würde er die Kamera auch sich selbst überlassen. Vielleicht schafft sie es ja, wenn niemand es sieht: die vorurteilsfreie Aufnahme der Wirklichkeit. Das ist Warhols großes Ziel: die Welt neu zu sehen.«3
Mit aller zur Verfügung stehenden Ausdehnung von Zeiterfahrung hat er die Zeitspannen auf sein Filmmaterial gebrannt, hat das Paradox der Spannung der Langeweile geschaffen und die denkbar einfachsten Bilder bravourös eingefangen. Und damit unglaubliche Sichtweisen eröffnet. Zwei Sätze aus Godards MASCULIN-FÉMININ (1966) scheinen sich hier zu erfüllen: »Être fidèle c’est faire comme si le temps n’existait pas« und »La sagesse, ça serait si on pouvait vraiment voir la vie, vraiment voir.« Welche Blicke/welche Bilder generiert der Film in seiner schlichten (und dabei manchmal auch sensationellen) Bewegung, und dergestalt insbesondere in seinen Fortbewegungs- und Fahrtaufnahmen durch Räume? Welche Durch- und Aufsichten entstehen hierbei? Und in welchen kulturphilosophischen Traditionen ist dies anzusiedeln? Diese Arbeit will sich einem Teilbereich der Bildphänomene nähern, jenem des filmischen Bildes und seinen Übersetzungen in urbane und rurale Wahrnehmungsbefindlichkeiten, bei denen auf der Seite des Filmbildes Filmtheorien und -philosophien des Apparatus, der Postsemiotik, der Technikgeschichte, der Materialtheorie und der Phänomenologie die gleiche Rolle spielen, wie jene der Stadttheorie und Kulturphilosophie auf der anderen Seite. Als zwei Seiten einer Medaille sind sie zu verbinden, 3
Schifferle, Hans: »Wie der Blick eines Neugeborenen«, in: Falter Special – Viennale 05, Wien: Falter Verlag 2005, S. 19. 11
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
aneinander zu spiegeln und zu neuen Zusammenhängen und Einblicken zu differenzieren. Meine Arbeit zur Repräsentation von Stadtsequenzen in Filmen von Michelangelo Antonioni, speziell in seinen Filmen LA NOTTE und L’ÉCLISSE, ist die Vorstufe zu dieser weiterführenden Studie.4 Hier wie dort geht es um Filmbilderfolgen, in denen die Narration hinter einen filmischen Bilderfluss an sich zurücktritt, der sich nicht mehr an der Reihenhaftigkeit des Materials allein ausrichtet, sondern ebenso Syn– chronisches vor Diachronisches treten lässt. Ein Bildfluss, der auf diese Weise Wechselwirkungen zwischen einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen des Wahrnehmungswandels und der spezifischen Wahrnehmung des einzelnen Rezipienten anschaulich werden lässt. In den Untersuchungen der Stadtpassagen aus LA NOTTE und L’ÉCLISSE lag demnach der Akzent nicht nur auf der Analyse des einzelnen Filmstandbildes, im Sinne eines aus dem Lauf der Bilder herausgelösten und dergestalt entfremdeten Ausschnitts, sondern der bildmaterielle Ablauf war grundlegender Teil für eine detaillierte Analyse, welche die Stadtsequenzen überhaupt erst in ihrem zeitlichen Fluss angemessen bearbeiten konnte. Ein Festhaltenwollen des Bildes würde dem Film zuwider laufen. Die Bewegung sorgt hier für neue Formen innerhalb der Schärfen-, Flächen- und Tiefenverhältnisse eines Bildes.
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Vgl. Kaiser, Tina: Flaneure im Film. La Notte und L’Éclisse von Michelangelo Antonioni. Marburg: Tectum 2007 (zugleich: Magisterarbeit an der Universität Lüneburg 2001). – Für Gilles Deleuze ist Antonioni einer der wichtigsten Vertreter des Zeitbildes. Dieses charakterisiert er in seinem zweiten Kinobuch wie folgt: »Die Situationen finden hier keine Fortsetzung mehr in Aktion oder Reaktion, wie es den Erfordernissen des Bewegungsbildes entspräche. Wir haben es nun mit reinen optischen und akustischen Situationen zu tun, in denen die Personen nicht mehr zu reagieren wissen, mit affektionslosen Räumen, in denen sie nichts mehr verspüren und nicht mehr handeln – und diese Situationen und Räume treiben sie schließlich zur Flucht, zum Bummeln, zum Kommen und Gehen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit ihnen geschieht, zur Unentschlossenheit gegenüber dem, was sie tun sollen.« (Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 348). Was die Protagonisten an Indifferenz und Unschlüssigkeit mit sich herumtragen und an Aktion und Reaktion verloren haben, kristallisiert sich in ihrer intensiveren Wahrnehmung zu einem positiven Potential: Sie sehen. Der Sehende ersetzt den Akteur. Das flaneuristische Prinzip einer modernen Wahrnehmungspraxis hat im Kino der Nachkriegszeit eine Umwandlung und Erweiterung erfahren. 12
ANTONIONI AND BEYOND – SCHWELLENBILDER
Übersicht: Bilder auf der Schwelle »Während sich das Territorium der Sowjetunion auflöste, trainierte der Kameramann des legendären Tarkowski-Films ›Solaris‹ die Besatzung der russischen Weltraumstation MIR, damit sie für Andrej Ujicas ›Out of the Present‹ (1995) die Erde filmen konnte. Die schwere 35mm-Kamera dreht immer noch hoch über unseren Köpfen ihre Kreise. Sie wurde, nachdem die Rollen mit den berauschenden Bildern vom Blauen Planeten belichtet waren, sozusagen einfach aus dem Fenster des Raumschiffs geworfen. Der Rücktransport zur Erde wäre zu teuer gewesen«.5 »Als würde sich die Eroberung des Raumes am Ende als eine Eroberung allein der Bilder des Raumes herausstellen.«6
Zu einer conditio humana des Transitorischen Mit Dziga Vertovs Kino-Auge-Strategie war meine Untersuchung Antonionis bei einem Eingeständnis des Scheiterns der Analyse vor dem filmischen Material an sich angekommen: »›Within the chaos of movement, running past, away, running into, and colliding – the eye, all by itself, enters life. A day [bzw. two films] of visual impression has [have] passed. How is one to construct the impressions of the day [of two films] into an effective whole, a visual study?‹ – »Never«, würde der flaneurspectator sagen und hoffen, »never« sagt auch diese Arbeit. Zuviel Bild, zuv iel Bewegung, zuviel in-between. Vom festen Ort zum flüssigen Stadtraum des Films folglich. Erst hier kreuzt sich ein transitorischer Raum mit einer ebenso transitorischen Zeit, und wir haben endlich die Möglichkeit, es zu SEHEN.«7 Nach der Untersuchung von LA NOTTE und L’ÉCLISSE war zumindest eines sicherer geworden: ein totalitär gemeintes effektives Ganzes einer bildwissenschaftlichen Untersuchung wäre am Bildfluss der Filme sowie ihrer Wahrnehmung im wahrsten Sinne des Wortes vorbeigeglitten. Der Akt der Kinorezeption war eine Weise des Flanierens geworden, eines Flanierens, das die Wahrnehmung als filmische Perzeption und Rezep5 6
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Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 10. Virilio, Paul: »Das letzte Fahrzeug«, in: Karlheinz Barck (u. a.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Reclam: Leipzig 1990, S. 265-276, hier S. 267. Kaiser: Flaneure im Film, S. 112. 13
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
tion von Stadt auf eine neue Stufe erhob. Und Antonioni hatte es vorgemacht. Seine Filme befinden sich an jener Schaltstelle zu einer, im Sinne Marc Augés, supermodernen urbanen Wahrnehmung durch/mit Film, an welchen diese Arbeit nun anknüpfen möchte. Mit Giuliana Bruno wäre dies im Sinne einer geovisuellen Arbeitsweise zu verstehen, für die bereits zuvor der passagio zebrato (der Zebrastreifen in L’ÉCLISSE) zum ausschlaggebenden Moment einer kinematischen Transportarchitektur geworden war. Wo ich mich anfangs noch stark an den anthropologischen Stadtbetrachtungen und immanenten urbanen Techniken Charles Baudelaires oder Walter Benjamins orientierte, soll nun Friedbergs flaneurspectator verstärkt in den Vordergrund treten, und zwar am Beispiel des filmischen Post-Flaneurs par excellence: Allie Parker in Jim Jarmuschs PERMANENT VACATION.8 Mit Friedberg werden das Licht und die Leinwand des Kinos als Übergangsort und -raum zwischen Fenster und Rahmen, sowohl virtuell als auch aktuell, untersucht.9 Baudelaire und Benjamin dienten zuvor vor allem dazu, die kulturelle Praxis des Flanierens an jene des Filmens anzunähern. Nun gilt es, Wahrnehmungsverschiebungen, räumliche und filmische Beobachtungsanalysen, heutiger urbaner Zustände und Situationen ins Blickfeld zu rücken: subjektive Wahrnehmung als eine des heute nicht einfach mehr Reisenden, sondern als jene des Passagiers, der einem Ort nur noch in der Funktion einer Bewegung oder im Warten auf sie verhaftet sein kann – wie dies nicht zuletzt unsere heutigen Transitorte vermuten lassen. Gilles Deleuzes Begriff des Zeitkristallbildes erfährt in der filmischen Darstellung solcher Orte eine erweiterte Fassung: Räume, die mit ihrer deterritorialisierten Technologie im Sinne Virilios helfen, Ankunfts- und Abfahrtszeiten immer mehr einander anzunähern, werden in ihrer kinematographischen Repräsentation die Ununterscheidbarkeit von Virtuellem und Aktuellem mehr denn je als selbstverständlichen Topos immanent haben, und das vielleicht gerade in ihrer Gefährdung wahrnehmbarer Zeitschichten. Der rissige Kristall als jenes Filmbild, welches mit einem Fluchtpunkt, nicht nur im Sinne der Tiefenschärfe, arbeitet, kann sich für Deleuze transformieren: »Aus der Ununterscheidbarkeit von Virtuellem und Aktuellem muss eine neue Unterscheidung als eine zuvor nicht existente Wirklichkeit entweichen.«10 8
Vgl. Friedberg, Anne: Window Shopping. Cinema and the Postmodern. Berkeley: University of California Press 1993. 9 Vgl. den Vortrag von Anne Friedberg, »The architecture of spectatorship« vom 18. Januar 2003 auf der Konferenz »Umwidmungen: Architektonische und kinematographische Räume« im Jüdischen Museum Berlin. 10 Deleuze: Zeit-Bild, S. 119. 14
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Das filmische Medium wird somit mehr als nur Ausweichhilfe vor der vielbeschworenen Echtzeit-Dominanz. Das Schwinden der Distanzen muss nicht mit einer Negation des Raumes einhergehen. Der bedeutungslose Ort ist immer noch sichtbar, der Film ist ein Raum seiner Möglichkeiten geworden.
Wahrnehmung zwischen Technik und Territorium Territoriale Untersuchungen stehen dabei grundsätzlich im Austausch mit technischen Entwicklungen, die sich insbesondere seit den industriellen Entwicklungen der Moderne äußern: Kinematographie und Transportwesen dienen als einschlägige urbane Parameter. Dass das Territorium, wie es etwa eine Stadt darstellt, dabei extremen technologisch bedingten Transformationsprozessen unterworfen ist, erleben wir in besonderem Maße seit den geographischen Welterschließungsmustern der Renaissance. Ein Wahrnehmungswandel, der sich in den Bewegungsfortschritten des Menschen in Raum und Zeit manifestiert, geht damit einher. Unmittelbare sinnliche Erfahrung, die Prozessen der Beschleunigung und Transformation unterworfen ist, dehnt sich heute von materiellen Räumen durch Elektronik und Digitalität zu mehr und mehr immateriellen Räumen aus. Berkeleys esse est percipi von 1709 wird dabei vor weit größere Herausforderungen gestellt. Wo das esse einer Extension der Wahrnehmung über die natürlichen Wahrnehmungsorgane hinaus unterliegt, die Technologie folglich scheinbar unverzichtbaren Prothesenstatus einnimmt, sind die zum Sein nötige Zeit und Raum einer Entwicklung unterworfen, mit der sich unter anderem Peter Weibel und Paul Virilio auseinander gesetzt haben. Der verlängerte Leib der filmischen Rezeption urbaner Situationen gibt dabei Aufschlüsse über den einschlägigen Zusammenhang von Territorium, Technik und Wahrnehmung in zuvor kaum gekanntem Maße. Weibel sprach in seinem Vortrag »Territorium und Technik« auf der Linzer ars electronica 1988 von jener elektronischen Transformation der Sinneswahrnehmung, die das Verhältnis zum realen Territorium verändert. Der Film ist die Vorstufe dieser elektronischen und digitalen Veränderungen, die jedoch die filmische Wahrnehmung in sich forttragen. Parallel zum Film zeichnet sich in der heutigen Realität die Entstehung neuer Territorien ab, die im Hier und Jetzt mit Architektur, Verkehrsflüssen und Passagierströmen auf der perzeptiven Ebene ähnlich transformierend – und simulierend – arbeiten, wie das kinematographische Medium selbst: jene Nicht-Orte, als Schwellen-Orte einer permanent in ihnen ausgeübten Bewegung. Diese bringen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Städte neue urbane Situationen zustan15
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
de, in der die Kinetik der Metropolen einer weit größeren Wende als bisher entgegensteuert: »das Neuartige ist die unerhörte Entwicklung der Transitlandschaften (sic transit), Flughäfen und anderer Orte der Ausscheidung, die zunehmend unsere ehemaligen Orte der Wahl ersetzen.«11 Das Wahrnehmungsphänomen Großstadtbewohner im Sinne Simmels ist hierbei neuen Herausforderungen ausgesetzt. Wo Benjamin mit Baudelaire noch die historisch generierten – und wieder degenerierten – Räume der Passage analysiert und ein soziales Potential örtlicher Aneignung in den Vordergrund gerückt hatte, da fordern unsere zeitgenössischen Nicht-Orte nach Marc Augé eine konkreter an Wahrnehmungsprozessen orientierte Hinterfragung.12 Nichtsdestotrotz sind Benjamins passagere Orte der Beginn einer modernen Ortskonstruktion, die bis in Augés Nicht-Orte hineinreicht. Jene Transformationsprozesse, die die neuen Orte zu dem machen, was sie sind, eben auch jenes »Nicht« ihrer Existenz, spiegeln sich genauso wie bei den Passagen in einem soziohistorischen Wahrnehmungsfeld urbaner Entwicklungen wider. Denn auch die neuen Nicht-Orte sind konditioniert in einer Genealogie der Moderne, die gerade in den beiden zuvor angeführten Filmen von Antonioni eine ihrer ersten filmischen Untersuchungen erfuhren. Antonioni befindet sich dabei genau an der Schnittstelle zwischen den anthropologischen Räumen von Baudelaires Flaneur und jenen sich einer festgeschriebenen Identifikation entziehenden Orten im magischen Dreigestirn von StahlGlas-Beton seit Le Corbusiers speziellem Funktionalismus. Spannend für das transitorische Wahrnehmen im Sehen, Gehen und Fahren in der bzw. durch die Stadt werden dabei allerdings um so mehr die modernen Nicht-Orte, da sie nicht so eindeutig wie noch zu surrealistischen Zeiten bestimmt zu sein scheinen für jegliche Art mythologisierenden Signifikationspotentials. Wo bei Aragon noch permanente Verweise einer Archäologie der Moderne entgegenströmen, sind sie hier eher verhalten oder gar nicht mehr auszumachen. In der Charakterlosigkeit heutiger urbaner Transit-Orte fällt stattdessen gerade alle Betonung auf ihre Existenzgrundlage allein in ihrer nüchternen Fluidität. Als Räume des Verkehrs und Konsums (Shopping-Malls, Flughäfen, Autobahnen) sind sie in erster Linie Zonen des Durchquerens. Mit Michel de Certeau fällt in ihnen gerade diese heutige kulturelle Kondition ins Auge, die sich genauso im Großstadt-Film widerspiegelt. Als urbane Orte sind sie jene, deren Existenz und Wahrnehmung nunmehr allein auf den Akt der Flüchtigkeit gründet. Ein Akt folglich, den ich, 11 Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 114. 12 Vgl. Augé, Marc: Non-places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. London: Verso 1995. 16
ANTONIONI AND BEYOND – SCHWELLENBILDER
anknüpfend an Bergsons und Deleuzes Untersuchungen zu Gedächtnis und Kino, als kinoesk im weitesten Sinne bezeichnen möchte. Die urbane Wahrnehmung ist hier schon längst Film par excellence geworden. Sie manifestiert sich im früher eher noch flanierenden, heute rasenden Vorübergleiten urbaner Konstruktionen an unseren oftmals viel langsameren Sinnesorganen. Die zeitgenössische Architektur gesteht sich dabei ihr filmisches Arbeiten immer bewusster ein. Die Orte nehmen dergestalt an einem Prozess der Transition teil: Wahrnehmung, Bewegung und Raum verschmelzen in Filmen dieser neuen urbanen Konstellation auf eine Weise, die für kulturhistorische Wahrnehmungsdiskurse, Filmtheorie und Bildwissenschaft gleichermaßen befruchtend ist. Die Wahrnehmung selbst wird dabei zur Schnittstelle zwischen mobilen und immobilen kulturellen Praxen in Raum und Zeit, die die Kinorezeption nicht weniger mobil als tatsächliche körperliche Mobilität erscheinen lassen. Das Medium Film ist Transportmittel visueller Wahrnehmungswelten, das uns an die heutigen Transfersituationen angenähert hat und sie in landschaftlich urbanen und ruralen Filmsequenzen weiterhin paraphrasiert sowie generiert.
Kinoeskes Wahrnehmen: vom cultural interface zum perzeptiven Interface Im Kino fällt Das-Fenster-ansehen und Durch-das-Fenster-hindurchsehen ineins. Dies ist spätestens seit Roberto Benignis Fenstermonolog in der Gefängniszelle in Jim Jarmuschs DOWN BY LAW auf spielfilmadäquate Weise verdeutlicht worden. Kino ist mit Lev Manovich nicht nur cultural interface, es fungiert gar als perzeptives Interface par excellence. Unsere zeitliche und räumliche Wahrnehmung inmitten unzähliger Bildwelten und Bilderflüsse sowie außerhalb des Kinos kann im weitesten Sinne mit Henri Bergson als filmisch bezeichnet werden. Heinz Brüggemann schreibt: »An die Stelle der Orte tritt der unendlich ausgedehnte Raum des kulturell und medial Imaginären, an die Stelle der Berührung das Bewusstsein als Projektions- und Oberfläche der ineinander verwobenen Ereignis- und Bildwelten«.13 Die dem Kino innewohnende bewegte Bearbeitung virtueller flächiger Räume innerhalb realer Räume, seine temporale Arbeit genau mit jenem Dazwischen der Bilder, das Godard gerade als das für das gesamte Kino zentrale und, dieses in-between, betonte: dies alles ist inter, im me13 Brüggeman, Heinz: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und BildRäume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Hannover: Offizin 2002, S. 566. 17
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
dialen Arbeiten der Bilder miteinander und mit dem Betrachter, in der Zweiteilung seiner Rezipienten zwischen physischem und virtuellem Raum sowie in kulturhistorischen Entwicklungen und deren gegenseitigen diskursiven Beeinflussungen.
Travellingpanoramieren: Bartleby und Allie Parker Die Figur des Allie Parker in Jim Jarmuschs PERMANENT VACATION aus dem Jahr 1980 lässt sich als Nachfahre von Herman Melvilles Romanfigur Bartleby einstufen. Genauso wie der nicht-schreibende Schreiber ist Allie jemand, der das I would prefer not to Bartlebys vor allen klaren Verneinungen äußern würde. Er verweigert sich nicht gegenüber seiner Umwelt, er akzeptiert aber auch nicht. Als Mann ohne Referenz nach Deleuze ist er jemand »der nur seine Promenaden zu machen hat und es damit genug sein lässt, der sie dafür aber an jedem Ort der Welt machen könnte«.14 Giorgio Agamben bezeichnet diesen Zustand als In-der-SchwebeSein.15 PERMANENT VACATION ist in diesem Sinne die anhaltende Schwellensituation. Allie befindet sich nirgends und überall, lebt die Unbestimmtheitszone in seinem Inneren genauso, wie es die transitorischen Orte seiner urbanen Umwelt fordern. Seine Bewusstseinszustände sind genauso sehr Nicht-Ort, wie die Städte um ihn herum. Im Gegensatz zu Bartleby, der für Deleuze hauptsächlich von einem stationären Prozess des Am-Orte-Verweilens charakterisiert ist, vereint Allie Parker Stillstand und Bewegung in sich.16 Deleuze beobachtet bei Melville zwei originäre Figuren, die stillstehende des Panoramierens und die beschleunigte des Travellings. Allie ist beide zugleich: Er ist stillstehendes Flanieren und gehender Stillstand – eben die Anwendung jener permanent vacation mit dem dieser Wortkonstruktion innewohnenden Widerspruch von Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit. Seine Wahrnehmung und seine Handlungsweisen vereinigen diese beiden Gegensätze in gleicher Weise wie es das filmische Me14 Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel. Berlin: Merve 1994, S. 21. 15 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz. Berlin: Merve 1998, S. 38. 16 Wobei Bartleby sehr an jene »echten Nomaden«, die sich nicht bewegen, erinnert: »Sie sind Nomaden, weil sie sich nicht bewegen, weil sie nicht umherwandern, weil sie einen glatten Raum halten, den sie nicht verlassen wollen und den sie nur verlassen, um zu erobern oder zu sterben« (Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Berlin: Merve 1997, S. 668). 18
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dium tut: Travellingpanoramieren könnte man diese neue zeitgenössische Wahrnehmungskondition nennen, die die visuelle Wahrnehmung und Steuerung heutiger Orte (etwa durch Videoüberwachung) in weiterführenden Zusammenhängen erkennbar werden lässt. Die Kameraarbeit des Travellings ist bereits selbst zum zentralen filmischen Stilmittel geworden. Der Film fährt uns in dieser Variante, er ist statisches Fahrzeug der bewegten Wahrnehmung geworden. Virilios architektonisches Primat der Passage geht über in ein Primat der Schaufenster/Bildschirme/Projektionsflächen, wie es vom Film bereits seit vielen Jahren verkörpert wird. Der Wandel unserer Wahrnehmungsgeschwindigkeit kommt dabei zum einen einem laissez-faire des transportierten Blicks gleich, zum anderen nähert er unsere Wahrnehmung immer mehr an jene der Bildströmerelationen nach Bergson an. In Godards DEUX OU TROIS CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (1966) sehen wir in der 72. Minute eine 360°-Drehung der Kamera über supermoderne Nicht-Orte von Paris. Wenn Allie Parker irgendwo jemals angekommen sein könnte, als er New York in Richtung Paris verließ, dann hier und in dieser Einstellung – kurz gesagt: in diesem virtuellen Raum, der wie die essentielle Verkörperung unserer heutigen urbanen Situationen der Transitorte erscheint. Ein filmischer Moment, der wahrnehmungstheoretisch aktuell und virtuell zugleich ist und in seiner Synthese aus Film und Wirklichkeit gerade für eine urbanistische Filmwissenschaft von immenser Bedeutung sein kann. So unsituiert wie die Wahrnehmung an sich, so ist es Allie Parker, so ist es die zu untersuchende Bildsprache im Kino des transitorischen Raumes. Wo Maurizio Lazzarato in seiner Videophilosophie eine Deterritorialisierung der Bildströme des Kinos ortet17, da äußerte sich diese schon längst im Kino der Transitorte, unabhängig von der Licht-Materie-ZeitGleichung, die ebenso wie im Video im photographischen Kino vorhanden ist. Wahrnehmungsspezifisch hat der Vertovsche Intervall-Begriff unsere heutigen Transit-Räume näher denn je an das Kino herangerückt.
Transit-Räume: virtuelle und aktuelle Trajekte im Austausch Der Begriff des Trajekts im Sinne eines Übergangs, einer Bewegung in einem Zwischenraum, bietet sich als Bezeichnungskategorie für die hier verhandelten filmischen und räumlichen Situationen an. Im Film sind wir schon immer im Nicht-Ort – folglich im Nicht-Ort mehr denn je in einer filmischen Erfahrung? Das moderne Paradigma der Stadt ist in unseren 17 Vgl. Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Berlin: b_books 2002. 19
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heutigen Transit-Orten ersetzt von einem Stadt-Simulakra, das sich am Flughafen Frankfurt am Main in den Werbebroschüren als Airport City verstanden wissen will. Die filmische Prothese von Stadterfahrung wird so immer mehr zur ehrlicheren Wahrnehmungsvariante der neuen Räume: Der Transitraum liegt hier offen. War die reale Stadterfahrung schon immer zuallererst in der Kinorezeption zugegen? Die überwachte Erlebniswelt findet scheinbar woanders statt.
Der Zustand der Fahrt – filmisches terrain vague Als Aneignung von Raum funktioniert die filmische Erfahrung von Transit-Orten als Beschreibung und Interpretation sowohl fragmentierter als auch fließender Räume, die noch gesehen und wahrgenommen werden können und das gerade auch in ihrem Nicht-Sein im Sinne eines Verlustes von territorial eindeutig-definierbaren Orten. Doch der bezeichnete Raum des Films bekommt in seiner bildhaften Erscheinung wieder eine existentielle Grundlage zurück, die ihm jene Klischee-Beschilderungen der Nicht-Ort-Institutionen nehmen. Hier wird der Raum nicht einem Fake-Ort unterworfen, der Nicht-Ort schreit nicht nach einer örtlichen Rückkoppelung, die nur als ihr eigenes Simulakra erscheinen könnte. Der Film ist der Wegbereiter eines zeitgenössischen transitorischen Raumverständnisses, der mit dem Hier und Jetzt auch im Sinne eines vibrierenden Lebensbegriffs arbeitet, die baudelaireschen chocs der modernen Stadt sind nun jene des Films geworden: Die Technik führt zu einem neuen deterritorialisierten Raumverständnis, welches Sensation und Konzentration der möglichen Sichtbarkeiten miteinbezieht.
Topographie und Bewegung – räumliche Wahrnehmung im filmischen Fahrtbild Wahrnehmungsverschiebungen, Umstrukturierungen, Umwandlungen – derzeit kursieren verschiedenste Beschreibungen für die Auswirkungen und Einflüsse, welche die technologische Entwicklung am Menschen geltend macht. Ganz zu schweigen vom Begriff der Beschleunigung, der sich in seiner ausufernden Benutzung seitens wissenschaftlicher Konstatierungen moderner Phänomene mittlerweile selbst überholt bzw. überschlagen hat. Die Begriffe der Großstadt, des Kinos, des Flaneurs – alles annähernd Paradigmen kulturwissenschaftlicher Untersuchungen moderner Dispositive – haben in den letzten Jahren einen expansiven Einzug in den geisteswissenschaftlichen Diskurs gehalten. Klagen über die Bilder20
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fluten, die seit den Tagen der Entdeckung visueller industrieller Reproduzierbarkeiten in kaum geahntem Maße ansteigen, finden ihren Weg in Symposien und Veröffentlichungen aller Art. »Der Bilder Herr werden« scheint die ebenso alteingesessene wie doch sehr lebendige Floskel auch unserer Tage. Der Besitz der Bilder macht jedoch noch lange keinen »Herren« der Bilder, als ob dieser überhaupt angestrebt wäre, – und die umgekehrte Floskel der Überflutung durch die Bildwelten zeichnet sich jeden Tag aufs Neue ab. Es gilt dabei, den stellenweise annähernd paranoiden Diskurs zu entzerren, und dies vor allem auch durch die Zugrundelegung alter Bildkonzepte, die bis heute überdauert haben. Gibt es einen Raumfilm, einen, auch urbanen, Landschaftsfilm, ähnlich einer Genreausprägung in der Malerei? Meist sind es eher die filmischen Ausnahmen, die den Raum in den Mittelpunkt stellen. Der Grund dafür liegt seit einhundert Jahren auf der Hand: Es ging von Anfang an darum, Bewegung getragen von Handlung zu zeigen, um somit Geschichten zu erzählen. Die Handlung hat dabei die Räume meist lediglich als Hintergrund, als emotionales Setting und ähnliches genutzt. Der pure Raum im Kino ist selten. Natürlich denkt man an die Arbeiten von Antonioni und ähnliche Filme, in denen die Rahmung bewusst für den Raum arbeitet, ihn auch in seinem vermeintlichen Off fixiert, ihn allein betont, aushält und betrachten lässt – jenseits der zielorientierten Handlung im Sinne narrativer Besetzung. Gleichsam gebraucht jedes Landschaftsverständnis eine Rahmengebung, eine medial gegründete Wahrnehmungssicht, die nicht zuletzt bis dato mit dem panoramatischen Sehen der Zugfahrt einherging. Im Film nun gibt es zumindest derartige Bilder innerhalb des untergeordneten Sequenzgenres der Verfolgungsfahrt zu finden, das in den Kameraaufzeichnungen des auch langsameren Reisens und Gehens durch meist städtische Räume einen Vorläufer hat. Der bewegte urbane Landschaftsrahmen als filmisches Sequenzgenre rückt hier folglich ins Zentrum einer Aufmerksamkeit, die kinematographische und bildhistorische Aufzeichnungs- und Wahrnehmungsgrundlagen berührt. Diese andere Seite des narrativen Kinos nun, die der puren Bewegungs- und Geschwindigkeitsabbildung inmitten von dergestalt erzeugten Trajekträumen, birgt ein nicht zu ignorierend großes Potential, um sich mit der transitorischen Rahmung und jener durch sie geschaffenen Raumwahrnehmung des Kinos zu befassen. Der Transitraum und seine Actionsequenz ist dafür das gängigste Beispiel. Die bewegten Bilder des Films haben natürlich oft genug die Orte in den Hintergrund gerückt, die Bewegung also gerade nicht mit dem Raum verbunden bzw. verbinden wollen. Orte, Räume, Landschaften, Horizonte sind erst nach und nach verstärkt in die filmische Produktion eingeflossen und haben angefangen,
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Genres zu prägen. Man könnte hier an die vielen Horizontlinien der wide-angle-Western denken, an urbane Panoramasichten als establishing shots unzähliger Krimis seit der film noir-Ära, an die phantom rides der Stummfilmjahre. Gerade die puren filmischen Geschwindigkeitsaufnahmen der letzteren waren von Anfang an eine Kinojahrmarktssensation – doch leider werden sie, so ganz ohne Plotanbindung, bis heute unterschätzt. Die deleuzesche Bildtaxonomie des Bewegungs- und des ZeitBildes liefert allerdings ein Potential neuer Analyse- und Betrachtungsweisen des filmischen Rahmens und der filmischen Bildfläche, das sich gerade für die Untersuchung der Fahrtaufnahmen und deren Raumkonstruktionen ausbauen lässt.18 Fiktional oder nicht-fiktional wird dabei zweitrangiges Unterscheidungskriterium der Bilder. Zumal die Fragen zur Raumwahrnehmung nach filmischen Vorlagen sich auch außerhalb des Kinos mit einiger Leichtigkeit fortsetzen lassen. Bewegungswahrnehmung und ihr sich gegenseitig beeinflussendes und generierendes Wechselspiel mit der Architektur ist nicht zuletzt Thema aktueller Urbanistik- und Architekturkongresse, wobei kaum ein Architekt zu betonen vergisst, dass er mit einem grundlegend kinematographischen Verständnis an seine Arbeit geht. Lineare raum-zeitliche Verständnisse werden im Film allerdings vielfach durcheinandergebracht und überholt. Die Räume wölben sich in der Laufbildbetrachtung in aufeinandergelagerte einstige und aktuelle filmische Szenerien – Multiperspektiven in unzähligen Varianten folglich. In der Bewegung der Bilder kann das Off als das Nichteinsehbare des Bildrahmens und dergestalt -ortes zudem erst bewusst werden. Der städtische Raum tritt dabei in Wechselwirkung mit der Kamerafahrt und dem Schnitt und prägt den gesamten Film. Die Reihe bzw. Serie des Filmmaterials dehnt sich vertikal in die gefilmten Raumbilder. Die Synchronie formt so erst die Diachronie, der lineare Ablauf allein ist nicht mehr Zentrum und hängt auf diese Weise auch vom Raum ab. Die Filmstrukturen verlagern sich ungewohnt, a-typisch, aber dennoch nicht oberflächlich-experimentell. Darum geht es ja auch gar nicht in diesen Bildern. Es geht immer auch um Repräsentationsfragen von Orten und Oberflächen in Wechselwirkung mit subjektiven Wahrnehmungskonditionen, eben gerade auch in ihrer Arbeit mit dem Off und dem Transitorischen des filmischen Raums. In den nun oft übersehenen, abgewerteten filmischen Raumarbeiten beschleunigter Fahrtaufnahmen werden die Landschaften, ob urban oder rural, zum anderen Handlungsträger. Ihre Ansichten durch die Kamera 18 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, sowie ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 22
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konstruieren einen neuen Blick auf das Außen, die Umgebungen, die durchstreiften Räume. Nicht nur das: Die Filme haben ihren Motor in verstärktem Maße in der Abbildung dieser Räume und der Bewegung ihrer Protagonisten durch sie hindurch. Das Travelling, als altbekannte Kameraplanfahrt, erreicht hier eine neue Bildgenerierung erst durch das eigene topographische Verhaftetsein. Es handelt sich also um die Betrachtung von Bilderfolgen, in denen die Narrativik vieler Filme hinter einen filmischen Bildfluss an sich zurücktritt, der die Wechselwirkungen zwischen einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen des Wahrnehmungswandels und der spezifischen Wahrnehmung des einzelnen Rezipienten anschaulich werden lässt. Die Repräsentation von räumlicher Wahrnehmung im Film ist dabei gebunden an neuzeitliche Technologien, die uns seit der Renaissance und Brunelleschis Entwurf zur Bronzetür von Florenz 1402 immer wieder umtreiben. Camera Obscura, Laterna Magica, Panorama und Diorama, Fotografie und Kino sind einige Stationen der Entwicklung dieses Entwurfs perspektivischer Sichtweisen, die im Kino eine äußerste Klimax durch die Möglichkeit der photochemisch erzeugten Bewegungsphotoprojektion erreichen. Der Akzent kann demnach nicht auf der Analyse des einzelnen Filmstills als eines filmimmanenten Standbildes, das nur in bestimmten Anteilen etwas mit dem Film an sich zu tun hat, liegen. Sondern der Ablauf ist grundlegend für eine detaillierte Analyse, die kinematographische Stadtsequenzen überhaupt erst in ihrem zeitlichen Fluss angemessen bearbeiten kann. Die Einstellung ist nicht gleich der Einstellung, und ein Linien-, Spur- oder Perspektivenwechsel, auch im Sinne eines objektiven oder subjektiven point of views, während des Travellings als Kameraeinstellung ist entscheidend. Die Filmsemiotik nach den Standbildanalysen Roland Barthes’ muss somit neu gedacht werden.19 Der Transitraum und insbesondere die Straße sind nun jene urbanen Ausprägungen, an deren filmischen Repräsentationen sich eine Bildtheorie mit wahrnehmungs- und bewegungsphilosophischen Ansätzen verbinden lässt. Arbeitsstichworte sind hier bildwissenschaftliche Figurationen von Horizontal- und Vertikallinien, Geschwindigkeit und Projektion sowie die deleuzeschen Begriffe des Zeit- und Bewegungsbildes. Antike Theorien des Sehens seit Euklid und Perspektivtheorien seit der Renaissance treten anhand dieser Bilder in eine neue Auseinandersetzung mit der Bewegung.
19 Vgl. Barthes, Roland: Die Helle Kammer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, sowie ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 23
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Was macht das filmische Bild nun mit seinen Räumen und wie wirkt dies auf die Wahrnehmung zurück? Ist, mit Anne Friedberg20 gesprochen, schon längst die Flaneuse du Mall im Sinne des mobilized virtual gaze erreicht, ist das panoramatische Sehen im Film an einer Klimax angelangt und was könnte in einer Art bartlebyscher Verlangsamung damit passieren? Wo lassen sich die Übergänge und Differenzen dieser interfunktionalen Seh- und Sichtweisen verdeutlichen? Welche Bildkategorien könnten hier von Belang sein? Da die bewegten beschleunigten Bilder des Kinos einer mediumsimmanenten Überwindung der vermeintlich planperspektivischen monokularen Anlage gleichzukommen scheinen, also die potenzierte bildimmanente Schwelle nicht zuletzt im Sinne einer Stilmetapher vorliegt, stellt sich im Anschluss daran eher die Frage nach den Differenzen der Geschwindigkeit und Blickrichtung der Bilderfahrten, auch in Richtung Entschleunigung und Vornahmen des Gleitens – dementspechend nach dem zwar immer bewegten, aber doch auch unterschiedlich beschleunigten Ablauf urbaner und ruraler Abbildungsleistungen. Mit Michel de Certeau21 befinden wir uns hier in einem Landschaftsausschnitt, in welchem wir einem permanenten horizontalen Blickpunktwechsel erlegen sind. Es entsteht ein Zwischenraum, der nicht nur fern sein will sondern auch nah ist, also da ist – obgleich permanent in Bewegung. Und gleichzeitig erfahren wir das kinematographische Dispositiv neu. In seiner Ausschnitthaftigkeit, in seiner Kadrierung des Raums mitten in der Bewegung unzähliger Raumtransitsequenzen sowie in seiner bildseriellen Aneinanderreihung, seiner Linienarbeit. Für Siegfried Kracauer22 sollte das filmische Bild zum Registriermedium der bewegten Welt werden. Die Bewegung schien für ihn die räumliche Tiefe ausnahmslos zu unterstützen. Dass dies zu einseitig gedacht ist, zeigt sich, wenn man die unterschiedlichen Blickwinkel der Kamerafahrten genauer betrachtet. Hier ergibt sich ein Angelpunkt meiner Arbeit: Die Hypothese einer mediumsimmanenten Überholung der zentralperspektivischen Wahrnehmungskonstruktion könnte nur in ganz bestimmten Kamerafahrten zum Tragen kommen. Das Travelling, als Kameraplanfahrt parallel horizontal zur Umgebung, scheint dafür besonders geeignet, im Gegensatz zur Durchfahrt, als Zoom genauso wie als frontale Kamerafahrt in die Tiefe, welche die monokulare Perspektive mit ihrem Ziel im Fluchtpunkt eher zu verdoppeln scheint. Die Bewegung im Film erreicht dabei unterschiedliche Ergebnisse. Die Durchfahrt-Einstellung würde dementsprechend der Durchsicht nahestehen, da es hier offensichtlich 20 Vgl. Friedberg: Window Shopping. 21 Vgl. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988. 22 Vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 24
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auf den Raum vor der Fahrscheibe ankommt. Als Art der Fernsicht erleben wir mit ihr ein Eingesogenwerden in den fluchtenden Raum der Aufnahme. Die Bewegungsaufzeichnung unterstützt dabei die Perspektive, so dass die mediale Ideologie offenkundig ausgereizt wird. Im Gegensatz dazu entspräche die Parallelfahrt-Einstellung zuerst einmal eher der Kameraarbeit der Aufsicht, hier etwa als Verdoppelung des seitlichen Fahrtfensterblickes. Wir sehen auf die Scheibenfläche, fahren aber nicht in die Tiefe des Raums, sondern seitlich an ihm vorüber und nehmen den Raum dergestalt in verschwimmenden Flächeneindrücken wahr. Eine Nahsicht folglich, die mit Wolfgang Schivelbusch23 dem Verlust der Tiefe im panoramatischen Reisen gleichkommt. Hier wäre die Zentralperspektive mit Hilfe der Bewegung außer Kraft gesetzt und das Medium würde mit seinem immanenten und gedoppelten Flächenverweis seine tatsächlichen Grundlagen offenlegen. Eine Arbeit mit Hilfe der Unschärfe folglich. Doch zu dieser später mehr. Als ein weiterer wichtiger Aspekt muss hier der Tempowechsel während der Einstellung angesehen werden. Inwieweit sich hieraus einzelne Bildkategorien ergeben, wird noch zu prüfen sein. Der Begriff des Travellingpanoramierens, als einer Verbindung eben jenes filmischen Travellings mit dem Wahrnehmungsdispositiv des panoramatischen Sehens, könnte hierzu neue Kategorien einer Bildtaxonomie des filmischen Transitraumbildes, als Teilaspekt einer Strukturtheorie der Bildoberfläche, eröffnen. Die reale Stadtbefestigung scheint zudem nun endgültig zu verschwinden: Wurden die alten Befestigungswälle vieler europäischer Großstädte vormals zu städtischen Gleisanlagen umfunktioniert, so scheinen diese jetzt überflüssig zu werden. Der »ehrliche« Raum, der im Alltag die Grundfesten einer Kultur einsehbar macht, der die Notwendigkeit von Trassen nicht verschleiern will und kann, der in der Kultur der Moderne selbst in seiner zweischneidigen Schönheit zu einer Ästhetik gelangt ist, scheint aufgegeben zu werden. Ist der Flughafen die neue, fast schon natürliche Ersatzstadt? Übernimmt er die Funktion des screens, des Bildschirms, wie sie einst das Triumphbogentor unserer frühesten Bahnhofsarchitekturen übernommen hatte? Michael Hanekes WOLFZEIT (2003) zeigt uns gegen Ende eine sehr bezeichnende Einstellung: Der Film erzählt den verzweifelten Versuch einer Mutter (Isabelle Huppert) mit ihren beiden Kindern aus einem vermeintlichen Katastrophengebiet zu entkommen. Es gibt kaum noch Rohstoffreserven, Autos liegen brach, Wasser ist knapp, und so wartet man mit einer Gruppe anderer Flüchtlinge in einem Landbahnhof auf den vielleicht irgendwann einfahrenden Zug. Alles ist ungewiss hier, man wartet und weiß nicht, ob 23 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt am Main: Fischer 2000. 25
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man sich jemals von der Stelle bewegen wird. Dies vermag einem nur noch der Zug zu ermöglichen. Der Schluss ist offen, man wird keine Einstellung mit einem herbeieilenden Zug zu sehen bekommen. Aber statt dessen etwas viel Bezeichnenderes, das die vermeintliche moderne conditio humana einer grundlegenden Notwendigkeit von technisch ermöglichter Mobilität auf den Punkt bringt wie keine andere Kameraeinstellung: Wir sehen eine einfache Parallelfahrt an der grünen, durch die Geschwindigkeit schemenhaft gewordenen Landschaft vorbei. Man muss nicht wissen, ob dieser Blick einer Person zugehörig sein soll und man braucht auch keinen Zugfensterrahmen zu sehen, der das Bild erklärend kadrieren würde. Nein, denn man hat das einzige Mal in diesem Film die Möglichkeit, eine vorbeifahrende Perspektive ganz für sich, als Kinorezipient, einzunehmen – und man saugt sie förmlich auf. Haneke gibt den großen hoffnungsvollen Schluss, jedoch ohne Zaunpfahl. Die Hoffnung scheint für ihn allein in dieser Möglichkeit zur Sichtbarmachung eines schlichten bewegten Fahrtbildes zu stecken, das sich aller weiteren Narration entzieht. Ein Fahrzeug, das eine derartige Umstrukturierung des Sehens bereits in seiner mythologischen Vorgabe in sich trägt, ist das sagenhafte Schiff Argo der griechischen Mythologie, das unter Jason auf die Suche nach dem Goldenen Vlies geht. Sein Erbauer ist Argos, nicht zu verwechseln mit dem vieläugigen Argus als mythischem Held des Blicks der Kontrolle. Bezeichnend für die Bedeutungszusammenhänge der Argo, lässt sich in ihrer Ikonologie eine Darstellungsvariante mit einem aufgemalten Auge am Schiffsrumpf finden. Das Auge symbolisiert das sprechende Holz des Schiffes im Sinne seiner seherischen Fähigkeiten. Ein anonymer Künstler des Mantegna-Kreises soll die Zeichnung um 1500 geschaffen haben. Sie befindet sich heute in Budapest im Musée des Beaux-Arts.24 Es ist das Fahrzeug, das sieht, was hier besonders aufstößt. Das sehende Vehikel, das die verschiedensten bewegten Blickmöglichkeiten transportiert, hat hier eine seiner bildlichen Wurzeln. Mit dem vermeintlichen Verlust der horizontalen Dimension würden wir mit Virilio somit auch jeglicher Perspektive verlustig. Für ihn läuft hier bereits der perzeptive Glaube an sich Gefahr verloren zu gehen, und sei es nur jener der Zentralperspektive. Das sehende Schiff Argo – jenes Fahrzeug, das genauso als perzeptives Interface funktionieren kann – verlässt die angestammte Tiefendimension. Das Schiff, das unter den Plejaden am Horizont entlangfährt, ein ikonographisches Motiv, das nun mit der Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra erst vor ein paar Jah24 Lücke, Susanne/Lücke, Hans-K.: Antike Mythologie. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 152. 26
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ren seinen Ursprung bis in die Bronzezeit zurückverlegt hat, konnte bis ins moderne Dispositiv des Kinos und der Großstadt sein wahrnehmungsstrukturierendes Potential aufrechterhalten. Das Fahrzeug im Kino spielt dergestalt noch mit der Fläche und Tiefe des filmischen Raums: Die Verfolgungsfahrten des Kinos sind an einem Zentrum des Filmischen genauso wie an einem der grundlegenden Strukturmerkmale unserer Wahrnehmung, zwischen Blick in Bewegung und Bewegung im Blick, angesiedelt. Die Linearität der Tiefenfahrt kann hier aufgebrochen werden, das wandernde Auge ist mehrfach in Bewegung geraten und dennoch horizontgebunden. Folglich erscheint hier erstmals die Planperspektive im Fließen begriffen: eine Idee, wie sie sich vielleicht nicht nur das Barock erhofft hatte. Die Berücksichtigung unseres binokularen Sehens in einem monokularen Bewegungsmedium muss deshalb einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte sein. Dabei hatte sich doch das Territorium im Austausch mit immer neuer Technologie nach Peter Weibel25 transformiert und immer besser erfassbar, im Sinne von messbar, gemacht. Militärtechnik und Stadtbefestigung standen grundlegend im Wechselverhältnis. Machten gestern Kanonen die alten Stadtmauern obsolet, so hat heute die Geschwindigkeitstechnologie die Stadtwege fluchten gemacht. Man erinnert sich an Haussmanns Verkehrsschneisen durch die Pariser Altstadt. Technologie und Perzeption: In der Stadt hat ihre Wahrnehmung diese selbst verändert. Sie wurde mehr und mehr zur Akkumulation von Transitorten, zum flüchtigen Momentum an Stelle von Ortsverbundenheit. Mit Hilfe der Technologie weitete sich somit die Wahrnehmung über das sinnlich-fassbare Territorium hinaus. Sie selbst scheint mittlerweile nur immer mehr in die Fluchtpunkte hineinzufluchten. Doch genau an diesem Punkt ist die alte Frage nach dem Realen und unserer Mittel zu seiner Aneignung in einer aktualisierten Variante neu gegeben. Wie wurde all die Jahre mit der Zentralperspektive gearbeitet? Vielleicht erfindet man gerade ein neues Territorium, ein neues geographisches Verständnis, das sich mit den Laufbildern des Kinos angekündigt hatte bzw. ankündigt? Und ein deterritorialisiertes Raumverständnis mit Deleuze, das auch einen »dezentralen« Blick birgt? Dies könnten dann mediale Varianten jener Heterotopien nach Michel Foucault sein, welche in den filmischen Fahrtbildern transportiert werden. Nichts anderes eben als das Verständnis des uralten Gefährts des Schiffes oder Bootes als bewegter Raum, als Ort oh-
25 Vgl. Weibel, Peter: »Territorium und Technik«, in: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin: Merve 1989, S. 81-112. 27
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ne Ort, als anhaltendes Zwischenstadium, eine Passage und ein Trajekt genauso wie nach Foucault »die Heterotopie par excellence.«26 So vervielfältigen sich die Bild- und Raumbegriffe während unzähliger kinematographischer Fahrtaufnahmen. Als Bildgenerierungsform stehen sie in der Tradition der römischen Bootsfahrt-Metapher nach Wickhoff27 und zeigen sich so als ein jüngstes Moment des kontinuierenden Stils im anderen Medium. Hier wie dort tritt nicht der ausgezeichnete Augenblick in den Vordergrund, sondern die einzelnen Bilder werden als ununterbrochen gleitende und gleichwertige wahrgenommen. Der subjektive Raum der Fahrt wird erfahrbar. Mit Hans Belting gesprochen, kann so erst »die unstabile Schiffssituation, die dem perspektivischen Gesetz entzogen ist« ermessen werden.28 Kein Stillstand ist innerhalb dieser Sequenzen in Sicht. Alle hieran anschließenden Diskurse generieren sich erst durch die anhaltende Schwebe- und Schwellensituation. Das Gefährt selbst ist wiederum der Nicht-Ort, der im permanenten Ortswechsel begriffen ist. Gleichortigkeit und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster treffen hier aufeinander. Bewusstseins- und Sichtbarkeitszustände überlappen sich gegenseitig. Die abgebildete Fahrt vollzieht also eine mediale Umsetzungsmethode, in welcher Sichtweisen rekapituliert werden können. Ein Mittelweg zwischen den Bildkategorien der Durch- und Aufsicht wird dabei möglich. Die Tiefe und Ferne bringt während der Fahrtwahrnehmung verzögerte Zeit zustande, die Nähe zeigt sich im Gegensatz dazu in beschleunigter Zeit. Durch die Bewegung und ihre Kombination mit Ferne- und Nähewahrnehmungen schieben sich mehrere Zeitebenen in ein Bild und schaffen dergestalt ein Schichtensimultanbild: Zeiten und Räume, Tiefe und Fläche sind hier ineinander verwoben, bilden eine neue Einheit. Und eben eine, die immer zuerst einmal auf der permanenten Bewegungsveränderung basiert. Im weitesten Sinne also Ansätze und Pläne zum Verlassen einer Übersicht, die seit jeher von der geometrischen Perspektive vorgegaukelt wurde. Unsere Wahrnehmung als optischer, chemischer, zerebraler Montageeffekt 26 Foucault, Michel: »Von anderen Räumen« in: Karlheinz Barck (u. a.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1998, S. 46. 27 Clausberg, Karl: »Wiener Schule – Russischer Formalismus – Prager Strukturalismus. Ein komparatistisches Kapitel Kunstwissenschaft«, in: Werner Hofmann/Martin Warnke (Hg.): IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle II. Hamburg: Prestel 1983, hier S. 174. 28 So Hans Belting am 1. Februar 2006 auf seinem Vortrag »Perspektiven des Blicks – die Bildfrage in neuer Sicht« innerhalb der Berliner ThyssenVorlesungen »Zur Ikonologie der Gegenwart« an der Humboldt-Universität zu Berlin. 28
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kommt hier bewusster, und annähernd realistischer, zur Geltung als in der statischen Zentralperspektive und ihren sämtlichen kulturellen Ausprägungen: Das Kino hätte somit den Weg immanent darüber hinaus gewiesen. Mit El Lissitzkys suprematistischer Nach-Außen-Verlegung, als Außerhalb des Bildrahmens, der Spitze der Sehpyramide als Projektion des Betrachterauges sowie Gilles Deleuzes Konzept des hors-champ, als Verweis auf das Außerhalb der filmischen Kadrierung im Bild selbst, liegt nun hier wie dort die Betonung auf dem asymmetrischen binokularen Sehen einerseits und auf den Möglichkeiten des bewegten Sehens andererseits. Für Richard Sennett wäre dies vermutlich die adäquate Übersetzung seines Konzepts der consciousness of the eye29: Möglichkeiten der Offenheit, der Überraschung und Selbstpreisgabe im Erfahren von Perspektiven des städtischen Raums, eben als mehrperspektivische Achsen, die immer neue Blickwinkelwechsel bereithalten, nur hier eben auf die Filmebene übersetzt. Folglich auch eine Ausformulierung von Heterospektive nach Karl Clausbergs Neuronaler Kunstgeschichte.30 Das Travelling als planparallele Kamerafahrt im Kino, das als dessen erste Fahrzeugwerdung (Optik und Kinematik, auch im Gefilmten selbst, in Verschmelzung) verstanden werden kann, hat den Ortswechsel im statischen Körper üben lassen, denn so zeigte die Populärkultur, dass man selbst dann noch bewegt ist: mit den gehend-sehenden Augen. Die Horizontlinie der filmischen urbanen Landschaftsrahmen markiert so den Zwischenraum, den Durchgangsort. Sie stellt den Übergang sowie die Grundlage eines jeden Transitraums dar. Sie birgt das breite Feld des unendlichen Fluchtpunkts für alle Vertikallinien. Die abgefilmten Transiträume fächern diese mögliche Tiefenbewegung in unzählige verzeitigte Perspektiven auf, die uns den Blick in die Bildtiefe simultan mit dem Blick auf den Bildträger ermöglichen. Und uns das hors-champ bzw. Off als das Jenseits der Kadrierung innerhalb der Kadrierung des Cache erst eröffnen. Der Film findet hier, in den beschleunigten Fahrten auch des Nichtsehens, des Bildraumes hinter dem Filmbild, erst statt. Die Wahrnehmung all jener beschleunigten, bewegten, verzögerten oder verzerrten Transitraumbilder wird dabei grundlegendes Momentum. Die Nullheit des Wahrnehmungsbildes nach Deleuze kristallisiert hierin alle perspektivischen Ursprünge des kinematographischen Mediums und überwindet sie zugleich. Eine bildimmanente Arbeit mit Schwellen und über Schwellen hinaus, denn auch der Schnitt als ursprüngliche Schwelle bzw. Intervall des Films ist hier im Bildfluss selbst mitgedacht. 29 Vgl. Sennett, Richard: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt am Main: Fischer 1994. 30 Vgl. Clausberg, Karl: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip. Wien, New York: Springer 1999, S. 141ff. 29
ZU
EINER CONDITIO HUMANA DES
TRANSITORISCHEN
»Das Kino selbst ist mit der Moderne und deren Metamorphose durch die Massenmedien zu einer cinephilen Kultur eng verwachsen. […] Bis heute ist der Kern der auf dieser Entwicklung fußenden Zerstreuungskultur das menschliche Bedürfnis, an einem anderen Ort zu sein, eine andere Identität anzunehmen und diesen Übergang durch eine perfekte Illusion zu erzielen, die den Rahmen, der üblicherweise das Bild als Bild kennzeichnet, durch optische Effekte und mit Hilfe neuer Bildtechnologien zum Verschwinden bringt: Über die Entgrenzung des visuellen Feldes gelingt es, dass sich die Betrachter als Teil dessen imaginieren, was ihre Wahrnehmung affiziert.«1
Orte der zerstreuten Aufmerksamkeit Wenn Walter Benjamin über die Kategorie der Geschwindigkeit nachdachte, tat er dies nur in Verbindung mit jener der Langsamkeit. Die beschleunigten Lebensverhältnisse der Großstadt aufbauend auf Charles Baudelaires choc-Begriff, und die Arbeiten der Surrealisten um Aragon waren für ihn Zentrum seiner Theorie der Moderne. Inmitten dieser erfuhren für Benjamin die Sinne des Subjekts eine Umstrukturierung. Die Wahrnehmung wurde hier zwischen Zerstreuung und Aufmerksamkeit neu gefordert und verändert. Ein Ort dieser Erfahrung ist das Kino. Insbesondere die Montage sorgt für Benjamin für eine Intensivierung der Wahrnehmungsmodalitäten in Parallele zur urbanen Befindlichkeit der plötzlichen Schocks und der kalkulierten Attraktionen. So ist die Leinwandrezeption nie allein eine optische, sondern ebenso eine haptische. Sie kann anstrengend sein, nicht zuletzt inmitten ständig 1
Frohne, Ursula: »›That’s the only now I get‹: Immersion und Partizipation in Video-Installationen«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Kunst/Kino. Köln: Oktagon 2001, S. 217-238, hier S. 222. 31
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wechselnder Perspektiven. Schnitt- und Fragmentfolgen verwandeln sich in der Bewegung zu neuen Sichtweisen. Jede Kontemplation ist hier von Zerstreuung einholbar. Die Geschwindigkeitserfahrung im Kino wird für Benjamin zentral für ein Verständnis der Moderne anhand ihrer historischen Veränderung der Wahrnehmung. Entwicklung ist nicht als gleitender Fortschritt zu denken, sondern als Dynamik, die aus Unterbrechungen und abrupten Sprüngen besteht. Es ist offensichtlich, dass das russische Montagekino zu Benjamins Orientierungspunkt werden musste. Offene und instabile Bedeutungsfolgen zwischen den Bildern verdeutlichen sich hier. Letztlich stellt dies den Versuch auf ein anderes Kinos dar, jenseits von linearen, statischen und deterministischen Modellen. Dabei denkt Benjamin vom Mittel des Zeitraffers her: die Bildrate des Aufnehmens ist hier ja gerade bedeutend langsamer als jene der anschließenden Projektion. Eine Form von Langsamkeit hat dergestalt eine extrem gesteigerte Form von Geschwindigkeit zur Folge. Mit Blick auf das sechste Kapitel ist auch bei Benjamin bereits eine Form des asiatischen Denkens der sich bedingenden Gegensätze und Kreis-Bewegungen im Gegensatz zu einem schlichten Fortschrittsglauben zu erkennen. Fortschritt nur in Verbindung mit dem Blick zurück – so ist sein Engel der Geschichte inmitten eines beschleunigten Windes oder Getriebenseins nach Vorne zu verstehen. Und so wird für ihn die Möglichkeit eines Wandels immer bedingt durch ein dialektisches Zusammenspiel von Beund Entschleunigung. Die Umgestaltung der modernen Wahrnehmung geht hiermit einher, wobei Benjamin auch bereit ist, seinen Blick auf das Jenseits von Tempo und Schock lenken zu lassen. Eine veränderte oder intensivierte Wahrnehmung kann genauso durch Zeitdehnung und Verlangsamung erfolgen. Und selbst die schlichte Wiederholungs- oder Schlaufenbewegung kann immer wieder neue, ungeahnte Blicke eröffnen, die einst übersehen wurden. So wird für ihn die Langeweile zur »Schwelle zu großen Taten«.2 Die neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten sind eingebettet in unterschiedliche und unabgeschlossene simultane Zeitverläufe, in und mit denen sich räumliche Strukturen anders erschließen lassen. Kino ist für Benjamin ein Medium, um Geschwindigkeit, Zerstreuung und Selbstentfremdung in Produktivkräfte umzuwandeln, die wiederum politisch und ästhetisch wirken können. Nach Benjamin und mit Eisenstein ist es der Schnitt und somit der Raum zwischen den einzelnen Einstellungen, der den Film ausmacht. Das Optisch-Unbewusste führte Benjamin jedoch als Zusatzkategorie ein: Es sollte etwas innerhalb des Bildrahmens sein. So offenbarte hierin die Kamera ein Bild der Welt, das 2
Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 161. 32
ZU EINER CONDITIO HUMANA DES TRANSITORISCHEN
dem bloßen Auge verborgen blieb. Es ist also eine dem Schnitt vorgelagerte Kategorie. Die Kamera selbst kann bereits dem Auge neue Handlungsbereiche und Wahrnehmungsfelder eröffnen. Großaufnahme, Zeitraffer und Zeitlupe sind Beispiele dafür. Oberflächen werden durchdrungen und neue, potentiell offene Sichtweisen eröffnet. Das Sehen wird hier zum medialbedingten sinnlichen Vorgang, der die Organe anders affiziert. Mediale Sehprothesen vermitteln dergestalt neuartige somatische Erfahrungen. Zeitfolgen werden so in der Dialektik von Langsamkeit und Geschwindigkeit in alle Richtungen ausgedehnt und geöffnet. Folglich ein In-der-Schwebe-Halten unzähliger Multi-Perspektiven aus Raum- und Zeitbildern. Die apparathafte Veränderung von Bild- und Zeitstrukturen ist ein Effekt des Optisch-Unbewussten. So können neue Bewusstseinsprozesse in Gang kommen. Das Sehen wird als dieser Prozess anders sicht- und erfahrbar. Die Arbeit mit den Oberflächen schreitet hier voran. Formenabfolgen und Bewegungsphänomene werden dabei zentral. Der benjaminsche Aura-Begriff wird nun in der Frage nach dem Film besonders relevant. Im Zeitalter der von Benjamin beschriebenen technischen Repoduzierbarkeit fällt die Aura einer scheinbaren Verkümmerung anheim. Dabei geht es jedoch in erster Linie um einen Vergleich zwischen Original und Kopie. Das Kunstwerk als Original hält einen existentiellen Wert in seinem Bezug auf das Hier und Jetzt inne. Ein Feld der Echtheit schart sich um diese Einzigartigkeit. Das Gegenwärtige als einmaliges und beeindruckendes Dasein erfährt dabei seinen Ausdruck. Ihm zugehörige Bereiche entziehen sich der Reproduktion. Jedoch gewinnt diese andere hinzu: Zum einen kann sie neue, andere Sichtweisen eröffnen, die dem Auge bisher unzugänglich waren. (Wir haben dies bereits am Beispiel des Zeitraffers gesehen.) Zum anderen kann es als Kopie in Bereiche gebracht werden, die dem Original nicht zugänglich wären. Themen der Erhabenheitsdebatte nach Jean-François Lyotard und Barnett Newman spielen so in Fragen der Abbildung von Realität hinein, insbesondere wenn von der Landschaftsansicht gesprochen werden soll. Das romantisch-schaurige Gefühl einer unermesslichen Weite gegenüber hatte bereits Kant und Burke den Begriff des Erhabenen beschwören lassen. Als eine Variante von Aura in Bezug auf natürliche Gegenstände taugt die Erhabenheit auch bei Benjamin vor allem dann, wenn er mit ihr ein Gefühl der »einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«3 beschreibt Als Beispiel par excellence dieser Entwertung des Hier
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Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 15. 33
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und Jetzt und somit der an sie gebundenen »hoheitlichen« Gefühle gilt für ihn eine »Landschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht«4. Wichtig wird hier allerdings auch noch etwas anderes: das Reproduzierte wird so auf eine neue Weise aktualisiert. Es kommt dem Zuschauer entgegen. Wird verfügbarer. Und das schafft für Benjamin in Bezug auf eine Abbildung und dergestalt Neuschöpfung realer Eindrücke allein der Film. Er stellt Fragen nach der Organisation der Wahrnehmung innerhalb und mit seiner repräsentativen Arbeit. Derartige formale Betrachtungsweisen, anknüpfend an die Wiener Schule um Riegl und Wickhoff, verbindet Benjamin nun mit einem Blick auf gesellschaftliche Veränderungen. Dass diese in den Entwicklungen der Wahrnehmung wurzeln, ist dabei wichtigster Ausgangspunkt. Der Verfall der Aura ist ein solcher. In diesem werden Dinge massenweise nähergebracht und ihre Einmaligkeit dergestalt überwunden: ein Nachteil, der sich als Vorteil herausstellt. Wo Benjamin allerdings auf die Seite des Originals Einmaligkeit und Dauer rechnet, da kommt zur anderen Seite die Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit. Die raum-zeitliche Wahrnehmung wird hier ausufernd strapaziert und eröffnet aber erst so neue Sichtweisen. Die Unnahbarkeit wird dabei reproduziert und seziert, dennoch erleidet sie nicht unbedingt einen Abbruch, sondern viel eher eine Umwandlung. Ihre Faszination kann im Film auf andere Weise erhalten bleiben: so tritt sie in der Indexikalität des kinematographischen Bildes zwar gedoppelt in Erscheinung, verteidigt und verdeutlicht dennoch gerade dadurch und schlicht massenhaft ihre Präsenz. So werden letztlich das Ding, die Erscheinungen der Welt und das Kunstwerk in der technischen Reproduzierbarkeit nicht nur emanzipiert, sondern in ihren jeweils unterschiedlich zugedachten Aura-Begriffen neu definiert. Sie werden habhafter, populärer, begleitender und somit präsenter gerade in der Nicht-Präsenz. Und anders befreit von Kult und Ritual. Der benjaminsche Ausstellungswert tritt hier vor den Kultwert und drängt diesen zurück. Dadurch wird seine Rezeption qualitativ verändert. Die Kontemplation vor dem nah-fernen Einmaligen weicht der geschockten Zerstreuung vor der fernen, aber nahen Filmprojektion. Benjamin sträubt sich dabei gegen Tendenzen, die in reaktionärer Weise versuchen, dem Film einen Kunstwert zuzusprechen. Doch es kann für ihn nicht darum gehen, dem Film ein Mystisches oder Sakrales aufzuerlegen, viel eher zeigt sich hier die höchst aktuelle Vornahme Benjamins, auch den populären Kulturformen einen Erkenntnis-, Diskurs- und Geschichtswert zuzurechnen. Dass die Aura im Abbild einen Verlust erleidet, ist also nicht als tatsächliches Defizit zu verstehen. Stattdessen verteidigt Benjamin im Film die Tendenz, besser als jedes andere Kulturgut zu zeigen, »wie die Ma4
Ebd., S. 13. 34
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terie dem Menschen mitspielt«.5 Und noch vor dem Schnitt kann für ihn die Kamera tief in die Wirklichkeit eindringen und neue Perspektiven sichtbar machen. Anders als die Distanz in der Malerei ist sie hier also am Puls der Dinge, mitten in all der Lebendigkeit, den Schocks und den ungeplanten Unzulänglichkeiten. Benjamin spricht hierbei von einer »Vertiefung der Apperzeption«6 im Film. Dieser sprengt Räume und Zeiten und öffnet sie gerade erst in der a-präsenten Abbildungsleistung: »Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man ohnehin undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, ›die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken‹.«7
Für Benjamin begreift demnach die Kamera die Welt erweiterter als das bloße Auge. Er bezeichnet dieses erweiterte Sehen als das Optisch-Unbewusste. Unterstützt wird dieses von der dem Film eigentümlichen Rezeption in der Zerstreuung. Assoziative Abläufe werden dabei verhindert, stattdessen kann ein permanenter Fixationskampf stattfinden. Die Schocks bedürfen einer gesteigerten Aufmerksamkeit: »Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.«8 Gerade durch die Zerstreuung werden neue Varianten der Apperzeption eröffnet. Taktile und optische Rezeptionsvorgänge kommen im Film an der Schnittstelle zwischen Aufmerksamkeit, Schock und aneignender Gewohnheit zusammen: »Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument. In seiner Chocwirkung kommt der Film dieser Rezeptionsform entgegen. Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurch zurück, dass er das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt, sondern auch dadurch, dass die
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Ebd., S. 26. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36, mit einem Zitat von Rudolf Arnheim. Ebd., S. 39. 35
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begutachtende Haltung im Kino Aufmerksamkeit nicht einschließt. Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.«9
Benjamin weist im Passagen-Werk darauf hin, dass ihm die Beleuchtungswechsel und die Tagesablaufsimulationen des Dioramas wie »ein spielerischer Vorläufer des Zeitraffers«10 erscheinen sowie als zwei »Seiten des Schocks – seine technische Funktion im Mechanismus und seine sterilisierende im Erlebnis«.11 Bereits im Panorama als erhöhtem Rundumblick war eine moderne Vermehrung der Fluchtpunkte zu berücksichtigen, wie sie im Film nachfolgend geläufig geworden ist. Das »sich schockieren lassen« brachte und bringt also damals wie heute neue Ein- und Ansichten. Für Benjamin ist gerade der Blick zurück immer auch ein Blick nach vorn. Und er hätte sich gefreut: Die Rückwärtsbewegung wird erst in der Filmansicht verstärkt genutzt, etwa wenn andere sich auf uns zu bewegen oder in den Heckscheibenblicken, die uns oftmals die Bewegung nach vorn noch viel stärker empfinden lassen. Dergestalt ist das rückwärtsgehende Sehen12 im Film in besonderem Maße ermöglicht worden. In die Zukunft gelangen wir nur mit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Das unmögliche Mögliche, also auch der umgekehrten Wenden in vordergründig fortschrittlichen Erzählabläufen, ist ein weiteres Mal im Laufbild enthalten.
