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German Pages 322 [316] Year 2014
Nataša Bedekovic´, Andreas Kraß, Astrid Lembke (Hg.) Durchkreuzte Helden
| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 17
»Kriemhild näht ein Kreuz in Siegfrieds Gewand« Fritz Lang, Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried, Teil 2: Kriemhilds Rache. Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek). Hier: Siegfried 01:50:26
NataŠa Bedekovic´, Andreas Krass, Astrid Lembke (Hg.)
Durchkreuzte Helden Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung
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Inhalt
Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt
Andreas Kraß | 7
ÜBERORDNUNG/UNTERORDNUNG Umstrittene Souveränität. Herrschaft, Geschlecht und Stand im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Astrid Lembke | 51 Hegemoniale Männlichkeit? Herrschergestalten in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Peter Somogyi | 75 Siegfrieds königliche Vasallen. Gelingende Subordination in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Michael R. Ott | 99
EINSCHLÜSSE/AUSSCHLÜSSE Behinderte. Helden. Ability und Disability in Fritz Langs Film Siegfried
Nataša Bedekoviü | 121 In/Kommensurabilität. Artikulationen von ›Rasse‹ im mittelalterlichen Nibelungenlied und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Beatrice Michaelis | 147 Gottesbrot und Menschenbrei. Essen als Zeichen sozialer Differenzierung im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Lisa Pychlau-Ezli | 165
Erste Begegnungen. Paarbeziehungen und Grenzüberschreitungen im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Ninja Roth | 189
SICHTBARKEIT/UNSICHTBARKEIT Die Frauen von Bechelaren. Stand, Herkunft und Geschlecht im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Regina Toepfer | 211 Siegfrieds Sichtbarkeit. Der vestimentäre Code im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen
Andreas Kraß | 239 Ent/Fesselung des fremden Heros. Sîvrit zwischen Exorbitanz und Assimilation
Judith Klinger | 259 Literaturverzeichnis | 303 Autor_innen | 319
Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt A NDREAS K RASS
Zu den einflussreichsten Paradigmen der Sozialwissenschaften zählt gegenwärtig die Intersektionalitätsforschung. Ihr Anliegen lässt sich am US-amerikanischen Phänomen des WASP illustrieren. Das Akronym bezeichnet den White AngloSaxon Protestant, d.h. den angelsächsischen Protestanten weißer Hautfarbe. In der privilegierten Bevölkerungsgruppe der WASPs überschneiden sich drei explizite Identitätsmerkmale: das ethnische Merkmal der weißen Hautfarbe, das religiöse Merkmal der protestantischen Glaubenszugehörigkeit und das nationale Merkmal der angelsächsischen Abstammung. In der Regel stellt man sich unter einem WASP eine Person vor, die außerdem über finanziellen Wohlstand verfügt, heterosexuell orientiert ist, dem männlichen Geschlecht angehört, mittleren Alters ist und über gute Gesundheit verfügt. Die explizit genannten Kriterien haben ausschließende Wirkung: People of Color, Afroamerikaner und Muslime beispielsweise können der Gruppe der WASPs per definitionem nicht angehören, sind also von Diskriminierung betroffen. Die impliziten Merkmale des Geschlechts, des Wohlstands, des Alters und der Gesundheit führen, solange die expliziten Merkmale erfüllt sind, eher nicht zur Exklusion, sondern zu einer internen hierarchischen Differenzierung. Es stellt sich somit die Frage, welche Folgen die Überschneidung bestimmter Identitätsmerkmale zeitigt: Wer wird über- oder untergeordnet, ein- oder ausgeschlossen, sichtbar oder unsichtbar gemacht? Wer wird diskriminiert oder privilegiert? Der vorliegende Sammelband unternimmt den Versuch, das Paradigma der Intersektionalitätsforschung für die Literatur- und Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen und mit einer historischen Perspektive zu verbinden. Wie verhält es sich mit Dynamiken der Privilegierung und Marginalisierung, Inklusion und Exklusion, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in literarischen Texten und anderen kulturellen
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Werken? Wer ist das Gegenstück zum WASP in den Epen, Romanen, Dramen und Filmen anderer Kulturen und früherer Epochen? Diese Fragen sollen an einem Fallbeispiel erörtert werden, das die Brücke von der Vormoderne zur Moderne und von der Literatur zum Film schlägt, nämlich an einem Vergleich zwischen dem mittelalterlichen Nibelungenlied (um 1200) und seinen modernen Adaptationen in Thea von Harbous Nibelungenbuch (1923) und Fritz Langs Film Die Nibelungen (1924). Diese Beispiele sind für die kulturwissenschaftliche Erprobung der Intersektionalitätsforschung besonders aussagekräftig, weil sie aufgrund ihrer historischen Differenz einen epistemologischen Vergleich erlauben. Das kulturelle Wissen des mittelalterlichen Heldenepos unterscheidet sich tiefgreifend vom kulturellen Wissen seiner neuzeitlichen Bearbeitungen. Während beispielsweise die Kategorie der ›Rasse‹ im Nibelungenlied noch keine Rolle spielt, fließen die (angeblichen) Wissensbestände der neuzeitlichen Rassenlehren in das Nibelungenbuch und den Nibelungenfilm ein, wenn beispielsweise die Hunnen um König Etzel, die im mittelalterlichen Epos als Mitglieder der ritterlich-höfischen Kultur präsentiert werden, in den Bearbeitungen der 1920er Jahre als rudimentär zivilisiertes Volk mit asiatischen Zügen stilisiert wird. Der hunnische König Etzel verfügt im Nibelungenlied zwar über eine andere Herkunft als der burgundische König Gunther oder der niederländische König Siegfried, doch wird diese Differenz nicht im Sinne eines ›rassischen‹ Unterschieds verstanden und zudem durch die gemeinsame Standeszugehörigkeit der betreffenden Souveräne konterkariert. Die folgende Einleitung in Gegenstand und Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes umfasst drei Schritte. Zuerst rekonstruiert sie zentrale Thesen und Methoden der sozialwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung. Anschließend beleuchtet sie den in der Sozialwissenschaft, Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft verwendeten Terminus der Rolle, um einen gemeinsamen Ausgangspunkt für den interdisziplinären Dialog über Fragen der Intersektionalitätsforschung zu finden. Im dritten und letzten Schritt fragt sie anhand des genannten Fallbeispiels nach der historischen Dimension der Intersektionalitätsforschung.
1. T HESEN UND M ETHODEN DER I NTERSEKTIONALITÄTSFORSCHUNG Die Intersektionalitätsforschung basiert auf dem Konzept der intersection, d.h. der Überschneidung und Überkreuzung verschiedener Identitätskategorien und Diskriminierungsformen in einer Person oder Personengruppe.1 Seit ihren Anfängen in 1
Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009; aus mediävistischer Sicht: Beattie, Cordelia/ Fenton, Kirsten A.: Intersections of Gender, Religion and Ethnicitiy in the Middle Ages, Basingstoke 2010.
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den 1980er Jahren hat sich die Intersektionalitätsforschung als eines der leitenden Paradigmen der Sozialwissenschaften etabliert. Der Ursprung der Intersektionalitätsforschung liegt in der feministischen Forschung, die seit den 1990er Jahren zunehmend Wert darauf legte, die Kategorie des Geschlechts nicht isoliert zu betrachten, sondern weitere Kategorien einzubeziehen, die für die Frage nach der sozialen Position und der Handlungsfähigkeit einer Person ebenso wichtig sind und ohne deren Berücksichtigung die Kategorie des Geschlechts nicht ausreichend differenziert analysiert werden kann.2 Aus dieser Perspektive verbindet sich die Diskriminierung, die eine Frau als Frau erlebt, vielfach mit weiteren Diskriminierungen, die aus ihrer sozialen, ethnischen, nationalen, religiösen, sexuellen, gesundheitlichen und altersbezogenen Position erwachsen. a) Mehrfachdiskriminierung und intersektionelle Unsichtbarkeit Wie die Rechtwissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw im Jahr 1991 in einem für die Intersektionalitätsforschung grundlegenden Beitrag gezeigt hat, läuft die separate Fokussierung einzelner Identitätskategorien und Diskriminierungsformen Gefahr, dass die Interdependenzen der Kategorien vernachlässigt und bestimmte Formen der Benachteiligung fortgeschrieben werden.3 Crenshaw zeigt diesen Sachverhalt anhand der prekären Situation afroamerikanischer Frauen auf. Sie stellt fest, dass das Problem des Sexismus vor allem anhand der Diskriminierung weißer Frauen und das Problem des Rassismus vor allem anhand der Diskriminierung schwarzer Männer diskutiert werden. So geraten die schwarzen Frauen aus dem Blick derer, die sich mit Problemen der Diskriminierung befassen. Die Marginalisierung, die afroamerikanische Frauen in der Gesellschaft erfahren, wiederholt sich selbst in denjenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich der Kritik sexistischer und rassistischer Diskriminierung verschrieben haben. Am Problem der Vergewaltigung tritt dieses Phänomen besonders schmerzhaft zutage. In den USA überschneiden sich Sexismus und Rassismus in der Weise, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf solche Fälle konzentriert, in denen ein schwarzer Mann eine weiße Frau vergewaltigt. Die mögliche Täterschaft eines weißen Mannes wird ebenso vernachlässigt wie die mögliche Vergewaltigung einer schwarzen Frau. Für den weißen Mann bedeutet dieser Mechanismus Schutz vor Verdächtigung, für die
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Vgl. Walgenbach, Katharina: »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgenbach u.a. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 22012, S. 23-64; Walgenbach bevorzugt den Begriff der Interdependenz gegenüber dem der Intersektionalität.
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Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review 43 (1991), S. 1241-1299.
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schwarze Frau gesteigerte Diskriminierung, insofern sie als schwarze Frau sowohl der sexistischen als auch der rassistischen Marginalisierung anheimfällt. Ein anderes, eher kulturgeschichtliches Beispiel, an dem Crenshaw ihr Anliegen verdeutlicht, ist die gerichtliche Verfolgung der US-amerikanischen Rap-Gruppe 2 Live Crew, die für ihre sexistischen Lieder berüchtigt war. Die Perfidie, die sie in dem Gerichtsverfahren erkennt, ist die verschleierte Zielsetzung der Ankläger. Diesen sei es weniger um den Schutz der Frauen als vielmehr darum gegangen, das Ressentiment gegen schwarze Männer, denen eine besondere Bereitschaft zur sexuellen Gewalt unterstellt wird, zu verfestigen. Die vorgebliche Ahndung von Sexismus sei für tendenziell rassistische Zwecke instrumentalisiert worden. Doch auch die Argumentation der Verteidigung, die die Lieder der Rap-Gruppe als karnevaleske Kritik an sexistischen Stereotypen adeln wollte, sei diskriminierend gewesen, weil sie außer Acht gelassen habe, dass es sich um eine reine Männerband handelte, die sexuelle Gewalt gegen schwarze Frauen zum Gegenstand musikalischer Unterhaltung machte. Für Crenshaw ist es signifikant, dass die Pop-Ikone Madonna, die als weiße Frau auf der Bühne häufig mit sexuellen Tabus wie Masturbation, Zölibat, Homosexualität und Gruppensex brach, derartige Gerichtsprozesse nicht fürchten musste. Der Mechanismus der Privilegierung der einen und der Diskriminierung der anderen verläuft auf eine komplexe, analytisch nur schwer zu entwirrende Weise. Sexismus und Rassismus verschränken sich so, dass mehrfach Diskriminierte selbst dann unsichtbar bleiben, wenn scheinbar ihre Sache verfochten wird. Crenshaw hat für den Sachverhalt, dass Mehrfachdiskriminierte oftmals nicht gesehen werden, den Terminus der ›intersektionellen Unsichtbarkeit‹ (intersectional invisibility) geprägt.4 Es handelt sich dabei um das Dilemma der gleichzeitigen Über- und Unter-Inklusion (over-inclusion, under-inclusion).5 Mit dem Begriff der Über-Inklusion ist gemeint, dass eine Teilgruppe einer Gesamtgruppe zugerechnet wird und somit in ihrer Eigenart nicht mehr zur Geltung kommt. So geraten die spezifischen Probleme schwarzer Frauen in generalisierenden feministischen und antisexistischen Diskursen, die die Sache ›der Frauen‹ insgesamt vertreten wollen, aus dem Blick. Im Falle der Unter-Inklusion hingegen werden die schwarzen Frauen aus der Gesamtgruppe der ›Schwarzen‹ ausgespart und kommen somit nicht mehr als Frauen in den Blick. Um die Differenz zwischen Über- und UnterInklusion besser zu verstehen, kann man die Logik der Mengenlehre heranziehen. In zwei sich überschneidenden Mengen (Frauen, Schwarze) liegt eine ÜberInklusion vor, wenn die Schnittmenge (schwarze Frauen) in der ersten Gesamtmen4
Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectional Invisibility‹: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung«, in: Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 223-243.
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Ebd., S. 224f.
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ge (Frauen) aufgeht; und es liegt eine Unter-Inklusion vor, wenn dieselbe Schnittmenge aus der zweiten Gesamtmenge (Schwarze) ausgespart bleibt. Im ersten Fall wird von den schwarzen Frauen gesprochen, als wenn sie einfach nur ›Frauen‹ wären; im zweiten Fall werden die schwarzen Frauen verschwiegen, weil die Gesamtmenge der Schwarzen implizit auf die Teilmenge der schwarzen Männer reduziert wird. Gudrun-Axeli Knapp hat den Gedanken der intersektionellen Unsichtbarkeit um einige wichtige Aspekte bereichert. Sie weist zum einen daraufhin, dass auch der Sachverhalt der multiplen Privilegierung mit einem Unsichtbarkeitseffekt einhergeht. Dies betrifft die Rolle der weißen Männer. Knapp betont, »dass die androzentrische Struktur der symbolischen Ordnung sich nicht in der Markierung von Differenzen und Hierarchien erschöpft, sondern ihren Gipfel geradezu darin findet, dass der androzentrische Maßstab selber unmarkiert bleibt und als unmarkierter universalisiert wird, wie etwa im Begriff des Menschen oder der Person«.6 Es handelt sich also um jenes Phänomen, das in der Sprachwissenschaft als ›generisches Maskulinum‹ bezeichnet wird, nämlich die angebliche Fähigkeit männlicher Nomina und Pronomina, eine Gruppe zu bezeichnen, die Männer und Frauen zugleich umfasst bzw. die nicht zwischen Männern und Frauen differenziert. Es ist also zu unterscheiden zwischen der Unsichtbarkeit der mehrfach Diskriminierten, die aus dem Blickfeld gedrängt werden, und der Unsichtbarkeit der mehrfach Privilegierten, die das gesamte Blickfeld für sich beanspruchen. Der Mann macht sich als Mann unsichtbar, wenn er sich mit dem Menschen ›an sich‹ gleichsetzt. Eine weitere Unterscheidung, die Knapp vorschlägt, betrifft die Wiederholung der intersektionellen Unsichtbarkeit in der psychischen Selbstwahrnehmung der Menschen, also das intrasubjektive Pendant zu den intersubjektiven Verhältnissen. Sie denkt dabei »an Formen der Ausblendung, Verleugnung oder Verdrängung der Zugehörigkeit zu mehrfach diskriminierten oder privilegierten Sozialkategorien«.7 Mehrfach Diskriminierte werden sich oftmals ihrer Situation nicht bewusst und verkennen die Gründe ihrer Marginalisierung; häufig schotten sie sich auch »gegenüber der kränkenden Selbstwahrnehmung als Opfer von mehrfacher Abwertung« ab.8 Auf der Seite der Privilegierten verhält es sich oftmals so, dass die Privilegierten eine »Wahrnehmungsbarriere« errichten, die sie mit affektivem Aufwand verteidigen.9 Eine dritte Erweiterung des Konzepts der intersektionellen Unsichtbarkeit bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen handlungstheoretisch und gesellschaftstheoretisch orientierten Gesellschaftsanalysen. Zur intersektionellen Unsichtbarkeit gehören für Knapp auch die Verschleierungsstrategien, mit denen gesellschaftliche 6
Ebd., S. 227.
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Systeme jenseits der handelnden Akteure operieren: »Die Formen, in denen sich das Unsichtbarwerden vollziehen kann, reichen von der Naturalisierung, der Normalisierung bis hin zur Verdinglichung des Sozialen. In allen Fällen geht es um die Herstellung eines Scheins von Unmittelbarkeit, d.h. eines Scheins unvermittelter Gegebenheit, Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit, der den Einblick in den tatsächlich gesellschaftlich-kulturellen Charakter der Phänomene verstellt«.10 b) Intersektionelle Kategorien und das »etc.«-Problem Kimberlé Crenshaw konzentriert sich auf zwei Kategorien: Geschlecht und ›Rasse‹.11 Beide Kategorien orientieren sich an einer binären Differenz: ›männlich‹ und ›weiblich‹ im ersten, ›weiß‹ und ›schwarz‹ im zweiten Fall. Die Merkmale ›schwarz‹ und ›weiblich‹ verweisen auf Diskriminierung, die Merkmale ›weiß‹ und ›männlich‹ auf Privilegierung. Die Intersektionalitätsforschung hat sich vielfach die Frage gestellt, wie viele Kategorien zu unterscheiden sind. Die Trias der klassischen Kategorien umfasst in der Regel Geschlecht, Klasse und ›Rasse‹.12 Vielfach wird als vierte Kategorie die Sexualität eingefordert, was mit dem spezifischen Forschungsinteresse der Queer Studies zusammenhängen dürfte. Freilich dürfen bei der Betrachtung auch Alter und Religion nicht fehlen. Helma Lutz und Norbert Wenning unterscheiden insgesamt dreizehn Kategorien, die allesamt binär strukturiert sind: (1) Geschlecht (männlich vs. weiblich), (2) Sexualität (hetero vs. homo), (3) ›Rasse‹ (weiß vs. schwarz), (4) Ethnizität (ethnisch vs. nicht ethnisch), (5) Nation (Angehörige vs. Nicht-Angehörige), (6) Klasse (oben/unten), (7) Kultur (›zivilisiert‹ vs. ›unzivilisiert‹), (8) Gesundheit (nicht-behindert vs. behindert), (9) Alter (alt vs. jung), (10) Herkunft (angestammt vs. zugewandert), (11) Besitz (reich vs. arm), (12) Nord/Süd, Ost/West, (13) gesellschaftlicher Entwicklungsstand (modern vs. traditionell).13 In einem Kommentar zur Liste nennen sie weitere Kategorien und Differenzen: Bildung (gebildet vs. ungebildet), Religion (gläubig vs. nicht gläubig), Sprachkenntnisse (standardsprachlich vs. nicht standardsprachlich), Stadt/Land. Die Vielzahl der Kategorien zeigt, dass der Wunsch, das Phänomen der Intersektionalität systematisch zu erfassen, stets präsent, in der Durchführung aber kaum zu erfüllen ist. Judith Butler hat die Schwierigkeit, die Kategorien vollständig zu benennen, auf den Punkt gebracht: »Auch Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit aus10 Ebd., S. 231. 11 Zum Gebrauch von Anführungszeichen im Fall der ›Rasse‹ vgl. weiter unten. 12 Vgl. G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 15. 13 Lutz, Helma/Wenning, Norbert: »Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatte«, in: Dies. (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2011, S. 11-24, hier S. 20f.
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arbeiten, setzen stets ein verlegenes ›usw.‹ [etc.] an das Ende ihrer Liste. Durch die horizontale Aufzählung der Adjektive bemühen sich diese Positionen, ein situiertes Subjekt zu umfassen; doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein«.14 Wie sich die Reihe der Identitätskategorien als unabschließbar erweist, so scheitert vielfach auch die Reduktion der Kategorien auf plausible Binarismen. Im Falle des Geschlechts gibt es nicht nur die Opposition ›männlich‹ vs. ›weiblich‹, sondern auch die Optionen ›inter‹ und ›trans‹; im Falle der Sexualität gibt es nicht nur die Opposition ›hetero‹/›homo‹, sondern auch die Optionen ›bisexuell‹ und ›asexuell‹. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist die Unterscheidung zwischen einer essentialistischen und einer konstruktivistischen Sicht der Dinge. Wenn man die Kategorien und ihre binären Codes aufzählt, so sollte man sich stets der Tatsache bewusst sein, dass man es mit kulturellen Konstruktionen und nicht mit ontologischen Gegebenheiten zu tun hat. Die gesammelten Identitätskategorien sind nicht Wesenseigenschaften von Menschen, sondern kulturelle und soziale Zuschreibungen, die einen strategischen Zweck erfüllen. Dieser besteht in der Etablierung eines hierarchischen Systems von Bevorzugungen und Benachteiligungen, das ideologisch geprägt ist. Schon die Parzellierung der Identität und ihre Rückführung auf binäre Oppositionen, die in der Regel mit impliziten Akten der Privilegierung (männlich, weiß, gesund, jung, heterosexuell, reich etc.) und Diskriminierung (weiblich, schwarz, behindert, alt, homosexuell, arm etc.) einhergehen, sind Strategien dieses ideologischen Systems. Man sollte sich hüten, diese Strategien in der Analyse unhinterfragt zu wiederholen und somit ein weiteres Mal unsichtbar zu machen, was mithilfe des kritischen Blicks sichtbar gemacht werden sollte. c) Der Körper als intersektionelle Kategorie? Nina Degele und Gabriele Winker nehmen zu den Hauptkategorien Geschlecht, Klasse und ›Rasse‹ noch als vierte Kategorie den Körper hinzu. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass die Kategorien des Geschlecht und der ›Rasse‹ in der Regel »mit dem Rekurs auf eine vermeintliche Naturhaftigkeit begründet und legitimiert werden«, dass dies aber bei der Kategorie der Klasse »schon längst nicht mehr der Fall sei«.15 Hinsichtlich der Klasse diene der Körper nicht der Strategie der Naturalisierung, sondern der ökonomisch motivierten Optimierung: »Körper können ihren Wert steigern […]. So sind sowohl Alter wie körperliche Verfasstheit, Gesundheit und Attraktivität in den letzten Jahrzehnten in Arbeitszusammenhängen immer bedeutsamer geworden und entscheiden über die Verteilung von Ressourcen«.16 Ausgehend von der erweiterten Reihe der »Strukturkategorien« entwerfen Degele und 14 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 210. 15 G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 39. 16 Ebd., S. 40.
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Winker eine Systematik, die die Vielzahl der Kategorien auf vier Gruppen zurückführt.17 Mit der Kategorie der Klasse verbinden sich die »Klassismen« Bildung und Beruf, mit der Kategorie der ›Rasse‹ die »Rassismen« ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, mit der (aus den Queer Studies entlehnten) Kategorie der Heteronormativität die »Heteronormativismen« Geschlecht und Sexualität und mit der neuen Kategorie des Körpers die »Bodyismen« Behinderung und Alter. Zur Begründung der Strukturkategorie des Körpers verweisen die Autorinnen darauf, dass der Körper heutzutage »immer weniger als Naturtatsache, sondern als Kulturprodukt[]« erscheine.18 Dies ist insofern überzeugend, als Schönheit, Gesundheit und Alter zunehmend als ökonomische Ressourcen angesehen werden, die man durch bestimmte Praktiken wie Sport, Kosmetik und plastische Chirurgie optimieren kann: »Zur Bedingung sozialer und das heißt auf dem Arbeitsmarkt gewinnbringend einsetzbarer Wertschätzung gehören Jugendlichkeit, Schönheit, Fitness und Gesundheit«.19 Zur Markierung dieses Phänomens gibt es im englischen Sprachraum bereits eigene Termini wie lookism, ageism und ableism.20 Die Einführung des Körpers als vierte Strukturkategorie vermag vieles zu klären, und der angedeutete Paradigmenwechsel in der Betrachtung des Körpers von der Naturalisierung zur Optimierung, von der natürlichen Gegebenheit zur kulturellen Ressource ist allemal erhellend. Doch erscheint auch eine Perspektive als plausibel, die den Körper nicht als eigene Kategorie klassifiziert, sondern als übergreifende Dimension, die alle Kategorien – wenn auch in je verschiedener Weise – betrifft. Gewiss trifft zu, dass die Kategorien der ›Rasse‹ und des Geschlechts eher auf einen naturalisierten Körper verweisen, die Kategorie der Klasse hingegen eher auf einen optimierten Körper. Doch ist darauf hinzuweisen, dass auch Hautfarbe und Geschlecht längst schon zum Gegenstand der kosmetischen und chirurgischen Manipulation geworden sind. Im Falle der Hautfarbe geht es dabei um einen Wechsel innerhalb des binären Codes schwarz/weiß, im Falle des Geschlechts um die Anpassung an ein heteronormatives Ideal, das paradoxerweise wiederum auf das Register der Natur verweist. Weiter ist zu bedenken, dass in den Epochen der Vormoderne der Körper durchaus noch als natürlicher Garant der Klasse verstanden wurde. Dem Adel wurde ein besonderes Charisma zugesprochen, das mit somatischen Vorstellungen einherging. Entscheidend ist, dass sämtliche Kategorien in der einen oder anderen Form auf die Dimension des Körpers bezogen sind, dass der Körper in der einen oder anderen Form stets als Garant oder Medium einer Kategorie vorgestellt wird.
17 Ebd., S. 41. 18 Ebd., S. 49. 19 Ebd., S. 51. 20 Ebd., S. 51.
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Die performative Dimension des Körpers ist besonders ausgiebig in den Gender Studies verhandelt worden. Seit Judith Butler ist die kategoriale Differenzierung zwischen natürlichem (sex) und kulturellem (gender) Geschlecht überholt. Der natürliche Körper ist immer schon ›gegendert‹, ist immer schon ein performativ hergestellter Effekt des kulturellen Körpers. Diese These lässt sich in der Weise verallgemeinern, dass der Mensch auch hinsichtlich aller anderen Kategorien über einen zweifachen Körper verfügt, wobei der natürliche nicht mehr vom kulturellen Körper zu trennen ist. Die Unterscheidung zwischen sex und gender wäre auf alle anderen Kategorien zu übertragen, auch wenn nur in wenigen Fällen die Möglichkeit einer lexikalischen Differenzierung zur Verfügung steht. Die vermeintlich natürlichen Körper sind in jedem Fall kulturelle Konstrukte – sei es, dass dieser Sachverhalt verschleiert (Geschlecht, Rasse) oder thematisiert (Klasse) wird. Dieser Sachverhalt tritt deutlicher hervor, wenn man die Schwierigkeiten berücksichtigt, die sich in deutschsprachigen Debatten mit der Kategorie der ›Rasse‹ verbinden. Der Begriff wird in der Regel umschrieben (›ethnische Zugehörigkeit‹) oder – wie auch in dieser Einführung – in einfache Anführungszeichen gesetzt. Damit soll markiert werden, dass die Kategorie der ›Rasse‹ einem biologistischen Denken entspringt und von rassistischen Ideologien belastet ist. Es gibt einen weit verbreiteten gesellschaftlichen Konsens, dass die Erinnerung an die nationalsozialistische Rassenpolitik es verbiete, den Begriff der ›Rasse‹ im deutschen Diskurs distanzlos zu verwenden. In anderen Ländern, beispielsweise den USA, stellt sich die Situation anders dar, zumal dort die Heterogenität der ethnischen Zugehörigkeiten und die Verschiedenheit der Hautfarben ein vergleichsweise selbstverständlicher Bestandteil der diskursiven und praktischen Alltagskultur sind. Es stellt sich die Frage, ob man der Gefahr des Rassismus entrinnt, indem man den Begriff der ›Rasse‹ umschreibt oder in einfache oder doppelte Anführungszeichen setzt. Kann diese Form der Vermeidung oder Markierung nicht ihrerseits ungewollt zur Verschleierung von Rassismus führen? Diese Problematik ließe sich theoretisch verallgemeinern und für die Intersektionalitätsforschung insgesamt nutzbar machen, indem man entweder – wie Degele und Winker – alle Identitätskategorien beim Namen nennt oder indem man alle Identitätskategorien in einfache Anführungszeichen setzt und konsequent nur noch von ›Geschlecht‹, ›Klasse‹, ›Rasse‹, ›Alter‹ etc. spricht. Die zweite Option hätte den Vorzug, dass sie das Bewusstsein für die kulturelle Konstruiertheit der körperlichen Dimension aller Kategorien stets präsent hielte.
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d) Methodologische Schlussfolgerungen Wie sich zeigte, besteht eines der methodologischen Hauptprobleme der Intersektionalitätsforschung im Umgang mit den Kategorien. Fraglich ist, wie viele Kategorien zu unterscheiden sind und wie sie sich systematisieren lassen; fraglich ist der Status der Kategorien zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Perspektiven; fraglich ist auch, ob der Körper als eigene Kategorie zu werten ist oder als Dimension, die alle Kategorien betrifft. Leslie McCall hat in ihrem Aufsatz The Complexity of Intersectionality (2005) einen Versuch vorgelegt, auf der Basis bisheriger Studien eine systematische Methodologie der Intersektionalitätsforschung zu entwerfen, die sich auf das jeweils zugrundeliegende Verständnis der Kategorien bezieht .21 Sie unterscheidet drei Ansätze: antikategoriale Komplexität, interkategoriale Komplexität und intrakategoriale Komplexität. Der antikategoriale Ansatz zielt auf die Dekonstruktion der Kategorien; er versteht die intersektionellen Kategorien als soziale Fiktionen, die, indem sie Differenzen setzen, Ungleichheiten produzieren. Der interkategoriale Ansatz bedient sich der analytischen Kategorien in provisorischer Weise, um die wechselnden Verhältnisse der Ungleichheit zwischen sozialen Gruppen zu beschreiben. Der intrakategoriale Ansatz steht in der Mitte zwischen dem antikategorialen Ansatz, der Kategorien ablehnt, und dem interkategorialen Ansatz, der Kategorien strategisch nutzt; er fokussiert den intersektionellen Status bestimmter sozialer Gruppen, um ihre interne Komplexität zu enthüllen. Diese Ansätze schließen einander nicht aus. Der antikategoriale Ansatz entspringt einem Denken, das die essentialistische und naturalisierende Begründung von Kategorien hinterfragt. Auch wenn diese Kategorien letztlich soziale Konstruktionen darstellen, steht doch ihr erheblicher Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse außer Frage; insofern empfiehlt es sich, die Kategorien – wie es der interkategoriale Ansatz hält – strategisch als Instrumente der Analyse heranzuziehen. Während der interkategoriale Ansatz eher das Zusammenspiel der Kategorien betrachtet, legt der intrakategoriale Ansatz Wert auf eine Sichtweise, die nach der internen Differenzierung bestimmter Kategorien fragt, also zum Beispiel die Kategorie des Geschlechts – grammatisch gesprochen – anhand der Kategorien der Klasse, der ›Rasse‹ etc. flektiert. Dem intrakategorialen Ansatz wohnt bereits eine dekonstruktive Tendenz inne, weswegen McCall ihn gemeinsam mit dem antikategorialen Ansatz abhandelt. Weitere methodologische Schlussfolgerungen lassen sich aus den vorausgehenden Überlegungen ableiten. Wie angesprochen, wäre es sinnvoll, die Erkenntnisse der Gender Studies auf alle Kategorien anzuwenden und nach der performativen Dimension nicht nur des Geschlechts, sondern auch der ›Rasse‹, der Klasse, der Se21 Mc Call, Leslie: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs 30 (2005), S. 17711800.
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xualität, des Alters, der Behinderung etc. zu fragen. Wie man in den Gender Studies vom Konzept des doing gender spricht, so kann es theoretisch und methodisch sehr erhellend sein, auch von doing class, doing race, doing age, doing (dis)ability usw. zu sprechen. Freilich ist dabei zu bedenken, dass die Kategorien nicht immer mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten einhergehen, sondern gerade auch Handlungsmöglichkeiten einschränken können. Dem doing steht immer auch die Option des being done entgegen, und oftmals lassen sich diese Aspekte nicht wirklich auseinanderhalten. Es macht einen Unterschied, ob sich jemand bestimmter Handlungsmuster bedient, um seinen privilegierten Status auszuagieren, oder ob jemand bestimmten Handlungsmustern unterworfen und somit in eine diskriminierte Position versetzt wird. Tendenziell verweisen die binären Codes, auf die die Kategorien in der Regel programmiert sind, auf den Gegensatz von doing und being done, von Privilegierung einerseits und Diskriminierung andererseits. Wenn man den Körper nicht als eigenständige Kategorie, sondern als alle Kategorien betreffende Dimension klassifiziert, so kann man Ähnliches für den Raum postulieren. Der Körper ist im übertragenen Sinne ›Schauplatz‹ der Kategorien, der Raum ist es im wörtlichen Sinne. Das Subjekt ist stets nicht nur an einen Körper, sondern auch an einen Raum gebunden; es ist, überspitzt formuliert, immer auch ein Körper, der sich im Raum bewegt und jenseits von Körpern und Räumen keine Existenz hat. Der Raum bietet gewissermaßen den Rahmen, der bestimmte Achsen der Ungleichheit aktiviert, der bestimmte Merkmale privilegiert oder marginalisiert. Der Raum ist zugleich jene Dimension, in der sich die körperbezogenen Subjekte begegnen, in der sie durch sozialen Kontakt ihre Machtverhältnisse aushandeln. Als dritte Dimension neben Körper und Raum wäre noch die Zeit zu nennen; auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein, wenn es um die Frage nach der historischen Dimension der Intersektionalitätsforschung gehen wird.