Nahferne und Fernnähe Wenn Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie der Aufmerksamkeit die Begriffe der Nahferne und der Fernnähe benutzt13, dann als jene, die eine zwischenmenschliche Situation, und dabei eine nahezu klassische der conditio humana moderna, zu fassen vermögen. Sie beschreiben den Ein- und Ausschluss im Anderen als ein Vermögen der Schwelle, als ein Dazwischen. Wenn dies, als klassische Variante aller bekannten Sehnsuchtskonstruktionen und -konstellationen eines Textes, eine Übertragung in das bildliche und insbesondere filmische Geschehen, und dergestalt in einen Sichtbarkeits- sowie Unsichtbarkeitsdiskurs, erhalten 9 10 11 12
Ebd., S. 41. Benjamin: Passagen-Werk, S. 657. Ebd., S. 846. Ein besonderer Dank gebührt hier Karl Clausberg für seine Gedankenanregungen zum Thema innerhalb einer Sitzung des Lüneburger Doktorandenkolloquiums. 13 Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 44. 36
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würde, wo ließen sich derartige Situationsbilder ausmachen? Diese immer wiederkehrenden Varianten einer Wahrnehmungskonstruktion des Nah- und Fernseins zugleich? Es braucht nicht viel, um den Bilderdiskurs als nächstliegendes Feld dieser Debatte, noch vor dem Textdiskurs, auszumachen. Das Abwesende, welches sich im Bild anwesend zeigt, enthält hier eine direktere Verbindung innerhalb einer ikonischen Differenz. Und wenn hier Film als eine An-/Abwesenheitsmaschine behandelt werden soll, dann in erster Linie, um in diese Nähe-Distanz-Verhältnisse des bewegten Bildes und der sich in ihr befindlichen Kondition vorzudringen. Dass die Horizontlinie dabei zentrales Momentum werden kann, ist begreiflich, wenn man diese Distanzfragen in Fragen der Wahrnehmung von urbanen und ruralen Landschaftsaufzeichnungen übersetzt. Es soll damit nicht geleugnet werden, dass im Film insbesondere als narrativem Medium selbstverständlich in handlungstechnischer Hinsicht und nicht zuletzt über die Charaktere wesentliche Punkte der zuvor genannten Nah-Fern-Beziehung verhandelt werden, und dies auch noch meist in erster prominenter Weise. Hier soll es dennoch nicht darum gehen. Sondern um den Film zuallererst als Bildmedium vor und innerhalb aller Handlungsinszenierungen, insbesondere jener der Schauspielerführung. Stattdessen wird ein Randbereich der filmischen Modi der Wahrnehmung untersucht, einer, der eine direktere Bindung an das Bewusstsein der Bildwahrnehmung unterhält. Einer, der meist aus dem vielzitierten Rahmen innerhalb der Handlungsdramaturgie fällt. Einer, der aber erst so Aspekte des Bildprozesses, sowohl der Aufzeichnung als auch der Wahrnehmung, eben auch jener des Rezipienten, verdeutlicht. Dies sind Bilder als Wahrnehmungsformen einer modernen conditio humana, die die Perspektivanweisungen des Apparates seit der Renaissance in sich tragen, ausspielen und sie dennoch überschreiten. Formen des bewusst-unbewussten Sehens, das sieht, ohne festhalten zu wollen, und sich auch in Bereichen des Kinos betätigt, wo ganz klar von einem Kino der Attraktion und der Sensation die Rede sein kann. Es geht hierin in unabgelenkter Weise um Varianten der Wahrnehmung, die sich zuerst in den Stadtdiskursen Baudelaires, Benjamins und der Surrealisten geäußert haben, und die insbesondere das Motiv des Vorübergleitens, des permanenten Bewegtseins, in der Masse und auf der Straße, beschrieben. Also um die weiteren Ausprägungen dieser Form der Wahrnehmung, die einstmals als Großstadtwahrnehmung des Flüchtigen14 in die Kulturdebatte Einzug hielt. Formen der kinetischen und mobilen Erfahrung, die das Kino auf seinen Ausgangspunkt der technischen Bewegungsuntersuchungen besinnen. Als einen Ausgang folg14 Man möge nicht zuletzt an Baudelaires Gedicht »À une passante« denken. 37
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lich, der im Sehen ja gerade dieses selbst und seine Körpergebundenheit spürbar werden lässt. Der seine grundlegende Kondition der Nahferne oder Fernnähe allein hierin offenbart. Dies passiert insbesondere in Bildersequenzen, die sämtlichen narrativen Funktionen entkommen, die eine Art Schneise in die filmische Handlung schlagen, eine Nische noch im heftigsten action-reactionSchema ermöglichen. Dass es auch der Thriller oder ein verwandtes Genre sein kann, das im gängigen Kino diese Passagen enthält, tut ihnen keinen Abbruch. Die Sensation der Verfolgungsfahrt ist hier mehr als angebracht und geht dennoch darüber hinaus, steigert eine Lust des Gleitens und Schwebens durch den Raum, die außerhalb der Narration liegt. Sie macht das Off der Kadrierung im Sehen begehrter denn je und bringt als Kann-Option die Möglichkeit des Bewusstwerdens der filmischen Rahmung, ihrer Einschränkung und ihrer Überwindung gleichermaßen, mit sich. Die monokulare Anlage des Films selbst stellt sich in diesen Sequenzen zur Debatte. Dass es hierbei um eine mediatisierte Erfahrung geht, darf natürlich nicht übersehen werden. Dennoch enthalten bereits die Jahrmarktsattraktionen um und vor 1900 in den Panoramen und Dioramen erste Übersetzungen dieses Bewegt- bzw. Fahrgefühls, dessen Herkunft aus den Erfahrungen mit den neuen Fahrzeugen und Zügen nicht geleugnet werden kann. Das Fahrzeugfenster zeigt sich dergestalt als erste Medialisierungsvornahme der beschleunigten Bildwahrnehmung. Die Distanz des Rahmen- und Fensterblicks des Kinos ist hier bereits enthalten. Und die beschleunigte Wahrnehmung selbst war auch dem Flaneur, der auf der Straße wandelte, nicht entgangen. In ihm erhielt sie eine erste große Aufmerksamkeit, den filmischen Distanzblick vorbereitend. Der Flaneur war dergestalt der frühe Prototyp des Zugreisenden und Kinogängers zugleich. Er war bestens vorbereitet und kannte die schlichte Genussarbeit von distanzierter körperlicher Affektion inmitten der Beschleunigungswahrnehmung. Eine neue ästhetische Wahrnehmung brach sich in und mit seiner Figur Bahn. Wird hier die Straße oder Passage zur mediatisierenden Zwischeninstanz, so wird es dort die Straße nur zusammen mit dem Fenster. Die Situation der Schwelle findet sich dabei in permanenter Akkumulation, welche im Film noch gesteigert wird. Sowohl versunkenes als auch geschocktes Sehen kommen zusammen und bilden neue Wahrnehmungsmodi aus, welche bis in die viel jüngere filmische Figur des Allie Parker, von dem in späteren Kapiteln die Rede sein soll, anhalten. Das Medium erreicht es, die einfache Situation der Straßen- und/oder Fahrtfenstermedialisierung zu verdoppeln und so ein Hindurch- und AufSehen zu verstärken. Man sieht bereits durch das Medium nicht nur auf etwas, sondern hier nochmals »hindurch« im Sinne einer vorgelagerten
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Rahmungsvornahme: Die Fahrtdistanz zur Umgebung ist in und mit der Leinwandfläche nahezu doppelt abgesichert. Und dennoch: In diesem zweifachen Distanzsehen geschieht durch die Bildbewegung eine Form von Nähe, die sich in haptischer Hinsicht nachvollziehen lässt. Die Bildaneignung des Rezipienten findet in einem entspannteren und deshalb möglicherweise konzentrierteren Wahrnehmungsvermögen der Landschaft gegenüber statt, nicht zuletzt da man der Handlungsvornahme des Selbstfahrens entzogen bleibt. Im Sinne Husserls trifft hier eine Materialität des Mediums auf eine Körperlichkeit des Leibes.15 Die Zeitlichkeit der Wahrnehmung erhält so gedehnte wie blitzhafte Momente zugleich, Formen der Meditation und des schlichten Überlassens an einen Wahrnehmungsfluss genauso wie Thriller-Elemente der allzu abrupten Bewegungen. In den Transitbildern der Fortbewegung lässt sich so eine besondere Form der Aufmerksamkeit rezipieren und produzieren, die Waldenfels in einer Verhandlung von Grenzerfahrungen wie folgt beschreibt: »Die Weckung der Aufmerksamkeit bewegt sich also, medial betrachtet, zwischen den Extremen einer schläfrigen Monotonie, wo nichts mehr auffällt, und der Überwachheit eines Schocks, wo etwas völlig aus dem Rahmen fällt und uns fassungslos macht.«16 Weder alleine die Entspannung noch alleine die Überreizung sind es, welche die Aufmerksamkeit wecken – es ist eher eine Mitte und ein Mittleres als Medium, die sie ermöglichen. Unerwartetes und Erwartetes zugleich, kann es den Schock genauso dämpfen wie eine eingeschläferte Dumpfheit schocken. In diesem Sinne ist die Fahrtbilderrezeption ein perfektes Zwischengeschehen, zwischen den Bildern, der Geschichte, der Wahrnehmung von Medium und Körper. Der Leib als erster Registrierapparat hat dabei natürlich die grundlegende mediale Funktion schon immer inne. Eine anhaltende Aufmerksamkeit ist eine, die in permanen-ter Bewegung begriffen ist. Mit Gerhard Roth beschreibt Waldenfels das Bewusstsein als einen Zustand von »Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Erinnern und Handeln«.17 Abgeleitet lässt sich sagen, dass dieses eng an die jeweilige Aufmerksamkeitsfiguration gebunden ist. Je stärker diese ist, desto bewusster ist die aufmerksamkeitserregende Situation. Selektion führt hier wie dort zu einer Steigerung. Kontraste von Nähe und Ferne innerhalb der Transitraumbilder schwanken zwischen einer Aura der Tiefe und Fläche. Potentielle und aktuelle Wahrnehmung bleiben hier gleichstark vertreten.
15 Vgl. Waldenfels, Phänomenologie, S. 128. 16 Ebd., S. 130. 17 Ebd., S. 144. 39
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Im Versinken und Schockempfinden taucht zudem eine Form von Gegenwärtigkeit auf, die keine chronologischen Abläufe denken muss, sondern ganz bei sich und an ihren Augenblick gebunden ist. Einzig die Dichte einer Erfahrung macht ihre Stellung für ihr Eingehen in die Erinnerung aus. Das heißt, dass erst ein besonderes Bewusstsein, ergo eine besondere Aufmerksamkeit, gegeben sein muss, welche dies ermöglicht. In dieser Ordnung von Gefühl und Wahrnehmung ergeben sich dergestalt neue Sichtweisen. Im imaginären Entfernungssehen auf der Kinoleinwand wird das Entfernungssehen der tatsächlichen Fahrt seltsam gesteigert, da sie uns bereits in die Nähe eines losgelösten Sehens bringt. So erlebt dieses Sehenwollen einen Rückhalt gerade in der Sicherheit des Kinosessels. Das Abrupte sowie Genießerische einer solchen Wahrnehmung schafft die Voraussetzung für das zuvor Genannte. Die Distanz ist zugleich durch das Kamera- und Kinodispositiv abgesichert, das Leinwandgeschehen bringt jedoch den Schock wieder. Der Raum wird in der Distanzvornahme der Fahrtaufzeichnung komprimiert. Und dennoch erhält das Aufgezeichnete dadurch erst seine neuartige Spannweite. Ein aus der Nähe- und Ferne-Zugleich-Sehen tritt ein. Dieser Zustand des Dazwischen ist es zugleich auch, der sich im filmischen Material selbst äußert. Mit Eisenstein, Godard und Nekes gesprochen, kommt es nie auf das einzelne Bild an, sondern auf das Dazwischen von mindestens zwei Bildern. Es ist dies das godardsche Und genauso wie das Nekesche Kine. So können erst ihre technischen Aneinanderreihungen die Bilder bewegen und zu einem Film (sowie folglich zu einem Raumerlebnis) transformieren. Die bewegte Kamera eröffnet noch zusätzliche Koordinaten des gefilmten Raums, dehnt und erweitert ihn. Johannes Binotto18 schlägt hierzu den Begriff des Ganges vor, um zu einer Beschreibung einer allgemeinen Theorie des filmischen Raumes zu gelangen: »Das Wort ist doppeldeutig, kann es doch sowohl eine gebaute Architektur, einen Korridor, als auch reine Bewegung, ein Gehen, bezeichnen. Der filmische Raum, den die bewegte Kamera produziert, wäre nun genau ein Gang im doppelten Sinne, anzusiedeln in dieser Unwägbarkeit zwischen festem Raum und Bewegung, gleichsam eine Mischung aus beiden Aspekten.«19
Das kommt dem Passagen- und Schwebebegriff dieser Arbeit sehr nahe, schließt jedoch nicht den geisteswissenschaftlichen Hintergrund dieser
18 Vgl. Binotto, Johannes: »Gang im Gang – Kubrick und der fragile Raum des Films«, Filmdienst 3, 2005, S. 12 ff. 19 Ebd., S. 13. 40
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beiden mit ein. Der Gang bei Binotto handelt von einer Architektur, die als feststehend gedacht wird, von fixen Gebäuden. Im Passagenbegriff jedoch wird dies bereits überholt, die Architektur selbst wird als eine nurmehr bewegte, da allein in der Bewegung wahrnehmbare, gedacht. In der repräsentativen Übertragung auf Filmbereiche werden dazu solche architektonische Konstruktionen ausgewählt, die wie ein tatsächliches Passagengebäude arbeiten. Die also für die Bewegung in, auf, mit und durch sie hindurch geschaffen sind. Die dergestalt den Weg bereiten für die Kamerafahrt. Transiträume also im doppelten Sinn, jenseits des gängigen Gegensatzes von »fixem Bau und fluider Bewegung« bei Binotto.20 So ist die Passage das Gegenteil der Falte bei Deleuze, welche im Barock Tiefe vortäuscht, wo keine ist. Doch hier ist sie tatsächlich erfahrbar und also vorhanden, sie wird mit den Augen und der Bildbewegung ausgedehnt und untersucht.
Zustände des Erscheinens Martin Seel zählt in seiner Ästhetik des Erscheinens21 nicht allein die wahrnehmbaren Dinge zu den ästhetischen Objekten, sondern auch Zustände und Geschehnisse. All dies fasst er zusammen als Formen des Erscheinens, in denen es tatsächlich ganz genuin um ihr Erscheinen im Sinne von Sichtbarwerden bzw. Auftreten geht, welches sich allerdings in einem permanent transitorischen Zustand befindet. Die Gegenwart dessen macht dabei nicht eine bloße Anwesenheit oder ein Vorhandensein aus. Viel eher wird sie aus einer präsenten Aufmerksamkeit, einem erkennenden Bewusstsein im Hier und Jetzt gebildet. Der Wechsel in ein ästhetisches Bewusstsein findet dabei dann statt, wenn uns ein Erscheinendes in seinen Bann zieht. Was jedoch nicht bedeuten soll, dass Vergangenheit und Zukunft für das ästhetische Erscheinen egal werden. Die Frage des Wie des Erscheinens rückt an erste Stelle. Der ästhetischen Wahrnehmung liegt dabei eine Offenheit zugrunde, die sich einer schlichten Phänomenalität und Momentanität widmen kann. Ein Grenzbereich dieser Erfahrung ist die Extremform des Zustands des Rauschens. Als Vorgang liegt er auf der Objektseite im Gegensatz zum Rausch als subjektivem Zustand. Doch wie jedes ästhetische Phänomen kann das Rauschen nach Seel nur von seiner Wahrnehmungsverfassung aus analysiert werden. Als »Erscheinungsgeschehen«22 ist es für 20 Ebd. 21 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 22 Ebd., S. 229. 41
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Seel etwas anderes als der Bewegungsrausch, der für ihn seltsam objektlos als pure Form eines leiblichen Taumels bleibt und von einer Bewegung abhängt. Als visuelles Phänomen wäre es dergestalt für ihn eher ein Flimmern. Es gibt sowohl ein außerkünstlerisches als auch ein ästhetisches Rauschen. Ersteres nennt Seel das bloße Rauschen, womit ein natürliches wie das Meeresrauschens gemeint sein kann. Im Wahrnehmen des Rauschens zeigt sich nun eine Ohnmacht in der Rezeption als eine Variante des Überwältigtseins gegenüber einem hochkomplexen Geschehen: Zum Beispiel eine Bewegtheit, die wir nicht als eine geordnete Bewegung verfolgen können. Dabei bedarf es keiner Fülle an wahrzunehmenden Dingen, denn auch eine Leere kann Rauschen transportieren. Ein Beispiel wäre hier das Schauen auf eine bewegte Meeresoberfläche und auf deren Lichtspiele. Gestalten und Geschehnisse lassen sich dabei nach Seel schlichtweg nicht mehr ausmachen. Die Wahrnehmung öffnet sich dergestalt im ästhetischen Rauschen anders: »Das bloße Rauschen kann nur vernommen werden, wo sich die Wahrnehmung von allen teleologischen Orientierungen befreit: sie ist dann wie der Verlauf, den sie wahrnimmt, nicht länger auf etwas hin organisiert, auf etwas hin geordnet, auf etwas hin gerichtet. Darin liegt ein gegenüber aller sonstigen ästhetischen Wahrnehmung radikalisiertes Verweilen bei dem Erscheinenden. Es gilt nicht allein der Gegenwart eines Erscheinenden, es gilt einem Aufgehen, einem Sichverlieren in einem Gegenwärtigen, das nicht länger als Gegenstand des Erkennens und Handelns erscheint.«23
Eine Unbestimmbarkeit kommt dabei zum Tragen: das Phänomen muss nicht bestimmt werden, um eine Wahrnehmung zu ermöglichen. Selbst karge Ereignislosigkeit kann dazu beitragen. Auch potentielle Energien und Kräfte werden hier zu Sensationen der Rezeption. Eine derartige Überfülle an Abläufen und Bewegungen taucht nach Seel auch in den Actionsequenzen des Kinos auf. Also dann, wenn etwas seine Übersicht und seine sequentielle Ordnung aufgibt, hier oftmals durch Geschwindigkeit, und dergestalt in »Unübersehbarkeitszustände«24 gerät. Die Krise der Sinne nimmt in diesen Filmformen mit der Steigerung der Desorientierung zu. Diese Bereiche nennt Seel jene des Kino-Rauschens. Ein somatisches Sehen kann sich hier Bahn brechen und somit eine Grenze der ästhetischen Wahrnehmung verdeutlichen, die Seel nach Nietzsche als sinnlich-geistigen Taumel beschreibt: »Das Rauschen führt uns an den Rand unserer entwickelten Wahrnehmungsfähigkeit – dorthin, wo wir nichts mehr erkennen und dennoch mit höchster Intensität wahrneh23 Ebd., S. 235. 24 Ebd., S. 248. 42
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men können. So verschafft uns das Rauschen, jenes Extrem des Erscheinens, Aufschluss über eine Grenze des bewussten Seins.«25 Der Sonderfall des ästhetischen Objekts als bewegtem Bild ist dabei differenziert zu betrachten. Deleuze ging über das Fotodenken anderer Filmtheoretiker hinaus, wenn er vom Bewegungsbild im Gegensatz zu den bewegten Bildern spricht. Verzeitlichung des Raums und Verräumlichung der Zeit sind im Filmgeschehen panofskysche Beschreibungen, die den Gegensatz zur feststehenden Bildwahrnehmung beschreiben. Als virtueller Bewegungsraum erzeugt er sowohl somatische als auch distanziert-optische Erfahrungen. Fläche und vermeintlicher Cyberspace kommen hier nach Seel erstmals zusammen: »Die Betrachtung des Films unterscheidet sich sowohl von der Situation vor einem simultan präsenten Bild als auch von der Situation eines im ganzen simulierten Raums. Das Bildgeschehen […] spielt sich ab innerhalb eines Zustands der Simultaneität; das Filmgeschehen, von dem jetzt die Rede ist, verläuft als ein Prozess der Sukzession. Aus der Differenz zwischen wahrnehmbarem und dargebotenem Erscheinen im Bild wird hier eine Differenz zwischen einem statischen leiblichen und einem dynamischen, nur dem Sehen zugänglichen Raum. Sie erzeugt die Erfahrung eines gedoppelten Raums – der Raum des Films öffnet sich innerhalb des Kino-Raums.«26
Die Bilder des Kinos tragen so immer auch ihr eigenes Außerhalb in sich und sind somit Beweis für eine Wirklichkeit, die immer zuerst einmal im dynamisch-visuellen Raum geschieht. Sie sind gedoppelte materielle Bilder inmitten von Sicht- und Unsichtbarkeit, Anwesendem und Abwesendem zugleich.
25 Ebd., S. 253. 26 Ebd., S. 291. 43
WAHRNEHMUNG ZWISCHEN TECHNIK TERRITORIUM
UND
»Man muss zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen.«1
Fluchtpunktwahn Die Abbildungsarbeit verbindet einen realen Raum mit einem Bildraum. Der Abbildungsprozess selbst ordnet zu jedem Gegenstandspunkt einen Bildpunkt zu: »Durch die Metapher, die Abbildung für Wahrnehmung setzt, wird die Verwunderung über das ursprüngliche Phänomen abgestumpft: ›So wie der Gegenstandsraum auf den Bildraum abgebildet wird, so wird die (vom Abbildungsprozess unberührte) Wirklichkeit auf den Bildschirm (Netzhaut, Hirnrinde usw.) des Bewusstseins eines erkennenden Subjekts projiziert‹.«2 Für von Foerster ist es dabei ebenso sensomotorische Kompetenz, die zur Konstruktion von Wirklichkeit in der Abbildung beiträgt: »Es sind die durch Bewegung hervorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die wir wahrnehmen.«3 Wenn nun Paul Virilio von der condition humaine schreibt, dann ist es immer das Unzufriedene, das Prothesenversessene, innerhalb der Fortbewegungsarbeit, was den Menschen nur vermeintlich voran, aber letztlich in ein Tempo der falschen Unmittelbarkeit treibt. Da ist dann die hochpotenzierte Geschwindigkeit nur ein Ersatz inmitten der Vielzahl der technologischen Angebote zwischen Echtzeit und Virtualität. Die Tele-Präsenz als eine »Transparenz der unmittelbar über große Entfernungen hinweg übertragenen Erscheinungen«4 bezeichnet Virilio als 1
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Foerster, Heinz von: »Wahrnehmen wahrnehmen«, in: Karlheinz Barck (u. a.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1998, S. 434-443, hier S.437. Ebd. Ebd., S. 440. Virilio, Paul: Fluchtgeschwindigkeit. Frankfurt am Main: Fischer 1999. S. 55. 45
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Hindurch-Sichtbarkeit. Sie ist jene Perspektive der Echtzeit, die sich in den digitalen Bildschirmpixeln zerstreut. Von der geometrisierten Weltsicht folglich zur digitalisierten. Doch letztendlich ist all dies immer Substitut für Methoden des »Außer-sich-Seins«5. Eine ganz ursprüngliche Medienwirkweise durch die sich das Selbst in die Lage versetzt sieht, sich Erleichterung im oder vom Jetzt zu verschaffen. Es macht sich abwesend, wo es eventuell für anwesend gehalten wird. Das subjektive Selbstverständnis bezieht sich in dieser Daseinsform der Zerstreuung nach Benjamin auf die eigene Abwesenheit in der Gegenwart, denn es ist doch meist da, wo es nicht ist bzw. nicht sein will, wenn es dergestalt der Zerstreuung frönt. Es fährt – im besten, schlechtesten und permanenten Sinne einer Ablenkung: der Weg der Wahrnehmung als Umweg.6 Das ist der anhaltende Fluchtpunktwahn: immer weiter und weiter und wo ganz anders hin – dahinter kommt womöglich noch etwas. Anwesendsein im Hier und Jetzt wäre ganz offensichtlich etwas anderes. Es ist dergestalt ein Treueausspruch des suchenden Selbst gegenüber dem Unendlichen als Sehnsucht: Es sehnt sich, weil es sich sehnen will. Für Virilio ist das der dauerhafte Zustand des menschlichen Bewusstseins – die condition ist also nicht zuletzt in der Fortbewegung schon immer und permanent aufs Neue erfüllt. So sind es auch für Virilio die Bildschirme, inklusive der Windschutzscheiben der Fahrzeuge, welche simulierte Nähe und vorgetäuschte Unmittelbarkeit zugleich vorgeben können. Dabei sind jedoch zweierlei Arten dieser Unmittelbarkeit zu beachten. Die gerade zuvor erwähnte negative als eine technische falsche Nähe, die vielleicht ihr ursprünglichstes Pendant in der pseudo-naiven, als realistisch behaupteten, Kamera7 findet. Sowie eine andere positive Unmittelbarkeit und Achtsamkeit, eben im Sinne eines Aufmerksamkeitstributs an eine reale Nähe auch im Sinne eines Orts. Dergestalt auch die Möglichkeit der Abwesenheit von Kameras oder anderer rahmender Dispositive in seltenen, kostbaren Situationen. Bewusste Wahrnehmung muss keine Bildwahrnehmung sein. Doch Virilio übersieht das zutiefst Imaginäre und positive der vermeintlich negativen Bilderproduktionsformen. Ohne Motivation in der Abwesenheit wird keine anwesende Wirklichkeit. So macht für Virilio die Geschwindigkeit eine Allgegenwart möglich, die keine tatsächliche Gegenwart mehr kennt. Dazu hat sie sinnigerweise keine Zeit mehr zur Verfügung. Die Erfahrung einer bergsonschen Dauer muss woanders gesucht 5 6 7
Virilio, Paul: »Die optische Täuschung des Fortschritts«, Le monde diplomatique 8, 2001, S. 18. In Anlehnung an Hans-Christian Dany und die Seriellen, siehe unten. Man mag hier z.B. an dänische Dogma-Filme denken. 46
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werden, wenn die Zeit nur technisch-fiktionales, lineares Rasen beinhaltet, ohne mehrdimensionale Überschneidungen und Parallelen verschiedenster Zeitqualitäten spürbar werden zu lassen. Das Dazwischen wird immer mehr unterschlagen, der Trajekt tritt zurück: Ein »gerade noch hier, jetzt schon da« tritt folglich ein. Virilio sieht uns alsbald im absoluten Stillstand ankommen. Das Kino erscheint nun geradezu prädestiniert für eine Gegen-Bewegung zu dieser vermeintlichen Entwicklung. Deleuze hatte das Laufbild des Films als Grundlage unterschiedlichster Gedankenmuster durchdekliniert8. Im Kino und in der Kinowahrnehmung könnte die alternative Passage als eine Art bildlichen Ortes für im Realraum bereits unterschlagene Wahrnehmungsmöglichkeiten zu suchen sein. Wo in den Pixeln und elektromagnetischen Bildpunkten von TV und Rechner eine am geographischen Raum gemessene Erfahrung verlustig zu gehen scheint, da sieht Virilio nicht zuletzt auch den Verlust der alten strukturierenden Horizontlinie als letzte reale Orientierungslinie an sich gefährdet. Das Kinobild zehrt insofern noch von seiner Indexikalität genauso wie von einer Sehtradition, der die Ferne und Tiefe immer wesentliches Momentum war. Im Absehen vom eigenen örtlichen Verhaftetsein, in dieser verzweifelten Anwendung einer annähernd panoramatischen Übersicht nach de Certeau landen wir schlussendlich bei den neuesten Satellitenbildern von Google Earth. Jeder ist überall und immer beobachtbar, wenn nicht sogar selbst Beobachter. Die Subjekte der Übersicht aus Weltraumperspektive kennen ihr Verortetsein in Zusammenhängen von Überwachung, nehmen diese zum größten Teil bewusst in Kauf.9 So rettet sich der überall unanwesende Körper in das Spiel mit der Kamera, um wenigstens auf diese Weise noch ein aufmerksames Gefühl für ein mögliches »Im-RaumSein« zu finden, auch wenn dies nun allerhöchstens noch paranoid funktionieren mag. Dergestalt eine Zunahme der Möglichkeiten zum Darsteller der eigenen Quasi-Verortetheit zu werden. Und dies nicht zuletzt im Spiel mit den Bildern und Projektionen der Echtzeit, um letztlich einer Fiktionalisierung und Distanzierung des eigenen Alltags gegenüber Vorschub zu leisten. Der Sinn der beschleunigten Fahrt oder der beschleunigten Übertragung verlagert sich dabei gerade über die Realitätsaneignung zur Realitätsfiktionalisierung. Wenn Virilio allerdings vom Verlust der Tiefenschärfe der Wahrnehmung spricht, übersieht er die Gebundenheit der Medien an diese und die 8 9
Vgl. das Unterkapitel »Gilles Deleuze: Film als außer-sprachliche Materie«. Vgl. Hempel, Leon/Metelmann, Jörg (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 47
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sie transportierende Konstruktion der Perspektive. Diese ist gerade in der Beschleunigung auch weiterhin enthalten, nur gesteigert bis zum permanenten Stillstand im ewig-unerreichten Fluchtpunkt. Innerhalb der dromologischen Äußerungen befindet man sich ja gerade in diesem, und nichts ist überwunden. Die Gerade der Straße oder der Trasse verführt zum Aufbruch, zum anhaltenden Sich-Hinfortgezogen-Fühlen auf einen Fluchtpunkt zu, der nie erreicht sein darf, denn sonst wäre er nicht mehr das begehrenswerte Zentrum des in seiner Tiefe emphatisch empfundenen Raums. Die Gerade ist dergestalt Form des Unendlichen, nicht zuletzt in ihrer Fahrtanregung ein nach wie vor romantisches Überbleibsel: Bewegung auf den Horizont zu, ohne Unterlass oder Ankommen. Die Haupthandlung des dromoskopischen Zeitalters bezeichnet Virilio als »Kunst des Armaturenbretts«.10 Diese äußert sich nicht zuletzt durch Bildprojektionen auf der Windschutzscheibe: »Der Hintergrund der Landschaft, gleichsam ein nachgedunkeltes Bild, taucht wieder an die Oberfläche, am Horizont regen sich unbelebte Gegenstände, erscheinen nacheinander vor dem Firnis der Windschutzscheibe, die Perspektive kommt in Bewegung, der Fluchtpunkt wird zum Angriffspunkt, der seine Striche und Linien auf den reisenden Voyeur projiziert; das anvisierte Ziel ist ein Brennpunkt, dessen Strahlen auf den geblendeten, vom Vorrücken der Landschaften faszinierten Beobachter zuschießen.«11
So ist dieses Vorwärts in Richtung Tiefenschärfenverlauf eine teleskopische Wirkung der Fahrt und eine Gewaltausübung am Raum schlechthin. Wir erliegen dabei folglich einer Simulation von Landschaft. Die Unmittelbarkeit der Erscheinungen lässt sich dabei als Betrug einschätzen. Dergestalt falsche Präsenz für Virilio. Die Fahrt als Aufbruch impliziert den Verlust einer Unmittelbarkeit, gerade in der Suche nach ihr. Durch die Schnelligkeit den Körper überwinden, befreien, Schwerelosigkeit erlangen – alles naheliegende Motivationsgründe. Eine Form des Schwindelerregenden, des Erhabenen folglich. Ein von Zeit und Raum vermeintlich unabhängiges Erschauern, ein Erahnen und Durchbrechen der Erdgebundenheiten. All dies sind romantische Gelüste erster Kategorie, die sich im Symbolismus des 19. Jahrhunderts, bei Edgar Allan Poe genauso wie bei Odilon Redon oder Charles Baudelaire, fortentwickelt hatten: instabiles Gleichgewicht und Schwankungen der Unberechenbarkeit genießend, das Schwinden des festen Grundes erhoffend, Schwindelgefühle allerorten. Der Rahmen wird ins Bild selbst hineingezogen, Jakob Böhmes Ungrund tut sich auf, der verwirrende 10 Virilio: Fluchtgeschwindigkeit, S. 133. 11 Ebd. 48
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Tausch von Figur und Grund tritt ein. Die perspektivischen Orientierungspunkte von nah und fern (ganz zu schweigen von oben und unten, möchte man über die vertikale Perspektive nachdenken), drohen hier abhanden zu kommen. Die fliehenden Vertikalen dienen selbst der Anregung eines Schwindels. In der geometrischen Abstraktion der geraden Bewegung wahrt sich der Straßenverlauf Distanz zur Landschaft. Die Reiseprothesen der Beschleunigung sorgen zudem für einen Zeitraffereffekt: »Für den Blick aus dem Fenster des Automobils scheint der Vordergrund blitzschnell zu verschwinden, während der Hintergrund nur langsam wegrückt. In der frühesten literarischen Behandlung der Geschwindigkeit haben die Reisenden ein Gespür für diese Magie und vergleichen häufig den Zug mit einer Laterna magica, gleichsam als sei die Dynamik der Phantasmagorie, dem Wahn verschwistert (wie ehedem das Wasser) und die Statik der Vernunft.«12
Auge und Bewusstsein Ein genauerer Blick auf die Seite des Territoriums wird hier nun nötig: Auge und Bewusstsein sind für Richard Sennett Dreh- und Angelpunkt einer urbanen Entwicklungsgeschichte, die er im Englischen unter dem passenden Titel The Conscience of the Eye, im Deutschen ebenso illustrierend als Civitas – Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds veröffentlicht hat.13 Sennett vermeidet es, über Stadtplanung und Architektur losgelöst von kulturellen Erfahrungswerten zu schreiben. Statt dessen stellen für ihn die Großstädte Speicher gesellschaftlicher Zeitzustände dar und zeigen urbane Lebenswelten, die in Wechselwirkung mit architektonischen Ordnungen getreten sind. Für die westliche Stadtkultur diagnostiziert er eine Angst vor der Selbstpreisgabe. Öffentlicher, städtischer Raum wird durch Differenzen reglementiert: Im Mittelalter die Differenz von säkularem und sakralem Raum, im bürgerlichen Zeitalter die Differenz von privatem und öffentlichem Raum. Heute wird städtischer Raum zunehmend vom Gegensatz eines konsumorientierten und eines nicht-konsumorientierten Raumes geprägt. Die vielgepriesene Indifferenz des Großstädters ist nicht zuletzt ein Symptom, das sich gegen ein Überwältigtwerden von Außen, im Sinne Simmels, abzuschotten sucht. 12 Virilio: »Fahrzeug«, in: Karlheinz Barck (u. a.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam: Leipzig 1990, S. 49. 13 Sennett, Richard: Civitas: Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt am Main: Fischer 1994. 49
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Innerstädtische Segregationsmuster finden hierbei jedoch ihren nahrhaften Boden. Der lineare, immer gleiche, perfekt durchrationalisierte Raum der Moderne befördert für Sennett derlei gesellschaftliche Mechanismen. Gegen die einseitige Funktionalisierung von Straßen und Plätzen, von Raum- und Zeiterfahrung setzt er folglich die Kunst der Selbstpreisgabe, der Überlagerung von Unterschieden, der Zerbrechung von Linearität im Bewusstsein des Einzelnen, und von hier aus weiter übertragen in die urbanen Strukturen selbst. Gegen die Angst vor dem Fremden, dem Anderen setzt er den für Überraschungen offenen Um- sowie Stadtgang, den bewussten Blick im urbanen Verhalten der Bewohner, die Neugierde und Entdeckungslust. In Vierteln muss sich Unvertrautes treffen können, sollten Austauschmöglichkeiten und gegenseitiges Interesse jegliche Gleichgültigkeit überlagern. Einen wesentlichen Katalysator für dieses städtische Verhalten stellt nach Sennett die Architektur dar, insbesondere die Anlage von Straße und Platz. Kernpunkt wird hierbei sein Rekurrieren auf humanistische Stadtentwürfe der Spätrenaissance und des Barock. Unter Sixtus V. wurde in Rom das Zentrum mit Hilfe perspektivischer Verwinkelungen für den Stadtgänger bewegungsanregend gestaltet. An zentralen Stellen wurden Obelisken als Fluchtpunktauffänger und zugleich -weiterlenker aufgestellt, die nicht nur nach oben in Richtung Göttlichkeit verwiesen, sondern den Stadtgänger motivierten, zu immer neu in den Blick geratenen Angelpunkten aufzubrechen. Der Blick wurde also nicht nur ins Unendliche gerichtet, sondern insbesondere zu immer neuen Entdeckungen im Hier und Jetzt mit bewusstem Verzicht auf allzu oberflächliche Übersichtlichkeit. Von Obelisk zu Obelisk wurde die subjektive Bewegung an den aktuellen Raum gebunden und bekam Lust auf die folgende, noch unsichtbare Ortsentdeckung. Diese Blickachsen bildeten ganz offensichtlich einen Motivations- und Mobilisierungsgrund für diejenigen, die die Stadt erkunden wollten. Hatte man einen Obelisken erreicht, entfalteten sich auch schon die nächsten Blickachsen wie in einem Möglichkeitssammelsurium urbaner Bewegungsräume. Der Raum konnte dergestalt eine regelrechte Sogwirkung für den Fußgänger entwickeln. Ein solches Scharnier für den Verlauf mehrerer Straßen bildet die Piazza del Popolo aus dem Jahre 1516. In dieser perspektivischen Bewegungsmotivation ist der eine privilegierte Blickpunkt restlos aufgehoben. Die Bewegung macht hier mit der Perspektive etwas Neues. Man kommt vom geometrischen Bild- bzw. Flächengedanken zurück zum tatsächlichen Raum und gesteht sich in diesem selbst eine zentralperspektivische Nutzung als behilflich für eine Mobilisierung des Betrachters, hier als Stadtgänger, zu: »das Auge auch auf der Piazza del Popolo mit ihrem
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Straßenfächer ruhelos ist –: ein perspektivischer Raum, der den Betrachter erfahren lässt, dass jeder Blickpunkt für sich genommen unzureichend bleibt, ein Raum der Verschiebung.«14 Zwischen Obelisk und Tunnelblick kann hier das Auge hin- und herspringen, ist angeregt, irritiert und vor allem: aufmerksam. Diese Art von visueller Provokation ist nach Sennett allerdings in der modernen Stadtarchitektur kaum berücksichtigt. Die Bewegung in den Räumen des Films scheint parallel hierzu zur Überwindung einer vermeintlich planperspektivischen monokularen Anlage beizutragen. Wie die Bewegung entlang räumlicher Fluchtlinien ist sie zwar durch diese motiviert, aber nicht in deren linearen Verlauf eingeschlossen. Sie provoziert a-lineares visuelles Wahrnehmen. Mit Hilfe des Offs im Film ergeben sich neue Aufmerksamkeitsschleußen für den Betrachter, die ähnlich funktionieren wie das sennettsche Stadtplanungsbeispiel oder die ins Außerhalb verlagerten Fluchtpunkte in der Kunst El Lissitzkys. Es geht hierbei folglich um eine Wendung ins Off der filmischen Kadrierung, um die Öffnung des Blicks, die sich vom Fragmentarischen und Diskontinuierlichen auch in der Tiefe überzeugen kann. Die Innen-Außen-Debatten moderner Räume nach Walter Benjamins Passagen-Werk haben hier ihre Klimax erreicht: Die Passage als grundlegende ästhetische Kategorie einer Verschränkung aus bild-, wahrnehmungs- und raumtheoretischer Forschung erfährt ihr Bildwerden in der filmischen Passage der von der Kamera nachvollzogenen Fortbewegungen. Ihr transitorischer Zweck nach Benjamin hat sich neue Ausformulierungen gesucht. Und ihre Fortentwicklung im Transitraum oder Nicht-Ort wird dabei ein ums andere Mal offenkundiger. Der Raum birgt Möglichkeiten, die tatsächlich erst im Austausch mit den optischen Medien vor sich gehen konnten. Auf- und Durchsicht im Film, Flächen- und Raumbild im Austausch, bergen auch für unseren heutigen Umgang mit der realen Transitraumarchitektur neue Einsichten. Das Travelling als planparallele Kamerafahrt im Kino, das als dessen erste Fahrzeugwerdung (Optik und Kinematik, auch im Gefilmten selbst, in Verschmelzung) verstanden werden kann, hat uns also zumindest den Ortswechsel im statischen Körper üben lassen, denn so zeigte uns die Populärkultur, dass wir selbst dann noch bewegt sind. Sehfeldlenkung, ob nun real in der Stadt oder fiktional im Kino, im Austausch vertikaler und horizontaler Horizonthaftigkeit wird dabei von Belang. Die Fahrtaufnahme im Kino macht uns parallel dazu neugierig auf den Raum, der noch nicht ins Blickfeld geraten ist, der sich im Off, im hors-champ nach Deleuze befindet. Die Bewegung zeigt uns an, dass 14 Ebd., S. 207. 51
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dort noch etwas anderes ist, etwas kommt, für das wir aufmerksam und bewegt/beschleunigt bleiben wollen. Wir wollen mehr und mehr Raum erfahren und erobern, und gleichzeitig erfahren wir das kinematographische Dispositiv hier in seiner ganzen Kraft. In seiner Ausschnitthaftigkeit, in seiner Kadrierung des Raums mitten in der Bewegung unzähliger filmischer Fahrtsequenzen. Und eben auch in ihrer Erfahrungsmöglichkeit im Kinosaal, die uns jenen Fensterblick in allen Varianten, ob nun zentralperspektivisch, impressionistisch, etc., ermöglicht. Die Kunst des Umherschweifens, der Entfremdung und Umwandlung städtischen Terrains, eben jenes dérive und détournement der Pariser Situationisten, birgt einen urbanen Erfahrungsschatz, der sich mit Richard Sennetts Arbeiten für eine Übersetzung auf die Kinosituation anbieten könnte. Als Passagier des eigenen Körpers in ein Spiel mit urbanen Situationen einzutreten wird auch Hauptaufgabe des Protagonisten in Jim Jarmuschs PERMANENT VACATION sein. Es wird zu untersuchen sein, in wie weit hier bereits der mobilisierte Blick des Kinos umgekehrt seine sozialisierenden Auswirkungen auf einen jungen großstädtischen Flaneur der Achtziger gezeitigt hat. Die situationistische Psychogeographie stellt hier eine wesentliche Quelle des Raumgenerierens auf der Seite der künstlerischen Avantgarde dar. Ihr Postulat des permanenten Ortswechsels ohne Zielorientierung, des assoziativen Vom-Ort-Leitenlassens, richtet sich nach Vincent Kaufmann an flüchtigen Perspektiven und deren Gebrochen-Werden durch immer neu auftauchende Winkel im urbanen Konstrukt aus. Die Chronotopologie der Surrealisten hat hier ebenso ihre Wiederaufnahme gefunden. Die Frage nach der Möglichkeit der Besetzung eines mittlerweile immer mehr mobilisierten Raumes stellt sich im Anschluss an die situationistische Arbeit.
Grenzen der Sichtbarkeit Im Gegensatz zu einer begradigten teleologischen Technikgeschichte betreibt Friedrich Kittler eine Technikphilosophie, die die Kontingenz aller Forschung, den Fort- und Rückschritt von Forschungs- und Glaubensepistemen, im Detail analysiert. In seinen Optischen Medien15 bekommt man anhand einiger Beispiele des chronologischen Ablaufs einschlägiger Entwicklungen ein Gefühl dafür vermittelt: Die Chronologie erscheint als Paradoxon an sich – als ein organisierendes Moment unter anderen, als Mittel zum Herausarbeiten von Strukturen und eines Mediensystementwurfs, der die Form vor den Inhalt sowie die technisch-gesellschaft15 Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve 2002. 52
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lichen Entwicklungsstufen vor die vermeintlich originäre Bedeutung setzt. Theorie, als Grundbegriff der griechischen Antike, soll dabei in ihrem ursprünglichen Wortsinn als »Anschauen, Betrachten und Augenweide«16 wieder zu ihrem Recht kommen und das Augenmerk allererst auf den technischen Ablauf, die technische Funktion, richten. Der immer wiederkehrende Zusammenfall von Medialität und Realität lässt sich dabei seit alters her beobachten. Begriffe wie jener der Simulation nach Jean Baudrillard nehmen dies erneut auf. Die Erforschung und Erweiterung von Sinneswahrnehmungen mit Hilfe von/durch Medien, die Fackel / Schatten-Projektion in Platons Höhle soll hier nur als ein Beispiel unter vielen dienen, sind Grundgegebenheiten dieser Tendenz.17 Kittler legt dabei seinen Fokus auf die permanente Verschiebung der Grenzen der Sichtbarkeit im Laufe der optischen Medienforschung. Eine Geschichte der optischen Medien ist hier vor allem eine Geschichte des Verschwindens.18 Das Sichtbarkeitspostulat erfährt so seine Umkehrung: Was ist, gibt sich nicht unbedingt auch zu erkennen. Die Erfindung des Mikroskops genauso wie die des Fernrohrs führte nur umso deutlicher vor Augen, dass gerade diese Augen nicht alle Dinge sehen, die da sind. Die eine unantastbare Sichtbarkeit war in verschiedenste Sichtbarkeiten zersplittert. Monokulare optische Linsensysteme des Barock machten die vorher noch sehr theoretische Perspektive der Renaissance in nahezu banalster Weise seh- bzw. messbar. Das Licht konnte nun gesammelt, die Bildschärfe gesteigert werden, und das relativ einfache Loch als Guckloch bei Brunelleschi, welches den Blick zentralperspektivisch auf eine Bildfläche lenkt, hatte seine Fortsetzung in der Linsenoptik gefunden. Das Licht hatte die Zentralperspektive im wahrsten Sinne des Wortes illuminiert. Die Entdeckung der ultravioletten Strahlen durch Johann Wilhelm Ritter, Pionier der Reizphysiologie, in seinen Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie19 wird das Postulat der Sichtbarkeit endgültig ad absurdum führen. Auf der anderen Seite des Sehens löst Daguerre mit seinem Diorama 1822 das Panorama ab. Als dessen Weiterentwicklung kombiniert es einen Auflicht- mit einem Durchlichtteil. So konnten sich Tages- und Nachtlichtansichten abwechseln und den Rundblick des Panoramas noch 16 Ebd., S. 14. 17 Medien sind nach Marshall McLuhan Schnittstellen zwischen Technologien und Körpern, was gleichzeitig als Grundlage für meinen InterfaceBegriff dienen kann. Peter Weibel wird daran anschließend den Prothesenbegriff diskutieren. 18 Vgl. ebd., S. 35. 19 Vgl. ebd., S. 329. 53
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illusorischer gestalten. Erstmals wurden im Diorama die Besucher gedreht, zuvor im Panorama hatte sich noch die Leinwand um die Zuschauer bewegt. Dieser Genuss des bewegten Betrachtens, des prototypischen panoramatischen Blicks, der seine Steigerung im dioramatischen erhält, erfährt hier eine erste konkrete Ausführung in der Volkskunst. Diese wird vom Kino wiederaufgenommen, zuvor aber von der Begeisterung am Zugreisen abgelöst. Nach Schivelbusch geht die Diorama-Mode gegen 1840 in Paris zu Ende. Das ist etwa die gleiche Zeit, zu der die ersten großen Eisenbahnlinien eröffnet werden. Ebenso simultan wird die Photographie erfunden. Mit der sich bereits im Diorama abzeichnenden Tendenz zum genussvollen Erfassen von Flüchtigem zeigt sich dementsprechend für Kittler ein grundlegender Trend moderner Medientechnik: Statik wird durch Dynamik ersetzt. Umwelten und Medienwelten passen sich einander an, tauschen sich aus, beeinflussen sich gegenseitig. Der Spaß am gekauften konstruierten Blick steht sowohl im Guckkasten, im Kaiserpanorama und später im Kino im Zentrum, genauso wie bei Brunelleschis erster linearperspektivischer Bildkonstruktion, bei welcher das illusorische Faszinosum dadurch zustande kam, dass man das Bild gespiegelt durch eben jenes blicklenkende Loch betrachten musste. Spannend ist, dass die Sehschlitze des Lebensrades erst ein Bewegungs-Sehen möglich machten, denn eigentlich präsentieren sie ja nur die unanimierten Einzeldarstellungen von Bewegungsphasen im Inneren des Rades. Also ein weiteres Indiz für die Verwandtschaft von statischem Perspektivloch der Renaissance und einem vermeintlich anderen Loch als Rahmen im Sinne eines länglichen rechteckigen Sehschlitzes bei einem Kinovorläufer namens Lebensrad. In der Lochkonstruktion schwingt zudem bereits das seltsame Momentum des blinden Flecks mit: Im Moment des schärfsten Sehens, der konzentrierten Blickpunktabbildung in der Fovea, gibt es immer ein gleichzeitiges Phänomen des »schärfsten« Nicht-Sehens. Der blinde Fleck wird in der bestimmten Distanzebene der Scharfstellung zwar vorhanden, nur unsichtbar sein. Er ist der discus opticus als eben jene Stelle der Netzhaut, an der es weder Stäbchen noch Zäpfchen gibt, da genau hier der Sehnerv das Auge verlässt. Inwieweit sich ein darauffolgender kognitiver blinder Fleck fortsetzt, da wir ja ein geschlossenes Gesichtsfeld »gemeldet« bekommen, ist noch relativ unklar. Sicher scheint wiederum ein ums andere Mal nur, dass wir nicht sehen, dass wir nicht sehen. Nach Johannes Müller und mit Heinz von Foerster zeigt sich hier,
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wie sehr unsere Sinneswahrnehmung eher nerv- als reizgesteuert ist.20 Eigentlich unterstützt dies nur das hermeneutische Prinzip, wonach der Hörer und nicht der Sprecher die Bedeutung einer Äußerung bestimmt, auf der Ebene der Biochemie. Von einer einfachen Abbildung des Außen ins Innere kann in keinem der beiden Fälle gesprochen werden, das Netzhautbild muss erst noch neuronal übersetzt werden, bevor wir sehen, was wir dergestalt »deutend« sehen. Dass das Kino, als optisches Medium der Perspektive, eine Verwandtschaft mit der Kriegstechnologie und insbesondere mit jener der Ballistik hat, veranschaulichen uns Kittler und Virilio gleichermaßen. Der Raum als Territorium der Aneignung durch Vermessung, der Kartographie im weitesten Sinne, rückt hierbei in den Mittelpunkt. Der Transitort stellt eine Akkumulation der Kreuzung dieser Entwicklungslinien aus optischen Medien, Ballistik, Kinematik und Geometrie dar. Und der Transitort im Film macht dies für die Analyse am besten zugänglich. Wir sind hier in einem Zentrum dieser Entwicklungen. Mehr als bezeichnend ist dabei jener frühe Film der Gebrüder Lumière, der die Geburtsstunde des Kinos einläutete: L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT konfrontierte 1895 die Kinorezipienten mit einem perspektivisch in einen Bahnhof einfahrenden Zug, sozusagen aus der Tiefe des Fluchtpunktes heraus auf die Betrachtenden vor der Leinwand zu.21 Eine deutlichere Verschränkung der wichtigsten Elemente unseres Wahrnehmungsraumes ist kaum denkbar.
Gestauchter Raum Es handelt sich dabei um ein Raumverständnis, das mit Wolfgang Schivelbusch erst die industrialisierte Raum-Zeit des Bahnreisens hervorgebracht hatte. Wo die barocke Avenue den zentralistischen Blickpunkt in einem repräsentativen Herrschaftsgebäude enden ließ, wird mit den ersten Durchgangsstraßen der fortlaufende Fluchtpunkt in die städtische Planung eingeführt. Die großen Pariser Boulevards Haussmanns machten dies vor, die New Yorker folgten, und werden jeden Fluchtpunkt zunehmend im Horizont aufgehen lassen. Dass auch in Paris der Güterverkehr großgeschrieben wurde, war am Beginn der industriellen Blüte Grund genug, die Stadt für den Verkehrsfluss zu öffnen. Das mittel20 Foerster, Heinz von: »Wissenschaft des Unwissbaren«, in: ders.: Short Cuts. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2001, S. 139-197, hier S. 152. 21 Eine nach wie vor wichtige Wahrnehmungslenkung. Die Legende des Ausbruchs einer Zuschauerhysterie während der Vorführung ist allerdings mittlerweile widerlegt. 55
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alterliche Städtebild musste diesem Wandel zum größten Teil weichen. Das geometrische Raumverständnis der Renaissanceperspektive, derer sich die fluchtenden Achsen der neuen Metropolengestaltung bedienen, nimmt anscheinend auch im Städtebild eine antike Tradition wieder auf, zumindest am Beispiel Alexandrias.22 Letztendlich scheint die Perspektive eine organisierende Vornahme zu sein, die sich dem Menschen insbesondere in seiner urbanen Umgebung erschließt. Und dies im Laufe zunehmender Mobilität nur um so deutlicher. Es beginnt die Zeit der Durchgangsstraßen mit offenen unendlichen Fluchtpunkten in den Raum hinein. Kein Wunder also, wenn Friedrich Kittler davon schreibt, dass spätestens mit den Autobahnen, in Fortfolge der Trassensysteme der Bahn, dieser offene Fluchtpunkt vervollkommnet wurde: »Erst der Autobahnmittelstreifen trennt für immer die zwei Schlangen oder Ströme, die an entgegengesetzten Punkten des Horizonts sich und einander verlieren«.23 Die Kreuzung, der Querweg, sollen weitestgehend vermieden werden. Es ist kein Zufall, dass im Zuge der Industrialisierung die Reiselust geweckt wird. Wer könnte einem dergestalt zentralperspektivischen Eingesogenwerden in den Raum, wie es uns die Gleisanlagen katalysieren, widerstehen? Geschwindigkeit und Geradlinigkeit unterstützen sich im industrialisierten Raum gegenseitig. Mit dem beschleunigten Blick aus dem Zugfenster geht der Verlust der Tiefendimension des Blickes einher. Der durchreiste Raum wird flach in der Wahrnehmung des Reisenden, aber die Konstruktion des Transportwesens nimmt die perspektivische Vorgabe in sich auf. Das zentralperspektivische Medium, hier der Zug, woanders das Kino, scheint sich selbst immanent in der Unterstützung dieser perspektivischen Vornahme außer Kraft zu setzen. Dies bestätigt sich auf eine andere Weise ebenso im Teleobjektiv: Je mehr die Tiefe erschlossen werden kann, d. h. sichtbarer wird, desto mehr entzieht sie
22 Beachtenswerterweise gab es in der Antike schon einmal derartige Stadtstrukturen: Alexandria unter ihrem Baumeister Krates war als Stadt gänzlich nach dem Reißbrettmuster angelegt. Dieses richtete sich ebenfalls am Transport aus, eben jenem des Wasserleitungsnetzes. Als modernste Stadt des Altertums organisierte die ptolemäische Kultur in ihr eine perfekte Infrastruktur, die auf dem rein funktionalistischen Anliegen der Röhrenverläufe beruhte. Heutige zentrale Verkehrsachsen in Alexandria gehen auf diese Gründungszeit zurück. Als Handelsmetropole des Altertums mit zwei Häfen hatte sie wohl alle Gründe dazu, den Warentransport zudem zu beschleunigen, sie scheint zumindest eine der ersten modernen Städte gewesen zu sein. 23 Kittler, Friedrich: »Auto Bahnen«, in: ders.: Short Cuts, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2002, 227-242. S. 231. 56
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sich. Der zu ihr gehörige photographische Raum, der mit Hilfe des Teleobjektivs erstellt wird, erscheint gestaucht. Die Ebenen werden zu einer Fläche zusammengezogen. Das Medium dekonstruiert sich selbst und die Wahrnehmung des Betrachters beginnt ihren Ursprung in der Fläche, ihre Konstruktion aus der Fläche heraus, zu erahnen. Die permanente Blickpunktveränderung während des Reisens, der abstrakten reinen Bewegung mit Hilfe modernster Transporttechnologien, trägt dazu ihr übriges bei. Im Zug befindet man sich nirgendwo, nur dazwischen. Obwohl man die perspektivische, lineare Konstruktion auf allen Ebenen technischer Erfindung realisiert hat, ist man dem Raum nicht näher gekommen. Man ist ihm ferner denn je. Die Stauchung im Teleobjektiv entspricht dabei der Verwischung der Raumelemente im Vorüberfahren. Der Tiefe verlustig gegangen sozusagen. Bei Schivelbusch können wir zwar noch vom zeitlich geschrumpften Verkehrsraum und einer kondensierten Geographie lesen.24 Das panoramatische Bewusstsein des modernen Menschen scheint dabei jedoch eine unbeabsichtigte Wende gemacht zu haben. Die permanente Blickpunktveränderung hat sich festgeschrieben.
Zeiten des Sehens Siegfried Zielinski beschreibt in seiner Archäologie der Medien: Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens eine Suchbewegung, die den verdrängten Experimenten und vergessenen Forschern unserer heutigen Mediengeschichtsschreibung auf der Spur ist. Mit Dietmar Kamper geht es Zielinski in seiner Bewegung durch das Medienreich vor allem um die Betonung einer Scheinhaftigkeit, als Illusionshaftigkeit, die diesem innewohnt. In einer Bewegung des Suchens, Sammelns und Sortierens fügt Zielinski seine Entdeckungen zu einer anderen Ge-schichte der Medien zusammen. Der Drang zu universalistischen Weltanschauungen der europäischen Geschichte, wie etwa jene der einen verbindlichen Wahrheit als eine Idee der Mitte, des Zentrums, hat für ihn ihre Ausprägungen in der Entwicklung der Zentralperspektive gezeitigt. Dass dieses Faktum seinen Niederschlag in der technischen Optik erfährt, zeigt die Konstruktion optischer Linsensystem bis hin zur Photographie und zum Film: Sie sind weitere, mehr oder weniger gewaltvolle, Übersetzungsvornahmen zur Deutung unseres Sehens. Zielinski versucht hingegen einen Blick für das Heterologe zu öffnen, der vor Querdenkern magischer Naturanschauungen ebensowenig wie vor französischen Theorie-Protagonisten wie Gilles Deleuze und Michel Foucault halt macht. Die flexible Verbindung, die Konzentration auf 24 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 36. 57
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das Fragmentarische in einer relationalen Schau, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Mit Zielinski gipfelt die Empedokleische Porentheorie der Wahrnehmung in einem Austausch der Strömungen, im Sinne einer vorausgesetzten Kompatibilität von Maß und Kräfteverhältnissen der Ströme und Poren äußerer und innerer Welten und findet in Demokrits Atomtheorie ihre Fortsetzung. Physikalisch geht es bei Empedokles bereits um eine Theorie der Affinitäten, die psychologisch am ehesten als Aufmerksamkeitskonzept verstanden werden kann. Die Idee der Flüsse und Strömungen wird sich durch das gesamte Buch ziehen, ihre wesentOLFKH:LHGHUDXIQDKPHHUKlOWGLHVHMHGRFKLP3XUN\QČ-Kapitel. Zielinskis Klage über die noch zu geringe Konzentration auf die neurophysiologischen Grundlagen des Sehens in der aktuellen Bildwissenschaft25 findet hierin ihren Höhepunkt. Die veraltete Basis so wesentlicher optischer Systeme wie Foto- und Filmkamera in der Zentralperspektive stellt die daran anschließende Kritik dar. Giovan Battista della Porta als Erfinder von Linsensystemen zur Lichtbrechung gilt als einer der frühesten Kinoerfinder. Seine Ideen zur Nutzung auch künstlichen Lichts sind bezeichnend. Der Begriff des Eigenleuchtens ist hier nicht fern und wird bei Zielinski, genauso wie bei Kittler, zum charakteristischen Hauptmerkmal der Medien. Sie »passieren« im Schatten, operieren im Dunkeln, im lichtarmen Raum. Die Kinoapparatur erinnert dabei an eine Nachaußenprojektion innerer Seherfahrungen. Sozusagen ein operational montiertes Kopfkino für jedermann. Zielinskis daran anschließender Schwerpunkt: der tscheFKLVFKH 0HGL]LQHU 3XUN\QČ XQG GHVVHQ PHGL]LQLVFKH 'LVVHUWDWLRQ Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht (1819). Als grundlegende Schrift der Wahrnehmungsphysiologie beschäftigt sie sich mit den inneren visuellen Erscheinungen und bezieht sich auf die Hoffnung, das Wissen vom sogenannten objektiven Sehen zu vervollständigen. Die antike Naturphilosophie von Empedokles bis Lukrez VWHOOW IU 3XUN\QČ den Ausgangspunkt dar: Jedes Organ besitzt ein Eigenleben in Bezug auf unsere Wahrnehmung, es prägt und gestaltet sie. So gerät das subjektive Sehen für ihn zum Effekt eines Schwingungszustandes organischer Abläufe. Es kann demnach fU3XUN\QČNHLQH5XKHXQGNHLQHQ6WLOOVWDQGLP Lebendigen geben. Das subjektive Sehen weist den Weg für ein Verständnis des Gegenstands Sehen an sich: Die Augen wandern. Dies widerspricht natürlich den statischen Augenauffassungen der Zentralperspektive. Unsere Augen haben nicht einen Fixpunkt, sie haben viele im Nacheinander der Wahrnehmung, die sich in unserem Sehfeldeindruck zu einer Simultaneität verschränken können. So kann gerade dadurch auch der blinde Fleck, wie weiter oben ausgeführt, »unsehbar« bleiben. 25 Eine Ausnahme bildet Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. 58
WAHRNEHMUNG ZWISCHEN TECHNIK UND TERRITORIUM
3XUN\QČ ZLUG GDV 9HUVWlQGQLV GHV 1DFKELOGHIIHNWV UHYRlutionieren, indem er es vom Verständnis Goethes und anderer Träg-heitstheoretiker abgrenzt und nicht wie diese auf einen Blendungseffekt zurückführt. Nach ihm fährt der »Tastsinn des Auges« fort, das stereographisch empfundene Nachbild nach außen zu setzen, zu projizieren – könnte man sagen. Er löst somit den Effekt vom passiven physikalischen Einbrennungs- bzw. Abbildungsvorgang und erklärt ihn zu einem in erster Linie neurophysiologischen und vom jeweiligen Betrachter gestalteten Effekt. Es wird kein Eindruck mehr erlitten, sondern die Sinnesorgane werden individuell tätig. Experimente zur subjektiven Bewegungswahrnehmung folgten, die alle genauso wie der Nachbildeffekt grundlegende Fragen der Kinowahrnehmung aufwerfen.
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»Die Durchblicke koordinieren die Distanz zu den Dingen, die zudem weniger als solche erscheinen und in ein Zwielicht hinübertreten.«1 »Die Sonnenstrahlen scheinen von der Sonne herabzufließen, und wiewohl sie sich überall hin ergießen, werden sie doch nicht ausgegossen. Diese Ergießung ist nämlich nur eine Ausdehnung derselben. Führen doch ihre leuchtenden Strahlen von dem Wort ›ausgedehnt werden‹ ihren Namen. Die Natur eines Strahls wird aber daraus ersichtlich, wenn man das Sonnenlicht, so wie es durch eine enge Öffnung in ein verdunkeltes Gemach hereinschlüpft, beobachtet. Es breitet sich nämlich in gerader Richtung aus, und wenn es auf einen dichteren, für die Luft undurchdringlichen Körper stößt, bricht es sich gleichsam; hier bleibt es dann stehen, ohne herabzugleiten oder zu fallen.«2
Licht und Leinwand Die frühen Experimente des vorherigen Kapitels leiten über zu Jacques Aumonts Werk The Image3, in welchem er mit einigen Mythen der KinoWahrnehmung aufräumen konnte. Eingangs widmet er sich der Rolle des Auges. Die Wahrnehmung als Zusammenspiel optischer, chemischer und zellularer Prozesse gründet im Kino, wie allgemein seit langem angenommen wird, nicht auf jenem von PurkynČ erstmals enttarnten, blendungstechnischen Nachbildeffekt, sondern auf dem sogenannten Phi1 2 3
Dany, Hans Christian: Auf dem Weg zu einem Umweg. Köln: Salon 2001, S. 111. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8. Buch, § 57. Aumont, Jacques: The Image. British Film Institute: London 1997. 61
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Effekt nach Max Wertheimer.4 Dabei kommt es nicht auf eine tatsächliche Bewegung an, sondern unsere Wahrnehmung lässt uns Bewegung auch dort annehmen, wo wir in einer extrem schnellen Abfolge zwei unbewegte Punkte nacheinander aufflackern sehen, so dass wir einen einzigen bewegten Punkt zu sehen meinen. Würden wir tatsächlich mit Hilfe des Nachbildeffekts Kino sehen, dann könnten wir in Wirklichkeit nichts mehr erkennen. Wir hätten ein einziges verschwommenes Wischbild vor uns. Das Schwarzbild, welches zwischen den einzelnen Bildern im Kino unsichtbar vorhanden ist, sorgt aber dafür, dass das jeweils vorherige Bild wieder ausgelöscht wird und wir tatsächlich das aktuell projizierte allein wahrnehmen können. Da die Abfolge dieser Bilder die nötige Frequenz für den Phi-Effekt besitzt, fügen wir die tatsächlich unbewegten Phasenbilder und die auf ihnen enthaltenen Formen zu jenen bewegten Formen im Sinne eines postretinalen Prozesses zusammen. Marc Aurels Beobachtungen des Lichts weisen bereits auf das Prinzip des mittlerweile hundert Jahre alten Kinos voraus und verknüpfen Fragen nach dem Licht mit jenen nach dem Gedächtnis und dem Raum. Die griechisch-antike Auffassung vom Lichtstrahl als etwas, das ausgedehnt wird, ist hier einer der Leitgedanken. Das Licht und die Leinwand des Kinos sind als Übergangsort und -raum zwischen Fenster und Rahmen, sowohl virtuell als auch aktuell, erschließbar. Für Lorenz Engell5 werden im Sinne Robbe-Grillets reale und filmische Wahrnehmungsmöglichkeiten als blickpunktabhängige Bildflächen, ebenfalls in Anlehnung an Henri Bergson, weiterverhandelt. In Alain Robbe-Grillets La Jalousie werden Personen geschildert, die ihr eigenes Augenkino betreiben: die Projektion und die trajektive kinoeske Wahrnehmung sind grundlegendes Handlungsmuster.6 Der Begriff der Jalousie ist für Engell folglich eine weiterentwickelte Metapher des zuvor angesprochenen Lochprinzips. Durch Lichtformung verwandelt sich hier der architektonische Raum in einen Licht- und Bildraum, der sich als etwas kinematographisches denken lässt. Er ist temporales Medium, keine Abbildung, sondern Produkt dieser Zeit- und Lichtverhältnisse. Auch für Rudolf Arnheim erfahren wir erst durch Licht etwas über die Oberflächen, ihre Orte, Ausdehnungen und Begrenzungen: »Mit Hilfe des Lichts hingegen können wir permanent, so lange das Ding existiert, Nachricht von ihm 4 5
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Wertheimer war zudem Lehrer und Mentor Rudolf Arnheims. Lorenz Engell in seinem Vortrag »Die Jalousie« innerhalb des Kongresses »Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume« im Jüdischen Museum Berlin am 17. Januar 2003. Ein Beispiel hierfür ist seine Beschreibung des zeitweilig auf die Netzhaut eingebrannten und bewegten Flecks in: Robbe-Grillet, Alain: Die Jalousie. Stuttgart: Reclam 1997, S. 78. 62
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erhalten. Licht gibt also ein vollständigeres und daher richtigeres Weltbild als Schall. Licht gibt uns das Sein eines Dinges, […] die Dinge selbst.«7 Film lässt sich dabei zum einen im Sinne der Fenster-Kategorie Vivian Sobchacks verstehen, kann jedoch in seiner Signifikationsarbeit nicht vernachlässigt werden. Im Kino ist, wie bereits zuvor angesprochen, »Das-Fenster-ansehen« und »Durch-das-Fenstersehen« gleichzeitig vorhanden. Über Lev Manovichs8 Begriff des cultural interface hinaus, ist es ein perzeptives Interface par excellence. Die heutigen non-linearen digitalen Bilder stehen den vermeintlich linearen analogen Bildern gegenüber. Die numerischen Bilder werden leichter in den Bereich der Inter- bzw. Hypermedien eingereiht. Die photographisch-indexikalische Seite der Bilder, ihre raum- und zeitgebundene Repräsentationsleistung steht dabei den neuen Bildwelten der Präsentation gegenüber. Die Realitätsfrage der Filmtheorie, im Sinne der Indexikalität, greift hier nicht länger. Die Frage nach dem Code tritt in den Vordergrund. Das Fenster zählt nicht mehr. Das post-indexikalische, digitale Bild wird als MatrixBild behandelt, in welchem Zeit und Raum intermediale Abläufe bilden, die dennoch im Fluss des Bilderschauens und im diesem zugrunde liegenden zeitlichen Ablauf an Lineares gebunden bleiben. Die Schnitte werden vom Bildermorphing überholt. Dabei kann zeitliche und räumliche Wahrnehmung inmitten unzähliger Bildwelten und Bilderflüsse auch außerhalb des Kinos mit Henri Bergson im weitesten Sinne als kinoesk bezeichnet werden. Die dem Kino innewohnende Situierung virtueller Räume innerhalb realer Räume durch dynamische Repräsentationen auf einer Projektionsfläche, seine in erster Linie zeitliche Montage von Bildern an denen auch Godard gerade das und, dieses in-between betonte. Als repräsentativer Apparat, der uns Ausschnitte von Welt und Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet, vervielfältigt er unsere Wahrnehmung durch das, was auf seiner screen vorhanden ist und jenes, was dort nicht ist. Er präsentiert Zeichen und gleichzeitig deren Außerhalb, ihr hors-champ nach Deleuze. Und genau diese Wechselwirkung ist es, die den Film als kulturelles und insbesondere perzeptives Interface so wichtig macht. Wahrnehmung und materielle Realität erfahren in ihrer Vereinigung in der kinematographischen virtuellen Projektion einen weiterführenden Austausch miteinander.
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Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 204. Manovich, Lev: Language of New Media. Cambridge: MIT 2001. 63
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
Sehraum und Sichtbarkeit Berlin in den Zwanzigern barg für den jungen Rudolf Arnheim die besten Voraussetzungen, um die internationalen Stummfilmproduktionen seiner Zeit zu rezipieren. Damals jüngste Ansätze von Wahrnehmungsforschung im Sinne der Berliner Gestalttheorie seiner Lehrer Wertheimer und Köhler versuchte er in seinen Arbeiten mit unterschiedlichen visuellen Phänomenen zu verbinden. Die Organisiertheit von Wahrnehmungsfeldern und deren Sinneseindrücken sollte dabei im Zentrum stehen: Es ging um das Ganze, in einer umfassenden Formvorstellung, an den sichtbaren Oberflächen, insbesondere im empirischen Sehraum. Eine Materialästhetik folglich, die rein immanent mit und über den Film arbeiten wollte. Da der Film niemals pure Wirklichkeitswiedergabe sein kann, untersucht Arnheim die Besonderheiten und Lücken dieser Bildarbeit, um zu seinen Eigenheiten vorzudringen, die mehr als die unmittelbare Abbildfunktion möglich machen: ein anderes Sehen. Eines seiner frühesten Werke konnte so entstehen: Film als Kunst, erstmals im Jahre 1932 veröffentlicht. Kurz nach Veröffentlichung musste Rudolf Arnheim jedoch als jüdischstämmiger Berliner aus Deutschland fliehen. Sein Weg führte über Rom und London in die USA. Das materialbedingte bewegte Visuelle wird auch in seinen folgenden Werken im Zentrum stehen. Film als Kunst legt dabei bereits in frühen Jahren die Zielgerade aus. Es geht um die Bilder und um ihre Wahrnehmung. Folglich auch um Begriffe wie Anschauung und Sichtbarkeit. In einem Interview9 von 1998 äußerte Rudolf Arnheim seine zentrale Fragestellung: Wie kann man die Welt durch ein bewegtes Bild darstellen, das durch die Leinwand begrenzt ist? Eine offensichtlich sehr alte Frage der Kunstwissenschaft bezüglich unserer Wirklichkeitswahrnehmung, jene nach Abbild und Ähnlichkeit, versucht sich so bereits in Film als Kunst auf die damals aktuellen Neuerungen eines plötzlich bewegten Bildes einzustellen. Dass es sich hier gerade um den Stummfilm handeln sollte, war für Arnheim nur um so willkommener, ist ihm doch dessen Konzentration auf das Bild, damals noch unabhängig vom Ton, nur mehr als recht. Sein Interesse am Film ist somit ein Interesse an der Ausdrucksfähigkeit des Visuellen, insbesondere in Bezug auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit: also eine Frage von Weltbild und Filmbild im Vergleich ihrer raum-zeitlichen Operationen. Im Sinne der formalen Ästhetik Konrad Fiedlers10 interpretiert und strukturiert der Film die sichtbaren Erschein9 Interview von Uta Grundmann: »Die Intelligenz des Sehens«, nbk 4/98. 10 Vgl. Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst I + II: Text nach der Ausgabe München 1913/14. Hg. von Gottfried Boehm. München: Fink 1991. 64
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ungen, leistet also nie und nimmer – im Gegensatz zu Kracauers Theorie des Films – eine unmittelbare Abbildung, sondern ist Form einer selektierenden Ausdrucksvornahme. Die unmittelbare Anschauung ist für Fiedler genauso wie für Arnheim ein unterentwickelter Begriff. Ist doch aus ihrer Position betrachtet die scheinbar äußere Wirklichkeit nur eine von vielen Vorstellungsbildungen. Und erst in der Isolierung des Sehsinns im flachen Bild kann auch bei Fiedler das Sehen um seiner selbst willen erreicht werden. Arnheim scheint diesen Ansatz nun im flachen bewegten Bild des Kinos weiterentwickelt zu haben. Ein maschinell getäuschtes Sehen fühlt sich hier nicht wirklich getäuscht. Der Begriff erscheint stattdessen geradezu absurd. Der Film eröffnet vielmehr vollkommen neue Möglichkeiten für die Seherfahrung. Es geht um entdekkende Anschauung an sich. Kino und Wirklichkeitsbild werden von Arnheim, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, nicht miteinander gleichgesetzt. Wie es die Lücke, das Schwarzbild, das Dazwischen, für die Bewegung der filmischen Bilder braucht, so braucht das bewegte Sehen verschiedene Fokussierungen und deren Leerstellen, um einen Raum – den Sehraum – zu konstruieren: Sehen war dergestalt für Fiedler die Fähigkeit, dem Augeneindruck die räumliche Beschaffenheit der Natur abzulesen11. Wenn der Raum nun zu einer reinen Augenvorstellung gemacht wird, so ist es als würde ihm gegenüber getreten werden. In den perspektivischen Verkürzungen der filmischen Bildflächen tritt allerdings bereits eine Tiefenoption auch des starren Bildes entgegen, die im Kino mit Hilfe der Bildbewegung erkundet werden kann. Es findet Distanz zum Bild sowie Nähe gleichermaßen statt. Film wirkt dabei weder als reines Flächen-, noch als reines Raumbild. Er ist beides zugleich, und so ist durch perspektivische Verkürzungen ein Rückgang der Raumwirkungen genauso möglich: »Im Ruttmann-Film ›Berlin‹ gibt es eine Aufnahme von zwei in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeifahrenden Untergrundbahnzügen. Der Apparat schaut von oben her auf die beiden Züge herunter. Wer diese Szene betrachtet, sieht zunächst, dass der eine Zug von vorn nach hinten, der andere von hinten nach vorn fährt (räumliches Bild), zugleich aber auch, dass der eine Zug vom untern Bildrahmen zum obern, der andre von oben nach unten sich bewegt (flächiges Bild). Der zweite, flächige Eindruck entsteht als Projektion der räumlichen Bewegungen in die Bildfläche, was natürlich andre Bewegungsrichtungen ergibt.«12
11 Vgl. Fiedler: Schriften zur Kunst, S. 375. 12 Arnheim: Film als Kunst, S. 28. 65
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Ein wesentlicher Unterschied ist nun für Arnheim, dass das begrenzte Filmbild nicht mit den wirklichen Sehfeldgrenzen gleichzusetzen ist. Das Augenwandern im tatsächlichen Raum ermöglicht relativ leicht einen ungebundenen und dennoch einheitlichen Eindruck, wohingegen das Sehen im Film wesentlich begrenzter ist. Doch genau dieses vordergründig vielleicht als Manko erscheinende Merkmal des Kinos ist es, welches die interessanten Unterschiede nicht nur für Arnheim ausmacht. Deleuze wird mit seiner Arbeit zum horschamp als jenem unsichtbaren Jenseits des Kinobildes im Sinne eines der grundlegenden filmischen Faktoren hieran anknüpfen. Das andere ausschlaggebende Moment ist der Wegfall der raumzeitlichen Kontinuität. Auch dies wird in den Zeitschichten und Raumkristallisationen bei Deleuze genauer untersucht. Ein räumliches Filmbild macht zudem den Rahmen eher zum veränderlichen Ausschnitt, als zu einer feststehenden Begrenzung. Man weiß auch im Nicht-Sehen, dass es um diesen Ausschnitt herum noch viel mehr gibt. Ist das Bild raumhaft, so muss es ein Dahinter geben. Es liegt nicht mehr in einer Ebene mit dem Rahmen. Das Fiedlersche Fernbild13 wird somit bei Arnheim zum bewegten Fernbild. In der Tiefenkonstruktion durch die Flächen hindurch wirkt die Bewegung mit und erreicht dergestalt eine Annäherung im Sinne eines nah wirkenden Raumbildes, das nicht mehr nur ferne Distanzfläche sein kann. Die Bewegung führt so den Raum in das Fernbild ein und erweitert es, ohne ihm jedoch seine Flächeneigenheiten zu nehmen. Mit Riegl könnte man sagen, dass sich optisch-fernsichtige und plastisch-nahsichtige Eigenschaften treffen. Arnheim arbeitet also gegen das alte Vorurteil an, dass der Film eine mechanistische Wirklichkeitsreproduktion sei. Die Wahrnehmung organisiert Seheindrücke und im Film erhalten diese dementsprechend eine doppelte Vorstrukturierung. Die Gestaltpsychologie lässt dabei zwar zerebrale Konfigurationen außer acht, deutet sie aber in unbestimmter Weise bereits an. Das Bild wird grundlegendes Prinzip einer Ordnung der Dinge14 im Sinne Michel Foucaults. Sehen und Wahrnehmen zeigen sich in der filmischen Produktion ein ums andere Mal in einer Form des schöpferischen Verstehens und Annäherns an das, was Welt sein könnte. So bleibt Kracauer auf dieser Ebene für Arnheim nicht nachvollziehbar. Für ihn kann es beim Film niemals um einfache Wirklichkeitswiedergabe im Sinne eines Realismusanspruches 13 Vgl. hierzu auch: Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 57ff. 14 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 66
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gehen. Das zentrale Moment stellt viel eher die Begrenzung der filmischen Mittel und der daraus für ihn neu erwachsenden Möglichkeiten dar. Denn insbesondere mit Hilfe seiner Apparatur vollzieht der Film ja eine Rückwendung zur Übersetzung des Sehens von Bewegtem. In den jeweiligen bildlichen Darstellungsformen äußern sich für Arnheim dergestalt unterschiedliche Möglichkeiten der Weltdeutung. Die Historizität von Wahrnehmung, im Sinne der Techniken des Betrachters nach Jonathan Crary, bleibt hier ein zentrales Momentum als kulturelle Determination des Sehens im Sinne bestimmter Formstrukturierungen. Die Sinneserkenntnis erscheint dabei der Sprache immer übergeordnet bzw. vorgelagert. Vorstellungsbilder und Erfahrungswissen speisen sich zuerst daraus.
Abläufe im Raumbild Die Kino-Essenz im Sinne Panofskys, jene Dynamisierung des Raums und Verräumlichung der Zeit, ist jener Teil der kunstwissenschaftlichen Filmtheorie, der über die Annahme eines rein potentiell bewegungshaltigen Stillstands des Films hinausweist. Das kinematographische RaumZeit-Kontinuum setzt dagegen auch eine aktualisierte Bewegung offener um. Das lineare Thema des materialgebundenen Ablaufs wird dabei gerade auch in Serie überholt. Mit Blick auf die Fahrtaufnahmen allein, also ohne einen Blick auf den Schnitt zu werfen, nur in Konzentration auf die eine ungeschnittene Einstellung einer solchen Plan- oder Durchfahrt, wird der Film formalistisch betrachtet, zu einem bewegten Strom, der an Metaphern des Vorübergleitens gespiegelt werden kann. Die kontinuierende Darstellung15 der Aneinanderfügung einzelner zentraler, höchst angespannter Momentaufnahmen, wie sie bereits Panofsky am Beispiel Dürerscher Stiche untersucht hatte, verlässt hier die Anwendung der Zerlegung hin zu einer reinen Anwendung der Verdichtung der fluktuierenden Bewegung. Panofsky hatte dort »die beiden denkbar verschiedenen Methoden der vorkinematographischen Bewegungsdarstellung mit einem Seitenblick auf das Kino-Medium erörtert: ›Verdichtung des Bewegungsablaufs zu einem dynamisch geladenen Spannungsmoment‹ und ›Zerlegung des Bewegungsablaufs in mehrere kinematographisch aufeinanderfolgende Einzelphasen‹«.16 15 Vgl. Wickhoff, Franz: Die Wiener Genesis. Hg. von Wilhelm von Hartel und Franz Wickhoff, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 15/16, 1895; Neudr. Graz 1970. 16 Clausberg: »Wiener Schule«, S. 152. 67
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Der Eindruck eines einheitlichen fließenden Ablaufs kann so gestärkt hervortreten. Und dies insbesondere ohne Bindung an eine bedeutungsgetragene Bewegungform. Das Bootsfahrtdispositiv des distanzierten Vorübergleitens nach Wickhoff ist hier besonders ausgeprägt. Eine Kontinuation, wie sie bereits in der Spätantike erstmals zu beobachten war: »Die kontinuierende Darstellungsweise hatte Franz Wickhoff 1895 als besondere Stileigenart der spätantiken ›Wiener Genesis‹ registriert und damit nicht nur das seit Lessings Laokoon der Literatur vorbehaltene Verfahren der fortlaufenden Schilderung in Anspruch genommen, sondern indirekt auch den theoretischen Weg zur kunsthistorischen Unterwelt der animierten Literatur in Bildern und zum neugeborenen Kino gewiesen.«17
1895 publizierte der Wiener Kunstwissenschaftler Franz Wickhoff seine Untersuchungen. Innerhalb der Wiener Schule stellte er eine Ausnahme dar, denn nicht zuletzt blieben damals die bereits breit bekannten Vorformen des Kinos, vor allem jene der Dioramen, in seiner Disziplin unbeachtet. Einzig Bernard Bolzano nahm in seine Einteilung der schönen Künste auch jene vermeintlichen Jahrmarktskunstwerke auf, die sich während der Rezeption verändern konnten.18 Bei seiner Beschreibung der Wiener Genesis arbeitet Wickhoff nun mit der Bootsfahrt-Metapher. Er bezeichnet den kontinuierenden Stil als eine Form in der nicht betonte Augenblicksmomente zusammenkommen, sondern »sanft gleitend und ununterbrochen, gleichwie die Uferlandschaften bei einer Wasserfahrt an dem Auge vorüberziehen, die jeweiligen Helden der Erzählung in kontinuierlich sich aneinanderreihenden Zuständen« erscheinen.19 Ein Eindruck von kontinuierenden Räumen folglich, nicht zuletzt im Sinne ununterbrochen vorüberziehender Landschaftsansichten. Sie stellt somit das Gegenteil eines dramatischen Stils dar. Adolf Hilde-brand hatte in seiner Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst 1893 über die Erscheinungen als Weisen des Sehens und über ihr Verhältnis zu den tatsächlich vorhandenen Formen berichtet. Karl Clausberg schreibt hierzu: »Die ›Umwandlung vor den Augen des Zuschauers‹ wurde für Wickhoff aus impressionistischem Blickwinkel zum Hauptmerkmal der faktisch unbewegten Streifen-Illustrationen der Wiener Genesis: ›Nicht einzelne Bilder ausgezeichneter, epoche-machender Augenblicke treten zu einem Zyklus zusammen […], sondern, wie der Text strömt, begleiten ihn.‹«20 17 Ebd. 18 Vgl. ebd. S. 174. 19 Franz Wickhoff, zitiert nach Clausberg, Karl: Die Wiener Genesis. Frankfurt am Main: Fischer 1984, S. 29. 20 Ebd. 68
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Der bewegte Strom der Filmbilder steht analog hierzu einer bedeutungsgebundenen Bewegung entgegen. Und begibt sich zugleich in Opposition zur Montage als schlichte Einstellungsverkettung im Sinne einer literarischen Bilderzählung. Ob Fluss, Straße oder Meer – das Gefährt und der in ihm Fahrende werden mal hindurch, mal seitlich vorüber, aber dennoch immer in unüberwindbarer Distanz weitergeleitet. Die Einstellungsverkettungen der Montage werden dabei hinfällig. Wenn die Einstellungen sich verändern, geschieht dies allein mit Hilfe des Fahrtablaufs. Die kontinuierende Darstellungsweise als linear ablaufende Schilderung erhält im filmischen Medium eine neue Wahrnehmungsqualität. In den fließenden Bildern der Fahrt geht es folglich um die kleinen Unterschiede der Sehrichtungen, ein Seitenblick, ein frontaler Blick oder beides werden hier ermöglicht. Doch diese Details reißen DifferenzQualitäten in das Muster eines Films, sie bieten gleichsam einen ehrlichen Blick auf die Metaebene der Strukturarbeit des Materials. Der Gegenstand übernimmt dabei Formen des Vorüberziehens und Gleitens, die den Verweis auf die nächste Aufnahme, das nächste Bild bereits inhärent haben. Die Schwierigkeit der Dauer der Wahr-nehmung, des Anhaltens von Konzentration, wird hier auf die Probe der Zerstreuung gestellt. Erwin Panofsky21 zeigt nun einen weiteren technisch-materialistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass technische Erfindungen neue Künste entwickeln können. Der Film konnte so allein durch die Bewegungsfaszination des Betrachters entstehen. Selbst der Darstellungsstil sei in Relation zum technischen Verfahren der Bewegungsphotographie entstanden: Der Film – ein Produkt der Volkskunst. Die reine Bewegungsaufzeichnung (als Vorfahrin des Dokumentarfilms) ging den Filmen mit einer Geschichte (woraus dann der Spielfilm entstand) voraus. Neben der Architektur, der Karikatur und der Gebrauchsgraphik sei der Spielfilm die einzige lebendige Kunst, eine, die Leben und Kunst zusammenführt. Seinen Ursprung hat der Film auch für Panofsky im Bild, nicht im Theater – er ist moving picture, nicht screen play.22 Die Arbeit der Bilder für den und im Film ist diskontinuierlich, aber dauerhaft. Film ist für Panofsky das moderne Äquivalent einer mittelalterlichen Kathedrale. Dem Regisseur obliege gleichsam die Aufgabe ei21 Vgl. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. Frankfurt am Main, New York: Campus 1993. 22 Die frühesten Filme machten nach ihm zwar schlechte 19. JahrhundertGemälde, -Postkarten, Tussauds-Wachsfiguren und comic-strips laufen lernen, Gassenhauer, Romanhefte und Groschengeschichten liefern den Inhalt einer volkstümlichen Mentalität, doch filmische Archetypen sind daraus resultierend wie folgt: Belohnung und Strafe, Sentimentalität, Sensation, Pornographie und kruder Humor. 69
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nes Baumeisters. So wird bei ihm der Film einem materialistischen Weltverständnis gerecht. Sein Stoff ist die äußere Realität als solche. Sein Ziel ist es jedoch, mit der unstilisierten Realität so zu verfahren, sie so aufzunehmen, dass das Ergebnis Stil hat. Dies ist seine legitime Aufgabe, die nach Panofsky der Grundnatur des Mediums entspricht.23 Siegfried Kracauers Theorie des Films ist hier ein weiterer wichtiger Berührungspunkt: Sein Konzept der »Errettung der äußeren Wirklichkeit« durch das Medium des Films stellt auf den ersten Blick das Gegenkonzept zu Arnheim dar. Im Sinne einer abermals material-gebundenen Ästhetik setzt sich Kracauer für den filmischen Blick als Enthüller der äußeren Welt, in all ihren Details und vermeintlichen Nebensächlichkeiten, ein. Er ist Gegner eines theatralen Films. Film als Erweiterung der Fotografie hat genau wie jene eine »Affinität zur sichtbaren Welt«.24 Es geht um ein immanentes Anwesendsein und Arbeiten am und im materiellen Leben, an der sichtbaren Oberfläche, an der physischen Realität. Dies alles stellt für ihn das wesentliche Rohmaterial des Kinos dar. Man denke nach Kracauer an Blätter im Wind, fließendes Wasser, etc. – schöne flüchtige Bewegtheiten der sichtbaren Außenwelt. Mit der Verdoppelung des Blicks auf sie scheint für ihn tatsächlich ihre Errettung möglich. Man könnte dies als Versuchsweise der Bewusstwerdung der Umwelt gegenüber bezeichnen. Das Zufällige nach Kracauer nimmt dabei eine wesentliche Position ein. Der Dreh auf der Straße und auch in ihren Erweiterungen wie Bahnhöfen oder Flughäfen bietet sich dafür an. Diese Räume enthalten ein komprimiertes Sammelsurium flüchtiger Geschehnisse und Eindrücke25. Mit Blick auf Virilios Theorie des Verlusts der Erfahrung von Bewegung bzw. des Trajekts als eines Zwischenraums, ist es spannend, bei Kracauer auf folgenden Satz über das Filmen weiter Räume zu stoßen: »Filme werden zweifellos dem Medium gerecht, wenn sie den Eindruck der Ortsveränderung durchweg sinnfällig machen und wirkliches Interesse an der Ferne bekunden, die sie abbilden.«26 23 Panofsky, Stil und Medium im Film. S. 47. 24 Kracauer: Theorie des Films, S. 11. 25 Die Faszination gerade gegenüber den kleinen, unauffälligen Bewegungen war im allerfrühesten Kinobetrieb bereits zentrales Momentum. Ein besonderes Beispiel stellt Méliès dar, jener früher Filmtrickkünstler, der eigentlich nicht gerade für das realistische Kino der Lumières bekannt war: In REPAS DE BÉBÉ sollen ihn die bewegten Blätter im Hintergrund mehr interessiert haben, als die mit dem Kind kämpfenden Eltern im Vordergrund (vgl. Doane, Mary Ann: The Emergence of Cinematic Time. Cambridge, London: Harvard University Press 2002, S. 177). 26 Kracauer: Theorie des Films S. 100. 70
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Bezüglich der Analyse von Verfolgungsfahrten ist es bemerkenswert, bei Kracauer mit Hitchcock die Verfolgungsjagd als das A und O des filmischen Mediums an sich besprochen zu finden. Das Spiel mit verschiedenen Geschwindigkeiten im Bild und im Schnitt hat hier seinen essentiellen Niederschlag gefunden. Für Kracauer sollte der Film zum »Registrier-Medium«27 der bewegten Welt an sich werden. Die Bewegung scheint für ihn dabei die räumliche Tiefe ausnahmslos zu unterstützen. Dass dies zu einseitig gedacht ist, zeigt sich, wenn man die unterschiedlichen filmischen Blickwinkel von Kamerafahrten genauer betrachtet. Selbst Gilles Deleuze hat über die Schärfentiefe, als offensichtliche Spielweise der Perspektive, nur am Rande geschrieben. Auffallend ist, dass er nicht den üblichen Begriff der Tiefenschärfe benutzt. Deleuze denkt dabei von der Bildtiefe her: Eine Tiefe scheint erst einmal gegeben sein zu müssen, um an sie anschließend über eine Schärfe entscheiden zu können. Hinzu kommt, dass er sie als Bildelement natürlich zuallererst unter ihrem zeitlichen Gedächtnisaspekt betrachtet.28 Es steht außer Frage, dass der Ganzheitsanspruch der Gestalttheorie immer ein schwieriges Phänomen darstellte, dennoch lohnt sich ein Vergleich gegen den Strich von Arnheim und Kracauer. Manche Teilorganisiertheiten der im Film gebotenen Wahrnehmungsfelder lassen einen interessanten Analyseaspekt erkennen. Selbst wenn es Arnheim weniger bewusst war: Die Gestalten, als Formen, haben sich nie nur zentralperspektivisch im Bild anordnen lassen, vielmehr setzen sie sie oftmals gekonnt außer Kraft. Als stellenweise harscher Kracauer-Kritiker stützt er sich genauso wie jener auf einen vermeintlichen Materialaspekt des Films, hat jedoch die für ihn zu einseitige Aufteilung von Form und Inhalt nach Kracauer nicht im Sinn. Die Ideologie steckt nicht nur in den inhaltlichen Themen der Bilder bzw. im Genre, sie kann sich natürlich auch über die Form transportieren. Damals stellte dies ein Novum innerhalb der Filmtheorie dar. Arnheim bringt es dergestalt auf den Punkt: Die Form kann der Inhalt sein, genauso wie der Inhalt die Form.29 Dass die Gestalten jedoch nicht immer nach Harmonie, Homogenität und Reinheit streben, ist Arnheim zum Verhängnis geworden. Schon 27 Ebd., S. 216. 28 Dass mit der Schärfe des Bildfeldes im 17. Jahrhundert ein grundlegender Wandel passiert, der die unterschiedlichen Ebenen eines Bildes, hier natürlich meist derer eines Gemäldes, erstmals miteinander in Austausch treten läßt, also den Hintergrund z. B. auf den Vordergrund bezieht, ist ein Novum, das Deleuze als Aushöhlung des vermeintlich zentralperspektivisch angelegten Bildraums von innen heraus beschreibt. 29 Arnheim: Film als Kunst, S. 134ff. 71
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Mitte der Dreißiger hat er sich vom Film abgewandt, da er meinte, der Tonfilm sorge nun für die vollständige »Verschmutzung« des reinen Stummfilms. Seine frühen Filmanalysen taugen nichtsdestotrotz für eine aktualisierende Fruchtbarmachung. Die Beobachtungen strotzen geradezu vor handwerklichem Gestus bei der Einsicht in die konzentrierte Arbeit mit der Kamera. Der Wegfall raum-zeitlicher Kontinuität und die Verringerung der räumlichen Tiefe sind dabei wichtige Analysepunkte. Gerade das mechanische Manko des Films versucht Arnheim gegen die Klagen seiner Zeitgenossen zu verteidigen. Im Mangel erkennt er ein Mehr, ein Mehr für die Analyse der Wahrnehmung unserer äußeren Erscheinungen. Hier ist er Kracauer näher, als es ihm in diesen Jahren, Ende der Zwanziger, bewusst geworden ist. Später, in den USA, wird sich Arnheim explizit für Kracauers Position aussprechen. Doch dazu später noch.
Text und Film Spätestens in der nach-bazinschen Ära der Cahièrs du Cinéma wurde deutlich, dass viel eher von einem dialektischen Verhältnis der unterschiedlichen filmischen Strömungen von Formalismus versus Realismus die Rede sein kann. Die sich dementsprechend gegenseitig durchdringenden Mittel der Montage und der Mise-en-Scène in den Filmen der Nouvelle Vague, insbesondere bei Jean-Luc Godard30, zeitigen dies. Godard ging es nicht mehr um die Frage nach dem image juste, sondern um die Einsicht, dass es »pas une image juste«, sondern immer nur »juste une image« geben kann.31 Montage und Mise-en-Scène sind dabei einer eindeutigen Wertung entzogen. Die Interdependenz und Entwicklung von generativen und rezeptiven Theorien, von Fragen nach Wahrnehmung und Effekt des filmischen Erlebnisses, ist dabei unübersehbar. Die phänomenologische Richtung, die sich der subjektiven Erfahrung des Filmsehens widmet, wird in der französischen Filmtheorie ausgebaut. André Bazins (1919-1958) induktive Theorie, die sich von Fragen nach der Essenz des Films im Sinne der Einsicht entfernt, dass die Existenz des Films ihr vorausgeht, ist hier ein Vorläufer. Mit Godard und Truffaut wird dabei Film nicht mehr nur als 30 Godards einschneidende filmische Arbeit erzielte im Jahr 1960 ihren ersten großen Erfolg mit dem Spielfilm À BOUT DE SOUFFLE, in welchem erstmals das alte Filmkonventionen brechende, Nouvelle Vaguesche Spiel aus Montage, Mise-en-Scène und Versatzstücken unterschiedlicher Filmgenres einem größeren Publikum präsentiert wurde. 31 Barthes: Die helle Kammer, S. 78. 72
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ästhetisches Feld behandelt, sondern ökonomische, politische und rezeptionshistorische Strukturen rücken genauso in den Blickpunkt. Mit dem Aufkommen der Filmsemiotik als Ausprägung des strukturalistischen Einflusses erfährt das bewegte Filmbild eine Aufwertung, die sich erst im Laufe der Zeit wieder auf dessen Visualität vor aller Sprachhaftigkeit zu konzentrieren beginnt. Die dialektische Arbeit Jean-Luc Godards im Sinne einer Synthese von Montage und Mise-en-Scène (MeS) sieht den Schnitt, auf Bazin aufbauend, als in der MeS verankert, so dass die Montage wiederum durch diese determiniert ist. Die découpage classique orientiert sich dabei an der Dauer einer Einstellung und dergestalt an ihrer jeweiligen Funktion. So bestimmt der Inhalt der einzelnen Einstellung das gesamte Miteinander mehrerer Einstellungen. Ihr »Dazwischen« bzw. ihre Übergänge werden nur von der einzelnen Aufnahme bestimmt. Die Montage entspringt dabei dem Anspruch sowie dem Austausch mit der MeS. Drei weitere Strömungen seit den Siebzigern sind die dialektische, die psychoanalytische und die politisch-normative Filmtheorie. Die Aufmerksamkeit wurde in Parallele zur Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts von spezifisch filmischen Eigenschaften abgezogen. Fragen nach Repräsentation, Material und Bildträger werden z.B. in der seriellen und situationistischen Kunst verhandelt und weiter auf den Film übertragen. In den Neunzigern folgte die kognitive Filmtheorie, die den erkenntnistheoretischen Ansatz der Semiotik ausweitete, sowie die dialektische Kontextanalyse der Kulturwissenschaft, die insbesondere die Beziehung zwischen den Texten der Populärkultur und dem Publikum zu verstehen trachtet: Wie werden Filme genutzt und weshalb? Die gesamte Bewegung der modernen Filmtheorie entwickelt sich dabei vom Normativen zum Deskriptiven, also fort von einer wertenden Idealsystemnachfrage. Ein wichtiger Aspekt der neuen Entwicklung sind die phänomenologischen Untersuchungen, die jenseits der Strukturenanalyse die Erfahrungen des Filmsehens ins Zentrum rücken. Die physikalische Seite des Mediums (etwa die Projektion von Bildern auf eine Leinwand) rückt dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach Jean-Louis Comolli wird der kinematographische Apparat mit der ihm innewohnenden Ideologie in die Untersuchung miteinbezogen. Der Betrachter konstruiert Bilder (narrativity), aber die Tiefenschärfe verdeckt diese Arbeit, sie gibt Natürlichkeit vor, maskiert das Spiel der Differenzen und die psychologischen Prozesse des Zuschauers. Letztendlich scheint ein Bruch hier mehr als offensichtlich: Wie bereits zuvor angesprochen ist es jener, der sich in der Kunstgeschichte spätestens im 19. Jahrhundert ereignet hatte – die Diskurse der Realisten und ihr Anspruch auf Reproduktion und Imitation sowie gelungene Ko-
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pie der Wirklichkeit treten zurück hinter das Spiel mit der eigenen mediumsgebundenen Materie und derem kinematographischen Dispositiv. Am Beginn der Nouvelle Vague-Bewegung in Frankreich stand dazu jener passende, bereits zuvor genannte, Satz Godards in seinem Film VENT D’EST (1967): »C’est juste une image«. Der Bruch mit dem Wahrheitsanspruch ans Bild schien perfekt. Der Weg von der Sprachhaftigkeit zur Visualität der Bilder war dennoch ein nicht minder kurzer. Ferdinand de Saussures Arbeit ist dabei ein wesentlicher Ausgangspunkt. Die reine Konzentration auf die Zeichenhaftigkeit der Sprache durch Saussure würde den Film jedoch zu stark einschränken. Saussures binäres Zeichenmodell ist allerdings von größter Bedeutung, da er mit ihm das relationale Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat aufzeigte, und sich nur in dieser Relation der beiden wiederum das Zeichen ausbilden kann. Da der sprachliche Code allerdings nicht mit dem filmischen Code gleichgesetzt werden kann, ist es nötig, mit einem differenzierteren Zeichenmodell zu arbeiten. Charles Sanders Peirces triadisches Modell bietet sich hier an und wird uns im Anschluss detaillierter noch bei Deleuze begegnen. Peirce führt mit diesem neue Objektkategorien ein und versucht so, sich vom rein sprachlichen Zeichen zu entfernen. Die Weiterentwicklung des Signifikats seinerseits zu einem Signifikanten wird bei ihm so besser nachvollziehbar32. Und macht dergestalt auf die filmischen Verwendungsmöglichkeiten von Zeichen aufmerksam, die auch ihren Niederschlag bei Roland Barthes finden konnten. Die Einführung der Interpretantenkategorie bringt hierbei eine weitere Analysebasis ins Spiel, die gerade für die subjektgeleitete Filmwahrnehmung von nicht unerheblichem Einfluss ist. So ergibt sich mit Peirces Zeichenmodell eine differenzierte Analysegrundlage für die Zeichenebenen des Films, in dem sich verbale und non-verbale Zeichen in zeitlicher Organisation als ikonisch-visuelle und tonale Codes abwechseln. Das oberste Ziel einer Filmphilologie wäre dabei die Rekonstruktion der Zeichenstruktur des Films, wobei in diesem immer deutlicher wird, dass Zeichen- und Textstatus hier zusammenfallen. Die Erweiterung des filmischen Textbegriffs in den siebziger Jahren war zwar insofern wichtig, als der Film dadurch auch für Universitäten allmählich ein akzeptables Forschungsgebiet, aufbauend auf die Literaturwissenschaften, wurde, aber die damit einherschreitende, zu einseitig starke Gebundenheit des wissenschaftlichen Blicks auf den Film in beständiger Orientierung an der Linguistik gilt mittlerweile als überholt. 32 Peirces Zeichenmodell setzt sich zusammen aus dem Repräsentamen als materiellem Zeichenkörper, wie es etwa der Film sein kann, aus dem Objekt als Ikon, Index oder Symbol und aus dem Interpretant als Wirkung im Bewusstsein des Interpreten. 74
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Stattdessen findet der Film als eigenständiges Forschungsgebiet auf der Ebene der Semiotik eine bessere Ausgangsbasis für eine eigene Bildwissenschaft. Die Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant im Filmbild, die auf denotativer Ebene zusammenfallen und zugleich konnotativ unterschiedliche Bedeutungen ausbilden können, weiß die Semiotik zu schätzen und differenzierter zu untersuchen. Mit Peirce befreite sich die Semiotik von der Saussureschen Gebundenheit an Sprache und eröffnete sich neue Wege im Umgang mit dem bildhaften Zeichen, nicht zuletzt auf der Ebene der Indexikalität. Die Denotationen eines Filmes können unzählige Konnotationen durch das Zusammenspiel eines jeweiligen filmischen Bildes mit einer Kultur aufwerfen. Das Ikon, der Index und das Symbol können im Filmbild auf vielfältigste Weisen auftreten und miteinander zusammenfallen. Der Blick allein auf die Handlung kann niemals der Wirkung und Erfahrung des Visuellen eines Filmbildes gerecht werden. Das Ikon und der Index im Film bedürfen demnach einer eingehenderen wissenschaftlichen Untersuchung. Dieser Aspekt sollte zusammen mit der Frage nach der prinzipiellen Analysier- und Verstehbarkeit filmischer Codes bearbeitet werden. Aus all diesen unterschiedlichen Aspekten, stellt sich die Frage nach einer Neuorientierung der Filmwissenschaft, die dem Filmischen besser gerecht werden könnte. Eine Grundfrage der Filmforschung müsste die spezifische Vermittlung des Filmischen sein. Peirce hat zwar mit seinem differenteren Zeichenbegriff bessere Voraussetzungen für eine filmbildgemäße Analyse des Films gegeben, der Ikon-, Index- und Symbolbegriff darf jedoch nicht in vereinfachender Weise auf ein Filmbild übertragen werden, ist dieses doch wesentlich vielschichtiger.
Film als außersprachliche Materie — Nullbilder der Wahrnehmung Das Spannungsgeflecht physisch-optischer sowie mentaler Prozesse innerhalb der Arbeit am Filmbild lässt sich auch an den unterschiedlichen Stufen erkennen, die bei der Konfrontation mit Bildern durchlaufen werden können. Sehen als Arbeit der Selektion passiert dabei eine erste sakkadische Übersetzungsstufe, die sich aus den Augenbewegungen als Resultat der Fovea-Sicht ergeben. Diese bewirkt, dass beide Augen sich direkt auf einen Punkt fixieren müssen, um ihn scharf erkennen zu können. Um also einen ganzen Raum wahrzunehmen, wird der Blick von einer Scharfstellung zur nächsten wandern müssen: Ein unbewegtes Sehen ist nicht möglich. Dennoch nimmt man das unscharfe Umfeld 75
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wahr. Das filmische Bild nähert sich in seinen vorübergleitenden Blicken einer realen Wahrnehmungsarbeit an, die versucht, dem permanenten Entreißen der Scharfstellung entweder entgegenzuarbeiten oder geradezu in sie einzutauchen und somit den Kontrollverlust der Schärfe für Modifikationen der Wahrnehmung nutzbar zu machen. Der Film jedoch als ebenso semiotisch arbeitendes Bedeutungsfeld vereinigt Raum- und Zeit-Syntax. Nach Roland Barthes denotieren und konnotieren Bilder inmitten dieser Syntaxachsen. Das Denotat des Films bzw. seine Bedeutung erster Stufe ist die reine Information, die ein Filmbild liefert. Signifikat und Signifikant nach Saussure zeigen sich hier fast identisch. Das rein sprachliche Zeichen, das sich aus der Relation zwischen diesen beiden ergibt, greift jedoch nicht im Film. Diese Relation nach Saussure kann aber als ein Ausgangspunkt gelten. Ein für die visuelle Ebene differenzierteres Zeichenmodell bietet Charles Sanders Peirces bereits angesprochenes triadisches Modell: neue Objektkategorien, die vor allem hinsichtlich Fragen der Sichtweiseninterpretation differenzierter funktionieren. Das Zeichen ist nicht ein stillstehender Bedeutungsgrund, es setzt sich vielmehr aus diesem dynamischen Verhältnis der Relationen zusammen und bildet sich fortwährend neu. Die offenen Semioseketten der Rezeption leisten ihre Arbeit.33 Gilles Deleuze versucht sich nun mit Peirce an der Analyse bildimmanent generierter Zeichentypen. Zwischen filmischem Ikon und literarischem Symbol sowie dem zwischen beiden angesiedelten Index eröffnen sich bei ihm Bildkonfigurationen, die nicht mit den barthesschen, essenzbelegten Schlüsselstandbildern arbeiten, sondern das fließende Charakteristikum der Laufbildmaterie, und somit ihre Existenz, einbeziehen. Das Bild in seinem schlichten Erscheinen, in seiner Arbeit mit Zeit und Raum der Rezeption, tritt dabei in den Vordergrund. Dass hierbei auch bildgeometrische Untersuchungen nicht loszulösen sind vom vorhandenen Bildfluss, und in ihrem Wandel umso schwieriger zu fassen sind, treibt die Filmtheorie jedoch bis heute um. Wie kann man ein Bild greifen, das permanente fliehende Vakanz ist? Für den filmischen Raum wird also der synchrone Bereich in seiner diachronen Verknüpfung prägend. Die Bildkette und die Mise-en-Scène gestalten gleichermaßen den filmischen Raum, den wir letztlich sehen. Filmanalysen müssen deshalb beide Seiten berücksichtigen: das UND der Einstellungsverknüpfungen nach Godard genauso wie DAS lebende 33 Aus der Vielfalt und Dynamik der Zeichenprozesse können unterschiedliche Relationsstrukturen und Zeichentypen resultieren, wobei die bekannteste Zeichentypisierung von Peirce jene von Index (natürliche, inhärente Beziehung), Ikon (Ähnlichkeitsbeziehung) und Symbol (konventionelle Beziehung) ist. 76
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Bild des Innerhalbs sowie des Jenseits der Kameraaufnahme. In den Fahrtaufnahmen ist die Kamera als bewegter Rahmen im Einsatz, sie wird zum cache nach Bazin.34 Christian Metz fragte nach den Bedingungen, unter denen Kino als Sprache angesehen werden kann: sowohl als narratives Kino als auch als Einstellung im Sinne der kleinsten narrativen Einheit, folglich im Sinne des Bildes als Aussage. Die Linguistik wurde bei ihm zu einem Teil der Semiologie als jener Disziplin, die auf Bilder Sprachmodelle anwendet, um zur Untersuchung der dahinterliegenden Codes zu gelangen, da ihn gerade die »Sprachen« ohne Sprachsystem (=Semien), wie Kino, Gestik, Musik interessierten. Die synchronische und die diachronische Filmsyntax, welche sich leicht als »Montage vs. Mise-en-Scène« beschreiben lässt, bietet dabei Anhaltspunkte für die filmische Untersuchung. Doch gerade hier besteht eine Gefahr im Sinne eines Zirkelschlusses der Semiologie: Die Syntagmatik setzt die faktische Angleichung des Bildes an die Aussage voraus und ermöglicht andererseits erst die Angleichung des Bildes an die Aussage. An die Stelle von Bildern und Zeichen würden so allein Syntax und Aussage treten. Der Begriff des Zeichens als ein bild- und körperhaftes Phänomen jenseits narrativer Festlegungen droht so, aus dieser Semiologie zugunsten eines gefährlich halsstarrig behandelten Signifikanten zu verschwinden. Doch die Narration allein betrifft nicht die gesamte Sichtbarkeitsarbeit der kinematografischen Bilder und täuscht folglich oftmals leicht über Wesentliches des Films hinweg. Wo bei Metz die Erzählhandlung noch auf die sprachlichen Gegebenheiten der Codes verweist, von denen aus sie als sichtbare Gegebenheit ins Bild tritt, erhält bei Deleuze der narrative Charakter lediglich den untergeordneten Status einer Konsequenz der sichtbaren Bilder und ihrer direkten Kombination, ist aber niemals eine visuelle Gegebenheit der Bilder oder die Wirkung einer ihnen zugrunde liegenden Struktur. Somit erfasst die Narration nie die tatsächliche Bildgegebenheit des Films. Doch das Bild kommt erst jenseits der ausschließlichen Orientierung an einer Narrativik bei sich an. Der Seitenhieb auf Barthes’ Standbilduntersuchungen wird bei Deleuze offensichtlich: Diese Theorie taugt für Standbilder, aber nicht für den Film mit seinen Laufbildern. So spielt auch die Repräsentationsvornahme eine untergeordnete Rolle. Im Filmbild ist es nach Deleuze der Gegenstand selbst, der gerade 34 Für Bazin gibt es im Film zum einen die Möglichkeit einer festen Rahmengebung, die einen isolierten und meist stillstehenden Ausschnitt im cadre vornimmt. Der cache hingegen bietet eine bewegte Maske, innerhalb derer sich der Ausschnitt in einen umfassenderen Zusammenhang verlängert. Deleuze wird diese Unterscheidung in seinem Bewegungsbild übernehmen. 77
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erst in der Bewegung erfasst, und dergestalt auch neu erfasst, werden kann. Seine Wahrnehmung als kontinuierliche Modulation in Raum und Zeit kommt erst hier voll zum Ausdruck. Und in dieser permanenten Veränderlichkeit fällt Analoges, als das Bild und sein Gegenstand, zusammen. Eine Realität, die nicht mehr nach Realismus im Bild fragen muss: jenes c’est juste une image nach Godard eben. Wenn Deleuze das Kino meint, dann meint er nicht nur Bewegung der Bilder, sondern immer auch Bewegung des Denkens. Henri Bergsons Überlegungen zu Bewegung und Dauer sind dabei neben Peirce der andere Ausgangspunkt seiner Arbeit. Materie begreift Bergson als eine lichtbasierte, die in Wechselwirkung mit Flächen in Erscheinung treten kann. Die Wirklichkeit ist hier Bildform an sich gerade in der Reflektion. Das Bild wird dabei zum Medium zwischen Bewusstsein und Materie: »unter Bild verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist als was der Idealist Vorstellung nennt, aber weniger als was der Realist Ding nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem Ding und der Vorstellung liegt«.35 Bewusstseinstheoretisch argumentiert, ist es für Deleuze seit Bergson nicht mehr möglich, Bewegung als physisches Dispositiv der äußeren Wirklichkeit und Bild als innere Bewusstseinswirklichkeit einander entgegenzusetzen: Bewegung ist Wirklichkeit ist Bild. Der sehende Rezipient des Kinos ist bestes Beispiel eines solchen Verständnisses. Im Sinne des bergsonschen Materiestroms verschmelzen hier Bild und Bewegung neu: »Es gibt nichts Bewegliches, das sich von der ausgeführten Bewegung unterschiede, es gibt nichts Bewegtes, das getrennt von der übertragenen Bewegung bestünde. Alle Dinge, das heißt alle Bilder fallen mit ihren Aktionen und Reaktionen zusammen: das ist die universelle Veränderlichkeit.«36 Veränderung sowohl im Raum als auch in der Zeit. Für Deleuze ordnet das Bewegungsbild die Zeit der Bewegung unter, sie erfährt hier also nur ihre indirekte Repräsentation. Mit Bergson scheitert dabei die kinematographische Arbeit der Bewegungsrekonstruktion anhand ihrer unbeweglichen Schnitte und der mit ihnen einhergehenden abstrakten Zeit, welche nicht an die reale Bewegung mit ihrer konkreten Dauer heranreicht. Dies ist für ihn die falsche Zeit und somit die falsche Bewegung: Bilder als Momentschnitte und eine Bewegung im Sinne einer abstrakten Zeit des Apparates kommen hier zusammen. Diese Bewegungsrekonstruktion durch unbewegliche Schnitte begreift er ebenfalls als Tätigkeit unserer allgemeinen Wirklichkeitswahrnehmung. Die alltägliche Wahrnehmung selbst ist für ihn dergestalt schlicht kinematographisch.
35 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Hamburg: Meiner, 1991. S. I. 36 Deleuze: Bewegungsbild, S. 86. 78
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Die apperzeptiven Veränderungen, die sich nicht zuletzt mithilfe des Flaneurbegriffs37 angedeutet haben, dauern bis in die Filmtheorie Deleuzes fort und lassen ihn die Frage nach ihrer Modifikation im neuen Medium stellen: »Soll das heißen, dass – Bergson zufolge – der Film lediglich die Projektion, die Reproduktion einer konstanten, universellen Illusion ist? Dass man schon immer gefilmt hat, ohne es zu wissen? […] Ist die Reproduktion der Illusion nicht in gewisser Weise auch ihre Korrektur?«38 Das Durchschnittsbild als Laufbild ist es, welche unsere Wahrnehmung im Kino prägt. Innerhalb seiner Rezeption gibt der Film kein Bild, das er noch zusätzlich in Bewegung setzt, sondern er gibt beide in direkter Verbindung: ein einziges fließendes Bild, eine anhaltende Scharfstellung und Verwischung, eine permutative Sicht unter unzähligen. Film existiert nur in der permanenten Verwandlung eines Bildes. Wie für Bergson der Moment ein unbeweglicher Schnitt in der Bewegung ist, so sieht er wiederum die Bewegung als Schnitt der Dauer. Sie ist Element und zugleich Motor der Veränderung. Den Fehler des unbewegten Schnittes besitzen für Bergson der Film und die Wahrnehmung folglich gemeinsam. Doch Deleuze spricht dem Kino den bewegten Schnitt zu, welcher die Modifikation einer Wahrnehmungsarbeit überhaupt erst ermöglicht. Gegen eine Übertragung der sprachlichen Aussageoperationen der Syntagmen, Paradigmen und Signifikanten auf den Film benutzt Deleuze das Bewegungs- und Zeitbild als Materiehaftes für Arten der Wahrnehmung in Raum und Zeit. Die Strukturierungen des Bewegungsbildes, vor allem im Sinne von Aktion und Reaktion, werden vom Zeitbild überschritten, das die Bewegung als Variable der Zeit unterordnet. Das Zeitbild verlässt das sensomotorische Schema des Bewegungsbildes und lässt Aktionen schlicht in reine Wahrnehmungen übergehen. Optische und akustische, vordergründig stillstehende, Situationen dominieren, der Film beschreibt ellipsenhaft. Erzählung und Handlung treten in den Hintergrund. Der Raum hat in Filmen des Zeitbildes alle motorischen Verbindungen verloren und wird zum »abgelösten oder entleerten Raum«.39 Getrennt von den Aktionsserien des alten Bewegungsbildes ist das aktuelle Zeitbild fähig, mit einem virtuellen Bild in Austausch zu treten: Erzähl- und Gedankensprünge sowie reines Oberflächen-Sehen werden leichter möglich. Dies ist das Kristallisieren, wobei das Virtuelle all jene Bilder meint, in denen unaktuelle, aber mögliche Wahrnehmungen, etwa 37 Vgl. Kaiser: Flaneure im Film. 38 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 14. 39 Deleuze, Gilles: Unterhandlungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 78. 79
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im Sinne von Erinnerungs-, Traum- und Spiegelbildern mitschwingen können. Die Koexistenz verschiedenster Schichten wird bildintern eröffnet, es gibt keine narrativ gebundene Einschränkung in diesen Bildern. Man kann jederzeit aus dem erwarteten Handlungsstrang herausfallen. In den Verfolgungsfahrtaufnahmen des vermeintlichen Bewegungsbildkinos kann für Momente das andere Bild, das des Zeitkinos, sichtbar werden. In den Fahrtaufnahmen des Genrekinos betreten wir ein Paradoxon des Kinos, das uns nicht nur sensationell mitreißt, sondern gerade darüber hinaus in eine Offenheit des Bildes und Handlungsstrangs verweist: in seiner Intensität, in seiner Überbetonung der Bewegungsfolge. Mit Peirce arbeitet Deleuze nun innerhalb seines Zeit- und Bewegungskinoverständnisses an einem Typenmodell der Filmbilder. Die Grundlage bildet das triadische Modell der drei Bildarten der Erstheit (als mögliche ikonische Zeichenrelation), der Zweitheit (als indexikalische) sowie der Drittheit (als symbolische Relation). Die kognitive Funktion dieser Bildarten ist dabei von Hauptinteresse. Wo die Erstheit noch auf sich selbst verweist, erweitern sich die Zweit- und Drittheit zu relationalen Formen des Verweisens. Deleuze fügt diesem Schema nun die Nullheit als wahrnehmungshafte Qualität eines Bildes hinzu. Die Erstheit des Bewegungsbildes wäre folglich deren erste Ableitung: Affekt-, Aktions- und Triebbilder können weitere Unterteilungen werden, die sich alle im filmischen Geflecht zueinander in Relation setzen. Erst das Zeitbild und seine Spielarten vermögen nach Deleuze, den Zeitabstraktionen tatsächliche Dauer im Filmbild entgegenzusetzen. Die zeitliche Sukzession wird abgelöst von koexistierenden Zeit- und dergestalt Wahrnehmungsstufen dieser. Aktion oder Reaktion dienen nicht mehr als unbedingte Formeln, sondern die neuen Situationen beherbergen ein viel größeres Potential des Rekurses auf unterschiedlichste Zeitläufe, egal ob virtuell oder aktuell. Was uns diese Bilder laut Deleuze bewusst machen können, ist die simultane Anwesenheit mehrerer Zeiten und bereits gespeicherter Zeiterfahrungen im Bewusstsein des Rezipienten. Im Kristallbild kommen diese virtuellen und aktuellen Erscheinungen für ihn betont zum Tragen. Doch gerade die Nullheit als vielleicht schlichteste Bildform birgt eine Konzentration, die auch für das Zeit-Bild-Kino nicht übersehen werden kann: Noch vor allen Abbildungen ist sie Bild als Bild, Sehen als Sehen bzw. als Formen des Sehens, gerade dann, wo unsere Interpretationsleistung noch nicht oder gar nicht greifen kann. In diesen schauen wir auf flirrende Oberflächen, nehmen ihr Bewegtsein, ihr Ausschnitthaftes, das dazugehörige Off anders wahr, ja – sehen es vielleicht erstmals neu. Die Fortbewegungs- und Fahrtaufnahmen ermöglichen diese puristische Kinowahrnehmung in unterschiedlichen Sparten und Genres.