2. E RSTE E RWEITERUNG : I NTERSEKTIONALITÄTSFORSCHUNG L ITERATURTHEORIE
UND
Die Intersektionalitätsforschung ist in der Literaturwissenschaft bislang noch kaum rezipiert worden. Zwar analysiert man literarische Texte mit aller Selbstverständlichkeit aus den Perspektiven der Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies etc., doch fehlt es noch an dem Versuch, die entsprechenden Forschungsrichtungen und Forschungsgegenstände im Sinne der Intersektionalität systematisch zu verschränken. Dies ist in doppelter Hinsicht bedauerlich. Zum einen könnte die Literaturwissenschaft, insbesondere in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, viel von der Intersektionalitätsforschung lernen; zum anderen könnte auch die bis-
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her vor allem sozialwissenschaftlich geprägte Intersektionalitätsforschung in mancher Hinsicht von der Literaturwissenschaft profitieren. Einen ersten Ansatz dazu haben Degele und Winker bereits vorgelegt. Sie untersuchen in ihrer intersektionellen Ungleichheitsanalyse nicht nur die Ebenen der Identitätskonstruktionen und strukturellen Herrschaftsverhältnisse, sondern dezidiert auch die »Ebene symbolischer Repräsentationen«.22 Die Repräsentationsebene umfasst für sie die »kulturelle[n] Symbole«, die an der Herausbildung sozialer Ungleichheit beteiligt sind.23 Gemeint sind damit »Bilder, Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Wissenselemente, welche Mitglieder in einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft kollektiv teilen«.24 Es versteht sich von selbst, dass die Literatur an der Produktion kultureller Symbole erheblichen Anteil hat. Doch ist auch die Ebene der Identitätskonstruktionen einzubeziehen, da ja insbesondere die Gattung des Romans vielfach von nichts anderem handelt als der Konstruktion einer Identität, nämlich der Identität einer imaginären Figur. Den erlebten Welten stehen erzählte Welten gegenüber, und zugleich sind die erzählten Welten Teil der erlebten Welten. Insofern ist es eine terminologische Verkürzung, wenn man von symbolischen ›Repräsentationen‹ spricht, weil dies dem Missverständnis Vorschub leisten könnte, dass die Literatur die Lebenswelt abbildet. Was die Literatur leistet, geht weit über die Repräsentation von Wirklichkeit hinaus; sie ist nicht mimetisch in dem einfachen Sinn, dass sie die Welt in ähnlicher oder verfremdeter Weise abbildet und nachahmt. Der Literatur wohnt die genuine Fähigkeit zur Konstruktion imaginärer Welten inne, die Teil der realen Welt sind und sie in entscheidender Weise mit prägen. Literatur ist, um eine andere Metapher zu benutzen, immer auch ein Probehandeln, der Versuch, einen Spielraum zu schaffen, in dem Unvordenkliches gedacht und Unanschauliches zur Anschauung gebracht werden kann. Aus der Konfrontation zwischen der realen Welt und der fiktiven Welt, die sich auf jene in komplexer Weise bezieht, erwächst ein Raum der Reflexion und Imagination, der die gesellschaftliche Lebenswelt der Leser_innen überspannt. Die Gattungen der Literatur, insbesondere das Epos, der Roman und das Drama, etablieren imaginäre Welten, die aus Figuren bestehen, die in bestimmten Räumen und zu bestimmten Zeiten agieren. Daher ist es eine zentrale Aufgabe der literarischen Analyse, mit erzähl- und dramentheoretischen Mitteln die Konstellationen der Figuren-, Raum- und Zeitstruktur zu untersuchen. Hinzu kommt im Falle des Romans noch die Frage der Perspektivierung, der mehr oder weniger lenkenden Instanz eines Erzählers, der einen impliziten Adressaten im Blick hat. Diese Differenzierungen, die zum täglichen Brot der Literaturwissenschaft zählen, können viel22 G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 20. 23 Ebd., S. 18. 24 Ebd., S. 21, unter Bezug auf Schützeichel, Rainer: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 451; vgl. auch S. 55-59.
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leicht auch helfen, sozialwissenschaftliche Ansätze der Gesellschaftsanalyse weiter auszudifferenzieren. Um die Intersektionalitätsforschung mit literaturwissenschaftlichen Perspektiven zu vermitteln, bietet sich ein Konzept an, das für die Gesellschaftswissenschaften, die Literaturwissenschaften und die Geschlechterforschung gleichermaßen relevant ist. Es handelt sich um einen Begriff, der eng mit der Vorstellung verknüpft ist, dass die Welt eine Bühne sei (theatrum mundi). Gemeint ist das performative Konzept der Rolle, das nachfolgend unter den Gesichtspunkten der ›sozialen Rolle‹ (Gesellschaftswissenschaften), der ›Geschlechterrolle‹ (Geschlechterforschung) und der ›Handlungsrolle‹ (Literaturwissenschaften) entfaltet werden soll. Zwar ist der Rollenbegriff inzwischen vielfach aus guten Gründen in neue Konzepte transformiert worden. In den Gesellschaftswissenschaften spricht man heute eher vom ›Habitus‹ als von der ›sozialen Rolle‹, in der Geschlechterforschung eher von ›Gender‹ als von der ›Geschlechterrolle‹. Für die interdisziplinäre Vermittlung der Intersektionalitätsforschung erweisen sich gleichwohl beide Ansätze als hilfreich: sowohl der Vergleich des jeweiligen Rollenkonzepts wie auch die Rekonstruktion der Gründe für die jeweilige terminologische Verschiebung. a) Gesellschaftswissenschaften: Soziale Rolle/Habitus Ralf Dahrendorf unterscheidet in seinem Buch Homo Sociologicus, einem »Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle«, zwischen sozialer Position einerseits und sozialer Rolle andererseits.25 Jeder Mensch, so stellt er fest, müsse »in der Regel eine Mehrzahl von Positionen einnehmen«, und es sei wahrscheinlich, »dass die Zahl der auf Einzelne entfallenden Positionen mit der Komplexität von Gesellschaften wächst«.26 Daher sei es Aufgabe der Soziologie, die »Einheit des Menschen aufzulösen in Elemente, aus denen menschliches Handeln sich aufbaut«.27 In seiner Aufzählung der betreffenden Elemente nennt Dahrendorf zahlreiche Kategorien, die auch in der Intersektionalitätsforschung geläufig sind: »Für jede Position, die ein Mensch haben kann, sei sie eine Geschlechts- oder Alters-, Familien- oder Berufs-, National- oder Klassenposition oder von noch anderer Art, kennt ›die Gesellschaft‹ Attribute und Verhaltensweisen, denen der Träger solcher Positionen sich gegenübersieht und zu denen er sich stellen muß«.28 Neben den Kategorien des Geschlechts, der Klasse, der Nation und des Alters führt Dahrendorf auch den familiären und beruflichen Status an. Das fiktive 25 Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 16. Auflage mit einem neuen Vorwort, Wiesbaden 2006 [Erstdruck 1965]. 26 Ebd., S. 30, meine Hervorhebung. 27 Ebd., S. 23. 28 Ebd., S. 27.
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Beispiel, an dem er seine Rollentheorie illustriert, ist »Herr Schmidt«, seines Zeichens deutscher Studienrat und Familienvater.29 Dahrendorf wählt somit eine Person, die als weißer, wohlhabender, heterosexueller Mann im privilegierten Zentrum des Patriarchats steht und keiner Minderheitengruppe angehört. Dahrendorf nimmt das Merkmal der sexuellen Orientierung zwar nicht in die Liste der sozialen Positionen auf, geht aber in seinen Ausführungen über das Geschlecht darauf ein: »Als Mann darf Herr Schmidt keinen Geschlechtsverkehr mit anderen Männern unterhalten«.30 Die ausdrückliche Erwähnung der Homosexualität ist vor dem Hintergrund des Paragraphen 175 zu verstehen, der nach dem Krieg in der von den Nationalsozialisten verschärften Form in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde und erst 1969 – vier Jahre nach dem ersten Erscheinen von Dahrendorfs Buch – entschärft wurde. Die Kategorien der ›Rasse‹ und der Religion bleiben hingegen unsichtbar, sowohl in der Liste als auch in den Ausführungen. Es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Normalbürger Schmidt christlichen Glaubens und europäischer Abstammung ist. In seinen Ausführungen zur sozialen Rolle bringt Dahrendorf dann die Analogie zum Theater ins Spiel: »[Z]u jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle. Indem der Einzelne soziale Positionen einnimmt, wird er zur Person des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit jeder Position gibt die Gesellschaft ihm eine Rolle in die Hand, die er zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt«.31 Unter sozialen Rollen ist also die Performanz der sozialen Positionen in der Gesellschaft zu verstehen. Die Metapher der Rolle verweist darauf, dass der Mensch in seinen typischen Verhaltensweisen auf gesellschaftliche Erwartungen reagiert und vorgeschriebene Handlungsmuster in die Tat umsetzt: »Wenn wir von sozialen Rollen sprechen, dann ist stets nur von erwartetem Verhalten die Rede […]. Die Vermittlung von Einzelnem und Gesellschaft geschieht nicht schon dadurch, daß der Einzelne handelt oder soziale Beziehungen unterhält, sondern erst in der Begegnung des handelnden Einzelnen mit vorgeprägten Formen des Handelns«.32 Mit anderen Worten sind soziale Rollen »Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen«.33 Die Metapher des Bündels lässt sich auf das Anliegen der Intersektionalitätsforschung beziehen, die Kategorien im Zusammenhang zu betrachten. Wie Dahrendorf weiter ausführt, »verrät das Aussehen eines Menschen oft, ›wer er ist‹, d.h. welche sozia-
29 Ebd, S. 29 u.ö. 30 Ebd., S. 37. 31 Ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 34 (meine Hervorhebung). 33 Ebd., S. 33.
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len Positionen er einnimmt«.34 Das äußere Erscheinungsbild des Menschen ist für seine soziale Position ebenso signifikant wie das Verhalten. Zur Aufführung der sozialen Rolle gehören, so könnte man sagen, auch Kostüm und Maske. Entsprechend unterscheidet Dahrendorf zwischen Rollenverhalten und Rollenattributen: »Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: einmal Ansprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum andern Ansprüche an sein Aussehen und seinen ›Charakter‹ (Rollenattribute)«.35 In den letzten Jahrzehnten wurde Dahrendorfs rollentheoretische Terminologie weitgehend von der von Pierre Bourdieu geprägten Theorie des ›Habitus‹ abgelöst. Die Rollentheorie ist damit nicht völlig obsolet geworden, zumal sich viele ihrer Thesen in der Habitustheorie wiederfinden. Im Zusammenhang der Intersektionalitätsforschung lassen sich vier Vorzüge benennen, die dem Begriff des ›Habitus‹ eignen. Erstens vermag er die Komplexität dessen, was die Rollentheorie als Konglomerat sozialer Positionen und Rollen beschreibt, in einem schlüssigen Begriff zusammenfassen. Zweitens erlaubt er, die problematische Vorstellung der ›Identität‹ zu umgehen, indem er den Akzent vom Sein auf das Tun einer Person verschiebt. Drittens ist die dialektische Auffassung von Performativität hilfreich, die der ›Habitus‹ im Sinne Bourdieus impliziert: als Produkt des Handelns einerseits (opus operatum) und als Prinzip des Handelns (opus moderandi) andererseits. Damit wird viertens deutlich, dass das Handeln einer Person nicht als frei gewählte Rolle zu verstehen ist, sondern als Spannung von eingeübtem und ausgeübtem Verhalten, von Disposition und Praxis. b) Geschlechterforschung: Geschlechterrolle/Gender Schon Dahrendorf macht in seinen Ausführungen deutlich, dass das Bild der Rolle nicht dazu verleiten dürfe, sie als scheinbar und beliebig aufzufassen: »Während die Uneigentlichkeit des Geschehens für das Schauspiel konstitutiv ist, wäre sie im Bereich der Gesellschaft eine höchst mißverständliche Annahme«.36 Diese Differenzierung weist bereits auf die Unterscheidung zwischen Performanz und Performativität voraus, die Judith Butler in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter vornimmt. Wie Butler am Beispiel der Drag Queen erläutert, findet die performance des Geschlechts auf der Bühne statt, wenn ein Mann eine Frauenrolle spielt; die performativity des Geschlechts hingegen ist ein alltägliches Drama, dem der Mensch nicht ohne weiteres entrinnen kann. So formuliert Butler in Anspielung auf die Metaphorik des Theaters: »In welchem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein 34 Ebd., S. 34. 35 Ebd., S. 33. 36 Ebd., S. 27.
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›Akt‹ [act]? Ähnlich wie andere rituelle gesellschaftliche Inszenierungen [dramas] erfordert auch das Drama der Geschlechtsidentität eine wiederholte Darbietung [performance]«.37 Die Unausweichlichkeit der Geschlechtsidentität zeigt sich darin, dass sie durch beständige Repetition eingeübt wird, bis sie den Effekt der ›Eigentlichkeit‹ hervorruft. Butler bedient sich zwar der Metaphorik des Theaters, wenn sie von »drama«, »act« und »performance« spricht, distanziert sich aber explizit vom Begriff der Geschlechterrolle (gender role). In ihrem 1988 erschienenen Beitrag Performative Acts and Gender Constitution vergleicht Butler die sozialwissenschaftliche mit der theaterwissenschaftlichen Rollentheorie und führt aus: »As a consequence, gender cannot be understood as a role which either expresses or disguises an interior ›self,‹ whether that ›self‹ is conceived as sexed or not. As performance which is performative, gender is an ›act,‹ broadly construed, which constructs the social fiction of its own psychological interiority«.38 Ganz ähnlich schreibt sie in ihrem 1993 erschienenen Aufsatz Critically Queer: »The misapprehension about gender performativity is this: that gender is a choice, or that gender is a role, or that gender is a construction that one puts on, as one puts on clothes in the morning«.39 Hinsichtlich seiner Performativität ist das Geschlecht also nicht als gespielte Rolle aufzufassen, sondern als Handlung, die das gesellschaftliche Phantasma eines Wesenskerns hervorbringt. Entsprechend distanziert sich Butler von der Rollentheorie der Gesellschaftswissenschaften: »As opposed to a view such as Erving Goffman’s which posits a self which assumes and exchanges various ›roles‹ within the complex social expectations of the ›game‹ of modern life, I am suggesting that this self is not only irretrievably ›outside‹, constituted in social discourse, but that the ascription of interiority is itself a publically regulated and sanctioned form of essence fabrication«.40 Mit diesen Sätzen macht Butler unmissverständlich klar, dass das Geschlecht keine Rolle ist, die eine Person – und sei es aufgrund von gesellschaftlichen Erwartungen – angenommen hätte und die somit noch vom Selbst dieser Person unterschieden werden könnte. Vielmehr versteht sie das Selbst bereits als Effekt der Rollenzuschreibung. Kurz gesagt: Die Rolle generiert die Fiktion eines Selbst. Während also die Aufführung einer Geschlechterrolle auf der Bühne die Differenzierung zwischen Schauspieler und gespielter Rolle zulässt, ist eine solche Diffe37 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 206 [Gender Trouble, S. 140]. 38 Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Theatre Journal 40 (1988), S. 519-531, hier S. 528 (Hervorhebung im Original). 39 Butler, Judith: »Critically Queer«, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 1 (1993), S. 17-32, hier S. 21 (meine Hervorhebung). 40 J. Butler: Performative Acts, S. 528.
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renzierung im Falle der Geschlechtsidentität (im Sinne von Gender) nicht möglich, da deren beständige Ausübung die Illusion eines dahinterliegenden Wesenskerns allererst hervorbringt. Insofern ist es auch missverständlich, wenn man, wie es oft geschieht, den englischen Terminus ›gender‹ als (soziale oder kulturelle) Geschlechterrolle übersetzt; inzwischen ist das Wort eingedeutscht und kann auch in dieser Form verwendet werden: ›Gender‹. Die Verwendung impliziert, dass man Geschlecht nicht als natürliche Gegebenheit versteht, sondern als kulturelles Geschlecht, das das anatomische Geschlecht (›sex‹) einschließt und nicht im Sinne einer angenommenen ›Rolle‹ von der Person selbst unterschieden werden kann. Butlers Thesen sind in der Sozialwissenschaft auch jenseits der Gender Studies rezipiert worden. So betont Bourdieu in seinem Buch über den männlichen Habitus mit Bezug auf Butler: »Die Geschlechter sind alles andere als bloße ›Rollen‹, die man (in der Art der drag queens) nach Belieben zu spielen vermöchte, denn sie sind in die Körper und ein Universum eingeprägt und beziehen daraus ihre Macht«.41 c) Literaturwissenschaften: Handlungsrolle/Figur Wie Dahrendorf hervorhebt, stammt der Begriff der ›Rolle‹ aus dem Bereich des Theaters.42 Er meint zunächst die Schriftrolle, die den Text des Schauspielers enthält, bezeichnet dann aber auch metonymisch den gespielten Charakter selbst. Zu unterscheiden ist demnach – dies gilt auch für den Spielfilm – zwischen drei Sachverhalten: dem Schauspieler (einer empirischen Person), dem Charakter (einer fiktiven Figur) und den Worten und Handlungen, die das Textbuch vorgibt (der Rolle im engeren Sinne). Wenn Dahrendorf von sozialen Rollen spricht, so meint er die Einheit dieser drei Komponenten, wie ja auch der Zuschauer im Theater oder Kino nur den in der Rolle sprechenden und handelnden Schauspieler zu Gesicht bekommt. Der Schauspieler kann die Bühnenrolle ablegen, wenn er das Theater oder den Filmset verlässt, nicht aber die soziale Rollenerwartung, die die Gesellschaft an ihn richtet. Auch in der Literaturwissenschaft ist von Rollen die Rede, nämlich im Zusammenhang der strukturalistischen Analyse von Erzählungen.43 Wladimir Propp hatte aus zahlreichen russischen Zaubermärchen eine Sequenz von einunddreißig narrativen Einheiten destilliert, die er in acht Handlungskreisen zusammenfasste. Jedem Handlungskreis ist ein Handlungsträger zugeordnet: Held, Gegenspieler, falscher 41 Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 178, Anm. 36. 42 R. Dahrendorf: Homo Sociologicus, S. 22. 43 Vgl. zusammenfassend Grob, Thomas: »Aktant«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 32 f.; aus mediävistischer Perspektive: Warning, Rainer: »Formen der Identitätskonstitution im Höfischen Roman«, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 553-589.
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Held, Schenker, Helfer, Sender, Prinzessin, Vater der Prinzessin. Auf dieser Grundlage entwickelte Algirdas Julien Greimas eine Erzählgrammatik, die zwischen Handlungsträgern (›Aktanten‹), Handlungsrollen (›aktantielle‹ bzw. ›thematische Rollen‹) und handelnden Figuren (›Akteuren‹) unterscheidet. Die ›aktantielle Rolle‹ ist eher syntaktisch-abstrakt, die ›thematische Rolle‹ eher semantisch-konkret gedacht; gemeinsam ergeben sie die handelnde Figur. Wie zwischen Handlungsträger und Handlungsrolle zu unterscheiden ist, so verbietet sich auch die Gleichsetzung von Handlungsträger und handelnder Figur. Denn in einer Figur können mehrere Rollen zusammenfallen, wie sich auch umgekehrt eine Rolle auf mehrere Figuren verteilen kann. Dieser Sachverhalt lässt sich an einer Szene aus dem Nibelungenlied illustrieren. König Gunther muss bei seiner Werbung um Brünhild eine Reihe von Wettspielen bestehen, denn nur wer die isländische Prinzessin im Kampf überwindet, kann sie für sich gewinnen. Brünhild ist in diesem Fall nur eine Figur, vereint aber zwei Handlungsrollen in sich: die Handlungsrolle der Prinzessin, die vom Helden zu erwerben ist, und die Handlungsrolle des Vaters der Prinzessin, der den Helden im Zweikampf am Erwerb seiner Tochter zu hindern sucht. Wie man literaturtheoretisch zwischen Rolle und Figur unterscheiden muss, so auch zwischen Figur und Person. Wer bei der Lektüre des Nibelungenlieds Brünhild begegnet, hat es mit einer fiktiven Figur zu tun, die keine Existenz jenseits des Textes hat, aber von den Rezipient_innen dennoch nach dem Vorbild einer empirischen Person imaginiert wird. Roland Barthes erläutert diesen Sachverhalt im Rahmen einer beispielhaften Analyse von Honoré de Balzacs Erzählung Sarrasine.44 In einem sehr dicht und abstrakt formulierten Abschnitt mit der Überschrift »Person und Figur« führt er aus: »Wenn identische Seme wiederholt denselben Eigennamen durchqueren und sich in ihm festzusetzen scheinen, entsteht eine Person. Die Person ist also ein Produkt der Kombinatorik: die Kombination ist relativ stabil (von der Rückkehr der Seme markiert) und mehr oder weniger komplex (mit Merkmalen, die mehr oder weniger kongruent, mehr oder weniger widersprüchlich sind); diese Komplexität bestimmt die ›Persönlichkeit‹ der Person«.45 Wenn Barthes in diesem Zusammenhang von einer Person spricht, so meint er nicht eine reale, sondern eine virtuelle Person. Er zielt auf den Realitätseffekt, der sich bei der Lektüre einstellt, wenn sich im Laufe des Textes bestimmte Zeichen unter dem Namen einer erzählten Figur versammeln. Barthes illustriert diesen Vorgang mit der Metapher des Magnetfelds: »Der Eigenname funktioniert wie das Magnetfeld der Seme; indem er virtuell auf einen Körper verweist, zieht er die semische Konfiguration in eine evolutive (biographische) Zeit«.46 Über einen Körper verfügt die virtuelle Person nur in dem Maße, wie die Vorstellung eines Körpers vom Text evoziert und von den Le44 Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt am Main 21994, S. 71f. 45 Ebd., S. 71. 46 Ebd., S. 71.
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senden imaginiert wird. Die Figur aber ist der Zeichenkomplex, der dieser Imaginationsleistung vorausliegt: »Ganz anders ist die Figur: keine Kombination von Semen mehr, die auf einen bürgerlichen Namen festgelegt sind, die Biographie, die Psychologie, die Zeit können sich ihrer bemächtigen; eine nicht standesmäßige, unpersönliche, achronische Konfiguration symbolischer Beziehungen«.47 Die Figur, verstanden als zeichenhafte Konfiguration, entbehrt der Biographie und Psychologie, des Namens und Standes, der Zeit und des Raums. Sie ist, wie Barthes auch sagt, eine »symbolische Idealität«.48 Auch auf die Rolle kommt Barthes zu sprechen. Er grenzt Person, Figur und Rolle in folgender Weise voneinander ab: »Als Figur kann die Person zwischen zwei Rollen hin- und heroszillieren, ohne daß diese Oszillation einen Sinn hätte, denn sie findet außerhalb der biographischen Zeit statt (außerhalb der Chronologie): die symbolische Struktur ist vollständig reversibel: man kann sie in allen Richtungen lesen. So können die Frau-als-Kind und der Erzähler-als-Vater, die einen Moment lang in den Hintergrund getreten waren, zurückkehren und die Frau-alsKönigin und den Erzähler-als-Sklaven überdecken«49. Somit geht auch Barthes von der Möglichkeit aus, dass sich in einer Figur mehrere Rollen überlagern oder eine Rolle auf mehrere Figuren verteilt. Im Falle der von Barthes untersuchten Erzählung (Balzacs Erzählung Sarrasine) wechseln die Figuren zwischen verschiedenen Rollen, gehen sie verschiedene Rollenbeziehungen ein. Dass sie dies können, hängt mit der semiotischen Verfasstheit von Rolle und Figur zusammen. Sie sind eine »symbolische Struktur« und als solche »vollständig reversibel« und in alle Richtungen lesbar. Insofern Rolle, Figur und Person in der Vorstellungskraft der Rezipient_innen wieder in eins fallen, sind sie nur verschiedene Aspekte desselben semiotischen Phänomens. Daher kann Barthes formulieren, dass die Person als Figur zwischen zwei Rollen zu wechseln vermag. d) Methodologische Schlussfolgerungen Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Vergleich der gesellschaftswissenschaftlichen, geschlechtertheoretischen und literaturtheoretischen Rollenkonzepte für die Intersektionalitätsforschung ziehen? Betrachtet man Geschlecht, Klasse, ›Rasse‹, Nation, Religion, Sexualität, Alter und Behinderung unter dem Gesichtspunkt der Rolle, so wird noch einmal der Sachverhalt evident, dass es sich nicht um natürliche Gegebenheiten, sondern um kulturelle Konstruktionen handelt. Zugleich wird die performative Dimension der betreffenden Kategorien deutlich, denn sie ist das verbindende Element der erläuterten Rollenkonzepte. Wenn Dahrendorf betont, 47 Ebd., S. 71f. 48 Ebd., S. 72. 49 Ebd., S. 72.
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dass soziale Rollen nicht dem Willen oder der Natur des Individuums entspringen, sondern vielmehr den Erwartungen, die die Gesellschaft an das Aussehen und Verhalten des Individuums richtet, so wird klar, dass es sich um Konstruktionen handelt, die von den Individuen ›aufgeführt‹ werden. Butler geht einen Schritt weiter, wenn sie den Begriff der ›Rolle‹ gänzlich ablehnt, um der Fiktion eines Selbst, das jenseits der Rolle existiere, entgegenzuwirken. Die fiktionale Dimension, auf die Butler hinweist, lässt sich mit der literaturwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen fiktiven Figuren und empirischen Personen in Beziehung setzen, denn auch die Vorstellung, dass sich hinter einer Romanfigur ein ›Selbst‹ befände, ist aus erzähltheoretischer Perspektive naiv. Festzuhalten ist ferner, dass Literatur, Theater und Film entscheidenden Anteil an der Konstruktion der sozialen Rollen (bzw. eines Habitus) haben. Bei den Rollen, die Literatur, Theater und Film anbieten, handelt es sich um Modellierungen sozialer oder kultureller Rollenerwartungen. Zugleich liefern sie oftmals eine kritische Reflexion dieser Erwartungen mit. Insofern bieten Epen, Romane, Dramen und Filme geeignete Ansatzpunkte für die Rekonstruktion der sozialen Rollen einer bestimmten Kultur in einer bestimmten Epoche. Die dramentheoretische Unterscheidung zwischen Rolle, Charakter und Schauspieler einerseits und die erzähltheoretische Unterscheidung zwischen Rolle, Figur und Person andererseits können mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Konzept der sozialen Rolle verknüpft und somit für die Intersektionalitätsforschung methodisch nutzbar gemacht werden. Die Unterscheidung zwischen Person und Figur könnte geeignet sein, um den subjektphilosophischen Sachverhalt zu markieren, dass das Subjekt von den sozialen und kulturellen Vorbildern, mit denen es konfrontiert wird, allererst hervorgebracht wird.50 Die erzähltheoretische Erkenntnis, dass eine Figur mehrere Handlungsrollen in sich vereinen kann, kommt der Vorstellung der Intersektionalitätsforschung entgegen, dass sich das Individuum als Schnittpunkt oder Bündel verschiedener Kategorien konstituiert und dass sich dieser Konstitutionsprozess performativ vollzieht.
3. Z WEITE E RWEITERUNG : I NTERSEKTIONALITÄTSFORSCHUNG L ITERATURGESCHICHTE
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Dahrendorf bezieht in seine Überlegungen eine historische Perspektive ein, wenn er feststellt, dass »auch soziale Rollen ständigem Wandel« unterliegen.51 Degele und
50 Vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001. 51 R. Dahrendorf: Homo Sociologicus, S. 40.
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Winker geben hierfür ein Beispiel, wenn sie im Zuge ihrer Überlegungen über den Status des Körpers feststellen, dass die Naturalisierung der Klassenzugehörigkeit »schon längst nicht mehr der Fall sei«.52 In der Tat bedarf es einer Historisierung der intersektionellen Kategorien. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen die Historisierung der einzelnen Kategorien, zum anderen die Historisierung des Zusammenspiels der Kategorien. Ansatzpunkte für den Entwurf einer historischen Intersektionalitätsforschung bieten historiographische Studien wie Jeffrey Richards Buch über Minority Groups in the Middle Ages (1991) und der kürzlich erschienene Sammelband Intersections of Gender, Religion and Ethnicity in the Middle Ages (2011) von Cordelia Beattie und Kirsten A. Fenton. Während Richards nach sechs mittelalterlichen Minoritäten (Ketzer, Hexen, Juden, Prostituierte, Homosexuelle, Aussätzige) fragt, fokussieren Beattie und Fenton drei intersektionelle Kategorien, nämlich Geschlecht, Religion und Ethnizität. Richards arbeitet heraus, dass die Diskurse über die mittelalterlichen Minderheiten so flexibel waren, dass eine Minderheit durch die andere substituiert werden konnte. So waren nicht nur die Prostituierten und Homosexuellen auf die Sexualität bezogen, sondern auch die Hexen und Ketzer, denen sexuelle Rituale unterstellt wurden, oder auch die Aussätzigen, deren Krankheit als Strafe für sexuelle Vergehen gedeutet werden konnte. Diesen Sachverhalt könnte man auch als intersektionelle Diskriminierung beschreiben. Beattie und Fenton betonen die Andersartigkeit des Mittelalters gegenüber der Neuzeit: »For the modern period, the core focus has often been ›race‹, class, and gender. However, taking the approach into a medieval realm helps to shed a different light because these categories are not as apparently self-evident (socially or analytically) in the pre-modern world«.53 Auch die mediävistische Literaturwissenschaft bietet geeignete Ansatzpunkte für die historische Intersektionalitätsforschung, weil sich anhand literarischer Texte aus verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen die Genealogie, Mutabilität und Konvertibilität der Kategorien rekonstruieren lässt.54 a) Intersektionelle Kategorien in mediävistischer Sicht Die Alterität des Mittelalters bietet einen guten Ansatzpunkt, um die intersektionellen Kategorien zu historisieren. Aus mediävistischer Sicht stellen sich Klasse, ›Rasse‹, Geschlecht, Sexualität, Religion, Nation, Alter und Behinderung anders dar als heute. Diese Differenz lässt sich am Beispiel des Nibelungenlieds und seiner modernen Bearbeitungen illustrieren. In den 1920er Jahren kommen Wissensbestände 52 G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 39. 53 C. Beattie/K.A. Fenton: Intersections, S. 2. 54 Vgl. Richards, Jeffrey: Sex, Dissidence and Damnation: Minority Groups in the Middle Ages, London/New York 1994.
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ins Spiel, die im Mittelalter noch keine Relevanz hatten. Für die Kategorie des Geschlechts ist das Bild der ›neuen Frau‹ zu nennen, die sich auch sportlich betätigt (Brunhild als Athletin); für die Kategorie der ›Rasse‹ ist an die modernen Rassenlehren zu denken, die einen Unterschied zwischen zivilisatorisch überlegenen und unterlegenen Völkern machen (Etzel als ›asiatischer‹ Herrscher); für die Kategorie der Nation sind die nationalistischen Mythologien der deutschen Politik anzuführen, die sich auf germanische Traditionen beruft (Siegfried im Nibelungenland als ›germanischer‹ Held). Im Folgenden sei in aller Kürze ein Überblick über die intersektionellen Kategorien aus mediävistischer Sicht versucht, der sich auf die ritterlichhöfische Gesellschaft und Dichtung des Hochmittelalters beschränkt. Diese Herangehensweise, die von den modernen Gegebenheiten ausgeht und ihnen die mittelalterlichen Konzepte zuordnet, ist nur eine Möglichkeit der Historisierung der intersektionellen Kategorien. Man könnte auch von den mittelalterlichen Kategorien ausgehen, und ihnen die modernen Pendants zuordnen. Dieser zweite Weg würde mindestens teilweise zu anderen Resultaten führen. (1) Klasse: Für das Mittelalter sollte man eher von Stand als von Klasse sprechen.55 Die idealtypische Ständeordnung des Mittelalters umfasst Adel, Klerus und Bauern. Die gesellschaftliche Hierarchie – Niklas Luhmann spricht von der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft des Mittelalters im Unterschied zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne56 – wird als Ausdruck der göttlichen Schöpfungsordnung und somit als Gegebenheit aufgefasst, die der Mensch nicht verändern darf. Der mittelhochdeutsche Terminus für Stand lautet leben und meint die gottgegebene Lebensform. Während der Klerus und seit dem Hochmittelalter auch die Rittergesellschaft jeweils eine eigene Literatur hervorgebracht haben, in denen sie ihre Selbstbilder modellieren, ist dies bei den Bauern, die des Lesens und Schreibens unkundig waren, nicht der Fall. Aussagen über Bauern, die in der höfischen Dichtung getroffen werden, sind ideologisch geprägt und stehen zur sozialen Realität der Bauern nur in einem sehr entfernten Verhältnis. Die höfischen Dichtungen des Hochmittelalters, insbesondere der höfische Roman und der Minnesang, zeichnen das Bild einer höfischen Gesellschaft, die eine spezifische Körperlichkeit für sich beansprucht. Der Adel nimmt für sich in Anspruch, über ein charismatisches Heil (mhd. saelde) zu verfügen, das sich in den strahlenden Körpern der Ritter und Damen manifestiert. Adel präsentiert sich als Epiphanie. Der Wohlgestalt und Leuchtkraft des adeligen Körpers entspricht der äußere Habitus, der sich durch farbig glänzende Kleidung und eine kultivierte Form des Sprechens, Essens, Gehens auszeichnet. Dieser Habitus macht den Adel als solchen sichtbar und markiert 55 Vgl. Oexle, Otto Gerhard u.a.: »Stand, Klasse«, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6 (1990), S. 155–284. 56 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 81998, Bd. 2, S. 678-707.
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die privilegierte Stellung, die der Adel für sich reklamiert. Ferner schreibt sich der Adel eine besondere Form der Liebe (minne) zu, eine veredelte und veredelnde Form des Begehrens, das sich nur auf adelige Körper richten kann.57 Das ausgeprägte Inklusionsbedürfnis der hochmittelalterlichen Adelsgesellschaft, das in der höfischen Dichtung zum Ausdruck kommt, wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung auch als ›Aristophilie‹ bezeichnet.58 Gemeint ist die narzisstische Disposition eines gesellschaftlichen Standes, der vor allem sich selbst begehrt. Im Nibelungenlied gehören nicht nur die Niederländer und Burgunden, sondern auch die Höfe um Brunhild und um Etzel der höfischen Adelsgesellschaft an. Selbst die Nibelungen, deren Welt von Zwergen und Drachen bevölkert ist, werden von Königen beherrscht, die Siegfried bei Erbstreitigkeiten übervorteilt. Die Burgunden werden als differenzierte Hofgesellschaft dargestellt, die aus einem inneren (Familie) und einem äußeren (Hofämter) Kreis besteht. Die Thronfolge verläuft über die männliche Linie, die Königswürde geht vom verstorbenen Vater Dankrat auf den erstgeborenen Sohn Gunther und seine Brüder über. Das Nibelungenlied präsentiert zwei Formen der Herrschaftsfähigkeit: traditionale Herrschaft einerseits als realisiertes Prinzip (Gunther), charismatische Herrschaft andererseits als optionales, aber nicht realisiertes Prinzip (Siegfried). (2) Geschlecht: Mit der Kategorie des Geschlechts befassen sich die Gender Studies, die in der germanistischen Mediävistik fest etabliert sind.59 Das mittelhochdeutsche Wort gesleht bezeichnet nicht Gender, sondern Stamm und Familie. Die Alterität der mittelalterlichen Vorstellungen von Geschlecht im engeren Sinne ist in der kritischen Debatte um Thomas Laqueurs Buch Making Sex diskutiert worden.60 Laqueur zeigt, dass im Unterschied zur modernen Vorstellung der absoluten Geschlechterdifferenz (two-sex model) die vormoderne Medizin von der Vorstellung der relativen Geschlechterdifferenz (one-sex model) ausging. Gemeint ist, dass Mann und Frau nach vormodernem Verständnis im Prinzip über dieselben Geschlechtsorgane verfügen, die im Falle der Frau eingestülpt und im Falle des Mannes ausgestülpt seien. Michel de Montaigne erzählt noch im 16. Jahrhundert die Geschichte eines Mädchens, das beim Sprung über einen Zaun zum Jungen geworden 57 Zur Geschichte der Liebe vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimitität, Frankfurt am Main 1982. 58 Vgl. Schultz, James: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality, Chicago/London 2006, S. 79. 59 Vgl. Klinger, Judith: »Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur«, in: Claudia Benthien/ Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002, S. 267-297. 60 Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York 1992; vgl. auch Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Ages: Medicine, Science, and Culture, Cambridge 1993.
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sei, weil die Erhitzung des Körpers zur Ausstülpung der Geschlechtsorgane geführt habe.61 Auch wenn diese Vorstellung nicht dem heutigen naturwissenschaftlichen Wissen entspricht, ist sie doch für das mittelalterliche Denken und Wissen über das Verhältnis von Mann und Frau signifikant. In der höfischen Dichtung des Hochmittelalters spiegelt sich das Konzept der relativen Geschlechterdifferenz in der Weise, dass die anatomischen Differenzen zwischen den Geschlechtern selten thematisiert werden, die Schönheit der Kleidung aber eine große Rolle spielt. Die Gewänder der Ritter und Damen unterscheiden sich nur graduell, vor allem in der Länge der Kleider, die im Falle der Frauen bis zum Boden, im Falle der Ritter bis zu den Knien reichen. Das männliche Bein nimmt den Rang eines sekundären Geschlechtsmerkmals ein, es wird oftmals mithilfe von geschlitzten Kleidern exponiert.62 In den Anfängen der höfischen Dichtung steht das Begehren nach dem eigenen Stand tendenziell über dem Begehren nach dem anderen Geschlecht. Für die Adelsgesellschaft ist die externe Abgrenzung von den anderen Ständen zunächst wichtiger als die interne Abgrenzung gemäß den Geschlechtern. Erst im Spätmittelalter tritt das Begehren nach Geschlechterdifferenz in den Vordergrund, was sich auch in der zunehmenden Trennung der männlichen und weiblichen Mode zeigt. Ein zentrales Thema der höfischen Dichtung um 1200 ist die Konkurrenz zwischen homosozialen und heterosozialen Geschlechterbeziehungen. Während in der traditionellen Welt der Heldenepen das Prinzip der Waffenbrüderschaft zwischen Kriegern dominiert und Frauen kaum in den Blick kommen, erzählen die höfischen Romane von Rittern, die ihr Begehren auf eine Dame ausrichten und ihre Männlichkeit in der Liebe erweisen. Auch der höfische Ritter bewährt sich noch im Kampf, doch führt er ihn um einer Dame willen, deren Schönheit ihn zum Sieg führen soll. Im Nibelungenlied mischt sich die männlich-homosoziale Orientierung der Heldenepik mit der heterosozialen Orientierung des höfischen Romans. Kriemhild und Brünhild überschreiten die Geschlechtergrenzen, indem sie martialische Züge aufweisen, die in der Welt der Heldenepik sonst männlichen Helden vorbehalten sind. Während Brünhild ihre Stärke einbüßt, gewinnt Kriemhild sie erst im zweiten Teil des Nibelungenlieds hinzu. Ein Gegenbild zur ›männlichen Frau‹ ist der effeminierte Mann, der im Nibelungenlied in Form des hunnischen Stutzers einen Auftritt hat (NL 1885 f.).63 (3) ›Rasse‹: Die Kategorie der ›Rasse‹ ist im Mittelalter noch nicht bekannt. Das deutsche Wort wurde erst im 17. Jahrhundert aus dem französischen Wort race 61 Vgl. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, S. 66-91 (»Dichtung und Reibung«). 62 Vgl. Kraß, Andreas: »Das Geschlecht der Mode. Zur Kulturgeschichte des geschlitzten Kleides«, in: Gertrud Lienert (Hg.), Die Kunst der Mode, Oldenburg 2005, S. 26-51. 63 Vgl, Kraß, Andreas: »Der effeminierte Mann. Eine diskursgeschichtliche Skizze«, in: Ralph J. Poole (Hg.), Hard Bodies, Münster 2009, S. 35-52, hier S. 42f.
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entlehnt, von dem auch das englische Wort race abstammt. Das französische Wort geht wiederum auf das italienische Wort razza zurück, dessen weitere Herkunft unklar ist. Wenn das Wort ›Rasse‹ fehlt, so fehlt auch die Vorstellung einer naturwissenschaftlich begründeten Abgrenzung verschiedener Gattungen von Menschen. Gleichwohl gibt es im Mittelalter Vorstellungen, die man aus heutiger Perspektive als protorassistisch oder ›rassisierend‹ bezeichnen kann. In der höfischen Dichtung besteht die Tendenz, alle Figuren, die außerhalb der höfischen Welt angesiedelt sind, als physisch markierte Wesen darzustellen. Der Artusritter Iwein begegnet im Wald einem ›wilden Mann‹, der sich durch eine monströse Anatomie auszeichnet. Später mutiert Iwein selbst zu einem vergleichbaren Wesen, wenn er dem Wahnsinn verfällt, auf eine primitive Daseinsstufe zurückfällt und seine Hautfarbe schwarz wird. In diesem Zustand wird der vormals höfische Artusritter als môr (›Mohr‹) bezeichnet. Umgekehrt wechselt im Heldenepos Kudrun der schwarze Siegfried von Mohrland bei seiner Hochzeit mit einer Christin die Haut- und Haarfarbe zu Weiß und Gold. Als rassisierend kann man die dämonische Darstellung der Heiden, also der Nichtchristen werten, die oft als teuflische Wesen mit monströsen Körpern dargestellt werden. Die Haut der höfischen Menschen hingegen wird als strahlend weiß imaginiert; wenn die Liebe ins Spiel kommt, mischt sich die Farbe Rot hinzu. In der berühmten Blutstropfenszene im Parzival wird die männliche Hauptfigur von drei Blutstropfen im Schnee an seine Geliebte erinnert. Das Weiß des Schnees steht für den Teint der höfischen Dame, das Rot des Bluts für ihre Lippen und Wangen. Den Critical Whiteness Studies bietet die Mediävistik ein reiches Forschungsfeld.64 Für das Nibelungenlied ist festzuhalten, dass die Herrscherinnen und Herrscher fremder Völker noch nicht mit ›rassischen‹ Attributen versehen werden. Die isländische Königin Brünhild und der hunnische König Etzel stammen zwar aus Sicht des burgundischen Königshauses aus fremden Ländern, sie gehören aber dennoch der höfischen Welt an. Die Vorstellung, dass Brünhild eine wilde Amazone sei und Etzel einem primitiven Volk vorstehe, findet sich erst in den neuzeitlichen Bearbeitungen des Nibelungenlieds. (4) Sexualität: Der Kategorie der Sexualität widmen sich die Queer Studies, die inzwischen ebenfalls einen Platz in der germanistischen Mediävistik gefunden haben.65 Die historische Veränderlichkeit dieser Kategorie ist besonders deutlich zu greifen.66 Im Mittelhochdeutschen werden Verben wie bî ligen (›mit jdm. schlafen‹) 64 Vgl. Bonnett, Alastair: White Identities: Historical and International Perspectives, Harlow 2000. 65 Vgl. Kraß, Andreas: »Queer Studies«, in: Christiane Ackermann/Michael Egerding (Hg.), Literatur- und Kulturtheorie in der Germanistischen Mediävistik, Berlin 2014 (im Druck). 66 Vgl. Kraß, Andreas: »Kritische Heteronormativitätsforschung. Der queer turn in der germanistischen Mediävistik«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), S. 95106.
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benutzt, um den Geschlechtsakt auszudrücken. Der Begriff der Sexualität wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt; er ist an die Neuzeit gebunden und kann daher nicht ohne weiteres auf die vormoderne Epochen übertragen werden.67 Sexualität ist ein neuzeitliches Dispositiv, das mit einem bestimmten anthropologischen Entwurf einhergeht. Michel Foucault legt dies am Beispiel der Homosexualität dar. Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde ein Mensch, der eine Person des gleichen Geschlechts begehrte, als ›Homosexueller‹ bezeichnet; zuvor galt er als ›Sodomit‹. Homosexualität ist ein pathologischer, Sodomie ein moraltheologischer Begriff.68 Während Sodomie als sündhaftes Handeln, als zu bestrafendes Fehlverhalten nach dem Vorbild der Bewohner des biblischen Sodom galt, wird Homosexualität als übergreifendes Persönlichkeitsmerkmal definiert, das es medizinisch zu beschreiben gilt. Dem homosexuellen Mann und der homosexuellen Frau wird ein bestimmter Habitus unterstellt, die gleichgeschlechtliche Orientierung als Symptom einer spezifischen Disposition begriffen. Die vormoderne Vorstellung der Sodomie ist auf ein Tun bezogen, die moderne Vorstellung der Homosexualität auf ein Sein. Die Alterität zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Konzeption von Sexualität hat James A. Schultz in seinem Buch Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality eingehend untersucht. Sie wird auch am Beispiel effeminierter Männlichkeit deutlich, die heutzutage als homosexuell, in der Vormoderne aber im Gegenteil als heterosexuell verstanden und in der höfischen Dichtung oftmals sogar als begrüßenswerte Eigenschaft des Ritters propagiert wurde.69 Im Nibelungenlied wird anhand der in je verschiedener Weise scheiternden Ehepaare Kriemhild/Siegfried, Brunhild/Gunther und Kriemhild/Etzel heterosexuelles Begehren zugleich propagiert und problematisiert. Homosexualität wird – im Unterschied zu anderen höfischen Epen wie dem Eneasroman – nicht thematisiert, kommt aber andeutungsweise in der bereits angesprochenen Figur des hunnischen Stutzers zur Geltung. (5) Nation: Auch die Kategorie der Nation ist in der höfischen Dichtung des Mittelalters noch kaum relevant. Nach mittelalterlicher Vorstellung verwies die natio auf eine kollektive Zugehörigkeit, die sich an den Kriterien der Abkunft (genus), Bräuche (mores), Sprache (lingua) und Gesetzgebung (leges) orientierte.70 In einer Zeit, die Herrschaft eher auf dem Prinzip des Personenverbands als auf dem Prinzip des Territoriums gründet, sind Verwandtschafts- und Lehensbeziehungen relevanter 67 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1), Frankfurt am Main 1987. 68 Vgl. Thoma, Lev M./Limbeck, Sven (Hg.): Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Ostfildern 2009. 69 Vgl. A. Kraß: Der effeminierte Mann. 70 Bartlett, Robert: The Making of Europe, Conquest, Colonization and Cultural Change, 950-1350, Princeton 1993, hier S. 197.
E INFÜHRUNG
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als die Zugehörigkeit zu einem raum- und bevölkerungsbezogen gedachten Staat.71 Die Gattungen der höfischen Dichtung unterscheiden sich auch hinsichtlich der Völker und Herrschaftsbereiche, von denen sie erzählen. Die Artusromane spielen in imaginären Räumen und Ländern, die sich nicht auf die historischen Geographien des hohen Mittelalters beziehen lassen. Die Antikenromane sind ihrer stoffgeschichtlichen Herkunft entsprechend in der antiken Geographie angesiedelt, die aufgrund ihrer zeitlichen Entfernung schon mehr oder weniger mythologisch geworden ist. Viele Brautwerbungsepen (›Spielmannsepen‹) inszenieren einen tendenziell kolonialistischen Gegensatz zwischen Orient und Okzident, wobei der Osten vielfach als begehrenswerte Wunderwelt dargestellt wird. Im heldenepischen Nibelungenlied sind die Herrschaftsbereiche an reale Orte wie Worms und Xanten geknüpft; es schildert Kämpfe der Burgunden gegen die Völker der Dänen, Sachsen und Hunnen. Zugleich erzählt das Nibelungenlied von märchenhaften Räumen und Völkern wie dem Land der Nibelungen mit seinen Drachen und Zwergen. Relevanter für die mittelalterlichen Verhältnisse ist die Zuordnung zum gesellschaftlichen Stand, denn die höfische Gesellschaft und höfische Kultur zeitigten eine integrative Wirkung über Landesgrenzen und Herrschaftsbereiche hinaus. (6) Religion: Die Kategorie der Religion ist in der höfischen Dichtung des Hochmittelalters in vollem Maße etabliert. Der mittelhochdeutsche Begriff lautet gelouben (›Glauben‹). Wenngleich sich die weltliche Adelsgesellschaft in mancher Hinsicht von der geistlich-klerikalen Kultur distanziert, ist sie doch ganz dem christlichen Weltbild des Mittelalters verhaftet. Die höfische Dichtung nimmt zahlreiche Anleihen an die geistliche Literatur. In solchen Dichtungen, die religiöse Differenzen thematisieren, ist vielfach formelhaft von »Christen, Juden und Heiden« die Rede, um die drei Hauptreligionen zu bezeichnen; mit den Heiden sind die Muslime gemeint. Oftmals wird die ›heidnische‹ Welt dämonisiert und mit teuflischen Zügen ausstatten. In solchen Fällen eignet den religiösen Vorstellungen eine rassisierende Tendenz. Diese eignet heldenepischen Erzählungen wie dem Rolandslied, höfischen Romanen wie dem Wigalois Wirnts von Grafenberg und Legendenerzählungen wie dem Heiligen Georg Reinbots von Durne. Dem Willehalm Wolframs von Eschenbach attestiert die Forschung hingegen einen religiösen Toleranzgedanken. Religiöse Differenz ist auch Thema der Kreuzzugsdichtung, in den Kreuzliedern des Minnesangs wird der ritterliche Konflikt zwischen Frauen- und Gottesdienst thematisiert. Im Nibelungenlied gehören Bischöfe, Priester und Kapläne zur erzählten Welt, wenn auch eher am Rande. Kriemhild stellt ihre Verbindung mit Etzel unter die Bedingung, dass dieser zum Christentum konvertiert und sich taufen lässt.
71 Geary, Patrick J.: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002.
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(7) Dis/Ability: Das Wort ›Krüppel‹ ist bereits im Mittelalter geläufig, wird in der höfischen Dichtung aber selten gebraucht.72 Das Motiv des Aussatzes kommt in mehreren höfischen Texten vor, besonders prominent in einer Novelle Hartmanns von Aue (Der arme Heinrich) und einem Roman Konrads von Würzburg (Engelhard). In beiden Fällen gewinnen die Aussätzigen durch eigene Opferbereitschaft oder die eines anderen ihre Gesundheit zurück. In historischer Perspektive erweist sich Behinderung als kulturelle Konstruktion.73 Im Sinne einer diskursiven Vorgeschichte der Behinderung lohnt ein Blick auf literarische Figuren der höfischen Epik, denen abweichende Körpergröße (Zwerge, Riesen) oder eine monströse, oftmals tierähnliche Körpergestalt eignet. Diese Figuren zeichnen sich gerade nicht durch einen Mangel an Handlungsfähigkeit aus, sondern erscheinen als besonders stark und mächtig. Ein Beispiel ist der höfische Ritter Guivreiz, mit dem es Erec im gleichnamigen Artusroman Hartmanns von Aue zu tun bekommt. Guivreiz ist ein überaus starker Zwerg (getwerc), der mit dem Artusritter Freundschaft schließt. Im Nibelungenlied bewacht der kampftüchtige Zwerg Alberich den Nibelungenhort. Als eine Form der Behinderung kann auch Siegfrieds verwundbare Stelle gewertet werden, deren Kenntnis Hagen nutzt, um den sonst so exorbitanten Helden mit einem Lanzenstich zu töten. (8) Alter: Da zum Ideal der höfischen Kultur die Jugend gehört, wird die Kategorie des Alters eher selten thematisiert. In der höfischen Dichtung des Mittelalters wird Alter vielfach mit Weisheit, Würde und Autorität assoziiert, sofern die betreffenden Figuren Teil der höfischen Gesellschaft sind. Im Minnesang begegnen sogenannte Alterslieder, in denen der Sänger in der Rolle des alternden Mannes über die Vergänglichkeit des Lebens nachsinnt.74 Als Gegenbild figurieren unwürdige Alte, die ihr Begehren nicht zu zügeln wissen, so beispielsweise in Neidharts Winterliedern oder in den humoresken Novellen des Spätmittelalters (Mären). Sie werden eher der bäuerlichen Welt zugeordnet. Im Nibelungenlied wird der Königsmutter Ute Respekt gezollt, doch kommt ihr jenseits der Fürsorge für ihre Tochter Kriemhild kein Handlungsspielraum zu; politisch gesehen bleibt sie eine irrelevante Figur.
72 Zum Thema Behinderung im Mittelalter vgl. Nolte, Cordula (Hg.): Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Affalterbach 2009. 73 Vgl. Bösel, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010. 74 Von Bloh, Ute: »Zum Altersthema in Minneliedern des 12. und 13. Jahrhunderts: Der ›Einbruch‹ der Realität«, in: Thomas Bein (Hg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt am Main 2002, S. 117-144.
E INFÜHRUNG
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b) Nibelungenlied, Nibelungenbuch, Nibelungenfilm Für diesen Band wurde als Fallbeispiel das mittelalterliche Nibelungenlied ausgewählt. Im Vergleich mit den modernen Bearbeitungen, die in den 1920er Jahren entstanden – dem Nibelungenbuch Thea von Harbous (1923) und Fritz Langs zweiteiligem Stummfilm Die Nibelungen (1924), lässt sich die historische Veränderlichkeit der intersektionellen Kategorien und ihres Zusammenspiels nachzeichnen. Diese Mutabilität lässt sich vielfach auf den epistemologischen Paradigmenwechsel von der Vormoderne zur Moderne beziehen. Das Wissen über Klasse, Geschlecht, Rasse, Sexualität, Nation, Religion, Alter und Behinderung ist in der Neuzeit ein anderes als im Mittelalter, das viele dieser Wissenskategorien nicht oder in anderer Form kennt. Besonders deutlich ist dies bei der Kategorie der ›Rasse‹ zu sehen, die im mittelalterlichen Nibelungenlied noch kaum eine Rolle spielt, jedoch im Nibelungenbuch sowie im Nibelungenfilm, die auf die neuzeitliche Rassenlehre rekurrieren, in den Vordergrund tritt. Das Nibelungenlied entstand Anfang des 13. Jahrhunderts vermutlich im Auftrag des Bischofs von Passau.75 Wolfger von Erla, der dieses Amt von 1191 bis 1204 ausübte, hatte, wie aus einem überlieferten Dokument hervorgeht, am 12. November 1203 Walther von der Vogelweide Geld für einen Pelzrock geschenkt. Dieser Hinweis zeigt, dass sich der vermutliche Mäzen des Nibelungenlieds auch sonst für die höfische Dichtung des Hochmittelalters einsetzte. Er tat dies als geistlicher Würdenträger, was auf die Durchlässigkeit zwischen weltlichem und geistlichem Adel verweist. Das Nibelungenlied ist eine in heldenepischen Strophen verfasste, aber höfisch überformte Dichtung.76 Die mündlichen Sagen, auf denen es beruht, reichen in die Völkerwanderungszeit zurück, doch trägt die literarische Bearbeitung ein höfisches Gewand. Zu der Zeit, als das Nibelungenlied verfasst wurde, gab es bereits einen Kanon höfischer Romane und höfischer Lyrik, auf die sich der Verfasser beziehen konnte. Intertextuelle Parallelen zeigen, dass Kriemhilds feierlicher Auftritt am Hof von Worms ein Vorbild im Erec Hartmanns von Aue hat. Dort wird in sehr ähnlicher Weise geschildert, wie Enite erstmals dem Kreis der Artusritter vorgestellt wird. Auch das Motiv der Fernliebe, die Siegfried nach Worms zu Kriemhild führt, hat ein Vorbild in der höfischen Dichtung, nämlich in der Tradition des Minnesangs. Im Unterschied zu den Artusromanen schildert das Nibelungenlied eine scheiternde Welt. In Vorausdeutungen wird stets betont, dass die ritterliche Gesellschaft ein katastrophales Ende nimmt. Es mag im Interesse des geistlichen Fürsten, der das Werk in Auftrag gab, gewesen sein, den weltlichen Op75 Einführende Literatur: Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied, Berlin 22008; Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997. 76 Zitierte Ausgabe: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011.
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timismus, den die Artusromane verkünden, mit einer fatalistischen Erzählung zu konterkarieren, die aus einer einheimischen Tradition stammt. Das ›deutsche‹ Nibelungenlied wäre somit als dekonstruktiver Gegenentwurf zu den Artusromanen französischer Provenienz lesbar. Das Nibelungenlied wurde nach seiner Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert als »deutsche Ilias« gefeiert. Diese Bezeichnung verweist auf den Wunsch, den Epen Homers ein deutsches Gegenstück zur Seite zu stellen. Dass das Nibelungenlied aus einer vornationalen Epoche stammt, hinderte das moderne Publikum nicht daran, es in den Rang eines nationalen Klassikers zu erheben. Ein sehr markantes Beispiel für die nationalistische Rezeption des Nibelungenlieds ist das Nibelungenbuch, das Thea von Harbou im Jahr 1923 im Zusammenhang mit dem Nibelungenfilm veröffentlichte.77 Es lässt bei der Gestaltung des mittelalterlichen Stoffs das Wissen des frühen 20. Jahrhunderts einfließen und transformiert die erzählte Welt des Nibelungenlieds in einen spezifisch neuzeitlichen Mythos. Wie das Nibelungenlied die Wissensbestände der weltlichen und geistlichen Adelsgesellschaft des Hochmittelalters reflektiert, so formt das Nibelungenbuch die Geschichte in einer Weise um, die sie für die Selbstdeutung einer Gesellschaft, die sich durch so unterschiedliche Merkmale wie Industrialisierung, Evolutionslehre, Psychoanalyse, Kriegserfahrung, Kinematographie und Feminismus auszeichnet, nutzbar macht. Thea von Harbou war zugleich Autorin des Drehbuchs, das dem von ihrem Ehemann Fritz Lang geschaffenen Nibelungenfilm zugrunde lag. Das Nibelungenbuch trägt die direkt an die Leserschaft adressierte Widmung »Dir und Deutschland«. Der 268 Seiten umfassende Roman war mit 24 Bildbeilagen aus dem Film versehen.78 Er ist eine freie Nacherzählung des Nibelungenlieds, die die Geschichte zwar im Mittelalter belässt, aber in einer Weise darstellt, die ganz auf die Epoche der Weimarer Republik zugeschnitten ist. Besonders erwähnenswert ist, dass Thea von Harbou die chronologische Erzählweise der mittelalterlichen Vorlage aufgegeben hat und den gesamten ersten Teil als Figurenbericht Kriemhilds präsentiert. Auf diese Weise wird Kriemhild stärker noch als im mittelalterlichen deutschen Epos in den Vordergrund gerückt und zur Protagonistin des gesamten Romans gemacht. Der Film Die Nibelungen von Fritz Lang umfasst zwei Teile, die die Titel Siegfried und Kriemhilds Rache tragen. Während das mittelalterliche Nibelungenlied aus 39 Kapiteln (»Aventiuren«) besteht, umfassen die beiden Teile des Nibelungen77 Keiner, Reinhold: Thea von Harbou und der deutsche Film bis 1933, Hildesheim 1984; Karin Bruns: »Talking Film. Writing Skills and Film Aesthetics in the Work of Thea von Harbou«, in: Christiane Schönfeld/Carmel Finnan (Hg.), Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic, Würzburg 2006, S. 139-152. 78 Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem Cecla-Ufa-Film »Die Nibelungen« von Fritz Lang, München 1923. – Thea von Harbou verfasste insgesamt etwa dreißig Filmdrehbücher und zwei Dutzend Romane.
E INFÜHRUNG
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films jeweils sieben Gesänge. Die Symmetrie der beiden Teile und die Bezeichnung der Abschnitte als ›Gesänge‹ sind als Anlehnung an die antiken Epen Homers und Vergils zu verstehen. Auch der Film ist der deutschen Nation gewidmet, richtet sich aber nicht, wie das Nibelungenbuch, an den Einzelnen (»Dir und Deutschland«), sondern an das Kollektiv: »Dem deutschen Volk zu Eigen«. Der nationalistische Zungenschlag kehrt in den eingeblendeten Schrifttafeln wieder, so im letzten Gesang des zweiten Teils: »Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel«. Der erste Teil des Stummfilms wurde am 14. Februar 1924, der zweite Teil am 26. April 1924 in Berlin uraufgeführt. Unter dem Titel Siegfrieds Tod wurde im Mai 1933 eine gekürzte Tonfassung des ersten Teils gezeigt. Das deutsche Fernsehen strahlte den Film erst 1968 (Teil 2) und 1971 (Teil 1) aus. In den 1980er Jahre entstand im Filmmuseum München eine restaurierte Fassung beider Teile. Die zweite Restaurierung wurde 2010 von der Friedrich-Murnau-Stiftung besorgt. Diese Neufassung wurde am 27. April 2010 in der Deutschen Oper Berlin mit großer Orchesterbegleitung uraufgeführt. Die DVD-Veröffentlichung der restaurierten und vervollständigten Fassung, die erstmals am 3. Oktober 2011 im Fernsehen (Arte) gezeigt wurde, folgte 2012.79 Fritz Lang hebt in seiner Verfilmung die Fokussierung auf Kriemhild, die für das Nibelungenbuch kennzeichnend ist, wieder auf. Der erste Teil beginnt mit der Jugendgeschichte Siegfrieds, im Gegenschnitt wird die burgundische Königsfamilie vorgestellt. Während die Nibelungen Siegfried von Kriemhild berichten, singt Volker von Alzey vor Kriemhild von Siegfried. Der Film lehnt sich eng an die mittelalterliche Vorlage an, nimmt aber, wie das Nibelungenbuch, zeitgenössische Ideen und Diskurse auf. Die rassisierende Charakterisierung der Nibelungen und Hunnen, die Feier der Nacktkultur bei Siegfrieds Bad im Drachenblut, die Germanisierung des damals populären Tarzan im fellschurzbekleideten Siegfried sowie die Einfügung expressionistischer Filmsequenzen mit psychoanalytischem Einschlag sind nur einige Beispiele dafür. Auch brilliert der Film mit moderner Tricktechnik, wenn er einen künstlichen Drachen animiert, den unsichtbaren Siegfried einblendet, Gunther in zweifacher Ausführung (als er selbst und als verwandelter Siegfried) zeigt und die Zerteilung einer schwebenden Gänsedaune mit einem Schwert vorführt. Der Film will modern sein und löst diesen Anspruch mühelos ein. Hinzukommt die Dimension der medialen Selbstreflexion. Die unterirdische Welt des Nibelungen Alberich verwandelt sich vorübergehend in einen Kinosaal.80 Als 79 Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried, Teil 2: Kriemhilds Rache, Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek). 80 Vgl. Schaefer-Rolffs, Jos: »›King Kong und die weiße Frau‹. Konstitution eines zivilisierten Selbst«, in: Katharina Knüttel/Martin Seeliger (Hg.), Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentation, Bielefeld 2011, S. 215-231, hier S. 217.
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der Zwergenkönig ein Licht auf eine glatte Felsfläche richtet, wird darauf eine Projektion sichtbar, die Siegfried erstaunt betrachtet und somit die Situation der Zuschauer im Kinosaal spiegelt. Als das Lichtspiel beendet ist, betastet Siegfried verwundert die leere Fläche. Technik und Magie werden auf diese Weise ineinander geblendet. Besonders ergiebig ist der Nibelungenfilm hinsichtlich der Dimension des Raums, die auch für die Intersektionalitätsforschung von zentraler Bedeutung ist. Fritz Lang äußerte sich in der Programmbroschüre zur Aufführung des Films zur Frage: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«. Er erläutert, dass er mit seinen Bühnen- und Kostümbildern vier divergente Welten konzipierte, nämlich den Wormser Hof, das Nibelungenland, Isenland und das Hunnenreich: »Hauptaufgabe mußte meiner Empfindung nach sein, in den Nibelungen vier vollkommen in sich abgeschlossene, einander fast feindliche Welten, streng zu unterscheiden und jede in sich selbst zu einem Gipfel zu führen: Die Welt von Worms, das hieß die Welt einer schon überfeinerten Kultur, in der jede Geste, jedes Gewand, jeder Gruß von einer fast müden, aber sehr adligen, zur Sitte gesteigerten Einfachheit war. Und dabei war es notwendig, glaubhaft zu machen, daß in den fast kahlen, unsäglich ernsten Räumen Menschen lebten und ihr Schicksal erfüllten. Das hieß, der Stil des um die Menschen her Erbauten durfte mir die Menschen nicht erdrücken, er mußte Rahmen bleiben, der mir die Menschen steigerte. Die zweite Welt: Die Welt des jungen Siegfried, der sich als Schmiedegeselle Mimes das Schwert, mit dem er den Drachen erschlägt, selbst schafft – der Dorn des Waldes, der im Dämmer liegenden Wiesen, die verkrüppelten Bäume, in denen gespensterhaft-elfisch der Herr der Zwerge, Alberich, haust. Gleichsam die Welt des Unterirdischen, reich an Gold, an Spuk, an Geheimnissen des Steins. Die dritte Welt: Die Welt Brunhilds, Isenland, das Nordlicht, fremde, bleiche, eisige Luft, in der die Menschen wie verglast aussehen. Blöcke erstarrter Lava, grau, schwarz, darüber die Ewigkeit eines im Nordlicht ruhelos zuckenden Himmels. Die vierte Welt: Die Welt der Hunnen und Etzels, des Asiaten, dem Herrn der Erde, dessen Schicksal sich an der unerbittlichen Liebe seines Weibes zu einem Toten, an der Rache für diesen ihm fremden Toten, erfüllt. Durch diese vier Welten schritten die gleichen Menschen, nicht alle den vollen Weg, auf vielfach sich kreuzenden Pfaden. Die Schicksale dieser Menschen aus ihren Ursprüngen her zu erklären und notwendig erscheinen zu lassen, so daß alles, was geschieht, nach dem Gesetze einer unerbittlichen Folgerichtigkeit geschieht – darauf kam es mir an«.81
Die separaten Schauplätze, in die sich die erzählte Welt des Films gliedert, sind semantisch aufgeladen. Sie repräsentieren distinkte Sinnbezirke, die sich auf einen 81 Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174.
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übergeordneten Gegensatz zurückführen lassen. Den zentralen Bezugspunkt stellt der Wormser Hof dar, dessen kultureller Avanciertheit die in geringerem Grade kultivierten Welten der Nibelungen, Amazonen und Hunnen gegenüberstehen. Der Statik des Wormser Königshofes, die dem Publikum das vornehmliche Identifikationsangebot liefert, kontrastiert die Dynamik der ethnisch markierten Welten, in denen Alberich, Brunhild und Etzel herrschen. Während die Wormser Gesellschaft müde und erstarrt erscheint, zeichnen sich die übrigen Welten und Völker durch Vitalität und Bewegung aus. Die Räume verfügen jeweils nicht nur über einen spezifischen ethnischen Habitus, der an der Art der Kleidung, des Essens und der Bewegung sichtbar wird, sondern auch über spezifische Geschlechterordnungen. Die Welt der Burgunden und Hunnen ist heterosozial strukturiert, die Welt der Amazonen und Nibelungen homosozial. Die Differenz zwischen Burgunden und Hunnen besteht in den Umgangsformen zwischen den Geschlechtern, die Differenz zwischen Amazonen und Nibelungen im Geschlecht der jeweiligen homosozialen Gemeinschaft. Diese Konstellationen – die agonale Spannung der Räume und die Konfrontation ihrer Bewohner – ermöglichen nicht nur dramatische, sondern auch semantische Effekte, die sich mit der literaturwissenschaftlichen Raumtheorie Jurij Lotmans beschreiben lassen.82 Die erzählten Welten des Nibelungenlieds sind hingegen weniger heterogen. Zwar muss man auch in ihrem Fall raumsemantische Grenzen überschreiten, die durch trennende Gewässer symbolisch markiert sind, doch verbleibt das Nibelungenlied im höfischen Horizont und bietet statt polarer Raumkonstellationen eine geographisch differenzierte Landkarte mit einer Vielzahl realer Orte und Städte, die freilich mythisch aufgeladen werden können. Ein besonders eindrückliches Beispiel bieten die prophetischen Wasserfrauen, denen die Burgunden bei der Überquerung der Donau begegnen. c) Die Beiträge dieses Bandes Die Beiträge dieses Bandes ordnen sich in drei thematische Gruppen, die zentrale Problemfelder der Intersektionalitätsforschung beleuchten. Die Beiträge der ersten Gruppe befassen sich mit der Dynamik von Überordnung und Unterordnung, die Beiträge der zweiten Gruppe mit Prozessen gesellschaftlicher Einschlüsse und Ausschlüsse, die Beiträge der dritten Gruppe mit der Problematik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Darüber hinaus bestehen thematische Querbeziehungen zwischen den Beiträgen. Drei Beiträge rücken einzelne intersektionelle Kategorien in den Vordergrund, nämlich Geschlecht (Peter Somogyi), ›Rasse‹ (Beatrice Michaelis) und Behinderung (Nataša Bedekoviü). Zwei Beiträge untersuchen das Zusammenspiel der intersektionellen Kategorien Stand und Geschlecht mit Herrschaft (Astrid Lembke) und Herkunft (Regina Toepfer). Zwei Beiträge untersuchen Zeichenkom82 Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, München 1972.