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Der Begriff des Bummelns, zu dem wir am Beispiel Allie Parkers gleich kommen werden, fällt bei Deleuze nicht umsonst, doch was jenen Herumlungernden und -schweifenden des modernen Kinos »an Aktion und Reaktion verlorengegangen ist, haben sie an Hellsicht gewonnen: sie SEHEN.«40 Die bewusstseinstheoretischen Fragen der frühen Flaneurtheorien haben sich in der filmischen Entwicklung fortgesetzt. Der Spaziergänger durch urbane Räume wird zum explikativen Moment dieser Filmtheorie. Wenn von der Bewegung im und durch den Film gesprochen wird, muss letztlich über die Montage und die Plansequenz nachgedacht werden. Die Bedeutung der Montage hat sich für Deleuze mit dem Zeitbild gewandelt: Sie bezieht sich nicht mehr auf die Bewegungsabläufe und deren Reaktionen, sondern sie dient einzig dazu, zeitliche Beziehungen bewusst zu machen, denen nun die diesem Bild abwegigen Bewegungsmöglichkeiten unterliegen. Im Gegensatz zum bekannten Unterschied zwischen Einstellung und Montage entsteht hierbei allerdings die sogenannte Montrage41. Innerhalb der Einstellung laufen ebenfalls zeitbezogene Montageformen ab: Die Planfahrten bei Godard zeigen dies ein ums andere Mal. Das Travelling birgt sie selbst im Genre des Thrillers als ein Prinzip, das beide Formen immer zusammen denkt. Die Bewegung wird hier nicht in den stillstehenden Schnittvornahmen bearbeitet, sondern sie befindet sich immer im Intervall zwischen den Verbindungsformen, und dies wird hier neu mitgedacht. Gegen die abstrakte Zeit der Montage werden dauerhafte Bewegungen gesetzt. Die Bildaufnahme selbst wird dergestalt etwa in der Fahrtaufnahme zum momenthaften Schnitt des Bildes selbst. Der Schnitt ist im und mit dem Bild als Aufzeichnungsarbeit bereits mitgedacht. Dies arbeitet mit Deleuze der gleitenden Wahrnehmung von Realität zu, anstatt sie in Erinnerungsformen wiederum nur abstrakt ausschnitthaft aneinanderzureihen. Wenn für Bergson die kinematographische Illusion nur die Reproduktion unserer tatsächlich falschen Wahrnehmung war, dann besitzt sie dennoch genau hierin, in ihrer Reproduktionsleistung solcher Bilder, für Deleuze die Möglichkeit einer Korrektur unserer Wahrnehmung. Die Intervalle zwischen den Bildern sind nur in ihrer Bewegung zu denken. Denn die materielle Grundlage wird mithilfe ihres Erscheinens selbst überarbeitet. Wir können ein unmittelbares Bewegungsbild sehen. Und dieses Erscheinen setzt noch vor der Gedächtnisarbeit an – Fragen nach dem schlichten Oberflächensehen und dem Vorsprachlichen des Bildes können hier anknüpfen. Die beliebigen Momente werden dabei besonders beachtenswert, denn gerade sie sind es, die sich einer eindeutigen Funktionalisie40 Deleuze: Zeit-Bild, S. 348. 41 Ebd., S. 61. 81
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rung im Sinne einer Erzählstruktur entziehen, selbst im und gerade auch mit dem Genrekino. In diesen Bildern zeigt sich ein Moment nur bewegt und in ständiger Veränderung begriffen, der Schnitt ist dem untergeordnet bzw. dem Bewegungsbild nur als bewegter Schnitt einer Dauer gegeben. Im Zeitbild kann ganz auf ihn verzichtet werden, hier ist er den Bildern selbst integriert – in ihnen ist alle Dauer und Veränderung fühl- und sehbar. Dennoch müssen diese Bilder nicht in Deleuzes Verständnis der Zeitensimultaneität ihre Klimax erreichen, denn hier würde schlicht der Raum zu kurz kommen. In den Fahrtaufnahmen passiert gerade mit ihm noch viel mehr: In dieser Nischenwahrnehmung, die während der Erscheinung leicht aller Zusammenhänge entrissen und vorsprachlich gesehen und empfunden werden kann, öffnet sich der Raum anders. Sein Bildfeld ist eines, das permanent entrissen wird, am liebsten in der Kamerafahrt, aber (dieser untergeordnet) auch im Schnitt. Der anwesende und abwesende Raum ist es, der hier Koexistenzen eingeht, und dies gerade innerhalb und außerhalb des Bildfeldes. Denn beides ist zugleich im Bild anwesend: Das Außerhalb ist simultan an- und abwesend, da es der cache in besonderem Maße innerhalb der Bewegung mitdenkt. Die gefilmte Materie des Raumes wird als unabschließbar, kontinuierlich und unbegrenzt sichtbar. Das Off fügt dem Bild Dauer und Potentialitäten hinzu. In der Wischaufnahme des seitlichen Fahrtfensterblickes finden sich alle Bildebenen gleichrangig zusammen, das Bild wird flach zugunsten der bewegten Bildebenen, die vorher vielleicht einmal Tiefe hatten, jetzt aber auf einer Ebene in Wechselwirkung treten. Raumtiefe und Gleiteffekt der Plansequenz tragen dazu das nötige bei. Die Wischaufnahme entzieht sich dem narrativen Kino gerade in ihrer Hyperaffirmation der Bewegung, und bricht so einen doppelten Riss in den Ablauf. Allie Parker wird als Stadtwandler das eine Ende dieses Strangs einnehmen: das situative Flaneurkino, in dem niemand mehr reagieren kann oder will. Er erschließt den affektlosen Raum der langsamen Fortbewegung, wohingegen die Verfolgungsfahrt den Raum der Hyperaffekte einnimmt und gerade auch in seinem Reagieren ins reine Raumsehen übergehen lässt. Was an Aktion und Reaktion verloren gegangen ist oder in seinem Extrem vorhanden ist, führt die beiden Enden der planen Kameraaufnahme zusammen. Diese gefilmten Situationen erhalten und entfalten ihren Wert nurmehr in sich selbst. Sensorische Momente des Sehens eines solchen Materiebildes werden dabei auf der beschleunigten Aufnahmeseite zudem ausschlaggebend. Mag auch das Kamerabewusstsein hier schlicht von den Bewegungen bestimmt sein (was bei Deleuze ein klares Manko des Bewegungsbildes gegenüber den mentalen Verknüpfungen des Zeitbildes ist), so sind es doch genau jene, die es schaf-
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fen, aus der Narrativik auszubrechen und auf das Bildhafte der Aufnahmen aufmerksam zu machen. In ihrer betonten Affirmation der gefilmten Bewegungen gehen sie über diese hinaus, entwenden sich ihres aufgereihten Lakendaseins auf einer Leine, und potenzieren diese Entwendung noch. Die Leine scheint hier nur vordergründig noch maßgeblich, als schlichte filmische Materialeigenschaft tritt sie hinter die Formen ihres Erscheinens. Das Kamerabewusstsein, das nach Deleuze nicht mehr von den Bewegungen, sondern von den mentalen Relationen bestimmt sein sollte, ist dieses offensichtlich hier gerade nur in seinen Bewegungen. Sie erlauben ein Ausbrechen aus dem Handlungsstrang, das Sehen des Zuschauers staunt, explodiert oder langweilt sich: ein mediumsimmanentes Sehen, noch vor allen Chronologien und Nicht-Chronologien, selbst jener der simultanen Gegenwarten und Vergangenheiten, wird hier ermöglicht. Ein Manko fällt dabei besonders auf: Deleuze handelt letztlich in seinen Bildbetrachtungen immer nur von der Ausarbeitung der Erzählhandlung. Wo sich diese nicht mehr sensomotorisch verkettet, scheint für ihn die Revolution des modernen Kinos anzubrechen: im Sinne seiner Mächte des Falschen, die mehrere Versionen einer Geschichte zugleich in den Raum und bestenfalls in ein direktes Zeitbild à la Welles stellen, und dergestalt allerhöchsten die Erzählhandlung multiperspektivieren. Hier kann bestenfalls die Beschreibung zu ihrem eigenen Gegenstand werden. In diesem Ansatz der Fahrtbilder, und mit der Arbeit der Aufnahme durch und mit der Fahrtscheibe, wird der Film also nicht als Fenster zur Welt verstanden, – dies wäre im Sinne der Ähnlichkeitskriterien eben nur die eine Seite. Sondern seine in den Fahrtaufnahmen enthaltenen Möglichkeiten der Darstellungweise kombinieren hier den Blick hindurch mit dem Blick auf Welt. Deleuze hat Pasolinis oft als zu einfach kritisierte Definition des Kinos als Kunst, in der sich »die Realität durch die Realität« ausdrücken ließe, verteidigt.42 Denn sein Verständnis des Bewegungsbildes als Materie an sich steht diesem nicht fern: »Es handelt sich um eine nicht sprachlich geformte Materie, wenngleich sie semiotisch ist und die erste Dimension der Semiotik ausmacht. In der Tat sind die sechs verschiedenen Bildarten, die sich notwendig aus dem Bewegungsbild ableiten, diejenigen Elemente, die aus dieser Materie eine Zeichen-Materie machen. So sind die Zeichen ihrerseits Ausdrucksmerkmale, welche die Bilder zusammensetzen, sie kombinieren und unaufhörlich neu schaffen, mit der sich bewegenden Materie als Träger.« 43 42 Theweleit, Klaus: Deutschlandfilme. Filmdenken und Gewalt. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2003, S. 285 43 Ebd., S. 51ff. 83
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Das Kino steht dabei der Welt physischer Präsenz am nächsten, eine Welt der Objekte und Oberflächen, die eine sichtbare Anwesenheit behaupten und verteidigen. Diese existiert bereits vor aller Sprache. Der Film kämpft so für die erste Verbindung des Menschen zur physischen Realität, den Glauben an den Körper. So kommen die Pasolinischen Filme auch fast ohne Sprechen aus, einzig Körper, Dinge und Landschaften stehen im engsten Austausch. Wie für Bergson das Bewegungsbild, und folglich die Materie selbst, nicht-sprachlich geformt war, so sind die sechs verschiedenen Bildarten, die sich aus dem Bewegungsbild ableiten, jene, die aus dieser Materie eine Zeichenmaterie machen, und dennoch bleibt die bewegende Materie Träger und Grundlage. Insofern arbeitet das Kino permanent daran, den Glauben an die physische Welt bzw. schlichtweg den Glauben an den Körper im Austausch mit Dingen und Landschaften zurückzugeben. Das Kino ist für Deleuze demnach weder ein Sprachsystem, noch eine Sprache, sondern eine intelligible Materie, ein Korrelat aus Denkbewegungen und -prozessen sowie aus Blickwinkeln, die sich auf diese richten. So ist das Filmbild nur als sich veränderndes Ganzes eines Bilderflusses zu betrachten, das mit Intervallen einer Zeichenmaterie arbeitet, die sensorische, kinetische, intensive, affektive, tonale und verbale Merkmale besitzen kann. Diese Elemente sind eine asyntaktische geformte Materie, man könnte auch von einer figurativen Stofflichkeit des fotochemischen Bildes sprechen. Sprache und Semiotik wird so nur als Reaktion auf nicht-sprachliche Materie, als Operationsweisen mit ihr, angesehen, und dem Visuellen dergestalt nachgeordnet. Das ist eine Stärke Peirces, die Deleuze übernommen hat. Sein Ausgangspunkt war: das Bild, eingeteilt in drei Arten: »Erst- (etwas, was nur auf sich verweist: Qualität, Vermögen, Möglichkeit), Zweit- (etwas, was nur aufgrund einer anderen Sache auf sich verweist: Existenz, Aktion/Reaktion) und Drittheit (etwas, was nur auf sich verweist, indem es eine Sache zu einer anderen in Beziehung setzt: Relation, Gesetz, Notwendigkeit).«44 Aus dieser Kombination entstehen weitere Zeichenmodi und Bildarten. Die Funktionen des Zeichens werden dabei im Verhältnis zum Bild kognitiv. Die Relationen werden offengehalten und wirken so fort. Die Nullheit wird dem als vierte Bildart von Deleuze noch hinzugefügt. Wahrnehmung kann nur in Bezug zum Bewegungsintervall untersucht werden: Das Wahrnehmungsbild wird so von ihm zum Nullpunkt all derer Ableitungen, die das Bewegungsbild im Anschluss daran vollzieht. Es drückt dergestalt das Verhältnis der Bewegung zum Bewegungsbild selbst aus. Wo das Bewegungsbild Formen als Ableitungen der Wahrnehmung zeigt, da ist das Wahrnehmungsbild nun deren Metaebene, also 44 Deleuze: Zeit-Bild. S. 47. 84
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deren eigene Reflexion. Die weiteren fünf Bildtypen nach Deleuze auf Seite der Bewegungsbilder sind daran anschließend: das Affekt-, das Trieb-, das Aktions-, das Reflexions- und das Relationsbild.45 Wo das Reflexionsbild als Vermittler zwischen Aktion und Relation verstanden wird, besetzt das Affektbild ein Bewegungsintervall ausschließlich. Ein Aktionsbild hingegen arbeitet logischer, es führt Handlungsansätze fort, leitet diese je nach Tendenz an die Bildserie weiter. Das Relationsbild bringt wiederum alles zusammen, verbindet die Gesamtheit des Bewegungsablaufs und stellt Relationen in alle Richtungen her. Es ist jene Drittheit nach Peirce. An diese Drittheit knüpft Deleuze mit den Zeitbildern an. Wo sich seine Bewegungsbilder noch mit dem Relationsbild zu vollenden scheinen, gibt es im modernen Film jenseits der altbekannten Hollywooderzählmuster des klassischen Kinos ganz andere Bildqualitäten zu entdecken. Verschiedene Zeitebenen und deren Oszillieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie purem Dauerempfinden im Hier und Jetzt können hier aufeinander treffen. In der Form des Zeitkristallbildes kommen für Deleuze Aktuelles und Virtuelles nach Bergson zueinander und spiegeln sich gegenseitig. Differenzen werden so bewusst aufgemacht und offengehalten, denn erst so wirken die Kinobilder anders und dergestalt verstärkt kognitiv fort. Bewegungs- und Zeitbilder schließen dabei einander jedoch nicht aus, eher gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Wechselmöglichkeiten zwischen ihnen. Die Schwellen zwischen Filmbildern des Stehens und Gehens auf einer Straße, zwischen Gedankenbewegung und realer Fortbewegung, und somit auch zwischen Bewegungs- und Zeitbild, weiß Jarmusch mit seiner Figur Parker in PERMANENT VACATION zu öffnen.
45 Ebd., S. 50. 85
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Abb. Permanent Vacation 1: Jojo & Kreiseln
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VOR
DER
FAHRT – PERMANENT VACATION
From here to there or there to here Introducing Allie Parker In Jim Jarmuschs Film PERMANENT VACATION (1980) hat der Flaneur des Fin de Siècle eine weitestgehende Modifikation durchlaufen. Weder moderne Mythen im Sinne Aragons und Benjamins lesend, noch beladen mit dem rebellischen Pathos situationistischer Verneinung einer kulturellen Umwelt des Spektakels, tritt hier der Protagonist Allie Parker als indifferenter drifter inmitten leerer Räume, und genau so leerer Situationen, von Manhattans Lower East Side auf. Am Beginn des Films steht Allies Off-Kommentar: »This part of the story, well, it’s how I got from there to here, or maybe I should say: from here to here.« Er hat sich zu diesem Zeitpunkt zwar bereits von einer Stadt zur anderen bewegt, von New York nach Paris, doch für seine fragmentierte Weltwahrnehmung ist dies relativ egal, muss er doch immer dort weggehen, wo er gerade ist, und kann sich ein Bleiben nur vorstellen, wo er gerade nicht ist. Dies verursacht seine permanente Bewegung, die von einer Haltlosigkeit zur nächsten taumelt. Seine Reisen und Begegnungen setzen ihn hinsichtlich seiner inneren Gemütsverfassung nicht wirklich in Bewegung. Hans-Christian Dany würde ihn in seiner Arbeit Auf dem Weg zu einem Umweg zweifellos seiner Kategorie der Seriellen zuordnen. Völlig einverstanden mit aller Sinnlosigkeit, Bedeutsamkeit nirgends suchend, begegnen diese Seriellen allem mit einem ungerührten und unbeteiligten Blick. In den Straßen Jojo spielend, und damit die pure anwesende Absichtslosigkeit par excellence verkörpernd, kann Allie nur in der sich ständig wiederholenden Bewegung des Spiels für einen kurzen Moment zum Stillstand, hier gleichbedeutend mit Ruhe, kommen. Das Jojo spiegelt Allies eigene Bewegung im urbanen Kontext wieder. (Abb. Permanent Vacation 1) Von Nicht-Ort zu Nicht-Ort zeigt sich sein Herumstreunen sinnlos in allen Fragen nach einer möglichen Orts-
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bezogenheit. Er ist die pure Verkörperung von Bewegung um ihrer selbst willen. Das Transitorische urbaner Räume macht ihn genauso gehend, wie er uns (als seine kinematographischen Begleiter) die Orte nur als zu durchquerende wahrnehmbar werden lässt: »Let’s just say, I’m a certain kind of tourist – tourist that’s on a permanent vacation.« Die Filmbilder wollen hier keine Geschichte erzählen, sie wollen beobachten – in einer filmmateriellen immanenten Ruhe und Bewegung zugleich – und wiederum beobachtet werden. Sie bieten Durchblicke auf jene kulturelle Konstellation des Flüchtigen, die weiter oben bereits angeführt wurden, und für die PERMANENT VACATION eine/s der ergiebigsten Projektionsflächen und gleichzeitig Fenster liefert – ein dériveFilm par excellence.
Die Seriellen Hans-Christian Danys Lesart der Seriellen beinhaltet als kulturelle Praxis zuallererst den Rückzug von den »Fallen des Substantiellen«.1 Man bewegt sich hier »distinktionssicher und mediengekoppelt«2, befindet sich folglich in der Gegenposition zu allem sich inhaltsschwanger Gebärdenden. Die Ziellosigkeit der Praxisanwendungen der Situationistischen Internationale (SI) hat hier ihren Strang weitergeknüpft: die große Indifferenz verbunden mit einer neuen Variante der Oberflächenkonstruktion. So wie jene Phantom Avantgarde der SI nach Roberto Ohrt3 die zunehmende Spektakelwerdung der alltäglichen Welt durch kapitalistische Muster konstatierte und die Kulturindustrie als deren größten Motor identifizierte. So sind nun die Seriellen als Erben einer frühen und späten französischen Semiotiktheorie dabei, das Auf- und Abschwellen der Zeichen für die eigenen Belange umzufunktionieren. Die semiotische Kette nach Barthes ist insofern aufgegangen und angekommen in der vermeintlichen Arbeit der Seriellen: »Auch ich genoss es, auf Bedeutung verweisende Zeichenketten zu knüpfen. […] Wenn es zuletzt unsere ethische Pflicht war zu dekonstruieren (Derrida), dann musste in der notwendigen Gegenbewegung der Sinn rekonstruiert werden, also an die Bedeutung der Zeichen geglaubt werden.«4 1 2 3
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Dany, Hans Christian: Auf dem Weg zu einem Umweg. Köln: Salon 2001, S. 64. Ebd. Ohrt, Roberto: Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst. Hamburg: Schulenburg 1990. Dany: Auf dem Weg zu einem Umweg, S. 86. 88
VOR DER FAHRT – PERMANENT VACATION
So wird taktischer SI-Weltumgang neu aufgelegt, re-politisiert und konkretisiert. In PERMANENT VACATION reiht sich nun der Protagonist Allie Parker in diese Tradition der urbanen Umherschweifer ein. Die Stadt dient hier, wie vormals bei den Situationisten, als Spielfeld ziellosen Gehens. Varianz und Kontingenz werden Schlagwörter dieses Sich-Treibenlassens. Das urbane Umfeld bietet dafür den gewünschten Katalysator. Die kulturelle Technik »Film« vermischt sich mit jener der bewussten urbanen Erfahrungspraxis des »Gehens« um ihrer selbst willen. Auf der Ebene der Kunsttheorie reicht dieser Strang über Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Franz Hessel – das Berlin der Zwanziger, das Paris der dreißiger Jahre und weiter darüber hinaus –, die Surrealisten, Dadaisten, Situationisten bis zu heutigen Post-Bewegungen zwischen Pop-Art, Institutioneller Kritik und Konzept-Kunst. Es geht letztlich um das konkrete Anwenden und Hinterfragen von Rahmenbedingungen alltäglicher Wahrnehmungen.
Die Situationisten Die Entstehung der Situationistischen Internationale im Paris der fünfziger Jahre reiht sich hierbei ein in eine Entwicklungslinie der Avantgarde von den zum Symbolismus neigenden décadents des fin de siècle über Dada, Surrealismus und Lettrismus. Wie Amos Vogel in seinem Buch Film als subversive Kunst5 das Ziel der Avantgarde in der Anwendung von Kunst als Werkzeug sah, und die Kunstwaffe als zielgesteuertes Schockmoment zum Hinterfragen und Durchbrechen von Klischees beschreibt, so wird auch in der Fünfzigern die Entstellung von vermeintlicher Realität und das Herauslösen von Gegenständen aus ihrem herkömmlichen Zusammenhang ein bevorzugtes Arbeitsmittel der SI werden. Neue Bedeutungen lassen sich mit ihrer Praxis des détournement als Befreiungsakt aus Konventionen herausschälen: Alltägliche Mikroelemente der Gesellschaft werden aus ihren Zusammenhängen gelöst, um so die Makrostrukturen der Gesellschaft direkt offenzulegen und zu verändern. Folglich also eine Isolation von Objekten und deren Präsentation in neuen Kontexten, verstanden als Aufreißen von Scheinwirklichkeiten einer spektakelhaften Kulturindustrie im Sinne Guy Debords. Die Frage nach der Arbeit der Kunst, die mit Daniel Buren noch folgen wird, verhandelt sich hier auf der Ebene von Lebensstil- und Alltagsdiskursen. Kunst soll reproduzier- und verbrauchbar werden – bei den Situationisten führt dies bis hin zur industriellen Malerei und zum unitären Urbanismus.
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Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Reinbek: Rowohlt 2000. 89
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Dabei ist nie zu übersehen, dass in Frankreich die »Kunst und Nutzen«-Debatten bis weit in die Jahrhunderte zurückreichen, und viele Rädelsführer vor Debord in einer langen Reihe mit symbolistischen bohémiens wie Charles Baudelaire oder Théophile Gautier, als Verkünder des L’art pour l’art-Prinzips, standen. Jene wie diese wenden sich gegen die bestehenden gesellschaftlichen Regeln und Konventionen auf der Suche nach den anderen Lebensentwürfen. Lautréamont, Ducasse, Sade, Mallarmé, Rimbaud, Nerval und viele andere verstanden Kunst und Poesie als Zufluchtsmöglichkeit innerhalb einer verfälschten Wirklichkeit – Kunst als ständige moralische, sozialkritische und mentale Revolte. Der Fortschrittsglaube schien hier dennoch, und selbst inmitten aller Negation, extrem ausgeprägt zu sein – bei Futuristen, Surrealisten und Situationisten gleichermaßen, doch selbstverständlich mit Unterschieden innerhalb des politischen Engagements. Für die SI war demnach klargeworden, dass die Abschaffung sowie die Verwirklichung von Kunst nur gemeinsam von statten gehen konnte, um dergestalt zu einer Umorganisation des Lebens selbst zu gelangen, z.B. im Sinne einer Automatisierung der Produktion. Arbeit sollte dabei als eine äußere Notwendigkeit eingeschränkt, und so den Individuen die neue und doch alte Freiheit zurückgegeben werden. Der Wert der Spielmöglichkeiten eines frei konstruierten Lebensentwurfs war dabei ein Grundpfeiler. Nicht zuletzt verstand sich die situationistische Praxis im urbanen Leben tatsächlich als situatives Spiel mit ortsgebundenen Anwesenheiten und Möglichkeiten. So waren für sie die Hauptkennzeichen der neu zu erschaffenden Kultur folgende: gegen das Spektakel die totale Beteiligung, gegen die konservierbare Kunst eine Organisation des erlebten direkten Augenblicks sowie gegen die aufgeteilte Kunst eine globale, alle verwendbaren Elemente gleichzeitig umfassende Praxis gerade im Sinne einer kollektiven und anonymen Produktion, und nicht zuletzt gegen den Warencharakter das Spurenhinterlassen, die Nachhaltigkeit. Eine Absicht lag dabei in den Experimenten zur Revolutionierung des Verhaltens und zum dynamischen unitären Urbanismus als einer bewussten Konstruktion von Lebensentwürfen insbesondere auch gegen den Eskapismus der Surrealisten. In den Untergruppen der SI, SPUR und Cobra, waren auch Künstler und Architekten vertreten, die mit ihrer Arbeit neue Blicke auf Architektur und Städteplanung eröffneten. Diese Linie des unitären Urbanismus wandte sich in erster Linie gegen reinen Funktionalismus, Determination, Logik und Konstruktion – das tatsächliche Leben konnte nur woanders stattfinden. Ein Ziel war dabei, das dauernde Experiment einer Synthese von vorhandenen Werten und dem neu erfahrbaren Raum im Sinne des détournement als Entfremdung und Neuschaffung zu ermöglichen.
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Der Ansatz der SPUR-Gruppe war, das Material der Malerei als figurativ arbeitenden repräsentierenden Gegenstand zu zerstören und im Verhältnis zum Raum neu zu formulieren. Sie operierten hier ähnlich wie die Kubisten, die ebenso mit Hilfe der Figurauflösung in der Mehr- und Gleichzeitigkeit zum Raum zurückfanden. Bei SPUR äußerte sich dies meist in der aleatorischen Übereinanderschichtung von Linien, alten Figuren und alten Räumen. Farbgruppen wechseln sich mit Raumschichten und Formknäueln ab und Relikte aus früheren Schichten tauchen auf. Sie werden auseinandergetrieben und wieder zusammengezogen, so dass sich der Raum im dauernden Kampf mit dem Oberflächenmaterial befindet und neu erkennbar wird.
Caravanserail Ein dérive-Vorläufer war der Dadaisten-Außenseiter Françis Picabia. In seinem Band Caravanserail6 hatte er zum Teil in Anknüpfung an die Geschwindigkeitsfaszination der frühen Futuristen über die damals gerade möglich gewordene Automobilreise zwischen Paris und der Côte d’Azur geschrieben und eine Theorie der Überwindung von Raum und Zeit in jenen Künstlerkreisen proklamiert. Im Sinne der situationistischen Psychogeographie war diese Arbeit bereits Vorhut einer Forschung zu den Auswirkungen von Raumwahrnehmung auf das Gefühlsverhalten der Individuen. Zudem war Picabia gemeinsam mit Duchamp, Satie, Man Ray und Desnos an einem der berühmtesten Dada-Kurzfilme der Zeit beteiligt, in welchem sich der allmähliche Übergang zur surrealistischen Praxis bereits abzeichnete: René Clairs ENTR’ACTE von 1924. Das Thema der Beschleunigung ist hier tragendes Motiv des gesamten Films. Auch die Musik leitet die rhythmische Steigerung der Bilderabfolge: über Balletttanzaufnahmen weiter zu der Fahrt eines Leichenwagens quer durch die Pariser Innenstadt bis hin zu einer atemberaubenden Achterbahnfahrt im Pariser Luna-Park. Picabia kümmerte sich um die Ausstattung und lieferte das Exposé. Die Filmzeit erfährt hier Dehnungen und Stauchungen eingebettet in eine bizarre Handlung. Zeitlupensprünge menschlicher und technischer Bewegungen wechseln sich mit extremen Zeitrafferaufnahmen. Das Tempo steigert sich permanent. Passanten, Radfahrer, Flugzeuge und Schiffe verfolgen den Leichenwagen, der durch Straßen, über eine Hochbahn und aus der Stadt hinaus über Landstraßen fährt. Eine subjektive Kamera, ihr Bild ist stark verwackelt und steht manchmal sogar Kopf, zeichnet dies alles auf. 6
Picabia, Françis: Caravanserail. Gießen: Anabas 1988. 91
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Neben Buñuels UN CHIEN ANDALOU (1929) war dieser Film einer der größten Erfolge der frühen Kunstfilm-Avantgarde. Picabias Roman Caravanserail entstand passend zum Filmthema der Bewegung und ihrer Intensivierung vor ENTR’ACTE bereits Anfang der zwanziger Jahre. Analogien zum Film finden sich genug. Schnelle Fortbewegung und Verfolgungsszenen reihen sich aneinander in einer vektorhaften Tempoorgie, die ein ums andere Mal nur ein Interesse am »Orte-Schlucken«, nicht aber an den tatsächlichen topographischen Gegebenheiten zeigt. Man erlebt die Landschaft abstrakt, einzig per Kilometerstandsanzeiger. Ein dauernder Zustand von Entferntsein vergegenwärtigt sich immer wieder aufs Neue. Die Natur bleibt bis auf die Energie und den Genuss von Sonnenlicht ausgeblendet. Das Interesse gilt allein dem technischen Funktionieren und der dadurch ermöglichten Aneinanderreihung: Das Serielle hält Einzug in der Übertragung von Fahrtwahrnehmung auf dynamische Bildsequenzen, der Roman hatte dies bereits geschildert. Die Tempo-Landschaft wird so erstmals zu einer Variante der Kinowahrnehmung: Caravanserail im ENTR’ACTE.
Bilder der dérive Dérive, Malerei und Repräsentation Die Praxis der dérive, als bewusst angewandtes Umherschweifen inmitten der Bedingungen der städtischen Gesellschaft, insbesondere auch als Technik des beschleunigten Durchgangs durch verschiedene Umgebungen, hatte in Picabias Caravanserail eines ihrer ersten Experimente erfahren. Mit dem offensichtlichen Verzicht auf eingängige Bewegungsund Handlungsgründe hatte sich etwas Neues Bahn gebrochen. Der Zufall wurde dabei weniger ausschlaggebend als das psychogeographische Terrain der Städte aus ihren Transitströmen, festen Punkten und Verteilungszentren. Das détournement als Zweckentfremdung von vorgefertigten kulturellen Elementen zielte auf eine Einbeziehung aktueller bzw. vergangener Kunstproduktionen in die tätige Konstruktion von Umwelt. Es konnte dergestalt keine situationistische Malerei im eigentlichen Sinne geben, sondern einzig eine situationistische Anwendung bzw. Umstrukturierung der malerischen Praxis als solcher. Der unitäre Urbanismus verstand sich dabei als Theorie des totalen Gebrauchs der Kunstmittel und Techniken, die bei der vollständigen Konstruktion von Lebenswelten in dynamischer Verbindung mit situativen Potentialen mitwirken sollten. Der Ausgangspunkt dieser Praxen war die Poesie des
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organischen Stadterlebens im Sinne eines symbolischen Urbanismus. Neue wandlungsfähige Szenarien sollten so erfunden werden. Was die Maler der SI in ihren vordergründig an Kindermalerei erinnernden Gemälden erreichten, war ein Wechselspiel von Fläche und Raumtiefe, die oft Kippeffekte der Wahrnehmung hervorbrachten. Doch all dies funktionierte maltechnisch mehr bewusst als unbewusst. Es konnte noch der simpelsten Linie eine Bedeutungsformierung zugeschrieben werden. Doch die leere Fläche sollte genauso zu ihrer Geltung kommen. Die Bilder Asger Jorns sind hierfür ein Beispiel: »Noch 1972 hat Jorn an ›Stalingrad‹ Korrekturen vorgenommen, und es heißt, er habe dann erst die kleinen grauen Punkte eingesetzt, die überall Durchblicke zu Ruinen schaffen und die Dimension der Leinwand – nochmals konkretisiert – dehnen. Diese eingedrückten Raster führen zum Kern der Schwierigkeiten, die Jorn bis zuletzt mit dem Bild hatte. Das graue Punktmuster war der Versuch einer unfarbigen Lösung. Das vom Weiß zugedeckte Bild wird von unseren anpassungsfähigen Augen immer wieder hervorgeholt. Das Auge gewöhnt sich an die leere Helligkeit, schließt die Pupille ein wenig und verstärkt den farbigen Untergrund. Eine Wirkung, die nachdrücklicher wird, je besser wir das Bild kennen. Jorn musste also mit seiner eigenen Gewöhnung kämpfen, sollte das Bild nicht am Ende den Kontakt zu den genauen Aussagen über das Thema verlieren. […] Worauf konnte er sich stützen? Ließ er das Bild in der Richtung des Zerreißens der Spannung, des endgültigen Aussetzens der Wahrnehmung auf eine reglose Stille zulaufen, die jeder Sekunde festgehaltenen Lebens spottet und jede Farbe endgültig im trockenen Weiß erstickt, dann musste er das Leben verraten und sich geschlagen geben. Hielt er allerdings an einer Rettung fest, dann begannen die farbigen Spuren überall wie Querschläger aufzuleuchten, und das Bild drohte in die Illustration eines modernen Mythos überzukippen.«7
Zwischen den Extremen von Raum- und Farbflächenwahrnehmung war also nur das permanente Changieren möglich. Es entstehen folglich Spannungen, die zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit gleichermaßen hin- und hergerissen sind. Ein bildhaftes terrain vague, nicht nur im Sinne von »vage«, sondern auch im Paradoxon der stillstehenden Bewegung. Ein simultanes Wirken verschiedener Kräfte und sich daran anschließendes Herauskristallisieren bestimmter Tendenzen hin zu erneuten Annäherungen und Distanzen: Das abwechslungsreiche Fern-Nah-Spiel in einer Variante der europäischen Avantgarde. So wird wiederum das offene Changieren der Perspektiven und Blickpunkte hier zu einem Moment, das jeder euklidisch-geometrischen Raumdiskussion entgegen
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Ohrt: Phantom Avantgarde, S. 116. 93
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läuft bzw. sie überholt.8 Die Räumlichkeit einer Situation wird dergestalt in eine ursprünglich bildhafte übersetzt, in welcher verschiedene Einsichten und Einblicke auf einer Fläche zusammengezogen und umgewandelt werden: »Das ist die Räumlichkeit der Situation, ein unerwartet sich zeigender und in der Leere, dem unbegehbaren Platz, der plötzlich da ist, gedehnter, wie ebenso leicht verlorener, verschwundener Raum. Eine Situation ist immer prekär, um Wendepunkte angelegt, eine Etappe der Verwandlungen, ein Raum, geöffnet auf den ungewissen Zeitpunkt der Ereignisse, und eine Zeit, gekrümmt in den Unebenheiten des Geländes.«9
Körper und Bild Georges Didi-Huberman hatte 1990 in seinem Werk Vor einem Bild10 die Paradoxe der Bildbeschreibung und Bildwahrnehmung untersucht. Zwischen Nicht-Wissen und Wissen, Deutung und Sprachlosigkeit will er dem Bild seinen Status als Akt des Sehens und Wahrnehmens zurückgeben. Folglich das Visuelle gegen das Sicht- und Lesbare verteidigen. Gegen die »Evidenz des Erfassens«11 den vage erfahrenen Eindruck setzen, der sich nicht nur an inhaltlich vorgegebenen Themen und Begriffen orientiert. Das Bild wird begriffen als Gedächtnisort und Raumgeflecht inmitten schwebender Aufmerksamkeit, nicht zuletzt als Hinauszögern festgelegter Deutungen. Didi-Huberman schreibt über diese rein visuelle Bildbetrachtungsmöglichkeit: »Blicken wir einmal hin: Da ist nicht nichts, weil es ja das Weiß gibt. Es ist nicht nichts, weil es uns ja erreicht, ohne dass wir es erfassen könnten, und weil es uns einhüllt, ohne dass wir unsererseits es in das Netz einer Definition sperren könnten. Es ist nicht sichtbar im Sinne eines zur Schau gestellten oder herausgehobenen Gegenstandes; aber es ist auch nicht unsichtbar, weil es ja unser Auge beeindruckt und darüber hinaus noch viel mehr bewirkt. Es ist Materie. Es ist ein Fluss von lichtvollen Partikeln in dem einen Fall, es ist Staub aus Kalkpartikeln im anderen. Es ist die wesentliche und massive Komponente
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Zu nicht-euklidischen Geometrien vgl. Heelan, Patrick: Space-Perception and the Philosophy of Science. Berkeley: University of California Press 1983. 9 Ohrt: Phantom Avantgarde, S. 162. 10 Didi-Huberman, Georges: Vor einem Bild. Wien: Hanser 2000. 11 Ebd., S. 19. 94
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der pikturalen Vorführung [présentation] des Werkes. Wir sagen, es ist das Visuelle.«12
Eben dieses Visuelle entzieht sich sowohl einer Wiedergabevorstellung wie auch eindeutigen Abstraktionselementen, es lenkt den Blick einzig auf die Materie im Sinne von Licht und Pigmenten. In reinster Form zeigt Didi-Huberman dies am Beispiel der weißen Fläche, jenseits von Leere und Nichts. Hier ereignet sich im Sehen eine paradoxe und virtuelle Wirksamkeit. Ganz im Sinne von Charles Sanders Peirce definiert Didi-Huberman dies als pures Index-Zeichen, besser sogar: als Phänomen. In diesem Erfahren eines Weiß ist die Anwesenheit als das Dasein der Farbe bzw. Nicht-Farbe spürbar. Es ist kein Übersetzungsphänomen, keine repräsentative Vornahme. Es ist einfach anwesend – im und auf dem Bildträger. Die nur oberflächlich so erscheinende Verweigerung einer Analyse ganz offensichtlich im Sinne der Verteidigung einer Bildbetrachtung, die das Erfahren und dergestalt Einbrennen der Bildoberflächen miteinbezieht. Die Lesbarkeit tritt zurück. »Die virtus […] bezeichnet nämlich die souveräne Mächtigkeit dessen, was sichtbar nicht in Erscheinung tritt. Das Ereignis der virtus, das was potentiell ist, was Potenz ist, gibt dem Auge nie eine Richtung vor, der es folgen könnte, ergibt auch keinen eindeutigen Sinn bei der Lektüre.«13 Was Benjamin und viele französische Kunsttheoretiker seit Baudelaire am ehesten als Schock der Wahrnehmung bezeichnen würden, wird von Didi-Huberman zum Symptom erklärt. Eine Einsicht als Einbrennung in die Sichtbarkeit. Das Leere in dieser Wahrnehmung von purer Farbe und Fläche nähert sich einer Virtualität im Sinne einer Potenz an Bedeutung sowie Wahrnehmung zugleich an. Auf diese Potenz werden wir mit dem Bartleby-Motiv noch zu sprechen kommen. Und dennoch: Es geht um das Erfahren von Materie und deren Wirkung im Sehfeld. Um handfeste Dinge, Fass- und Greifbares auf einer Ebene des haptischen Sehens. Die Konzentration liegt endlich auf der Oberflächenwahrnehmung: »Allein seine Vorführung [présentation] macht aus ihm schon die unmögliche Materie eines Lichtes, das mit seinem Hemmnis gezeigt wird: eine Wandfläche und ihre eigene mystische Verflüchtigung.«14 Also eine regelrechte Immanenzwerdung des Gestalteten. Gegen das Sichtbare eine »Fleisch gewordene Phänomenologie«.15 Derartige Beispiele finden sich ebenso im filmischen Bild. Zum Beispiel Objektivspiegelungen, die im Film auszumachen sind, und spätes12 13 14 15
Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 33. Ebd. 95
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tens seit den siebziger Jahren ganz bewusst einbezogen wurden,16 reihen sich ein in diese Oberflächenbeziehungen des Materials zum Licht, das sich in die Kameraaufnahme einbrennt. Man denke nur an die lange Flugansicht der Hinfahrt zum Berghotel in der Anfangssequenz von THE SHINING (1980). Kubrick wollte diese Spiegelungen auf keinen Fall herausschneiden lassen. Und heute noch dankt man dieser einleitenden Anwesenheitserklärung der Kamera: Man ist nicht allein (ähnlich einem »es ist NUR ein Film«-Denken), selbst wenn man einen Film wie THE SHINING sieht, und dennoch macht sich die Anwesenheit einer damaligen Realität bemerkbar. Das Nicht-Analysierbare daran ist gerade, dass die Kamera sich bewusst zeigen kann, der Film/die Bilder aber dennoch nichts vom »Wunder der wirklichen und bewegten Welt« verlieren. Die Grenzen der Analyse zeigen sich dabei nur umso deutlicher. Didi-Huberman will den Begriff der Strukturöffnung am Bildbeispiel im Sinne eines Ereignishaften behandeln, doch scheint dieser Ereignisbegriff zu kurz gewählt. Das Ereignis ist viel eher ein Geschehen, das nicht allein im Sinne eines Schocks erscheint, sondern anhaltend donnert im Sinne einer sich bahnbrechenden Wiederholung nach Friedrich Kittler17, und dergestalt transformierend fortwirkt, selbst und gerade in der Wiederholung. Ein Ereignis folglich, das eher als ein »Passierendes«, ein Übergang, kommuniziert werden könnte. »Vor dem sichtbaren Kunstwerk hat es die Forderung nach einer ›Öffnung‹ der sichtbaren Welt gegeben, mit der nicht nur Formen hervorgebracht wurden, sondern auch bewegte, geschriebene oder gesungene Ausbrüche des Visuellen, nicht nur ikonographische Schlüssel, sondern auch die Symptome oder Spuren eines Geheimnisses.«18
Die Wahrnehmungsbeschreibung vor der Bedeutungsbeschreibung macht also einen zentralen Ansatz aus. Didi-Huberman schließt sich hierin, auch in der Frage nach der Bedeutungssystemübertragung, Panofsky an. Wo das disegno der Renaissance Kunst und Wissenschaft, insbesondere die geometrische Weltanschauung des einen perfekten allmächtigen Subjektblicks, zusammenführte, und dergestalt bis in den heutigen analogen Film fortwirkt, da war der Bereich der Farb- und Lichtmalerei eher dazu geeignet, diese Vorgaben zu überwinden. Das disegno als Gewaltaus16 Dennis Hoppers EASY RIDER (1969) bezieht sie ebenso in den Straßensequenzen mit ein. 17 Vgl. Kittler, Friedrich: »Blitz und Serie – Ereignis und Donner«, in: Nikolaus Müller-Scholl (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Bielefeld: Transcript 2003, S. 145-158. 18 Didi-Huberman, Vor einem Bild, S. 60. 96
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übung über die Natur zu betrachten, liegt nahe: Der Blick auf die Welt wurde hierin funktionalisiert. Doch jenseits dessen, und jenseits aller Sujets, muss es noch eine andere Sphäre geben, eine des Nicht-Sinns, als sehende Oberfläche womöglich. Existierend neben jenen grundlegenden Platonischen Ideen oder den Cassirerschen symbolischen Formen. Für Didi-Huberman kann dies das Bild als Wunde, als Symptom sein – auch als Form eines Aufklaffens von Material und Struktur. All dies benutzt er als Beschreibungen für visuelle Symptome, die auf der Bildoberfläche jenseits von stilgerechter Deutbarkeit verlaufen. Die sich anders einschreiben. Sich auf Wände (Didi-Huberman bevorzugt hier das Fresko) stürzen, ihnen ihre Farbschichten auftragen und dergestalt die Wand als Wand und Oberflächenmoment öffnen. Mit der Arbeit der Mimesis stehen sie in einem bildimmanenten Unruheverhältnis. Ein Schrei ist ein Schrei als eine Farbspur, die zuallererst einmal existent, und nicht bedeutsam in Erscheinung tritt. Ein lebendiges Bild, ein Fleischwerdungsprozess für Didi-Huberman. Es wird von ihm in Nähe zur Reliquie, zum Relikt und zur Magie gerückt. Offensichtlich ist dabei: Alle Kultur hat diesen magischen Ausgangspunkt. Wer lässt seine Wand bemalen, und wer bemalt sie? Für das Aufrechterhalten der Wand oder für ihr Aufreißen? Magische Prozesse auf Oberflächen. Alles immer wieder letztlich auch Religion. Und Fetisch – nicht zuletzt für Erinnerungen. Kontakt, der sich in Wände einschreiben soll. Der dableiben soll, der anwesend sein soll in seiner Abwesenheit. Dies aber nur, wenn gleichzeitig die Wand aufgelöst wird, wenn sie Raum für etwas anderes schafft, vereinnahmt für eine andere Oberfläche, einen anderen Ansatz. Didi-Huberman spricht von einer »Geschichte der symptomatischen Intensitäten«.19 Die Repräsentation bekommt Risse und Sprünge, und Bildsehen als mimetische Wahrnehmung allein ist hier nicht mehr möglich. Man sieht Leuchten, Flächen, Farbecken und -kanten. Das Ikonenhafte kommt dergestalt erneut zum Ausdruck, ein Sich unter dem Blick des Bildes-Empfinden stellt sich ein.20 Die wundertätige Ikone ist hier verstanden als eine Macht von Prägung, die der sie verehrende im Sinne eines Sakraments erhält. Spuren verstanden als Faszinosum und Aura arbeiten hier. Die Wand als bildgewordenes Begehren: »Der Terminus ›Fleischwerdung‹ mit dem ganzen Ausmaß seines signifikanten Spektrums wäre der dritte Anlauf, um sich von der theoretischen Magie der imitazione und selbst der iconologia, beides Erbstücke des Humanismus, zu verabschieden. Wider die Tyrannei des Sichtbaren, die der totalisierende Ge19 Ebd., S. 201. 20 Vgl. ebd., S. 197. 97
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brauch der Nachahmung mit sich gebracht hat, wider die Tyrannei des Lesbaren […] ist es dank der Berücksichtigung des Fleischwerdungsmotivs in den visuellen Künsten des Christentums möglich geworden, das Sichtbare auf die Arbeit des Visuellen hin zu öffnen [und] in den Bildern die doppelte Kraft visueller Unmittelbarkeit […] zur Entfaltung zu bringen. Darin liegt die theoretische – ja, heuristische – Kraft des Symptoms. Darin liegt seine Macht, etwas zu öffnen bzw. zum Keimen zu bringen. Das Symptom, nach dem die Fleischwerdungsökonomie drängt, das sie begehrt, hinterlässt in den Bildern Spuren von diesem erstaunlich fruchtbaren und wirksamen Band zwischen Ereignis und Virtualität.«21
Und genau dies reißt einen Schwebediskurs von ungeheurer Dynamik auf, in welchem sich unzählige Möglichkeiten potenzieren und auffächern. Bewusstseinsarbeit ein ums andere Mal. Ein Riss hat sich aufgetan – alles, was die Schwelle gegen die Wand braucht. Eine Ökonomie des Zweifels schließt sich nach Didi-Huberman an, Ungewisses und Undenkbares treffen aufeinander. Genau in dieser Spannung, zwischen dem Wissen des Symbols und dem Nicht-Wissen des Symptoms, changiert das Bild. Lineare Zeitlichkeit wird gebrochen und geöffnet, vor und zurück, verschiedenste Zeitschichten überlappen und kristallisieren sich. Permanenz und Schock kommen zusammen und halten an. Und genau in jenem Anteil an Unlesbarkeit sieht Didi-Huberman eine Kraft des Negativen22 am Werk, die gegen das Sichtbare arbeitet. Gegen das vage Irrepräsentable versucht er hierin, ein Paradox zu beobachten und anzuerkennen. Viel eher geht es ihm darum, gerade diese Spannung zwischen dem Wissen und Sehen auszuhalten. Dialektisierung ohne Ausblendung oder lineare Auflösung. Funktionsstörungen, die Repräsentation also zugleich mit dem sich ihr Entziehenden gedacht.
Das Jetzt des Bildes In seinem Text Das Erhabene und die Avantgarde versucht JeanFrançois Lyotard eine neuartige Anwendung aufklärerischer Theorien der Ästhetik des Erhabenen.23 Er setzt sie vermittels der These, dass sich erst aus der aufklärerischen Erhabenheitsästhetik die neuen Möglichkeiten bilden konnten, in denen sich die späteren Avantgarden ihre Wege
21 Ebd., S. 192f. 22 Vgl. ebd., S. 149. 23 Lyotard, Jean-François: »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien: Passagen 1989, S. 159-187. 98
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bahnen werden, in Verbindung zu den künstlerischen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Hauptaufgabe der Avantgarde sei es, angelehnt am Begriff des Erhabenen, vom Unbestimmten Zeugnis abzulegen. Der Ereignischarakter der Kunst trägt hierzu bei. Neue Zeitlichkeit folglich im Sinne einer Ereigniszeit, die das Werk beim Rezipienten auszulösen vermag. Kunst ist dabei auf ein »Hier und Jetzt« im Sinne einer Kunst der Intensitäten nach Lyotard gerichtet. Am Beispiel des Abstrakten Expressionismus Barnett Newmans wird dies für Lyotard explizit. Newmans Essay The Sublime is Now 24 aus dem Jahr 1948 stellt einen weiteren Ausgangspunkt dar. Die Titel der newmanschen Werke lassen ebenfalls die Vermutung eines erhabenen Themas in seiner Kunst aufkommen, muten doch Titel wie »Vir heroicus sublimis« von 1950/51, »Not over there, here«, »Now« und »Be« zugleich existenzphilosophisch als auch rätselhaft an. So stellt sich für Lyotard die Frage, wie es zu verstehen sei, dass der Gegenstand der Erfahrung des Erhabenen in dieser Kunst hier und jetzt sein kann, nachdem er doch im romantischen Kunstverständnis als etwas Jenseitiges gedacht werden muss. Eine weitere Frage müsste sich mit dem Wesen des erhabenen Gefühls als etwas Aktuellem befassen. Ist dieses wie vormals dazu da, auf etwas anzuspielen, was letztendlich nicht dargestellt werden kann? Um zu einer Antwort zu gelangen, stellt Lyotard eine weitere Schrift Newmans aus dem Jahr 1949 mit dem Titel Prologue for a New Aesthetic25 vor. In dieser spricht Newman davon, dass es ihm weder um eine Manipulation des Raumes noch des Bildes geht, sondern um ein Zeitempfinden im und am Bild. Die Abkehr von traditionellen Kunstzielen ist hier offensichtlich, denn nach Newman geht es nicht um eine Zeit, die mit dem Gefühl der Sehnsucht beladen ist. Lyotard sieht den Schlüssel zu Newmans Zeitverständnis im Begriff des Now. Für ihn hatte Newman sicherlich nicht an den tatsächlich gegenwärtigen Augenblick gedacht, denn wie sollte dies ohne die minimalste Zeitverzögerung auch funktionieren? Ein Augenblick allerdings, der sich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu halten sucht und dergestalt beide verbindet, könnte nach Lyotard Newmans Now ausmachen. Folglich ein Jetzt, dass in seiner Erfahrung zu einer Art Ekstase der
24 Vgl. Newman, Barnett: Selected writings and interviews. University of California Press 1992. 25 Vgl. ebd. 99
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Zeitlichkeit wird. Newman selbst bezeichnete es als »Plötzlichkeitsstruktur des Jetzt«.26 Gerade der Begriff der Ekstase ist für Lyotard kennzeichnend, denn hier ist kein Denken gemeint, das, über Augustinus bis zu Husserl, versucht, die Zeit vom Bewusstsein her zu konstituieren, sondern viel eher eine dem Bewusstsein unbekannte Erfahrung ausdrückt. Das Now ist viel eher das, was jenes Bewusstsein aus der Fassung bringt, und dies schon allein dadurch, dass es unbewusst ablaufen kann. Zugleich aber auch ein paradoxes Denken dessen, »dass etwas geschieht!« beinhalten kann. Die Frage nach dem »Geschieht es?« steht hier als ein Ereignis im Raum. Hier geht es jedoch nicht um die Suche nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen, was geschieht, denn der Frage danach geht für Lyotard das Geschehnis immer voraus. Statt dessen bildet sich das Geschehnis bereits an der Frage nach diesem aus. Folglich ist das Ereignis schon die Frage nach diesem selbst. Dieses Geschehnis ist für Lyotard, hier rekurrierend auf Heideggers Sichtweise, allein durch seine Blöße geprägt. Aus dieser Notwendigkeit einer einfachen, reduzierten Direktheit schlussfolgert Lyotard, dass gerade das, was Denken genannt wird, zu entwaffnen sei. Sinn und Zweck dieser Befragung soll nun nicht eine weitere Konstitution, sondern ein unvoreingenommenes Wahrnehmen und Annehmen des Unbestimmten sein, das nur so geschehen und dergestalt existent sein kann. Dieses wiederum kann mit einer Angstlust einhergehen, mit der Lust, das Unbekannte zu empfangen oder zu erfahren. Diese Lust geht einher mit der Freude gegenüber einer möglichen Steigerung des Seins, die durch das unbekannte Ereignis ausgelöst werden könnte: »Erhaben ist die Erfahrung, die der Betrachter im Vollzug des Sehens mit dem inkommensurablen dieses Vorgangs macht […] als Erfahrung von Identität im Nichtidentischen.«27 So ist die Erfahrung eines »Geschieht es?« für Lyotard letztendlich als ein widersprüchliches Gefühl zu erkennen, als ein unmöglich einfach nur konsumierbarer Genuss. Dieses Fragezeichen ist folglich die Erfahrung des »Jetzt«, verbunden mit dem Gefühl oder der Angst, dass auch nichts geschehen könnte, was sich gleichsam mit einer Erfahrung des Nichts im gegenwärtigen Moment beschreiben ließe. Hier erreicht Lyotard nun genau den Punkt, an dem er zu den Theorien des Erhabenen überleiten kann.
26 Barnett Newman, zitiert nach: Zweite, Armin: Bilder – Skulpturen – Graphik. Katalog zur Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf: Hatje 1997, S. 329. 27 Zweite: Bilder, S. 57. 100
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Denn genau jenes widersprüchliche Gefühl des Ereignisses als erst bestehende Frage, also dieses Gefühl zwischen Unlust und Lust, Angst und Freude, erkennt er als das Gefühl des Erhabenen. Denn für ihn äußert sich das erhabene Gefühl allein in dieser Jetzt-Erfahrung des undefinierbaren Ereignisses, und so ist auch die Forderung nach dem Charakter der Blöße eines Ereignisses in der Entwaffnung des traditionellen Denkens in Newmans Werk erfüllt: »Es zeichnet sich überdies ab, dass das Erhabene nicht an abstrakte Symbole zu binden war, sondern einzig und allein an die Selbsterfahrung im Augenblick des ›Jetzt‹, in dem die die menschliche Existenz bedingenden Kategorien von Raum und Zeit verschmelzen.«28 Nun – ist das Erhabene, und hiermit zeigt sich ebenfalls die Verschiebung von der Romantik hin zum modernen Avantgardismus bzw. von der Jenseitssehnsucht zum situativen Ereignis im Hier und Jetzt. Dieses Ereignis ist somit für Lyotard Vorläufer und Grundbaustein der modernen Avantgardebewegung schlechthin.
Nullstufen Daniel Buren lässt in seiner Kunst öfters Fortschrittsgläubigkeit offen gegen Wände fahren. Er selbst schreibt, dass es in seinen Arbeiten »ausnahmslos« keine »Entwicklung« gäbe.29 Der damit zugestandene, wenn nicht sogar eingestandene Stillstand seiner Arbeiten füllt eine »Nullstufe«30 inmitten sonst so gängiger Arbeitsansprüche aus. Seine Methode gleicht folglich einer planmäßig ziellosen Bewegung. Ähnlich jener des Gehens in Jarmuschs PERMANENT VACATION. Und ähnlich jener des Jojo-Spielens bei dessen Protagonisten Parker. Das Stehen in der Straße wird selbst noch durch das Jojo als paradoxe Bewegung innerhalb des filmischen Ablaufs markiert. Das filmische Moment ist kein eindeutiges, kein eingängiges: Man ist beschäftigt und man wartet zugleich, man ist motiviert unmotiviert und umgekehrt. Als sich wiederholende Bewegung geht es um ein pures Spiel, reine Unnötigkeit. Unnötig unauffallend gleichermaßen. Und genau deshalb grundlegend, ja wenn nicht sogar essentiell. Die Bewegung kristallisiert, im Sinne von aktualisiert, alle Bewegungsoptionen, die in einer urbanen Situation möglich sind. Sie überlagert Bewegungs- und Zeitschichten. Und hält durch dieses Kristallisieren alle potentiellen Bewegungsmuster aufrecht, wenn auch in der Schwebe: ernsthaft, offen und unabgeschlossen. Oder mit Derridas Zeit28 Ebd., S. 55. 29 Buren, Daniel: Achtung! Texte 1967-1991. Basel: Verlag der Kunst, 1995. S. 63. 30 Ebd., S. 64. 101
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paradoxon gesprochen: Was wird, ist schon immer gewesen. Aus Deleuzes Entwurf spricht folglich das Derridasche être déjà là als ein Versuch, ein Aufschimmern der différance zu ermöglichen. Mit Melvilles Figur des Bartleby wird uns im folgenden Kapitel eine performative Form eben jener différance begegnen, die ihren filmischen Niederschlag bei Jarmusch und ihre Kunstfeldübersetzung bei Buren gefunden hat. Bei Buren will die Malerei u.a. Sichtbarkeit »von Malerei selbst«31 sein. Sie wird also nur mehr für den in der Schwebe haltenden Blick hergestellt, sie bietet sich ihm dar als sein eigenes Konstrukt. Die Darstellungsfläche liefert keinen inhaltlichen Anhaltspunkt, es herrscht die »Minimal-, Null- oder Neutral-Komposition«32 vor. Diese herrscht dergestalt auch bei Jarmusch. Man kann im filmischen Geschehen keine Handlung zur Orientierung finden, geschweige denn benutzen. Man sieht einen Film, ein Laufbild und es stellt sich erstmals die Frage, ob man überhaupt noch eine Bewegung sehen muss. Ob Parker gehen muss – im performativen Sinne der Bedeutung? Oder ob Film als bewegte Bilderfolge auch mit Parkers Herumstehen auf der Straße zu seinem Recht kommt? Ob der Film folglich genau wie die warholschen Standbildfilme funktionieren könnte? Oder ob die abgefilmte Fortbewegung im Film für den Film tatsächlich essentiell ist? Würde die zeitliche Bewegung innerhalb der stillstehenden Aufnahme wie bei Warhol alleine genügen? Klar ist bis hierhin nur, dass die deleuzesche Bildkristallisation sowohl bewegten Stillstand als auch stillstehende Bewegung beinhalten kann. Es ist nur angemessen – als kleiner Gunsterweis an den Rezipienten womöglich – dass Allie Parker from here to there unterwegs ist. Der Film ist also immer noch Film, ja will bei Jarmusch immer noch Film sein. Seiner linearen Bilderreihe und der abgefilmten Bewegung auf/in ihr gleichermaßen gerecht werden. Auch wenn jede Szene bereits dabei ist, über diese lineare Struktur hinauszukippen. Und den Zuschauer dessen bewusst macht, in dem er sich schon allein ob der reduzierten Handlungsfolge irritiert fühlen kann. Die Langweile und die Unmotiviertheit sind bewußt gewähltes Stilmittel. Im übertragenen Sinne ließe sich auch sagen, dass, wie in Burens Bildern, auch in Jarmuschs Film »kein Drama auf der Darstellungsfläche«33 stattfinden muss, sondern es kommt einzig und allein auf »die imaginäre horizontale Linie«34 an. Diese Linie markiert den Zwischen-
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Ebd., S. 66. Ebd. Ebd. Ebd. 102
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raum, den Durchgangsort,35 die Passage ins Unendliche. Sie stellt somit den Übergang zu einem Transitraum sowie die Grundlage eines solchen dar. Bei Buren begegnen uns unzählige solcher Linien gerade auch in ihrer Vertikalität. Die Horizontlinie birgt dabei das breite Feld des unendlichen Fluchtpunkts für alle Vertikallinien. Die abgefilmten Transiträume fächern diese mögliche Tiefenbewegung in unzählige verzeitigte Perspektiven auf, die uns den Blick in die Bildtiefe noch vor dem Blick auf den Bildträger ermöglichen. Das Verbinden der verschiedenen Zeiten in der Retrospektive macht ein Konzept aus, das jeden linearen zentralperspektivischen Ansatz überholt. Der Fluchtpunkt wird hinfällig, seine eine Richtung wird mehrdimensional. Das Kunstwerk muss kippen und umklappen können, Wahrnehmungsschwellen erfahrbar machen – insbesondere retrospektiv. Zurückschauen ist hier also zugleich ein Vorausschauen. Der Blick soll vom Bild nicht einfach affiziert werden, viel eher soll das bewusste Spiel des Blicks mit Fläche und Raum des Bildes möglich werden, also schlichtweg offen sein bzw. bleiben. Cézannes Frage nach der Abschaffung der Perspektive im Sinne einer eingängigen Tiefenillusion setzt sich fort in der Frage nach der rezeptiven Bewusstwerdung der Fläche des Bildträgers in Kombination mit der Darstellung dreidimensionaler Gegenstände auf ihr. Die Kubisten sind bei einer Vervielfachung der Perspektive gelandet, was jedoch nicht deren Abschaffung meint bzw. meinen musste. Selbst eine dergestalt gelöcherte Fläche, mit einer Unzahl an möglichen Fluchtpunkten, durchbricht nicht die Tiefenillusion. Die andere Antwort hin zur Realität der Fläche war jene der Collagenarbeit. Doch ist diese als Bild dennoch nicht weit vom erneuten trompe-l’oeil entfernt: Ist die Zeitung wiederum gemalt oder echt? Echte Lösungen sind dies noch nicht. Die Ablenkung von diesen grundlegenden Fragen folgte nach Buren mit Duchamp, der
35 Joachim Paech schreibt über bewegte Bilder: »Indem sie erscheinen, entziehen sie sich.« Und fragt: »Wie kann die (entropische) Auflösung der (räumlichen) Formen in der Beschleunigung ihrer (zeitlichen) Bewegung ihrerseits als Prozeß und Form (als Figuration) beobachtet werden?«, da die permanente Veränderung des Bildes selbst ein Moment der Nullinformation darstellen würde. Das Bild zwischen den Bildern wird hier für ihn zum zentralen Angelpunkt. Vgl. Paech, Joachim: »Die Entropie der Bilder«, in: Karl Clausberg (u. a.) (Hg.): Video ergo sum: Repräsentationen nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1999, S. 309-319, hier S. 309 ff. Unscharfwerden und Wahrnehmungsveränderungen gehen mit diesen Bildern einher. Die aufgelöste Form wird zur zu beschreibenden Formfrage. Auch das leere Bild ist Bild. 103
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sie in gänzlich anderer Richtung verfolgte, nämlich in der Frage nach dem Ausgestellt-Sein an sich. Der Kontext kam, sah und siegte. Doch eigentlich war man noch beim cézanneschen Apfel stehen geblieben. Der Apfel verschwand nur unter der Bedingung, dass die Malerei selbst abgeschafft wurde bzw. werden konnte. Cézannes Frage danach, ob es möglich ist, die Malerei pur zu zeigen, ohne Abbildverweise und allein mit dem Träger als Rahmen, wird so zur Frage nach der Kunst als Visualität. Wenn der Kern dieses Gedankens mit Duchamps Urinoir darin bestand, Kontextverschiebungen bzw. -übertragungen zu erzeugen, dann war das allerdings selbst schon mit Cézannes Apfel geschehen. Der Apfel ist nicht mehr der Apfel im Sinne einer repräsentativ fundierten Kunst, er ist Farbfläche auf Leinwand und dergestalt wesentlich eindringlicher allen Kontextes beraubt (bzw. einen neuen eröffnend), wie es das Urinoir ein wenig zu plakativ verdeutlichen wollte. Ob Ort oder Träger, überall kann also diese Kontextverschiebung und Kunst-als-KunstFrage wie die altbewährte Faust ins als auch aufs Auge schlagen. Bei Cézannes schaut man vielleicht länger, der Schlag wird so aber nur umso eindringlicher: »Der Apfel gelangt ins Innere der Leinwand, das Urinoir ins Innere des Museums«.36 Duchamp wollte den einen Rahmen und Träger durch den anderen ersetzen, um so endlich von der Illusion fortzukommen. Doch das war der falsche Ansatz. Cézanne hatte erkannt, dass die Farbe als Farbe und die Leinwand als Leinwand ja gar nicht unbedingt fiktionieren mussten, sie konnten ehrlich ihre Funktion vortragen. Das Museum als neuer Träger wird jedoch auch nicht realer. Im Gegenteil: Seine fiktive ästhetische Arbeit und seine ökonomische Seite treten umso deutlicher hervor. Und noch mehr: In dieser ideologischen Arbeit haben wir eine perfekte Äußerung sämtlicher Perspektivtheorien der Renaissance. Das eine ideale Individuum, der perfekte Blick, Subjekt-Objekt-Abendland in all seiner Pracht. Duchamps thematische Wende wird folglich zur Rückwende für Buren. Das illusionistische Bild wird also direkt nur mit Cézannes Ansatz, Blickaffizierung oder nicht, befragt, und ein Teilaspekt ist dabei das Museum als Träger. Nicht mehr und nicht weniger.
Bewegter Horizont Photochemisches Laufbild und Dauer Wenn es hier nun um die kinematographische Bildbetrachtung geht, dann erst einmal im Sinne des photochemischen Kinos. Das auf der Basis von 36 Buren: Achtung!, S. 114. 104
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Licht und chemischen Prozessen entstehende photographische Bild ist selbst heute, im digitalen Zeitalter, der souveränste Filmträger. Es ist erwiesen, wie schwierig es ist, digitale Träger von einst heute noch zu entschlüsseln. Das photographische Bild birgt im Gegensatz dazu einen unermesslichen Vorteil: der einzige Gegenstand den es braucht, um es zu decodieren, ist das Auge. Ganz zu schweigen von der Haltbarkeit selbst ältester Photographien im Vergleich zu Disketten oder CD-Roms. Hält man eine Filmrolle in Händen, wird schnell klar: Man hält hier Material, welches »lebensnah«, analog, photochemisch funktioniert. Eine fast immer noch unbeschreibliche Variante dessen, was Roland Barthes in seinem Band Die helle Kammer37 für den photographischen Prozess beschrieb. Eine Wiedergabe des, ein Ähnlichkeitsverhältnis zum, irgendwann mal tatsächlich anwesend gewesenen Abwesenden: ein Index, eine Spur, die sich eingebrannt hat. Etwas Grundlegendes hinterlassen hat. Das Filmbild wie zuvor erwähnt als Derridasche Asche par excellence. So birgt es in sich genau den »reiche(n) Quell jener Strahlen […] damals, an jenem Tage.«38 Jenes, was Spuren hinterlassen konnte, hat sich mit seiner eigenen Somatik eingeschrieben, aufgeprägt. Ob Spiel- oder Dokumentarfilm ist dabei in der Übertragung auch in der kinematographischen Befragung ohne Belang. Es geht um den Vorgang des Einbrennens: In diesem ist auch die Fiktion real. Für Barthes ist diese Einbrennung die »Beglaubigung, dass das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist«.39 Folglich ein grundlegender Präsenz- und Existenzbeweis, der jedoch mit einem Paradoxon umzugehen hat, aber gerade dadurch existiert: Bild und Wirklichkeit, Virtualität und Aktualität, überlagern sich in besonderer Weise und machen Distanz und Nähe, Anwesendes und Abwesendes gleichermaßen spür- und erfahrbar. »Das schlichte Geheimnis der Gleichzeitigkeit«40 schwingt hier mit. Im Kino geschieht dies dann im speziellen Maße durch die aktualisierte Bewegung der Bilder. Man sitzt da und weiß, es ist gewesen, denn sonst würde man es jetzt nicht sehen können, und dennoch passiert es gerade eben, in diesem Moment, noch einmal und neu. Und anders, denn jedesmal ein anderes Sehen. Die Zeitschichtenüberlagerung nach Deleuze ist also bereits in der bartheschen Beobachtung jenes Simultaneitätsparadoxons enthalten. Folglich eben genau jenes es ist noch, aber es war auch gewesen nach Barthes’ Fototheorie. Die bergsonsche Dauer in ihrer einschlägigen Ausprägung wird spätestens hier von Belang. Eine Präsenz erfährt in all ihren Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsschichten 37 38 39 40
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Ebd., S. 92. Ebd. Ebd., S. 93. 105
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ihre Beglaubigung. Ihre paradoxe Dauer also. Jegliche lineare Zeitvorstellung implodiert dabei von selbst. Alle kausale Macht wird außer Kraft gesetzt, es gibt weder ein deteminiertes noch ein determinierendes Verhältnis. Und ein Code im Sinne einer Übersetzungsregel ist hier nicht mehr notwendig. Die Ursache-Wirkungs-Folge ist schon längst fragwürdig geworden. Die Spuren werden gefunden und konstruiert zugleich. Und sie drängen sich auf, schreiben sich ein. Die Somatik, der Spürsinn, auch im Sinne des Aufspürens des punctums bei Barthes, arbeitet hier mit. Und dies eben besonders in jenen des Transitkinos, in seinen Fahrten genauso wie in seinen verzögerten Stadtgängen.41 Punctum und studium prägen die Rezeption eines fotografischen Bildes nach Barthes, der sich in der Hellen Kammer auf die Suche nach dem Wesen der Fotografie macht. Die Anziehungskraft, die ein Bild bzw. ein Element eines Bildes auf ihn ausübt, wird dabei zum Leitfaden seiner Untersuchung. Das studium als erstes Element, das im Foto zutage treten kann, beinhaltet all das, was der Rezipient im Zusammenhang mit seiner Kultur wahrnehmen kann. Es ist für Barthes im Sinne des Begriffes studium, etwas, das ohne besondere Beteiligung interessiert. Ganz anders dagegen das punctum. Dieses zweite Element der Fotografie durchbricht das erste. Es ist etwas, das den Betrachter unmittelbar ergreift, wenn nicht sogar erschreckt. Barthes setzt es mit einer Verwundung gleich, mit etwas Zufälligem, dem man sich nicht zu entziehen vermag. Der Begriff der Verwundung, auch übersetzbar im Sinne einer Fleischwerdung der Bildzeichen, war uns bereits bei Didi-Huberman begegnet. Bei Barthes befinden sich punctum und studium im fotografischen Bild dennoch in Koexistenz. Eine Parallele lässt sich nun schon allein aufgrund ihrer schwankenden theoretischen Fassbarkeit zwischen stumpfem Sinn und punctum erkennen, jedoch ist ersterer filmspezifisch an die barthesche Diegesis gebunden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass in der Hellen Kammer das punctum mit einer lebendigen Unbeweglichkeit verglichen wird.42 Der Schwellen- bzw. Schwebebegriff, 41 Es darf hier natürlich nicht außer acht gelassen werden, dass sich Barthes zu Beginn von Die Helle Kammer explizit gegen das Kino ausspricht. Dies rührt in erster Linie aus seinen vorhergehenden Studien über das Standbild in Verbindung mir dem stumpfen Sinn und später dem punctum. Beide sind für ihn nur in den stillgestellten Bildern zu finden, ja gar wahrzunehmen. Die laufenden Bilder waren für ihn hier erst einmal ein auszuschliessendes Problem. Dass sich seine Studien jedoch auch mit dem Bildfluss verbinden lassen, eben auf diesen übertragbar sind, dies ist etwas, was diese u.a. Arbeit zeigen möchte. Sie profitiert dabei natürlich von den deleuzeschen Arbeiten, der durch sie hierfür das Feld geebnet hat. 42 Vgl. Barthes: Kammer, S. 59. 106
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auf den wir noch näher eingehen werden, in einer anderen Variante folglich. Dies ist das punctum des Details, das seinen Betrachter aus dem Foto heraus nahezu anspringt. Ein anderes punctum gibt es dennoch: Es ist das der Zeit, der Dichte, als das Bewusstsein des »Das-wird-sein und das-ist-gewesen«.43 Das photochemische Bild passt sich hier also perfekt in die Funktion einer Aufbewahrungsstätte ein. Es leistet Gedächtnisarbeit, ja, wird selbst Gedächtnis. Die Wahrnehmung der laufenden Bilder kann so als Erinnerungskatalysator dienen. Das Erlebnis als Spur wird gleichsam während der Filmrezeption »aufgerufen«. Der Ähnlichkeitsgrad geht durch die Fläche gerade nicht verloren. Es kommt eher auf die Prägnanz des Erlebten an, was meist bei Tempoerfahrungen nicht zu unterschätzen ist. Und insofern werden mit dem Sehen der Fahrtbilder eigene Intensitätserfahrungen verbunden. Das Sitzen im Kinosessel macht das Gefühl, in einem Transportmittel zu sitzen umso leichter zugänglich. Kino wird zum Fahrzeug. Wenn bei Virilio die »Fahrt […] ein langer Blick (ist), wo Ort und Auge etymologisch verschmelzen«,44 dann ist es bei Jarmusch das Gehen Parkers. Im kinematographischen Gehen und Sehen kommen Ort und Auge zu einer grundlegenden besonderen Verbindung.