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plexe, die für das intersektionelle Verhältnis von Individuum und Kollektiv relevant sind: Nahrung (Lisa Pychlau-Ezli) und Kleidung (Andreas Kraß). Zwei Beiträge analysieren die Konstitution sozialer Beziehungsformen aus intersektioneller Sicht: zum einen die Nahbeziehungen der Freundschaft, Liebe und Ehe (Ninja Roth), zum anderen die Abhängigkeitsbeziehung der Gefolgschaft (Michael R. Ott). Während die genannten Beiträge die Brücke von der aktuellen Intersektionalitätsforschung zur historischen Literatur- und Kulturwissenschaft schlagen, wählt der abschließende Gastbeitrag die umgekehrte Richtung und fragt nach den spezifischen Gegebenheiten der mittelalterlichen Literatur und Kultur und ihren Konsequenzen für Fragestellungen der Intersektionalitätsforschung (Judith Klinger). Die enge thematische Verflechtung der Beiträge ist Resultat zweijähriger intensiver Diskussionen, die die Beiträger_innen des Bandes im Rahmen einer Studiengruppe zur historischen Intersektionalitätsforschung führten, die am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelt war. Die Studiengruppe befasste sich im ersten Schritt mit den Theorien und Methoden der Intersektionalitätsforschung, erarbeitete im zweiten Schritt am Beispiel des Nibelungenlieds historische und literaturwissenschaftliche Perspektiven der Intersektionalitätsforschung und schlug im dritten Schritt den Bogen zu den Adaptationen des Nibelungenlieds im frühen 20. Jahrhundert, um einen exemplarischen Vergleich zwischen den vormodernen und modernen Gegebenheiten zu ermöglichen und die diskursgeschichtliche Perspektive der Intersektionalitätsforschung zu vervollständigen. Überordnung/Unterordnung Die Aushandlung hierarchischer Verhältnisse erfolgt nicht allein aufgrund der Klassenzugehörigkeit, sondern im Zusammenspiel mit weiteren Zuschreibungen wie Geschlecht, ›Rasse‹, Nation, Religion, Sexualität, Behinderung und Alter. Die Beiträge der ersten Gruppe fokussieren das Verhältnis von Klasse und Geschlecht und fragen nach den homosozialen und heterosozialen Dominanzverhältnissen innerhalb des Adels, der im Nibelungenlied als Standeszugehörigkeit zu verstehen ist und fast das gesamte Figurentableau umfasst, während er in den modernen Bearbeitungen auf die Burgunden beschränkt bleibt und eher als Symbol einer Oberschicht zu verstehen ist, die zunächst aufgrund ihrer nationalen Prägung anderen Kulturen überlegen scheint. ASTRID LEMBKE (»Umstrittene Souveränität. Herrschaft, Geschlecht und Stand im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen«) zeigt im Vergleich des männlichen Helden Siegfried und der weiblichen Heldin Brünhild, wie Stand, Geschlecht und Herkunft hinsichtlich der Herrschaftsfähigkeit zusammenwirken. Im Nibelungenlied weisen beide Figuren sowohl eine höfische als auch eine heroische Herkunft auf und sind somit in ihrer Herrschaftsausübung – im Sinne Max Webers – gleichermaßen traditional und
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charismatisch legitimiert. Beide Figuren werden in den rein traditional legitimierten Herrschaftsverband von Worms integriert. Doch während Brünhild ihre Souveränität sogleich verliert und schließlich bis hin zur Unsichtbarkeit marginalisiert wird, nimmt Siegfried ein tödliches Ende, sobald sich sein charismatischer Überschuss nicht mehr instrumentalisieren lässt und gegen die Souveränität des Wormser Königs wendet. Ein fatales Ende halten auch die Bearbeitungen des mittelalterlichen Epos in der Weimarer Republik für Siegfried und Brünhild bereit. Wie Siegfried stirbt auch Brünhild, allerdings durch einen selbstbestimmten Freitod. Das Nibelungenbuch und der Nibelungenfilm lassen sich als Absage an ein rückwärtsgewandtes charismatisches Heldentum interpretieren, das – nicht zuletzt nach der desaströsen Erfahrung des Ersten Weltkriegs – für eine Gestaltung der Zukunft nicht mehr geeignet scheint. Während Astrid Lembke eine Verbindung zur Herrschaftstheorie Max Webers herstellt, bezieht PETER SOMOGYI die Überlegungen Raewyn Connells zur Männlichkeitsforschung mit ein (»Hegemoniale Männlichkeit? Die Herrschergestalten in Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Der Beitrag zeigt, wie, anknüpfend an das Nibelungenlied, der moderne Roman und der Stummfilm hegemoniale Männlichkeit in Szene setzen und zugleich als letztlich unrealisierbar entlarven. Dies gilt für Siegfried, Gunther und Etzel in je verschiedener Weise. Die heterosexuell markierte Potenz des Drachentöters Siegfried erweist sich, allen Naturalisierungsbemühungen zum Trotz, als imaginäre Projektion. Gleichwohl bleibt der Drachentöter Bezugspunkt hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen, vermag also trotz seines phantasmatischen Charakters die roman- und filminterne Lebenswirklichkeit zu strukturieren. Der als effeminiert dargestellte Burgundenkönig Gunther bedarf stets der Hilfe seines entscheidungsfreudigen Gefolgsmanns Hagen sowie des überstarken Helden Siegfried, um agieren zu können. Sein hegemonialer Anspruch ist somit ein geliehener, was seine Tauglichkeit als männlicher Souverän zunächst nicht mindert. Etzel schließlich, der barbarische Gebieter der Hunnen, gibt nach seiner Domestizierung durch die ›weiße Frau‹ Kriemhild jegliche Handlungsfähigkeit an seine Gemahlin ab, bringt sich also durch seine Subordination unter das Prinzip weiblicher Hegemonialität um seine Souveränität. Somit erscheint jede der drei Herrscherfiguren in ihrer spezifischen Männlichkeitsdisposition als höchst ambivalent. MICHAEL R. OTT vergleicht verschiedene Formen der Domination, die im Nibelungenlied und seinen modernen Bearbeitungen am Beispiel von Siegfried durchgespielt werden (»Siegfrieds königliche Vasallen. Gelingende Subordination in Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Sie gehen mit verschiedenen Konstellationen von Stand und Geschlecht einher. Im Falle der Tötung – der ersten Form der Domination – erweist sich Siegfried als Sieger, der die Besiegten eliminiert und somit nicht mehr für sich nutzbar machen kann. Dies gilt sowohl für den Drachen, dessen Eigenschaften auf den Drachentöter übergehen, als auch für den Zwergenkönig Alberich, dessen Schatz in die Hände seines Überwinders wandert. Siegfried vermag
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sich also Eigenschaften und Gegenstände der Überwundenen anzueignen, diese selbst aber nicht in sein Gefolge zu integrieren. Als Repräsentanten einer archaischen Kultur, die jenseits der zivilisierten Welt siedeln, sind sie gewissermaßen nicht gesellschaftsfähig. Im Falle der Bezwingung – der zweiten Form der Domination – setzt Siegfried seine heroischen Kräfte ein, um Brünhild, die Gattin des schwachen Königs, zu domestizieren. Auch die Bezwingung der weiblichen Gegenspielerin ist nur vordergründig erfolgreich. Denn einerseits kann Siegfried sie nicht für sich selbst gewinnen und andererseits verschwindet die Widerspenstige nach ihrer Zähmung bald aus dem Kreis der handlungsfähigen Figuren – sei es durch ihre Marginalisierung wie im Nibelungenlied oder durch ihre Selbsttötung wie im Nibelungenbuch und Nibelungenfilm. Gleichsam als Erfolgsmodell erweist sich hingegen die dritte Form der Domination, nämlich die Unterwerfung der königlichen Vasallen. Sie können in Siegfrieds Gefolge integriert werden, denn in ihrem Fall gibt es weder eine Standes- noch eine Geschlechterdifferenz, die sich als hinderlich erweisen könnte. Die Subordination der zwölf Könige gelingt aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Siegfried, dem sie im Film stets ornamental zugeordnet werden. Im Grunde stellen sie eher Emanationen Siegfrieds dar, erweisen sich also letztlich als narzisstisches Phantasma einer männlich-homosozialen Selbstvervielfältigung. Einschlüsse/Ausschlüsse Im Unterschied zur Unterordnung hat der Ausschluss insofern gravierendere Folgen, als der Untergeordnete immer noch Teil der Gesellschaft, der Ausgeschlossene aber nicht einmal mehr dies ist. Der Ausschluss ist vielmehr ein Vorgang, der die innere Kohäsion jener Gruppe stärkt, die eine als fremd und anders erachtete Person oder Personengruppe aus ihrer Gemeinschaft ausstößt. Sozialer Einschluss profitiert von sozialem Ausschluss, wie ja auch im Falle der Überordnung Privilegien nur in der Weise beansprucht werden können, dass sie anderen abgesprochen werden. Besonders deutlich wird die Dialektik des sozialen Ausschlusses im Falle jener Gruppen, denen die Diskriminierungsmerkmale der Behinderung und der ›Rasse‹ zugeschrieben werden. Freilich erweist sich gerade an diesen Merkmalen die historische Kontingenz der Zuschreibungen, denn die modernen Kategorien der Behinderung und ›Rasse‹, die im Nibelungenbuch sowie im Nibelungenfilm eine gewichtige Rolle spielen, sind im mittelalterlichen Nibelungenlied noch vergleichsweise bedeutungslos. NATAŠA BEDEKOVIû widmet sich der Kategorie der Behinderung (»Behinderte. Helden. Ability und Disability in Fritz Langs Film Siegfried«). Wie die Gender Studies die Kategorie des Geschlechts nicht als biologische Tatsache, sondern als kulturelles Konstrukt verstehen, so deuten die Disability Studies ihrerseits Behinderung nicht als körperliches Phänomen, sondern als kulturelles Deutungsmuster. Die Barrieren, die die Handlungsfähigkeit der betreffenden Personen beeinträchtigen, sind weniger Folgen eines medizinisch definierbaren Defekts als vielmehr einer Ge-
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sellschaft, die den spezifischen Bedürfnissen dieser Personen nicht Rechnung trägt. Das Problem besteht zum einen in diskriminierenden Vorurteilen und Stigmatisierungen, zum anderen in der mangelnden Bereitschaft, die Umstände des Lebensalltags so einzurichten, dass sie auch für Personen, deren psychische und physische Disposition nicht dem gesellschaftlichen Durchschnitt entspricht, praktikabel sind. Wie insbesondere im pejorativen Sprachgebrauch (›Krüppel‹, aber auch ›Behinderter‹) erkennbar wird, resultiert die Benachteiligung oftmals eher aus stereotypen Klassifikationen und Bewertungen als aus tatsächlichen Einschränkungen. Der literaturgeschichtliche Blick auf das Nibelungenlied kann diesen Sachverhalt verdeutlichen, wenn beispielsweise der Zwerg Alberich nicht als schwacher Krüppel, sondern als starker König erscheint. Doch auch in den modernen Fassungen wird deutlich, dass Stärken und Schwächen nicht klar zu trennen sind: Alberich ist ein Zwerg, aber stark und mächtig; Hagen ist einäugig, aber als Ratgeber für den Wormser Hof unentbehrlich; Gunther ist ein König, aber ohne Unterstützung durch Hagen und Siegfried weitgehend ohnmächtig; Siegfried ist ein Ausbund an Körperkraft und Gesundheit, aber doch durch die verletzbare Stelle zwischen den Schulterblättern einem frühen Tod geweiht. Die Folgerung lautet daher: »Da alle Helden stets beide Aspekte, Ability und Disability, vereinen, liegt es nahe, das Verhältnis von Ability und Disability nicht als Opposition, sondern als Dialektik zu fassen«. BEATRICE MICHAELIS untersucht in ihrem Beitrag das Diskriminierungsmerkmal der ›Rasse‹ (»In/Kommensurabilität. Artikulationen von ›Rasse‹ im Nibelungenlied und in Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Die rassistischen Tendenzen im Nibelungenbuch und im Nibelungenfilm sind deutlich zu erkennen, vor allem in der antisemitisch getönten Darstellung Alberichs und in der Überzeichnung der Hunnen als eines barbarischen Volks der »Asiaten« (Fritz Lang). In dieser Hinsicht spiegeln die modernen Bearbeitungen des Nibelungenlieds die in den 1920er Jahren virulenten, als arrivierter Wissensbestand geltenden Rassenlehren. Aus der Abwesenheit neuzeitlicher Rassendiskurse im mittelalterlichen Epos folgt nicht, dass dieses nicht auch rassisierende Züge aufwiese. Das Nibelungenlied zeichnet die Hunnen als ferne Gesellschaft, die zwar an der höfischen Kultur partizipiert, aber in religiöser Hinsicht von dieser geschieden ist. Wie Michaelis darlegt, ist besondere Aufmerksamkeit auf jene Passagen des Nibelungenlieds zu richten, in denen sich durch die Betonung religiöser und physiognomischer Differenzen rassisierende Töne ›koartikulieren‹. Dem Othering der Herrschaftsgebiete von Alberich, Brünhild und Etzel steht schon im Nibelungenlied die Feier strahlender Männlichkeit und Weiblichkeit am Wormser Hof gegenüber, die auf moderne Hautfarbendiskurse vorausweist. Während aber das mittelalterliche Epos noch die Vereinbarkeit verschiedener Völker und Religionen unter dem Dach gemeinsamer Standeszugehörigkeit erlaubt, ist dies für die modernen Bearbeitungen keine Option mehr: Das Kriterium ›Rasse‹ wird dominant und erzeugt Inkommensurabilität.
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Einen anderen methodischen Weg der intersektionellen Analyse schlägt LISA PYCHLAU-EZLI ein, wenn sie in ihrem Beitrag nach der Signifikanz des alimentären Codes fragt (»Gottesbrot und Menschenbrei. Essen als Zeichen sozialer Differenzierung im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Anhand der unterschiedlichen Mahlgemeinschaften bei Rüdiger von Bechelaren und am Hof des hunnischen Königs Etzel demonstriert sie, wie im mittelalterlichen Epos religiöse, geschlechtliche und ständische Unterschiede gegeneinander abgewogen und einzelne Figuren oder Figurengruppen in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung gebracht werden. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass im modernen Roman und dem darauf basierenden Film die Kategorie der ›Rasse‹ hinzukommt und folglich die Subordination zur Exklusion gesteigert wird. Mittels der einschlägigen Speiseszenen im Märchenwald und am Etzelhof wird den rassistisch markierten Nibelungen bzw. Hunnen im Vergleich zu den überzivilisierten Burgunden jeglicher Grad an Zivilisiertheit und Kultiviertheit abgesprochen. Zwischen den Burgunden einerseits und den Nicht-Burgunden andererseits wird hinsichtlich der Speisen und Speisepraktiken ein habitueller Unterschied konstruiert, der die ständischen Inklusionstendenzen des Nibelungenlieds torpediert und sie durch rassistische Exklusionstendenzen substituiert. NINJA ROTH untersucht in ihrem Beitrag die intersektionelle Konstellation der fünf Herrscherfiguren, die sich im Handlungsverlauf zu Freundschafts-, Liebes- und Ehepaaren zusammenfinden (»Erste Begegnungen. Paarbeziehungen und Grenzüberschreitungen im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Die Freundschaft zwischen Gunther und Siegfried bildet eine Achse, von der aus sich Dreiecke in Richtung Kriemhild und Brünhild öffnen; im zweiten Teil rückt Etzel an Siegfrieds Stelle. Die Unterschiede zwischen den homosozial (Gunther & Siegfried) und heterosozial (Siegfried & Kriemhild, Gunther & Brünhild, Etzel & Kriemhild) verbundenen Partnern sind graduell gestuft. Für das Nibelungenbuch und den Nibelungenfilm gilt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der fortschreitenden Akkumulation von Differenzen (Geschlecht, Stand, Religion, Rasse) und dem desaströsen Ausgang der Geschichte. Die Überschreitung der betreffenden Schranken, vor der alle drei Werke implizit warnen, wird jeweils raumsemantisch als geographische Grenzüberschreitung in Szene gesetzt (im Nibelungenlied besonders markant bei der Überquerung der Donau). Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit Als dritte Form der Diskriminierung neben Subordination und Exklusion kann die sogenannte »intersektionelle Unsichtbarkeit« geltend gemacht werden. Gemeint ist damit, wie eingangs dargelegt, dass Personen und Personengruppen, die mehrere Diskriminierungsmerkmale in sich vereinen, zunehmend aus dem Blickfeld der Gesellschaft, aber auch der Gesellschaftsanalyse verschwinden. Ein entsprechendes
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Phänomen ist ebenfalls bei der kulturellen Repräsentation sozialer Gruppen anzutreffen; auch das Nibelungenlied, das Nibelungenbuch und der Nibelungenfilm sind davon betroffen. Zu fragen ist, wie sich die Sichtbarkeit der Figuren im Laufe einer erzählten Geschichte verändert und welche Figuren überhaupt in die Geschichte aufgenommen werden, und sei es nur als Statisterie. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mag die Frage nach Figuren, die in einem Text nicht vorkommen, zunächst widersinnig erscheinen; aus Perspektive der Intersektionalitätsforschung und somit auch der literatur- und kulturwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung ist dies jedoch eine gebotene Fragestellung. Im Sinne der Fiktionalitätstheorie Wolfgang Isers wären somit die Selektionsprozesse zu analysieren, die beim Akt des Fingierens greifen.83 REGINA TOEPFER befasst sich in ihrem Beitrag mit der Sichtbarkeit der weiblichen Mitglieder am Hof des Markgrafen von Bechelaren (»Die Frauen von Bechelaren. Herkunft, Stand und Geschlecht im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Das Nibelungenlied erzählt zu Beginn des zweiten Teils von der Gastfreundschaft des Markgrafen Rüdiger von Bechelaren gegenüber den Burgunden, die sich auf der Reise zu Kriemhild und Etzel befinden. In diesem Szenario spielen die Frauen an Rüdigers Seite einen wichtigen Part. Seine Gattin Gotelind ist an der standesgemäßen Bewirtung der vornehmen Gäste beteiligt und wird durch Volkers Minnesang geehrt. Rüdigers Tochter Dietlind wird Giselher, dem Bruder des Königs von Worms, versprochen und so mit günstigen Heiratsaussichten ausgestattet. Freilich bleibt der Handlungsspielraum der Frauen insofern begrenzt, als sie stets auf Rüdiger bezogen und ihm in seiner Rolle als Markgraf, Gatte und Vater untergeordnet sind. An Gotelind ließe sich demonstrieren, was Gayle Rubin als traffic in women bezeichnet hat, denn sie fungiert als heiratspolitisches Objekt, das eine verbindliche Beziehung zwischen Rüdiger und den Burgunden stiftet. Im Nibelungenbuch und im Nibelungenfilm werden die Frauen von Bechelaren bis hin zur Unsichtbarkeit marginalisiert. Dietlind erscheint noch einmal im Rahmen einer sentimentalen Vision, kommt aber in den Geschehnissen des zweiten Teils nicht mehr zum Zuge, auch nicht im Zusammenhang mit Giselhers Tod. Die Figur Gotelinds wird in den modernen Fassungen vollständig eliminiert. Die zunehmende Unsichtbarkeit der Frauen ist im Zusammenhang mit den rassisierenden Tendenzen des Nibelungenbuchs und Nibelungenfilms zu sehen, in die auch Rüdiger in seiner Eigenschaft als im Exil lebender Vasall Etzels hineingezogen wird. ANDREAS KRASS fragt, ausgehend vom Konzept der intersektionellen Unsichtbarkeit, wie es im Nibelungenlied und seinen modernen Adaptationen um Sieg83 Wolfgang Iser unterscheidet drei funktional differenzierte Akte des Fingierens: Selektion, Kombination und Selbstanzeige (vgl. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt am Main 1993, S. 24-51).
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frieds Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bestellt ist (»Siegfrieds Sichtbarkeit. Der vestimentäre Code im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen«). Anhand der kalkulierten Serien von Ein- und Entkleidungsszenen zeigt er, wie Siegfrieds Identität je neu konstruiert wird, wenn er in neue Räume und Figurenkonstellationen eintritt. Das Nibelungenbuch und der Nibelungenfilm betonen Siegfrieds ursprüngliche Nacktheit im Nibelungenland und seine Transformation in einen modisch gekleideten Hofmann bei der Ankunft in Worms. Der Drachentöter im Fellschurz wird als ›germanischer‹ Tarzan stilisiert; er repräsentiert die Vitalität einer heroischen Vorzeit, die den in der Wormser Hofgesellschaft repräsentierten ›Deutschen‹ abhanden gekommen ist. Wenn Siegfried im Dienst der dekadenten Burgunden sein Blondhaar mit dem Tarnhelm bedeckt und seine überlegene Stärke unsichtbar macht, dann nimmt er, ähnlich wie im Nibelungenlied, seine spätere Liquidierung vorweg. Im 20. Jahrhundert fühlen sich die Burgunden nicht durch einen gefährlichen Heros bedroht, sondern durch die Verkörperung eines ›germanischen‹ Heldentums, das ihnen ein ungern gesehenes Spiegelbild vorhält. Aus diesem Grund wird die Lichtgestalt aus dem Wald zunächst verehrt, dann benutzt und schließlich verworfen und ausgelöscht. d) Methodologische Schlussfolgerungen Welche methodologischen Schlussfolgerungen aus der literaturgeschichtlichen Perspektivierung der Intersektionalitätsforschung zu ziehen sind, zeigt JUDITH KLINGER in ihrem abschließenden Gastbeitrag (»Ent/Fesselung des fremden Heros. Sîvrit zwischen Exorbitanz und Assimilation«). Eindringlich legt sie dar, dass viele Prämissen der aktuellen Intersektionalitätsforschung im Mittelalter noch keine Geltung haben. Während heute das Ideal der Gleichheit aller Menschen propagiert wird, setzt die mittelalterliche Ständegesellschaft das gottgewollte Prinzip der Ungleichheit voraus. Während Identität heute individualistisch konzipiert wird, bleibt sie im Mittelalter stets an das Kollektiv zurückgebunden. Von diesen Überlegungen ausgehend, hebt Klinger drei Differenzierungsmechanismen hervor, die sich für die mittelalterliche Literatur als zentral erweisen: Geschlecht, Herrschaftsfähigkeit und Fremdheit. Die mittelalterlichen Geschlechterverhältnisse beruhen schon deshalb auf anderen Voraussetzungen, weil sie die Postulate der Emanzipation und Gleichberechtigung noch nicht kennen. Herrschaftsfähigkeit wird in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft als »leibgestützte Personenqualität« des Adels verstanden und prägt somit eine eigene differenzbildende Kategorie aus. Fremdheit ist in der mittelalterlichen Dichtung oftmals von einer Dialektik geprägt, in der das Fremde zum Prinzip des Eigenen wird und somit ethnische Differenzierungen unterläuft. Klinger illustriert ihre methodologischen Thesen anhand des Nibelungenlieds und insbesondere am Beispiel Siegfrieds. An dieser Figur, die sich einerseits durch die interne
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Differenz zwischen höfischem Ritter und mythischem Heros und andererseits durch die vorübergehende »Leibeinheit« mit Gunther auszeichnet, zeigt sie die komplexen Strategien und Wirkungen des Othering im mittelalterlichen Epos, die sich mit modernen Vorstellungen von Ethnisierung und Diskriminierung kaum vereinbaren lassen. Klingers Überlegungen sind somit als Mahnung zu verstehen, bei der Öffnung der Intersektionalitätsforschung für die historische Literaturwissenschaft die spezifischen Bedingungen, Voraussetzungen und Gegebenheiten der untersuchten Gegenstände nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies betrifft zum einen die historische Dimension, denn jede Epoche verfügt über eigene Merkmale der Differenzierung, sodass sich eine unreflektierte Applikation moderner Kategorien auf vormodernde Verhältnisse verbietet. Dies betrifft zum anderen die literarische Dimension, denn fiktive Figuren können nicht wie reale Personen analysiert und beschrieben werden. Die erzählten Welten der fiktionalen Literatur tragen immer schon das Element der Selbstreflexion in sich; sie verfügen über einen ästhetischen und hermeneutischen Überschuss, den es bei der Interpretation zu berücksichtigen gilt. Nimmt man diese Postulate ernst, wird sich die Intersektionalitätsforschung auch für literatur-, kunstund filmgeschichtliche Analysen als produktiv und inspirierend erweisen. Die Herausgeber_innen danken dem Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main dafür, dass es der Studiengruppe zur Historischen Intersektionalitätsforschung ein institutionelles Dach geboten und den vorliegenden Band mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat. Dank gebührt auch den Herausgeber_innen der GenderCodes, die den Band in ihre Reihe aufgenommen und somit einem breiten genderinteressierten Publikum zugänglich gemacht haben. Zu danken ist ferner der MurnauStiftung, die uns die Bildrechte zu moderaten Konditionen gewährt hat. Besonders zu danken ist den studentischen Mitarbeiter_innen, die die Drucklegung mit großer Sorgfalt begleitet haben: Hannah Maria Alfter, Beschka Gloy, Marius Reisener und vor allem Daniel Zimmer.
Umstrittene Souveränität Herrschaft, Geschlecht und Stand im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen A STRID L EMBKE »›Melde den Burgunden, Hagen Tronje, ich lüde sie ein zur Jagd! Einen tollen Hund, einen reißenden Wolf gälte es zu jagen!‹ Tief auf atmete Brunhild.« THEA VON HARBOU/DAS NIBELUNGENBUCH, S. 94.
1. N IBELUNGISCHE I NTERSEKTIONALITÄT Warum muss Siegfried sterben? Oder, präziser gefragt: Warum muss er im mittelalterlichen Nibelungenlied sterben und warum in Thea von Harbous Nibelungenbuch von 1923 und in Fritz Langs Stummfilm Die Nibelungen aus dem Jahr 1924?1 Und weshalb überlebt ihn seine amazonenhafte Gegenspielerin Brunhild zwar im einen Fall, folgt ihm aber im anderen in den Tod? Die Werke, in denen von diesen Figuren und ihren Handlungen erzählt wird, ob nun um 1200 oder zur Zeit der Weimarer Republik, verfolgen kein eindeutig politisches oder ethisch-moralisches Programm. Sie enthalten vielmehr eine Vielzahl von Deutungsangeboten, die die For1
Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem DeclaUfa-Film ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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schung erfolgreich zum Ausgangspunkt für immer neue Interpretationen der jeweiligen Erzählungen gemacht hat. Eine Möglichkeit, neue Antworten auf die Frage nach den Gründen für den gewalttätigen Verlauf der Handlung zu finden, bietet die historische Intersektionalitätsforschung. Dieses Forschungsparadigma, das sich mit Phänomenen von Ungleichheit und Diskriminierung befasst, ermöglicht es, die gesellschaftliche Positionierung und den sozialen Status nicht nur realer Personen, sondern auch fiktiver Figuren zu beschreiben und zu analysieren. Der historischen Intersektionalitätsforschung zufolge werden die einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft einer Vielzahl von sozialen Kategorien zugeordnet und innerhalb dieser Kategorien nach komplexen Kriterien voneinander unterschieden und gruppiert. Was beispielsweise die Kategorie ›Geschlecht‹ angeht, so wird nicht nur danach gefragt, wie viele verschiedene Arten von Geschlecht es gibt, und ob, wenn man von zwei Geschlechtern ausgeht, eine Person ein Mann oder eine Frau ist, sondern auch danach, inwiefern und in welchem Ausmaß die Person ein Mann oder eine Frau ist. Nach welchen Kriterien diese Fragen beantwortet werden, hängt vom historischen Kontext ab, in dem sich die jeweilige Gemeinschaft stets neu konstituiert. Die historische Intersektionalitätsforschung untersucht, welche Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit eines Individuums sich ergeben, wenn in bestimmten Situationen oder auch allgemein die Positionierung in einer bestimmten Kategorie sowie Positionierungen in anderen Kategorien miteinander zusammentreffen: wenn also etwa eine als abträglich angesehene Verortung in der Kategorie ›Geschlecht‹ mit einer ebenfalls nachteiligen Stellung innerhalb der Alters-, Klassen-, Religions- oder Nationalitätshierarchie konvergiert. Ob, wann und wie einem Individuum gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht wird, ergibt sich aus der spezifischen Überkreuzung und Verschränkung all dieser Faktoren. Richtet man die Frage nach dem kontinuierlich neu hervorgebrachten und umkämpften sozialen Status einer Person an einen mittelalterlichen Text wie das Nibelungenlied, dann stellt man schnell fest, dass hier wie in allen komplexen narrativen Texten die Aushandlung von Dominanzverhältnissen in einer zwischen verschiedenen Zugehörigkeitsformen differenzierenden Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielt. Damit sind alle Voraussetzungen für eine Inszenierung intersektioneller Diskriminierungsmechanismen gegeben. Zwei Beispiele, an denen sich einige von vielen Möglichkeiten für solche Exklusionsprozesse nachvollziehen lassen, sind jene beiden Hauptfiguren, die im Nibelungenlied als erste ihren prekären intersektionellen Status mit ihrer Eigenständigkeit als handelnde Subjekte bezahlen müssen: Siegfried und Brünhild. Aus der literarischen Reflexion über Macht und Ohnmacht, Triumph, Gefährdung und Marginalisierung dieser Figuren lassen sich Schlüsse darüber ziehen, welche intersektionellen Konstellationen im Kontext des höfischen Mittelalters um 1200 in den Augen von Produzenten und Rezipienten so diskussionswürdig waren, dass sie im Medium eines höfischen Heldenepos thematisiert wurden.
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In den Figuren Siegfrieds und Brünhilds überkreuzen sich unter anderem die Kategorien ›gender‹ (›Geschlecht‹) und jener Untertypus der Kategorie ›class‹ (›Stand‹), der eine Person dazu befähigt, Herrschaft auszuüben (›sovereignty‹). Im Nibelungenlied gehören die meisten handelnden Hauptfiguren dem gleichen Stand an: einer Elite von adligen Kriegern mit einem mehr oder weniger stark ausgeprägten höfischen Verhaltensvokabular. Das Potential der Herrschaftsausübung allerdings wird von all diesen Figuren gleichen Standes nur einer sehr eingeschränkten Personengruppe zugeschrieben. Deren spezifische Art der Standeszugehörigkeit ist gekennzeichnet durch eine besondere Herrschaftspotenz. Diese wiederum wird im Epos nochmals präziser unterteilt in zwei Formen der Souveränität: eine, die auf Charisma beruht sowie eine, deren Autorität sich aus der Tradition speist. Für das Nibelungenlied ist daher aus intersektioneller Perspektive zu fragen: Welche Folgen hat es für eine Figur, wenn ein bestimmtes Geschlecht mit einer bestimmten Form von Stand, d.h. mit einer entweder traditional oder charismatisch legitimierten Herrschaftssouveränität gekreuzt wird? Wann ergeben sich daraus Vorteile, was die Position in der sozialen Hierarchie angeht? Unter welchen Umständen verwandeln sich diese Vorteile in ihr Gegenteil? Die Besonderheit des mittelalterlichen Zugriffs auf intersektionelle Verflechtungen tritt besonders deutlich dann zutage, wenn man ihn mit modernen Bearbeitungen des Stoffs vergleicht. Ganz anders als der Autor des Nibelungenlieds nämlich verfahren mit der Überkreuzung von Geschlecht und Souveränität Thea von Harbou und Fritz Lang in ihren aufeinander verweisenden Interpretationen des Stoffs aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts.2 Zwar orientieren sich sowohl Thea von Harbous Nibelungenbuch als auch Fritz Langs Siegfried, der erste Teil des Stummfilmzweiteilers Die Nibelungen, stark an der mittelalterlichen Vorlage. Dennoch unterscheiden sich die heroischen Figuren im Roman und im Film erheblich von ihren mittelalterlichen Pendants. Wie wirken Souveränität und Geschlecht hier zusammen? Welche Schlüsse lassen sich aus der Beobachtung ziehen, dass in den beiden Werken der Weimarer Republik die emotionale Disposition der Protagonisten stärker in den Vordergrund gerückt wird als die politischen Verwerfungen zwischen den Herrscherfiguren? Und inwiefern lässt sich die Auslöschung der charismatischen Figuren in Roman und Film schließlich auch als Absage an das Prinzip charismatischer Führerschaft lesen, wie es in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch im außerliterarischen Bereich diskutiert wird?
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Thea von Harbou und Fritz Lang bearbeiten den Nibelungenstoff durchaus unterschiedlich. Was die Frage nach dem Zusammenspiel von Geschlecht und Stand bei der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Gefährdung von Herrschaftssouveränität angeht, verfahren die beiden Werke allerdings ähnlich und werden daher im Folgenden in Gegenüberstellung zum mittelalterlichen Nibelungenlied gemeinsam betrachtet.
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2. S OUVERÄNITÄT
UND
G ESCHLECHT
IM
N IBELUNGENLIED
In der ersten Aventiure des Nibelungenlieds, in der die Protagonisten eingeführt werden, erfährt der Leser oder Hörer, von welcher Art die Herrschaft am Hof der Burgundenkönige ist: Zum einen wird sie gemeinschaftlich ausgeübt von den drei Brüdern Gunther, Gernot und Giselher.3 Diese werden ihrerseits unterstützt von einem Hofstaat, in dem jedem ihrer Anhänger (Hagen, Dankwart, Ortwin usw.) ganz bestimmte Funktionen zugewiesen sind.4 Zum anderen wird den drei Königen die Herrschaft von ihrem Vater Dankrat übertragen (vgl. NL 5). Was also in Worms bis zur Ankunft Siegfrieds gut funktioniert, ist ein ausdifferenziertes Herrschaftssystem, das sowohl den Herrscher als auch seine Gefolgsleute auf ein gegenseitiges Treueverhältnis zueinander festlegt, und das auf der Weitergabe durch Abstammung beruht.5 Jan-Dirk Müller hat darauf hingewiesen, dass man mit Max Weber von einem Fall »traditionaler Herrschaft« sprechen kann.6 Dabei bedeutet Herrschaft die Möglichkeit, »für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden«7. »§6. Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (›von jeher bestehender‹) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. […] Der Herrschende ist nicht ›Vorgesetzter‹, sondern persönlicher Herr, sein Verwaltungsstab [besteht] primär nicht [aus] ›Beamten‹, sondern persönlichen ›Dienern‹ […]. Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmen die Beziehungen des Verwaltungsstabes zum Herrn.«8
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Erst in der dritten Aventiure erfährt der Rezipient aus einer Äußerung Sieglindes, dass Gunther sich im Status von seinen beiden Brüdern unterscheidet (vgl. NL 51).
4
Laut Jan-Dirk Müller handeln Gunther und seine Brüder »als Glieder eines nach Rang und Funktionen differenzierten politisch-sozialen Gebildes; zur persönlichen ellen der Könige tritt des hoves kraft (12,1), die Vasallen, durch Hofämter an das Herrschaftszentrum gebunden (8-12), mit ihrem Anhang, der ritterscaft (12,2)«. Müller, Jan-Dirk: »Sivrit: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes«, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 7 (1974), S. 85-124, hier S. 94.
5
Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 170ff.
6
Vgl. J.-D. Müller: Sivrit, S. 95.
7
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Zwei Teile in einem Band, Frankfurt am Main 2010, S. 157.
8
Ebd., S. 167 [Herv. i.O.].