Horizontlinie und Transitraum Peter Bexte beschreibt die Transitstrecke als einen Raum zwischen A und B bzw. von A nach B. Eine gerade Linie, in der ein Abbiegen erst mal nicht mit einkalkuliert sein muss: »Es sind eindimensionale Gebilde, sture Richtungspfeile. Ihr Weg führt durch ein Gebiet, dessen eigener Name es für transitorisch, d. h. wegfallend, erklärt. So ergibt sich das Paradox eines Raumes, der sich selber durchstreicht und als ein bloßes Trans immer schon über jeden Berührungspunkt hinaus ist. In Transitstrecken kann man nur immer weiter fahren.«45 Die Bewegung wird folglich von diesen Räumen gefordert. Sie sind kein Ort im Sinne eines Sammelbeckens, in welchem alle Bewegung vermeintlich anzukommen scheint. Es gibt hier nur den Übergang und das Hindurchgehen. Das Ankommen ist Durchgang geworden. Man kann sich nur immer weiter fortbewegen, Stillstand soll weitestgehend ausgeschlossen werden. Und eine Umkehr ebenso. Insofern unterscheiden sich nach Bexte diese teils erzwungenen Fluchtwege grundlegend vom Odys43 Ebd., S. 105. 44 Virilio: Horizont, S. 144. 45 Bexte, Peter: Transitstrecken. Eine Philosophie der Relationen nach Michel Serres (Online: www.momo-berlin.de/Bexte_Serres.html, 20. Mai 2008). 107
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see-Motiv der Heimkehr, in dem das Verweilen, Pausieren und Warten genauso zu ihrem Recht kommen: »Unendlicher Verkehr ist eine moderne Erfindung. Aus der antiken Welt kennt man die Kombination der Termini »Unendlichkeit« und »Weg« allenfalls als das Gegenteil von Verkehr: als Beweis der Unmöglichkeit von Bewegung.«46 Zenon von Elea hatte einst diesen Beweis erbringen wollen. Ihm zufolge teilte sich im Falle einer Bewegung die zurückgelegte Wegstrecke in unendlich viele Punkte. Von Punkt A nach Punkt B zu kommen würde sich also in unzählige Punkte potenzieren lassen, so dass für ihn letztendlich klar zu sein schien, dass Fortbewegung überhaupt nicht möglich sein könne, da die permanente Punktteilung einzig den anhaltenden Stillstand möglich mache. Der Raum ist für Zenon immer derart angefüllt mit Punkten, im certeauschen Sinne also Orten, dass eine Raumbewegung gar nicht erst vollziehbar erscheint. Der Ort stellt still, macht fest, hindert den Lauf. Für damalige Mathematik logisch gedacht, birgt dieses offensichtliche Paradox dennoch einen Verständnisansatz für heutige Raumtheorien. Nach Certeau ist der Gang durch den urbanen Raum, der sich an Horizontallinien orientiert, unverstellt, er entzieht sich jeglichem fiktiven Machtanspruch der vertikalen Sicht von oben. Auch Zenon widerstrebt die panoramatische Übersicht, er schreitet eine Strecke horizontal ihrer Länge nach ab – selbst wenn er dieses Gehen noch so gern leugnen möchte. Doch wo in der Antike mit Zenon die Verbindung aus Unendlichkeit und Weg vermeintlich zu einer Anti-Bewegung führte, gab es dennoch bereits einen Ansatz, der dem unendlichen Rasen und Beschleunigen der Moderne sehr nahe kam. Hermes als Gott der Kommunikation und des Transits, der Diebe und Wegelagerer ist genau jener Ursprungsmythos, auf den sich alle modernen Phantasmagorien des Fortbewegens und Reisens stützen können. Ein Teilaspekt eben jener conditio humana des Kapitels II. Doch selbst Zenon scheint heute angekommen zu sein. Die Wege ließen sich nun mal nicht ewig leugnen. Bexte hierzu: »Das Paradox des Zenon gilt heute als gelöst: durch Infinitesimalrechnung und neuerdings durch die Mathematik der Fraktalen, in der es unendlich lange Wege gibt, die dennoch zu einem Ziel führen.«47 Die gebrochene Horizontlinie, der verzweigte Transitraum ist eine Thematik, die neu zu erschließen ist. Hermes als griechischer Gott der Zwischenräume, der Überbrückungen und Lückennutzungen wäre der perfekte Transitreisende unserer Tage. Auch die Querverbindungen und Kreuzwege wollen beachtet werden. Ihr Schaffen von Übergangs- bzw. Schwellensituationen ist grundlegendes Motiv für jede, selbst noch so linear geplante, Bewegung. Das Nicht-Einsehbare, das Außerhalb moti46 Ebd. 47 Ebd. 108
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viert schließlich jede Bewegung. Als Übergänge und Falten im serresschen Sinne bilden sie anachrone Knotenpunkte. Schwellen also, die gegen jegliche lineare Ordnung ankämpfen. Der logische zeitliche Ablauf tut an diesen Stellen nicht mehr viel zur Sache. Jegliche Chronologie erfährt hier erstmals ihr Umsetzung aufgespalten in unzählige Perspektiven und ihre Brüche, – ein uns mittlerweile bereits bekanntes Motiv unterschiedlichster Raum- und Zeitebenen. Ein Beispiel für einen solchen Raum nennt Bexte: »Die Nordwest-Passage ist das Bild eines gefalteten Transitweges. Er existiert, und er existiert nicht. Hermes und Zenon, Hand in Hand. Der Widerspruch des Paradoxalen, der darin liegt und das konjunktive »und« zum Gegensinn verkehrt, dieser Riss ist ein getreues sprachliches Abbild des gemeinten Sachverhaltes: einer Falte des Raum-Zeit-Gefüges, wo der Weg zerbricht, das Datum sich verdoppelt.«48
Stefanie Wenner schreibt in ihrer Arbeit Vertikaler Horizont49 über die Definitionsgewalt des Horizonts für unser Körper- und Selbstbild, die nicht zuletzt auch in jeden Autobahndiskurs hineinspielen muss. Das Rasen im unendlich Unerreichbaren, um des zugleich unendlich verzögerten Ankommens Willen, ist ein möglicher Katalysator der Autobahnfahrt. Gerade in der ungeteilten topographischen Linienarbeit der Wahrnehmung, jener des Horizonts genauso wie jener der Bahnen des Fahrens, wirkt ein ungebrochenes Feld phänomenologischer Fragen fort. Die Wahrnehmung des Horizonts gilt als eine Bedingung der Beschleunigung. Im Fahrtfensterblick ergibt sich die Kondition einer neuen Sehweisenerfahrung: »vorbeirauschen, ohne zu fixieren, immer in der Reflexion der Bewegung, der Versuch, die Abstraktionsleistung, der die Geschwindigkeit des maschinell beschleunigten körperlichen Ortswechsels bedarf, zu vollziehen.«50 Auch für Wenner wird die Horizontlinie durch derartige Erfahrungen eine Referenz auf die Bedingungen von Beschleunigung an sich. In Folge des neuen Weltbildes des 14. und 15. Jahrhunderts sah sich der Mensch der Neuzeit einem geöffneten unendlichen Horizont gegenüber, dessen Unüberschaubarkeit schönste und grausamste Anregung zugleich war. Mit Merleau-Ponty betrachtet Wenner jedoch Horizonthaftigkeit im Sinne einer Struktur, die nicht einzig auf einen Fluchtpunkt gerichtet ist. In dieser treten sowohl vertikale als auch horizontale Staffelungen auf. Wichtig bleibt dabei ihre Gebundenheit an den menschlichen Körper. 48 Ebd. 49 Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Zürich: diaphanes 2004. 50 Ebd., S. 11. 109
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Dieser wird letzten Endes im phänomenologischen Verständnis als eigentlicher Horizont, als Öffnung zur Welt, verstanden. Der Horizont der Ferne als horizontaler sowie der vertikale Horizont als Horizont der Nähe stellen sich als Dualitäten dieses einen Horizonts dar. Als Grenze des Sichtbaren arbeitet erster eher bildlich, letzter eher kartographisch. Der Horizont der Ferne ist dem Auge und Erfahrungen auf Distanz zugeordnet, jener der Nähe den Tast- und Hörorganen. Territoriale Erfahrung funktioniert also von Grund auf unterschiedlich in diesen beiden Wahrnehmungsbereichen. Doch Wenner versucht in ihrem Entwurf des vertikalen Horizontes diese beiden zusammenzuführen: das Hier des Leibes verbunden mit dem Dort des visuell wahrnehmbaren Außerhalb der Ferne. Auch die Beschleunigung kann das Horizonthafte der Wahrnehmung nicht auflösen, wir können nur mit der eigenen Verortung darin, und der sich an sie anschließenden Ausschnitthaftigkeit, beide Seiten verbinden. Folglich die körperliche Situiertheit in der Unendlichkeit gleichermaßen einsetzen, um selbst im Fernen eine Näherung herbeizuführen. »Foucault spricht übergangslos davon, dass wir uns in der Epoche des Simultanen, in der Epoche des Nahen und Fernen befinden, woraus sich schließen lässt […]: Dinge geschehen gleichzeitig, das Abwesende ist anwesend, das Unsichtbare im Sichtbaren gegenwärtig. Die gleichzeitige Anwesenheit des Nahen und des Fernen ließ sich schon durch die Technik der Zentralperspektive bildlich darstellen.«51
Der Horizont erscheint hier als das perfekte Zwischenglied, das weder Anfang noch Ende kennt. Er hält die Waage innerhalb aller Relationen. Der negative Horizont bei Paul Virilio52 ist ein, durch die Beschleunigungsmittel, uns entgegengewölbter Horizont. Durch das gewaltsame anhaltende Vordringen in Richtung Fluchtpunkt erfährt der Raum eine Zuspitzung sowie seitliche Dehnung zugleich, die eine Horizontlinie so sehr allein in diesem Ausschnitt ins Visier nimmt, dass sie ihre, auch plane und gedehnte Wahrnehmung, nahezu verunmöglicht. Ein Beispiel dafür ist die Wüste mit ihrer, automotorische Träume anziehenden, landschaftlichen Leere. In ihr scheint der Traum der absoluten Geschwindigkeit verwirklicht werden zu können. Der Raum dient hier als »Projektionsfläche des Lichtes der Geschwindigkeit«53, so dass eine beschleunigte Perspektive einer Lichtquelle vergleichbar wird: 51 Ebd., S. 162. 52 Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt am Main: Fischer 1995. 53 Ebd., S. 182. 110
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»Das verzerrte Bild des Weges erzeugt eine verstärkte Tiefenwirkung, was wiederum eine optische Begradigung zur Folge hat, die einer Begradigung durch flach einfallendes Licht vergleichbar ist. Das Vehikel überträgt seine vektoriellen Eigenschaften auf die Gegenstände an seinem Weg; man kann somit, wie in der Dunkelkammer oder im Spiegel, von einer Umkehrung sprechen. Einerseits entsteht der Eindruck, die reflektierenden Gegenstände wichen zurück, während sie doch an Ort und Stelle bleiben und das Automobil sich vorwärtsbewegt, andererseits sind die Ebenen, denen man sich nähert, scheinbar in schneller Bewegung befindlich, während die weiter entfernten Ebenen unbewegt wirken.«54
Mithilfe des so genannten Pultrich-Effekts nimmt man dabei die dritte Dimension nur wahr, wenn das eine Auge ein in Bezug auf das andere Auge verzögertes Bild sieht. Die Horizontlinie selbst bildet hierbei die schlichte Bedingung jeder Beschleunigung. Das Fahrzeug als Sehprothese verwandelt das Gesichtsfeld in ein kinetisches. Diese horizontale Geschwindigkeit verlängert die Bahn. Weshalb Virilio hier allerdings von einer falschen Perspektive spricht, ist nicht nachvollziehbar. Viel eher könnte man von einer gesteigerten Perspektive sprechen, denn der Fluchtpunkt und die auf ihn zu fliehenden Linien werden beibehalten und sind nach wie vor einziger Orientierungpunkt für das Tempo. Die Perspektivkonstruktion erlebt hier eine unaufhörliche Steigerung. Virilio meint jedoch, dass durch die geschluckte Zeit und Distanz die Tiefe verschwindet. Der Raum wird für ihn flach, deshalb falsche Perspektive. Dies bezeichnet er als negative Horizontwahrnehmung bzw. lokomotorische Täuschung.55 Vergleichbar wird diese Perspektive aufgrund des distanzierten Vorübergleitens der Bilder vordergründig mit jener der kinematographischen: »Die Faszination durch den negativen Horizont, Höhepunkt der Versteppung, ist gleichbedeutend mit der Erschöpfung der letzten Quelle an Raum, der Leere. Der Wille zur Macht ist somit hier Wille zur willkürlichen Verdichtung der Tiefenschärfe.«56 Da Virilio allerdings die beschleunigte Perspektive gleichsetzt mit einer, insbesondere durch die Raumdehnung im Gesichtsfeld hervorgerufenen, verzerrten Perspektive, ist die Parallele zum Kino nicht sehr tragfähig. Durch das Fotomodul des Kinos, die wählbare scharfe Kameraarbeit, ergibt sich im Kino eine andere Möglichkeit, schnellstbewegte Fahrtaufnahmen zu sehen. Im Fahrzeugblick ist das In-der-Welt-Sein dennoch durch die Rundumbescheibung gegeben, was in der einen Leinwand des Kinos doch viel reduzierter der Fall ist. Hier ist es zuerst ein54 Ebd., S. 183. 55 Ebd., S. 197. 56 Ebd. 111
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mal das Vor-der-Welt-Sein, das jedoch wandlungsfähig allein schon durch die haptischen Sehwahrnehmungen werden kann, und mit Hilfe der Kamera wahlweise verzerrt oder nicht verzerrt erscheint. Das vorüberziehende Bilddispositiv entsteht zwar durch die natürliche sowie künstliche Fortbewegung, geht aber über den reinen Bootsfahrtmotivvergleich jener der kontinuierenden Darstellungen hinaus. Doch es bildet deren vektorielle Grundlage im Sinne eines Transfers, ob von A nach B oder von einem Bild zum anderen, sozusagen auf handlungstechnischer wie auch auf materieller Ebene des Films ab. Der Horizontbegriff wird somit grundlegendes Muster des Transitraumdispositivs. Das Wuchern aller Linien, ob in der Horizontalen oder Vertikalen, wird in den heutigen Architekturbeispielen zum Paradigma schlechthin. In der Fluktuation dieser Linien zwischen Beschleunigung und Stillstand, Ankunft und Abfahrt, Außer- und In-Sich-Sein in der Wahrnehmung heutiger Reisender, gibt es nur den Horizont als einzige Orientierungshilfe. Er wird vielleicht verschoben und geöffnet in unzähligen Variationen der sich bietenden Sehweisen der Passagiere inmitten architektonischer und technischer Gegebenheiten, dennoch bleibt er ein Bestehendes. Obwohl er sich in den heutigen Trans(it)formationen der Räume zugleich entziehen muss. Das auratische Moment des Horizonts, im Erscheinen einer Ferne sowie einer Nähe, ist offenkundig instrumentalisiertes Gewerbe für Räume heutiger Fortbewegungsfunktionen geworden. Das Vermögen, eine Distanz und Nähe zugleich zu empfinden ist nicht nur Teilaspekt jener zuvor genannten Aura, sondern eben auch Teil jenes Erhabenen, das gerade auch in seiner Bildwerdung im Film neue Momente eines puren Visuellen nach Didi-Huberman aufzureißen vermag. Der Ort klafft in den Transiträumen, Verortungen werden immer im Zwiespalt gehalten, und die bewegte Fotografie jener Orte trägt genau dieses Moment in ihrem kinematographischen Bildfluss noch zusätzlich fort. Der Filmraum klafft dabei genauso in all seinen Fahrtsequenzen, wirkt angerissen und macht sich zum permanenten cache der Kameraaufnahme. Der Kunstdiskurs des Now, die Arbeiten der Avantgarde zu Fragen der Aufmerksamkeit und Rezeption, zu Ereignismoment und Situation, eröffnen sich heute erneut in diesen funktionalistischen Alltagsräumen und den durch sie hervorgerufenen Bewegungsanwendungen unter anderem in ihren filmischen Übersetzungen. Wir selbst geraten durch sie in den Zustand einer anwesenden Abwesenheit, eines stillstehenden Fortgetragenwerdens, selbst auf der einfachsten Ebene der bewegten Abbildungen. Im Aufeinandertreffen von vertikaler und horizontaler Linie, in ihrem Schnittpunkt, ist genau jener Schwellenpunkt einer Wahrnehmung
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erreicht: Nahes und Fernes werden simultan wahrgenommen, überlappen sich gleichsam. Vielleicht öffnet sich hier eine neue Raumvorstellung, die gerade erst infolge des abrupten Aufeinandertreffens bzw. Zeitstillstands ermöglicht wird. Zeit- und Raum-, Nah- und Fernschnittstellen treffen aufeinander. In diesen Schwebesituationen kommt das Lineare nicht einfach an einem Punkt bzw. Ort an, sondern verharrt in einer Schwebe, wo Raum und Zeit neu erfasst werden können. Die Wüste als Beispielbegriff eines örtlich uneindeutigen Raums wächst mit der neuen beschleunigten Zeitordnung. Ihre Horizontlinie kann Auffangfläche unzähliger Bewegungslinien sein.
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TRAVELLINGPANORAMIEREN: BARTLEBY UND ALLIE PARKER
»Es gibt also von der Bewegung und Veränderung soviel Arten wie vom Seienden. Indem nun in jeder Gattung des Seienden das Mögliche von dem Wirklichen geschieden ist, so nenne ich die Wirklichkeit des Möglichen, insofern es möglich ist, Bewegung. […] Die Vollendung (Wirklichkeit) also des in Möglichkeit Seienden, sobald es in Wirklichkeit seiend tätig ist, nicht insofern es selbst (wirklich) ist, sondern insofern es bewegbar ist, ist Bewegung.«1
Herman Melvilles Bartleby bei Deleuze und Agamben Herman Melvilles Figur des Kanzleischreibers Bartleby aus der gleichnamigen Kurzgeschichte2 scheint in einer verwandten Beziehung zu Jim Jarmuschs Filmfigur Allie Parker zu stehen. Letzteren möchte dieses Kapitel im Sinne einer Übersetzung und filmischen Erweiterung der melvilleschen Figur deuten. Eine Übersetzung also in den Stadtfilm der achtziger Jahre, und zugleich eine figurative Transition in einen Filmstoff sowie in das Filmmaterial im Sinne des Wahrnehmungspotentials von Bewegungsbildern. Die Existenz eines Laufbildes folglich, das selbst noch einmal Bewegung spiegelt, repräsentiert und neu sicht- bzw. erfahrbar macht.
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Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 5, Buch 11. Hamburg: Meiner 1995, S. 236. Melville, Herman: Bartleby, in: ders.: Vortoppmann Billy Budd. Leipzig 1956, S. 26-80. 115
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Die bartlebysche Nicht-Ort-Situation Gilles Deleuze beschreibt in Bartleby oder die Formel3 den Ausgangspunkt der bartlebyschen Aussage, eben jenes »I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht«4 als zugleich »sanft«, »geduldig« und »ans Unerbittliche grenzend«.5 Es ist performative Gewaltausübung und sich jeglichem Handeln entziehender Rückzug. Bartleby ist der Verweigerer, der sich sogar den Verweigerern verweigert. Er befindet sich, anknüpfend an den französischen Philosophen François Jullien, in einer Situation des »Handelns ohne zu Handeln«6, in einem Zustand des In-der-SchwebeHaltens, und nicht bloß des In-der-Schwebe-Seins. Übersetzt man die bartlebyschen Nicht-Aktionen mit Jullien, dann könnte man sagen, dass es erstmals um die Möglichkeit des Lassens – im Gegensatz zum westlichen Denken – als aktiver Form geht. Das Lassen geht über jegliche Entscheidung hinaus, entzieht sich binären Kategorien sowie allzu eindeutigem Aktions-, Handlungs- bzw. Fortschrittsdenken und -glauben. Es muss nicht glauben, um zu wissen. Und es muss sich auch nicht für etwas entscheiden, außer für die Verweigerung einer Entscheidung. Deleuze vergleicht dieses Nicht-Handeln damit, »eine Unbestimmtheitszone wachsen« zu lassen.7 Trotz aller Unbestimmheiten ist die Verweigerung dennoch eine ganz konkrete, eine nahezu mathematisch unauflösbare Formel, eine, die ihren eigenen Widerspruch mit einschließt, beinhaltet und dergestalt unterstützt. Es ist etwas sehr Pragmatisches, was hier so unpragmatisch erscheint. Allein aufgrund dieser Äußerung stösst Bartleby in der melvilleschen Erzählung in seinem Arbeitsumfeld zuerst auf Verblüffung, dann auf Ratlosigkeit, später auf zunehmenden Wahnsinn und Verunsicherung. Sein Chef möchte ihm helfen und will ihm zugleich entfliehen: Mitleid und eigenes Leid gebären sich aus einer minimalen Aussage. Die Erklärungsversuche wallen darauf ins Unendliche, doch allein das Unerklärliche daran scheint die Erklärung zu sein. Bartleby wird gegen Ende der Erzählung nicht nur die Arbeit verweigern. Er wird sich auch nicht mehr fortbewegen wollen, wird das Bürohaus nicht verlassen wollen, und wird zu guter Letzt auch noch das Essen verweigern – dann allerdings schon in Haft sitzend. Er stirbt, seinen Chef, der ihn mittlerweile nahezu verehrt, gebrochen zurücklassend. Dieser Chef, der Anwalt, ahnt, dass hier etwas für die Menschheit 3 4 5 6 7
Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel. Berlin: Merve 1994. Bartleby wird hier in der Übersetzung von Elisabeth Seidel angeführt, in: Herman Melville: Vortoppmann Billy Budd. Leipzig 1956, S. 26-80. Deleuze: Bartleby, S. 8. Jullien, François: Über die Wirksamkeit. Berlin: Merve 1999, S.129. Ebd., S.20. 116
TRAVELLINGPANORAMIEREN: BARTLEBY UND ALLIE PARKER
Großes, und dies doch in kleinsten Äußerungen, passiert sei. Etwas, das sämtliche gesellschaftliche Ordnungen ins Wanken bringen könnte. So auch die Sichtweise Melvilles selbst. Das einzige, was der Anwalt nach langen Nachforschungen über seinen Angestellten in Ermittlung bringen kann, ist, dass Bartleby zuvor bei der Post beschäftigt war – in der Abteilung für unzustellbare Briefe, der Dead Letter Office. Er hatte über Jahre hinweg den Verlust von Handlungsfähigkeit, das Unmöglichwerden von Arbeit und Kommunikation, hier im Sinne von nicht-funktionierender Postzustellung, ertragen. Das Nicht-Zustellen-Können im Spannungsfeld des Wollens, aber nicht Könnens. Wie es dementsprechend all diese Briefe ins Nichts verdeutlichen. Botschaften, die nie überbracht werden können – vielleicht ist Bartleby auch als ein Speicher all dessen zu sehen: »On errands of life, these letters speed to death. Ah, Bartleby! Ah, humanity!«8, wie die Erzählung im englischen Original vieldeutig endet. Seine Aufzeichnungsarbeit in der Kanzlei war vielleicht der letzte Versuch, eine oberflächliche, doch wenigstens sinnvolle Tätigkeit zu betreiben – und dies gerade in einer wahnhaft-arbeitsamen Weise: Er konnte hier endlich einmal etwas erledigen, war also nicht wie zuvor in der eigenen Arbeit verhindert. Und konnte sich somit nahezu reinigen von all dem Unmöglichen, dem er sich zuvor ausgesetzt sah. Zu Beginn der Erzählung schreibt Bartleby wie ein Berserker, stürzt sich von einer Arbeit in die nächste und geniesst die eingängige Ablenkung. Doch vielleicht waren die Briefe dennoch zu viel für ihn, vielleicht hatte er sie schon vollständig absorbiert. Sie in sich aufgenommen, um sie dergestalt am Leben zu erhalten, um ihnen nicht zuletzt ein minimales Ankommen zu ermöglichen. Doch letztlich konnte Bartleby nur mehr selbst beim Unzustellbaren ankommen, beim I would prefer not to. Vielleicht war er selbst längst all diese Briefe geworden, gleichsam die Arbeit mit dem und im Ungewissen. Eine Spannung, die schwer dauerhaft zu ertragen sein kann. Eine Spannung zudem, die versuchte, sich mit dem eigenen Schreiben, wenn es auch nur eine Kopierarbeit war, vielleicht über eine gewisse Zeit zu erleichtern, bis eingestanden werden musste, dass selbst dies keine Erleichterung mehr brachte. Ein Nicht-Mehr-Fortbewegen-Können, nur mehr ein Lagern, um dann irgendwohin abtransportiert zu werden, zum ungewissen Verbleib oder langsamen Vergilben – das ist es, was Bartleby an sich selbst vollzogen hat. Seine Linderung findet er also nur in der eigenen Auflösung, so wie auch die abgelagerten Briefe einmal zerfallen werden – mit all ihrem Potential, doch ohne Handlungsfolge. Eine Schwebe- und Schwellen8
Melville, Herman: Bartleby. London: Penguin 1995, S. 47. 117
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situation, die sie dergestalt fürs Unendliche aufgemacht haben. Ein Unendliches, das nur unendlich ist, da es nicht ankommen darf bzw. kann. Der offene Horizont im besten und gebrochensten Fall folglich. Wenn der dahingeschiedene Bartleby von seinem Chef als der »letzte Pfeiler der Menschlichkeit« bezeichnet wird, dann ahnt man, wie weit es gekommen ist. Bartleby hatte lange gelitten, er hätte seine Arbeit machen können, aber er konnte nicht die Augen verschließen, er hat alles gesehen, alles wahrgenommen, hat es an sich heran gelassen – und dieses unermessliche Potential ließ sich nicht anders auflösen als in einem gewählten Aufrechterhalten des Zwiespalts. Sein would prefer ist ein letzter Manierismus-Versuch, dem er selbst vielleicht gar nicht mehr habhaft war bzw. sein konnte. Eine verzweifelte und doch stolze Spielerei im Unauflösbaren. Aussagen machen, ohne es zu können, zittern, ohne zu dürfen, hinsetzen, ohne anzukommen: weit und breit keine Ruhepole für Bartleby innerhalb der narrativen Linie. Die Nicht-Ort-Situation in einer literarischen Vorlage also par excellence. Auf unseren heutigen Flughäfen täuschen die Sitzflächen vor, zum gemütlichen Verweilen da zu sein. Was sie aber letztlich nur andeuten, nicht tatsächlich ermöglichen wollen. Selbst an Wände kann sich hier niemand mehr lehnen, dafür sorgen unter anderem dezent schlecht verlegte Rohre an den unteren Wandrändern,9 die ein Stehen und Anlehnen ohne Verbiegen nahezu verunmöglichen. Selbst Wände sind hier keine Wände mehr, sondern Maßnahmen, die das Anlehnen und dergestalt Ausruhen unterbinden. Man könnte ja womöglich Bleiben wollen. Bartleby ist also die Figur des Nicht-Handelns- und zugleich Verweigern-Könnens schlechthin – mit all ihrem ungenutzten Potential, das nur mehr Gefahr laufen kann, in sich selbst zu implodieren. Wie lange sollte auch eine Schwebesituation auszuhalten sein? Auch die bewegten Transitbilder innerhalb der Schwellensituationen des Films müssen irgendwann einmal ankommen, wenn auch im Stillstand. Bartleby spricht die Formel aus, die jedes weitere Handeln, und jede lineare zielgerichtete Fortbewegung, zurückweist: Er möchte lieber nichts als irgendetwas folglich. Doch dies ist nicht als nihilistischer Wille zum Nichts zu deuten, sondern eher als die Zunahme einer Willenlosigkeit an sich. Keine Ursache-Wirkungs-Logik, sondern eher eine des Bevorzugens der vermeintlichen Grundlosigkeit. Einer, der eben das tut, was er tut, einer »der nur seine Promenaden zu machen hat, und es damit
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Für diese Beobachtung am Dubaier International Airport danke ich der Leipziger Ethnologin Anja Hümmer. 118
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genug sein lässt, der sie dafür aber an jedem Ort der Welt machen könnte.«10
Travelling und Panoramieren als Bewegungsfiguren Unentscheidbares und Unbeschreibliches vermischen sich dabei. Nach Melville ist Bartleby ein Original, das sich von anderen bemerkenswerten Figuren unterscheidet, da es nicht dem Einfluss seiner Umgebung unterliegt. Er ist Verkörperung eines »stationären Prozesses«11 im Sinne eines sitzenden »Panoramierens«12 nach Deleuze. Die andere originäre Figur bei Melville wäre demnach Kapitän Ahab als das Rasen, die zu schnelle Bewegung. Folglich das »Travelling« als Ausübung einer »unendliche(n) Geschwindigkeit«.13 Für Deleuze stellen diese beiden Bewegungsfiguren zwei Seiten bzw. Elemente eines Rhythmus dar. Sie sind Stationen und Fließmomente einer Bewegung. Übertragen auf den Film sind sie das godardsche Und, das den bewegten Bildfluss und sein Dazwischen innerhalb der narrativen Materie immer mitzudenken versucht. Nur im Schwarzbild zwischen der Projektion der Bilder, genau in diesem Nichts, in diesem Übergang zwischen den Bildern, liegt nach Godard die Bewegung. Das Und macht erst den Film und die filmische Wahrnehmung möglich. Nicht das einzeln projizierte und kurz stehengelassene Bild. Deleuze geht sogar soweit in seinen Kinoverweisen, dass er folgende Frage aufwirft: »Was meint Jean-Luc Godard, wenn er im Namen des Kinos behauptet, dass es zwischen einem Travelling und einem Panoramieren ein ›moralisches Problem‹ gibt?«14 Anscheinend besteht zwischen den beiden eine grundlegende Differenz, die sich bis in den Themenbereich der filmischen Kamerafahrt erstreckt. Es geht um das Werden von Wahrnehmung, die das Travelling und das Panoramieren einander wechselseitig überlagern und austauschen lässt, hin zu »eine(r) Moral des Lebens, in der die Seele sich nur erfüllt, indem sie den Weg ohne weiteres Ziel einschlägt, allen Kontakten ausgesetzt, dabei niemals versucht, andere Seelen zu retten, sich von denen abwendet, die einen zu autoritären oder allzu wimmernden Klang erzeugen, und mit ihresgleichen selbst
10 11 12 13 14
Deleuze: Bartleby, S. 21. Ebd., S. 44. Ebd. Ebd. Ebd. 119
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flüchtige und nicht-entschlossene Akkorde bildet, ohne andere Vollendung als die Freiheit und stets bereit, sich zu befreien, um sich zu vollenden.«15
Vielleicht beginnen diese neuen Verwandtschaften erst mit der Einkehr der Leere. Eine Wahrnehmung, die erst in ihrer Verlassenheit (Deleuze spricht immer wieder vom Tod des Vaters) neues Vertrauen schöpfen kann im Sinne eines Selbst- als auch Weltvertrauens. »Und um was bat Bartleby den Anwalt, der ihm mit der Nächstenliebe, der Philanthropie, mit allen Masken der Vaterfunktion antwortete, wenn nicht um ein wenig Vertrauen?«16 – Bartleby wird für Deleuze der eigentliche Held des Pragmatismus.
Dynamische Übergänge: Kontingenz und Immanenz In Bartleby oder die Kontingenz17 stellt Giorgio Agamben die Frage nach dem Willen und seinen Äußerungen in den Vordergrund. Für ihn geht es nicht darum, ob Bartleby will, es gibt schlicht keinen eingängigen Bezug zwischen Können und Wollen in Melvilles Erzählung. Potenz und Akt laufen sich hier nicht notwendig zuwider, viel eher begründen sie eine Transformation und Vermischung ihrer beiden Bereiche. Die vollkommene Potenz wird so erst im Nicht-Akt erkennbar: Bartleby eben als der Schreiber (scrivener), der nicht schreibt. Der Übergang vom Möglichen zum Wirklichen ist es, den er in der permanenten Schwebe zu halten weiß. Und so erst erfährt gerade dieser Übergang, diese Schwelle, ihre ganze Potenz. Allie Parker tut das Gleiche für die Filmhandlung. Während er durch die Straßen streift oder in ihnen lungert, hält er zugleich alle Möglichkeiten seines Gehens, seiner Fortbewegung, offen, er potenziert diese sogar. Gerade in seinen Nicht-Handlungen wird dies deutlich. Der nichthandelnde Spielfilm sozusagen als ultimative Potenz des Films, als Bewusstwerdung des godardschen Und quer durch alle Bereiche: die ablaufende Projektion im Kinosaal, die Darstellung und der dargestellte Raum, das stillgestellte und doch bewegte Bild des Projektionsapparats. Als Art der Mittelposition ist es ein Weder-Noch. Vergleichend mit mystischen und kabbalistischen Theorien, ist Bartleby für Agamben eine Gestalt des Nichts, die gerade in ihrem Abgründigsein das Schöpferische zu ertasten vermag. Das Problem der Potenz also inmitten von Können, Wollen, 15 Ebd., S. 54. 16 Ebd., S. 56. 17 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin: Merve 1998. 120
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Müssen. Die Notwendigkeit wird dabei geöffnet. Notwendig wird eher das vorderhand Unnötige: »Zu glauben, dass der Wille Macht habe über die Potenz, dass das Übergehen in den Akt das Ergebnis einer Entscheidung sei, die mit der Ambiguität der Potenz Schluss macht (die immer Potenz zu tun oder nicht zu tun ist) – genau das ist die andauernde Illusion der Moral.«18 So scheint Bartleby eher nur zu können, ohne wollen zu müssen. Der Wille ist kritisch selbst ausgelöscht. Und so kann er es auch vorziehen, etwas nicht zu tun. Denn er stimmt weder offensichtlich zu noch verweigert er. Es geht also nicht um ein pathetisches Lob des Neins. Agamben sieht viel eher einen Strang zur epoché der Skeptiker: der Zustand des Inder-Schwebe-Seins an sich. Hinzu kommt das zeitliche bewegte Element: die Potenz-Möglichkeit als dynamis der Skeptiker. Die Schwebe wird hier also nicht als Indifferenz gesehen, sondern als Möglichkeit, die auf der Schwelle steht und dort auch bleibt.19 Der Leibnizsche zureichende Grund wird von Bartlebys Formel außer Kraft gesetzt. Die Ratio kann hier nicht mehr ganz und eindeutig greifen. Der Stillstand erscheint demnach erstmals als höchste Bewegungsform, als Verharren im Wahnsinn aller Bewegungsmöglichkeiten. Gleichzeitig wahr sein und nicht wahr sein folglich. Der godardsche Bildbegriff des weder falschen noch richtigen Bildes ist hieran anschließbar. Die absolute Potenz nun wird von Agamben weitergedacht als absolute Kontingenz. Ein Notwendiges, das genauso eine Unmöglichkeit mit sich zieht, und zugleich ein Umklappen auf eine der beiden Seiten, das allerdings gerade dadurch immer möglich bleibt, indem es nicht vollzogen wird. Für Walter Benjamin bestand im Blick zurück nach vorn seines Engels der Geschichte, in der Erinnerung, das Hervorheben einer Potenz. Denn hier gibt es zugleich ein schon immer Geschehenes und Ungeschehenes. Abgeschlossenes und Unabgeschlossenes sind sich dabei zum Verwechseln nah. Dieser Gedanke liegt in direkter Reichweite zu Deleuzes Zeitbild-Begriff als einem Momentausschnitt der Dauer, der Virtuelles und Aktuelles der Zeiten verbindet und beides simultan aufblitzen lässt. Nietzsches ewige Wiederkehr womöglich in einer Variante der ewig alten Aktualität. Erlösung ist also entweder hier oder woanders. Fortschritt ist Neuauflage und Wiederholung zugleich. Hoffnung bietet wohl eher die leichte Abwandlung und die kleinen Abzweigungen. Bartleby als ehemaliger Postangestellter für »tote Briefe« wird so zum Verteidiger beider Seiten der Vergangenheit: dessen, was gewesen ist
18 Ebd., S. 34. 19 Ebd., S. 41. 121
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und dessen, was hätte sein können. Beides erhält mit seiner Formel sein Recht zurück. So macht Agamben in Anknüpfung an Deleuze und Foucault den Übergang zum Begriff des Lebens auf, zur Immanenz und zum anhaltenden Umherirren, Täuschen und Nicht-Wissen. Der Mensch als Wesen, das sich nie ganz an seinem Platz befindet, das immer Schwierigkeiten mit dem eigenen Ankommen haben wird.20 »Insofern sie jene ›Bewegung des Unendlichen‹ ist, jenseits derer es nichts gibt, besitzt die Immanenz weder Anhaltspunkte noch einen Horizont, die erlauben würden, sich zu orientieren: ›die Bewegung hat alles erfasst‹ und der einzig mögliche Orient ist der Taumel, in dem sich Innen und Außen, Immanenz und Transzendenz unaufhörlich vermischen.«21 Agamben übersieht dabei allerdings, dass es gerade der Horizont ist, der erst die unendliche Schwebe im Denken und im Verlangen katalysiert. Der Horizont war schon immer das Gegenteil eines zu eingängigen Anhaltspunktes, er zieht und zieht – in die Ferne. Er ist Katalysator aktueller und virtueller Bewegung. Der Immanenzbegriff funktioniert zudem selbst auf der Ebene der Unbestimmtheit. Als pure Immanenz gedacht, ist das Leben hier jenes, das bewahrt, ohne unbedingt handeln zu müssen. Melville als vermeintlich westlicher Autor hat hier 1853 eine Variante des asiatischen Wirksamkeitsdenkens in ein Medium einfließen lassen, die es nun näher zu betrachten gilt.
Der Osten im Westen: Schopenhauer und Jullien Schopenhauer und die indischen Upanischaden Auch der Standpunkt der schopenhauerschen Philosophie ist letztlich ein asketischer, welcher als der bestmögliche Weg zur Befreiung vom Willen erscheint. Im vierzehnten Kapitel von Parerga und Paralipomena22 liefert Schopenhauer 1851 einige Nachträge zu seiner Betrachtung des Willens. Das Nichtwollen, die asketische Verweigerung des Willens, drückt sich für ihn in der absoluten Ruhe aus, im Stillstand, und nicht im Drang. Dies setzt er wiederum mit dem Nirvana-Begriff Indiens gleich. Im Nicht-Wollen jedoch befindet sich jedes Individuum im Übergang 20 Vgl. ebd., S. 80. 21 Ebd., S. 98. 22 Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Parerga und Paralipomena. Zweiter Band. Wiesbaden: Brockhaus-Verlag 1966. 122
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zum Nichts, denn das Subjekt als Erscheinung des Willens, wie es Schopenhauer begreift, kann dann nicht mehr sein. So gründet seine Ethik, parallel zur indischen, in den Leitbegriffen der Gerechtigkeit und Menschenliebe, die dann nach gelungener Erfüllung zur Erlösung führen sollen, genauso wie in den indischen Nirvana-Vorstellungen Dharma und Karma im Gleichklang in die Mokscha münden. Die vier Bände Die Welt als Wille und Vorstellung veröffentlichte Schopenhauer erstmals 1819 und überarbeitet 1844. Im Titel werden bereits die beiden Grundbausteine seiner Philosophie bezeichnet. Dieser liegt seine Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Jahr 1813 zugrunde. Fußend auf Kant, beschäftigt er sich hier mit jenen Grundlagen des Erkennens, mit denen das erkennende Subjekt seine objekthafte Umwelt wahrnimmt. Dieser Geltungsbereich der menschlichen Wahrnehmung erstreckt sich bei ihm als Kantianer auf die Vorstellungen, die nur die von uns erkannten Objekte sein können, und außerhalb derer es keine weitere Erfahrung geben kann. Er versucht ein Ordnungssystem des Erkennens zu entwickeln, das strenger als bei Kant, nur einen Satz, den Satz vom zureichenden Grunde, gelten lässt. Dieser enthält die wichtigen Anschauungsformen Kausalität, Raum und Zeit. Am kürzesten erklärt sich dieser in der Formulierung: »Nichts ist ohne Grund warum es sei.«23 So sieht er alle Vorstellungen in einer gesetzesmäßigen Verbindung vereinigt, welche er mit diesem einen Satz zu fassen versucht. Er stellt vier Klassen von Objekten für das Subjekt auf, die zwar in den Vorstellungen in unterschiedlichen Formen des Satzes auftreten, welche die vierfache Wurzel erkennen lassen, aber letztendlich doch immer denselben beinhalten. Die erste Klasse ist die der Objekte der realen Welt. Der Satz herrscht in dieser als das Gesetz der Kausalität, geprägt von den Vorstellungsformen Zeit, Raum sowie innere und äußere Sinne. Das Gesetz begreift Schopenhauer als den Satz vom zureichenden Grund des Werdens, basierend auf Ursache-Folge-Erscheinungen. Die zweite Klasse der Objekte sind die Vorstellungen der Vorstellungen, also die Begriffe. Diese hängt von Vernunftvermögen ab, so dass in ihr der Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens herrscht. Ihre Verknüpfung erfahren die Begriffe in den Urteilen. Ist ein Urteil wahr, so hat es für Schopenhauer einen zureichenden Grund. Wahrheit unterteilt er hier in logische, wenn sie ein anderes Urteil zum Grunde hat, empirische, wenn sie auf einer Erfahrung gründet, metaphysische, wenn sie die Bedingungen aller Erfahrung zu einem syn23 Schopenhauer, Arthur: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Dissertation 1813). Brockhaus-Verlag: Wiesbaden 1966, S. 7. 123
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thetischen Urteil fasst, und metalogische, wenn sie die Bedingungen allen Denkens zusammenfasst. Die dritte Klasse fasst den formalen Teil der Anschauungen zusammen, welche da sind als die Zeit, der Raum, die inneren und äußeren Sinne. Diese sind allein Gegenstände der reinen Anschauung und der empirischen fremd. In ihnen herrscht der Satz vom Grunde des Seins, denn sie sind dem Verstand unfassbar, wie eben auch dieser Grund. Die vierte Klasse wird von einem einzigen Objekt gebildet, dem unmittelbaren Objekt des inneren Sinnes, welches der Wille ist. Es ist Bedingung aller Vorstellungen und ermöglicht das Subjektsein. Die Nähe zur indischen Brahman-Lehre scheint hier bereits unverkennbar. Dem inneren Sinn unmittelbar gegeben, macht dies eine weitere Definition des Willens nicht möglich. In dieser Klasse herrscht der Satz vom zureichenden Grunde des Handelns geprägt durch das Gesetz der Motivation. Basierend auf dieser Erkenntnis des Willens fängt Schopenhauer an, sein Hauptwerk zu verfassen. Er beginnt, sich von der Anwendung des Satzes vom zureichenden Grunde zu diesem Grund selbst vorzuarbeiten. Zwei Jahre später meint er diesen als den grundlosen Willen erkannt zu haben. Dieser wird für ihn zu Kants Ding an sich und die Platonische Idee macht er zur Erkenntnis dieses Dinges. Die Formen der Vorstellung kommen dem Ding an sich nicht zu. Letzteres ist der innere Kern der äußeren Welt, ihr Wesen, und existiert folglich in einer der Vorstellung völlig fremden Weise. Die Verknüpfung von innerer und äußerer Erfahrung mit einem gründlichen, empirischen, sowie reflektierten Verständnis der Welt, gibt die Möglichkeit, das Ding an sich zu finden. Allein von außen ist das Wesen der Dinge nicht zu ergründen, und so muss ein richtiger Schnittpunkt zwischen Innen und Außen gefunden werden. Die Welt ist Vorstellung, und da man allein durch Betrachtung der Vorstellungen nicht weiter vordringt, erkennt Schopenhauer in uns selbst den Ort bzw. die Möglichkeit, das Innere der Welt zu begreifen. Denn der Körper ist Schnittstelle zwischen Objekt und Subjekt, und in dieser direkten Verbindung kann sich seiner Meinung nach das Wesen der Welt finden lassen, denn erst hier haben wir die Möglichkeit einer erweiterten Anschauung, da bei dieser nicht unbedingt Raum, Zeit und Kausalität Ausgangspunkte für die Betrachtung sein müssen, sondern wir jenseits dieser das unbewusste Wissen um ein Anderes erkennen können: den Willen. Hier sind die indischen Upanischaden, die die Erkenntnis einzig in der Wendung nach Innen, auf der Suche nach dem Brahman im Individuum, zeigen, offensichtliche Vorläufer. Der Körper als mittelbares Objekt ist zugleich unmittelbar bekanntes Subjekt, das sich nicht allein mit gängigen Vorstellungsformen erschließen lässt, sondern sich im Willen ausdrückt.
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Der Wille stellt nun die Lösung des Rätsels für Schopenhauer dar. Dieser erkennt den Körper als Subjekt und Objekt zugleich vereint im Willensakt, da dieser und die Aktionen des Leibes identisch für ihn sind, und diese nicht im Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen. So kann man den Willen auch nur anhand seiner Akte erkennen. Diese wiederum werden von den Motiven her bestimmt. Sie geben zwar nicht vor, dass gewollt wird und was gewollt wird, also die Maxime an sich, aber sie bestimmen »das, was ich zu dieser Zeit, an diesem Ort, unter diesen Umständen will«.24 Die Handlung ist somit der objektivierte Wille, genauso wie es der sie ausführende Körper in Zeit und Raum ist. Dies stellt für Schopenhauer die eigentlich philosophische Wahrheit dar. Aufhorchen lässt hier die Einteilung der Teile des Körpers nach den Hauptbegierden des Willens. Offensichtlich wird dabei Schopenhauers Beeinflussung seitens der indischen Lehren, insbesondere in deren Einteilung des Körpers nach den Vorgaben Brahmans. Er erkennt folglich jede Erscheinung im Raum als Objektivation des Willens. Der Wille selbst ist die völlige Abwesenheit eines Ziels, aller Grenzen, einfach nur grundloses, endloses Streben. Schon die Chandogya-Upanischad25 in ihrem 7. Kapitel, 4. Abschnitt führt die Willenskraft als Urgrund der Welt und deshalb als verehrungswürdig an, wodurch abermals Schopenhauers starke Nähe zur indischen Lehre auffällt. Hier ist bereits zu lesen: »Die Willenskraft ist dem Denken überlegen. Denn wenn man etwas will, dann richtet man sein Denken darauf, man spricht davon und bezeichnet es mit einem Namen.« Sie alle, jene Namen und Ziele, vereinen sich in der Willenskraft, sie haben den Willen als Atman und sind in ihm gegründet. Zum einen ist es uns nach Schopenhauer mit Hilfe der Kunst vergönnt, sei es durch das Betrachten eines Bildes oder das Hören von Musik, uns in einen schmerzlosen, überirdischen Zustand zu versetzen, in welchem man das individuelle Wollen für kurze Zeit vergisst. Da dies nur eine vorübergehende Erlösung ist, stellt der zweite Weg erst die eigentliche Erlösungsmöglichkeit dar. Diese liegt in der Verneinung des Willens und ist dem indischen Glauben vollkommen verwandt. Der Zielpunkt seiner Philosophie ist folglich einer des Paradoxons des handelnden Verweigerns,
24 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 159. 25 Sie gehört zum ersten großen Teil der Veden, den Samhitas, und hier in das 2. Buch der Samaveda. Sie ist somit den Vedanta-Upanischaden, die den Abschluß der Veden bilden, vorgelagert und Grundlage für diese. Die Upanischaden selbst ragen zu ihrem Entstehungszeitpunkt bereits in das brahmanische Zeitalter um ca. 500 v. Chr. hinein. 125
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welcher ihm als der bestmögliche Weg zur Befreiung vom Willen erscheint.
Jullien und die chinesische Wirksamkeit Auch François Jullien beschreibt Erscheinungen ähnlich jenen der bartlebyschen Formel in seiner Arbeit Über die Wirksamkeit als Anwendung eines asiatischen »Nullpunkts des Handelns«.26 In der chinesischen Philosophie des Taoismus nach Lao Tse27 geht es in erster Linie um langsame, dauernde Reifungsprozesse und deren richtigen Gebrauch. Es wendet sich also direkt gegen den abendländischen Mythos der Aktion. Das ruhige In-Sich-Verharren, das Abwarten-Können, das Nicht-HandelnMüssen sind hier gleichfalls große Handlungsvornahmen. Ein anderer Aktionismus folglich. Dieser darf allerdings nicht als totale Passivität verstanden werden, wie es im Westen oft fehlerhaft ausgelegt wird. Der chinesische Handlungsbegriff entzieht sich Ansätzen, die der Welt einen Plan aufzwingen wollen. Statt dessen möchte das Situationspotential genutzt werden. Wiederum gilt also der richtige Zeitpunkt, der richtige Gebrauch der Dauer, als Ausgangslage. Dabei gibt es im Chinesischen keine Verdünnung, keine Auflösung in der Zeit, sondern nur sogenannte Wandlungs- und Reifeprozesse. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Verlauf der Dinge: Es geht wie im japanischen Hagakure28, dem Buch des Samurais, nach Tsunetomo eher um Erscheinungen der Witterung, des Instinkts und der Intuition in Bezug auf Situationen. Und es geht dergestalt selbstverständlich auch um Anpassung. In erster Linie ist dabei die Immanenz allen Handelns von größter Wichtigkeit. Bartleby ist somit als ein Ausführer des laotseschen U-weis, des Tuns des Nichttuns, erkennbar. Er ist sanft und ausdauernd zugleich, darin aber unerbittlich. Bei Melville war es dergestalt eben auch Bartleby, der seinen Chef an den Rand des Wahnsinns brachte. Ein Wille, der kein Wille ist, zeigt sich hier in seinem paradoxen Handeln: er ist nahezu unangreifbar. Der Taoismus ist also eine Kunst der richtigen Strategie – Sun Tsu hat dies anknüpfend an Lao Tse in seiner Kunst des Krieges29 festgehalten. Die Strategie entspricht dabei jedoch keinerlei Festlegung oder eines Plans, sie ist vielmehr permanent im Wandel begriffen. Sie passt sich jeder Situation an, ist unendlich flexibel und kultiviert innere Distanz. Mit dem 26 27 28 29
Jullien: Wirksamkeit. S.124. Lao Tse: Tao Te King. München: Goldmann 2003. Yamamoto Tsunetomo: Hagakure. London: Kodansha Int. 1979. Sun Tsu: Die Kunst des Krieges. München: Piper 2001. 126
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Wasser gleiten ist eine der geläufigsten chinesischen Umschreibungen dafür. Die Leere und die Fülle als grundlegende Lebensäußerungen und erfahrungen sind dabei im Ausgleich zu halten wie im Yin-Yang. Der Buddhismus geht genauso von fluktuierenden Daseinsformen aus. Wesen, Dinge, Körper sind bei ihm leer, besitzen keinen dauerhaften Kern, sondern sind allein in ihrer Leerheit karmisch bedingt und dadurch – annähernd durch »seelenverwandtes« – füllbar bzw. in Ausgleich zu halten. So ist das Leere nichts negatives, sondern es ist das Tiefste an sich, eine Gegebenheit, nicht einfach der Urgrund, aller Dinge, gleich dem indischen tattva. Etwas Ungewordenes, etwas, das so ist unterhalb allen Wandels, und mit dem der Wandel dann jedoch Verbindungen eingehen kann. Möchte man diesen buddhistischen Leere-Begriff auf einen Raum beziehen, so ist das am ehesten jener, der einen Ort als unbesetzt kennzeichnet. »Nichts« wäre eine falsche Beschreibung, eine Totalnegation, die im Buddhismus nicht zu finden ist. Das Erlöste findet sich in der Leerheit und im Diffusen. Womit wir wieder bei Jullien wären. Im Taoismus gibt es ganz im Sinne der Leere als Ausgangspunkt, wie bereits zuvor erwähnt, keine Auflösung oder Verdünnung in der Zeit. Der Gegensatz dazu zeigt sich im griechischen Mythos von Ariadne und Theseus als jene der Chaoseröffnung durch ein einziges, unwiederholbares Ereignis. Ariadne, müde auf Theseus Wiederkehr zu warten, erhängt sich – entscheidet sich also für den Verzicht im radikalsten Sinne. Der Faden reißt nach Foucault dergestalt, und Theseus irrt im Labyrinth mehr oder weniger freudig erregt und nichts ahnend dem Minotaurus entgegen. Der Minotaurus steht dabei für die leer ablaufende Zeit, ohne Identität, nach Foucault.30 Es ist ein lineares, messbares, abendländischrationales Zeitverständnis, das hier aufleuchtet. Eines, das weniger in Tiefen, als in Längen und Breiten denkt: »Man hat sich im Abendland immer geweigert, die Intensität zu denken. Zumeist hat man sie im Messbaren und im Spiel der Gleichheiten aufgehen lassen. Bergson hat sie aufs Qualitative und Kontinuierliche reduziert. Deleuze befreit sie nun mit und in einem Denken, welches das höchste, das schärfste und intensivste sein wird.«31 Der »Knacks« im Denken ist somit Ansatzpunkt vieler moderner Philosophien. Ein Bruch, der sich nicht in der einzigen Wiederholung erschöpft, wie es uns noch die Griechen mit einem dann eben für immer erblindeten Ödipus zeigen wollten. Sondern in Kreisbahnen Wiederholungen zulässt, Zeitstrukturen sprengt, und die Wiederholung vielleicht etwas bewusster wiederholt. Im »Knacks« gelingt es mit F. S. Fitzgerald, zwei originär entgegengesetzte Ideen gemeinsam zu denken, ohne dass 30 Foucault, Michel: Der Ariadnefaden ist gerissen. Berlin: Merve 1977. 31 Ebd., S. 11. 127
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dies eigentlich tatsächlich möglich wäre. Ganz ähnlich also der zuvor erwähnten Derridaschen différance. Keine Tendenz zur Einteilung, zur einen Seite, sondern stattdessen: das Lot haltend. Die Verwandtschaft zur asiatischen Lehre wird dabei offensichtlich: Die indirekte Wirksamkeit liegt genau in diesem unendlich Leeren, das nur mit dem entsprechenden Gefäß gefüllt und dauerhaft ausgeglichen werden kann. Sonst erhielte die Wirksamkeit keine Nachhaltigkeit. Folglich ein es passiert sich. Und ein asiatischer Passagengang noch dazu. Das Situationspotential gegen den Raumplan, die bewegte Wahrnehmung gegen die doktrinäre Ortsordnung. Den Weg nur einfach nicht verbauen – das große Gegenteil also zu Theseus. Und sich dennoch abseits des offensichtlichen Getriebes haltend. Jullien nennt dies »die Situation begleiten«.32 Jorge Luis Borges hat dies in vielfältiger Weise in seiner Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen zum Ausdruck gebracht.33 Handlungsoptionen werden hier so lange wie möglich in einem Wahrscheinlichkeitsnetz sowohl des narrativen Verlaufs als auch in der labyrinthischen Anlage einer chinesischen Schrift innerhalb der Geschichte selbst offen gehalten. So sagt der Sinologe an einer Stelle der Erzählung zum vermeintlichen Nachfahren des Werkverfassers: »Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfasst alle Möglichkeiten.«34
Buch und Labyrinth werden als ein Gegenstand gedacht. Unendliche und parallele Zeitverläufe gründen dabei auf einer kreisförmigen Anlage von Geschichte, sowohl im Sinne der Geschichte als auch von Zeit an sich. Alle Möglichkeiten eines Verlaufs werden hier vom fiktiven Verfasser gleichzeitig gewählt und offengehalten, Verzweigungen und Nischen tauchen auf. So gibt es nicht die eine Zeit, es gibt ihrer unendlich viele. Würde man diese Vorstellung auf Landschaftsverläufe und den sie begleitenden möglichen Blickpunkten zu übertragen versuchen, könnten die raumzeitlichen Verläufe eines Films neue Optionen hierzu bergen. 32 Vgl. Jullien, François: Der Umweg über China – Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin, Merve 2002. 33 Borges, Jorge Luis: »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«, in: ders.: Gesammelte Werke Band Eins. Fiktionen. München: Hanser 2000, S. 161173. 34 Ebd., S. 172. 128
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Die Verwandtschaft des jullienschen Themas zur Situationistischen Praxis wird dabei zudem unübersehbar. Es geht hier nicht um Mystik, sondern um sachliche Abwägungen der Potentiale einer Situation und der in ihr eingebetteten Handlungsspielräume. Es gilt, die Aufmerksamkeit so gut wie möglich auf den Verlauf der Dinge zu lenken, selbst wenn ein Handeln sich meist erst im Rückblick erschließt und Kehrtwendungen immer wieder neu überraschen können. Abwegige Wendungen werden hier nicht ausgeschlossen, ganz wie im mehrperspektivischen Stadtgang nach Sennett, es gilt nur, sich in einem bewussten Mitwirken darauf einzulassen, eben auch ohne zu wissen. Bedachtsamkeit trifft fluktuierenden Wandel immer wieder aufs Neue. Kontinuierliche Transformation und Bewegung als Realitätsentsprechung an sich. Die vorübergehende Aktion ist da etwas anderes. Situationen und Potentiale werden nach und nach verbunden und so erst dauerhaft. Das Wichtige an dieser Transformation ist dabei die ihr zugrundeliegende Ortslosigkeit. Ihre Entfaltung ist nicht eindeutig lokalisierbar, sondern global und unsichtbar zugleich. Eine diffuse, umfassende und niemals isolierbare Wirkung, die in erster Linie immanent gestützt bleibt. Die taoistische Realität wird geprägt von dieser Immanenz des eigenen Transformationsansatzes. Für Bergson ist die ursprüngliche tatsächliche Zeit nur als ablaufende Zeit, als reine Dauer, zu erfahren. Der Gegensatz dazu ist die abgelaufene Zeit als abstrakte entfremdete Zeit. Sie wird in Raummetaphern erschlossen. Die zurückgelegte Strecke eines Zeigers ist dafür das gängigste Beispiel. Wo erstere durch Qualitätsmerkmale besticht, kann sich letztere nur mit Quantität aufwerten. Als Form der Abfolge unserer Bewusstseinsvorgänge im Hier und Jetzt ist für Bergson allein die reine Dauer zu finden. Nicht ein Haften an Punkten innerhalb dieses Flusses, sondern ein Aufnehmen und Integrieren in die bewusste Gegenwart. Ereignishafte Zeitverläufe werden so im Innersten zu eigenen Zeiterfahrungen, für die es wenn, dann auch nur hier eine Art von Permanenz geben kann. Dieses grundlegende Zeitlichsein der Welt ist so auch eine zentrale Erfahrung des Buddhismus. »Da in der buddhistischen Philosophie die Erfahrung der Zeitlichkeit selber in bestimmter Qualität zentral zum Phänomen der Zeit gehört, ist die buddhistische Phänomenologie der Zeit nicht nur eine beschreibende, sondern vielmehr eine transformative Phänomenologie zu nennen, insofern sie mit der Analyse der Zeit die je eigene Erfahrung der Zeit selber grundlegend verändert und realisiert.«35
35 Ebd., S. 382. 129
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Der Ablauf und Vollzug wird so konstitutiv für die Zeitlichkeit selbst. Keine objektive Analyse von Phänomenen also, sondern diese als Teil einer Transformation der gesamten Wahrnehmung und Existenz. In den Fragen der Wirksamkeit und des Verhaltens Bartlebys kristallisiert sich so ein grundlegender Diskurs heraus: jener zwischen Freiheit und Macht. Nicht allein Descartes hatte, wie die Stoiker, diese beiden zu unterscheiden gewusst. Mit Sartre kommt man dabei zu folgendem Schluss: »Frei sein heißt nicht, tun können, was man will, sondern wollen, was man kann.«36 Es kommt auf diese Mitte, diese moralische bewusste Wahl und Selbstbeschränkung genauso an, wie auf die Wahl und darin das Freisein des Denkens. Wo ich nicht die Macht einer Handlung gegenüber habe, muss ich darauf verzichten, sie zu wollen. Wollen, aber nicht dürfen: Das wäre der unreflektierte Ansatz, der nie die Verantwortung für sein eigenes Tun übernimmt. Sondern Wollen und Können im Gleichklang. Allein hier kommen Freiheit und Verantwortung zusammen. In dieser Konstruktivität der menschlichen Wahl steckt alle Freiheit und somit eine moralische Wirksamkeit, die dem reinen Egoismus entkommt. Im Bartleby wird der Zweifel und die Weigerung zum Urbild der freien Tat, auch und selbst wenn gerade nicht gehandelt wird.