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Der traditionale Herrschaftstypus der höfischen Welt ist im Nibelungenlied allein Männern vorbehalten. Die Macht höfischer Frauen speist sich aus der Herrschaft ihrer Väter, Brüder und Ehemänner. Kriemhild herrscht deshalb nicht aus eigenem Recht. Nach ihrer Heirat bezieht sie jegliche Souveränität aus ihrem Status als Ehefrau Siegfrieds.9 Die beiden anderen Hauptfiguren, die Herrschaft ausüben und die ab dem Beginn der Handlung in Worms nachhaltig für Unruhe sorgen, zeichnen sich gegenüber Kriemhild und ihren Brüdern dadurch aus, dass sie, zumindest teilweise, einem anderen Herrschertypus angehören. Sowohl Siegfried als auch Brünhild sind nicht nur höfischer, sondern zugleich auch heroischer Herkunft und gründen ihre Herrschaft nicht nur auf Tradition, sondern auch auf individuelle Fähigkeit. a) Siegfried: ein freies Radikal Die doppelte Provenienz wird im Fall Siegfrieds besonders stark in den Vordergrund gerückt. Zunächst wird – parallel zur Einführung der höfischen Protagonisten in Worms – davon erzählt, wie Siegfried als Königssohn in Xanten aufwächst, zum Ritter gemacht wird, eine Übertragung der Krone von seinen Eltern Siegmund und Sieglinde auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt und sich, höfisch beraten und ausgestattet, dazu entschließt, um Kriemhild zu werben. Bei Siegfrieds Ankunft in Worms wird nun durch Hagen, der als einziger am Hof heroisches Expertenwissen besitzt, die Information über den heroischen Teil von Siegfrieds Herkunft nachgetragen. Siegfried, so hören die Wormser wie auch der Rezipient an dieser Stelle zum ersten Mal, habe bei einem einsamen Streifzug die Nibelungenkönige und ihren Diener Alberich besiegt, ihren Schatz sowie das Schwert Balmung an sich gebracht und außerdem einen Drachen erschlagen und in seinem Blut gebadet, so dass er unverwundbar geworden sei (vgl. NL 84-99). Wann der als vollendeter Hofmann eingeführte junge Ritter diese Taten vollbracht haben soll, wird nicht erzählt. Anders als der höfische Held besitzt der Sagenheld keine chronologisch nachzuerzählende Geschichte. Was er erlebt, spielt sich zeitlich unbestimmbar in einer geographisch nicht fixierten Sagenwelt ab. Miteinander integriert werden die beiden Jugendgeschichten Siegfrieds nicht. Sie existieren einfach nebeneinander, beide mit dem Anspruch, Wahres über die Figur auszusagen. Siegfrieds Doppelnatur als höfischer Ritter und anderweltlicher Heros ist mit einem doppelten Herrschaftsanspruch verbunden. Wie Gunther ist er traditional über die Abstammung von seinen Eltern legitimiert. Zusätzlich aber ist er das, was Max Weber einen charismatischen Herrscher nennt. Charisma definiert Weber wie folgt:
9
Dieser Zustand äußert sich unter anderem darin, dass Siegfried Kriemhild untersagt, sich den ihr zustehenden Anteil des burgundischen Erbes auszahlen zu lassen, um sie stattdessen aus eigener Hand auszustatten (vgl. NL 691f.).
56 | A STRID LEMBKE »§ 10. ›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird.«10
Siegfried verfügt über gewaltige Kräfte, wie sie keine einzige andere Figur im Text besitzt. Seine durch das Bad im Drachenblut hervorgerufene, beinahe vollständige Unverletzlichkeit ist Ausdruck seiner übermenschlichen, außeralltäglichen, exorbitanten Qualitäten als Recke, als Beherrscher und Anführer all derer, auf die er im Streit trifft und die sich ihm zwangsläufig geschlagen geben müssen. Nach dem Sieg über Schilbung und Nibelung beispielsweise heißt es: durch di starken vorhte vil manec recke junc, di si zem swerte heten und an den küenen man, daz lant zuo den bürgen si im tâten undertân. (NL 93,2-4) »Aus großer Furcht, die viele junge Recken vor dem Schwert und dem tollkühnen Mann hatten, übergaben sie ihm die Burgen und das Land dazu.«
Dingliches Zeichen für Siegfrieds Charisma ist der Hort der Nibelungen, den er mit seinem Sieg über Schilbung, Nibelung und ihren Kämmerer Alberich an sich bringt. Den Schatz zu besitzen und sein Potential zu erkennen heißt herrschen. Über eine in ihm enthaltene Wünschelrute wird später bezeichnenderweise gesagt: der daz het erkunnet, der mohte meister sîn / wol in aller werld über einen ietslichen man. (NL 1121,2f.: »[W]er diese Wünschelrute zu benutzen verstand, konnte in der ganzen Welt Meister über jeden Menschen sein.«) Auffällig ist, dass Siegfried den Schatz nie einsetzt, um – im wörtlichen Sinn – damit zu handeln. Es genügt offenbar, ihn zu besitzen. Siegfrieds Verhältnis zum Nibelungenhort ist eines der »Unwirtschaftlichkeit« reinen Charismas: Dieses »verschmäht und verwirft […] die ökonomische Verwertung der Gnadengaben als Einkommensquelle«11. Eingeflochten in den Alltag und damit aus einem charismatischen Herrschaftszusammenhang in einen plutokratischen transferiert, wird der Hort erst in dem Moment, in dem Kriemhild beginnt, aus dem Gold Geld zu machen und den Schatz zielgerichtet auszugeben, um für ihr Rachevorhaben Anhänger zu gewinnen. Siegfrieds Eignung als Souverän wird nie zur Selbstverständlichkeit, sie bedarf permanent der Bestätigung. Siegfried muss als charismatischer Herrscher, mit Ralf Dahrendorf gesprochen, das erwartete Verhalten zeigen, das mit der Rolle eines
10 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179 [Herv. i.O.]. 11 Ebd., S. 181.
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solchen Herrschers verbunden ist.12 Diese Rolle füllt er erfolgreich aus. Gerade in dem von ihm eroberten Nibelungenreich, in dem das Prinzip des heroischen Charismas gilt, demonstriert er immer wieder aufs Neue erfolgreich, dass er tatsächlich der Stärkste und der Beste ist.13 Nach einem neuerlichen Sieg über Alberich gesteht dieser ein: nu hân ich wol erfunden diu degenlichen werc, / daz ir von wâren schulden mügt landes herre wesen (NL 498,2f.: »Jetzt habe ich selbst die heldenhaften Taten erfahren, so dass Ihr rechtmäßig der Herr dieses Landes sein könnt.«). Bei seinem ersten Auftritt in Worms führt Hagen daher folgerichtig zwei Gründe dafür an, warum Siegfried freundlich zu empfangen sei: Einerseits verweist er darauf, dass Siegfried von edelem kunne (NL 101,2: »aus edlem Geschlecht«), eines rîchen kunegs sun (NL 101,2: »Sohn eines mächtigen Königs«) sei. Zum anderen aber sei es notwendig, so wiederum Hagen, sich dem nicht nur hochgeborenen, sondern eben auch unbesiegbaren Helden gewogen zu machen, um nicht gegen ihn antreten zu müssen (vgl. NL 99). Die auf Siegfried angewandte Formel edel und küene (NL 102,2: »adlig und kühn«) ist daher in diesem Fall keine bloße Tautologie, sondern ganz wörtlich zu verstehen: Siegfried ist adlig oder edel, und er ist kühn. Er ist Ritter und Sagenheld zugleich; sein Herrscherpotential basiert sowohl auf seiner Positionierung in einer ausgezeichneten Ahnenreihe als auch auf seinem persönlichen heroischen Charisma. Siegfried selbst streitet bei seiner Herausforderung der Burgundenkönige die Legitimität erblicher Übertragungstraditionen keineswegs ab. Über das Geburtsrecht allerdings stellt er das Idoneitätsprinzip: ez enmuge von dînen ellen dîn lant den fride hân, ich wil es alles walden. und ouch diu erbe mîn, erwirbest duz mit sterke, diu sülen dir undertænec sîn. (NL 111,2-4) »[W]enn mit Deiner Macht Dein Land den Frieden nicht bewahren kann, will ich über alles herrschen. Dasselbe gilt auch umgekehrt, siegst Du mit Deiner Stärke, dann sollen Dir meine Erblande untertan sein.«
12 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle [1965], 16. Aufl. mit einem neuen Vorwort, Wiesbaden 2006. (Vgl. auch die Einleitung in diesem Band.) 13 Vgl. dazu M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179: »Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung […] gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene Anerkennung durch die Beherrschten.« [Herv. i.O.]
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Man könnte auch sagen: Aus Siegfrieds Perspektive muss sich die Legitimität des Geburtsrechts dadurch erproben und beweisen, dass sein Inhaber gleichzeitig der beste aller möglichen Herrscher ist. Die Kombination aus einem Anspruch auf Herrschermacht, die der Einzelne aus sich selbst und seinen Fähigkeiten schöpft und einem Anspruch, der sich aus seinem Eingebundensein in ein System des Machterhalts und der gewaltlosen Machtübertragung ergibt, wirkt auf Siegfrieds höfisches Umfeld nicht nur besonders attraktiv, faszinierend und nützlich. Siegfrieds Überlegenheit wird auch als Bedrohung wahrgenommen. Seine berühmte Provokation bei der Ankunft in Worms, mit der er Gunther androht, ihm mit Gewalt alles zu nehmen, was er besitzt, wird zwar sogleich beschwichtigt und somit nie in aggressive Handlung umgesetzt. Als Auftakt der Begegnung Siegfrieds mit den Burgunden aber bestimmt Siegfrieds Anspruchshaltung und Siegesgewissheit von Beginn an ihr Verhältnis zu ihm. Zu diesem Eindruck trägt später auch die Äußerung Kriemhilds bei, mit der sie den Streit der Königinnen in Gang setzt: […] ich hân einen man, / daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân (NL 812,3f.: »Ich habe einen solchen Mann, dass alle diese Reiche in seiner Macht stehen sollten.«). Während sich daher eine von mehreren möglichen Begründungen für Siegfrieds Ermordung aus dem Handlungsverlauf ergibt (die Beleidigung Brünhilds und damit auch Gunthers muss gerächt werden, um Brünhilds und Gunthers Ehre wiederherzustellen), erwächst eine andere aus dem Zustand der Ungleichheit zwischen zwei Herrschern, die einander zwar unter dem Aspekt traditionaler Legitimation ebenbürtig sind, unter dem Aspekt charismatischen Heldentums jedoch keineswegs.14 Siegfrieds Machtvollkommenheit als Herrscher sowohl über Xanten als auch über das Nibelungenreich, als Befehlshaber einer großen Zahl von Gefolgsleuten und als Besitzer des Nibelungenhortes erweckt sowohl Begehrlichkeiten als auch Ängste. So weist Hagen zum einen auf die Herrschaftsbereiche hin, die man sich nach Siegfrieds Tod aneignen könnte (vgl. NL 867). Zum anderen sei mit seiner Ermordung endlich der einzig ernstzunehmende Gegner Gunthers und der Burgunden aus dem Weg geschafft. Diese Worte äußert Hagen, als Siegfried schon tödlich getroffen ist: Dô sprach der grimme Hagene: ›jâne weiz ich, waz er kleit. allez hât nu ende, unser sorge unt unser leit.
14 Zur mythischen Begründung von Siegfrieds Tod abseits von »Standeslüge und Werbungstrug, Brautnachtvertretung und Frauenstreit« vgl. Mertens, Volker: »Hagens Wissen – Siegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern«, in: Harald Haferland/Michael Mecklenburg (Hg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996, S. 56-69, hier S. 65.
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wir vinden ir vil wênic, di getürren uns bestân. wol mich, deich sîner hêrschaft ze râte hân getân‹. (NL 990) »Da entgegnete der finstere Hagen: ›Ja, ich weiß nicht, worüber er klagt. Unsere Sorge und unser Leid haben nun ein Ende. Wir finden jetzt nur noch wenige, die uns anzugreifen wagen. Ich bin froh, dass ich seine Herrschaft beendet habe.‹«
Hagen ist es auch, der veranlasst, Siegfrieds Hort nach Worms zu holen (vgl. NL 1104). Ähnlich wie Kriemhild beabsichtigt er, den Schatz praktisch zu nutzen (vgl. NL 1134). Dadurch, dass er ihn (aus seiner eigenen Perspektive vorübergehend, aus der Perspektive der Rezipient_innen für immer) im Rhein versenkt und ihn damit dauerhaft jeglichem Liquidierungsversuch entzieht, gibt er ihm unbeabsichtigt seine ursprüngliche Geltung als mythisches Substrat heroischen Charismas zurück, an dem von nun an auch die Burgunden teilhaben. Siegfried macht nach seiner Aufnahme am Hof zu Worms an keiner einzigen Stelle Anstalten, Gunthers Thron zu usurpieren. Es genügt, dass er das Potential dazu besitzt. Dies beweist er bei jeder einzelnen Gelegenheit, bei der er seine Kraft und Fähigkeit in den Dienst Gunthers stellt. Dementsprechend bemerkt der Erzähler nach einer zusammenfassenden Würdigung von Siegfrieds außerordentlichen Befugnissen am Ende der 11. Aventiure: man vorhte sîne sterke unt tet vil billiche daz (NL 720,4: »Man fürchtete seine Stärke, und zwar mit gutem Grund«). Illustriert wird die Gefährlichkeit des Helden am anschaulichsten in der Jagdepisode kurz vor seinem Tod: Siegfried bringt einen gefesselten Bären in das Lager der Jagdgesellschaft mit und lässt ihn dort frei, woraufhin das wilde Tier zwischen den Feuerstellen und Töpfen für nicht geringe Unordnung sorgt. Siegfried ist der Einzige, der den Bären schließlich töten und damit seine Gefährten von einer Bedrohung erlösen kann, deren Urheber er selbst ist (vgl. NL 943-959). An diesem nur oberflächlich harmlosen Scherz erweist sich das Ausgeliefertsein der Burgunden an die unvergleichliche Stärke und Geschicklichkeit des Helden, aber auch an seine Willkür und Unkontrollierbarkeit.15 b) Brünhild: eine gezähmte Heldin Durch diese bis zum Ende nicht domestizierte heroische Eigenmächtigkeit im Angesicht der streng reglementierten Wormser Hofkultur unterscheidet sich Siegfried von seiner Gegenspielerin Brünhild. Auch sie ist zumindest anfänglich eine Prota15 Zur »unleugbare[n] Exorbitanz, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit manchen heldischen Verhaltens«, die nicht grundsätzlich, sondern höchstens zufällig dazu dienen, einem Kollektiv zu nützen, vgl. den programmatischen Aufsatz: See, Klaus von: »Held und Kollektiv«, in: ZfdA 122 (1993), S. 1-35, hier S. 22.
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gonistin mit sowohl höfischen als auch heroischen Zügen. Obgleich über Brünhilds Vorfahren nichts erzählt wird, ist sie als hôchgeborn wîp (NL 370,4: »hochgeborene Frau«) und fursten tohter (NL 418,2: »Tochter eines Fürsten«) ebenso wie Gunther und Siegfried als Herrscherin traditional legitimiert. Sie steht einem höfischen Gefolge vor. An ihrem Hof geht es nicht anders zu als in Worms: Man hiez den gesten schenken unt schuof in gemach. vil manigen snellen recken man dâ ze hove sach in furstlicher wæte allenthalben gân. (NL 406,1-3) »Man ließ den Gästen einen Begrüßungstrunk ausschenken und sorgte für ihr Wohlbefinden. Überall am Hofe sah man viele tüchtige Recken in fürstlicher Kleidung einhergehen.«
Nach Gunthers vermeintlichem Sieg im Wettkampf versammelt Brünhild eine große Zahl an Verwandten und Gefolgsleuten, um gemeinsam mit ihnen ihre Nachfolge zu regeln (vgl. NL 473ff. und 520f.). Auch sie ist also in einen Herrschaftsverband integriert. Daneben besitzt sie eine außeralltägliche Befähigung, die ihr als Individuum heroisches Charisma verleiht. Dieses Charisma ist es, was ihre Herrschaft sowohl ausmacht als auch gefährdet, indem es auch einen unpassenden Mann wie Gunther zur Herausforderung reizt.16 Anders als im Fall Siegfrieds gelingt bei Brünhild, wenn auch nur mit Hilfe von List und Betrug, die Zähmung der heroischen Übermacht. In zwei Schritten, zuerst beim Zweikampf auf Isenstein und dann bei einem neuerlichen Zweikampf in der zweiten Hochzeitsnacht, wird sie ihrer Potenz beraubt (vgl. NL 678f.). Von einer heroischen Herrscherin aus eigenem Recht wird sie zu einer höfischen Ehefrau wie Kriemhild, die ihre Macht ausschließlich aus der Beziehung zu ihrem Mann schöpft. An der Ermordung Siegfrieds, dem ihre Rachewünsche gelten, hat sie nur mittelbaren Anteil. Nach seinem Tod spielt sie keine Rolle mehr. Beim Vergleich zwischen Siegfried und Brünhild fällt die Differenz des jeweiligen Umgangs der Burgunden mit den beiden heroisch-charismatischen Figuren auf. In Siegfrieds Fall führt die Überkreuzung von Männlichkeit und einer verdoppelten Herrschaftspotenz dazu, dass er trotz aller Integrationsbemühungen niemals vollständig in die Wormser Hofgesellschaft eingegliedert werden kann und am Ende durch seine Ermordung radikal aus ihr entfernt werden muss. Als bis zum Ende potentiell gefährlicher, nicht eindeutig einzuordnender und in seinen Ansprüchen 16 Auf die Mitteilung über die Regeln von Brünhilds Wettkämpfen sowie ihre unermessliche Schönheit und Stärke folgt der Hinweis darauf, dass die Jungfrau bereits viele unterlegene Bewerber getötet habe. Als Gunther dies hört, beschließt er, sich mit ihr zu messen (vgl. NL 324-327).
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überdeterminierter Fremdkörper wird er schließlich getötet. Im Gegensatz zu dem männlichen Heros, dessen Charisma und Unkontrollierbarkeit bei aller Integration in höfische Strukturen nie ganz verloren gehen, kann die heroische Herrscherin auf eine traditional durch ihren Ehemann legitimierte Herrscherin reduziert und damit als eigenständig das Geschehen steuernde Akteurin stark eingeschränkt werden. Das Zusammentreffen von höfischen und heroischen Wertvorstellungen hat also auf eine weibliche Figur andere Auswirkungen als auf eine männliche. Kurz: Ihm geht es an das Leben, ihr an die Identität. Betrachtet man diese Auswirkungen aus einer intersektionellen Perspektive, dann werden am Wormser Hof beide Figuren diskriminiert, weil sie heroischer Herkunft sind und ein Charisma besitzen, das sie den Burgunden überlegen sein lässt. In Siegfrieds Fall addieren sich keine Defizite, sondern Vorteile zu einer Position provozierender Souveränität. Als traditional und charismatisch legitimierter Mann ist und bleibt seine Dominanz zu groß, um auf lange Sicht geduldet werden zu können. Brünhild hingegen kann, so inszeniert es das Nibelungenlied, durch Betrug entheroisiert und depotenziert werden. So wird ausgerechnet die Tatsache, dass sie, anders als Siegfried, nicht sterben muss, sondern sang- und klanglos aus dem Blickfeld der Figuren und Rezipienten verschwindet, zum Ausdruck einer doppelten Diskriminierung durch die höfischen Figuren wie auch durch den Erzähler. Der männliche Heros bleibt noch im Untergang ausgezeichnet. Sein weibliches Gegenstück hingegen wird unsichtbar. Auf welche Weise aber wird sie unsichtbar? Welchen Eindruck hinterlässt der letzte Blick auf die Figur? Anders als Siegfrieds Herrschaftspotenz ist die von Brünhild im Nibelungenlied stets an einen Ort gebunden. Da es sich bei ihr nicht um eine umherziehende Reckin handelt, die Gebiete unterwirft, um sie wieder zu verlassen, bedarf sie klar definierter Herrschaftsbereiche, in denen sie, zunächst direkt und später vermittelt durch ihren Ehemann, Macht ausüben kann. Was aber diese Art der Herrschaft angeht, so lässt sich in Brünhilds Karriere eine auffällige Kontinuität feststellen, die durch den Bruch in ihrer Charakterisierung keineswegs beeinträchtigt wird. Die Reduktion ihrer Eigenschaften als Souveränin zeigt sich zwar darin, dass sie, von der es vormals hieß: diu was unmâzen schœne. vil michel was ir kraft (NL 324,3: »die war unbeschreiblich schön. Sehr groß war ihre Kraft«), zu einer Frau geworden ist, die nur noch als schön bezeichnet wird (vgl. NL 1097). Ihre Situation als Herrscherin allerdings gleicht der zu Beginn der sechsten Aventiure. Dort war sie eingeführt worden mit den Worten: E‹z was ein› kuneginne gesezzen uber sê (NL 324,1: »Es lebte jenseits des Meeres eine Königin«). Am Ende der 18. Aventiure wird die Formulierung teilweise wieder aufgenommen: Brünhilt diu schœne mit übermüete saz (NL 1097,1: »Die schöne Brünhild saß mit Überheblichkeit auf dem Thron.«). Brünhild hat in der Zwischenzeit keineswegs alles verloren. Sie sitzt und herrscht, und sie tut dies mit übermüete. Versteht man die Vokabel mit Jan-Dirk Müller als Ausdruck von Aggressionsbereitschaft, von überschwänglichem Bewusstsein der eigenen Kraft und von heroischem Selbstgefühl,
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dann kann man sogar behaupten, dass Brünhild noch Restbestände heroischen Charismas besitzt.17 Sie wird zwar von nun an nicht mehr erwähnt. Aus der Handlung aber verschwindet sie nicht als gebrochene Frau, sondern als souveräne Herrscherin.
3. A FFEKTIVITÄT UND G ESCHLECHT IN T HEA VON H ARBOUS N IBELUNGENBUCH UND F RITZ L ANGS S IEGFRIED In Fritz Langs und Thea von Harbous Interpretation des Stoffs hingegen überlebt Brunhild den Tod Siegfrieds nicht. Der Regisseur und die Autorin haben sich vielmehr in Anlehnung an ein bekanntes Motiv aus der altnordischen Literatur (aufgenommen in Richard Wagners Ring des Nibelungen) entschieden, Brunhild sich selbst töten zu lassen. Vorschnell könnte man diesen Suizid an der Bahre des toten heroischen Gegenspielers als Indiz dafür deuten, dass hier zum letzten Mal die beiden Charaktere in ihrer Heldenhaftigkeit miteinander parallelisiert und den höfischen Burgunden in deren ganzer Depraviertheit gegenübergestellt werden: Heldentum gegen Hofkultur, Geradlinigkeit gegen Wankelmütigkeit, Treue über den Tod hinaus gegen Verrat am treuesten Verbündeten. Ganz so glatt geht diese Rechnung allerdings nicht auf. Im Vergleich der beiden Figuren nämlich wird deutlich, wie unterschiedlich sie im Film bewertet werden und in welchem Maß diese Bewertung nicht nur eine Aussage über Stand und Herrschaftsprinzipien, sondern auch über eine spezifische Auffassung von Liebe impliziert. a) Siegfried: ein gezähmter Held Der Film verabsolutiert die Vorstellung männlichen Heldentums. Siegfrieds Auszeichnung als bester aller Männer ist nicht mehr eines von verschiedenen Souveränitätskonzepten, die jeweils unter bestimmten Bedingungen und in verschiedenen Konstellationen funktionieren oder scheitern. Er verkörpert vielmehr ein Ideal, dem grundsätzlich alles andere untergeordnet wird. Zu diesem Zweck wird zum einen die Figur Siegfrieds von jeglicher höfischen Vergangenheit befreit. Die Bezeichnung als »König Siegmunds Sohn« (NB 51) lässt zwar auf eine höfische Herkunft schließen. Erzählt wird von dieser allerdings nichts. Stattdessen führt die Romanund Drehbuchautorin das Wagnermotiv von der Schmiedelehre bei Mime ein und leitet den Helden dann über die bekannten Stationen Drachenkampf und Horterwerb nach Worms. Die Figur wird jedoch nicht nur enthöfisiert, sondern zugleich auch von allen Merkmalen des mittelalterlichen Heros in seiner durchaus ambivalenten
17 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 237.
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Exorbitanz befreit. Entfernt werden alle Aspekte von heroischem Leichtsinn, von übermüete und eigennütziger Selbstbestimmung, die im Nibelungenlied Basis und Legitimation von Siegfrieds Charisma gewesen waren, die ihn aber in den Augen moderner Zuschauer als moralisch zweifelhaft erscheinen lassen könnten. »Heldentum« bedeutet somit bei Thea von Harbou und Fritz Lang etwas anderes als im mittelalterlichen Epos. Bei diesen beiden Autoren muss sich im Nibelungenreich ein grundsätzlich friedlicher Held aus Not gegen die Hinterlist Mimes (»ebenso böse wie häßlich«, NB 38) und die Bosheit Alberichs (»[t]ückisch glühten die Augen Alberichs«, NB 46) verteidigen, statt, wie im Nibelungenlied, den Nutzen aus einem undurchsichtigen Erbstreit zu ziehen. In Worms fällt seine Provokation der dort herrschenden Könige völlig aus. Ganz im Gegenteil wird er nun durch den Vorschlag, Gunther bei der betrügerischen Brautwerbung zu helfen, zum Widerstand herausgefordert und muss erst davon überzeugt werden, es um Kriemhilds Willen doch zu tun. Diese Verhaltensweise wiederholt sich: Auch die Unterwerfung Brunhilds in der Hochzeitsnacht nimmt Siegfried nur widerstrebend und unter starkem Druck von Seiten Gunthers und Hagens vor.18 Den Armreif, mit dem Kriemhild später den Betrug der Männer an Brunhild beweisen wird, nimmt er nicht absichtlich, sondern versehentlich mit. Siegfried handelt also in den meisten Fällen nicht von sich aus, sondern reagiert auf die Handlungen anderer. Von dem Vorwurf, mutwillig zu seinem eigenen Verhängnis beigetragen zu haben, wird er im Film wie im Roman freigesprochen (»Schuldlos starb er und wußte nicht, warum«, NB 109).19 Auch als traditional legitimierter Herrscher tritt er, anders als im Nibelungenlied, weder im Roman noch im Film in Erscheinung.20 Ihn interessiert, ebenso wie Kriemhild, fast ausschließlich die Liebe. Damit ist der Siegfried der Weimarer Republik vor allem ein Liebesheld. Als solcher aber ist er nicht souverän, potent und unkontrollierbar, sondern im trivialsten Sinn sympathisch. Die politische Motivation der Burgunden, sich eines möglicherweise zu gefährlichen Verbündeten zu entledigen, verschwindet dadurch nicht völlig. Deutlicher als im Film kommt sie im Nibelungenbuch zum Ausdruck, wenn Hagen beim Hortraub zu Siegfrieds Geist spricht: »[…] Siegmundssohn, du warst mir zu gefährlich für Burgund. Und ich, der Wächter meiner Könige, muß Gefahr vernichten, wo ich sie
18 »Der [Siegfried, A.L.] wehrte sich lange; der Handel verdroß ihn. […] Scham erfüllte ihn, die zwischen Männern nicht sein darf. Ihr ein Ende zu machen, sagte er Ja.« (NB 80) 19 »Siegfried ist ethisch und körperlich eine Lichtgestalt – das Unrecht seiner Ermordung angesichts der erwiesenen Hilfeleistungen umso monströser.« Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang: Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 207f. 20 Vgl. Michael Otts Beitrag in diesem Band.
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erkenne.« (NB 117f.)21 Insgesamt aber akzentuieren die beiden Werke der Weimarer Republik die Motivation für die Ermordung des Helden anders. Sie verlagern den Schwerpunkt von Fragen nach Macht und Herrschaft auf die emotionale Verstrickung der Figuren. Die Möglichkeit dazu ist bereits im mittelalterlichen Text angelegt. Während Brünhild ausschließlich als Herrscherin auftritt – erst charismatisch und traditional, später nur noch traditional legitimiert – unterscheidet sich Siegfried von ihr unter anderem dadurch, dass er nicht nur als Herrschender, sondern auch als passioniert Liebender charakterisiert wird. Der Konflikt, der schließlich zum Untergang der Burgunden führen wird, erwächst aus der Liebe zwischen Siegfried und Kriemhild, um derentwillen Siegfried seinen Stand verleugnet und Kriemhild die burgundische Königin Brünhild tödlich beleidigt: »Beide, Siegfried wie Kriemhild, verstoßen als Liebende gegen den Ordo, stellen ihre Liebe über eine auf Geschichte und Recht gegründete Welt, an der sie scheitern werden.«22 Allerdings bleibt im Nibelungenlied die Liebesgeschichte ganz auf Siegfried und Kriemhild beschränkt. Keine andere Person kann darauf zugreifen, kein anderer Mensch daran teilhaben. Diese rechtliche und ständische Grenzen sprengende Totalität ist es, die den öffentlichen Angriff auf Brünhilds Souveränität verursacht, aufgrund derer wiederum im Verlauf der Handlung erst Siegfried und daraufhin alle anderen Protagonisten sterben müssen.23 b) Brunhild: ein freies Radikal Bei Thea von Harbou und Fritz Lang partizipieren an der Totalität der Emotionen nicht nur Siegfried und Kriemhild, sondern auch andere Figuren, allen voran Gunther und Brunhild. Bezeichnenderweise ist es nun nicht mehr die öffentliche Schmähung der Königin, die Gunther schließlich dazu bewegt, Siegfrieds Ermordung zuzustimmen. Erst die persönliche, private Kränkung, als Brunhild ihm erzählt, Siegfried habe ihr die Jungfräulichkeit genommen, führt den entscheidenden
21 Auch die Gier nach dem Hort als Geldquelle oder auch als Quelle mythischen Charismas wird thematisiert. So stellt Hagen im Film fest, dass die Burgunden Siegfrieds Schatz gut brauchen könnten, ohne dabei zu spezifizieren, wozu: »Der Glanz Burgunds ist im Verbleichen, König! Sehr not tut ihm der Nibelungenhort!« (NF I 01:25:12) 22 Haustein, Jens: »Siegfrieds Schuld«, in: ZfdA 122 (1993), S. 373-387, hier S. 383. 23 So argumentiert Hagen: daz er sich hât gerüemet der lieben vrouwen mîn. / dar umbe wil ich sterben, ez engê im an daz leben sîn. (NL 864,3f.: »Dass Siegfried sich damit gebrüstet hat, mit meiner lieben Herrin geschlafen zu haben, dafür will ich sterben, es sei denn, ihm geht es ans Leben.«)
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Sinneswandel herbei.24 Nicht der Herrscher wird hier bedroht, sondern der unsichere, eifersüchtige und überforderte Ehemann. Mehr noch als Gunther allerdings zeichnet sich Brunhild dadurch aus, dass sie von ihren Leidenschaften und Affekten beherrscht wird. Die ganze heroische Exorbitanz, die von Siegfried abgezogen wird, scheint sich in Form emotionaler Exorbitanz auf Brunhild zu verlagern – wo sie sich jedoch nur mehr als gefährliche und sogar abstoßende irrationale Verbohrtheit äußert. Wo der freundliche Siegfried mit Beständigkeit und Zuverlässigkeit seine Frau liebt und seine Freunde schätzt, hasst Brunhild grenzenlos alle, denen sie jenseits von Isenland begegnet. Wo der heroische Affekt des Mannes Harmonie schafft, zerstört der der Frau alle bestehenden Strukturen. Wie Siegfried wird auch Brunhild vereindeutigend auf ihre heroische Herkunft festgelegt. Brunhild herrscht über ein Gefolge, in dem Männer offensichtlich nicht willkommen sind. Deren Stelle nehmen die Frauen selbst ein.25 Frisur, Kleidung und Waffen lassen Brunhild den Männern ähneln, die zur Eroberung nach Isenstein gekommen sind. Die auf visueller Ebene hergestellte Androgynität der Figur lädt allerdings, anders als bei Siegfried, nicht zur Wertschätzung ein. Michael Mecklenburg zufolge wird Brunhild durchgehend »als aggressiv, schwarz und dämonisch gezeichnet«26. Ihren Willen zur offensiven Handlung drückt Brunhild im Film durch ausgreifende Gesten, durchdringende Blicke und schnelle und heftige Bewegungen aus (Abb. 1). Und auch in Thea von Harbous Nibelungenbuch wird die Dynamik ihrer körperlichen Präsenz betont, wenn es heißt:
24 Das Argument, dass »kein Mann im burgundischen Lande verstehen [werde], daß du die Ehre deines Weibes von einem Schwätzer hast begeifern lassen und hast sie nicht gerächt!« (NB 93), hatte Gunther im Nibelungenbuch kurz zuvor mit dem Hinweis auf das gegenseitige Treueversprechen nicht gelten lassen. Erst Brunhilds Beschuldigung trifft Gunther, und diese wird nur von Gunther und Hagen bezeugt, von denen wiederum Hagen weiß, dass die Königin gar nicht die Wahrheit spricht (vgl. NB 94). 25 Vgl. Seibert, Peter: »Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten. Masseninszenierungen in Fritz Langs ›Nibelungen‹«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/ Zoltán Szendi (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 187-196, hier S. 192f. 26 Mecklenburg, Michael: »Die Waffen der Frauen? Zur Konstruktion weiblicher Heldenhaftigkeit in filmischen Adaptionen des ›Nibelungenliedes‹«, in: Johannes Keller/Florian Kragl (Hg.), 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldinnen, Wien 2010, S. 93-119, hier S. 103. Im Nibelungenbuch ist, ebenso wie im Nibelungenlied, noch von Brunhilds großer Schönheit die Rede (vgl. NB 57). Im Nibelungenfilm hingegen ist sie nicht mehr gleichermaßen schön und stark, sondern nur noch »mächtig und kühn« (NF I 00:43:22).
66 | A STRID LEMBKE »Dann stieß sie das Mädchen beiseite und sprang aus der Tür. War sie jemals die Stufen zum höchsten Turm hinaufgestürmt, so war’s an diesem Tage. […] Brunhild sah sie [die Mägde, A.L.] nicht. Sie hätte sie überrannt, wären sie nicht zur Seite gewichen. Auf schmalen Stufen, geländerlos, erreichte sie springend die Plattform des Turmes, beugte sich über die Brüstung und sah.« (NB 60f.)
Indem Brunhilds Beweglichkeit und Ungestümheit auch auf ihre Kleidungsstücke übertragen werden, erscheint sie weniger als zivilisierte Dame, also als Frau, die ihre Bewegungen und den Sitz ihrer Kleidung gut unter Kontrolle hat, denn als Naturgewalt in Menschengestalt: »Sie ging, die Waffen hebend, wie eine Stürmende. Sie schritt nicht, sie sprang zum Kampfplatz hinab. Das kurze Gewand flatterte um ihre Knie. Der Helm auf ihrem Kopfe brauste. Eine Gewitterwolke war die große Kämpferin.« (NB 65) Wenn, zum Vergleich, Kriemhild ans Fenster tritt, um den angekündigten Siegfried zu sehen, dann tut sie dies im Nibelungenbuch keineswegs mit wilden Sprüngen und unter Beiseitestoßen der im Weg stehenden Dienerschaft. Im Film hält sie im ersten Teil allgemein die Arme meist nah am Körper, schreitet langsam und gesittet und hält häufig den Blick gesenkt (Abb. 2).27
Abb. 1: Gunther und Brunhild (NF I 00:55:48)
27 Kriemhild kann zwar ausdrücklich ihre Handlungen nicht kontrollieren, ihre Bewegtheit aber behält sie ganz für sich und verliert nicht die höfische Contenance: »Ich wehrte mich und zürnte meinen Füßen, die mich zum Fenster trugen. Aber dort stand ich, hinter dem Vorhang verborgen, und sah dem Eintritt Siegfrieds und seiner zwölf Recken zu. […] Ich stand hinter meinem Vorhang, der mein Zittern teilte.« (NB 51)
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Um vieles aktiver als die zahme Kriemhild, der zaudernde Gunther und der brave Siegfried, setzt Brunhild ihre Aktivität ausschließlich zum Zweck der Zerstörung ein. Schon bevor Gunthers Sieg und Siegfrieds vermeintlicher Vasallenstatus in Frage gestellt werden, weigert sie sich, ihrer eigenen Regel zu folgen und sich als Gunthers rechtmäßige Ehefrau zu betrachten. Sie ist es, nicht Kriemhild, die mit Hohn und Spott den Streit der Königinnen beginnt. Nach dessen Eskalation beschränkt sie sich nicht darauf, sich über ihre verletzte Ehre zu beklagen und alles Weitere den Vertretern der höfischen Ordnung zu überlassen, sondern ruft selbst mehrfach (»Töte Siegfried!«, NB 89, NF I 01:39:13) zur Ermordung dessen auf, der sie bezwungen hatte. Als Gunther sich weigert, ihrer Forderung nachzukommen, belügt sie ihn mit der Aussage, dass Siegfried sie in jener Hochzeitsnacht entjungfert habe und erreicht durch diese betrügerische Manipulation ihr Ziel.
Abb. 2: Siegfried und Kriemhild (NF I 00:47:43)
Epos, Roman und Film liefern unterschiedliche Erklärungen für Brunhilds Handeln in Worms. Im Nibelungenlied agiert Brünhild nach ihrer Ankunft am Hof der Burgunden vor allem in ihrer Rolle als Herrscherin, wenn sie sich daran macht, investigativ eine ihre Position bedrohende Intrige aufzudecken. Der Aspekt der Liebe oder der enttäuschten Liebe ist dabei nebensächlich.28 Im Vordergrund steht die öffentli28 »Brünhilds Verhalten von ihrer eigenen Hochzeit an bis zum Streitgespräch ist konsequent und folgerichtig; es ist an dem ausgerichtet, was sie für die Wirklichkeit halten muß. Das ist immer wieder in Abrede gestellt worden. Aber alle Versuche, Brünhilds Handeln stattdessen als Ausdruck einer möglichen Eifersucht zu deuten, als Bemühen, doch noch den Mann zu bekommen, der ihr einzig ebenbürtig ist, lesen mit Blick auf das ›Jüngere Sigurdlied‹ der ›Edda‹ in das Nibelungenlied gerade die Sagenelemente wieder
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che Kränkung der Königin. Sie wird von Hagen gerächt, um Brünhilds Ehre wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund fällt umso deutlicher ins Auge, wie sehr Thea von Harbous und Fritz Langs Brunhild nicht ihre Rehabilitation und zukünftige Machtvollkommenheit, sondern ihren eigenen Untergang vorantreibt. Welches aber könnten ihre Beweggründe dafür sein? Ein Blick auf ihren Selbstmord verspricht einige Antworten. Denn warum nimmt sich Brunhild im 20. Jahrhundert, anders als ihr mittelalterliches Pendant, nach Siegfrieds Tod überhaupt das Leben? Eine Interpretation könnte lauten: Brunhild stirbt an ihrer unerfüllten und unerfüllbaren Liebe zu Siegfried und an der Trauer um ihn. Eine andere, sicherer im Text verankerte Erklärung setzt nicht auf das aus älteren Texten bekannte Motiv der enttäuschten Liebe, sondern auf die in den modernen Werken inszenierte psychologische Disposition der weiblichen Heroengestalt als unabänderlich kompetitiv, aggressiv und destruktiv. Aus dieser Perspektive betrachtet, schafft sich Brunhild selbst aus der Welt, weil sie auch nach ihrer Ankunft in Worms ausschließlich in Kategorien der Konfrontation und des Wettkampfs denken und handeln kann. Es ist schlicht unmöglich, eine Amazone wie sie durch eine Krönung zur höfischen Herrscherin zu domestizieren und vom tödlichen Agon fernzuhalten. In dem Moment aber, in dem sie den einzigen ihr gleichrangigen Partner und damit auch Gegner zu Tode gebracht hat, läuft ihr unstillbares Bedürfnis, sich zu messen, ins Leere und macht ihre Existenz sinnlos. Dazu kommt, dass sie durch ihren Pakt mit den unzuverlässigen Burgunden zu einem Teil genau der Gruppe geworden ist, zu der sie niemals gehören wollte.29 Ihre Reaktion auf die Nachricht von Siegfrieds Tod (»Heil Dir, König Gunther! Um eines Weibes Lüge willen erschlugst Du Deinen treusten Freund!«, NF I 02:12:04) lässt vermuten, dass sie den Helden wie auch seinen königlichen Mörder gleichermaßen treffen wollte – und erfolgreich getroffen hat. Da auch Kriemhild zu diesem Zeitpunkt schon den schwerstmöglichen Schlag erlitten hat, bleibt niemand mehr übrig, gegen den die aggressive Frau ihre Gewaltbereitschaft richten kann, als gegen sich selbst. Ihr Selbstmord ist daher nur ein weiteres und abschließendes Zeichen für das ausschließlich destruktive Potential einer Frau, die Männern ebenso feindselig gegenübersteht wie Frauen, die ihre ablehnende Haltung nicht teilen. Sich als Frau dem Begehren von Männern zu ver-
hinein, die der Dichter des ›Nibelungenliedes‹ aus seinen Vorlagen herausgestrichen hat.« J. Haustein: Siegfrieds Schuld, S. 379. 29 Brunhild kann gegen Siegfried in Worms nicht so antreten, wie sie es in ihrer vormaligen Position als Herrscherin und Kriegerin gekonnt hätte. Aufgrund des Verlusts ihrer Stärke muss sie ähnlich trügerische Mittel wählen wie die Burgunden. Ihre Nähe zu dem Meuchelmörder Hagen wird von Beginn an durch Brunhilds äußerliche Ähnlichkeit mit ihm (dunkles Haar, erst Flügelhelm und Kettenhemd, dann schwarze Kleidung) sichtbar.
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weigern, ist bei Fritz Lang und Thea von Harbou kein Anzeichen von Souveränität, sondern alarmierendes Symptom eines zweifelhaften Charakters.30 Im Nibelungenlied scheitern Siegfried und Brünhild ganz bzw. vorübergehend an der Inkompatibilität von charismatischen und traditionalen Herrschaftssystemen, in denen sich höfische und heroische Männer und Frauen zugleich bewegen. Liebe ist hier nur eine von vielen Konfliktquellen. In Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Siegfried hingegen scheitert der liebende männliche Protagonist an der Charakterschwäche seiner Feinde, die lieblose Brunhild aber an sich selbst. Hier muss Siegfried sterben, weil er als liebender Mann und Held grundsätzlich zu gut ist. Aber auch Brunhild muss sterben, weil sie weder als Frau und Heldin noch als höfische Herrscherin je auf die richtige Weise geliebt hat und daher niemals gut genug war. Ihnen beiden wird nicht in erster Linie die Überkreuzung von ›Geschlecht‹ und ›Stand‹ zum Verhängnis. An die Stelle der Zugehörigkeit zu einem Stand oder, genauer gesagt, zu einem Herrschaftstypus, tritt in den beiden Werken der Weimarer Republik die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer »community of lovers«.31
4. D IE Z UKUNFTSLOSIGKEIT
HEROISCHEN
C HARISMAS
Heroisches Charisma hat bereits im mittelalterlichen Nibelungenlied immer dann keine Zukunft, wenn es auf ein traditional legitimiertes Herrschaftssystem stößt. Gegen dieses System kommen weder Siegfried noch Brünhild an. Auch Thea von Harbous Roman und Fritz Langs Stummfilm erteilen charismatischem Heldentum eine Absage und treffen damit eine politische Aussage. Aus der Emotionalisierung der Brunhildfigur in den modernen Werken zu schlussfolgern, dass in ihnen der politische Diskurs gänzlich in einen emotionalen transformiert werde, hieße die Augen davor zu verschließen, dass auch die Brunhildfigur der zwanziger Jahre eminent politisch handelt. Auch Fritz Langs Brunhild betrachtet sich selbst als Herrscherin – nur eben nicht als gegenwärtige Herrscherin, die ihr zukünftiges Leben plant, wie die mittelalterliche Brünhild, sondern als gewesene, die keine Zukunft mehr zulassen will, weder für sich selbst noch für irgendwen 30 Da Kriemhild stets aus Liebe handelt (im Film noch deutlicher als im Text), trifft der Vorwurf auf sie auch dann nicht zu, wenn sie die Distanz zu Etzel wahrt. 31 Unter der Prämisse, dass es im Film Liebesfähigkeit ist, durch die Personen sich als Herrscher qualifizieren, könnte man sich für den zweiten Teil auch Kriemhild nähern. In dieser Figur vermischen sich Liebespassion und Gefühlskälte, traditionale Legitimation, charismatische Souveränität und Geldherrschaft, Todessehnsucht und der Wunsch zu töten auf so komplexe Weise miteinander, dass eine moralische Bewertung schwerer fällt als für Siegfried und Brunhild.
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sonst. Im Nibelungenbuch spricht Brunhild während ihrer Reise nach Worms in jeder einzelnen Nacht vom kollektiven Untergang: »An den Sprunggelenken zersprang mir die Sehne. Nicht gelüstet es mich, gelähmt zu leben. Doch allein zu sterben, ist mir nicht bestimmt. Mit mir nehm‘ ich auch, die mich vernichtet, im Tode tötend, die mich getötet.« (NB 72)
So wie die Burgundenkönigin des Mittelalters zukunftsweisend handelt, handelt die der Weimarer Republik rückwärtsgewandt. Beide sind mit ihren Plänen erfolgreich: Die mittelalterliche Brünhild verschwindet zwar aus der Handlung, überlebt aber auch als eine von sehr wenigen Figuren den Untergang der Burgunden. Die moderne Brunhild hingegen überträgt mit ihrem Komplott gegen den vollkommenen Helden ihre gesamte destruktive Energie auf Kriemhild und wirkt damit über ihren eigenen Tod hinaus zerstörerisch.32 Emblematisch dafür, dass Kriemhild die Eigenschaften und Ziele Brunhilds gleichsam inkorporiert, indem sie sich ihre maßlose Wertschätzung der Vergangenheit und die Verneinung alles Zukünftigen zueigen macht, ist die Szene an der Bahre des toten Siegfried. Dort sind in perfekter Symmetrie zu Füßen des Helden die schwarz gekleidete Brunhild und am Kopfende die weiß gekleidete Kriemhild positioniert (Abb. 3). Von nun an wird es Kriemhild sein, die schwarze Kleidung trägt, auf Rache sinnt, sich zu einer charismatischen Führerfigur entwickelt und an Brunhilds Stelle all diejenigen töten wird, die zuvor ihrem glückerfüllten Leben ein Ende bereitet haben.33
32 Durch Brunhilds Beschwörung der kollektiven Katastrophe wird hier eine Parallele zum späteren Handeln Kriemhilds hergestellt. Kriemhild wird aus dieser Perspektive zu Brunhilds Handlangerin, indem sie deren Vorhaben zu Ende führt. Darauf, dass Kriemhild zunehmend Brunhilds Rolle einnimmt, verweist der Umstand, dass sie der toten Heroin äußerlich, durch schwarze Kleidung und ausgreifende Gesten, immer ähnlicher wird. 33 Kriemhild spricht explizit davon, mit Siegfrieds Ermordung selbst das Leben verloren zu haben: »Doppelmord war dies, an Siegfried und an mir: Seit die Tat geschehen, denk ich nur diesen Gedanken.« (NB 110)
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Abb. 3: Kriemhild und Brunhild an Siegfrieds Bahre (NF I 02:22:39)
Verzichtet man darauf, Nibelungenroman und Nibelungenfilm als befürwortende Vorwegnahmen von Heroenverehrung und Führerkult in Adolf Hitlers »Drittem Reich« zu betrachten, dann werden Perspektiven auf das Phänomen heroischen Charismas in der Weimarer Republik erkennbar, die kaum als faschistisch oder präfaschistisch zu bezeichnen sind.34 In den beiden Werken von 1923 bzw. 1924 werden zwei Modelle heroischen Charismas präsentiert: ein vergangenes, glorifiziertes, das sich in Siegfried verkörpert, gegenüber einem aktuellen, problematischen, das Brunhild repräsentiert. Der männliche charismatische Held will nichts als die harmonische Gegenwart. Er lebt für ein Jetzt, das von aufrichtiger Liebe, ritterlicher Bewährung und zuverlässiger Freundschaft erfüllt ist. Wie Film und Roman jedoch zeigen, ist das Ideal eines ritterlich-charismatischen Lebens für die Gegenwart in der Gegenwart selbst nicht zu verwirklichen. Siegfrieds Lebensraum ist nicht der Hof zu Worms in der narrativen Jetztzeit, sondern eine Welt, die in der heroischen Vergangenheit liegt und bereits zum Gegenstand von Erzählungen geworden ist (Abb. 4). Nur in Volkers Gesang von Siegfrieds Taten im Wald kann für kurze Zeit ein Heldenbild auferstehen, dessen Schlichtheit, Schönheit und Unwiderstehlichkeit so sehr einer 34 Klaus von See zufolge solle man »Langs Nibelungenfilm, anstatt ihn sogleich auf seine ›präfaschistischen‹ Züge hin zu [sic!] abzuklopfen, zunächst einmal als ein repräsentatives Dokument des politisch-kulturellen Klimas der frühen Weimarer Republik verstehen«. See, Klaus von: »›Dem deutschen Volke zu Eigen‹. Fritz Langs Nibelungenfilm von 1924«, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 115-132, hier S. 120.
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sehnsuchtsvoll romantisierten Vergangenheit angehören, dass seine reale Ankunft in der Gegenwart notgedrungen den Auftakt zu seiner Zerstörung bilden muss. Brunhilds und später Kriemhilds Charisma hingegen existiert ganz in der Gegenwart. Diese beiden Figuren aber begehren nicht das, was ihre eigene Zeit ihnen zu bieten hat oder was die Zukunft ihnen bieten könnte, sondern lediglich das, was sie in der Vergangenheit verloren haben – sei es souveräne Herrschaft oder vollkommene Liebe. Diese Sehnsucht nach dem, was schon lange verloren ist, erweist sich als ansteckend. Zuerst wird sie von Brunhild auf Kriemhild übertragen, die anstelle ihres lebendigen Kindes lieber die mit Siegfrieds Blut getränkte Erde liebkost. In Etzels brennender Halle springt sie schließlich auch auf alle anderen Burgunden über und ist spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr an ein Geschlecht oder einen Stand gebunden. Der Terror, den ein totalitäres Charisma produziert, wirkt sowohl kontagiös als auch entdifferenzierend.35 Volker besingt in Etzels Halle einen Ort, der einst ein Leben in Geborgenheit gewährte, zu dem aber weder Kriemhild noch ihre Brüder jemals zurückkehren werden: »Fern liegt eine Burg, Worms ist sie geheißen. Grün umrauscht sie der Rhein. Aufstrahlen im Licht ihre Türme. Als wir rückwärts blickten, da wir von dannen zogen, strahlten die heiligen Türme uns den Abschiedsgruß.« (NB 258) Dieser »Blick zurück« ist jedoch kein bloß nostalgischer, der in der sehnsüchtigen Betrachtung verharrt, wie es in Volkers erstem Gesang zu Beginn von Nibelungenbuch und Siegfried geschieht. In Volkers letztem Singen über das, was verloren ist, verwandelt sich vielmehr die Erinnerung an den Verlust in eine Lust an der Zerstörung: »Herr Volker sang. Das war, als sängen das Feuer und die Vernichtung. Süß und gewaltig war das Lied des Feuers und der Vernichtung.« (NB 260) Folgerichtig wird dieser Gesang schließlich gewalttätig und abrupt zum Verstummen gebracht (Abb. 4 und 5). Sein hunnisches und burgundisches Publikum folgt dem Sänger kurz darauf in den Tod.36 Fritz Langs Stummfilm und Thea von Harbous Roman inszenieren die Verabschiedung charismatischer Herrschaft und charismatischen Heldentums. Von einem vorbildhaften und sympathischen Heros wie Siegfried kann man lediglich erzählen. Einen Ort in der gelebten Gegenwart aber hat er in seiner ganzen Idealität nicht. Ein 35 Zum Zusammenhang von charismatischer Herrschaft und Terror vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 32012, S. 272ff. 36 Der Stummfilm ist in seiner Verneinung einer ästhetisch-kulturellen Produktivität der kollektiven Katastrophe radikaler als der Roman. Bei Thea von Harbou wird schließlich gerade das Massaker zum Ausgangspunkt für zukünftiges Erzählen, wenn am Ende der namenlose Diener Kriemhilds das Instrument des toten Volker an sich nimmt, damit fortgeht und überall von dem Gemetzel in der brennenden Halle erzählt (vgl. NB 268). Bei Fritz Lang hingegen steht im Vordergrund der Inszenierung die Aussage, dass mit dem Blutbad nicht nur die Handlung, sondern auch jegliches Erzählen davon ein Ende findet.
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heldenhaftes Charisma hingegen, das nur in seinen rückwärtsgewandten und damit destruktiven Wirkungen zum Vorschein kommt, ist aus der Perspektive dieser beiden Werke der Weimarer Republik demgegenüber nicht anachronistisch, sondern sogar allzu zeitgemäß. Es will und hat selbst keine Zukunft. Und es bedroht die Zukunft all derer, die von ihm nicht lassen können.
Abb. 4: Volker besingt den Untergang (NF II 01:54:24)
Abb. 5: Volkers Tod (NF II 01:57:58)
Hegemoniale Männlichkeit? Herrschergestalten in Fritz Langs Film Die Nibelungen P ETER S OMOGYI
In patriarchalen Gesellschaften präsentiert sich die Verbindung von Macht und Männlichkeit als unmarkierte Norm. Georg Simmel schrieb bereits im Jahr 1911, dass »sich die männlichen Wesensäußerungen für uns leicht in die Sphäre einer überspezifischen, neutralen Sachlichkeit und Gültigkeit«1 erheben. Laut Pierre Bourdieu bedarf Machtausübung durch Männer keiner Rechtfertigung, denn die »soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet«2. Die Geschlechterforschung unterzieht diese Norm und die daraus abgeleiteten Privilegien einer kritischen Analyse. Zum Leitprinzip der kritischen Männlichkeitsforschung avancierte das Konzept hegemonialer Männlichkeit der Soziologin Raewyn Connell, die mit ihrer pluralistischen Sichtweise den Universalbegriff Männlichkeit dekonstruiert.3 Der folgende Beitrag analysiert Fritz Langs Stummfilmklassiker Die Nibelungen unter dem Gesichtspunkt der hegemonialen Männlichkeit.4 Die These lautet, dass in Langs Film hegemoniale Männlichkeit als umkämpfte Position inszeniert wird, die nur temporär verkörpert werden kann. Dieser Sachverhalt soll anhand der Königsfi1
Simmel, Georg: »Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem«, in: ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, hg. und eingeleitet von Heinz-Jürgen Dahme/Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1985, S. 200-223, hier S. 201.
2
Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 21.
3
Vgl. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, hg. und mit einem Geleitwort versehen von Ursula Müller, Wiesbaden 32006.
4
Zitierte Ausgabe: Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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guren Siegfried, Gunther und Etzel demonstriert werden. Während Siegfried das Prinzip hegemonialer Männlichkeit vorläufig zu verkörpern vermag, verfehlen Gunther und Etzel die an sie gerichtete Erwartung, einen hegemonialen Status einzunehmen und über große Handlungsmacht zu verfügen. Hegemoniale Männlichkeit gibt sich als phantasmatisches Konstrukt zu erkennen, das innerhalb der eigenen Logik angezweifelt und zerstört wird. Im ersten Schritt skizziere ich die gendertheoretischen und diskursgeschichtlichen Voraussetzungen. Zum einen verbinde ich Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit mit Katharina Walgenbachs Überlegungen zu Gender als interdependenter Kategorie, zum anderen skizziere ich einige Männlichkeitsdiskurse der Weimarer Republik. Sodann analysiere ich anhand von Siegfrieds Heldenweg, wie der Nibelungenfilm hegemoniale Männlichkeit gemäß den Regeln des Heterosexualitätsgebots konstruiert. Schließlich zeige ich am Beispiel der Herrscherfiguren Gunther und Etzel, dass es sich bei hegemonialer Männlichkeit um ein phantasmatisches Ideal handelt, das zu verwirklichen letztlich unmöglich ist.
1. M ÄNNER –
DAS
G ESCHLECHT ,
DAS NICHT EINS IST
a) Männlichkeitsforschung und Intersektionalität Die Intersektionalitätsforschung fokussiert Wechselbeziehungen von sozial konstruierten Ungleichheitskategorien und fragt, wie die Verflechtung von Kategorien wie ›class‹, ›gender‹ und ›race‹ gesellschaftliche Differenzierungen erzeugt. Im Folgenden stütze ich mich auf Katharina Walgenbachs Ansatz, ›gender‹ als interdependente Kategorie zu verstehen.5 Walgenbach stellt jegliche Essentialisierung von Kategorien in Frage. Zudem schlägt sie vor, den Begriff der Macht durch denjenigen der Dominanz zu ersetzen, um seinen performativen Charakter zu verdeutlichen. Dominanz wird in sozialen Kämpfen ausgefochten und somit durch soziale Praxen ausgehandelt.6 Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit kann dazu dienen, Walgenbachs Modell weiter zu differenzieren.7 Connell geht es um die Analyse verschiedener Ausprägungen von Männlichkeit, insbesondere um »Bünd-
5
Vgl. Walgenbach, Katharina: »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgenbach et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, 2. Durchges. Aufl., Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 23-64.
6
Vgl. ebd., S. 56.
7
Vgl. Michael Tunç, Michael: Männlichkeitsforschung und Intersektionalität, 2012, URL: www.portal-intersektionalität.de [16.10.2012].
H EGEMONIALE M ÄNNLICHKEIT ?
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nisse, Dominanz und Unterordnung«8. Dieses Hierarchieverhältnis orientiert sich an Unterschiedsmerkmalen, die Connell in ethnischen und klassenbedingten Differenzen lokalisiert. So können »auch in ein und derselben kulturellen Situation verschiedene Männlichkeiten entstehen«9. Aufgrund der Interdependenz der Kategorie ›gender‹ lässt sich eine Vielzahl verschiedener Männlichkeiten ausmachen. Connell erläutert: »At a society-wide level [...], there is a circulation of models of admired masculine conduct, which may be exalted by churches, narrated by mass media, or celebrated by the state.«10 Bestimmte sozial konstruierte Männlichkeitsmuster werden performativ auf einer makro- und einer mesopolitischen Ebene institutionalisiert. Wie Judith Butler nimmt Connell eine sozialkonstruktivistische Perspektive ein. Jenseits eines binären Geschlechtersystems, wie es vor allem in westlichen Gesellschaften begegnet, existiere Männlichkeit nicht. Connell führt aus: »There must be, at first, a really thorough rejection of the notion that natural difference is a ›basis‹ of gender, that the social patterns are somehow an elaboration of natural difference.«11 Connell unterscheidet vier Typen von Männlichkeit: den hegemonialen, den untergeordneten, den komplizenhaften und den marginalisierten Typus. Hegemoniale Männlichkeit versteht sie als »jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis […], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet oder gewährleisten soll«12. Hegemoniale Männlichkeit könne nur von wenigen verkörpert werden, sei aber dennoch normativ: »hegemonic masculinity was not assumed to be normal in the statistical sense; only a minority of men might enact it. But it was certainly normative. It embodied the currently most honored way of being a man, it required all other men to position themselves in relation to it, and it ideologically legitimated the global subordination of women to men.«13 8
R. Connell: Der gemachte Mann, S. 56.
9
Ebd.
10 Connell, Raewyn/Messerschmidt, James W.: »Hegemonic masculinity. Rethinking the concept«, in: Gender & Society 19 (2005), S. 829-859, hier S. 838. 11 Connell, Reawyn [Robert]: »Theorising gender«, in: Sociology 19 (1985), S. 260-272, hier S. 268. Weiter erläutert Connell, dass »[t]he social is radically un-natural, and its structure can never be deduced from natural structures« (ebd., S. 269). Vgl. auch R. Connell: Der gemachte Mann, S. 91; vgl. ebenso Hagemann-White, Carol: »Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren...«, in: Hagemann-White, Carol/Rerrich, Maria S. (Hg.), FrauenMännerBilder. Männer und Männlichkeit in der feministischen Diskussion, Bielefeld 1988, S. 224-235, hier bes. S. 230f. 12 R. Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 13 R. Connell/J.W. Messerschmidt: Hegemonic masculinity, S. 832.
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Dies heiße nicht, dass die Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit zugleich die gesellschaftlich mächtigsten Männer seien. Hegemoniale Männlichkeit könne ebenso durch Filmschauspieler und Fantasiegestalten wie etwa Filmfiguren dargestellt und legitimiert werden. Hegemonie entstehe dann, wenn es zwischen dem kulturellen Ideal und der institutionellen Macht eine Entsprechung gebe. In diesem Fall verkörpere der favorisierte Männlichkeitstypus eine »derzeit akzeptierte« Strategie.14 Indem sich das Ideal in legitimierten Fantasien manifestiere, könnten diverse hegemoniale Muster lokal lanciert werden. Sie zeichneten sich durch Familienähnlichkeit aus, auch wenn sie sich in ihrer Ausgestaltung beträchtlich voneinander unterschieden.15 Hegemoniale Männlichkeit sei kein monolithisch-statisches Konzept, sondern historisch wandelbar und aufgrund der »Krisenanfälligkeit der Machtgefüge«16 jederzeit labil. Gleichwohl gilt nach Mike Donaldson: »Fragile it may be, but it constructs the most dangerous things we live with.«17 Gefährlich sei diese Norm deswegen, weil sie auf Zwangsheterosexualität und Homophobie beruhe. Doch betont Connell, dass Hegemonialität und Gewalt nicht gleichzusetzen seien.18 Hegemoniale Männlichkeit werde in sozialen Kämpfen reproduziert.19 Gewalt werde zwar angewendet, wenn sich Hegemonialität bedroht sehe, doch dürfe sie die rechtlichen Grenzen nicht überschreiten, da sie sonst Gefahr laufe, ihren hegemonialen Status einzubüßen.20 Unter untergeordneter Männlichkeiten versteht Connell solche, die von der heterosexuellen Norm abweichen, insbesondere homosexuelle Männlichkeit. Daher werden untergeordnete Männlichkeiten in einem hierarchisch gedachten Intragender-Verhältnis anhand der Kategorie ›sexuality‹ positioniert. Auffällig ist, dass untergeordnete Männlichkeit in der Weise herabgesetzt wird, dass sie Vorstellungen von Weiblichkeit angenähert wird.21 Marginalisierte Männlichkeiten stehen nach Connell mit Kategorien wie ›class‹ und ›race‹ in Verbindung. Die weiße Hautfarbe gelte als dominante Norm wie auch der Besitz ökonomischen und symbolischen Kapitals. Marginalisierung verhalte sich relativ zur Selbstermächtigung einer domi14 Vgl. R. Connell: Der gemachte Mann, S. 97. 15 Vgl. R. Connell/J.W. Messerschmidt: Hegemonic masculinity, S. 851f. 16 R. Connell: Der gemachte Mann, S. 112. 17 Donaldson, Mike: »What is hegemonic masculinity?«, in: Theory & Society 22 (1993), S. 643-657, hier S. 646. 18 R. Connell/J.W. Messerschmidt: Hegemonic masculinity, S. 832: »[h]egemony did not mean violence, although it could be supported by force«. 19 Vgl. Scholz, Sylka: »›Hegemoniale Männlichkeit‹ – ein innovatives Konzept oder Leerformel?«, in: Hella Hertzfeldt/Katrin Schäfgen/Silke Veth (Hg.), GeschlechterVerhältnisse. Analysen aus Wissenschaft, Politik und Praxis, Berlin 2004, S. 33-45, hier S. 36. 20 Vgl. R. Connell: Der gemachte Mann, S. 56f. 21 Vgl. ebd., S. 99f.
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nanten Gruppe, es handle sich also nicht um feste Charaktertypen, sondern um Handlungsmuster, die auf hegemoniale Männlichkeit bezogen seien.22 Komplizenhafte Männlichkeit wird Connell zufolge von Männern verkörpert, die den normativen Anspruch hegemonialer Männlichkeit nicht vollständig umsetzen oder praktizieren, jedoch an der »patriarchalen Dividende«23 teilhaben. Wenn im Plural von Männlichkeiten die Rede ist, wird deutlich, dass Männlichkeit ein Geschlecht ist, das nicht eins ist.24 Connells Pluralisierung von Männlichkeit verhindert, wieder hinter »den historischen Mythos eines mehr oder weniger einförmigen Patriarchats«25 zurückzufallen und, in einer Formulierung Judith Butlers, »den Feind in einer einzigen Gestalt zu identifizieren«26. Connells Konzept erweist sich als produktiv für die kritische Analyse gegebener Machtrelationen.27 Ihre Macht- und Herrschaftstheorie hat Eingang in die Intersektionalitätsdebatte gefunden.28 Indem Connell rassisierende und klassifizierende Logiken offenlegt, die in von Männern
22 Vgl ebd., S. 101f. 23 Ebd., S. 100f. 24 Zur pointierten Umwandlung von Luce Irigarays berühmten Diktum über das weibliche Geschlecht vgl. Erhart, Walter: »Männlichkeitsforschung und das neue Unbehagen der Gender Studies«, in: Sabine Lucia Müller/Sabine Schülting (Hg.), GeschlechterRevisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften, Königstein/Taunus 2006, S. 77-100, hier S. 84. 25 Ebd., S. 85. 26 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 33. 27 Vgl. Hearn, Jeff: »From Hegemonic Masculinity to Hegemony of Men«, in: Feminist Theory 5 (2004), S. 49-72, hier S. 51f.; vgl. Meuser, Michael: »Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ›doing masculinity‹«, in: Gabi Löschper/Gerlinda Smaus (Hg.), Das Patriarchat und die Kriminologie, Weinheim 1999, S. 49-65, hier S. 54. 28 Vgl. Bereswill, Mechthild/Neuber, Anke: »Marginalisierte Männlichkeit, Prekarisierung und die Ordnung der Geschlechter«, in: Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 85-104; Hearn, Jeff: »Vernachlässigte Intersektionalitäten in der Männerforschung: Alter(n), Virtualität, Transnationalität«, in: Lutz/Herrera Vivar/Supik, Fokus Intersektionalität (2010), S. 105-123; Tunç, Michael: Männlichkeitsforschung und Intersektionalität; Seeliger, Martin: »›We like to close the bar at four in the morning and be at the office a few hours later.‹ Eine Analyse des Business PunkMagazins unter Aspekten hegemonialer Männlichkeit«, in: Katharina Knüttel/Martin Seeliger (Hg.), Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen, Bielefeld 2011, S. 83-104.
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dominierten Gruppen wirksam werden, macht sie diejenigen Privilegien sichtbar, die im Zusammenhang intersektionaler Unsichtbarkeit unmarkiert bleiben.29 Connells Konzept ist vielfach kritisiert und erweitert worden. Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit gilt in der Forschung vielfach als terminologisch unterdeterminiert30 und mehrdeutig.31 Mike Donaldson stellt in Frage, dass hegemoniale Männlichkeit verkörpert werden könne. Naturalisierungen von hegemonialer Männlichkeit findet er vor allem in Filmen, Büchern oder in der Sportberichterstattung. Michael Meuser schlägt vor, nicht nach Verkörperungen hegemonialer Männlichkeit zu suchen, sondern danach zu fragen, wie das Konzept als generatives Prinzip zur Konstruktion von Männlichkeiten funktioniere. Damit verleiht er Connells Feststellung, dass hegemoniale Männlichkeit als Handlungsmuster zu begreifen sei, besonderes Gewicht.32 Jeff Hearn verlagert in Anlehnung an Donaldson die terminologische Grenzziehung dahingehend, dass er komplizenhafte Männlichkeiten als Formen hegemonialer Männlichkeit bestimmt.33 Wenn Connell und Donaldson betonen, dass hegemoniale Männlichkeit mit Hilfe von Filmschauspielern und Filmfiguren etabliert werde, dann liegt es nahe, die Konstruktion und Aufführung hegemonialer Männlichkeit im Medium des Films zu untersuchen. Fritz Langs Film Die Nibelungen ist hierfür ein geeigneter Untersuchungsgegenstand, da er zeigt, wie die erfolgreiche Performanz von Hegemonialität immer wieder versucht, aber auch immer wieder vereitelt wird. Über den Begriff der sozialen Praxis, den Connell und Walgenbach verwenden, lässt sich ein interpretatorischer Zugang für eine intersektionelle Analyse des Films definieren. Hilfreich ist ferner das von Candace West und Don H. Zimmerman formulierte Konzept des »doing gender«. Sie argumentieren, dass ›gender‹ nicht einfach einen Aspekt von dem darstelle, was eine Person
29 Vgl. zum Konzept der »intersektionalen Unsichtbarkeit« Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectional Invisibility‹: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung«, in: Lutz/Herrera Vivar/Supik, Fokus Intersektionalität (2010), S. 225-243. 30 Vgl. bspw. Meuser, Michael: »Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der Men‘s Studies«, in: Brigitte Aulenbacher et. al. (Hg.), FrauenMännerGeschlechterforschung. State of Art, Münster 2009, S. 160-174, hier S. 160; J. Hearn: Hegemonic Masculinity, S. 58; S. Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 34; Dinges, Martin: »›Hegemoniale Männlichkeit‹ – Ein Konzept auf dem Prüfstand«, in: Ders. (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 7-33; Tunç, Michael: Männlichkeitsforschung und Intersektionalität. 31 Vgl. S. Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 42. 32 Vgl. M. Meuser: Hegemoniale Männlichkeit, S. 161. 33 Vgl. J. Hearn: Hegemonic Masculinity, S. 61.