Das Diffuse und das Sehen Ein wichtiger Punkt ist nun die Untersuchung des Diffusen, als Fortfolge des unentscheidbaren Schwebebegriffs, am Beispiel der ästhetischen Arbeit mit Fahrtwahrnehmung und Fahrtaufnahme. Das Diffuse selbst unterstützt ein Überschreiten örtlicher Grenzen. Ein Unscharfes, ein Dumpf-Farbiges, ein Streulicht, eine verwischte Oberfläche – etwas Konturloses und somit Diffuses ist jenes, welches sich einer einfachen Unterscheidbarkeit, etwa von Vorder- und Hintergrund innerhalb einer Bildkomposition, entzieht. Überlappungen und Dimensionen – Distanzen – sind nicht leicht oder gar nicht auszumachen. Die Wahrnehmung von Diffusem nähert sich einem Flächigem an. Als ob die Raumwahrnehmung plötzlich Bildwahrnehmung würde. Die Fläche ist es, welche weitere Dimensionen eröffnet. Die einen oder mehrere Fluchtpunkte birgt und dennoch flach funktioniert. Die bewusstgewordener Bildträger und Fenster zugleich ist, modernistische Aufsicht und neuzeitliche Durchsicht simultan ermöglicht. Impressionismus und Renaissancedisegno vereinen sich so in den bewegten Kinobildern von Planfahrtsequenzen. Das Diffuse ist demzufolge Herberge für Bewegung, sprich: vordergründiger Zeit, allerdings im Bild gründend, und dergestalt immer erst 36 Sartre, Jean Paul: Situationen. Hamburg: Rowohlt 1956, S. 11. 130
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einmal über den Raum definiert. Die Bewegung der Augen beim Absuchen einer Bildfläche wird zudem mit einer dem Bild innewohnenden Bewegung verdoppelt. Nach Bergson ist die Wirklichkeitswahrnehmung dem Film vergleichbar. Für Gilles Deleuze bleibt sie meist jedoch abhängig von der Bewegung, von Aktion und Reaktion, von Ursache-Wirkungs-Abläufen in einem vermeintlich linearen Sinn. Dass sie jedoch mehr ist als das, dass die Zeit gerade auch unabhängig von gängigen Bewegungsabfolgen (auch in Momenten des Stillstands und der Schwebe) arbeitet, und hier Vergangenes und Zukünftiges ineinander greifen können, macht den Bildraum des Films gerade so spannend. Das Laufbild des Films hat also nicht nur in seinen abgefilmten Bewegungen eine zeitliche Mehrdimensionalität aufzuweisen. Dennoch ist in den vermeintlichen Fahrtaufnahmen eine, für Deleuze vielleicht oberflächlichere, Wischfläche insbesondere dann interessant, wenn man die Motive des Unscharfen und Diffusen eingehender betrachtet. Ein Blick auf das Dispositiv der Zugfahrt macht zweierlei klar, wenn man vom beschleunigten Sehen sprechen will: Zum einen besteht die Möglichkeit, jene Tiefenstaffelung zu sehen, die aufgrund der Geschwindigkeit fortwährend mit dem Blick auf den Vordergrund entrissen wird. Allein der Hintergrund scheint dabei bestenfalls anhaltend anwesend zu sein und gleichzeitig, doch ohne größere Sprünge, zu wandern: Hier ist der panoramatische Blick nach Schivelbusch, Virilio und anderen anzusiedeln, auch wenn der von ihnen proklamierte Tiefenverlust damit ja gerade nicht einher geht. Vielmehr funktioniert dieses panoramatische Blickwandern nur mit Hilfe des Durchblicks in die Dimension von Ferne/Tiefe. Zum anderen kann aber nun auch mit der Fahrtgeschwindigkeit gesehen werden: Der Blick konzentriert sich dann auf die Fensterscheibe und erfährt die Landschaft im Sinne einer verschwommenen Projektion auf dieser Fläche, eben ohne den Blick in die Tiefe. Die Fahrtaufnahme im Film birgt im Gegensatz dazu meist permanente Schärfe: Schließlich fährt, wie das Wort schon sagt, die Kamera mit – und passt sich der Geschwindigkeit dergestalt an. Die Schärfe wird dabei also abhängig von der Bewegung mitgezogen, verbindet sich mit der Geschwindigkeit und macht so während der Fahrt den Durchblick dennoch möglich. Im Kino wird so der Blick auf die Windschutzscheibe als Fläche eher verunmöglicht. Das diffuse Sehen wird dem Kinorezipienten erstmal entzogen. Im realen Zugabteil hat er hingegen die Möglichkeit, seine eigene »Kamerafahrt« zu vollführen. Keine Doppelung der Aufnahmefläche des Kameraobjektivs und der Projektionsfläche der Leinwand/des Bildschirms ist hier gegeben, sondern nur die erste Übersetzungsstufe von Rahmung mit-
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tels Fenster, im Sinne des Kamerablicks allein, findet statt. Die verwischte Aufsicht wird so möglich. Im Kino würde dies eines äußerst angestrengten Augenjonglierens bedürfen. Die Schärfe ist hier meist mitdiktiert. Die monokulare Anlage liefert immer zuallererst sämtliche geometrische Sichten im Sinne von Fluchtpunktkonstruktion und Tiefenstaffelung. Wird das zentralperspektivische Diktat der Kamera also gerade im Kino fester geschrieben denn je? Ist das Diffuse hier mehr oder weniger verunmöglicht? Und hat es folglich sein Dasein allein in einer beschleunigten urbanen Wahrnehmung zu verteidigen? Es mag vordergründig so scheinen, doch letztlich gibt es auch die zentralen Arbeiten mit bewegten Flächenbildern und desorientierenden Bildkompositionen der Fahrtaufnahmen, die auch das Off des Bildes einbeziehen, von Abbas Kiarostami oder Apichatpong Weraseethakul. Hierzu in den anschließenden Kapiteln mehr. Das »diffuse Bauen« hat einen seiner Ursprünge in der philosophischen élan vital-Debatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts.37 Konzepte rund um die Ausbreitung des Lichts, um Energie und Bewegung und die Frage nach der Definition von Leben griffen hier ineinander. Der Bewegungsfluss war bei Bergson Hauptansatzpunkt für die Frage nach der menschlichen Wahrnehmung geworden. Die Bewegung, nicht zuletzt unserer Augen, als grundlegendes Moment des Sehens von und im Raum, tastet Architektur und somit Gebäudekonturen ab und ermöglicht uns Eindrücke dieser. Es stellt sich hier die Frage, wie das Diffuse dabei wahrgenommen und einbezogen wird. Und ob dieses folglich eine wichtige Seite der Wahrnehmung verdeutlicht, deren Verwandtschaft zum Kino seit Bergson debattiert wird. Nicht zuletzt ist die Erscheinung der Unschärfe eine, welche durch Fotografie und Film konkret ins Bewusstsein gelangte. Die Form des offenen Rahmens, des cache als bewegten Ausschnitts, könnte zumindest als Übertragungsmodell einer solchen Wahrnehmung für die Architektur der diffusen Kontur dienen. Das Raumkonstrukt wird nicht mehr als starre Form aufgefasst, sondern Ausgangspunkt ist eine Architektur, die sich selbst als Fließbild versteht. Es geht um Übergänge, offene Enden und flexible Ab- und Anschlüsse – eben jene diffusen Konturen der Schwelle schlechthin. Somit wird die festgelegte Tiefenstaffelung des Objektivs in Vorder-, Mittel- und Hintergrund im Sinne von Schärferelationen zugunsten von Unschärferela37 Vgl. den Themenschwerpunkt Das Diffuse im Fokus. Focus on Blur der Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Architektur Umbau 23. (Salzburg: Pustet 2007). Der Band beschreibt das Diffuse als gemeinsames Merkmal vieler zeitgenössischer Architekturbauten im Sinne einer Konzentration auf die Dynamik im und mit den Räumen und dergestalt einer Auflösung der Konturen. 132
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tionen aufgehoben. Alle festgelegte Geometrie ist hier aufgebrochen. Am Beispiel des Zugfahrtparadigmas der Aufsicht zeigt sich zudem, dass es nicht nur um den klaren Rand, um den äußeren Abschluss einer Form und Hülle geht, sondern dass das Diffuse natürlich auch dem Innen bzw. Mittigen innewohnen kann. Hier macht sich dann der Innenraum zum die Bewegung bereits integriert habenden Momentum, erscheint genauso offen und unabgeschlossen wie das Außen. So wie in der verwischten Aufsicht die Distanzgrenzen undefinierbar werden, also Hinter- und Vordergrund nicht mehr unbedingt auszumachen sind, so sind hier Innenraumgrenzen nicht mehr eindeutig zu unterscheiden. Die Raumübergänge sind nicht nur weicher, flüssiger. Der Formstatus, eben auch als Raumstatus, an sich ist in Frage gestellt. Ist somit die diffuse Oberfläche im Sinne eines kinematischen Paradigmas aus der Kinosprache überhaupt übersetzbar auf eine beschleunigte Wahrnehmung heute? Offenbar nur zum Teil. Da im Kino die Schärfe meist beibehalten wird, wie weiter oben bereits angemerkt, ist die diffuse Kontur hier nur mit der Arbeit des cache, im Sinne eines offenen bewegten Rahmens des Kinobildausschnittes nach André Bazin, zu verbinden. Die innere und äußere diffuse Kontur bleibt allein vergleichbar mit den seitlichen Zugfahrtaufsichten auf Verschwommenes und Angerissenes. So wandern die Fahrtaufnahmen im Bild immer ins tatsächliche Außerhalb bzw. nochmalige Off des Bildes, da sie sich bereits im einfachen Außerhalb hinter der Scheibe befinden, – folglich also in das gedoppelte Off oder den Über-Cache. Dies sind die Fahrtbilder auf konkrete Weise: Das erste Off, als Landschaft vor der Scheibe, wird direkt über das Fahrtfenster vermittelt und eingesehen, nicht indirekt über spiegelnde Gebäude wie etwa in Michelangelo Antonionis LA NOTTE38, und potenziert sich währenddessen noch ins gesteigerte Off durch die permanente Fortbewegung im Fahrtausschnitt. Dergestalt verlegt es das IntervallVerständnis nach Bergson, das meist einzig auf die Montage übertragen wurde, ins Innere der Aufnahme: Wo Bergson meinte, die natürliche Bewegung würde im filmischen Bild verloren gehen, kann sie hier gar nicht verloren gehen. Denn sie arbeitet hier gar nicht allein mit dem Bild, sondern genauso auch mit und in seinem Off während des einzelnen caches. Sie ist nur in der Verbindung des Bildes mit seinem Unsichtbaren denkbar. Und dies verdeutlicht sie in den vorüberziehenden Oberflächen der Fahrtaufnahmen in besonderem Maße. Es ist hier das permanente Off einzusehen, sowie Offs des Off usf. Zumindest handelt hier das Bild von seinem eigenen Außerhalb, und öffnet sich und der Bewegungsabbildung darüber anders.
38 Vgl. Kaiser: Flaneure, 2007. 133
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So macht sich auch die Architektur der diffusen Form zur AntiArchitektur. Sie bestreitet jegliche Perspektivkonstruktion, versucht sich im Sinne einer kubistischen Landschaft selbst noch über jeden Kubismus im Sinne simultaner Blickwechselansichten hinwegzusetzen, gerade indem sie selbst diese Unterscheidbarkeit der simultanen Perspektivkonturen blurred. Das Weiche, Flüssige wird also gesteigert zum Nicht-Raum. Kein Raumempfinden folglich. Ankommen war woanders und der Ort als ein Angebot der Mitte und des Verweilenkönnens wird gar nicht erst denkbar in diesen Nicht-Räumen der diffusen Konturen. So mag das vielleicht im westlichen Architekturstil sein. Der aufgebrochene, geöffnete Raum erscheint eher als jener asiatisch leere, der ein anderes Ankommen erst möglich macht. Es wird nun einsichtig, dass gerade das moderne europäische, insbesondere das französische, Denken sehr stark vom asiatischen Zeit-Denken beeinflusst ist. Eine zufällige, chaotische, vielleicht auch unbezähmbare Zeit, die offen und unfestgelegt ist, die dergestalt Situation und Potential verbindet, steht hier der analysier- und beherrschbaren, der regelmäßigen, linearen Zeitauffassung gegenüber. Kairos und Chronos treffen aufeinander, werden aber in Asien augenscheinlich anders gedacht und verbunden. Die Achtung vor regelgerechten Abläufen und Notwendigkeiten verbindet sich hier mit dem Gespür für qualitative Zeitmomente im Sinne jener Wandlungspunkte. Das Lassen als aktives Handeln erschließt sich hierbei von selbst: eben als jenes »dafür sorgen, dass es von selbst geschehen kann« des Taoismus. Chronos und Kairos werden in einem übergeordneten Dauerkonzept zusammengefügt. Die langsame Zeit und die stillschweigende Transformation schließen sich hier an. Inmitten reiner Immanenz, einem lebensnahen bewussten Denken des tatsächlichen, gerade stattfindenden Da-Seins, entfaltet sich erst eine Wirkung ganz diskret, ohne Verausgabung – vielmehr findet sie eher unbemerkt statt. Dies ist das Handeln im Nicht-Handeln, der Nullpunkt des Handelns als andere Arbeit mit Zeit und Bewegung schlechthin – und so auch übertragbar in diffuse Architektur- und Bildkonzepte.
Jim Jarmusch und die Zeiten des Allie Parker Ein Blick auf die Autorenseite von PERMANENT VACATION zeigt folgendes:39 Jim Jarmusch, als ein nicht zuletzt auch vom elliptischen Konzept geprägter Regisseur im Sinne Antonionis, berichtet im Gespräch, dass 39 Dieser Text gründet auf einer Diskussionsrunde mit dem Filmemacher am 19. August 2005 im Berliner Kino International anläßlich der Premiere seines Films BROKEN FLOWERS. 134
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ihm die inhaltlichen, historischen, handlungstreibenden Dinge nicht allzu wichtig für die eigene Arbeit sind. Viel eher geht es ihm darum, Ausschnitte der Zustände seiner Figuren zu zeigen, wobei die Fragen nach dem Vorher und Nachher nebensächlich sind. Was ihn folglich daran interessiert, ist ein momenthafter Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen im Sinne einer schlichten Oberflächenabbildung als -beschreibung. »Keine Psychologisierung« ist insofern eine seiner Leitmaximen. Mit dem Inkommensurablen gilt es umzugehen, es gibt Unaussprechliches, Zufälle und Unerklärliches. So schleppen seine Protagonisten meist eine Lücke, ein Loch mit sich herum. Irgendetwas bringt sie in Bewegung – es ist irgendetwas im Gange – und damit muss vorsichtig, bedacht und aufmerksam umgegangen werden – das ist alles, was nach Jarmusch gezeigt, und insbesondere beschrieben, werden soll. Ausschnitte ohne Deutungsansätze – der gute Grund kann nur ein einfacher und ehrlicher sein. Als das »Es ist«, die reine Präsenz, ist dieser Grund auch Jarmuschs Lebensphilosophie – eine Variante von New Yorker Buddhismus womöglich. Als Verkörperung eines mentalen Schwebezustands der Indifferenz entzieht sein Protagonist Allie Parker auch seine filmischen Handlungsweisen jeglicher Sinnbindung. Die distanzierten Halbnahen und Halbtotalen Jarmuschs vollziehen hier auf der Handlungsebene eine inhaltliche Parallele zur Schwellen-Form des beschleunigten Transitraumbildes innerhalb eines urbanen Umfeldes. Es geht in beiden Äußerungen um Figurationen eines permanenten Nicht-Ankommens, eines anhaltenden Bewegungsverlaufs. Das Entfernte ist Ziel, Sinn und Zweck – hier eines Handlungsverlaufs, dort eines Bildverlaufs. Dabei sorgen Allies Bewegungen offensichtlich nicht tatsächlich für mentale Veränderungen. Seine Indifferenz als mentale Wüstenform nach Baudrillard schafft allein die NichtKommunikation und die Vereinzelung. Der leere, kaputte Straßenraum, den Jarmusch in zweieinhalb Drehtagen fotografierte, ist der perfekte Spiegel und Katalysator einer derart mentalen Ödnis, und doch auch Sensibilität und Freiheit zugleich. Keine Abziehbilder, nirgends.
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T R A N S I T -R Ä U M E : V I R T U E L L E U N D A K T U E L L E TRAJEKTE IM AUSTAUSCH »Heute geht es nicht mehr darum, ob das Kino auf einen Ort verzichten kann, sondern darum, ob die Orte noch aufs Kino verzichten können. Die Stadtplanung kommt ins Schleudern, die Architektur wandelt sich ständig, die ›Bleibe‹ ist nunmehr die Anamorphose der Schwelle.«1
F i l m i sc h e K o n st r u k ti o n e n v o n O r t e n Shrinking Cities Film »I’m sick of waiting for the next train!«2
Eine Kulturgeschichte der Moderne, insbesondere einer abendländisch orientierten, wäre ohne die alte Verbindung von Film und Stadt nicht zu denken. Das Anwachsen der Industriemetropolen des 19. Jahrhunderts, ihre Niederkunft spätestens in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts in jenen Boulevards und berühmt-berüchtigten Straßen von den ChampsElysées bis zum Broadway, welche die Neonreklamen, die Lichtspielpaläste und das Flanieren zu verbinden wussten – all das war Kino und Metropolenerfahrung zugleich: Das beschleunigte Leben hatte den Schock eines Baudelaire schon längst zur Sucht des Großstädters werden lassen. Das Leben, die Massen, die Menge – Konsum und Vergnügen, sprießende Architekturen. Dies alles sind Gemeinplätze der heutigen kulturwissenschaftlichen Stadtkulturdebatte. Weiter zu befragen ist jedoch jener Wahrnehmungswandel in den Beschleunigungsveränderungen einer solchen technologi1
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Virilio, Paul: »Der Film leitet ein neues Zeitalter der Menschheit ein«, in: Karlheinz Barck (u. a.) (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam: Leipzig 1990, S.166-193, hier S. 185. Zitat eines Gangmitglieds in THE WARRIORS (Regie: Walter Hill, 1978). 137
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schen Entwicklung. Das ist das eine. Die andere Seite wäre die Beobachtung einer Filmkultur der untergehenden Städte, nicht zuletzt der schrumpfenden Städte im Kino, wie sie das Shrinking-Cities-Filmfestival3 zur Diskussion stellte. Verfallene, untergehende, verlassene Städte gibt es im Kino en masse, es unterscheiden sich dabei jedoch unter anderem die Genres und der Anspruch an die Arbeit mit dem Setting. Es gibt die Verwendung von nachgebauten Straßen und Vierteln genauso wie den Vor-Ort-Dreh. Letzteres vorgemacht haben insbesondere die italienischen Neorealisten. Nicht umsonst war es Roberto Rosselini, der kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges seinen Film GERMANIA ANNO ZERO (1948) im zerbombten Berlin drehte. Kaum verwunderlich also, dass dieser Film als einer der ersten der Reihe zu sehen war. William Wylers DEAD END von 1936 zeigt dagegen die Kulissenhaftigkeit des Film Noir am Beispiel eines Dock-Viertels von Manhattan, in dem die Gegensätze von Arm und Reich genau dann aufeinanderprallen, wenn die New Yorker Upper Class plötzlich die Riverside als pittoreske Aussichtsplattform für ihre Wohnungen entdeckt. Dass diese Aussicht alias Übersicht nicht unbedingt etwas mit einem tatsächlichen Wohnen vor Ort zu tun haben muss, wissen wir spätestens seit Certeaus Schriften gegen den Panoramablick. Dies demonstrieren allerdings im Film auch die Straßenkinder zu Füßen der Panoramawohnungen perfekt. Die Kuratoren Antje Ehmann, Michael Baute4 und Harun Farocki, die für sämtliche filmische Themenkomplexe von Shrinking Cities verantwortlich zeichneten, haben sich in dieser Reihe zur schrumpfenden Stadt deshalb auch ganz auf den Gang-Film konzentriert. Das ist nicht weiter verwunderlich, stellt dieser Bereich doch ein ums andere Mal die Thematik von Überlebensstrategien in kaputten, unsozialen Vierteln einer großen Stadt dar. Und dies natürlich am Beispiel der Jungen, der Aufbegehrenden und Suchenden, als natürlich auch jene, die hier meist aufgewachsen sind, die ihr Revier kennen und verteidigen. Es handelt sich um Mitläufer genauso wie um lonesome wolves, Kämpfer im schlechtesten und besten Sinn des Wortes. Dabei verlangt es die Genrestruktur, dass die besten in die schlimmsten Situationen geraten. Entweder müssen sie sich innerhalb einer Bande oder mit ihrer Gang unter allen anderen Gangs behaupten. Das Territorium kann dabei nur ein bis zwei Viertel umfassen, wie in Jack Hills SWITCHBLADE SISTERS von 3
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Das Shrinking-Cities-Festival fand Mitte Oktober 2004 parallel zur gleichnamigen KunstWerke-Ausstellung im Zeughaus-Kino des Deutschen Historischen Museums in Berlin statt. Michael Baute ist zugleich auch einer der Betreiber des Weblogs www.newfilmkritik.de. 138
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1975, oder eine ganze Stadt wie in Walter Hills THE WARRIORS von 1978. Die Metro von New York City ist hier Ort der Handlung und bringt eine zu Unrecht verfolgte Gang von einem gefahrvollen Viertel in den nächsten Gefahrensumpf. In diesen Stadtvierteln herrscht überall der Kampf ums Überleben, Autowracks qualmen, Graffitti überall, keiner ist mehr auf der Straße außer Bandenmitgliedern, nur ab und an taucht einmal die Polizei auf. In diesen verfallenden Städten herrscht schon lange der Ausnahmezustand, die Gebäude sind verlassen, verfallen oder besetzt. Keiner kann hier mehr überleben, wenn er nicht einer Gang angehört. In THE WARRIORS wundert man sich, dass überhaupt noch eine Soder U-Bahn fährt. Sie dient nur noch der Flucht und der Verfolgung durch nahezu unbegehbare Viertel. Der ganze Film ist über derartige Fahrtsituationen motiviert. Es gibt kein Flanieren mehr auf schönen Straßen, allenfalls im U-Bahn-Schacht, eben dort, wo man noch am ehesten eine Chance hat, für kurze Zeit unentdeckt zu bleiben. John Carpenters ESCAPE FROM NEW YORK (1981) übertraf den Kultfilm-Faktor der gesamten Filmreihe, denn das sowohl naturalistische als auch parodeske Zukunftsszenario verwundert immer wieder aufs Neue. Manhattan ist hier, als paradoxe Umkehr der »Gated Communities« der Reichen und Privilegierten, zur No-Go-Area disqualifiziert, ist offizielles Gefängnis ohne Wachen, schlichtweg Sperrgebiet. Verbrecher werden hineingeliefert, hinaus kommt keiner mehr. Alle Fluchtwege sind vermint, überwacht und unter Polizeikontrolle. Innen herrschen die eigenen Regeln, die Gangs wissen sich auch hier selbst zu organisieren. Es wäre allerdings kein Carpenter-Streifen, wenn nicht einige Zombie-/VampirGestalten innerhalb der Darsteller des Kriminellen unterirdisch ihr Unwesen treiben dürften. Kurt Russell steht es dabei zu, den einsamen Helden zu geben, der den Präsidenten, der über seinem eigenen Sperrgebiet abgestürzt ist, retten darf. Manhattan ist hier genauso kaputt, düster und stinkend, wie es sich für einen derartigen Plot zeigen muss. So wunderten sich in der abschließenden Diskussionsveranstaltung von Shrinking Cities Claudia Lenssen, Diedrich Diedrichsen und Harun Farocki gemeinsam mit Antje Ehmann über die eindringlich realistische Stadtschilderung innerhalb dieses offensichtlichen Science-FictionFilms. Francis Ford Coppolas RUMBLE FISH von 1983 machte diese unterschiedlichen Stadtansichten vollzählig. Abgesehen davon, dass man sich dem Faszinosum des Dreiergespanns Dennis Hopper, Mickey Rourke und Matt Dillon als Vater und Söhne kaum entziehen kann, gibt hier insbesondere Rourke den melancholischen leading boy eines urbanen Post-Gang-Viertels. Coppola hat in dieser Arbeit den äußerst skurrilen Abgesang auf den alten 50er-Jahre Kino-Gang-Kult kreiert. Wie auch in Carpenters ESCAPE birgt die verfallende Stadt in ihrer phantasmatischen
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Erscheinung ein erstaunliches Attraktionspotential. Da ist einmal die Archaik der von den Insassen organisierten Gladiatorenkämpfe bei Carpenter. In den Totalen über den nächtlichen Hudson-River erweckt die Skyline jedoch auch nostalgische Erinnerungen an ein vergangenes New York, in dem es gelbe Taxi-Cabs en masse gab, und in denen überall der typische Jazz zu hören war. Ein solches Überbleibsel dieser vergangenen Epoche taucht auch gegen Ende des Films auf. Dieses Auto wird jedoch die Flucht aus Downtown nicht schaffen. Aber das hätte auch nicht passieren dürfen. Das Jazz-Cab gehört nun einmal hierhin, und wenn schon, dann muss es mit diesem Teil der Stadt auch untergehen. Dass am Ende des Films das falsche Tonband nach der Präsidentenrettung in die ganze Nation über den Äther übertragen wird und plötzlich Jazz über den gesamten Stadthorizont schallt, scheint fast wie eine zu weiche Reminiszenz an eine vergangene Metropole. Doch man kann es Carpenter nicht Übel nehmen. Old New York und sämtliche verblühende Städte des vergangenen Jahrhunderts könnten mittlerweile eine solche Kassette nötig haben.
Stadt und Film 1963 – Die endlose Nacht Berlin, Flughafen Tempelhof. Nebel liegt über diesem An- und Abflugort. Für eine Nacht werden hier sämtliche Passagiere festsitzen. Kein Entkommen am Abreiseort folglich. 1963 hat Will Tremper hier den Film DIE ENDLOSE NACHT gedreht.5 Ein frühester Film auch für die junge Hannelore Elsner im Monica-Vitti-Kleid. Aber nicht nur dieses Kleid zeigt die starke Beeinflussung des Regisseurs durch das damals aktuelle italienische, und französische, Kino. DIE ENDLOSE NACHT ist heute aktueller denn je. Das Tempelhof-Setting fungiert hier als Nicht-Ort par excellence, der weder die monumentale faschistische Flughafenarchitektur noch die damaligen territorialen und sozialen Verhältnisse im Nachkriegsberlin zu verklären sucht. Stattdessen bilden sie den Kontext sämtlicher Situationen. Und gleichzeitig werden schlichte Episoden des Wartens einer Nacht vorgeführt. Die bleiben dabei sachlich ellipsenhaft, ohne eines Dogmas zu bedürfen. Polnische Jazzmusiker treffen auf saturierte Wirtschaftswunder-Deutsche und ein »Russen«-Witz kann dabei ebenso einmal auftauchen. Enno Patalas schrieb 1963 hierüber in der Filmkritik von einer »bundesdeutschen Bestandsaufnahme«.
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Das Internationale Filmwochenende Würzburg hat im Januar 2004 im Zuge einer Hannelore Elsner-Retrospektive diesen Berlin-Film wiederentdeckt. 140
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Keine Episode braucht hier eine Verknüpfung zur einen zusammenfassenden Handlung, jede steht für sich und hält eine gleichgewichtige Spannung innerhalb der anderen aufrecht. Die Zeit vergeht, wie sie vergeht, Tremper verlässt Personen und findet sie woanders wieder. Man wohnt einer reflektierten Echtzeitarbeit bei. Das Dazwischen darf erahnt werden, der Film muss nicht alles erzählen und zeigen. Berlin existiert hier nur im realen Setting, eben als dieser Transitort. Ein anderes Berlin bekommt man nicht zu sehen, die Stadt ist nichts als der Flughafen. Man könnte meinen, Tremper hätte alle zeitgenössischen Stadtdebatten vorausgeahnt. Oder er sei ihr Prophet gewesen. Die Angestellte einer Fluggesellschaft und ihr Kunde sind im Film nicht die einzigen, die sich wie in einem Aquarium vorkommen. Sie verstecken sich hinter Landkarten der großen, weiten Welt, denn diese sind wiederum die einzigen, die noch die Funktionen einer Wand in diesen Räumen einnehmen dürfen und können. DIE ENDLOSE NACHT entwirft und parodiert hierin ein Raum- und Stadtverständnis des hyper-modernistischen NichtOrts, noch vor Tatis PLAYTIME von 1967. Für den urbanistischen Diskurs ist der Film heute wertvoller denn je. Denn er zeigt, was eine Stadt wie Berlin verstärkt geprägt hat und was sie tatsächlich ist. Eben jene Transiträume, Verkehrsknotenpunkte und Nicht-Orte, oftmals verknüpft mit fragwürdigen Architekturen, die Beobachtungen städtischen Lebens zulassen, die authentischer als alle aufgehübschten vorgeblichen Mitten der zeitgenössischen Metropole erscheinen. DIE ENDLOSE NACHT ist tatsächlich end- und somit zeitlos. Der ellipsenförmige Flugplatz Tempelhof hat sich ganz offensichtlich in die kinematographische Architektur übertragen. Wenn der Architekt Sir Norman Foster Tempelhof als »die Mutter aller Flughäfen« bezeichnet und den gesamten Gebäudeentwurf Ernst Sagebiels als eine gelungene Mischung aus Kathedrale und Funktion lobt, dann bekommt man letzlich eine Ahnung davon, dass auch dieser Film aus dem Jahr 1963 zu genau jenen filmischen Ursprüngen des Transitortkinos zu zählen ist. Tempelhof als einst zentraler Verkehrsknotenpunkt Europas, wo selbst schon Orville Wright am 4. September 1909 zu einem ersten wackeligen Flug startete, war nicht zuletzt zwischen 1948-49 die Lebensader Berlins. Kein Wunder also, dass DIE ENDLOSE NACHT wohl auch in Reminiszenz an die einstige Stadtader Berlin als einen einzigen Transitort zeichnet.
Time Space Places Die Frage nach dem Verhältnis von zeitlichen Abläufen und Ansprüchen in der räumlichen Organisation zeitgenössischer urbaner Welten zwi141
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schen Ost und West stand im Zentrum der Berliner Konferenz Time Space Places.6 Die infrastrukturell bedingten Zwänge von Städten würden diese am ehesten durch die Minimierung räumlicher Zwänge ausgleichen können, so der britische Geograf und Soziologe Stephen Graham. Gleichzeitig tragen netzbasierte Strukturen gerade durch ihre Zeitminimierung dazu bei, den Raum zu überwinden. Die herrschende These lautete folglich: Der Raum wird immer unwichtiger. Die Geographen befinden sich damit im Schulterschluss mit Virilio. Premium Network Spaces innerhalb der Städte konfigurieren und unterstützen alle Mobilitätsvarianten sowie die hierzu benötigten Zeitkapazitäten: Tunneleffekte der hochtechnologisierten Kommunikation. Der neueste Trend innerhalb des Austauschs von Information ist dabei natürlich der kabellose: das Überwinden von Raum und Zeit via Luft. Fliegende Nachrichten all around the globe. Für Graham ist die Entwicklung von Raum und Zeit unabdingbar verbunden mit den heutigen netzarbeitenden Technologien. Womöglich eine Entwicklung hin zum splintering urbanism: »the shift from ideologies, practices and policies geared towards the construction of integrated and unitary networked cities offering generalised networked interactions across whole cities, regions or nations – what I call the Modern Infrastructural Ideal – to complex patchworks of customised urban and infrastructural spaces – or premium network spaces.«7
In einer derartigen Raumkonfiguration gibt es neuartige Geschwindigkeiten, die als Hybride zwischen schnell und langsam auftreten: Der Stillstand, der wireless arbeitet, ist einer der schnellsten. Dabei ist es mittlerweile Gemeinplatz, dass die Idee von der höchsten Flexibilität und puren Gegenwart zunehmend lebensbestimmend geworden ist. Hatte Isaac Newton noch vom gleichförmigen Fluss der Zeit gesprochen, der absolut und neutral, eben universell, und dergestalt mit gleichbleibender Geschwindigkeit verging, so ist spätestens mit der Einsteinschen Relativitätstheorie der Begriff der Raum-Zeit an die Stelle der Trennung der beiden Begriffe getreten. Die Idee der Ungewissheit hielt hier genauso Einzug wie jene des Unvorhersehbaren. Nichts scheint mehr gewiss,
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Internationale Konferenz »Time – Space – Places«, vom 8. bis 10. September 2005 am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. (Konferenzreader veröffentlicht als: Henckel, Dietrich (u. a.) (Hg.): Time, space, places. Frankfurt am Main: Lang 2007.) Graham, Stephen: Temporal aspects of splintering urbanism. (Konferenzpapier). Vgl. ausführlich ders.,/Marvin, Simon: Splintering Urbanism. Networked Infrastructure, Technological Mobilities and the Urban Condition. London: Routledge 2001. 142
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
außer der Zukünftigkeit. Und genau hier haben sich die Episteme nicht zuletzt Richtung Freiheit verschoben. Mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff tun sich die multiplen Möglichkeiten und dergestalt Zukünfte auf. Eines der aktuellen Phänomene der dritten industriellen Revolution wurde im Zuge dessen die Verdichtung von Raum und Zeit. Die Zeitspannen innerhalb der technischen Entwicklungen werden kürzer und kürzer. Diese Geschwindigkeit sorgt für immense technologische Umstrukturierungen innerhalb einer Generation. Alles scheint immer flüchtiger, ja mit Benjamin gesprochen: phantasmagorischer, zu werden. In dieser Verdichtung wird die Zeit zugleich globaler, die Geschichte wird immer mehr auf Punkte der Gegenwart reduziert: komprimiert gleich zeitgenössisch sozusagen. Unsicherheit vs. Selbstbesinnung wird eines der Streitduos innerhalb dieser aktuellen conditio humana. Kurzfristige Perspektiven und Echtzeit-Logik halten allerorten Einzug. Inmitten der expandierenden Möglichkeiten und der Unmittelbarkeit fallen die Langzeitperspektiven zunehmend schwer. Die Dringlichkeit wird zu ihrem größten Gegner. Wie sollte also zurück zur langsamen Zeit gefunden werden? Ein Prinzip der Vorsicht, des Nachdenkens wäre hier wohl der mögliche Weg. Die Zeit dergestalt wieder bewohnen, anstatt sich von ihr mitgerissen zu fühlen. Auch mit Blick in Richtung der Thematik der verlorenen Zeit. Die Langzeitperspektive als Form gedacht und insbesondere als Bild bzw. Bilder – was könnte dies sein? Der Gegensatz von Selbstoptimierung, Verkürzung hin zu Bewußtheit und Dehnung dürfte hier ausschlaggebend werden. Andererseits: Der Aufenthalt in Malls, Flughäfen und ähnlichen Anund Abreisewelten wird Normalität, wenn nicht sogar Genuss und Vergnügen. Globales, bequemes Unterwegssein und angepasste, sichere und überall gleichkonforme Orte gehen dabei Hand in Hand. Der Berliner Stadtökonom Benjamin Herkommer spricht hier vom Nutzen einer Stadt der variablen Geschwindigkeiten, um die Balance zwischen schnellen und langsamen Plätzen zu erhalten bzw. zu schaffen, und um den neuen räumlichen, sozio-ökonomischen und zeitlichen Fragmentierungen entgegenzuwirken. »The increased importance of time leads to acceleration within the information economy whereas an increasingly rapid structural change leaves behind decaying landscapes of shrinking cities where time seems at a standstill. Cultural factors moderate global economic processes as their effects on a city’s speed are filtered down to the local level.«8 Nichtsdestotrotz ist die Stadt auch, gerade in ihrer verdichteten Infrastruktur, eine zeit- und raumerhaltende Einheit. Sie gibt ihren Bewohnern Dichte im Sinne eines erhöhten Möglichkeits- und Innovationspotential auf der Handlungsebene. Zeitliche Kennzeichen sind Expansion, Simul8
Herkommer, Benjamin: Slow City – Fast City. Konferenzpapier. 143
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taneität, Flexibilität und Anhäufung. Für Dietrich Henckel9 finden diese Zeitkomponenten in der Diskussion der räumlichen Entwicklung noch nicht genügend Beachtung. Doch gerade die dazu nötige urbane Dichte müsste nach Elke Pahl-Weber10 kritisch betrachtet werden. Soziale, räumliche und architektonische Dimensionen interagieren hier. In Europa sieht der Umgang mit urbaner Dichte anders als etwa in Asien aus. Tokio wächst bis zum Horizont in die Breite durch eher kleine, flache Gebäude. In Asien müssen neue Zentren gebaut, in Europa müssen die alten erhalten bzw. neu genutzt werden. Nicht zuletzt aufgrund der derzeitigen Entwicklung der schrumpfenden Städte ist eine new emptiness in vielen Stadtzentren, insbesondere in den alten Industriestädten, zu beobachten. Hier muss mit der Orientierung hinsichtlich Dichte ganz neu umgegangen werden. Das Anwachsen von Städten mit einer darauffolgenden Rückbildung gilt es zu beachten. Dezentralisation kann hier als mögliche Kompensation zum Einsatz kommen. Kann die neue Stadt geplant werden, indem sie genau derartige Wachstumsprozesse berücksichtigt? Kann ein flexibles Bauen stattfinden, das das Anbauen sowie das Abkoppeln von Stadtteilen mitbedenkt? Die dynamisierte, wandlungsfähige Stadt müsste als Möglichkeit gedacht werden: »Not only the city has been the area of industrial production and at least in large parts also still is today – the car as well, which is in the meantime present with more than 700 billion units, now takes at each place of the world an undisputed role as key object of mass production and mass consumption. Both exert impact on spatial organizations through roads, city layout, suburban housing and shopping malls, etc.«11
Doch die urbane Entwicklung baut meist auf den einstmaligen Stadtkern auf und bildet Ringe um ihn herum. Geschwindigkeitskorridore und Inseln der Langsamkeit sind hier gleichermaßen zu finden. Die Straßenund Platzanlage reflektiert dabei die Arten von Bewegung und Stillstand. Die verschiedenen Zeit- und Fortbewegungsweisen müssen also in die weitere Planung Einzug finden. Dass seither die postmoderne Stadtplanung nichts Neues in die Städte gebracht hat, ist offensichtlich. Die neue Berliner Mitte soll sich an einer alten Mitte, die man im Wilhelminischen Berlin gefunden zu haben meint, orientieren. In Peking neigt man zur amerikanisierten Vari9 TU Berlin, Department of Urban Economy. 10 TU Berlin, Department of Urban Reconstruction and Residential Renewal. 11 Carsten, Stefan: City regions: The perspective of a global player – Daimler Chrysler. Konferenzpapier. 144
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
ante der Produktion von urbanen Themenparkzonen, die also eine asiatische Form der urbanen Disneyfizierung anzupreisen versuchen: abgetrennte, überwachte Luxusghettosiedlungen. Das Leben findet woanders statt. Auch im mittlerweile nahezu einwohnerleeren Stadtkern von Chicago, wo sich neue Formen der Nutzung in dieser verarmten städtischen Wüstenform formieren. Der touristische Blick auf die eigene Stadt ist hier wenigstens ausgeschlossen. Leere kaputte Räume können also auch präventive Funktion haben: Die alte Stadtmaterie kann in ihnen noch immer durchschimmern. Permanent Vacation-Räume als Katalysatoren für eine andere Stadt gleichsam. Movism als Grundmerkmal der Stadt, inklusive der damit verbundenen verkehrstechnischen non-places wie Straßen und Tunnel, die eine Stadt prägen, ausbauen und selbst noch in ihrer neuen Leere mobilisieren.12 Die urbane Perzeption geht dabei von der Strassenschlucht aus. Letztere ist ein Transitkorridor, der Dimensionen bemerkbar macht und Bewegung ankurbelt. Als hybride Form zwischen Stadt und Landschaft ist sie eine extreme Form des benutzten und gelebten Raumes. Being on the move erscheint hier als neue Form des Heimatgefühls.
Berlin Gesundbrunnen and beyond Das Berliner Streckensystem der Bahn basiert auf einer traditionellen Ost-West-Achse der Stadt. Auf dieser Strecke zwischen Zoo und Ostbahnhof konnten Anfang des neuen Jahrtausends höchstens zwölf Züge pro Richtung und Stunde fahren. Ein Grund mehr, die neue Achse zu planen: eine Nord-Süd-Fernbahnstrecke von Gesundbrunnen über Lehrter Bahnhof, den neuen Berliner Hauptbahnhof, Potsdamer Platz bis zum neuen Südkreuz am Bahnhof Papestraße. Ab Mitte 2006 starteten am einstmals sekundären nördlichgelegenen Gesundbrunnen-Bahnhof ICEund Regionalzüge gen Norden: Hamburg, Rostock, Stralsund, Kopenhagen. Das neue Gesamtkonzept wird von der Bahn als Pilzkonzept bezeichnet: Der Stiel wird durch die Nord-Süd-Trasse, der nördliche Teil des Innenstadtrings als Hutform gebildet. Im Gegensatz zum Lehrter Bahnhof, wo es um repräsentative Hauptstadtarchitektur geht, ist der Gesundbrunnen ein klassisches Eisenbahn-Bauprojekt.13 Dies dient nur als ein Beispiel für die mobile Umstrukturierung einer Stadt. Der alte 12 Vgl. Girot, Christophe: »Movism. Prolog zu einer visuellen Theorie der Landschaftsarchitektur«, in: Archithese 34(4), 2002, S. 42-45. 13 Vgl. das Interview mit Volker Weiß, Chef des DB Projektbau Berlin Nord in: Ulrich, Andreas: Zwei Kilometer Deutschland. Berlin: Das Neue Berlin 2005. S.177ff. 145
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
Stadtring, und mittlerweile historische S-Bahn-Ring, ist auf dieser neuen Achse nicht mehr von Bedeutung. Außer, dass er einmal konsequent von ihr durchteilt wird. Wurde die Stadt vorher von Ost nach West, und umgekehrt, gedacht, so erhält sie nun neue Nord-Süd-Linien, die wiederum neue Umstrukturierungen mit sich führen werden. Der alte europäische Stadtring wird immer weniger von Bedeutung für diese neue Stadtausprägung. Es wurde zuvor bereits angesprochen: In Mittel- und Westeuropa herrscht Schrumpfung der Großstädte. Arbeitslosigkeit genauso wie Wohlstand können Gründe der Stadtflucht sein. Die alte Industriegesellschaft ist in Auflösung begriffen. Kommunikation und Medien sind allzeit präsent. Vieles, wofür die Stadt einst stand, ist dabei, hinfällig zu werden. Sind Kommunikation und Kreativität, Öffentlichkeit, Dichte, Anonymität und Liberalität zwingend an städtische Lebensformen gebunden? Muss der Städtebau nun neue Ziele formulieren? Der ungeplante Abriss bzw. sogenannte Rückbau, heute insbesondere in ostdeutschen Städten an der Tagesordnung, kann nicht die einzige Antwort sein. Und sollen allein die sanierten Stadtzentren in den Grenzen des 19. Jahrhunderts stehenbleiben? Und lediglich schöne Bilder darstellen, aber keine Wachstumskerne? Wo wird die Freiheit und Vielfalt sein in einer Stadt der Übriggebliebenen? Der amerikanische »New Urbanism« als eine Umwandlung der Stadt in eher überschaubare Wohnsiedlungen markiert da nur eine Gefahr. Die brodelnde, unübersichtliche Stadt ist woanders zu suchen: »Ist es an der Zeit, den Schwerpunkt im Architektur- und Urbanismus-Diskurs von einer Faszination für Formen und Oberflächen, virtuelle Architekturen, Datascapes und Makro-Analysen der Städte, wieder auf die reale Stadt, das ›unerschöpfliche Inventar der Straße‹, zu verlagern?«14 Der transformatorische Urbanismus zeigt sich konzentriert auf die Frage nach der Konkurrenz zwischen den Orten und der Mobilität, und daran anschließend nach dem Umgang mit Leere. Ein Blick auf die andere Seite: Heute lebt ungefähr die Hälfte der auf 6,5 Milliarden geschätzten Erdbevölkerung in Städten. Dieser Anteil soll im Jahr 2050 auf 75 Prozent angestiegen sein. Vor allem im asiatischen Raum wird es dabei nicht mehr Städte geben, sondern die vorhandenen werden in ungeahntem Ausmaß angewachsen sein. Der Großraum Tokio ist heute bereits mit 35 Millionen Menschen der größte urbane Siedlungsraum der Welt. Europas Städte werden zwar immer musealer und im Vergleich nahezu übersichtlicher, aber wachsen entweder kaum noch oder machen sich bereits auf den Weg, in ihre Stadtplanungsvorstellun14 Dies war eine der Kernfragen der Urban Drift Konferenz am 11.und 12. Oktober 2002 in Berlin. 146
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
gen das Konzept der shrinking cities aufzunehmen. Die Fragen nach einem nachhaltigen Städtebau, einer Architektur der Inklusion und nicht der Segregation, einem funktionierenden Transportsystem und nach zugänglichen öffentlichen Räumen sowie good governance sind Felder, die auch auf der Architekturbiennale 2006 in Venedig für die Stadt der Zukunft gestellt wurden.
Aufmerksamkeit und Zerstreuung Vom makroskopischen Blick nun ein Sprung zurück zu Allie Parker und den Fragen der mikroskopischen Stadtwahrnehmung im Film: Im parkerschen Sinne entwickelt das Phänomen der städtischen Aufmerksamkeit in PERMANENT VACATION nun eine Tendenz, die ausschlaggebend für die aktionslose Bewegung durch den Raum wird. Die Bewegung selbst, als zeitliches und kontingentes Ereignis erfährt dabei eine anders gelagerte Betonung: Sie wird hier, unabhängig von Zielen und Regeln, eher instinkthaft vollzogen. Ihr Erfahrungsraum bleibt so als Potential offen, und nicht allein vorstrukturiert. Als Technik und Praktik bleibt die Aufmerksamkeit verbunden mit einem unkalkulierbaren Element. Auf diese anderen Seiten der Aufmerksamkeit am Beispiel des vorbewußten Denkens hatte bereits 1922 Julian Varendonck in seiner Studie Über das vorbewußte phantasierende Denken hingewiesen.15 Dieses kann während bestimmter Zustände von Zerstreutheit eintreten, die sich einer aufmerksamen Wahrnehmung erst einmal zu entziehen scheinen. Sie sind vergleichbar mit dem Modus des Tagträumens, treten durch Reizaffizierung ein und sind grundsätzlich schwer zu erinnern, ähnlich eines automatischen zwingenden Bewußtseinszustandes. Als »Folge von halluzinatorischen Erinnerungen« weisen sie den »Charakter des Sprunghaften« auf.16 Sie sind keine gerichteten Gedankengänge, sie passieren als andere Form der Gedächtniskraft gegen die Ausschlusskräfte des Bewußtseins. Durch äußere Reize hervorgerufen, können sie also insbesondere auch im zerstreuten Sehen des Kinos angesiedelt werden. Wichtig wird beim Thema der Aufmerksamkeit in den Filmaufnahmen wiederum, wie Allie Parker vom Film in den Stadtraum eingebettet erscheint. Der fragmentierte Blick der Aufnahme ist von uns längst verinnerlicht, ist fester Bestandteil der Perzeption. Die Wahrnehmung der Stadt ist eine dem Film zum Teil analoge Sehweise. In ihm können dabei schockartige Erlebnisse genauso wie ruhige Momente der Selbst15 Varendonck, Julian: Über das vorbewußte phantasierende Denken. Wien: Psychoanalytischer Verlag 1922. 16 Ebd., S. 91. 147
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
versunkenheit begegnen, die Aufmerksamkeitsverlagerung zeigt sich grundsätzlich als Wechselspiel mit dem und im Raum. Im Sinne der Aristotelischen Wahrnehmungslehre gibt es hierbei Aufmerksamkeitsleiter wie etwa die Bewegung.17 Die größere Bewegung verdrängt nach Aristoteles in unserer Aufmerksamkeit die geringere. Doch wenn die Sinne zu stark in Anspruch genommen werden, können diese auch abstumpfen. Die große Geschwindigkeit wird irgendwann wieder ein Mindermaß nötig erscheinen lassen. Dennoch ist im Sinne des Schockmomentes die Nähe der Aufmerksamkeit insbesondere zur Verwunderung und zum Erstaunen wichtig. Sie erscheint »als ein Schwellenphänomen. Sie tritt dort auf, wo der endlose Strom unmerklicher Perzeptionen in eine bewusste Apperzeption übergeht. Sind die Eindrücke zu gering, zu schwach und zu gleichförmig, so gewahren wir sie noch nicht, so wie das Geräusch der Einzelwellen im Getöse des Meeres untergeht.«18 Jede Apperzeption braucht folglich eine gedächtnishafte Verankerung, um ein Erinnerungsvermögen selbst kleinster Eindrücke zu ermöglichen. Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit verschränken sich dergestalt in der Aufmerksamkeitserfahrung. Das Aufmerken selbst bereitet so bereits den Boden für diese fortdauernde Schwellensituation. Ein unabschließbarer Prozess von Bewusstwerdung kann so potentiell im Gedächtnis verankert werden. Differenzierung und Entdifferenzierung warten hier auf ein Anstoßen, bzw. eine Variante von Erweckung. Eine schlichte Aufmerksamkeit auf das Leben selbst scheint dabei oftmals die größte Herausforderung zu bilden, muss sich hier doch der gegenwärtige bewegte und fühlende Leib der oft überhandnehmenden Geistesaktivität und einer Menge angehäufter Erinnerungen stellen. Als radikale Zeiterfahrung macht die Gegenwart eines Ereignisses Ungleichzeitigkeiten fühlbar: zwischen nicht mehr und noch nicht fügt sie ein ist ein. In der mobilen Erfahrung des Films werden derartige Schwellenereignisse nun potenziert. Die Kinästhesie funktioniert hier in besonderem Maße über ein Nah- und Fern-Sehen der Augen. Das Bewegungssehen wird zu einer Passage, der eine besondere Dauer innewohnt. Gerade im Modus des Vorübergleitens birgt die kinästhetische Erfahrung ein Potential der anhaltenden Aufmerksamkeit. Und das gerade trotz der Schwierigkeiten des zunehmenden Betäubtseins gegenüber dem filmischen Fahrempfinden. Diese Möglichkeiten zur Anästhesie vermeidet der Film offenkundig meist mit Hilfe der Montage. Wenn diese wegfällt bzw. wenn man nur die einzelne, ungeschnittene Fahrt- oder Gang-Einstellung betrachtet, gibt es Möglichkeiten zum erhöhten Aufmerken gegenüber 17 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 17. 18 Ebd., S. 22. 148
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
einem filmischen Sehen als solchem genauso wie zu allen Varianten der Dekonzentration und des schlichten sensationellen Wirkenlassens. Hier kommt zur Seherfahrung ein Pathos hinzu, das gleichsam den Erfahrungsmodus erst vervollständigt. Das Eingesogenwerden, das Vorübergleiten immer auch als Schockvariante, als überwältigende Anästhesieform: »Die befremdende Kraft dieser Werke besteht daher darin, immer stärker den undefinierbaren Fächer eines anderen Kinos zu öffnen, in dem sich entsprechend die Bedingungen einer Ästhetik der Verwirrung präzisieren und erweitern.«19 Im Modus der Schwellentransformation fällt dabei der Beginn und das Ende einer Bewegung zusammen. Sie werden zur permanenten Schwebe, die ebenso permanent Grenzen bricht. Diese waren seit jeher zum einen in der Tiefe des Raums verankert als dessen Fluchtlinien. Den Gegensatz bilden zum anderen die Grenzen der Nähe. Das nahe Fahrtbild entspricht dem Seitenblick aus dem Fenster, dem panoramatischen Zugfensterblick. Hier gibt es kein Auftauchen aus dem Hintergrund wie im Entgegenkommen von Vorder- und Hintergrund des frontalen Fahrtblicks. Stattdessen verwischt alles in gleicher Distanznähe auf der immergleichen Oberfläche. Fensterblick und Bildwand treffen in der Bewegungsvornahme aufeinander. Vorder- und Hintergrund treten zueinander in Austausch. Perspektivische Orientierungen, wie beispielsweise Figurüberlappungen, werden hinfällig. Im Sinne der Zeitflussmetaphern wird das Gehen bzw. die Bewegung zum Arbeitsinstrument dessen. Die Scheiben des Gefährts tragen dazu noch ihr übriges bei. Vorne und hinten, hier und dort, vorher und nachher kommen zusammen und überlappen sich, die einzige Konstante bildet der Horizont und das daraus folgende Oben und Unten. Ein privilegierter Ort der An- sowie Aussicht wird nicht ermöglicht. Doch gerade im Entzug dessen werden Blickweisen des Unfertigen, Flüchtigen und Ausgelassenen möglich. Synchrone und heterochrone Sichtweisen entstehen. Als Übung des Loslassenmüssens aufgrund des ständigen Vorüberziehens wird der aktuelle Blick somit einer, der nicht festhalten will. Und genau darin mit der Zeit geübter wird. Das ständige Kommen und Gehen der Eindrücke wird zur normalen Sehweise: »Solange das Erkennen und Streben sich auf dem Boden und im Horizont vorgegebener Möglichkeiten bewegt, regiert das Immer-schon, das Immer-wieder bzw. das Immerweiter, wenn die Möglichkeiten ins Unendliche projiziert werden.«20 Doch anders als eine kaleidoskopische Aufmerksamkeit treten hier unterschiedliche Aufmerksamkeitsfunktionen auf. Der Aktivitätsgrad 19 Bellour, Raymond: »Über ein anderes Kino«, in: Gregor Stemmrich (u. a.) (Hg.): Kunst/Kino. Köln: Oktagon 2001, S. 251-269, hier S. 253. 20 Waldenfels: Aufmerksamkeit, S. 94. 149
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
dieser kann ein sehr wacher und angespannter sein, versucht das Auge doch permanent Orientierungspunkte auch im Flüchtigen herauszufiltern. Die Konzentration kann zu einem Erkennen von Tiefe im Bewegten beitragen. Es treten also genauso Schock wie Versunkenheit ein. Der anhaltende Schockzustand im konzentrierten Fahrtblick wird dennoch zum Paradigma der filmischen Wahrnehmung. Als Erfahrungsphänomen wird die Aufmerksamkeit für den Raum hier grundlegend zweideutig. Wohlund Missbefinden zugleich, Anziehung und Abstoßung, wird es zur Metaphern des empfindenden Subjekts. Ein Dualismus scheitert hier, wird verbunden und kristallisiert zu neuen Formen der Ansicht. Die Aufmerksamkeit des Sehens enthält zugleich ihre Nicht-Aufmerksamkeit. »Dem entspricht auf seiten des Aufmerkenden ein Vorziehen und Zurückstellen. Auf diese Weise wird etwas zum Thema. Was hervortritt, tritt nicht nur aus der Fläche heraus, es bildet auch den Mittelpunkt eines thematischen Feldes, das nach Nähe und Ferne zum thematischen Kern gestaffelt ist. Was nicht zum Thema gehört, tritt an den Rand. […] Zentrum und Rand sind keineswegs statische Größen, sondern Produkte einer ständig sich erneuernden Zentrierung und Marginalisierung. Ränder, die das enthalten, was nicht dazugehört, sind also zu unterscheiden von Hintergrundphänomenen oder Erfahrungshorizonten, die alles einschließen, was dazugehört, was wahrnehmungsbereit und verfügbar ist und bei Bedarf eingesetzt werden kann.«21
Der Unterschied von Aktualität und Virtualität organisiert sich so in den Fahrtbildern permanent um. Walter Benjamin hat der einseitigen negativen Beurteilung der Zerstreuung entgegengearbeitet, und nicht die Sammlung und Konzentration allein gutgeheißen. Auch Waldenfels sieht hierzu keinen Anlass, wenn er notiert: »Dies betrifft den Unterschied zwischen jenen Aspekten, die dem Spannungsverhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit unterliegen, und jenen, die mit der Differenz von Figur und Grund zusammenhängen. Die Zerstreutheit entspringt einem Übermaß an Vielheit, Komplexität und Zerstückelung, während die Träumerei und Versunkenheit mit verschwimmenden Konturen, fließenden Übergängen, Schwächung der Figurbildung und einem Überhandnehmen des Grundes einhergeht. Der Zerstreute ist mit seinen Blicken, Gesten und Gedanken woanders, während der Schläfrige den Boden des Gewohnten unter seinen Füßen verliert.«22
Die Sichtbarkeit der Dinge wird durch ihre Sichtbarkeit in Filmbildern des Fahrdispositivs dergestalt neu erfahren: Sie ist im Wechsel, kann fi21 Ebd., S. 102. 22 Ebd., S. 105. 150
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
gurativ und abstrakt zugleich funktionieren. Sie haben die Wahrnehmungsarbeit der modernen Fortbewegungen integriert, in eine Bildsprache übersetzt: »Wenn es zutrifft, dass bildliche Momente auf irreduzible Weise all unsere Erfahrungen durchdringen, so müssen sie bereits auf der Ebene der Wahrnehmung aufweisbar sein. Dies besagt nicht, dass wir Bilder wahrnehmen, wenn wir etwas wahrnehmen, wohl aber besagt es, dass wir immerzu ›in Bildern‹ oder ›durch Bilder hindurch‹ wahrnehmen, was wir wahrnehmen, und dies eben nicht nur dann, wenn die Bildfunktion ausgelagert und selbständigen Bildträgern anvertraut wird. Nehmen wir die perspektivische Brechung und Modulierung der Wahrnehmung, bei deren Entdeckung die bildenden Künste der Philosophie um einiges voraus waren. Hier stoßen wir auf Ansichten oder Aspekte, in denen etwas sich aus einem bestimmten Blickwinkel, im Zentrum oder an der Peripherie des Blickfeldes, in deutlichen oder verschwommenen Umrissen, aus der Nähe oder aus der Ferne darbietet. Nun gehören Seitenansicht oder Nahperspektive ganz und gar der medialen Zwischensphäre an; denn sie lassen sich weder als dingliche Merkmale noch als mentale Zustände fassen, sondern nur als Zusammenspiel dessen, was erscheint, mit dem, dem etwas hier und jetzt erscheint.«23
Aktuelles und potentielles Sehen enthalten sich folglich gegenseitig. Zugleich ›hier‹ und ›da‹ zu sehen ist nach Husserl die kinästhetische Motivation der Wahrnehmung. Diese wird gerade in ihrer Leibgebundenheit als schlichter Prozess und Wandel deutlich. Das Pathos des beschleunigten Bildes als Schwellenbild verschafft eine zusätzliche Unmittelbarkeitserfahrung. Wie bei Malewitschs Schwarzem Quadrat kann hierin eine Form genauso wie ein Loch als Hindurchsicht zugleich gesehen werden. Tiefe und Fläche können sich abwechseln und in ein Kippspiel übergehen. Durch die Bewegung haben wir in diesem Sehen simultan den Sehentzug mitenthalten und mitgedacht. Durch das Vorübergleiten sind permanente Spuren der Abwesenheit innerhalb der transitorischen Erfahrung gegeben. Das Bild des Raumes wird zugleich sinnliche Aufnahme von Verdichtung und Zerstreuung in der Wahrnehmung.
Die sinnliche Stadt Während eines Vortrags zu Die sinnliche Stadt24 brachte es Giuliana Bruno auf den Punkt: Wenn Schönheit dazu da ist, ein angenehmes Ge23 Ebd., S. 210. 24 Beitrag von Giuliana Bruno im Mai 2005 auf einem Symposium, das anläßlich unzähliger Veranstaltungen und Ausstellungen zum Thema »Über 151
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
fühl beim Betrachter zu erzeugen, folglich also dabei hilft, mit dem eigenen Selbst in einer Variante von Wahrnehmungsspiegelung und/oder -projektion zu einem Genuss zu gelangen, dann ist dies eine Erfahrung der angenehmen Art, die zuallererst einmal über die Augen bewerkstelligt werden kann. Wie ist dies nun aber mit der Frage nach einer schönen Stadt zu vereinbaren? Schön kann hier nur im weitesten Sinne von sinnlich gemeint sein. Als Austausch von Wahrnehmung und Raum folglich, der natürlich nicht immer schön sein muss, der aber dennoch sinnliche Erfahrungskonstruktionen auf unterschiedlichste Weise bereit hält. Für Bruno ist dies als intersubjektive Beziehung zu begreifen, die nur im Austausch von Bewegung und Sinnen (motion and e-motion25) zustande kommen kann. In diesem Sinne funktioniert der urbane Raum für sie wie eine Falte nach Deleuze. Eben als etwas, dem die Macht zur Transformation innewohnt. Etwas, das bewegt und berührt. Von dem man sich affiziert fühlt. Geleitet ist man dabei natürlich immer von einer subjektiven Kategorie des Ge- und Missfallens zugleich. Geschichten des Gefallens gibt es zuhauf, und eben gerade auch in Auseinandersetzung mit der geliebten oder gehassten großen Stadt. Sie ist dergestalt nach Bruno ein »touchy subject«.26 In ihrer gefilmten Variante nun, Bruno spricht hier am Beispiel von Wong Kar-Wais IN THE MOOD FOR LOVE (2000), wird die Rahmung einer urbanen Sichtweise von Belang. Die kadrierte Falte folglich macht neugierig auf das, was gerade nicht zu sehen ist. Was verborgen ist und vermutet werden kann, im Off, im hors-champ nach Deleuze. So macht erst der Filmraum die Möglichkeit der unendlichen, da angeschnittenen, Öffnung explizit. Die Innenräume Kar-Wais verdeutlichen dies ein ums andere Mal: Stoffe, Vorhänge, verhüllte Fensterblicke – beschränkte Einund Aussichten im offensichtlichsten Sinne also. Selbst der Ablauf der Zeit ist für Bruno hier allein über den Wechsel der Kleider codiert. Sehnsüchte, Gefühlsregungen fließen hier aus sämtlichen Bildfalten. Eine annähernd taktile, sinnliche Kinoerfahrung. Derartige Räume des Kinos wirken in diesem Sinne für Bruno wie transformative architecture, ähnlich den Faltenwürfen in der Mode. Ein Hauch von Bewegung äußert sich in ihnen. Das Raumbild kann so einem Schönheit – The Re-Turn of Beauty« am Berliner Haus der Kulturen der Welt im Mai 2005 abgehalten wurde. 25 Giuliana Bruno am 13. Mai 2005 auf der Konferenz »The Re-Turn of Beauty« am Berliner Haus der Kulturen der Welt. (Auf Deutsch als: Bruno, Guliana: »Falten der Schönheit: Film, Mode und Architektur«, in: Lydia Haustein/Petra Stegmann (Hg.): Schönheit. Vorstellungen in Kunst, Medien und Alltagskultur. Göttingen: Wallstein 2006, S. 93-118). 26 Ebd. 152
TRANSIT-RÄUME: VIRTUELLE UND AKTUELLE TRAJEKTE IM AUSTAUSCH
Loop gleichkommen: wo zwar vermeintlich alles in eine Richtung läuft, aber es durch Wiederholung oder Verschiebung der Ausschnitte scheint, als ob man doch wieder am Ausgangspunkt angekommen sei. Kein Weg hinaus, nur interne Löcher, Ritzen und Falten. Stillgestellte Zeit auch in der Bewegung. Daran anschließend stellt sich allerdings die Frage, wie die Bewegungseinfügung letztlich auf die spürbaren Emotionen zurückwirkt. Und ob sie sie vielleicht sogar verscheucht, da doch das intensive Fühlen meist auch eine Form des Stillstands, des In-sich-Gekehrtseins verlangt. Für Bruno fügt aber gerade dadurch das Kino Bewegung in unsere Wahrnehmung ein: Das Verborgene der Falte motiviert das Gedächtnis. Schon Robert Musil hatte in seinem Mann ohne Eigenschaften darauf hingewiesen, dass jede Stadt am leichtesten über die Bewegung in ihren Straßen erkenn- und also verstehbar sei. Sinnliche Reize gestalten die jeweilige typische Atmosphäre einer Stadt – ob negativ oder positiv, zumindest synästhetisch einprägsam. Guy Debord brachte dies auf das Schlagwort Psychogeographie. In den neuen Plänen für die Weiterentwicklung Shanghais wird die Stadt nicht mehr als starre Einheit, sondern als dynamischer Prozess in Raum und Zeit angesehen. Das schnelle Schaffen von neuen Orten, Netzwerken und Umstrukturierungen zwischen und in den einzelnen Vierteln soll jederzeit möglich sein bzw. möglich gemacht werden können. Beweglichkeit wird dergestalt als die Essenz urbaner Erscheinungen so groß geschrieben wie nie zuvor. Plätze, Lücken und ihre Räume dienen dabei als Pausenmarkierungen sowie Beschleuniger urbaner Perzeption zugleich.
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DER ZUSTAND
DE R
FAHRT:
F I L M I S C H E S T E RR A I N V A G U E
»Andererseits gibt es Augen-Filme, deren Inhalt sich nicht erzählen lässt, deren Form sich keiner Kritik andient. Filme, die ihr Material aus der Schärfe einer verdichteten Beobachtung, aus dem Urteil des Lichts und der Rigorosität des Schnitts beziehen. Filme, die ihre Theorie nicht im Dialog fortschreiben, sondern in Bildern neu erfinden.«1 »Ich glaube, die Leute neigen dazu, Dinge zu sehr zu dramatisieren, besonders im Film. Sie wollen, dass es die ganze Zeit spektakulär zugeht, und sie wollen einen Plot haben, Verwicklungen. Aber das Leben hat keinen Plot, und nicht jeder Augenblick ist dramatisch. Von jemandem wie Billy the Kid glauben alle, er hätte ein wildes Leben gehabt, aber auch da gab es Zeiten, zu denen er nur herumsaß und nichts getan hat. Es wäre vielleicht interessant, darüber mal einen Film zu machen.«2
W i d e r d i e N ar r a t i v i k : Leere und gefüllte Räume Die Kamerafahrten in den Filmen Jim Jarmuschs sind angespannt in einer unbedingten, ereignishaften Genauigkeit der Oberflächenabbildung. Sie sind konzentriert und entgrenzt zugleich, und haben dergestalt etwas von einer sich selbst zuwiderlaufenden Post-Erhabenheit: unaufgeregt, immanent, schlicht. Wenn Allie Parker am Straßenrand entlangschlendert, dann ist er die ganze Zeit aus einem fahrenden Auto heraus gefilmt. Eine Methode, die aus finanzieller Knappheit geboren wurde, aber sie ist
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Karsten Witte, zitiert nach Eue, Ralph: »Off-Beat Heroes«, in: Rolf Aurich/Stefan Reinecke (Hg.): Jim Jarmusch. Berlin: Bertz 2001, S. 47-122, hier S. 50. Jim Jarmusch, zitiert nach ebd., S. 113 155
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
für Jarmusch zu einer der beliebtesten Einstellungen geworden. Sie ist direkte Umsetzung des driftenden Geisteszustands seines Protagonisten: permanent in Bewegung, und dennoch aufmerksam für jeden Augenblick. Fragen nach Aufbruch, Fort-Sein und Grundzuständen der Mobilität kristallisieren sich hier. Und zugleich: wären in GHOST DOG die Kamerabewegungen nicht so langsam, man würde die zentralen Ereignisse übersehen – was sich im Off abgespielt hätte, rettet die Dehnung. Das ist die andere Frage, die bei Jarmusch wie bei anderen Filmen mitschwingt.
MARSEILLE Sophie scheint mitten in der Straße zu stehen. Sie macht Photos in die Tiefe dieser Straße hinein, den Kamerablick frontal auf die heranfahrenden Autos gerichtet, in die Fluchtlinien einer Fahrbahn folglich. So wie alle Einstellungen in den Filmen Angela Schanelecs, ist auch diese lang. Man wird mit Dauer, mit Langsamkeit, mit stillen konzentrierten Momenten konfrontiert. Und das inmitten einer von Geschwindigkeit dominierten städtischen Situation. Man bekommt selbst Angst um die Hauptfigur Sophie. Es lässt sich nicht richtig einordnen, ob sie sich noch genügend am Straßenrand oder schon zu weit in der Straße befindet. Das macht die Tiefenstauchung des Kinobildes, und damit des Kameraobjektivs, nicht genau erkennbar. Man ist irritiert. Doch sie steht da, bleibt genau dort, wo sie ist – und fotografiert in einer konzentrierten Ruhe weiter. (Abb. Marseille)
Abb. Marseille Wie in dieser Einstellung, so scheint es Sophie den ganzen Film über zu gehen. Vielleicht befindet sie sich schon viel zu weit in den urbanen Situationen, ob in Marseille, in einer Bar, am Strand, auf der Straße. Oder in Berlin, in einer Küche, im Schwimmbad, etc. Zumindest viel zu weit schon mittendrin. Doch sie bleibt gleichsam überall fremd und beobachtend. Das Fotografieren findet manchmal, aber eben nicht immer statt.
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DER ZUSTAND DER FAHRT: FILMISCHES TERRAIN VAGUE
Wie ist es, in einer völlig unbekannten Stadt zu leben? Ohne jemanden zu kennen. Ganz allein zu sein. Wie Sophie in Marseille. Wann könnte der Punkt erreicht sein, an dem man angekommen ist? Wie kann man sich all den unbekannten Straßen und Plätzen, den Bars und Alltagsgeschäften nähern? Schanelec gibt einfache Beschreibungen: Früchte essen, ein Auto leihen, Kaffee trinken, am Fenster stehen. Nur ein paar von unzähligen schanelecschen Möglichkeiten des Registrierens urbaner Landschaften und Zustände. Die Filmemacherin hat ein Gespür für die unsicheren Details im unaufgeregten Alltag. Ihre Kamerablicke können endlos ruhen und warten. Und sie hat das Glück, Schauspieler zu finden, die dies zu tragen wissen. Nach PLÄTZE IN STÄDTEN (1998) und MEIN LANGSAMES LEBEN (2001) findet das auch in MARSEILLE eine Fortsetzung. Wieder eine Arbeit am Bild, die nach außen schauen will, sich von einer Stadt, ihren Oberflächen und ihrem Alltag inspirieren lässt. Ein ganz leiser Film, der beobachtet, ohne sich heran zu drängen. Der durch Straßen schlendert. Mit den Figuren. Man könnte auch von filmischer Psychogeographie sprechen. Die Protagonisten lassen sich von einer Stadt berühren, leiten – ohne Ziel. Wie Allie Parker befindet sich auch Sophie in einer ähnlichen Konstellation. Es geht hier weder um eine Geschichte, noch um Handlungen oder ein sogenanntes Hauptereignis. Falls es ein solches gibt, wird es zumindest nicht von Schanelec in Szene gesetzt. Stattdessen scheint sie Zustände, Folgen, Reaktionen zeigen zu wollen. Die fehlenden Handlungsglieder darf der Zuschauer selbst zusammen fügen oder auch nicht – das bleibt jedem überlassen. Schanelec geht davon aus, dass jeder seinen eigenen Film sieht und dergestalt erschafft: Der Film arbeitet mit einem mündigen Zuschauer. Die Rezeption ist nicht gleich der Rezeption. Eine große Konzentration herrscht in MARSEILLE, auch wenn die gefilmte Stadt selbst als wuchernd, und von Schanelec als wirr, bezeichnet wird. Denn die Stadt liegt – und darauf wird es am Ende ankommen – am Meer. Das Meer und seine klare Horizontlinie birgt das nötige Minimum an Orientierungshilfe im urbanen Durcheinander aller Szenen zuvor. Hier wird Sophie am Ende des Films endlich ein Ankommen erleben dürfen. Die horizontale Linie hilft somit einmal mehr der Wahrnehmung des Films und seiner Protagonisten inmitten fluktuierender Räume. Sophie hat demnach endlich eine Rückkoppelung an die eigene ausschnitthafte Wahrnehmung und den persönlichen Gesichtskreis gefunden, die sie für kurze Momente inmitten all der Straßen zu verlieren drohte. Doch selbst hier hatte sie es mit Hilfe der eigenen Kameraarbeit bereits verstanden, sich eigene Rahmen zu schaffen. So wird ihr Blick selbst im Geschwindigkeitschaos nur noch mehr geschult, und die Aufmerksamkeitsarbeit inmitten der sich
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AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
erschließenden architektonischen Umfelder wird durch die eine gerade Horizontlinie nur noch einmal ver- sowie gestärkt. Dazu Schanelec: »Interviewer: Ihre Hauptfigur, Sophie, wird am Ende überfallen, sie wird beraubt, ihr bleibt nichts mehr übrig. Ist das nicht ein schreckliches Ende? Schanelec: Sie ist am Strand, sie trägt ein gelbes Kleid, sie sieht das Meer. Nein, ich finde das Ende sehr schön. Sie ist ein wenig erlöst von sich selbst. Interviewer: Ist das die Geschichte? Schanelec: Die Geschichte?«3
Schwebendes Bild und Warhol In den Filmen Andy Warhols geht es auf andere Weise um das pure Aufzeichnen und Protokollieren alltäglicher Situationen. Einer der berühmtesten ist EMPIRE (1965): Acht Stunden lang wird hier in einer Einstellung das Empire State Building gezeigt. Die Stunden vergehen und die Lichtverhältnisse, außerhalb und innerhalb des Gebäudes, wandeln sich. Das ist alles. Und das ist viel. Denn die anfängliche Qual des Betrachtens ob solcher Handlungs- und Spannungslosigkeit verflüchtigt sich zunehmend in neuartige Aufmerksamkeitspotentiale. In EAT (1964) oder SLEEP (1964) kann man endlos lange einem Menschen bei der im Titel genannten Aktivität bzw. Nicht-Aktivität zusehen. Die Bilder, gerade in letzterem oder auch in den »Beauty #2«-Aufnahmen zeigen ein stilles, mehr oder weniger auch stillgestelltes, Gesicht, das, blickend oder nicht, ganz der Betrachtung durch den Filmrezipienten zur Verfügung steht. Man kann unendlich zusehen und wird doch nie das Gefühl los, die Oberfläche jemals erschöpfend betrachtet zu haben bzw. betrachten zu können. Kleinste Veränderungen auf den Gesichtern werden mit zunehmender Dauer des Films atemberaubender als ein jeder Schnitt. Es passiert nichts oder nicht viel, es gibt nur minimalste Ein- und Ausdrücke, und genau dies besitzt plötzlich das Potential, sämtliche bekannte thrills zu überbieten. Gleichsam atemlos beginnt man nach der Gewöhnungszeit in den Kinosessel zu sinken und starrt auf dieses lebendige NichtGeschehen auf der Leinwand vor einem. Es passiert plötzlich soviel in diesem Nichts an Handlung, und man selbst beginnt die eigenen spannenden Konzentrationspunkte innerhalb der Aufnahme zu setzen. Entdeckt barthessche punctums und deren Gegenteil in Gesichtern und Räumen, ist gefesselt an eine Einstellung, ein Gesicht, einen Ausdruck, ein Augenlidzucken, eine Träne.
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Zitiert aus dem Interview im Presseheft von MARSEILLE. 158
DER ZUSTAND DER FAHRT: FILMISCHES TERRAIN VAGUE
Seine Stills zu sehen, die gerade keine stillstehenden, eingefrorenen Aufnahmen als Filmausschnitte sind, sondern Echtzeitportraits, ist folglich wie Reisen auf der Stelle. Eine gesteigerte Form zumal. Bewusstseins- und Sehdauerreisen gleichermaßen. Eine Beobachtungsform, die Angst hat, auch nur das geringfügigste Detail zu verpassen. Eine manische Aufzeichnungsarbeit, die im Abspielen einiger Filme noch verlangsamt wurde, um eventuelle Aufzeichnungslücken, etwa beim Spulenwechsel, auszugleichen. Dabei kommt es genau auf dieses verlangsamte Abspielen an, es müssen und können nur die einfachsten Lösungen sein, die eine völlig neue Wirklichkeitssicht eröffnen. Für Jonas Mekas ist das warholsche Kino eines der Präsenzen. Etwas brennt sich in seiner reinen puren Anwesenheit vor der Kamera ein. Und das ist alles. Und zugleich absolutes Maximum. Als ob seit je alle Handlung im Kino zur reinen sanften Ablenkung gedacht war. Um die Präsenz des Gefilmten zu mildern, von ihr abzulenken. Und es vielleicht ertragbarer zu machen. Der Film wird so zum Gegenteil seines Materials. Er ist kein linearer Streifen mehr. Kein materialgewordener Straßenbeton, der die Geschwindigkeit provoziert. Dem das Beschleunigen, Fahren und Verfolgen immanent als materiale Veranlagung der Bewegungsphotographie gegeben ist. Jeder Ablauf, jede einfache Bewegung, kommt in den warholschen Stills ganz bei sich an. Ein Da-Sein, das abgebildet werden kann, eine Präsenz, die plötzlich schockierend gewiss wird. Zudem wird bei dieser konzentrierten Wirklichkeitsbeobachtung ein Diskurs zwischen Fragen nach Echtheit oder Künstlichkeit bewusst unterlaufen. Für Warhol gibt es da draußen nichts echtes oder unechtes, bzw. der fake selbst ist meist schon zur besseren, ehrlicheren Realität geworden. Ernsthaftigkeit vorzutäuschen wäre somit die beste Möglichkeit, unecht zu sein. Ein offenes, unvoreingenommenes Sehen, gleich dem Blick des Kindes bei Baudelaire. Es geht um ein selbständiges Zeitausfüllen beim Betrachten des Nicht-Geschehens. Um eine Provokation des Auges, um ein Reinigen des Sehens hin zu einer neuen Naivität, in welcher erst ein neuer Reichtum sichtbar werden kann. Im Sehen, verzögert, aufmerksam und schläfrig zugleich, setzt ein Schwebezustand ein. Eine konzentrierte Oberflächensichtweise liefert ein schwebendes Bild, eines, das einen Zwischenzustand einhält und auslöst. Und diese Oberfläche zugleich als alles (dahinter gibt es nichts) anpreist. Auf den Filmschnitt verzichtet Warhol dabei weitestgehend. Er nennt dafür als einzigen Grund: zu aufwendig, zu ermüdend.4 Wiederholung und Stillstand, Leerlauf und Zufall – das sind die Elemente, die allein benötigt werden. Minimalis4
Vgl. Berg, Gretchen: »Nichts zu verlieren. Ein Gespräch mit Andy Warhol«, in: Ofner, Astrid: Andy Warhol Filmmaker. Wien: Viennale 2005, S. 62-70, hier S. 66. 159
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mus, camphaft versetzt. Verbreiterung des Spektakels durch das unendliche Angebot des Anschauens und Aufsaugenkönnens einer Ansicht. Gespeichertes Zurschaustellen ohne Wertung.
Schifffahrt und Vagheit Ein Ringen mit anderen Wahrnehmungen, ob verzerrten oder verzögerten, ist es auch, das den Erzähler Ismael in Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) Kapitän Ahab auszuloten versucht. Wasser und Luft dienen ihrer berühmten Schifffahrt als Medien, als Übertragungsmodi, die zwischen Sinnesorgan und wahrgenommenem Objekt liegen und Übersetzungsleistungen vollbringen. Die Handlungen, welche zwischen dem Wal und der ihn verfolgenden Schiffsbesatzung ablaufen, unterliegen tatsächlichen optischen Täuschungen und subjektiven mentalen Wahnvorstellungen. Die Grenze von Wasser und Luft bricht der Lichtstrahl auf vielfältige Weise. So können die Boote dem verfolgten Wal riesig erscheinen, der Wal selbst kann in seiner Übersetzung auf das luftgebundene Auge nicht minder kolossal und somit volumentechnisch verzerrt wirken. Mit Hans Belting kann hier eine »unstabile Schiffssituation, die dem perspektivischen Gesetz entzogen ist« ermessen werden.5 So wird eine Form der kontinuierenden Darstellung in einem seitlichen Vorübergleiten etabliert. Innerhalb dieser sich ständig verändernden Raumordnungen beobachtet Ismael bei Melville fragend, zweifelnd und stockend zugleich. Nichts ist, wie es scheint, und im nächsten Moment können sich neue ungeahnte Sehweisen bieten. Nils Röller bezeichnet dieses als produktive Vagheit, die Differenzen aufrecht, in der Schwebe hält, und damit neues Denken anregt. Kein Stillstand ist in einer solchen Fahrt- als Schwebesituation in Sicht. Alle Fragen generieren sich immer wieder aufs Neue durch die anhaltenden Schwellenzustände. Und es ist dennoch kein Ausnahmezustand, der sich bei Ismael bemerkbar macht, es ist vielmehr einer, der schlichter Normalität entspricht. Der einzige Ausnahmezustand, der hier im Sinne absoluter Intensitäten zum Tragen kommt, ist das Streben Ahabs selbst. Er, der unwandelbare, der fanatische Absolutist, wird gewollt untergehen, während Ismael diesem Untergang zusehen muss. Und somit mehr sieht als alle anderen Beteiligten, und eben auch als Ahab selbst – die zwar handlungstragende, aber dennoch unbewusst hochgradig abhängige Person. Ahabs Aktionen gehören ihm nicht, er ist ein Getriebener. 5
Hans Belting am 1. Februar 2006 in seinem Vortrag »Perspektiven des Blicks – die Bildfrage in neuer Sicht« innerhalb der Berliner Thyssen-Vorlesungen »Zur Ikonologie der Gegenwart« an der HU Berlin. 160
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In diesem Vergleich erkennt Ismael eine bewusst gewählte epistemische Vagheit als die ertragreichere Mittelposition. Das Hin- und Herschwanken zwischen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsweisen wird für ihn fruchtbarster Weg innerhalb veränderlicher Situationen. Das leere, flexible Subjekt eines Allie Parker scheint hier auf. Doch nicht die fixen Vorstellungen Ahabs sind es, die ein Schiff leiten könnten, sondern die allmählichen Präzisierungen Ismaels. Das Zusammenspiel der Verhältnisse muss beachtet werden, um eine Bootsfahrt möglich zu machen. Deren Missachtung sorgt für Schiffbruch. Doch Gleichgewicht und Gelassenheit sind Ahabs Sache nicht. So verspielt er alle Hoffnung. Sein Jagdinstinkt treibt ihn in den Untergang, macht ihn alle Relationen übersehen. Das Schiff selbst, wie die eingangs erwähnte Argo, ist wiederum der Nicht-Ort, der im permanenten Ortswechsel begriffen ist und dergestalt ein anderes Sehen möglich macht. Gleichortigkeit und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster treffen hier aufeinander. Das Schiff vollzieht also eine mediale Technik, in welcher Bewusstseinsbedingungen rekapituliert werden können. Als schwimmendem Nicht-Ort ist ihm das offene Schweigen mehr zu eigen als Ahabs Fixierungsleistungen. Die Dauer und die zwanghaft erlebten raumzeitlichen Erlebnisse von Ahabs Rückreise nach der Verletzung durch den weißen Wal haben seine Fixierung und den daran anschließenden Wahn ausgelöst. Wundschmerz und Verschlagenheit haben sich bei ihm gekreuzt. Ismael protokolliert und analysiert diesem entgegen, und wird der einzige sein, der dem Wal gegenübertreten und überleben kann. Wo Bartleby und Ahab nach Deleuze primäre Naturen sind, die in den Extremen zugrunde gehen, da ist es die Prophetenfigur eines Ismael, die versucht, die entstandenen bzw. aufgerissenen anderen Perspektiven zu nutzen und auszufüllen, aber auch Verbindungsstränge zum Gewohnten aufrechtzuhalten. Er ist weder der Mann der Promenade noch der Mann der Grenzüberschreitungen, er ist vielmehr derjenige, der mit Wissen und Glück in den tückenreichen Zonen navigiert, ohne zu weit zu gehen, und dennoch genügend eingesehen und gelernt hat. »Auge und Bewusstsein«, praktiziert als goldener Mittelweg. Ein Mittelweg ähnlich jenem des filmischen Dispositivs zwischen Durch- und Aufsicht folglich. Die Tiefe und Ferne bringt während der Fahrtwahrnehmung verzögerte Zeit zustande, die Nähe zeigt sich im Gegensatz dazu in beschleunigter Zeit. Durch die Bewegung und ihre Kombination mit Ferne- und Nähewahrnehmungen schieben sich mehrere Zeitebenen in ein Bild und schaffen dergestalt ein Schichtensimultanbild: Zeiten und Räume, Tiefe und Fläche sind hier vollkommen ineinander verwoben, bilden eine neue Einheit. Eine, die nur auf der permanenten Veränderung der Bewegung basiert bzw. basieren kann. Die Desorientie-
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rung der Leinwandperspektive, der Bruch mit dem Kontinuum, zielt auf den haltlosen richtungslos beschleunigten Blick. Das Umfeld, der Blick aus dem Fahrtfenster, wird abstrakt, so wie die Stadt in FRENCH CONNECTION streckenweise zur grafischen Fläche wird. Im Gegensatz zu den virilioschen Konstatierungen kommen die Tiefe des Raums und die Tiefe der Zeit in den filmischen Fahrtenbildern gleichermaßen zu ihrem Recht. Der Bezugsboden geht in ihnen nicht verloren. Eine Arche der industriellen Bewegungserfahrung im dezentralisierten Raum folglich sowie eine Dekonstruktion von Territorium und Architektur im Raum der menschlichen Erfahrung. Der Nullpunkt liegt im Leib selbst, hier herrscht die différance von Bewegung und Nicht-Bewegung. Die Praxen der Distanzüberwindung arbeiten mit der Distanz, und ermöglichen sie zugleich.
Heterotopie Das 19. Jahrhundert als Epoche der Zeit wird für Michel Foucault im 20. Jahrhundert von der Epoche des Raumes abgelöst. Die Charakteristika des Simultanen, des Gegensatzes von Nähe und Ferne, des seriellen Nebeneinanders und Auseinanders treten hier in den Vordergrund. Nicht lineare Entwicklung, sondern ein netzartiges Nebeneinander sind dabei wesentlich. Dennoch ist eine gemeinsame Betrachtung von Raum und Zeit unabdingbar. Der mittelalterliche Raum als eine hierarchische Anordnung von Ortspunkten äußert sich hierin als Ortungsraum.6 Mit der Renaissance hatte sich dieser Raum geöffnet, der Horizont wurde mit Fluchtpunkten versehen und dergestalt unendlich. Die feststehenden Punkte einer Verortung wurden aufgelöst bzw. als bewegte im Raum betrachtet. Als Formen von Ausdehnung sind sie einzig einer relationalen Platzierung unterworfen. Diese Anordnung ist für Foucault bis heute anhaltend: »Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen.«7 Die Zeit ordnet sich dabei dem Raum unter, ist eine Verteilungsmöglichkeit von vielen. Ein belebter Raum ist dergestalt ein heterogener, also kein schlichtweg leerer homogener. Die Beziehungen innerhalb eines Raumes sind nicht immer einander anzugleichen bzw. aufeinander abzustimmen. Aber sie sind vorhanden bzw. finden statt. So geht die Utopie als unwirklicher Raum mit dem realen sozialen Raum ein Analogie-Verhältnis ein, doch sie ist in ihrer Ausgangsdefinition irrealer Art. Die wirklichen Orte, die innerhalb einer Gesellschaft existieren (wenngleich sie im homogenen
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Foucault: »Andere Räume«, S. 36. Ebd., S. 37. 162
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Interesse dieser als ausgelagerte erscheinen) sind die Heterotopien. Sie sind »tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.«8
So ist sie ein a-normaler Ort, einer der Zwischenstationen, oftmals ohne geographische Fixierung, eine Form von Schwellen des Vollzugs für unübliche und abweichende Tätigkeiten. Dabei können sie historisch gebunden sehr variabel funktionieren. Als anderer Ort und als anderer Raum gleichermaßen. Und als ein Ort, der sich in viele verschiedene Räume aufzuteilen vermag. Das Kino tut dies für Foucault durch seine dreidimensionalen Raumprojektionen. Cinédétournement im weitesten Sinne: der landscape zugleich als mediascape. Film als Wüste und Reservoir reiner Wahrnehmung. Zudem sind Heterotopien an zeitliche Bedingungen gebunden. Diese werden als Heterochronien bezeichnet.9 Sie tragen zum anderen Funktionieren einer Heterotopie bei, indem sie mit der alltäglichen Zeit brechen. Die sich endlos ansammelnde Zeit schlägt sich demnach für Foucault etwa in Museen und Bibliotheken nieder: »[D]as Projekt, solchermaßen eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren – all das gehört unserer Modernität an. Das Museum und die Bibliothek sind Heterotopien, die der abendländischen Kultur des 19. Jahrhunderts eigen sind.«10 Doch genauso gibt es jene Heterotopien, die an eine flüchtige und unsichere Zeit gekoppelt sind. Sie sind keine dauerhaften, sondern schlicht vorübergehende. Sie stehen etwa temporär für Feste zur Verfügung. Dabei beinhalten sie unterschiedliche Stellen des Austausches. Isolation und Durchdringung finden gleichermaßen in ihrem System Platz. Ihre Öffnungen und Schließungen setzen Eintrittsregelungen voraus. Sie sind immer der Ausnahmefall für ein Ritual, besondere Handlungen und Teilnahmen. In ihren Funktionen können sie sowohl Illusionsräume ermöglichen, die den Raum des realen Lebens nahezu außer Gefecht setzen, als auch Kompensationsräume, die völlig geordnet und klar strukturiert sind, so dass sie den Realraum in der entgegengesetzten Richtung zu jener der Illusionsräume überholen. Das prototypische Beispiel einer die8 Ebd., S. 39. 9 Vgl. Ebd., S. 43. 10 Ebd. 163
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se beiden Funktionen umfassenden Heterotopie ist für Foucault das Schiff. Als ein bewegter Raum-Teil ist es für ihn »ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist« und dem dergestalt das »größte Imaginationsarsenal« innewohnt.11 Gregor Stemmrich beschreibt dies abschließend so: »Foucault hat den Begriff der Heterotopie geprägt, um eine Kategorie von Orten zu umreißen, an denen sich die Imagination entfalten kann, die jedoch weder Utopien noch Atopien sind, sondern sich auf andere Weise – als Widerlager und Gegenplatzierungen – von den gewöhnlichen Orten unterscheiden.«12
Dislokationen des Bildes Das Virtuelle und Imaginäre hatte Deleuze im Film gegen die Deutungshoheit sensomotorischer Klischees im Sinne früher hollywoodesker action-reaction-Schemata gestärkt. Allein die bewegten Zeitbilder, die in vielerlei Hinsicht neue Bildwelten und -zeiten eröffnen können, stellten für ihn den Parallelstrang zur unendlichen Produktivität des Lebens selbst dar. So käme in den sich der gängigen Narration entziehenden Sequenzen des Kinos mit all ihrer Sensationsarbeit eine besondere Dynamik bewusstseinsbildend zum Ausdruck. Es geht dabei immer um ein Beobachten und Herausfiltern lebendiger Strukturen, ihres Prozessierens und ihrer Pluralität. Gerade die Form des Vorübergleitens wird dabei wichtigstes Ideenmoment. Die Veränderung von bereits Bestehendem, das prozessuale Überwinden stillstehender Elemente, ist dabei Ausdruck für das Erkennen einer bildgebundenen Passagen-Bewegung schlechthin. Und dies im technischen Filmfluss genauso wie im Wahrnehmungsfluss des Rezipienten während der Projektion. Das Leben und das Kino als permanente Entfaltung – uneinfrierbar und nicht festzuhalten: Im Anschluss an die bergsonsche Dauer wird der Film für Deleuze so zum Inbegriff des anhaltenden Wandels schlechthin. Nur im Akt des Bilderablaufs und der Arbeit mit dem dabei ebenso eingebundenen Außerhalb der Bilder wird dies nachvollziehbar. Die Kino-Philosophie erkennt den Film so als ein fortwährendes, bildgebundenes Auftauchen weltlicher Unendlichkeitsmuster einer realen Dauer und eines realen Bewusstseins. Dass es derartige Bild-Nischen gerade auch im und mit dem Bewegungsbild-Kino gibt, die jenes sensomotorische Schema gerade einem hapt11 Ebd., S. 46. 12 Stemmrich, Gregor: »Heterotopien des Kinematografischen«, in: ders. (Hg.): Kunst/Kino. Köln: Oktagon 2001, S. 194-216, hier S. 215. 164
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ischen Sehen anheim stellen und dabei zugleich die lineare Struktur des Films überholen, ist etwas, was uns ein ums andere Mal in den Fortbewegungsaufnahmen begegnen kann, und was diese Arbeit mit und gegen Deleuze betrachtet. Jean-Luc Nancy13 baut auf eine derartige Sicht Deleuzes auf und betreibt eine assoziative Form filmorientierter Theoriebildung. Gegen eine vereinfachende Simulationskritik des Kinos arbeitet er ebenso an einer Verteidigung des Realismus des filmischen Bildes, ohne dabei jedoch auf eine Weltähnlichkeit des Bildes abzuheben. Es ist also kein in erster Linie indexikalischer oder ikonischer Weltbezug, von dem seine Theorie im Sinne einer Repräsentationsthematik handelt. Viel eher geht es um ein Definieren und Beweisen der Arbeit des Blicks im, während, am und mit dem Film. Der kinematographische Blick als Herstellung und Eröffnung von Weltbezug. Das Bildergebnis im Sinne von Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsfragen wird dabei der Frage nach der Bildgenese gegenüber vorrangig behandelt. Kann letztere allerdings wichtige Einsichten für erstere liefern, was selbstverständlich der Fall ist, darf sie nicht außer acht gelassen werden. Doch genau jener Ausgangspunkt des Bildes als Spur des Realen kann nurmehr erste Stufe sein, die die Indexikalität und begehrende Bildwahrnehmung im Anfang bereits zueinander in Bezug setzt. Die Weltbezüglichkeit des Kinos ist nicht allein in einer schlichten Objekt-Bild-Beziehung gegeben. Die subjektive Seite des Blicks und die objektive Seite des Realen kommen anders als in der photographischen Bildlichkeit zusammen. Diese kann letztlich nur einer der Ausgangspunkte sein: »Nancys Realismus der ›Vision‹ begreift das Kino nämlich nicht als Medium einer Einschreibung von Welt, sondern als kommunikativen Verflüssiger ansonsten nicht (mit-)teilbarer Blicke auf die Welt, die sich im öffentlichen kinematographischen Erfahrungsraum einer komplexen Vermittlung öffnen.«14 Jeder Blick erhält hier durch einen anderen Blick Verschiebungen und neue Sichtweisen. Durch die Distanz mithilfe der ästhetisch-medialen Welterschließung wohnt dem Film ein ganz eigenes Potenzial von Anerkennung und Aufmerksamkeit des Blicks inne. So wird die filmische Rezeption eine aktive Erfahrung von Gegenwart, die in einer Kontinuitätslinie zur Wirklichkeitserfahrung steht. Die Eröffnung von Welt enthält immer auch zugleich die Unabschließbarkeit des Blicks auf sie. Die Differenz von Alltags- und Kinoerfahrung wird dabei nicht abgesprochen, doch erhält sie mit der Möglichkeit zur Blickerfahrung eines Anderen eine reale Nachvollziehbarkeit voller gemeinsamer Übergänge. 13 Vgl. Nancy, Evidenz des Films. 14 Rothöhler, Simon: »Alterität des Blicks«, in: kolik.film 5, 2006, S. 13-17, hier S. 14. 165
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Der Blick aus einem Gefährt im Film ist dabei eine besondere Form von Weltbezug: »Einerseits: die Lenkung des mobilisierten Blicks auf einen gesellschaftlichen Raum hin, der durch die ›Leinwand-Linse‹ (der) Windschutzscheibe geöffnet wird; und andererseits: die Markierungen einer humanistischen Sichtweise, die das Reale erst ›distinkt‹ und sichtbar macht durch die Insistenz (der) Kadrierungen – immer das Auto, seine Scheiben, seine Türen.«15
Dieser Blick aus dem Gefährt ist im Kino nicht zuletzt der Gegenspieler aller Omnipräsenz beanspruchenden Kameraeinstellungen. Denn genau jene Kameraperspektive eines vermeintlichen God’s Eye wird hier für hinfällig erklärt – in ihrer Bezuglosigkeit zum Leben und zur Welt enttarnt, und letztlich als uninteressante Arbeitsmethode beiseite gelegt. Wird eine perspektivische Sicht in der Frontalfahrt hergestellt, so ist sie letztlich immer boden- und somit schlichtweg horizontgebunden. Der Panoramablick der überschauenden Sicht nach Certeau wird also gerade durch das panoramatische Sehen, das in seinem Ursprung immer hinsichtlich des Zugs als frühes Fahrtdispositiv gedacht wurde, für nichtig erklärt. Das panoramatische Sehen selbst ist jedoch eine einfache Fehlbezeichnung vieler Autoren, wenngleich nachzuvollziehen ist, was damit gemeint war: die bewegte, passive, distanzierte Sicht, die in Anknüpfung an jene frühen, starren Sensationsblicke der Panoramen, bald auf die Erde oder in ein gefälschtes Jahrmarktgefährt geholt wurden. Die anderen ramas der vorüberziehenden Leinwände und der zeitlichen Wechseleffekte werden hier allerdings genauso wichtig. Der Begriff des Travellingpanoramierens konnte also nur eine erste Umschreibung der Wahrnehmungsweise im Kino sein, es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Ansichten allein hiermit zu kennzeichnen. Es ist ein Teil einer Reihe von Erscheinungen im Durchsichts- und Aufsichtsmodus der Kamerafahrten. Eine Metaphysik der Kameraperspektive wird dabei zurückgestellt hinter die alltägliche Erfahrungsperspektive des wandernden Blicks und eine Konzentration auf das Niedere und vermeintlich Geringe. Und das unabhängig von allen genauso vermeintlichen Kontingenzanwandlungen eines Großen, eines »von oben herab«, eines gebrauchten Himmels. Mit den Autofahrten tritt ein Zufallsregime ab: Es gibt nur das Jetzt der Fahrt und das Können und Wollen des mehr oder weniger verantwortlich Wahrnehmenden. Und eine »Kontextgebundenheit«, die sich schon innerhalb des Straßenverlaufs äußert. So sind die Fahrtaufnahmen Leerlaufstellen des Films, die ihn ganz bewusst immanent definieren und
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heranbilden, und eine Bildsprache des sowohl Sichtbaren als auch NichtSichtbaren allein im Verbund umsetzen. Die Bilderzeugung und die Produktion von Räumen werden so einmal mehr offensichtlich einander beeinflussende Aktivitäten. Dieser gegenseitige Austausch stellt für Gertrud Koch16 einen bisher noch zu sehr vernachlässigten Punkt in filmwissenschaftlichen, architekturhistorischen und kultur- bzw. bildwissenschaftlichen Diskursen dar. Die Übergänge und Abgrenzungen zwischen den Räumen, der perspektivische Diskurs, die Fragen der Rahmung, der An- und Aussichten auf philosophischer sowie bildtheoretischer Ebene sind dementsprechend auch Grund für diese Arbeit geworden. Im Filmsehen verschränken sich realer und fiktiver Raum, architektonische und filmische Gegebenheiten. Externer und mentaler Raum treffen in der Kinorezeption anhand des seit der Neuzeit kulturell prägenden perspektivischen Flächenformats aufeinander, und schaffen in der Bewegung der Bilder ganz neue Öffnungen des Sehens. Motion und emotion nach Giuliana Bruno gehen hier eine besondere »Architektur des Zuschauens«17 ein. Die räumlichen Verschiebungen der bewegten Bilder werden dabei nicht nur Grundlage optischer Analysen, viel eher bedarf es hier genauso rezeptionsorientierter Untersuchungsmodelle. Der Diskurs der Bilder, ihre Einflüsse auf zeitgenössische Episteme, ihr performatives Potential dabei, und ihre psychogeographischen Wirkungen sind ausschlaggebend. Öffnung und Rahmenüberwindung sind Tendenzen der aktuellen Bild- wie Raumproduktion, die sich daranmachen, starre zentralperspektivische Ausrichtungen gerade innerhalb eines monokularen Apparats zu überholen. Auf der anderen Seite öffnet das Mitdenken der Bewegung dementsprechend ebenso die Architektur hin zu neuen Raumbegriffen, bei welchen bereits in der Konstruktion Trajektmobilität mitgedacht wird. In die steinerne Starre hält Dauer und Wandel Einzug, die Orte sind nicht länger feststehend. Der Architekturbetrachter und -nutzer ist in erster Linie als ein mobiler zu denken. Dies zu beachten und in die Raumplanungen miteinzubeziehen, hat das Kino als erstes vorgemacht. In der aktuellen Architektur- und Raumplanung hat der Film dementsprechend gerade eines seiner großen Einzugsgebiete.18 16 Gertrud Koch in ihrem Vortrag auf der Tagung »Umwidmungen – architektonische und kinematographische Räume«, 16.-18. Januar 2003, Jüdisches Museum Berlin. 17 Guliana Bruno auf dem zuvor genannten Vortrag im HKW, Berlin. 18 Doris Agotai, Architektin und Wissenschaftlerin der ETH Zürich, arbeitet in ihrer Studie Architekturen in Zelluloid – Der filmische Blick auf den Raum (Bielefeld: transcript 2007) überzeugend mit Bewegungsabläufen des Films und der Sicht der Architekturplanung auf diese. 167
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So potenzieren sich die Bild- und Raumbegriffe während dieser kinematographischen Fahrtaufnahmen. Wo sie in der Bildgenese in der Tradition der römischen Bootsfahrtmotivik nach Wickhoff stehen, und sich dergestalt nun als ein jüngstes Moment des kontinuierenden Stils im anderen Medium zeigen, da wird der subjektiv wahrgenommene Raum der Fahrt erfahrbar. Kein ausgezeichneter Moment steht im Vordergrund, sondern die einzelnen Bilder fügen sich zu einem einzigen Bildfluss zusammen: Simultaneität und Kontinuation finden zusammen. Nach Hans Belting ist dies eben jene zuvor erwähnte »unstabile Schiffssituation, die dem perspektivischen Gesetz entzogen ist«.19 Kein eingängiger Stillstand ist innerhalb dieser Sequenzen in Sicht. Alle Diskurse generieren sich erst durch die anhaltenden Schwebe- und Schwellensituationen sowohl innerhalb der Handlung als auch innerhalb der Bildaufnahmemodi. Das Gefährt selbst ist wiederum der Nicht-Ort, der im permanenten Ortswechsel begriffen ist. Gleichortigkeit und Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster treffen hier aufeinander. Bewusstseins- und Sichtbarkeitszustände überlappen sich gegenseitig. Die abgebildete Fahrt vollzieht so nicht zuletzt eine mediale Umsetzungsmethode, in welcher Bewusstseinsbedingungen rekapituliert werden können. Für Roland Barthes lag das Filmische weder im Ablauf der Bilder, noch in den Bewegungen der Kamera, und auch nicht in der Montage.20 Zuerst einmal lag für ihn dieses Filmische dort, wo die Sprache aufhört, unterhalb der auf uns zueilenden Sinnschicht. Wo eine Abstumpfung des Sinns erfahrbar wird. Dort, wo zwischen den narrativen Strukturen flüchtige Fragmente der Unzuordenbarkeit aufblitzen, jenseits offensichtlicher Sinnzusammenhänge, inmitten von Lücke und Paradox der seriellen Struktur. Und dergestalt auf eine somatische Erfahrungsebene des filmischen Bildes verweisen. Im Fotogramm sieht er die Gebundenheit des filmischen Bildes an die Zeit aufgehoben. Eine Dauer wird hier gerettet. Godard versucht nun, die Abstumpfung selbst in eine Arbeit mit dem filmischen Bild zu verlegen. Im Sinne einer stumpfen Kombinatorik, nicht zuletzt mit Hilfe monotoner Kameraeinstellungen, öffnet oder schließt er multiple Verweisungszusammenhänge zwischen den Bildern und versucht sich der schlichten symbolischen Zuordnung zu entziehen. Diese Arbeit an einer Stumpfheit der Bilder findet sich ebenso in den filmischen Fahrtaufnahmen wieder. Es geht hier wie bei Godard um das Erhaschen flüchtiger Sinnschichten jenseits der stabilen Rhetorik der Bil19 Hans Belting am 1. Februar 2006 in seinem Vortrag »Perspektiven des Blicks – die Bildfrage in neuer Sicht« an der HU Berlin. 20 Vgl. zur Frage der Standbildbetrachtungen: Pauleit, Winfried: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld 2004. 168
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der. Eine willentliche Einfältigkeit, Sensationsstillung oder Verlangsamung der Bilder jenseits des Narrativen dient hier der Untersuchung von Wahrnehmungsmöglichkeiten mit Hilfe der Kamera. Dieses Bild hat sein Mehr immer in der Bewegung, auch in jener des Stillstands, und wird schon lange nicht mehr als Abbild oder Kopie der Realität verstanden. Da die Wahrnehmung stark an die Aufmerksamkeit gebunden ist, unterschlägt sie in der Bildwahrnehmung oft das, was uns nicht interessiert oder im Sinne der Handlung nicht zu interessieren hat. Doch in den Fahrtbildern werden wir von diesen effizienten Sehweisen abgelenkt. Unsere Aufmerksamkeit ist während ihrer Rezeption entweder überreizt oder sie stumpft ab. Und genau hier kann dieses andere Sehen eines Außerhalb, eines Off, eines Darüberhinaus im Bild selbst vonstatten gehen. Sehen und Konzentration wird hier zur komplexen Angelegenheit. Im Nebensächlichen ergibt sich erst das tatsächlich fließende Moment. Hier diktiert keine Idee unsere Wahrnehmung. Erst mit Hilfe der Lücken und Leerstellen zeichnen sich folglich neue Seh- bzw. Nichtsehöffnungen ab. Den Bildern ihre Fülle zurückgeben heißt auch, ihnen ihr Nicht-Bildsein zurückgeben. Eine godardsche »Errettung der Wirklichkeit« würde dementsprechend Kracauers Titel abändern zu einer »Errettung des Lebens.« Er versteht das Filmbild als Kampfansage an Regelmäßigkeit, eingefrorene Gesten und Klischees. Die Unregelmäßigkeit und die vermeintlich falsche Bewegung ist es, was zählt. Dergestalt wird der Film verstanden als ein »Labor des Lebens«.21 Das letzte, was der Film nach Godard will, ist interpretiert zu werden. Die Fahrtbilder betonen dabei eine Gedankenlinie: Der Film ist immer erst einmal vom Bild her zu denken, und daran anschließend von der Bewegung her. Dies kommt insbesondere in diesen Sequenzen und ihrer reinen Konzentration auf die Kadrierung, und daran anschließend den cache, zur Betonung. Hier denkt sich der Film allein über die Bilder und ihre Lücken. Die andere action folglich, das andere somatische Kino. Sowohl in den Sequenzen, in denen Nicht-Handlung vorherrscht, als auch in diesen vermeintlich action-geladenen Szenen finden Nervosität und Ruhe des Sehens zusammen. Affekt-Kino und permanentes Anwesendsein des Offs zugleich. Genau dies macht das offene Klaffen der filmischen Bilder inmitten von Tempo und Nicht-Handlung aus. Differenzlinien von Nicht-Gangbarem und Sich-Sperrendem sorgen für das andere Bewegungsbildsehen. Als Flut der Reize gilt dergestalt heute insbesondere auch die Flut der Nicht-Reize. Der alte literarische stream of consciousness ist längst Strom der Zerstreuung geworden, der aber erst hier21 Godard, Jean-Luc: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben). Berlin: Merve 1981, S. 127. 169
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aus neue Formen von Sehen und Bewusstsein generieren kann. Benjamin hatte dies am Beispiel der Zerschlagung der Aura bereits verdeutlicht. Die fragmentierte Wahrnehmung inmitten der Massenprodukte: Nicht schlecht, um die reine Beschaulichkeit zu überführen und herauszufordern. Oder um es noch einmal im Sinne der Poptheorie, und mit Diedrich Diederichsen, zu sagen: »Es ist nicht automatisch politisch richtig, wenn Leute sich körperlich wohlfühlen.«22 Das Kino erreicht hier einen Ist-Zustand der Bildrezeption, der die bewegten Bilder immanent befreit. Transiträume begegnen uns dergestalt bei einer Grunderfahrung des modernen Menschen – der Fortbewegung. Straßen, Flughäfen, Warteräume, etc. sind meist funktional gestaltete, rational geplante und verwendete Örtlichkeiten, die im Film, wollte man es metaphorisch beschreiben, gerne für Tendenzen der Veränderung in und um den Protagonisten herum stehen. Sie sind dazu konstruiert, Bewegungsabläufe funktional zu leiten und zu beschleunigen. Die Bewegungen der Filmkamera sind in diesen Räumen entweder perfekt eingepasst oder sie gehen noch über die vorgegebenen Bewegungen hinaus. Die Kamera schafft dann Alternativversionen zu den begeh- und befahrbaren Räumen des Films, sie zeigt einen zusätzlichen Ausschnitt des »Ausschnitts« Raum, und macht also einen neuen Raum der Bewegung aus dem vorgelagerten ersten. Erst hier wird ersichtlich, inwieweit Raum in der Wahrnehmung zugleich Fläche sein kann, und umgekehrt. Denn die Räume können sowohl implodieren in einer unsäglichen Verengung und Verdichtung, genauso wie explodieren in einer maßlosen Ausdehnung. In barocker Vornahme könnten sie so gefaltete Wand werden – die Fläche kapert den Raum. Ähnlich Deleuzes Falte, die Tiefe vortäuscht, wo keine ist. Eine materialistische Filmtheorie à la Deleuze ist hier mehr als notwendig. Bewusstsein als Materiestrom arbeitet mit und innerhalb dieser Bilder neu. Die quasi-kinematographische Bildflucht städtischer Wahrnehmung findet hier folglich für die Bildwelten aktualisiert statt. Serge Daney23 unterscheidet dabei zwischen Bild und Visuellem: Das Bild unterhielte permanent eine Beziehung zum Anderen, während das Visuelle bloß der optischen Bestätigung von Machtvorgängen diene. So ist letzteres also eine Repräsentationsform mit Defiziten, die sich allein mit dem Abgebildeten zufrieden gibt und dergestalt die tatsächliche Differenz zwischen Bild und Sichtbarem leugnet. Das Bild hinge22 Diederichsen, Diedrich: »Das Neue ist des Ganzen Oberfläche. Ein Gespräch zu 25 Jahren Spex«, in: berliner stadtzeitung scheinschlag 10/05, S. 9. 23 Vgl. Daney, Serge: »Vor und nach dem Bild«, in: politics/poetics. Das Buch zur documenta X. Ostfildern-Ruit 1997, S. 617. 170
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gen umgeht den totalisierenden Umgang mit Repräsentant und Repräsentat und verdeutlicht so, dass es nicht nur um sein Sichtbares geht, sondern dass auch das Nichtrepräsentierbare existiert. Im Bild wird hier also auch auf sein oder ein Anderswo verwiesen.24 Auf ein variables und ungeformtes Sichtbares, das im Bild und außen zugleich ist. Jedes Hier des Bildes denkt sein Anderswo dabei mit. Die zentrale Position wird dezentriert, denn jedes Anderswo weist nur auf ein weiteres Anderswo, setzt in der Bewegung der Serie des Heterogenen weitere Außerhalbs in Kraft. Folglich Dezentrierungsbewegungen, die das Bild mit seinem Sichtbaren und also mit seinem Außen konfrontieren. Dislokationen und Schocks gleichsam. So funktioniert das Außen als unsichtbare Bedingung des Bildes und leitet nicht nur zur Differenz von Bild und Sichtbarem, sondern auch zur Differenz von Bild und Phantasma über. Denken wir noch einmal an Didi-Hubermans Bildsehen als Akt zurück: als Bewusstwerdung einer einfachen puren Anwesenheit im Sinne einer Materiewahrnehmung und der Erfahrung des Einbrennens ihrer zugleich paradoxen und virtuellen Wirksamkeit. Das Lesen als Bedeutungssuche und Abstrahierungsleistung wird dabei vor einem Bild dem Schock als Spüren eines schlichten Daseins untergeordnet. Giorgio Agamben beschreibt nun in seinem unvordenklichen Bild25 den Gegenstand der ewigen Widerkehr inmitten der Frage nach der unmittelbaren Erfahrung eines Bildes. In Rekurrenz auf Nietzsches unauflöslichen Zusammenhang der erscheinenden Welt mit der Wirkung des Perspektivismus26 versucht Agamben, das Scheinbare und das Erscheinende mit dem Perspektivismus Nietzsches zu denken: »Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet. Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d. h. seine ganz bestimmte Wirkung, seine Aktions-Art, seine Widerstandsart.«27 Jedes Zentrum birgt dabei seinen eigenen Perspektivismus und somit seinen eigenen Willen zur Macht, wollte es sich nicht lebensfeindlich gebärden. So geht es also um ein Werden, eine Fortentwicklung, einen per24 In der Bewegung wird die Wahrnehmung mit ihrer eigenen Grenze konfrontiert, d. h. sie darf nicht mehr als unidirektionale Verbindungslinie zwischen einem Subjekt und einem Objekt gedacht werden, sondern sie ist in unzählige Richtungen geöffnet: das »nur auf die Bewegung blicken« entspräche einem Deterritorialisiertsein nach Deleuze und Guattari. Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 382-384. 25 Agamben, Giorgio: »Das unvordenkliche Bild«, in: Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 543-553. 26 Ebd., S. 547. 27 Ebd. 171
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
manenten Wandel im Leben und Erscheinenden selbst. Agamben will demzufolge auf das Paradoxon des Abbildes hinweisen, indem er die mögliche Fälschung im Sinne Nietzsches als etwas eigentlich unfälschbares versteht: »Es gibt kein Sein, dessen Abbild dem Werden aufgeprägt werden muss: das Sein entspringt der Prägung.«28 Das Abbild ist also schon immer bereits ein vorausgehendes. Eines, das dem, wovon es Abbild ist, genauso vorausgeht wie jenem, dem es sich einschreibt. Dies geht nur, wenn ein solches nicht auf etwas verweist, sondern wenn es schlicht im eigenen Selbstbezug existiert. Schellings Idee des Unvordenklichen bringt die hierin befindlichen Potenzen einer solchen Selbstaffizierung auf den Punkt: Passivität und Aktivität treten in einen Austausch zwischen potentia activa und potentia passiva. Als Bild, das nicht abbildet, kann es stärkstes Bild sein, genauso wie eine wiederkehrende, unerinnerte Erinnerung. Wo hier das Bild sich selbst auslöscht in seiner Wiederkehr, da macht es sich umso stärker. Seine Anwesenheitsleistung ist somit wie bei Didi-Huberman eine unfassbare paradoxe Wirksamkeit, die kaum zu greifen ist. Genau dies sind die Fahrtaufnahmen für die Gesamtstruktur des Films: Sie werfen ihn auf sich selbst zurück – und machen ihn materialiter und gegenwärtiger, als er es je in seinen narrativen Gebundenheiten sein könnte – und dies in seiner schlichten Oberflächenarbeit.
Bildschwellen Gehen Zurück zu PERMANENT VACATION: Das Ziellose und Kontingente der parkerschen Fortbewegung, als letzte Figur des dergestalt postmodernen Flaneurs, orientiert sich allein an der städtischen Topographie. Ein emotionales räumliches Ertasten im Sinne einer situationistischen Arbeit des détournements findet hier statt. Einer urbanen Menschenmasse setzt sich Allie Parker jedoch nicht aus. Die überfüllte Stadt ist nicht zentrales Moment des jarmuschen Films. Parker geht nicht in der Masse auf, wie der baudelairesche Flaneur, sondern er steht am Rand, ist Beobachter, nicht Teilnehmer, des transitorischen Geschehens um ihn. Und wo er nicht Beobachter ist, da wird er zum unbeteiligten und auch autistischen Herumlungerer. Seine kurzweiligen Aufenthalte in Innenräumen stehen bewusst im Gegensatz zu den zeitlich gedehnten Einstellungen des Aufder-Straße-Verweilens. Subjektive und objektive Kameraeinstellungen
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sollen dabei nicht immer unterscheidbar sein. Wechselnde Blickrichtungen fügen sich in assoziativer Sukzession aneinander. Der Gang als ein zielloser, als einer der sucht, ohne zu wissen was, rückt hier allein ins Aufmerksamkeitszentrum. Dieses orientierungslose Erkunden trägt dennoch nach und nach zum Kennenlernen der urbanen Umwelt bei. Der Stadtgang bewahrt sich hier jedoch die Freiheit, diese Umwelt in seiner eigenen verzögerten Zeit zu registrieren. Das filmische Schwellenbild als mentales Muster in Übertragung auf räumliche Handlungspraxen zeigt sich dabei ein ums andere Mal: Das Schweigen, der Stillstand sowie die Pausen des Herumlungerns und Wartens gehören hierzu. Das blickende Ich beginnt durch eine ungewöhnliche Wahrnehmung mit dem Außen in Austausch zu treten, wobei dies die verhalten bewegten, subjektiven Gehaufnahmen der Kamera noch unterstreichen. Mit der Bewegung des Protagonisten verändert sich so der Bezug des Bildes zur Umgebung. Die Räume sind allein als durchquerte fassbar, als bewegungsformende genauso wie als bewegungsgeformte. Die Raumerfahrung ist dabei einem Wandel unterworfen, die angebliche Ortsidentität einer Mutation unterzogen. Selbst in der Stadt erscheint sie nicht nur als Zentrum, sondern zugleich als Peripherie – als leere Mitte gleichsam. Auch hier können Zerfall und Fortschritt aufeinander treffen. Raum und Zeit verschieben sich mit der aktuellen und virtuellen, in Bezug auf die Möglichkeiten der elliptischen Montagevornahme, Zeit des Ganges im Film, und dieser allein wird somit Werkzeug und Mittel der bildlichen Aufzeichnung. Das orientierungslose Gehen wird in ein Mittel der Kameraorientierung umgewandelt. (Abb. Permanent Vacation 2)
Abb. Permanent Vacation 2: Gehen So zeigt sich im gefilmten Gehen ein gegensätzliches Modell zum panoptischen Raumerfassen der allwissenden Übersicht. Der subjektive Blick des in der Stadt Bewegten widersetzt sich jeglichem Übersichtsbegehren. Er, der Kamerablick, akzeptiert und betont das ausschnitthafte und tastende Wahrnehmen. Der bewegte virtuelle Blick des Kamera173
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bildes verweist auf einen vielschichtigen Sehmodus, der Zeit und Raum in dezentraler, offener Form behandelt. Elemente der Straßenmöblierung und Verkehrsregelung werden in ihrer konditionierenden Bezugnahme zwar prägend, können aber dennoch je nach Situation und daraus resultierender Handlung umgeformt werden. Das filmische Bild benutzt sie, auch als zeichenhafte Verweisstruktur für die Narration, verändert sie aber zugleich durch die Bewegung und die Beschleunigung innerhalb dieser.
Tiefe Flächen Der transitorische Raum wird durch die abgefilmte Bewegung nun zu räumlichen oder abstrakten Flächenarrangements verbunden. Wo der wandernde Seitenblick die Perspektive verstellt, wird diese umso mehr betont wenn eine Durchsicht, selbst in einer nochmaligen Kadrierung innerhalb des Bildes, Raumtiefe auch nur andeutet. Der Raum außerhalb des Bildfeldes erhält damit einen zusätzlichen Verweis. Flächige Ausschnitte stehen dabei dem Code der Zentralperspektive offensichtlich entgegen. Die Perspektive wird hier überwunden, und das gerade aus der monokularen Technik heraus. Formen und Flächen werden somit von einer konventionellen Staffelung der Tiefe befreit. Vorder- und Hintergrund sind dem freien Spiel der Wahrnehmung überlassen und können Kippeffekte auslösen: Flächen- und Tiefensehen findet in diesen beschleunigten Räumen zugleich statt. Der aufgezeichnete Raum verliert dabei seine alleinigen Bezugspunkte im Sinne von Fluchtpunkten und -linien, die einzig im Sinne einer Zentrierung arbeiten würden. Stattdessen erzeugt der dezentrierte Raum eine Orientierungslosigkeit der ihm gegenübertretenden Wahrnehmung und wird mit Hilfe der subjektiven Kamera von möglicherweise konditionierenden Handlungsschemata des Überblicks befreit. Das Bild hält die Schwelle zwischen Erkennen und Nicht-Erkennen, macht sich als bewegtes Filmbild deutlich, ohne die Wahrnehmung allein an eine konventionelle Tiefenschärfe zu binden. Der vermeintliche Dualismus von Bildvorder- und hintergrund wird so überholt. Der Raum kann nicht mehr als einseitig lesbarer (im Sinne eines Ortes) bestimmt werden. Die auszufüllende Leere des urbanen Transitraums kann je nach Bewegungsgeschwindigkeit schlicht genutzt oder neu zusammengefügt werden. Die raumgebundene Kamerafahrt schafft so ein abstraktes Bildfeld, das die reine Flächigkeit, mit und während der Raumaufzeichnung, ebenso zu ihrem Recht kommen lässt. Die Bewegung übersetzt alte Koordinaten in wechselnde Flächen- und Tiefenbereiche einer Bildfläche. Eine 174
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Wahrnehmung jenseits des euklidischen Verständnisses findet statt und befördert eine relationale Raumvorstellung, die diskontinuierlich, aus unterschiedlichen Sichtweisen konstituierbar und in permanenter fragmentierter Bewegung arbeitet. Diese unterstützt die prozessuale kinematographische Transitraumerfahrung. Gesehene Personen des Außenraums verlieren somit während der Bewegungsaufzeichnung ihre potentielle Aufmerksamkeitsdominanz gegenüber dem Raum. Dieser wiederum fächert sich in den unzähligen Blickwinkeln, mit denen er kadriert ist, auf. Das beschleunigte Zoomen auf Architektur lässt sich allein auf die Oberflächenstrukturen als Wischflächen ein und macht Raumorientierung streckenweise unmöglich. Das urbane Material verweist auf sich selbst, entfernt sich von Abbildfunktionen und wird zum Resultat filmischer Erfahrung. Die Funktion des Rahmens im Sinne klassischer Kadrierungen der geschlossenen Raumkomposition geht dabei verloren. In den puren Oberflächenansichten transitorischer Umgebungsfragmente wird die Kadrierung geöffnet, der Rahmen aufgebrochen. Die architektonischen Teile sind nicht in sich geschlossen, sondern weisen auf ein Außerhalb, dass gerade noch zugegen war und dem alsbald ein neues Off folgen wird, je nach Geschwindigkeit der Raumdurchquerung. Die Kamerafahrt wird so zu einer Bildtechnik, die sich selbst bricht, die die eigene Kadrierung permanent überholt. Sie öffnet das Bildfeld und die Sinnzuschreibung gegenüber dem Raum. Er wird einem zentrierten Ortsdenken und einer Lesbarkeit entzogen, muss ertragen werden in all seiner Unsicherheit und Bewegtheit. Seine Oberflächen entziehen sich durch die Kameraarbeit der ikonographischen Deutungsarbeit. Die Bilder zeigen ihre Konzentration auf die visuelle Arbeit vor aller zeichenhaftinhaltlichen Arbeit. In Monte Hellmans TWO-LANE BLACKTOP (1971) entwickelt die vom Rücksitz gefilmte Frontalsicht in die Straßen hinein selbst in der Durchsicht keine Sogwirkung. Der ganze Film handelt von einem Rennen der Protagonisten, aber alle sichtbaren Fahrten entziehen sich der Tempoerfahrung. Diese scheint nur im Off möglich zu sein. Der Rückbankblick dekonstruiert die Durchsicht der frontalen Kameraaufzeichnung, stattdessen bekommen wir lange Großaufnahmen des Rückkopfes und Seitenprofils des Fahres zu sehen, in dem selbst die Wischflächen der Scheibe kaum erkennbar und geschweige denn Geschwindigkeiten zu spüren sind. Ein paradoxer Film folglich, der permanent von Beschleunigung spricht, aber selbst aus Fahrten entschleunigte Bilder macht. Als ob er sich seines eigenen Dispositivs mehr als bewußt ist, verweigert er sich der Tiefenaufzeichnung in der Bewegung. Es ist nur konsequent, dass gegen Ende die ganze Flächigkeit des Filmmaterials selbst ins Zentrum
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AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
rückt: der Fahrer startet zu einer entscheidenden Fahrt in die Tiefe der Rennbahn hinein, wir sehen alles ohne Ton und in Zeitlupe. Erstmals erscheinen hierin die Geschwindigkeit und das dergestalt mittlerweile schon unerwartete Können des Fahrers. Aber dies muss für den Film und sein filmisches Konzept zu viel sein: Das Filmmaterial fängt Feuer und wir sehen nichts mehr außer den Brand, der die Durchsichtaufnahme verzehrt. Die filmische Fläche siegt. In der Verlangsamung und Hitze der Projektion, und dergestalt der absoluten Langsamkeit des Lichts. (Abb. Two-Lane Blacktop)
Abb. Two-Lane Blacktop
Scheibe und Außerhalb Wenn sich nun das Außerhalb auf der Windschutzscheibe spiegelt, zeigt es uns Virtualitäten und Aktualitäten einer Fortbewegung, in welcher die Unterscheidung zwischen echtem und falschem Raum hinfällig geworden ist. Vergangener und gegenwärtiger Moment einer Kamerafahrt sind in einer solchen Aufnahme zugleich an- und abwesend. In der Tunnelfahrt von Jarmuschs GHOST DOG (1999) zeichnet die rückwärtsgerichtete Kamera zugleich das Fahrzeug selbst und die Spiegelungen auf seiner Frontscheibe auf. Dabei geschieht eine bildliche Verschmelzung des durchfahrenen Raums mit dem noch kommenden, aber sich bereits spiegelnden Raum vor dem Auto. So beginnen hier Zeit und Raum wechselseitig einander einsichtig zu machen, und, mit Deleuze gesprochen, zu kristallisieren. Der architektonische Transitraum des Tunnels konfiguriert in der Beschleunigung ein perspektivisches Linienspiel, das zeitgleich eine Sogwirkung in die Tiefe hinein genauso wie abstrakte Flächenmuster und Distanz entfaltet. Da es sich dennoch um eine Durchsicht handelt, rückwärts in die Tiefe der Tunnelschlucht, wohnt der Sog-
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wirkung jedoch die stärkere Bildwirkung inne. Verborgene Potentiale der beschleunigten Wahrnehmung werden so erst im Bild deutlich: Man sieht gleichzeitig voraus und zurück. Zuvor hatte man die vorüberziehende Autoseitensicht einer Häuserfront sowie nächtliche Durchsichten in die Straße gesehen. Ab dem Moment, wo Ghost Dog (Forest Whitaker) in den Tunnel fährt, beginnen die Überblenden und Spiegelungen. In der Überblende sieht man auf den Fahrer und zugleich in die Durchsicht hinein: Die Windschutzscheibe ermöglicht dies – sie verschmilzt und trennt den Bewegungsfluss zugleich. Eine weitere Überblende zeigt die Sicht aus dem Heckfenster. Die Fahrt voraus und der Blick zurück erscheinen simultan. Dies wechselt sich ab mit einem Blick in die Fahrerkabine und den Spiegelungen der Tunnellichter auf der Frontscheibe und dem Gesicht des Fahrers. Erneut wird diese Aufnahme durch eine Heckfenstersicht auf das fahrende Auto abgelöst. Es fährt aus dem Tunnel hinaus. Im Tunnel selbst hatte sich so eine nahezu suggestiv-meditative Fahrt durch simultane Räume, Durchund Aufsichten innerhalb eines Bewegungsverlaufs, ereignet. Die Handlung des Films wurde dabei zur Nebensache: Der filmische Ablauf war ganz im Hier und Jetzt seiner Fahrtaufnahmen und bei der eigenen Filmmaterialarbeit angekommen. (Abb. Ghost Dog)
Abb. Ghost Dog Transitraum und Film erzeugen so innerhalb der Kamerafahrt neue Sichtweisen, die jene modernen Topoi der Simultaneität, Beschleunigung und Montage/Collage als kulturelle Aufzeichnungs- und Arbeitsmethoden benutzen und erweitern. Die Bildsequenzen organisieren sich dergestalt bereits im Bildinneren in einer collageähnlichen Überlappung der gespiegelten und realen Räume, die eine Simultaneität von virtuellen und aktuellen Abläufen so erst erfahrbar macht. Die Kamerafahrt folgt in diesen Doppelaufzeichnungen nicht mehr einem linearen Erfassen. Eine phänomenologische Seharbeit im Sinne einer erweiterten Aufzeichnung von Transiterfahrungen findet statt. Bei dieser subjektiven urbanen Zustandsbestimmung können sich semiotische Aussageketten des Films mit den soziogeogra177
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
phischen Dispositionen der Zeit verbinden. Ein Beziehungsgeflecht aus transitorischen Bestandsaufnahmen, subjektiven Verortungen und alltagsphänomenaler Signifikationspraxis entsteht. Topologische Gegebenheiten werden abgeschritten bzw. abgefahren und jeder Straßenverlauf ist verflochten mit einer Vielzahl von weiteren Linienfolgen: zeitlichen und mentalen. Ein Signifikationsprozess kann stattfinden, muss aber nicht: Auf der Leinwand treten offene Bildfelder entgegen, die keinem eindeutigen Signifikanten unterworfen sind. Die Transitraumansicht als fließendes Filmbild ist Form einer anderen Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeit der urbanen Verhältnisse geworden. Einerseits ein Konflikt zwischen den Potentialen eines semantischen Lesens des Raums sowie andererseits einem rein formalistischen Sehen. So kann das Bild hier zugleich raumbezogen völlig unlesbar werden, alle Orientierungspunkte darin überholen und kein panoramatischer Übersichtsblick mehr greifen. Der cache und die Scheibe beziehen ihr Außerhalb mit ein, arbeiten mit diesem und denken immer zuerst einmal von der Arbeitsgrundlage des Sehens und Nichtsehens her.
Raumerschließen In den Fahrtbildern zeigen sich im klassischen Sinne auch Perspektiven des Eindringens in bewegungsfordernde Räume. Je weniger offensichtlich einsehbar die sich darbietende urbane Bildansicht ist, desto mehr Aufmerksamkeitsarbeit braucht der einzelne cache, um zu einer möglichen Raumdefinition zu gelangen. Der Bewegungsverlauf bildet das Raumempfinden. Das Off erhält hierbei zentrale Bedeutung. Der bewegte Rahmen des cache kapert somit den festen Rahmen des Films. Barthes übersetzt dieses Gleiten des filmischen Rahmens in die Position der Signifikantenmutation: »Im Film, dessen Rohmaterial photographisch ist, verfügt das Photo gleichwohl nicht über diese Vollständigkeit (und das zu seinem Vorteil). Warum? Weil hier das in einem Kontinuum aufgenommene Photo fortwährend zu anderen Bildformationen hin gestoßen und gezogen wird; zwar gibt es im Film ohne Zweifel immer einen photographischen Referenten, doch dieser Referent ist gleitend.«29
Der Raum wird in den Fahrtsequenzen handlungsorientiert allein in Bezug auf die zurückgelegte Wegstrecke gezeigt und ist damit selbst in der Intensität gedehnt, anti-elliptisch und teils echtzeitgemäß erfahrbar. Eine 29 Barthes: Helle Kammer, S. 100. 178
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banale Anti-Dramatik bemächtigt sich der Kinorezeption. Der Ortswechsel wird gezeigt: ein Moment, dass die klassische Montage zu vernachlässigen wusste. Einzig im Hinblick auf ein körperliches Spannungsgefühl, das sich im Sinne eines Kinos der Attraktionen beim Schauen von Verfolgungsfahrten in uns einschreibt, scheinen diese Bilder ihren Sinn zu erhalten. Doch gerade in diesem scheinbar sinnlosen, leeren Unterfangen der Sensation zeigt sich das Kino von einer ehrlichen und puristischen Seite. Neue apperzeptive Muster bekommen in den urbanen und ruralen Landschaften des filmischen Ablaufs ihren Boden bereitet. Die Fahrtaufnahmen schlagen Schneisen in den Handlungsablauf. Wie beschreibende Pausen an der Oberfläche der filmischen Bildarbeit, die eine nur ihnen eigene Dauer forttragen können.
Abb. Vanishing Point Richard C. Sarafian zeigt mit VANISHING POINT (1971) die gegenteilige Bewegung des zuvor behandelten TWO-LANE BLACKTOP. Wo sich bei letzterem die Tiefe in der Fläche auflösen muss, ist es hier die Tiefe und der Raum, an welchem der Fahrer zugrunde gehen muss: Er kollidiert in der beschleunigten Jagd. Den ganzen Film über ist er den Tücken des Raums gestellt, erobert Distanzen und macht selbst die Wüste zum Raum 179
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der Tarnung. Seine Fahrten hatten bereits zuvor alle Unebenheiten im und jenseits des Straßenraums in Eroberungsfahrten erschlossen und somit die Durchsichten vor der Aufsicht stehen lassen. Das nahsichtige Travelling verabschiedet sich gegen Ende des Films in die Explosion im fernsichtigen und tatsächlich anwesenden Raum, der wiederum das Ende für den Fahrer bedeuten wird. Nur, dass dies nun im Filmraum selbst auf ihn gewartet hatte, und nicht in der Flächenwirkung des Aufnahmemodus geschweige denn im Material (Abb. Vanishing Point).