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ist, sondern vielmehr das bezeichnet, was eine Person tut.34 »Doing gender« verstehen sie als »doing masculinity« und »doing femininity«, d.h. als Aufführung von Geschlecht. Nach Meuser zeigt sich im Prozess des »doing masculinity« eine Distinktions- und Dominanzlogik35, welche sowohl die heterosoziale als auch die homosoziale Dimension umfasse.36 Dieser Dominanzlogik sei zumeist ›agency‹ als maßgeblicher Einflussfaktor subsumiert, sodass »doing masculinity« und ›agency‹ einander wechselseitig bedingen. Für die Analyse eines Stummfilms ist dieser Aspekt wichtig, da sich Geschlecht hier zuallererst über Theatralität und den Einsatz des Körpers zu erkennen gibt. b) Männlichkeitsdiskurse der Weimarer Republik Die 1920er Jahre, in denen Fritz Langs Film entstand, waren von einem bestimmten Männlichkeitsbild bestimmt. George L. Mosse hat es als Stereotyp der modernen Männlichkeit bezeichnet. Dieses verfestigte sich seit der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch medizinische, pädagogische und staatspolitische Diskurse.37 In dieser Zeit wurde auch der vormoderne Sodomiediskurs in den modernen Homosexualitätsdiskurs transformiert.38 Homosexualität wurde als pathologisches Phänomen konstruiert und der Homosexuelle als Angehöriger einer ›Spezies‹ betrachtet.39 Mosse zufolge wurde der homosexuelle Mann zum Antitypus des 34 Vgl. West, Candace/Zimmerman, Don H.: »Doing gender«, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151, hier S. 140. Kritisch zum fortgeführten Konzept des »doing difference« von Sarah Fenstermaker und Candace West vgl. K. Walgenbach: Gender als interdependete Kategorie, S. 49-52. 35 Vgl. M. Meuser: Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und doing masculinity, S. 57f. 36 Vgl. zum Begriff der Homosozialität den noch immer instruktiven Artikel von LipmanBlumen, Jean: »Toward a Homosocial Theory of Sex Roles: An Explanation of the Sex Segregation of Social Institutions«, in: Signs 1 (1974), S. 15-31. 37 Vgl. Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt am Main 1997, S. 12. 38 Vgl. dazu Halperin, David M.: »Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt am Main 2003, S. 171-220; vgl. ebenso Kraß, Andreas: »Sprechen von der stummen Sünde. Das Dispositiv der Sodomie in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts (Berthold von Regensburg/Der Stricker)«, in: Lev Morchedai Thoma/Sven Limbeck (Hg.), »Die sünde, der sich der tiuvel schämet in der helle«. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Ostfildern 2009, S. 123-136. 39 Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, in: Ders.: Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth/Martin Saar, Frankfurt am Main 2008, S. 1021-1151, hier S. 1061.
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Ideals hegemonialer Männlichkeit. Die spezifischen Merkmale des Homosexuellen, die man in verschiedenen Diskursen über Moral und Ethik konstruierte, wurden auch auf andere gesellschaftliche Außenseiter übertragen. Mosses sogenannte Antitypen bilden ein Äquivalent zu Connells untergeordneten Männlichkeiten. Mosse sieht das hegemoniale Männlichkeitsstereotyp der Moderne in der Führungselite personifiziert40, insofern überschneiden sich seine Thesen mit denen Connells. Das moderne Männlichkeitsideal basiert laut Mosse auf einer binären Geschlechtertrennung und fungiert als Emblem für Staatlichkeit und gesellschaftliche Vitalität41: Es bemisst den Menschen an einem schönen, gesunden Männerkörper und deklariert alle Abweichungen als anormal und deviant. Die Zeit, in der Langs Film entstand, war zugleich von Männerbünden geprägt. Jürgen Reulecke identifiziert die Jahre zwischen 1917 und 1922 als zweite große Phase der Männerbünde.42 Hans Blüher, ein Vertreter der antirepublikanischen Rechten, konzipierte eine auf den männlichen Eros fokussierte, antifeministische Form der Geselligkeit. Er interpretierte die Wandervogel-Jugendbewegung als dezidiert homosoziales Phänomen, das auf erotischen und libidinös besetzten Impulsen basiert.43 Die Männerbünde funktionierten zum Teil nach ähnlichen Mechanismen hegemonialer Männlichkeit, wie Connell sie bestimmt, nämlich durch die Exklusion von und Dominanz über Frauen und untergeordnete Männer.44 Mit Blüher wurde der Männerbund zum Gegenstand der politischen Debatte,45 da er auch den Staat männerbündisch deutete. Nach Blüher waren lediglich die virilsten Män40 Vgl. G.L. Mosse: Das Bild des Mannes, S. 25. 41 Vgl. ebd., S. 171. 42 Reulecke, Jürgen: »Das Jahr 1902 und die Ursprünge der Männerbund-Ideologie in Deutschland«, in: Gisela Völger/Karin von Welck (Hg.), Männerbande. Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Mit einem einführenden Essay von René König, Band 1, Köln 1990, S. 3-10, hier S. 6. Vgl. zu Blüher auch den Artikel in Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hg.), Mann für Mann. Biographisches Lexikon, Frankfurt am Main 2001, S. 127-129. 43 Vgl. dazu Schoeps, Julius H.: »Sexualität, Erotik und Männerbund. Hans Blüher und die deutsche Jugendbewegung«, in: Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps (Hg.), Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988, S. 137-154, hier bes. S. 138-141; vgl. ebenso Bruns, Claudia: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln/Weimar/Wien 2008, bes. Kap. VII, S. 267-330. 44 Vgl. dazu Sombart, Nicolaus: »Männerbund und Politische Kultur in Deutschland«, in: Knoll/Schoeps, Typisch deutsch (1988), S. 155-176, hier bes. S. 176. 45 Vgl. See, Klaus von: »Politische Männerbund-Ideologie von der wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus«, in: Völger/von Welck, Männerbande (1990), Band 1, S. 93102, hier bes. S. 94.
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ner in der Lage, Gemeinschaften von staatstragender Bedeutung zu bilden. Von mann-männlichen erotischen Bindungen zusammengehalten, gruppierten sich diese Gemeinschaften nach Blühers Auffassung um einen ›Männerhelden‹ und grenzten sich durch einen rigiden Wertekodex mit den zentralen Positionen Ehre, Treue und Gefolgschaft nach außen ab.46 Männer, die man als weiblich betrachtete, wurden sozial disqualifiziert, und Frauen wurde als angeblich ungeistigen und unschöpferischen Wesen die Fähigkeit zur Staatsräson abgesprochen.47 Blüher unterstellte dem effeminierten Mann im Kontrast zum ›supervirilen Männerhelden‹ Degeneration und Kulturlosigkeit.48 Dieser Annahme widersetzten sich nicht nur linksliberale Gruppen, sondern auch die vom neuen Bild der knabenhaften, androgynen Frau inspirierte Frauenrechtsbewegung, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges formierte.49
2. H ERRSCHERBILDER
UND
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a) Siegfried: Verkörperte Hegemonie Inwiefern werden in Langs filmischer Bearbeitung des Nibelungenstoffs Stereotype hegemonialer Männlichkeit konstruiert oder dekonstruiert? Siegfrieds Weg aus der archaischen Welt der Nibelungen in die kultivierte Welt der Burgunden reproduziert das Muster hegemonialer Männlichkeit. Der Film setzt in den ersten Szenen eine markante Differenz zwischen dem strahlenden Siegfried und den behaarten, übergewichtigen, vergleichsweise dunkelhäutigen Nibelungen. Lang zeigt die Heldenfigur aufrecht stehend, während die Waldbewohner gekrümmt sitzen. Der halbnackte, in Felle gehüllte Körper des Schauspielers Paul Richter fungiert als Signifikant für jene Attribute, die Anton Kaes unter dem Begriff der »Weimarer Körperkultur« subsumiert. Diese konstituiert sich anhand von Merkmalen, die dem von Mosse beschriebenen Stereotyp hegemonialer Männlichkeit entsprechen: Schönheit, Stärke und Gestähltheit.50 Einer der Nibelungen berichtet von der burgundi-
46 Vgl. N. Sombart: Männerbund und Politische Kultur, S. 159. 47 Vgl. Blüher, Hans: Der bürgerliche und der geistige Antifeminismus, Berlin 21918, S. 6f. 48 Vgl. C. Bruns: Politik des Eros, S. 304f. 49 Vgl. Kessemeier, Gesa: Sportlich, sachlich, männlich – das Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Dortmund 2000. 50 Vgl. Kaes, Anton: »Siegfried – A German Filmstar Performing the Nation in Lang’s Nibelungen Film«, in: Tim Bergfelder (Hg.), The German Cinema Book, London 2002, S. 63-70, hier S. 66f.
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schen Königstochter Kriemhild, sein filmisch umgesetzter Bericht endet mit einer Nahaufnahme der sich züchtig bekreuzigenden Kriemhild. Die Erzählung ruft Siegfrieds heterosexuelles Begehren hervor, was durch die eingeblendete Texttafel »Ich will ausziehen, Kriemhild zu gewinnen!« (NF I 00:12:29) und Siegfrieds in Siegespose ausgebreitete Arme ersichtlich wird. Das zur Schau gestellte heterosexuelle Begehren schützt den halbnackten Jüngling vor jeglichem Homosexualitätsverdacht. Daher kann er später bei seinem Bad im Drachenblut gänzlich unbekleidet gezeigt werden. Der Ansicht Susan Power Brattons, die Badeszene sei erotisch aufgeladen51, kann man mit Mosse entgegensetzen, dass Nacktheit um 1920 nur dann als erotisch und somit anstößig empfunden wurde, wenn man sie nicht in »unverdorbener natürlicher Umgebung antraf«52. Langs Film wendet somit eine Doppelstrategie an, wenn er nicht nur den männlichen Körper des Helden, sondern auch seine Heterosexualität als Norm naturalisiert. Als Siegfried seine Absicht erklärt, dass er Kriemhild erlangen wolle, wird er von den Nibelungen verlacht. Dies impliziert eine Herabwürdigung des Verlachten.53 Siegfrieds Siegespose, eine Behauptung heterosexueller Männlichkeit, wird von den lachenden Nibelungen in Frage gestellt (Abb. 1). Bereits in der frühen Szene, die Siegfried in der Schmiede zeigt, wird dieser als Repräsentant des hegemonialen Typus exponiert und als weißer, aufrechter, muskulöser Mann mit körperlichem Kapital und daraus resultierender ›ability‹ ausgestattet. Lang versetzt die Siegfriedfigur durch lichtdramaturgische Mittel sowie einen »heldischen Bewegungsstil«54 – ein Element des »doing masculinity« – in eine Superioritätsposition, während die Nibelungen als Vertreter des entsprechenden Antitypus erscheinen. Durch die Anwendung von Gewalt – er ringt einen Beleidiger nieder – wird Siegfried als Verkörperung hegemonialer Männlichkeit reinstalliert. 51 Vgl. Bratton, Susan Power: »From iron age myth to idealized national landscape: Human nature relationships and environmental racism in Fritz Lang’s Die Nibelungen«, in: Worldviews 4 (2000), S. 195-212, hier. S. 202. 52 G. L. Mosse: Das Bild des Mannes, S. 130. Vgl. dazu den 1925 erschienen Erziehungsfilm Wege zur Kraft und Schönheit von Wilhelm Prager. Der Film zeigt nicht nur körperliche Ertüchtigung, sondern positioniert seine Modelle nackt in ›unverdorbener‹ Natur. Vgl. weiterführend zu dem Thema Fischer, Ludwig: »Perspektive und Rahmung. Zur Geschichte einer Konstruktion von ›Natur‹«, in: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, Band 1: Mediengeschichte des Films, München 1996, S. 69-96. 53 Vgl. dazu die knappen Erwähnungen über das Gruppenlachen bei Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Hamburg 2011, S. 16f. 54 Schöne, Albrecht: »Siegfried. Zu Fritz Langs Film ›Die Nibelungen, Teil I‹«, in: ders.: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, München 2005, S. 178-186, hier S. 183.
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Der Weg zu Kriemhild führt ihn durch eine zivilisationsfreie Vorzeitwelt, deren Inszenierung Gemälde von Caspar David Friedrich und Arnold Böcklin zitiert.55 Das Nibelungenland erweist sich somit keineswegs als natürlich, sondern als Reflex menschlichen Kunstschaffens. Der vom Weimarer Körperkult gesättigte Körper des Helden wird in eine national-romantisch konzipierte Natürlichkeit eingelassen.56 So entsteht eine semantische Symbiose von Figur und Hintergrund. In der Darstellung Paul Richters wird Siegfried zu einer körperlichen Metapher für das Volk, wie Kaes konstatiert: »In this sense, Paul Richter does not act, but rather ›enacts‹ a script given to him by prior representations; he had to play to the images that where already known before he embodied the role.«57 Die Figur Siegfrieds fungiert als Projektionsfläche für die Werte einer »imagined community«58, nämlich des deutschen Volkes.
Abb. 1: Siegfried wird verlacht (NF I 00:12:42)
55 Vgl. Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang. Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 197. 56 Vgl. auch Waldschmidt, Anne: »Sendboten deutschen Wesens. Fritz Lang, Thea von Harbou und die ›Nibelungen‹«, in: Hans Michael Bock/Michael Töteberg (Hg.), Das UfaBuch. Kunst und Krisen, Stars und Regisseure, Wirtschaft und Politik. Die internationale Geschichte von Deutschlands größtem Film-Konzern, Frankfurt am Main 21992, S. 138141, hier S. 138. 57 A. Kaes: Siegfried – A German Film Star, S. 66. 58 Vgl. zum Begriff Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Rev. ed. London 2006.
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Siegfried bestätigt seinen Anspruch auf die Verkörperung des Ideals hegemonialer Männlichkeit durch den Drachenkampf und die Erlangung des Horts. Indem er den Drachen tötet59, bestätigt er seine hegemoniale Männlichkeit durch die Ausübung aggressiver Dominanz. Das Bad im Drachenblut60 und die so erlangte Hornhaut affirmieren Siegfrieds hegemoniale Position; der erworbene Körper- und Männlichkeitspanzer ›schützt‹ seine Maskulinität auch vor Effemination und Homosexualität.61 Eine Lücke im Panzer, verursacht durch ein Lindenblatt, wird jedoch zu Siegfrieds Verhängnis. Diese Leerstelle veranschaulicht vorausdeutend die Fragilität seines hegemonialen Status. Doch zunächst bestätigen der Kampf des Helden gegen den tückischen Zwerg Alberich und die Aneignung des Horts den hegemonialen Status erneut und sichern ihn durch die Akkumulation ökonomischer Ressourcen weiter ab. Der Film erzählt in einem Gesang Volkers, der als Rückblende inszeniert wird, von den Taten des Drachentöters und verdeutlicht somit noch einmal Siegfrieds männliche Exorbitanz. In einer eingeblendeten Texttafel verkündet Volker: »Im Kampf gewann er, der Drachentöter, was seinesgleichen nicht hat auf Erden.« (NF I 00:25:28) So erweist sich Volkers Heldenlied als Hohelied der Männlichkeit. b) Gunther: Geliehene Hegemonie Mit der Ankunft Siegfrieds am Hof der Burgunden hält auch das Konstrukt hegemonialer Männlichkeit Einzug, zu dem sich alle männlichen Figuren des Wormser Hofs im Sinne Connells verhalten müssen. Dies gilt insbesondere für König Gunther, denn aufgrund seiner Herrscherposition richten sich jene Erwartungen auf ihn, die durch die Exposition der Siegfriedfigur vorbereitet wurden. Doch wird Gunther diesen Erwartungen nicht gerecht. Trotz aller herrschaftlichen Privilegien, über die er verfügt, vermag er keinen hegemonialen Männlichkeitsstatus auszuprägen. Trotz
59 Vgl. Stiles, Victoria M.: »Fritz Lang‘s definitive Siegfried and its Versions«, in: Literature/Film Quaterly 13 (1985), S. 258-274, hier S. 259. Vgl. auch Wirwalski, Andreas: »Wie macht man einen Regenbogen?« Fritz Langs Nibelungenfilm. Fragen zur Bildhaftigkeit des Films und seiner Rezeption, Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 82f. 60 Vgl. dazu S.P. Bratton: From iron age myth to idealized national landscape, S. 201f., die das Drachenblut weiblich markiert interpretiert. 61 Vgl. Tischel, Alexandra: »›Ihr kennt die deutsche Treue nicht, Herr Etzel‹ – Nation und Geschlecht in Thea von Harbous ›Nibelungenbuch‹«, in: Kati Röttger/Heike Paul (Hg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung, Berlin 1999, S. 264-284; vgl. ebenfalls Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Hamburg 1980.
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seiner weißen Hautfarbe, heterosexuellen Orientierung und christlichen Religionszugehörigkeit wird Gunther anderen Figuren untergeordnet. Dies hat mit der Defizienz seiner Männlichkeitsperformanz zu tun. Der Schauspieler Theodor Loos verleiht Gunther einen Bewegungsstil, den man als eine Spielart von »doing femininity« interpretieren kann, »die durch ihre Gestik und Mimik (Blicksenken, schließende Bewegung der Arme) Zurückgezogenheit, Passivität und Unterwerfung signalisiert«62. Auf eine tendenziell weibliche Markierung Gunthers deuten zwei weitere, parallel angelegte Szenen hin. Bei Siegfrieds Einzug in Worms sieht man Kriemhild in einem Fenstererker den Vorhang beiseite streichen, hinter dem sie sich versteckt, um Siegfried, das Objekt ihres Begehrens, zu betrachten. Ganz ähnlich wird im fünften Gesang des ersten Teils, nachdem Siegfried den Hort in burgundische Hoheitsgebiet transportiert hat, Gunther – zunächst mit Hagen, später mit Brunhild – vor einem Fenster positioniert, um auf sein Objekt des Begehrens, nämlich den Hort zu blicken.63 Dies lässt darauf schließen, dass Gunther im Film einem sukzessiven Effeminierungsprozess unterworfen wird. Die Diskussion der Nibelungenliedforschung, ob Gunther ein schwacher und ungenügender Herrscher sei oder nicht, entscheidet Fritz Lang zu Gunthers Ungunsten.64 Als effeminierter Mann wird er in eine subordinierte Position gerückt, und an seinem Beispiel werden die »Grenzen eines Konzepts von Männlichkeit«65 sichtbar gemacht. Einerseits wird Gunther durch die Akkumulation von ökonomischem Kapital sowie über die Kategorien ›gender‹ und ›class‹ als Herrscher legitimiert. Andererseits wird durch bestimmte Merkmale seine Schwäche markiert. Wenn Lang in einem Brief des Jahres 1968 schreibt, dass er die »Burgunden-Könige mit ihren prachtvollen Gewändern als eine bereits im Absteigen begriffene decadente Gesellschaftsklasse« verstanden wissen wollte, »die mit allen Mitteln ihre Ziele erreichen will«66, so findet dies in Theodor Loos’ Darstellung von Gunthers passiver Männ62 Mecklenburg, Michael: »Die Waffen der Frauen? Zur Konstruktion weiblicher Heldenhaftigkeit in filmischen Adaptationen des ›Nibelungenliedes‹«, in: Johannes Keller/Florian Kragl (Hg.), 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldinnen, Wien 2010, S. 93-119, hier S. 101. Vgl. auch A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 272. Tischel sieht in der Figur Kriemhilds ein »Modell von frommer, keuscher Weiblichkeit entworfen«. 63 Das Bild der männlichen Fensterschau wurde im Mittelalter eher parodistisch verwendet, da es primär die Aufgabe von Frauen war, den Recken im Kampf zuzuschauen. 64 Vgl. Wisniewski, Roswitha: »Das Versagen des Königs. Zur Interpretation des Nibelungenliedes«, in: Dietrich Schmidke/Helga Schüppert (Hg.), FS für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, Tübingen 1973, S. 170-186. Dazu kritisch Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied, durchgesehene und bibl. erg. Ausg., Stuttgart 2003, S. 153. 65 Degele, Nina: »Männlichkeit queeren«, in: Robin Bauer/Josch Hoenes/Volker Woltersdorff (Hg), Männlichkeiten, Hamburg 2007, S. 29-42, hier S. 34. 66 Zitiert nach C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 211, Anm. 55 [Herv. i.O.].
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lichkeit ihren sinnfälligen Ausdruck. Ein schwacher Herrscher bedarf umso mehr der Komplizenschaft von Gefolgsleuten, und einen solchen findet Gunther in Hagen von Tronje. Der Film zeigt Hagen als einzige Figur, die am Wormser Hof eine Ganzkörperrüstung trägt. Hierdurch wird er Paolo Bertetto zufolge aller individuellen Züge beraubt und gar einem Scharfrichter angenähert. Hagen dokumentiere mit seiner Panzerung »nicht nur seine absolute Zugehörigkeit zur Welt des Krieges, sondern auch die Angst und das Bedürfnis, alle möglichen Listen des Soldaten anzuwenden«; dies mache aus ihm »so etwas wie einen überirdischen, ausgesprochen bedrohlichen Krieger«67. Zu ergänzen wäre, dass er ein Krieger für eine politische Idee ist. Hagen erscheint als asexuelle, aggressive Entität. Damit ähnelt er jenen Bundesbrüdern, die sich nach Blühers Ausführungen um den Männerhelden gruppieren. Hagens Dilemma ist, dass er seinem verehrten Männerhelden Gunther beistehen muss und will, obwohl dieser die Erwartungen, die an einen heroischen Mann gestellt werden, gerade nicht erfüllt. Hagen sollte dem Besten dienen; doch Gunther, der Hagens Dienste in Anspruch nimmt, erfüllt dieses Kriterium nicht. Als mit Siegfried der tatsächlich Beste in Gunthers Herrschaftsbereich eintritt und die Schwäche des burgundischen Königs sichtbar zutage tritt, muss Hagen an Gunthers Stelle handeln. Er beginnt die Vernichtung Siegfrieds, der Verkörperung hegemonialer Männlichkeit, voranzutreiben. Schritt um Schritt wird der Drachentöter seiner Dominanz und Handlungsmacht beraubt. Seine Stärke wird zunehmend fragil68, wie ja auch seine Hornhaut, ein Symbol hegemonialer Männlichkeit, eine verletzbare Stelle aufweist. Am Ende beweist Hagen Gunther seine unbedingte Loyalität, indem er Siegfried ermordet. Aufgrund seines Begehrens, das er auf Gunthers Schwester Kriemhild richtet, ordnet sich der Prinz von Xanten der Herrschaft des burgundischen Königs unter. Siegfried ist Gunther in ständischer Hinsicht nicht unterlegen; dennoch übernimmt er Aufgaben eines Vasallen, die ihn zwar nicht rechtlich, aber doch praktisch dem König subordinieren. Der eigentliche Vasall Gunthers ist Hagen. Der übergeordnete Stand Gunthers wird immer dann deutlich, wenn er sich in seinen Entscheidungen durchsetzt und seine ständisch bedingte Handlungsfähigkeit gegen seinen Vasallen ausspielt. Gleichwohl spricht und handelt Hagen vielfach für seinen Herrn und gewinnt so seinerseits an Dominanz. Klaus Kanzog zeigt anhand der Blicklenkung während der Vertragsbesiegelung zwischen Gunther, Hagen und Siegfried auf, dass Hagen innerhalb der Dreierkonstellation zum »Normmächtigen gegenüber Gunther
67 Bertetto, Paolo: »Die Gestaltung der Rüstung bei vier Meistern des Films«, in: Dario Lanzardo (Hg.), Ritter-Rüstungen. Der Eiserne Gast – ein mittelalterliches Phänomen. Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Rudolf H. Wackernagel, München 1990, S. 207214, hier S. 209. 68 Vgl. C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 207.
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als dem schwachen Partner«69 avanciert. Das entspricht der These Walgenbachs und Connells, dass Dominanz in sozialen Kämpfen auf der Handlungsebene ausgefochten werde, sodass Hegemonie als temporäre und kontingente Zuschreibung zu verstehen sei. Gunther benötigt Siegfrieds Stärke, um seinerseits die eine begehrte Frau zu gewinnen, nämlich Brunhild. Der Film bringt den inferioren Status des Königs zum Ausdruck, indem er diesen sagen lässt: »Was mahnst du mich an Brunhild, da du doch weißt, daß nur der stärkste Held, der sie dreimal besiegt, sie im Kampf zu erringen vermag?« (NF I 00:44:08) Gunther bekennt seine physische ›disability‹. In einem genealogisch strukturierten Herrschaftssystem ist körperliche Stärke auch nicht erforderlich. Indem sich Gunther aufgrund seines Begehrens auf die Regeln eines anderen Systems einlässt, wird seine Herrscherrolle mit der Erwartung von Stärke verknüpft, der er jedoch mangels körperlichen Kapitals nicht genügen kann. Laut Nina Degele gehört zur Konstruktion heteronormativer Männlichkeit die klassische Trias »Mut, Tapferkeit und Kraft«70. Denjenigen Männern, die diese Kriterien nicht erfüllen, wird ihr privilegierter Geschlechterstatus aberkannt. Auf diese Weise übt die heteronormative Norm in je verschiedener Weise auf den Stärksten und auf den Schwächsten unterdrückende und entmächtigende Wirkung aus. Siegfried nimmt seinhaft einen untergeordneten und Gunther scheinhaft einen hegemonialen Status ein, wobei die Unterscheidung zwischen Schein und Sein für die beobachtenden Figuren des Films – nicht aber für das Publikum – unmöglich gemacht wird. Wenn Anne Waldschmidt Siegfried als »Ikone eines völkischen Idealtyps und filmkünstlerischen Fortschritts«71 bezeichnet, so gilt dies ebenso für die im Film eingesetzten technischen Effekte der Invisibilisierung Siegfrieds während der Wettkämpfe in Isenland. Die Unsichtbarkeit seines Körpers ist nicht nur als filmkünstlerischer Fortschritt zu verstehen, sondern auch als Sinnbild der Unsichtbarkeit hegemonialer Männlichkeit. In dem Augenblick, in dem Siegfried den Tarnhelm überstreift, wird seine privilegierte Position im Sinne Connells enthegemonialisiert, insofern sie die Grenzen der Legalität überschreitet. Im Falle der weiblichhomosozialen Welt Brunhilds verlangen die Regeln, dass der Werber dreimal in den ernsten Spielen des Wettkampfs über das Objekt der Werbung siegt. Durch Siegfrieds Beihilfe wird Gunthers männliche Hegemonialität noch fadenscheiniger als der diaphane Körper seines Darstellers und zeigt sinnfällig die unrechtmäßige Annektierung der Machtposition, in der sie als unmarkierte Norm operiert. In den 69 Kanzog, Klaus: »Der Weg der Nibelungen ins Kino. Fritz Langs Film-Alternative zu Hebbel und Wagner«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in die Moderne, München 1987, S. 202-223, hier S. 210. 70 N. Degele: Männlichkeit queeren, S. 34. 71 A. Waldschmidt: Sendboten deutschen Wesens, S. 140.
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Kämpfen in Isenland stellt der Film die Künstlichkeit der sozialen Verhältnisse heraus, indem er für das Publikum sichtbar macht, was für die Figuren selbst im Verborgenen bleibt. Da Siegfried die Aktionen Gunthers unsichtbar steuert, wird dessen Darstellung von Männlichkeit zu einem theatralischen Schattenspiel. Der schwache König greift in seiner Darstellung von Handlungsmacht nach der hegemonialen Männlichkeit, über die er selbst nicht verfügt. Siegfried, das im wörtlichen und übertragenen Sinn hinter ihm stehende generative Prinzip, gewährt sie ihm als Handlungsmuster, ohne dass Gunther sie sich dauerhaft zu eigen machen könnte. Gunther operiert unablässig dem hegemonialen Muster entsprechend und bestätigt damit die Gültigkeit der heteronormativen Ordnung. Dies belegt die Szene des Blutsbrudertranks vor der Hochzeitsnacht unter einer Eiche. Der Trank soll Gunther und Siegfried brüderlich gleichstellen. Der feierliche Akt erinnert an eine Vermählung. Der Zeremonienmeister Hagen betont: »Rot mischte Blut sich mit rotem Blute. Untrennbar sanken zusammen die Tropfen. Am Weg verende, ehrelos, wer dem Blutsbruder die Treue bricht!« (NF I 01:16:08) Paradoxerweise vereitelt diese Form der männlichen Allianzbildung wenig später Siegfrieds Handlungsmacht erneut, indem sie ihn weiter der – aus Schwäche generierten – Dominanz Gunthers unterwirft. Gunther sitzt vor der Hochzeitsnacht zusammengekauert auf seinem Stuhl wie zu Beginn des zweiten Gesangs: zu seiner Linken in Weiß Siegfried, zu seiner Rechten in Schwarz Hagen, Gunther selbst in einer Mischung aus schwarzem Anzug und weiß-grauem Umhang. Wieder wird Siegfried, der Freund und Bruder, gezwungen, gegen seinen eigenen Willen dem Willen Hagens zu folgen und die schmutzige Arbeit für den burgundischen König zu besorgen: »Besiegt ist Brunhild, nicht bezwungen! Soll der König Burgunds zum Gespött werden durch ein törichtes Weib?« (NF I 01:18:03) Diese misogyne Aussage verweist nicht nur auf die Schwäche der Frau, sondern zugleich auf Gunthers ›disability‹72, die, in Anlehnung an das Nibelungenlied, die Möglichkeit einer verunglückten sexuellen Performanz impliziert. Siegfrieds Eingreifen wird von Hagen erpresst, der auf den für die Männerfreundschaft wichtigen »traffic in women« zwischen Siegfried und Gunther verweist.73 Hagen spricht: »Willst du den Freund im Stiche lassen, der dir die eigene Schwester gab« (NF I 01:18:44, Herv.: P.S.). Solcherart zur Gewaltausübung gegen Frauen genötigt, weil Gunther das Handlungsmuster der hegemonialen Männlichkeit nicht vollziehen kann, gelangt Siegfried, trotz seiner erfolgreichen Unterwerfung Brunhilds, in eine komplizenhafte Situation – ein Prozess, der mit dem ersten Überziehen des Tarnhelms in Isenland begonnen hat. Nach der Bezwingung der 72 Zu Gunthers ›disability‹ vgl. den Beitrag von Nataša Bedekoviü in diesem Band. 73 Vgl. Renz, Tilo: »Notions of Loyality in the Nibelungen Films by Fritz Lang, Harald Reinl and Uli Edel«, in: Vera Apfelthaler et al. (Hg.), Gendered memories. Transgression in German and Israeli Film and Theater, Wien 2007, S. 160-178, hier S. 160.
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Amazone kommt es zu einer Szene, in welcher der mit dem Tarnhelm versehene Siegfried seinem Widerpart begegnet. Jörg Hackfurth stellt treffend fest: »Der unheimliche Moment, wenn Siegfried dergestalt aus der Kammer tritt und Günther [sic!] gegenübertritt, verweist auf jene Ikonographie des Ich-Verlustes. Gunther erschaudert angesichts des Doppelgängers, weil er seinen eigenen Machtverlust erkennen muss.«74 Er erschauert, so ist zu ergänzen, weil er im Angesicht des Doppelgängers all das sieht, wonach er selbst erfolglos strebt und was er auch mit Hilfe seines Vasallen Hagen nicht erlangen kann (Abb. 2).
Abb. 2: Gunther erblickt sich selbst (NF I 01:22:25)
Der tödliche Speerwurf gegen Siegfried stellt letztlich weniger einen Beweis für Hagens hegemoniale Position dar, als dass sie ihn vielmehr disqualifiziert. Aufgrund des zuvor geleisteten männerbündischen Schwurs erscheint der Mord als eine Monstrosität, die auch Gunther angelastet wird. Die Leere aber, die nach Siegfrieds Ermordung entsteht, wird von keiner Figur gefüllt. Sämtliche Vorstellungen und Verkörperungen von Männlichkeit flottieren in der Welt zu Worms um das Vakuum einer kulturellen Konstruktion, nachdem der Einzige, der sie vorübergehend verkörpern konnte, gewaltsam entfernt wurde.
74 Hackfurth, Jörg: »Ein deutsches Nibelungen-Triptychon. Die Nibelungenfilme und der Deutschen Not«, in: komparatistik online 1 (2009), S. 39-62, hier S. 52.
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c) Etzel: Verlorene Hegemonie Während Gunther tendenziell verweiblicht wird, erscheint der virile Hunnenkönig Etzel aufgrund der Merkmale ›Rasse‹ und Religion als inferior. Indem die Kamera den Standpunkt des ›weißen‹ Betrachters einnimmt, wird das »doing difference«Spektakel des rassisierten Anderen als exotische Aufführung dargeboten.75 Wenn die Kamera die Hunnen wie Primaten auf Bäumen sitzend zeigt, operiert sie mit verschleiernden Naturalisierungseffekten. Sie bedient sich konstruierter ikonischer Zeichen, die Winker und Degele als asymmetrische Bezeichnungspraxis beschreiben, die eine als natürlich behauptete Herrschaftspraxis stützt.76 Etzel und sein Volk erscheinen dunkelhäutiger als die Burgunden. Zwar wird der Hunnenkönig wie Gunther als männlich und heterosexuell exponiert, doch weicht sein Körper von der gesetzten Norm ab. Dies liegt nicht nur an der Hautfarbe, sondern auch daran, dass sein Kopf deformiert wirkt und mit Narben übersät ist. Das Haar ist zu einem Zopf hochgebunden, der restliche Schädel kahl rasiert, und an den Schläfen hängen lange Haarsträhnen herab, in die Perlen eingeflochten sind. Etzels Hof unterscheidet sich massiv von der kultivierten Residenz der Burgunden: Schmutz, Lärm, Unordnung, Hektik und tanzende, mit Fellen notdürftig bedeckte Leiber, die sich in der Masse kaum voneinander unterscheiden. Alexandra Tischel erkennt in dieser stereotypen Inszenierung des ›Fremden‹ eine Anlehnung an koloniale Diskurse nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg: »In dieser Darstellung überschneidet sich die Furcht vor dem ›Asiatischen‹ als der ›gelben Gefahr‹, wie sie für den kolonialen Diskurs der Zeit typisch ist, mit einem gewissen ethnohistorischen Interesse«.77 Der Vorstellung einer sublimierenden Lebensweise des ›weißen‹ Westens wird eine östliche Triebkultur des Chaotischen entgegengehalten. Das dargestellte Chaos korrespondiert nach Paolo Bertetto durch die Wahl der Kostüme und Requisiten mit der »aus verschiedenen Materialien zusammengeflickten Rüstung«78 Etzels, der als Hunne ein türkisches Krummschwert trägt. Bertetto verweist zudem auf einen Stich von Max Klinger als konkretes ikonisches Vorbild für jene Szene, in der nackte Kinder mit Girlanden im Haar den bewaffneten Etzel umringen.79 Durch die bildliche Rahmung des Fremden mit Mitteln der europäischen Kunst wird das Fremde als fremd
75 Vgl. bspw. Jungwirth, Ingrid: »Zur Auseinandersetzung mit Konstruktionen von ›WeißSein‹ - ein Perspektivenwechsel«, in: Hertzfeldt/Schäfgen/Veth, GeschlechterVerhältnisse (2004), S. 77-91. 76 Degele, Nina/Winker, Gabriele: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, URL: www.portal-intersektionalität.de [12.10.2012], S. 21. 77 A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 276. 78 P. Bertetto: Die Gestaltung der Rüstung, S. 208. 79 Vgl. ebd., S. 208.