Leerlauf In Filmsequenzen, in denen die lineare Handlungsabfolge zugunsten des Raums und der Bewegungswahrnehmung in ihm zurücktritt, findet folglich ein anderes Sehen statt. Die Metaebenen der Handlung täuschen leicht über das rein Visuelle eines jeden Films hinweg. Oftmals zeigen sie dies erst in sogenannten Leerlaufeinstellungen, also in Einstellungen, in denen eine Zweckgebundenheit an das Handlungsganze nicht mehr einsehbar und notwendig ist, man also leicht zu der Annahme neigen könnte, dass sie die tatsächlich verlorene Zeit des Films ausmachen. Die filmischen Sequenzen der zurückgeholten Ellipsenbilder werden deshalb besonders wichtig. Dieses scheinbar Sinnlose des Ablaufs ist etwas, auf das man immer wieder auch in den Filmen Antonionis stößt. Die Protagonistinnen sind hier oftmals schon längst durch den gerahmten Raum der Kamera gegangen, dennoch sehen wir noch weiter eine anhaltende Einstellung des mittlerweile leer gewordenen Raums. Nichts passiert, man betrachtet und wartet vielleicht noch ein wenig. Die anfängliche Verwunderung oder Langeweile darüber kann jedoch in eine vollkommen neue Wahrnehmungssituation des Rezipienten umschlagen. Das photographische Material und sein Außerhalb lässt sich neu mitdenken, da man es nun in den Löchern der Handlung unabgelenkt sehen kann.. Diese leeren Bilder und Räume, die somit allein eine gegenwärtige Anwesenheit spüren und sehen lassen, beinhalten folglich das Potential, die Apperzeption selbst zum Inhalt des Kinosehens zu machen. Ob bewusst oder unbewusst, bleibt hierbei zweitrangig. Das Unvollständige und Unvollkommene, die Lücke schafft es, den Eindruck von Bewegung neu zu denken. Das Off ermöglicht Bewegtheit. Die angespannte und zugleich nachlässige Aufmerksamkeit den Fahrtaufnahmen gegenüber nutzt eine spezifisch städtische Wahrnehmungsform der sinnlichen Wachheit bzw. der kinetischen Gereiztheit und bildet gerade in der Diskontinuität der zerstreuten Augenblicke eine neue Form 180
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des Jetzt der Wahrnehmung als neue Ästhetik der Immanenz. Die Illusionierungsleistung des Films im Sinne einer bewegten Perspektivierung wird durch Flächenspiele und diskontinuierliche Sichtwechsel auf eine erweiterte Stufe gehoben. Oberflächenphänomene und Perspektivierung fallen auf und in den Windschutzscheiben und deren -bildern in eins. Einen solchen Leerlauf einer Fahrt sehen wir auch in Apichatpong Weerasethakuls BLISSFULLY YOURS (2002). Eine nahezu endlose Fahrt durch grüne Landschaften, die erst auf einem kleinen Feldweg enden wird. Der Film läuft hier schon annähernd vierzig Minuten. Die Protagonisten sind bereits eingeführt und machen mit dem Auto einen Landausflug. Und überraschend dauert diese Fahrt länger als erwartet und die Anfangscredits laufen ab, während Musik einsetzt. Davor und danach ist die Fahrt realistisch mit Fahrgeräuschen aufgenommen und es gibt fast nur Subjektiven aus dem Auto heraus, bis auf eine zusammenfassende, objektive frontale Ansicht durch die Frontscheibe auf die beiden Fahrenden. Ansonsten wechseln sich die frontalen Durchsichtaufnahmen in die Tiefe der Straßen hinein mit seitlichen Aufnahmen der beiden Fahrenden und dem verschwommenen Fensterhintergrund ab. Hinter den beiden Protagonisten zieht so eine Wischlandschaft vorüber: Der Fensterausschnitt ist zu klein, als dass man in der Bewegung perspektivische Orientierungspunkte fixieren könnten. Hier ermöglicht der Fensterrahmen potenziert im cache der Kamera die abstrakte verwischte Flächensicht. Wenn auf diese Einstellung seitliche Autoausblicke ohne Begrenzung durch den Fensterrahmen folgen, wird es auch in der zur Aufsicht neigenden Seitensicht möglich, Tiefenstaffelungen zu sehen. Im Vordergrund tritt das Flächensehen stärker hervor, im Hintergrund erscheinen die Figuren klarer. Dies ist eine logische Konsequenz des wandernden Sehens: die Geschwindigkeit wird im Vordergrund, in der Nähe, wesentlich stärker und im Modus eines haptischen Sehens wahrgenommen. Im Hintergrund erreicht die Distanz eine verlangsamte Sehwirkung innerhalb der dennoch gleichen Geschwindigkeit: Die Orientierung in die Tiefe bleibt hier erhalten. Zudem scheint der Hintergrund nicht eine lineare Bewegung wie der Vordergrund zu vollziehen, sondern eine drehende: Die Landschaft scheint sich hier je nach Seite nach rechts oder links hinten wegzudrehen. Unsere lineare Bewegung durch den Raum befördert dergestalt keine allein linearen Ansichten des Raums. Fokussiertes und a-fokussiertes Sehen bauen hier in der filmischen Fahrtaufnahme gegenseitige Sichtfelder auf, die sich nur um den eigenen Lauf, eben auch als Leerlauf der Handlung innerhalb des Films, kümmern. In den zusätzlich langen Blicken aus der Heckscheibe sehen wir den Gegensatz der frontalen Durchsicht-Fahrt in den Raum hinein. In diesen Rückansichten scheinen wir dem Raum zu entfliehen. Eine umgedrehte Sog-
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AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
wirkung tritt ein. Dennoch erhält der klassische Sog der Frontalansicht noch eine Potenzierung im Auf und Ab der Straße. Wir erleben ein haptisches, meditatives Sehen des Films. (Abb. Blissfully Yours)
Abb. Blissfully Yours
Transit – Thriller – Travelling Die Passage bildet eine Vorstufe zu unseren heutigen, oftmals semi-öffentlichen, Transiträumen. Der Transitraum im Film erhält einen besonderen Geltungsbereich im Genre des Thrillers, da hier die Flucht- und Jagdmomente von Verfolgten und Verfolgern standardgemäß einen Handlungsschwerpunkt ausmachen. Der Transitraum ergreift also im Thriller seine perzeptive Ausprägung wesentlich entlang der Form des bewegten und insbesondere des beschleunigten Bildes. Als affektive Bildmaschine meint der Begriff thriller einen rein auf Spannungseffekte konzentrierten Film. Der englische Wortstamm bezeichnet etwas, was in gespannte Erregung versetzt. To thrill bedeutet neben »packen, fesseln, zittern machen« auch »durchdringen«: Eine Spannung ermächtigt sich
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hier eines Rezipienten oder einer Situation. Das plane Travelling ist auch hier als Bildform der Aufsicht, das in den Raum fluchtende als Bildform der Durchsicht zu beschreiben. Es ist zudem eine subjektive Kameraform. Es impliziert die Insassenposition. Die Perspektive (von lat. perspicere: hindurchschauen, deutlich wahrnehmen) wahrt also in der Durchsicht der Fahrtaufnahme eine Schärfe, die fortwährend entrissen wird. Der Raum wird hier meist durch Straße, Trasse, Tunnel geprägt. Transit selbst bezeichnet den Durchgang bzw. die Durchfuhr und verbindet sich meist mit Verkehrsbegriffen. Der etymologische Stamm ist das lateinische transitus als Bezeichnung für »Übergang, Durchgang«, welches sich aus »trans« für »hinüber, hindurch« und »ire« für »gehen« zusammensetzt.30 In William Friedkins FRENCH CONNECTION I (1971) sehen wir Gene Hackman als Undercover-Polizist in mehrere Verfolgungs- und Überwachungssituationen verwickelt. Das legendäre Musikmotiv von Don Ellis setzt erstmals zum Morgengrauen der ersten Observation ein. Hackman und sein Kollege verfolgen die Verdächtigen noch langsam und die Kamerasicht fällt aus der Autoperspektive auf die vorüberziehenden Läden und Reklametafeln der Straße. Eine leicht seitlich im 45°-Winkel nach vorn gerichtete Untersicht fließt vorüber und schafft diese mittlerweile filmhistorisch legendär gewordene FRENCH CONNECTION-Atmosphäre. Nichts ist sicher oder hoffnungsvoll hier, die Stadt wirkt eiskalt und grau, und wenn sie warm und komfortabel erscheint, dann nur in der Nähe der Gangster. Die Polizisten sind dergestalt die wahren Underdogs New Yorks: Sie bekommen nichts von der Stadt geschenkt, aber sie können mit ihr und den urbanen Transitgegebenheiten nach und nach klarkommen. Und sie letztlich überwältigen: seien es die Autos, die S-Bahn oder die U-Bahn – mit ihnen allen können sie handeln. Doch zu Beginn wird Gene Hackman als Polizist Doyle eine Verfolgung durch Brooklyn erst einmal zu Fuß aufnehmen. Wie zehn Jahre später bei Jarmusch sehen wir Hackman durch ein verfallendes Brachland irren, vorbei an kaputten Häusern und Wänden. Allie Parker wird hier später flanieren – Jarmuschs Nostalgie ist im Vergleich erkennbar. Doch Doyle rennt: Er muss arbeiten. Planfahrten und Halbtotalen, die langsam beschleunigt werden, stehen zu Beginn dieses Verfolgungsrennens. Als die erste größere Straßenüberquerung folgt, zeigt die Kamera, mittig innerhalb der Straße positioniert, eine extreme Untersicht, so dass die Rennenden monumental in den Stadtraum hineinragen. Dies stellt aber einen Ausnahmefall innerhalb des gesamten Films dar. Es scheint als sollte eingangs ganz kurz auch das heldenhafte Moment in30 Duden Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag 1997. 183
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nerhalb der beiden Cop-Charaktere angedeutet werden, aber man wird es schnell wieder vergessen bzw. die beiden laufen bildlich diesem Stilmerkmal quer über die Straße davon. Das Laufen wird in Halbtotalen, die in Planfahrten von der Straße aus auf die Bürgersteige aufgenommen sind, gezeigt, und das Tempo dadurch noch unterstrichen. Auf die Kamera zu, und somit in die Bildtiefe, rennen die Verfolgenden nur gegen Ende der Jagd: eine Entschleunigungsmaßnahme der Aufnahme. Sie sind endlich im Fokus, die Bewegung kommt zu einem vorläufigen Abschluss. Danach wird die zuvor beschriebene langsame Verfolgungsfahrt aus der Subjektiven des Autos folgen, doch das Bewegungsgefühl ist hier noch melancholisch-verhalten. Leicht gesteigert wird dies in einer weiteren Fahrt dieses Morgens über die Brooklyn-Bridge: Wir haben erstmals eine zentrale Durchsicht in die Fluchtlinienverläufe der Brücke hinein und werden dergestalt in eine Perspektive hineingesogen. Zwei Außenkameras zeigen eine seitliche Objektive auf die Fahrerkabine sowie eine frontale Objektive auf die Windschutzscheibe.
Abb. French Connection 1: Erste Observation & Brückenfahrt In letzterer sehen wir eine Durchsicht ins Innere des Wagens genauso wie eine Aufsicht auf die Spiegelungen der Brückenstreben, und bekommen so das Außen gespiegelt und doppelt projiziert vermittelt. Eine dritte Außenkameraeinstellung wiederholt noch einmal die Frontalfahrtsicht seitlich hinter dem Auto. Die zentrale klassische Verfolgung wird nach einer guten Stunde des Films stattfinden: Doyle ist einem Mordversuch nur knapp entkommen und verfolgt den Angreifer. Dieser flüchtet in eine S-Bahn, die Doyle per Auto auf der Straße unterhalb des S-Bahn184
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Viadukts verfolgt. Blicke auf Trassen und frontale Durchsichten in die Straßenflucht hinein wechseln sich ab. Doyle wird zwar immer wieder durch Hindernisse vom Weg gezwungen, aber er schafft es letztlich, immer weiter und weiter zu fahren. Extrem schnelle Schnitte kontrollieren dabei den Beschleunigungsverlauf. Zum beabsichtigten thriller-Moment des Films passen diese. Auf der Tonspur verstärken Verkehrsgeräusche, Quietschen und Krach den »thrill« der Szene. Einige seitliche Großaufnahmen des fahrenden Doyle kommen hinzu. Die Durchsicht seiner Fahrt wird potenziert durch extreme Untersichten aus der Autoperspektive auf die fahrende Hochbahn auf dem Viadukt über der Straße. Fahrt und Fahrt kommen zusammen, halten sich in der Schwebe, neutralisieren sich gleichsam: Hier wären die Nischenmomente innerhalb der Sensationshandlung anzusetzen. Das reine Bewegungsschauen in ruhiger Konzentration wird für einige kurze Momente ermöglicht. Das Schauen wird durch die Linienverläufe der oberirdischen Trasse kurzzeitig abstrakt. Der Doylesche Stress tritt in den Hintergrund. Dennoch halten sich die Durchsichten der Autofahrt in der Überzahl. Die Sensationen des Fahrten-thrills nehmen die zentrale Position ein. (Abb. French Connection 1)
Abb. French Connection 1: Große Verfolgungsfahrt
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Sensation und Attraktion Die Bilder der Sensation und Attraktion innerhalb der beschleunigten Verfolgungsfahrten eines Thrillers sind Bilder der Intensität par excellence. Hier wird nichts ausgemessen, viel eher erleben wir eine intensive, zugleich schnelle und eindringliche, Sukzession zerfließender Bildflächen. Es sind unteilbare Sequenzen, die selbst die Vornahmen der Montage schlucken. Nur die Konzentration auf den Bewegungs-, Sehempfindungs- und Bildfluss wird hier zentral. Eine andere Wahrnehmung folglich. Wie das benjaminsche Aufwachen nach einem Gefühl des Abtauchens in die Phantasmagorien. Der flirrende Horizont der Fahrtaufnahme schafft ein Kino, das am ehesten mit einer Kunst des Unbewussten verglichen werden kann: »Noch einmal das Kino. Schritt für Schritt – oder Falte für Falte – eindringen in die Oszillation der Sinnenwelt zwischen Explosion und Stillstand, Bewegung und ›Auslaufen der Bewegung‹? Das Kino. Die ›qualitative Mannigfaltigkeit‹ und den ›ungewissen Saum‹, der jede Darstellung umschweift, sichtbar machen? […] Das Auseinanderstieben des Raumes und das Auseinanderstieben der Zeit hervortreiben, die Montage und den Anachronismus bewusst akzeptieren? Das Kino. Die Dauer zur Inkarnation bringen, in die Wahrnehmung hineingehen, um sie besser ›zu ergründen und zu erweitern‹? Das Kino.«31
So ist im dynamischen Raumbild die Zeit zur vierten Dimension im Bild integriert, so dass hieraus neue Raumansichten entstehen, auch gerade in ihrer gegenseitigen Durchdringung. Der Standpunkt erscheint einzig in einer Relativität, gebunden an die Abfolge der Ansichten. Das schlichte Anwesendsein im Jetzt der Bewegungsaufnahmen – das vollbringt der Film in seiner Immanenz genau in den Fortbewegungsbildern. In den Fahrtaufnahmen sieht man, als ob man fließenden Boden unter den Füßen hätte, und zugleich erfährt man den Horizont als Orientierungsanker der Gegenwart. Ist man in diesem Hier und Jetzt, ist man immer an Grenzen und offenen Schwellen zugleich, und dennoch einfach nur da. Die Heterotopie Schiff hat dies vorgemacht. So waren die Meerespassagen schon immer weniger von Abfahrts- und Ankunftsorten bestimmt, als vom permanent Fließenden, vom bewegten Horizont. Und dieser Zustand war anhaltend und bewegt zugleich. Ein Zustand der Ermöglichung, der Öffnung zum Absichtslosen.
31 Didi-Huberman, Georges: »Der Raum tanzt«, in: Angela Lammert (u. a.) (Hg.): Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Nürnberg: Verl. für Moderne Kunst 2005, S. 16-30, hier S. 27. 186
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So ist auch die Straße ein Ort des Verweilens, einer des Verweilens in der Bewegung. Sie ist kulturelles Erfahrungsmuster des Transitorischen als Passage par excellence. Die Erfahrung von Nähe und Ferne zugleich, jeweils bestimmt durch verschiedenste Übergangs- und Bewegungsweisen. Der Zustand der Fahrt als Grunddisposition. Die filmische Gestaltungsform des Travellings, das autonome Travelling der Fahrt und das personengebundene nicht-autonome, lässt im Film Raum und Zeit in besonderem Maße in Austausch treten. So ist der Raum hier ein anderer, als wenn er allein statisch wäre. Und in diesen reinen Leerläufen kommt der Film so gerade in seinem eigenen Paradox zu sich selbst. Nichts ist hier auf eine Essenz bezogen, alles ist von den Umständen abhängig und auf diese Weise immanent und offen zugleich. Der gerade noch unsichtbare Raum wird sichtbar, man bekommt eine permanente Abwechslung dieser beiden Varianten in der Planfahrt geboten. Dieser bewegte Rahmen ist es, den sogar Roland Barthes in der Hellen Kammer dem Film zugute halten musste, und das gerade gegen die Photographie: »Dennoch übt der Film eine Macht aus, welche die Photographie auf den ersten Blick nicht besitzt: die Leinwand (hat Bazin bemerkt) ist kein Rahmen, sondern ein Versteck; […] ein ›blindes Feld‹ verdoppelt unablässig die partielle Sicht.«32 In der Photographie ist die Frage nach der Übertretung des Rahmens kaum vergleichbar mit der permanenten Übertretung im Film. In ersterer gibt es kein Außerhalb, sie ist randvoll und fixiert. Im Film stattdessen liegt ein Kontinuum vor. Die Bildformationen existieren nur in und mit ihrem eigenen Wandel. Wo für Barthes die dokumentarische Fotografie bewahrt, da ist der Referent im Film gleitend. Das Bewahren ist in ein Annehmen des Wandels übergegangen. Der Horizont wird dazu bei gleichbleibender Bewegung gerettet. Er ist nicht abhanden. Viel eher kommt diese Aufmerksamkeitsverlagerung auf den Raum außerhalb des Bildfeldes einem Umstürzen der Tiefenauffassung gleich: Der Betrachterblick wird nicht wie in der illusionistischen Zentralperspektive in den Hintergrund eingezogen, sondern er wird aus dem und auf das sich permanent erneuernde Bild geführt. Und das insbesondere in den seitlichen Fahrtfensterblicken der Aufsicht. Bei Deleuze existieren der glatte und der gekerbte Raum nur in Wechselwirkung. Im glatten Raum sind die Punkte dem Trajektorischen, der Linie, untergeordnet. So wird die Bewegung hier eher zur Vertikalen einer Richtung, die Dimensionalität tritt hinter sie zurück. Der maritime Raum ist der glatte Raum par excellence. Die Linie tritt hier vor den Punkt und Fokus. Ein werdender Raum, einer der Multiplizität. Doch
32 Barthes: Die helle Kammer, S. 66. 187
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Haptik und Optik fügt das Kino der glatten Räume in den Fahrten zusammen: haptisch-optisch, nah-fern zugleich. Wo das Panorama einen Rundumblick auf die Ansicht eines Ortes aus großer Distanz bietet, da haben wir im Film nun das Gegenteil eines solchen. Die Allansicht ist entzogen. Naturbeherrschung und Überblick sind hier in das Gegenteil verkehrt. Spannender war da schon das bewegte Panorama in all seinen Abwandlungen wie Mareorama und Pleorama.33 Sie sind erste Vorstufen zum Fahrtfensterblick des Filmes, in ihnen fühlten sich die Besucher wie auf einer Schiffsfahrt (wellenartige Schaukelbewegungen inbegriffen), nur dass sich die Wände, auf denen beispielsweise Küstenansichten zu sehen waren, an ihnen vorüberbewegten. Der Betrachter sollte ganz in das Bild gezogen werden, einen Taumel spüren – körperliches Erleben der Bildbetrachtung: Attraktion und Selbstvergessenheit mal anders: »Das 1834 in London eröffnete Panorama, eine bewegte Leinwand von etwa 900 Quadratmetern, folgte einem ähnlichen Prinzip. Die Besucher saßen in Eisenbahnabteilen und sahen die interessantesten Orte und Landschaften der wenigen Jahre zuvor eröffneten Strecke Manchester-Liverpool an sich vorbeiziehen.«34 Diese Entwicklung steigerte sich noch. Die Leinwände wurden immer länger, es wurden dioramatische Elemente miteinbezogen, so dass Tagesabläufe noch zusätzlich simuliert werden konnten und die Fahrt den Eindruck einer mehrere Tage andauernden Reise machen konnte. Fluss- und Meerfahrten waren hier besonders beliebt, doch auch bekannte Großstadtverkehrsknotenpunkte wurden in diesem Genre dargestellt. Neu im Gegensatz zu den Panoramen war: Der Blick glitt vorüber, es gab keine besondere Blicklenkung mehr im Sinne einer speziellen Raumarchitektur. Ein zweidimensionales Bild zog vorbei, man sah erstmals aus der Fahrtperspektive und fühlte sich folglich in Bewegung versetzt. Genau wie später in den Fahrtaufnahmen des Kinos. Die letzten Entwicklungen des bewegten Panoramas setzen sich in diesen fort, doch das Kino geht über ein schlichtes Panoramieren, und auch Travellingpanoramieren, hinaus. In der Pariser Weltausstellung von 1900, die Entwicklungshöhepunkt und Niedergang des Panoramasensationen zugleich darstellte, wurde dies einsichtig: Es gab unzählige Panoramen zu bestaunen, doch die größte Attraktion waren jene, die die Bewegung integriert hatten. Die Compagnie Internationale des Wagon-Lits zeigte Transsibirien-Express: eine simulierte Eisenbahnfahrt von Moskau nach Peking, betrachtet aus drei Luxuswagons. Das Besondere daran war die Einbeziehung der Tiefenstaffelung der Landschaft sowie die dadurch veränderte Geschwindig33 Comment, Bernard: Das Panorama. Berlin: Nicolai 2000, S. 63. 34 Ebd. 188
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keitswahrnehmung je nach Ebene beim Blick aus dem Fahrtfenster: vier Landschaftsebenen zogen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorüber. So wurde annähernd simuliert, was sich auch während einer tatsächlichen Fahrt beobachten lässt. Neu war die Einbeziehung eines Rahmens, hier in Form des Zugfensters. Darin wurde die neue Verwandtschaft zum Kino eingeführt. Dies hatten bereits die italienischen Veduten des 18. Jahrhunderts und auch die flämischen Landschaften des 17. Jahrhunderts vorgemacht. Landschaften, Städte, Plätze und Straßen tauchen in den Veduten zuhauf auf. Bekannt ist zudem, dass Canaletto mit der camera obscura arbeitete. Doch gerade die Ausschnittswahl wurde immer wichtiger, wollte man die Illusion des »Ins-Bild-hineinversetzens« steigern. Man war IM Bild, nicht länger irgendwo allsehend und außerhalb davon. Der Ausschnitt, und eine Ansicht, die einem das Gefühl gab, dass man mitten drin oder zumindest kurz davor oder daneben war, wurde vorgezogen – wie im Fahrtbild: »Das Bild zieht vorbei wie in dem historischen ›travelling‹ von Promio auf dem Canale Grande. Aber die Bewegung kommt da vor allem von den Objekten her – Schiffe jeder Größe –, die innerhalb eines festen Rahmens wegfahren und wiederkehren. Sie wird zum Zittern des gefangenen, transfigurierten Lebens. Denn diese Ansicht der Lagune belebt kaum wahrnehmbar und im Belieben einer fast unsichtbaren Aneinanderreihung eine beschleunigte Zeit, die ebenso unendlich ist wie synkopisch gegenüber allem, was im Rahmen erscheint, ähnlich wie in der Vision einer variablen Malerei – Monets Kathedralen zusammengestellt in einem einzigen Block. Die Zeit, dass eine rote und neblige Nacht auf die Wasserstraße hereinbricht und dass der Zuschauer wirklich nicht mehr weiß, wer er ist.«35
So wie schon das zuvor angesprochene Erhabene ein paradoxes Gefühl erzeugte, das sowohl dem Schrecken als auch dem Wunderbaren nahe zu stehen schien, bieten es diese Ansichten erneut. Nirgends ein Ruhepunkt, zu keiner Zeit. Die Bootsfahrt in Lisandro Alonsos Film LOS MUERTOS (2004) bringt dies in ruhiger konzentrierter Weise zum Ausdruck. Ein Kino des Sehens, der Ruhe, Beobachtung und Konzentration im steten Vorübergleiten – Zeit und Raum werden anders wahrnehmbar, und genügen für eine Geschichte im Kino. Das Kino existiert in der Fahrtaufnahme also in einer besonderen Selbstbezogenheit. Der Vorwurf der Ersatzhandlung oder -erfahrung greift dabei allerdings zu kurz. Die Distanzierungsmöglichkeit eröffnet 35 Bellour: »Über ein anderes Kino«, S. 269. 189
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gleichsam neue Formen des Annäherns und taktilen Sehens. Das Spezielle an den seitlichen Fahrtaufnahmen ist nun die nicht allein auf den Rahmen ausgerichtete Komposition des Bildes, und seine dadurch nicht geschlossene Bildkomposition im Sinne des zentralen Fluchtpunktes. Das Außen wird nun mitgedacht und nicht mehr unterschlagen. Fragmentarisches und Zufälliges haben ins Bild Einzug gehalten. Das Unsichtbare ist im Sichtbaren anwesend. Somit hat es das Panorama mit und in den eigenen Ansätzen des bewegten Post-Panoramierens überholt. Es ging also nicht um die totale Illusion, es ging immer um das bewusste Spiel mit dieser und der eigenen Distanzmöglichkeit dazu. Mit Lessing gesprochen, liegt hier der anhaltend beliebige und zugleich »fruchtbare Moment« vor. Die Nähe entfernt sich, die Ferne rückt näher, das ist das Fahrtansichtsparadoxon, dessen wir uns erst ganz im Kinobild bewusst werden können. PERMANENT VACATION und Post-Panoramieren zugleich. Keine ideale Landschaft mehr, sondern das baudelairesche Chaos der Einzelheiten – ins Bewusstsein gehoben. Eine Bewegung von Blickwinkel zu Blickwinkel, von Standpunkt zu Standpunkt, immer gleitend. Die Kontinuität des Horizonts bleibt so erhalten und wir halten zugleich Distanz durch die Aussicht. Nah- und Fernsicht – neu verbunden in verschiedensten Staffelungen und Anschnitten: das zuvor bereits erwähnte Schichtensimultanbild folglich. Wie Allie Parker spielen wir mit einer gekauften Distanz, in der alles erst wieder verlockend wird. New York wird erst in der Abreise wieder zum Sehnsuchtsort. So wie einst Germaine Dulac die visuelle Idee des Films als neue »Form von Sensibilität«36 beschrieb, so erhalten wir im ausdrücklichen Spiel der Fahrten mit Sensation und Attraktion eine Unterkategorie einer solchen. Die kracauersche Rohmaterialarbeit der Wirklichkeitserrettung wird hier anders angewandt. Der physische Existenzzustand der Fortbewegung wird von der Kamera potenziert: in der Fahrt noch mit dem im Bild gegebenen Rahmen des Fensters, so dass die Kamera eine Totale außerhalb des Fensters und eine Nah- bis Großaufnahme innerhalb bzw. vor dem Fenster gleichermaßen aufzeichnet. Die Schwellen des Nahen und Fernen, der Fläche und Tiefe, sind im Bild enthalten und stehen in permanentem Austausch. Die bewegte Kamera kommt dabei nicht allein der Tiefe zugute, und die feste nicht nur der Fläche. Das Bildersehen kann in den Fahrten zum haptischen Ereignis werden. Sie werden zu einer Weise des Sensations-Films, überbieten diesen jedoch in ihren 36 Dulac, Germaine: »Das Wesen des Films: Die visuelle Idee (1925)«, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretisch Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 234-241, hier S. 240. 190
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neuen Sichtweisen. Nicht nur Spannung, Gefahr und sensationelle visuelle Umsetzungen sind es, die hier auftauchen.37
Landschaftsoberflächen Am Beispiel der Niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts beschrieb Svetlana Alpers38 eine Form der Landschaftsmalerei, die ihre Bildgegenstände allein für die Motivation des Sehens produziert. Eine besondere Hingezogenheit zur Natur äußert sich dabei in einer geringeren Betonung der perspektivischen Lehren der italienischen Renaissance zugunsten eines Ausdrucks der gesehenen Erfahrung, der auch flächenartige Arrangements und Unschärferelationen in das Landschaftsempfinden und -wiedergeben miteinbezieht. Es sind weite Ansichten, die das Auge als grundlegend bewegtes denken (mobile vs. immobile versions of painting)39. Die Natur des Sehens, etwa in seinen retinalen und chemisch-optischen Prozessen, wird dabei der analytischen Perspektive hinzugefügt. Die Oberflächen, die Materialien der sichtbaren Welt, sind tonangebendes Moment. Eine Form der Beschreibung und Beobachtung natürlicher Phänomene, die bewusst und mit beiden bewegten Augen sieht und auf eine Wahrnehmungsübersetzung zielt. In seinem Entzug gegenüber einem vorgefertigten Sehen der angewandten Perspektiven40 scheint Vermeer für Alpers in seiner Malerei bereits eine Form des Sehbeobachtens gefunden zu haben, das allein die uninterpretierten Oberflächen wiedergibt und sich weigert, zu wissen, was es sieht. Also eine Form des Flächensehens, die keine Klassifikation der Bildeinteilungen im Sinne der klassischen Gegensatzpaare zulässt. Dabei geht es also nicht um eine Leugnung der Künstlichkeit, sondern um eine reflektierte, künstlerische Repräsentation des Materiellen. Diese Bilder arbeiten einem hegemonialen Anspruch des einzig Wahren und Realen entgegen. Das Unsichtbare und das Nicht-Verstehen den äußeren Dingen gegenüber schwingt dabei genauso mit wie der Zweifel 37 Merkmale, die Tom Gunning immer wieder gern mit ihm in Zusammenhang bringt, etwa in seiner Untersuchung der Filme Fritz Langs. 38 Alpers, Svetlana: The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century. Chicago: University Press 1983. 39 Vgl. ebd. S. 28. 40 Das perspektivische Sehen geht so von der Tiefe des Raums aus, dass es sich an herausstechenden geometrischen Punkten orientieren kann. Da diese Sehweise eingelernt ist, wird sie meist ohne Mühe auch auf Landschaften und Motive ohne klare geometrische Orientierungspunkte übertragen. Bedingung für diese Sehweise ist die Ausschnitthaftigkeit. 191
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›dem‹ Realen gegenüber. Die Fragen der Ähnlichkeit zählen also tatsächlich nur bedingt. Stanley Cavell argumentiert gegen jene Antworten auf die Frage nach der Rolle der Realität im Film, die das Wesen des Films einzig aus den Zusammenhängen von Licht und Bewegung erklären wollen. Diese sagen für ihn zuwenig aus, besser wären Verbindungen rund um lebende Personen, reale Dinge und wirkliche Räume. Wie auch Panofsky und Bazin geht er davon aus, dass der Film eine völlig neue Beziehung zur Realität besitzt. Dabei unterscheidet die Materialität des Filmes sich von jeder anderen nach Cavell gerade dadurch, dass sie in der Abwesenheit dessen gründet, was erscheint. Der Film schafft Projektionen von Realität, in denen diese gerade von der eigenen Selbstdarstellung befreit ist. Doch das Material kommt natürlich aus der Welt direkt. Dennoch wird die Abwesenheit der Welt die Bedingung seines Erscheinens. Sehen gründet also nicht im anwesend Gegebenen, es ist viel eher eine relationale Verhaltensweise diesem gegenüber, und das gerade auch inklusive des Nicht-Erkennens. Das Sehen der gefilmten Fortbewegungen gründet nur bedingt in der filmischen Repräsentationsleistung, da es nicht allein vom Dinganspruch der Ähnlichkeiten her denkt, sondern diesen zuerst einmal außer Acht lassen muss, um dann vielleicht, aber nicht notwendig, auch bei ihm anzukommen. Die Denotation wird egal bzw. nahezu unsinnig in diesen Bildwelten. Erscheinungsformen treten davor, und dies nicht zuletzt im Sinne einer Beobachtung von Oberflächenqualitäten. Das Bild wird hier in seiner visuellen Dimension gedacht, nach Heinrich Wölfflin also in seiner barocken, offenen und asymmetrischen Ausprägung, welches sein pures Sehen nur in einem bedingten Rahmen ansetzt. Ein pures Sehen ist natürlich niemals ein tatsächlich pures Sehen, als ob es das überhaupt gäbe. Das unschuldige Auge ist blind, das weiß man spätestens seit Gombrich und Goodman, aber es gibt die Versuche der Konzentration allein auf die unterschiedlichen Sehweisen innerhalb der Bilderproduktion, und um diese geht es hier. Das falsche und das wahre Sehen, daran arbeitet sich in den Oberflächenbetrachtungen niemand mehr ab. Und der kritisch-formalistische Standpunkt erscheint als ein naheliegenderer, geht es um die schlichten Tatsachen der Bilderarbeit, sei es jener der Bilderzeugung oder jene der Rezeption: »Das Rechteck der Kinoleinwand bündele und rahme den Flux der Bilder zwar – jedoch nur für kurze Zeit. Dann tritt wieder die ›cinematische Atopie‹ ein, die mit Joyce, Deleuze und Guattari auch ›Chaosmos‹ genannt werden könnte. Der Kinogänger würde schließlich einschlafen und sein Bewusstsein ausschalten. Die Schwerkraft der Wahrnehmung nähme zu. […] Jetzt kann eine Politisierung beginnen, die ohne Territorium, auch ohne die Wüste-als-Landschaft aus192
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kommt. Die Leinwand-Wüste ist der glatte, haptische Raum eines anderen Kinos.«41
Der iranische Regisseur Abbas Kiarostami hat bereits in seiner frühen Werk-Trilogie, insbesondere in UND DAS LEBEN GEHT WEITER (1991), bewegte Landschaftsbilder geschaffen, die eindeutig dieser schlichten Konzentration auf die Oberflächenstrukturen zuarbeiten. Schwebende Fahrtaufnahmen, die inmitten von Landschaft, Licht und Wind in der unscharfen Balance dieser Momente bleiben und keine Perpektivdistanzen vorgeben. Die Nah- und Fernteile der Landschaft werden zu Flächen, die sich übereinander zu schieben scheinen. Hier wird kein eindeutiger Fluchtpunkt gezeigt. Selbst die Landschaft erscheint als eine, die der Fahrt des Autos zuarbeitet. In der Frontalfahrt bekommt man dergestalt keine Durchsichten geliefert. Wiederum ein Schichtensimultanbild in der Abstraktionsvornahme von Film und Fahrt. Hier gibt es nicht unbedingt ein Geschehen, an dem man sich orientieren könnte, hier gibt es Land und Straßen und Fahren – und Protagonisten, die auch nicht so genau wissen, was ihr Ziel hier sein könnte. Stattdessen ergeben sie sich in einen Rhythmus des Films und dergestalt in ihre eigenen Bewegungen durch seine Räume, und diese sind es allein, welche sie in irgendeiner Weise handeln machen bzw. vorantreiben. Die Scheibe wird dabei wichtig. Sie schafft es, ein Off des Offs einzubeziehen. Es ist schon ein Außerhalb erster Stufe, das uns durch die Scheibe sichtbar wird. Das zweite somit gedoppelte Außerhalb ist jenes, welches die fahrende Scheibe gewährleistet. In der Filmaufzeichnung bietet sich uns dergestalt ein erweitertes Travellingpanoramieren, das gegen das alte panoramatische Sehen arbeitet: Wir erhalten keine überblickende Perspektive, diese wird uns ständig entrissen. Aber zugleich erhalten wir immer wieder neue An- und Einsichten, wenn auch in Ausschnitten, aber in welchen, die den alten Panoramablick integriert und zugleich überholt haben. Die Fortbewegungsaufnahme als Form der Fragmentarbeit ist also etwas unabgeschlossenes und unabschließbares. Als Fragment geht es ihm eher »um Bahnung – um die Bahnung eines Zugangs zur Darstellung, um ihre sich anbahnende Präsenz.«42 Fragmente und Momente des flüchtigen Lebens: die Errettung von Wirklichkeit allein im Bewusstsein der eigenen Künstlichkeit – die Realität der filmischen Materie. Die
41 Holert, Tom: »Strudel und Wüsten des Politischen. Michelangelo Antonioni, Robert Smithson und Michael Snow«, in: Stemmrich (Hg.): Kunst / Kino. Köln: Oktagon 2001, S. 119. 42 Nancy, Jean-Luc: »Die Kunst – Ein Fragment«, in: Dubost, Jean-Pierre: Bildstörung. Leipzig, Reclam, 1994, S. 170-184, hier S. 171. 193
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wache Zerstreuung bzw. zerstreute Aufmerksamkeit erhält hier ihre Existenz. In der Frontalfahrt der Durchsicht stürzt die Straße zugleich in den Bildhintergrund wie umgekehrt aus dem Bild heraus in den vermeintlichen Vordergrund des Offs, wobei das letztere auch wie ein scheinbares Wegdrehen der näher rückenden Ränder wirken kann. Ein nicht einseitiges Umstürzen der Tiefenauffassung ist das Ergebnis, sondern ein abwechselndes Kippen der möglichen Flächen- sowie Tiefenwahrnehmung. Die gewohnte Tiefenauffassung des illusionistischen Bildraums wird also zum Umstürzen gebracht: Der Blick der Rezeption wird aus dem Raum herausgeführt, nicht hinein. Die Bewegung kann hier also mit der Tiefe spielen. Durch Einstellung und Kadrierung kann der Film mit dem Raum, von Innen heraus, selbigen erkunden. Und das Off wird erfahrbar: »Nur dort, wo wir ein intensives Bewusstsein vom außerbildlichen Raum haben, kann man von einer dynamischen Großaufnahme sprechen. Andernfalls wäre es ein statischer Ausschnitt aus dem Blickfeld.«43 Die filmende Kamera unterstützt hier mit ihrer Positionierung in Fluchtlinien das Koordinatenfeld, legt sich mit ihrem Auge derart genau in die Entwicklungslinie der Straße, dass diese sich durch das Bild zum Zuschauer hin fortsetzt, dieser also Teil des Raumes selbst wird. Dieses Weiterleiten und Voranbringen, dieses Mitnehmen des Raumes durch die apparative Disposition hindurch und das Hinaus- und Voransetzen des Raumes in die Wahrnehmung des Zusehers macht die Kamera zum Agenten urbaner Selbstbezüglichkeit. Die Kamera wird Schleuse zur gefilmten Welt. Sie kann sich den azentrischen, verzerrenden, desubjektivierenden, abstrakten Aufnahmewinkel suchen, die in entgrenzten Höhen und Breiten vorstoßenden Schwenks, die voranfließenden entkörperlichten Kamerafahrten, die Montage in ihrer Verdrehung der Zeit- und Räumlichkeiten und die Nahaufnahme: »Die Wirklichkeit der Dinge liegt nicht mehr in ihrem Volumen; sie verbirgt sich in der Flächigkeit der Figuren. […] wird das Intervall so minimal, ›infra-mince‹, dass es nur noch interface, Schnittstelle, ist, dann werden es auch die wahrgenommenen Gegenstände: Sie verlieren ihr Gewicht und ihre Dichte.«44 Der Kameramann Eugène Promio, der für die Gebrüder Lumière arbeitete, erfand nach Virilio im Frühjahr 1896 das erste Travelling: »In Italien hatte ich zum erstenmal die Idee der Panorama-Aufnahmen. Als ich in Venedig ankam und mich im Kahn auf dem Canale Grande vom Bahnhof 43 0XNDĜRYVNê -DQ ª=XU bVWKHWLN GHV )LOPV© LQ :ROIJDQJ %HLOHQKRII (Hg.): Poetika Kino. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005, S. 353-367, hier S. 358. 44 Ebd., S. 65. 194
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zum Hotel begab, betrachtete ich die vor dem Kahn vorbeiziehenden Ufer und dachte, wenn das unbewegliche Kino erlaubt, bewegte Gegenstände zu reproduzieren, dann könnte man vielleicht eine Umkehrung vornehmen und versuchen, mit Hilfe eines beweglichen Kinos unbewegte Gegenstände zu reproduzieren.«45
Der Bezug auf den Horizont ist dabei bei allen Fahrtaufnahmen grundlegend. Die Kamerasicht von oben wiederum neigt im Gegensatz dazu, ihn zu leugnen. Wenn wir mit Blick auf den barthesschen Mythosdiskurs von Fahrtbildern reden, dann scheint sich die Botschaft dieser Bilder leicht in Richtung romantischer Subjektbegriff, Sehnsucht und unendliche leere Weite zu bewegen. Horizont ist nicht mehr nur Horizont und Weltgebundenheit, er bereitet Verlangen in Richtung Unendliches. Eine verführerische Deformation also. Seine ursprüngliche Bedeutung wird zwar nicht völlig ausgelöscht, aber sie wird bestenfalls noch in der Schwebe gehalten, dämmert gleichsam im verborgenen Untergrund. Der abgefilmte Horizont in seinem romantischen Gestus wird so zu einer Aussage, die als natürlich ausgibt, was kulturell bedingt ist. »Wenn der Mythos nach Barthes jedoch ein ›unentwirrbares Ganzes von Sinn und Form‹ ist, gilt es, ihn dynamisch zu lesen, ihn weniger zu entziffern, als ihm vielmehr zu antworten. Eine solche Einstellung erkennt die Präsenz des Mythos an.«46 Wahrheit und Fiktion kommen hier zusammen, machen eine Unterscheidbarkeit sinnlos. Real und surreal werden im Mythos gleichwertige Partner. Fiktionalisierter Alltag war dergestalt schon immer und nie. Fahrtbilder folglich als kulturelles Signum unserer Zeit? Es geht in ihrem Diskurs um die Bilder als Bild-Techniken genauso wie um ihre Repräsentationsleistung abhängig vom Betrachterauge. Mit Hans Beltings Bild-Anthropologie gesprochen, tritt dabei immer der Körper in ein Wechselverhältnis mit dem medialisierten Bild, er selbst wird ein dergestalt medialisierter. Eine Kulturgeschichte des Bildes und des Körpers greift hier ineinander. Der Körper des Menschen wird mit diesen Medialisierungsleistungen nach Belting zum Ort der Bilder, und eben nicht zum Herren der Bilder.
45 Zitiert nach Virilio: »Das letzte Fahrzeug«, S. 268. 46 Kammerer, Dietmar: »›Are you dressed for it?‹ Der Mythos der Videoüberwachung in der visuellen Kultur«, in: Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 91-105, hier S. 94. 195
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Unschärfe und Schärfe Der Film als vermeintliches Medium der Schärfe hält in seinen Fahrtaufnahmen eine eigene Form der Arbeit mit der unscharfen Oberfläche des Bildes ab. Doch nicht nur dies: Die Schärfe arbeitet mit Flächenstrukturen, vor allem in den Landschaftsaufnahmen und in den Fahrten durch sie hindurch. Die unscharfen Momente kommen unseren Wahrnehmungsbildern zumal näher und arbeiten dergestalt eingängiger mit unserem eigenen Sehvermögen. Es ist ein anderes Bildsehen im Reproduktionsmedium, das hiermit den benjaminschen Aura-Begriff in der eigenen Medienhaftigkeit fortträgt. Die Fahrtaufnahme gilt als Katalysator der Bewegung: Wir sind mittendrin auf Horizontebene, und werden nicht im Sinne des Überblicks herausgehoben und entschleunigt. Denn die Welt ist hier immer im Off. Dies sehen zu können – im cache und im Nicht-Sehen –, ist mehr als man erwarten kann. Es bedarf nicht oder kaum des Schnittes, die Plansequenzen haben ihn bereits integriert. Der Schnitt als kulturelle Konvention des Erzählkinos tritt hier zurück. Sehen wir die langsamen endlosen Fahrten in BLISSFULLY YOURS, sitzen wir irritiert dem Bild gegenüber: Es dauert, es fährt und die Kamera hält dies einfach nur – soviel Ruhe, Ausdauer und Anmut im schlichten Vorgang des Fahrens sieht man selten. Oder, mit Joachim Paech gesprochen: »Dennoch besteht die Möglichkeit, den modal dargestellten Raum und symbolisierten medialen Bildraum auf derselben Oberfläche in Beziehung zu setzen, was immer dann der Fall ist, wenn die im Film modal dargestellte (symbolisierte) Leinwand mit ihrer Struktur die Tiefe des Bildes hinter der Wahrnehmung ihrer Oberfläche zurücktreten lässt.«47 In Weraseethakuls genauso wie in Kiarostamis Fahrten, insbesondere in UND DAS LEBEN GEHT WEITER, ist also das benjaminsche Verständnis von Schock im Film als etwas montageorientiertes umgekehrt. Es wird zum Schock gerade im Entzug der Schockmomente. Die langen, ruhig fließenden Momente – in all ihrer möglichen Unschärfe und auch Zweideutigkeit – erscheinen unglaublich lange für das Spielfilmkino. Die Kamera erlaubt hier ein unverwandtes und überraschtes Sehen. Eines, das die traumatische Schnelligkeit der bekannten Mittel umkehrt, zwar vielleicht ebenso schlaflos und konzentriert macht, dies aber entspannt und bewusst zugleich. Das Kino entzieht sich so dem benjaminschen Erlebnischarakter und wird zur Möglichkeit der nachhaltigen Erfahrung. Das 47 Paech, Joachim: »Eine Szene machen. Zur räumlichen Konstruktion filmischen Erzählens«, in: Hans Beller (u. a.) (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Stuttgart: Hatje/Cantz 2000, S. 93-121, hier S. 114. 196
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Schockmoment wurde umgekehrt zur konzentrierten, empathischen Einbrennung. Wenn es also eine Form der Dauer nach Deleuze im Film selbst gibt, dann liegt sie in den ungeschnittenen Plansequenzen, und insbesondere in jenen der Fahrt als der unfassbaren, da wiederholbaren Erfahrung eines Jetzt der schlichten Präsenzen, vergleichbar der These Doanes: »Indexicality is a function that is essentially without content – in language, it is allied with the pure denotation of ›this‹ or ›here it is‹.«48 Oder eben: Es ist da und jetzt dort – Sehen und Nicht-Sehen als gemeinsame Weise des Erscheinens. In einer gehaltenen Plansequenz werden innerhalb der vorbeiziehenden Tiefen- und Flächenarrangements multiple Blicke generiert, die der Schnitt gar nicht erst beachten würde. Die vorderhand lineare Logik der Fahrt, insbesondere der Verfolgungsjagd, wird innerhalb der kleinsten Fahrteinstellung dergestalt gesprengt: »And although the chase film is often described as the insistent linearization of filmic temporality, there is something curiously static about these films. […] The chase stretches, elongates, fills the time of filmic representation, often to the point of monotony. Burch claims: ›And this was the role of the chase: to extend the film experience, to initiate a certain ›imaginary‹ production of duration and succession exploiting an off-screen space which although it was still amorphous would eventually make possible the diegetic production characteristic of the institution.‹«49
Lässt die Aufnahme den Raum des Offs zu bzw. denkt sie ihn in ihrem Vorübergleiten permanent mit, dann birgt sie sowohl ein Moment der Kontemplation wie auch eines des suspense und des Schocks des Mediums. Wo der Schnitt den Rahmen unterstreicht, da katalysiert die Planfahrt seine Offenheit. Das Vermögen der Distanz, die Nähe, die eine Ferne hält, erscheint hier als eine Form der Aura. Während des Gleitens wechseln diese Empfindungen des Abstands: »In der Tiefe gibt sich der Raum – aber er gibt sich auf Distanz, das heißt, er zieht sich zurück und verbirgt sich in einem gewissen Sinne, immer abseits, fern, stets einen Abstand, einen Zwischenraum produzierend.«50 Der Raum ist da und distanziert zugleich. So befindet sich der Blick des Zuschauers an einer Schwelle in Permanenz. An der Schwelle der Tiefe und der Fläche, des Raums und der Zeit, der Stille und der Bewegung – im Sehen der filmischen Fahrtbilder. Eine offene Spaltung, die so erst ihren permanenten Wandel ermöglicht und bereitet. Im Kino sind wir 48 Doane: Emergence, S. 25. 49 Ebd., S. 191. 50 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 151. 197
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schon immer Davor und Darin: scharfe Durchsicht der Frontalfahrt und unscharfe Aufsicht des Seitenfensterblickes in einem. Wir sehen nah und fern zugleich. Hierin erfährt sich das Sehen als ebenso optisch wie auch körperlich. So erfahren wir im schnellen Vorübergleiten der Blicke in den filmischen Fahrtaufnahmen sowohl die Distanz eines Panoramablicks, als auch die Nähe der Geschwindigkeit gerade im permanenten Fortreißen der seitlichen Aufsichten. Das Verwischte gebiert die Nähe und den Eindruck derselben. Nicht das körperlose Auge des Überblicks, sondern die permanente Rückkopplung des Sehens an das körperliche Empfinden stehen dabei im Vordergrund.
Landschaft und Film Wind in den Bäumen, in den Feldern, im Schilf, auf dem Wasser, dazu mildes Sommer- oder Herbstlicht – Bewegung und Natur allerorten: Es scheint, als ob sich das zeitgenössische Kino auf seine Wurzeln besinnen wollte. Das Einfangen der bewegten Oberflächen ist etwas, das Siegfried Kracauer einst im Zuge seiner Errettung der äußeren Wirklichkeit nicht müde wurde zu betonen: »Um 1860 sagten Cook und Bonnelli, die das sogenannte Photobioskop entwickelt hatten, eine ›vollständige Revolution der fotografischen Kunst‹ voraus: Wir werden Landschaften sehen […] in denen Bäume sich den Launen des Windes fügen, die Blätter im Sonnenlicht zittern und glänzen werden.«51 Was für eine Möglichkeit also: damals – und heute anscheinend wieder. Ein Sehen nach dem Sehen, nach und vor den digitalen Fluten und dem immer besseren Darstellen von rechnerisch komplexen Oberflächen wie Fell und Wasser im computergenerierten Film. Die Berlinale 2007 brachte dieses schlichte konzentrierte Beobachten von bewegten fotographischen Oberflächen in besonderem Maße in den Festivalsparten Panorama und Forum zum Vorschein. SHOTGUN STORIES (2007) von Jeff Nichols zeigt Baumwollfelder, Fischteiche und Flussläufe im Süden der USA – schlichte Situationsaufnahmen inmitten und jenseits der Geschichte: Das konzentrierte Sehen – die stillen Töne der Weite und des Grases: Vieles erinnert an den frühen Terrence Malick, an BADLANDS (1973) und DAYS OF HEAVEN (1978). Die Bilder sind reine Zustandsbeschreibungen und entziehen sich gerade in der Brutalität ihrer Handlungszusammenhänge einer psychologisierenden Erklärung. Sie können aus ihrem Kontext gelöst betrachtet werden und bilden ihn doch erst neu. Unabhängig und still stehen sie da: Witterungsverhältnisse in den Totalen des Horizonts genauso wie Großaufnah51 Kracauer: Theorie des Films, S. 53. 198
DER ZUSTAND DER FAHRT: FILMISCHES TERRAIN VAGUE
men des wunderbar reduziert und dadurch umso eindringlicher spielenden Michael Shannon. Dieser Film zeigt die weite Landschaft von Arkansas und eine nahezu antike Familienfehde – doch eben nicht als die linearen Glieder einer Reihe: Das Synchronische tritt vor das Diachronische, selbst in den hier so offensichtlichen Zeitläufen. Meist geht es dabei um die verlangsamte Abbildung sichtbarer Vorgänge mit jenem Anspruch des NOW nach Newman und Lyotard, als einer Fortentwicklung des Konzepts des Erhabenen im Sinne eines betonten Bewusstseinsaktes der Gegenwart gegenüber – ohne eine Übertragung auf Fragen nach einer metaphysischen Verfassung dahinter bzw. auf lineare Deutungshoheiten an sich. Näher ist dies eher einer Oberflächenphänomenologie des Hier und Jetzt. Die Kamera vollzieht ein Beobachten mit Distanz und von außen – nicht viel ist zu sagen – auch nicht unter den archaischen Brüderkonstellationen des Films – der bessere Akt scheint hier immer »Ruhe, Sitzen und Schauen« zu sein. Der nahe und immer ferne Horizont bleibt dabei allgegenwärtig. Kaum überraschend, dass der Regisseur Jeff Nichols als Dokumentarfilmer begonnen hatte: Die Landschaft und die in ihr enthaltenen Arbeitsbedingungen des amerikanischen Südens handeln hier mehr an den Brüdern als diese an ihr. Ist es das, was schon Georges Sadoul mit der Affinität des Films zum Leben umschrieb: Die bewegten Zustände, die vor sich hinbrüten, flimmern, flirren und einfach da sind? Eine Form der Einbettungsvornahme aller Geschichten in natürliche Zusammenhänge der Umgebung. Es scheint zumindest auch so in LA LEON (2007) von Santiago Otheguy: Männer in Booten, und einer, der hier wortkarg seine Arbeit verrichtet, und still dabei auch leidet und begehrt. Die größte Intensität – im ruhigen Erzählen und in bildausfüllenden Kadrierungen von Schilfgräsern und Ufern. In all diesen Filmen – wie auch in den großartigen Leerlauffilmen, die am Rande der großen Stadt unter schattigen Sommerlaubbäumen spielen (NACHMITTAG [2007] von Angela Schanelec und FERIEN [2007] von Thomas Arslan) – passiert, was an handlungstreibenden Vorgängen passiert oder passieren könnte, im Off. Einzig die Umgebung, die Natur, die Bäume, die Gräser und der Wind sind im permanenten On. Das ist eine andere Konzentration, eine andere Erzählweise, eine des Nicht-Erzählens von Aktion und Reaktion, eine des stillen Schauens und Staunens, und wenn, dann sicherlich eine der handelnden Landschaften und des Kamera-Offs. Erst in ihnen besinnen sich die Hauptdarsteller wieder auf ihr eigenes bedächtiges Handlungsvermögen – auch im Zögern, Nachdenken und Sich-Entziehen eines bartlebyschen Modus. Entrinnen ist dabei oft nur in den stillen Momenten des Im-Gras-Sitzens möglich:
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AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
»Die einzige Realität aber, auf die es hier ankommt, ist die wirklich existierende, physische Realität – die vergängliche Welt, in der wir leben.«52 Diese Filme verweisen in ihr eigenes Off. Die Repräsentationen machen ihr Gegenteil bewusst – und umgekehrt: Im zeitgenössischen Kino geschieht das andere Spazierengehen oder schlicht: das materielle Filmen.
52 Ebd., S. 56. 200
BAHNUNGEN
»Ich ertrage das Erzählkino nicht.«1
In seinen späten Jahren, genauer 1963, wird Rudolf Arnheim den Schulterschluss mit Siegfried Kracauer vollführen. Der Film errettet nach ihm vielleicht nicht direkt die äußere Wirklichkeit, aber »eine bestimmte Fassung dieser«.2 Dabei geht es also nicht allein darum, mit Kracauer das Rohmaterial intakt zu lassen, sondern eher die Gemeinsamkeit des Materials mit einer unmittelbaren, wandelbaren Ausschnitthaftigkeit im Fluss des Lebens herauszuschälen. Arnheim zitiert Kracauer, um dann zu folgendem Schluss zu kommen: »›Was jedoch das Filmische in einem Film ausmacht, ist nicht so sehr, dass er unserer Erfahrung der Realität, oder auch der Realität im allgemeinen, genau entspricht, vielmehr eine Versenkung in Kamera-Realität – sichtbare physische Existenz.‹ (4, S.116, dt. Ausg. 163) So ist es.«3 Die offene Arbeit mit der Kamera als Blick auf die Ausschnitte von Wirklichkeit, die ebenso die Bewegungsaufnahmen durch den Raum beinhalten und zentriert betonen, bleibt hier die Hauptsache. Mit Crary und Helmholtz gesprochen, erleben wir in den Fahrtaufnahmen des Kinos die größtmögliche Annäherung – und zugleich deren Übersteigung – an unseren natürlichen Wahrnehmungszustand des schweifenden Sehens.4 Die Wahrnehmung kann hier aus der schlichten Organisation und Übersichtlichkeit von Figur und Grund herausfallen und Nah- und Fernsicht in neuen Austausch bringen. Der mobile Betrachter ist hierfür prädestiniert. Die multiplen Blickpunkte des Vorübergleitens erscheinen dabei in ihrer Nähe und Distanz zugleich. Gerade in seinen Brüchen, Aus1 2
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Abbas Kiarostami, zitiert nach Nancy: Evidenz des Films, S. 86. Arnheim, Rudolf: »Die ungeformte Melancholie«, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 403-416, hier S. 405. Ebd., S. 407. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 58. 201
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
schnitten und Verwischungen konstituiert das Kino Welt, und das nur, indem es den unzentrierten Betrachter zulässt. Alois Riegl hatte die Ruhe der Fernsicht und die Bewegung der Nahsicht im Sinne seiner Stimmungsbeobachtungen zugeordnet,5 und den Umgebungsausschnitt, noch dazu den bewegten, als wesentlichstes und auch schwierigstes Sujet beschrieben. Im fernsichtigen Impressionismus fand er eine Lösung hierfür nicht allein in der Darstellung von Bewegung, sondern von Bewegungsfähigkeit. Der flirrende Umriss, die verwischte und schemenhafte Figur, verbindet eine bewegte Nahsicht mit einer kontemplativen Fernsicht, und kommt in den fliehenden, seitlichen Landschaftsfahrtblicken zu einer besonderen Verschränkung. Hier wird der Blick wieder auf die eigentliche Bildarbeit des Films gelenkt, wir sehen – jenseits eines Handlungsverhaus. Wir erhalten andere Wahrnehmungsmöglichkeiten von Film: der Blick wird frei für das, was zu sehen ist – auch mit dem und im Nicht-Sehen. Off und On des bewegten Bildes zugleich – Raum des Sehens und Raum des Fortbewegens sind hier zusammengekommen. Der Film ist zum Zebrastreifen des Bildes geworden: nahe Durchquerung und ferne abstrakte Ansicht zugleich. Kein distanziertes Hinaussehen mehr, sondern dieses nur in Verbindung mit bewegter Nähe und dergestalt diffusem Fühlen. Im hildebrandschen Sinne sind so die Lebensnähe und die Künstlichkeit der Sehweisen zusammengekommen. Das Fahrtbild enthält den dezentrierten Bildausschnitt als décadrage nach Pascal Bonitzer also schon immer und in potenzierter Form. Wie in den früheren Veduten ist man sich hier der Ausschnitthaftigkeit permanent bewusst und erfährt sie auch noch bewegt immer wieder aufs neue. Man sieht, dass das Bild mehr ist als das Bild. Das ist die Qualität, die alleine der cache erreicht. Wegstrecke und Karte, Bewegung und Bild finden zusammen, allerdings nur in einer rein literarischen Struktur. Wegstrecken im Sinne einer Bildbewegung kann tatsächlich erst der Film gerecht werden. Gehen als temporale Abfolge ist stetes Vorüberziehen, Vorbeigehen. Film kann dieses Prinzip a superiori vollziehen. Folglich ist es ein Umgang mit dem Raum, der den Ort verfehlen muss: »Es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.«6 Anders formuliert: Fortbewegung ist die stete Erfahrung eines NichtOrtes. Der Entzug einer Akzeptanz und einer Betonung des Ortes, und somit seiner stabilen Signifikation, ist gleichzusetzen mit einem Gleiten unterhalb eines klaren Signifikats. Mit Laura Marks gesprochen: »The 5 6
Vgl. Riegl: Gesammelte Schriften, S. 29. De Certeau: Kunst des Handels, S. 197. 202
BAHNUNGEN
line has a body.«7 Die Sequenz wirkt zugleich flach und tief. Die Fläche der Scheibe, der Leinwand, der Kameraaufnahme arbeitet gegen das monokulare Betrachten per se. Das Sehen ist IM und AUF dem Bild zugleich. Durch die permanente Standpunktveränderung erfährt der Blick die Möglichkeit zu unzähligen Perspektiven bis hin zur umgekehrten Perspektive in Anschluss an Pavel Florenskij.8 Dieser Kippeffekt lässt uns während der Durchfahrtsequenz die Linien auf uns zufluchten sehen und nicht weg von uns. Würde es sich bei der Seitensicht um einzelne Blickpunkte in einzelnen Zeitmomenten handeln, wären wir über den zentralperspektivischen Kanon nicht hinaus. Durch die Möglichkeit des gleitenden Sehens sowohl durch als auch auf die Ansicht und die Fläche, wird diese brüchig. Je entfernter, desto größer – nach Florenskij kann dieser Zusammenhang in der filmischen Fahrt übersetzt werden mit: Je entfernter, desto mehr Tiefenschärfe. Das Ferne muss eingefangen werden. Je näher allerdings, desto unschärfer. Das lehren die Seitenblicke der Fahrt vor allem. Florenskij hätte hierfür noch im Sinne der mittelalterlichen Bedeutungsperspektive gesagt: Je näher, desto kleiner.9 Diese erfährt eine Parallele im schlichten filmischen Medium als solchem. Photographisch-optisch gleichsam. Abgestoßen und angezogen zugleich, fluchtet man im Film durch die Räume hindurch und an ihnen vorüber. Der tatsächliche Sehraum ist veränderlich und endlich, nicht, wie uns die Perspektive glauben machen will, unwandelbar und unendlich. Im physiologischen Raum gibt es keine einheitliche Wahrnehmung, diese wandelt sich mit der Entfernung. Kipp-Effekte in der Wahrnehmung sind in diesem Flächen- und Tiefen-Sehen nicht ausschließbar. In Parallele zu derartigen Arbeiten in der Kunst könnte man von einer »Bildbegrifflichkeit des Jetzt«10 sprechen. Die Wandelbarkeit der Wahrnehmung werde be7
Laura Marks in ihrem Vortrag »The Samaria Style of Line«, auf der Tagung »Performativität der Wahrnehmung«, Freie Universität Berlin, 12. November 2004. 8 Vgl. Florenskij, Pavel: Die umgekehrte Perspektive. München: Matthes & Seitz 1989. Am Beispiel der russischen Ikonenmalerei hatte Florenskij als erster den Begriff der umgekehrten oder gewendeten Perspektive verwendet. Ein Polyzentrismus sowie eine Flächigkeit sind hier gleichzeitig als Möglichkeiten der Bildwahrnehmung mitgedacht. Die ästhetische Fruchtbarkeit von Regelverletzungen im Sinne von »Belebungen, Bewegungen und Flecken« (ebd., S. 13) hatte er anhand dieser besonders hervorgehoben. 9 Vgl. ebd. S. 44f. 10 Christa Lichtenstern, zitiert nach Clausberg, Karl: »Dalís Narziß-Metamorphose. Paranoisches Spaltbild, Psychoanalyse-Illustration und Echo von Hirnasymmetrien?«, in: Herbert Bareuther (u. a.) (Hg.): Wahrnehmung, Blick, Perspektive. Münster: LIT 1998, S. 51-84, hier S. 59. 203
AUFNAHMEN DER DURCHQUERUNG
tont, jedoch nicht wie bei Lichtenstern aufgrund einer paranoisch-kritischen Methode, sondern schlicht materialgebunden. Dieses Nah- und Fern-Sehen zugleich, dass einmal die Fläche und einmal den Raum erkennen lässt, geht überraschenderweise mit Adolf von Hildebrands Beobachtungen konform. Nach Clausberg fällt Hildebrands »ideales Fernbild, das als Kunstwerk dann auch wieder Nahbetrachtung erlaubte, […] erklärtermaßen mit der monokularen Kamerasicht in stehenden und bewegten Bildern zusammen.«11 Da wir den von Fiedler im Fernbild vermissten temporalen Prozess des Nahbildes im Film erhalten, geschieht hier eine besondere Annäherung von Nah- und Fernwahrnehmung. Das plastische Empfinden kommt hier mit der Distanzwahrnehmung zusammen, behält jedoch seinen Charakter der Durchgangsanschauung. Der Körper selbst muss sich zwar nicht bewegen, aber die verschiedensten Ansichten werden ihm dennoch geboten. Das Plastische und die Fläche erscheinen zugleich, gehen aber in einer Bilderscheinung auf, die dies erst neu wahrnehmen lässt. Kein Spiegel, sondern in der angerissenen Ausschnitthaftigkeit von Wirklichkeit eine besondere Form dieser. Ein anderes Sichtbarmachen, welches das Unsichtbare mitdenkt und damit arbeitet. Die reine Konzentration auf die visuelle Erscheinung meint dabei ein anderes Sehen im Sinne eines Zusammengehens von etwas Sehen und zugleich auch das eigene Sehen reflektieren können bzw. Ansätze dazu geliefert zu bekommen, wie eben in den gedehnten plastisch-optischen Fahrtsequenzen. In den Fahrtaufnahmen wird so das Motiv der Landschaft aufgewertet zu einem eigenständigen Thema: Der rurale oder urbane Landschaftshintergrund erfährt eine besondere Betonung im Verlauf der Aufnahme. Das Motiv kann dabei selbstverständlich verschiedenen Themen oder Genres dienen. Allerdings unterstützt die präikonographische Stilanalyse der rein formalen Gestalt sowie des emotional-expressiven Gehalts dabei die konzentrierte Untersuchung der tatsächlichen Arbeit des Bildes allein anhand seiner visuellen Codes. In den Fahrtaufnahmen kommt somit eine Ausprägung des Kompositionsprinzips der kontinuierenden Darstellung zur Erscheinung. Dieses hatte, wie bereits zuvor angesprochen, Franz Wickhoff 1895 an der frühbyzantinischen Handschrift der Wiener Genesis exemplifiziert. Karl Clausberg schreibt hierzu: »Insbesondere Wickhoffs kunsthistorischer Kommentar von 1895 markiert nicht nur einen isolierten Wendepunkt in der Bewertung der künstlerischen Qualitäten der Genesis-Illustrationen – er fiel auch mit einem generellen Umbruch und Übergang auf mannigfachen Ebenen der Kunst-, Technik- und 11 Ebd., S. 70. 204
BAHNUNGEN
Theorie-Entwicklung zusammen: Während Wickhoff in Wien zum besseren Verständnis der Genesis-Miniaturen eine umfassende Geschichte der Bilderzählformen entwarf, wurde von den Gebrüdern Lumière das Kino erfunden und erschienen in amerikanischen Zeitungen die ersten >comic-strips