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inszeniert und zugleich gebändigt, kolonisiert und vereinnahmt. Etzel erfährt über die Kategorie der ›Rasse‹ eine durchgehende Negativierung, auch wenn der Film die Figur des Hunnenkönigs als »edlen Heiden«80 konzipiert. Folgt man bell hooks, ist es nicht sinnvoll, die Darstellung rassisiert markierter Figuren unter dem Aspekt des Moralischen zu betrachten und danach zu fragen, ob es sich um ›gute‹ oder ›schlechte‹ Figuren handelt, da dabei wichtige Aspekte wie Kontext, intendiertes Publikum und Form des Kunstwerks übergangen würden. Wichtiger ist für bell hooks die Frage, »welcher Funktion und wessen Interessen die Darstellung dient«81. Die Linse der ›weißen‹ Kamera hält mit der Darstellung des edlen Hunnenkönigs eine rassistische Vorherrschaft aufrecht, die auf dem Privileg der ›whiteness‹ gründet82 und mit der die Unterordnung jeder ›nicht-weißen‹ unter die ›weiße‹ Hautfarbe subtil aufrechterhalten wird. Die Darstellung der Hunnen verläuft demnach über eine rassisierende Erniedrigung, die wiederum einen Verlust an Handlungsmacht zur Folge hat. Hinzukommt die Enthegemonialisierung Etzels durch seine Einbettung in die Strukturen der Kleinfamilie. Er zeigt sich als liebender Vater eines Sohnes, den Kriemhild ihm geboren hat. Donaldsons erläutert, dass Vaterschaft in hegemonialen Männlichkeitsmustern keinen Raum finde: »In hegemonic masculinity, fathers do not have the capacity or the skill or the need to care for children, especially for babies and infants [...]. Nurturant and care-giving behaviour is simply not manly.«83 Da aus hegemonialer Perspektive Kinderaufzucht nicht als männlich gilt und weil Männer, die Kinder aufziehen, weniger Zeit haben, an den »ernsten Spielen des Wettbewerbs«84 zu partizipieren, wird eine aktive Vaterschaft abgelehnt. Im Bereich des Wettbewerbs unter Männern dient Hegemonie nach Meuser als »›Spieleinsatz‹ [...] in der Konstruktion von Männlichkeit ›vor und für die anderen Männer‹«85. In der fiktiven Welt des Films erweisen sich die ernsten Spiele als 80 Der Begriff des »edlen Heiden« wurde für die Literatur des Mittelalters zur Zeit von Langs Nibelungen etabliert von Naumann, Hans: »Der wilde und der edle Heide. Versuch über die höfische Toleranz«, in: Paul Merker/Wolfgang Stammler (Hg.), Vom Werden des deutschen Geistes. FS Gustav Ehrismann, Berlin/Leipzig 1925, S. 80-101. 81 bell hooks: »Gute Bilder, schlechte Bilder. Feminismus und schwarze Männlichkeit«, in: Dies.: Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht, Berlin 1996, S. 99-117, hier. S. 108. 82 Diese exotisierende Darstellung des Films stieß in der Kritik der Zeit auf wenig Zustimmung, vgl. A. Wirwalski: Regenbogen, S. 30f. 83 M. Donaldson: What is hegemonic masculinity, S. 650. 84 Bourdieu, Pierre: »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 153-217, hier S. 203. 85 M. Meuser: Hegemoniale Männlichkeit, S. 163.
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kriegerische Begegnungen. Väterlichkeit hat in einem Modell von Männlichkeit, das hauptsächlich über militärische und koloniale Codes legitimiert wird, keinen Platz. Der Film zeigt diesen Umstand explizit, indem er die Struktur der Kleinfamilie negiert.86 Lang setzt anfangs die hegemoniale Position des Hunnenherrschers durch eine Irisblende auf seinen übergroßen Thron, auf dem der Schauspieler Rudolf KleinRogge wie eine goldene Statue ins Bild gesetzt wird. Klein-Rogges Performanz der Männlichkeit erscheint im Gegensatz zur Darstellungsweise von Theodor Loos als beinahe exaltiert. Große, hastige, ausladende, animalische Bewegungen prägen die Szene der Ankunft Kriemhilds. Diese hingegen bleibt, in Schwarz gehüllt, hoch erhobenen Hauptes statisch auf der Treppe stehen und blickt abweisend auf den König und den Boden seines Thronsaals hinab, der mit Stroh und Pfützen übersät ist. Daraufhin breitet Etzel seinen Königsmantel vor ihr aus, damit sie den schmutzigen Boden nicht betreten muss. In dieser Szene werden starke Tendenzen der Rassisierung der Figuren sichtbar, da in ihr die Vertreterin einer übergeordneten Kultur inszeniert wird, der sich der inferiore Fremde unterwirft. Parallel zur Badeszene Siegfrieds demonstriert die Kamera ihre Möglichkeiten, im »doing femininity« Margarete Schöns Weiblichkeit zu konstruieren. In dieser Einstellung werden die Signifikate erotisiert, die dem Körper der Siegfriedwitwe in der Hunnenwelt eingeschrieben werden. Die Kamera macht die imperiale Ökonomie von ›race‹ geltend und somit die ›whiteness‹ der Figur begehrenswert. Der koloniale Einverleibungsmodus des Fremden auf der Darstellungsebene, die Lang zuvor schon mit Analogien zu einem Stich Max Klingers offenlegte, wird in dieser Szene durch die Mimik und Gestik der Schauspieler auf die Figuren- und Handlungsebene transportiert. Die Spannung von Antipathie (Kriemhild) und Devotion (Etzel) erzeugt die Subordination des Hunnenherrschers. Im Akt des Mantelausbreitens zelebriert die Kamera zudem Etzels Unterwerfung unter sein heterosexuelles Begehren.87 Der auf den Schmutz des Bodens geworfene Mantel verweist nicht nur auf die Subordination des Dunkelhäutigen gegenüber der ›weißen‹ Kriemhild. Er kann auch symbolisch als dargebotenes Begehren des Hunnenherrschers betrachtet werden. Die filmischen Bilder vermitteln das Subordinationsgefälle, indem sie Kriemhild erhöht auf der Treppe stehend 86 Siegfried und Gunther bekommen im Gegensatz zur mittelalterlichen Vorlage keine Kinder; Etzels Sohn wird von Hagen ermordet; aus der Verbindung zwischen Giselher und Rüdigers Tochter entsteht kein Nachwuchs, da Giselher im Kampf stirbt; die Familie Rüdigers wird durch dessen Tod auseinandergerissen. 87 Vgl. zum Begriff des Voyeuristischen in der psychologischen Filmtheorie Koch, Gertrud: »Zur Ansicht: Voyeurismus und Kino«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.), Sehnsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, Göttingen 1995, S. 221-232.
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zeigen. Die Szene lässt bereits ahnen, in welchem hierarchischen Verhältnis die beiden Figuren zueinander stehen. Nur durch die vier Kronen auf seinem Haupt erreicht Etzel, der am Fuß der Treppe vor Kriemhild steht, deren Körpergröße. Dieses symbolischen Kapitals wird Etzel, der »Herr der Erde«, im Handlungsverlauf zusehends entkleidet. In der Folgezeit übernimmt Kriemhild die männlich codierte Herrscherrolle. Sie wird schließlich als goldene Statue gezeigt, als die Burgunden den Etzelhof erreichen. Sie ist ritterähnlich in ein Gewand gekleidet, das wie eine Rüstung wirkt. Sie ist diejenige, die die Hunnen zum Kampf auffordert, um sich an den Burgunden zu rächen, während Etzel um das ermordete Kind trauert. Im Rückgriff auf männliche Machtressourcen – das Hunnenheer und die gehorsamen Diener – stellt sie eine Gefahr für die männliche Hegemonie dar. Dies zeigt, dass »Männlichkeit kein Exklusivum von als Männern definierten Menschen«88 ist. Der Befund der zunehmenden Entmännlichung des Hunnenkönigs wird durch einen Gesang gestützt, der parallel zu Volkers Hohelied der Männlichkeit aufgebaut ist, diesmal aber als Abgesang auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit fungiert. Bereits kurz nach der Eheschließung machen sich Etzels eigene Männer im Feldlager über ihren schlafenden General lustig. Von den vier Kronen sei weit und breit keine Spur mehr zu sehen, die Zeit seiner Macht bereits vergangen: »Ein großer Reiter war Herr Etzel! Eine starke Stute war ihm die Welt! Herr Etzel peitschte die Welt – seine Stute! Was macht Herr Etzel nun?« (NF II 00:40:25, Herv.: P.S.) Der Schlaf wird als eines Herrschers unwürdig betrachtet: »Er schläft! Er schläft! Herr Etzel, Etzel schläft!« (NF II 00:40:51) Die harsche Kritik verknüpft sich mit einer sexuell konnotierten Herabwürdigung von Etzels Männlichkeit, die vormals auf Herrschaft und Stärke gründete, wenn es heißt: »Das weiße Weib hat uns Etzel geraubt! Mit ihren Haaren zäumt sie den Reiter, den großen Reiter, Herrn Etzel, auf!« (NF II 00:41:09) Weil der Sänger vorher im Präteritum kundtat, dass König Etzel ein großer Reiter und ihm die Welt »eine starke Stute« gewesen sei, die »Herr Etzel peitschte«, lässt sich aus dieser Anschuldigung schließen, dass aus der Perspektive von Etzels Gefolgsleuten nun die »weiße Frau« auf dem ehemaligen Reiter sitzt, was auf die Passivität Etzels im Sozialen, Kämpferischen und Sexuellen anspielt. Eine derartige Herabsetzung durch Vertreter marginalisierter Männlichkeit darf Etzel nicht hinnehmen, da sie seine Autorität unterminiert. Doch statt mit seinem Krummschwert ein Exempel zu statuieren und seine Herrschaft und Autorität durch Stärke zu restituieren, erreicht ihn die Nachricht von der Geburt seines Sohnes. Von dieser Nachricht lässt er sich am Vollzug der Handlung hindern und sein Schwert aus der Hand gleiten. Auch der Feldzug nach Rom verliert daraufhin für ihn jegliche Relevanz. In den Augen seiner Gefolgsleute soll Etzel kämpfen, Königreiche unterwerfen und seine Frau gefügig machen. Diese Erwartungen beziehen sich sowohl auf die Kategorien ›gender‹, ›sexuality‹ als auch auf ›class‹ 88 N. Degele: Männlichkeit queeren, S. 37.
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gleichermaßen. Der Umstand, dass Etzel mit der Zeugung eines Sohns im Gegensatz zu Gunther seine sexuelle Performanz als Mann bestätigt, erhält hierbei kein Gewicht. Als Etzel zu Kriemhild zurückkehrt und zum ersten Mal sein neugeborenes Kind sieht, fällt er bei diesem Anblick auf die Knie. Hier ist Michael Mecklenburgs Auffassung in Frage zu stellen, der »Spielräume für ein verändertes Männlichkeitskonzept« verneint. Ihm zufolge bleiben die dargestellten Männlichkeitsentwürfe »den immer gleichen Prinzipien von männlicher Dominanz und Triebbefriedigung verpflichtet«89. Der Familienmann Etzel verkörpert aber in seiner männlichen Menschlichkeit ein gewandeltes Männerbild, das nicht auf der Grundlage von männlicher Dominanz und Triebbefriedigung konstruiert wird (Abb. 3). Damit bietet der Film durchaus Spielräume für veränderte Männlichkeitsentwürfe.
Abb. 3: Etzel als liebender Vater (NF II 00:50:09)
Unter dem Gesichtspunkt der hegemonialen Männlichkeit ist auch die (von Fritz Alberti gespielte) Figur Dieterichs von Bern relevant. Nur er vermag sich seine »agency« zu erhalten, indem er sich gegen Etzel durchsetzt. Als der Hunnenkönig in den letzten Zügen des tödlichen Kampfes die brennende Halle in heroischem Furor zu stürmen gedenkt, hält ihn Dietrich mit der Begründung zurück, dass ihm noch ein Vasall lebe. In dieser Szene nimmt Dietrich temporär eine hegemoniale Position ein, indem er seine Dominanz gegenüber dem Herrscher ausspielt. Doch wird Dietrich aufgrund seines Standes daran gehindert, die männlich hegemoniale Position zu konsolidieren. Er bleibt auf seine komplizenhafte Männlichkeit verwiesen. Sang- und klanglos wird er nach Übergabe des Schwertes Balmung, eines Macht- und Herrschaftssymbols, an Kriemhild aus dem Film entfernt. Kiening und 89 M. Mecklenburg: Die Waffen der Frauen, S. 115.
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Herberichs deuten die Szene unter Gesichtspunkten der Kategorie ›race‹: »Dietrich muss einschreiten, bevor der Weltherrscher Etzel selbst zur Waffe griffe. Damit erhalten die Burgunden Ihresgleichen als Gegner, und von ihm, nicht von der anonymen Masse kriegerischer ›Untermenschen‹, werden sie bezwungen – ihre Superiori90 tät enthüllt sich also noch und gerade im Untergang«. In dieser Logik gesprochen erhält nicht die trauernde, hinsichtlich ihrer ›Rasse‹ unterlegene Vaterfigur das Privileg, hegemoniale Männlichkeit über Herrschaft durch Stärke zu restituieren, sondern der durch seine ›whiteness‹ den Burgunden ebenbürtige, temporär hegemoniale und stets aufrechte Recke.91 Etzels Passivität erreicht mit der Tötung des Kindes ihren Höhepunkt. Der Film zeigt Etzels Versteinerung, indem er ihn unbeweglich auf dem Thron sitzend zeigt, den Körper des toten Kindes in seinen Armen haltend, trauernd, regungslos und nicht mehr ansprechbar. Der Film bietet somit Raum für ein gewandeltes Männerbild, welches das Gesetz der Dominanz und Stärke der intrafilmischen Logik zum Trotz in Frage stellt. Am Ende lebt neben Dietrich nur noch Etzel. Schon mit dem Fallenlassen des Schwertes in der Rhapsodenszene und dem Verzicht auf die Bestrafung des Sängers bannt Lang auf Zelluloid, was als Pazifizierung der Figur interpretiert wurde. Etzel widersetzt sich dem hegemonialen Männlichkeitsmuster, führt dieses ad absurdum und widersetzt sich dem Normierungseffekt der männlichen Spitzenposition, indem er eine Neubesetzung des Phantasmas hegemonialer Männlichkeit anzeigt. Was die filmischen Bilder nicht affirmieren können, bleibt als Subtext nichtsdestoweniger präsent. Damit lässt sich das letzte Lied, das Volker in der brennenden Halle während des Untergangs singt, als Schwanengesang hegemonialer Männlichkeit deuten: »Sieh, Volker stimmt seine Fidel zum letzten Sang« (NF II 01:53:30). Wie Lothar van Laak feststellt, lösen der »Film, die Kamera und ihre Bilder [...] den Erzähler ab, heben ihn auf oder haben ihn eleminiert. [...] Der Rhapsode ist tot, es lebe der ›neue Rhapsode‹: der Film«.92 So wird der Film selbst zu einem Abgesang auf hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen.
90 C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 221. 91 Analog interpretiert A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 277. 92 Laak, Lothar van: »›Ihr kennt die deutsche Seele nicht.‹ Geschichtskonzeption und filmischer Mythos in Fritz Langs Nibelungen«, in: Mischa Meier/Simona Slanicka (Hg.), Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln 2007, S. 267-282, hier S. 282.
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3. H EGEMONIALE M ÄNNLICHKEIT –
EINE
L EERSTELLE
In diesem Aufsatz ging es darum, die intersektionelle Perspektive auf Fritz Langs Die Nibelungen mit Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit zu verknüpfen. Die zentrale These lautete, dass innerhalb der filmischen Welt das Konstrukt der hegemonialen Männlichkeit in ihren eigenen Konstitutionsbedingungen vereitelt wird. Männliche Hegemonie, so sollte deutlich werden, realisiert sich lediglich temporär durch einzelne Handlungen, die häufig in einer Folgeszene schon wieder in Frage gestellt werden. Anhand von drei Gesangsszenen lässt sich die Dekonstruktion der hegemonialen Männlichkeitsposition nachvollziehen: an Volkers preisendem Hohelied auf Siegfried, an der höhnischen Anklage eines Hunnen gegen Etzel und am Schwanengesang des sterbenden Volker in der brennenden Halle. Die Figur Etzels sperrt sich gegen zeittypische Vorstellungen von Männlichkeit, wie sie George Mosse beschreibt. Zudem weist sie auch männerbündische Ideologeme zurück. Damit bietet Etzel im Film eine Männlichkeitsalternative, die innerhalb des Films zwar nicht affirmiert, sondern ausgeschlossen wird, die aber dennoch die einzige mögliche Alternative bietet. Während an der Figur Gunthers lediglich die Grenzen der Konstruktion von Männlichkeit aufgezeigt wird, lässt sich in der Figur des Hunnenkönigs, der sich von dieser Position abwendet, ein Widerstand ausmachen, der geeignet ist, das Konstrukt der hegemonialen Männlichkeit grundsätzlich zu problematisieren. Siegfried ist der Erste, der geht, doch Etzel ist der Letzte, der bleibt. Die Charakterisierung Etzels provoziert Zweifel nicht nur an den Konstrukten hegemonialer Männlichkeit, am modernen männlichen Stereotyp und an männerbündischen Ideologien, sondern auch am Konzept einer genuin ›nationalen‹ Gemeinschaft und deutscher Volkstümelei. So stellt sich am Ende die Frage, wo sich komplizenhafte Männlichkeiten noch finden lassen, wenn das hegemoniale Zentrum, dessen Komplizen sie sind, verschwunden ist? Wo ist eine Marginalisierung auszumachen, wenn der zentrale Bezugspunkt fehlt, von dem aus die Peripherie zu denken wäre? Fehlt der fixierende Mittelpunkt, werden weitere Positionierungen von Männlichkeit obsolet. Ist in diesem Sinne das Handlungsmuster hegemonialer Männlichkeit nicht per se hinfällig? Mit dieser kritischen Betrachtung von Männlichkeitskonstruktionen kann gelingen, worauf Jeff Hearn für die »Critical Men’s Studies« insistiert, nämlich die »abolition of ›men‹ as a significant social category of power«93. Die marginalisierten männlichen Soldaten in Langs Film, die den Landungssteg für Siegfried, Gunther und Brunhild stützen, tragen somit symbolisch die Last eines Konstrukts von Männlichkeit, welches sich innerhalb der eigenen Logik selbst vereitelt.
93 J. Hearn: Hegemonic Masculinity, S. 66.
Siegfrieds königliche Vasallen Gelingende Subordination in Fritz Langs Film Die Nibelungen M ICHAEL R. O TT
Wenn Siegfried in Fritz Langs Film Die Nibelungen zwölf Könige unterwirft, dann stellt dies zumindest auf den ersten Blick ein Beispiel für eine erfolgreiche und dauerhafte Subordination dar.1 Diese stabile Vasallitätsbeziehung bietet, so meine These, eine unerlässliche Folie, vor deren Hintergrund die scheiternden Aushandlungen hierarchischer Personenbeziehungen intersektionell lesbar werden. Die zwölf Könige in Fritz Langs Nibelungenfilm finden sich zwar in Form von zwölf Rittern, die Siegfried nach Worms begleiten, bereits im Nibelungenlied; in der hochmittelalterlichen Erzählung müssen diese zwölf Männer jedoch nicht unterworfen werden, denn sie sind Teil einer durch ein Kollektiv profilierten Individualität des Helden. Bevor ich mit Blick auf diese kollektive Individualität im Nibelungenlied die Funktion der zwölf Könige in Fritz Langs Nibelungenfilm analysiere, wende ich mich kurz dem Nibelungenbuch Thea von Harbous zu. Dort wird Siegfrieds Sieg über die zwölf Könige zwar von Kriemhild berichtet, beim Einzug in Worms aber werden die zwölf Vasallen nicht erwähnt. Demgegenüber zeigt der Siegfried-Film anlässlich des Einzugs in Worms eine komplexe ornamentale Beziehung zwischen Siegfried und seinen »Recken«. Im Vergleich mit anderen Eroberungsbewegungen Siegfrieds stelle ich in einem zweiten Schritt dar, wie sich die Konstellation von 1
Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem DeclaUfa-Film ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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›Geschlecht‹, ›Rasse‹, ›kultureller Zugehörigkeit‹, ›Stand‹ und ›Religion‹ darstellt, wie die unterschiedlichen Konzepte zusammenwirken und wie auf diese Weise verschiedenartige Formen von Subordination erzeugt werden. Die Vasallitätsbeziehung zu den zwölf Königen ist stabil und insofern erfolgreich, weil die Gefolgsleute männlich sind, weil sie adelig sind und weil sie Teil haben an der höfischen Kultur, der sich Siegfried nach dem Sieg über die zwölf Könige in hohem Maße annähert. Dieser Prozess der »Höfisierung« bringt ihn nach Worms und damit zu jenem Ort, der im Film das Zentrum der höfischen Welt markiert. Gleichzeitig wird durch die spezifische Darstellung der zwölf Könige im Film sichtbar, auf welche Weise sich performative Praktiken der Subordination auf den Körper, die Individualität und auf die Handlungsfähigkeit auswirken. Im dritten und letzten Schritt denke ich darüber nach, inwiefern die zwölf Könige als Selbstvervielfältigung Siegfrieds verstanden werden können.
1. S IEGFRIEDS
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Angesichts der elementaren Bedeutung des Modells der Vasallität für das Nibelungenlied und für spätere Adaptionen der Erzählung lohnt sich ein Blick auf jene Figuren, die zwar am Modell der Vasallität partizipieren, die jedoch nicht im Zentrum des Erzählens stehen. Die Beziehung solcher Figuren zu den Protagonisten der jeweiligen Narration könnte Aufschluss geben über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Etablierung hierarchischer Personenbeziehungen und über Abgrenzungsund Integrationspraktiken, die mit solchen Personenbeziehungen verbunden sind. Einen Ansatzpunkt für eine solche Analyse bieten die ersten fünf Aventiuren des Nibelungenlieds, in denen sich Siegfried verschiedentlich gegenüber einzelnen Figuren und Figurengruppen positioniert. a) ich wil selbe zwelfte in Gunthers lant: Das Nibelungenlied Kollektive spielen in der ersten Aventiure des Nibelungenlieds eine wichtige Rolle. Dies gilt sowohl für die Burgunden als auch für die degen, die Krieger, die wegen Kriemhild sterben müssen; dies gilt für den Wormser Hof, der in den Strophen vier bis zwölf vorgestellt wird, aber auch für die zahlreichen Frauen (manegen wîben, NL 15,2), die dafür einstehen, dass die Freuden der Minne von Leid abgelöst werden. Die zweite Aventiure spiegelt, was die Konzentration auf Kollektive anbelangt, die erste und stellt Siegfried als Teil einer Gruppe vor. Individualität im Nibelungenlied ist in aller Regel als individuelles Verhalten innerhalb eines klar konturierten Kollektivs zu verstehen. Nicht ohne Grund spricht Siegfrieds Vater, als er von den Brautwerbungswünschen seines Sohnes erfährt, davon, dass Hagen uns
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(NL 52,3) zum Problem werden könnte, worauf Siegfried selbstbewusst mit einer rhetorischen Frage antwortet: Waz mac uns daz gewerren? (NL 53,1: »Wieso kann uns das stören?«) – bevor er betont, dass er nicht mit einem großen Heer nach Worms ziehen will, sondern »allein«: Si mac wol sus erwerben dâ mîn eines hant. ich wil selbe zwelfte in Gunthers lant. dar sult ir mir helfen, vater Sigmunt. (NL 57,1-3) »Sie zu erwerben, traue ich mir ganz allein zu. Ich will mit elf Begleitern in Gunthers Land reiten. Helft mir dabei, Vater Siegmund.«
Um allein – also zu zwölft – zu sein2, braucht Siegfried die Hilfe seines Vaters. Wenn es einige Strophen später heißt, dass Siegfried zwölf Ritter mit sich nehmen will (vgl. NL 62,2-3) – so dass er selbst der dreizehnte wäre –, verweist dies auf ein mathematisches Problem, das sich aus der individuellen Kollektivität der Gruppe ergibt. Walter Seitter hat die Schwierigkeiten, die anhand der Zahl zwölf manifest werden, anschaulich beschrieben: »Unklar ist, ob Siegfried der erste ist oder der 12. oder gar der 13. Der Unklarheit liegt eine sehr allgemeine Problematik zugrunde: kann man sich, wie kann man sich dazuzählen? […] Wenn für eine solche Gruppe nicht nur die Zahl eins sondern auch die Gesamtzahl wichtig ist, dann ist immer einer zuviel: also keiner oder der 13. Bei Jesus hat das bekanntlich dazu geführt, daß es einer von den Zwölfen war, der ihn verraten hat. […] Die Siegfriedsche Version dieses menschenmathematischen Problems hat nun aber eine spezielle Sonderformulierung gefunden: sie liegt in der Tarnkappe, die ihm die Kraft von 12 Männern gab – zu seinem eigenen Leib (wie es in der Strophe 337 heißt) – der aber gerade mit der Tarnkappe weg war.«3
Die »Menschenmathematik« rund um die Zahl zwölf markiert einen zentralen Schauplatz der Aushandlung von Kollektivität und Individualität. Siegfried ist im Nibelungenlied zum einen ein Individuum mit kollektiver Qualität und zum anderen, ebenso wie Kriemhild und auch die übrigen Figuren am Wormser Hof, eng in Kollektive eingebunden. Siegfrieds Position zwischen Individualität und Kollektivi-
2
Zu wiederkehrenden Personenzahlen vgl. etwa Brunner, Karl: »Ein ›Land‹ den ›Nibelungen‹«, in: Hermann Reichert/Günter Zimmermann (Hg.), Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, Wien 1990, S. 45-56.
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Seitter, Walter: Das politische Wissen im Nibelungenlied. Vorlesungen, Berlin 1987, S. 79f.
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tät wird in der dritten und vierten Aventiure vorgeführt und insofern rekonstruiert4, als Siegfrieds Auftreten am Wormser Hof zu Beginn gerade nicht als ein Handeln innerhalb von Kollektiven gezeigt wird, sondern als eigenständig-eigenwillige und vor allem alleinige Kampfansage gegen Gunther, Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit, sône ruoch ich, ist daz iemen lieb ode leit, ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân. lant unde burge, daz sol mir werden undertân. (NL 108) »Da Ihr so tapfer seid, wie mir gesagt worden ist, so habe ich die Absicht, Euch, ganz gleich, ob es jemandem gefällt oder jemanden stört, alles mit Gewalt abzunehmen, was Ihr besitzt. Land und Burgen sollen mir untertan werden.«
Siegfried agiert hier so radikal individuell, wie er zuvor in Hagens Binnenerzählung dargestellt wurde, denn jener Siegfried, von dem Hagen rückblickend erzählt hat, agiert außerhalb von Kollektiven. Deshalb beginnt Hagens Binnenerzählung mit dem Aufbruch des isolierten Helden: Dâ der helt aleine ân alle helfe reit (NL 86,1: »Als der Held einmal ohne jeden Begleiter ausgeritten war«). Diese Individualität, die Siegfried im erzählten Erzählen zukommt, zeigt sich nun am Wormser Hof ebenso wie der Wille zur Eroberung und zur gewaltsamen Übernahme (ertwingen) von Territorium und Herrschaft – lant unde burge. Siegfried will beherrschen und unterwerfen. Ich übergehe die Verhandlungen und Strategien, die den aggressiven Gast beruhigen können und die dazu beitragen, ihn zumindest einstweilen erfolgreich in das Wormser Kollektiv einzubinden, so dass auf diese Weise Siegfrieds individuelle Kollektivität wiederhergestellt wird. Stattdessen komme ich zum Angriff auf die Burgunden durch die Sachsen und Dänen, also zu einem Angriff, der im Gegensatz zum aggressiven Auftreten Siegfrieds tatsächlich von Kollektiven ausgeht. Auch hier gilt, dass die beiden Könige, Liudegêr und Liudegast, innerhalb ihrer Gruppe individuell handeln können, allerdings stets an ihre Gruppe gebunden bleiben. So gesehen ist völlig klar, dass Siegfried, indem er die Könige besiegt, zugleich auch
4
Vgl. insbesondere zur dritten Aventiure auch Schulz, Armin: »Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik«, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin/New York 2010, S. 339-360.
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deren Heere besiegt. Überhaupt kämpft Siegfried – diese »army of one«5 – ja nicht für sich, sondern für sein Kollektiv, in das er auch dadurch erfolgreich eingegliedert wird, dass er, der sich anfangs selbst als Angreifer gerierte, nun seinerseits die Angreifer überwältigt. Während Gunther angesichts der Bedrohung durch Dänen und Sachsen zuhause bî den frouwen (NL 172,3) bleibt, besiegt Siegfried an seiner statt die Invasoren. Dieser Sieg gegen äußere Feinde markiert, so Will Hasty, »the first step of an internal, courtly conquest«, wodurch Kriemhild – »along with the political power she embodies« – von Siegfried »erobert« wird.6 Die Eroberungen und Eroberungsandrohungen, die bis zu diesem Punkt im Nibelungenlied geschildert werden, können, so lässt sich zusammenfassen, als Formen der Aushandlung von Individualität und Kollektivität verstanden werden. Die zwölf Kämpfer, die Siegfried begleiten, sind ein Teil dieser Aushandlungsprozesse. b) »inmitten eines Gefolges von Tausenden«: Thea von Harbous Nibelungenbuch Die zwölf Ritter, die im Nibelungenlied mit Siegfried nach Worms ziehen, spielen im weiteren Verlauf der Erzählung keine Rolle. Sie fügen Siegfried keine Eigenschaften hinzu, müssen auch nicht für ihn kämpfen oder ihn schützen. Siegfried tritt in Worms als Königssohn auf und allein. In Fritz Langs Film wie auch im Nibelungenbuch Thea von Harbous verändert sich die Funktion der zwölf Männer entscheidend und damit auch die Position Siegfrieds. Im Nibelungenbuch erzählt Kriemhild in einer ausführlichen Binnenerzählung, dass Siegfried nach dem Bad im Drachenblut und der Aneignung des Hortes »mancherlei« Abenteuer erlebt und durch Königreiche zieht, in denen der Knabe verlacht wird, da er, »nichts als ein Ziegenfell um die schmalen Hüften, mit unbedecktem schimmernden Haupte in die Welt hinauszog, Utes Tochter zu gewinnen« (NB 47f.). Der rasch zornig werdende Siegfried aber »zwang die spöttischen Könige, daß sie mit ihm fochten, oder jämmerlich ohne Kampf seine Vasallen wurden. Zwölf Königreiche erwarb er; zwölf Könige zogen mit ihm in Xanten ein, wo er seinen Vater und seine Mutter grüßen wollte.« (NB 48) Die zentrale Funktion dieser kurzen Eroberungserzählung besteht darin, die massive Überlegenheit Siegfrieds trotz seiner kulturellen Unterlegenheit deutlich zu machen. Immerhin gelingt es ihm nicht nur geradezu im Vorübergehen, ein Dutzend Königreiche zu erobern; er tut dies außerdem als jemand, der sich jenseits der
5
Hasty, Will: »From battlefields to bedchambers: conquest in the Nibelungenlied«, in: Winder McConnell (Hg.), A companion to the Nibelungenlied, Columbia 1998, S. 79-93, hier S. 82, 85.
6
Ebd., S. 86.
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höfischen Sphäre bewegt. Auch die besiegten Könige tragen zu einer Transformation Siegfrieds in eine höfische Person offenbar nichts bei. Aus den zwölf Männern, mit denen Siegfried im Nibelungenlied nach Worms reitet, werden bei Thea von Harbou also zwölf besiegte Könige und Vasallen, die Siegfried an den heimatlichen Hof nach Xanten bringt. Dort habe, so heißt es in Kriemhilds Binnenerzählung weiter, Siegfried bleiben sollen, um als König zu herrschen. Siegfried aber zieht es nach Worms. Er nimmt Abschied und die zwölf Könige, »seine Vasallen« (NB 49), folgen ihm, ohne dass ihre Beziehung zu Siegfried näher erläutert würde. Bei der Beschreibung der Ankunft in Worms kommt schließlich die kollektive Individualität – die Profilierung von Individualität durch ein Kollektiv – zum Tragen, die auch im Nibelungenlied eine wichtige Rolle spielt. Kriemhild, die Siegfrieds Einzug in Worms beobachtet hatte, erzählt später Rüdiger, dass Siegfried »hätte allein sein mögen oder inmitten eines Gefolges von Tausenden, – es wäre sich gleich geblieben. Denn wo er auch stand, war kein anderer neben ihm. Er war alles, Rüdiger, – Licht und Morgentag, blauer Himmel und große, strahlende Wolke.« (NB 51) Die zwölf Könige spielen bei dieser Beschreibung, durch die das auf Siegfried gerichtete Begehren Kriemhilds deutlich wird, keine Rolle. Zwar ließen sie sich als Ausgangspunkt und Anlass für Kriemhilds Überlegungen zu Siegfrieds unantastbarer Prominenz »inmitten eines Gefolges von Tausenden« verstehen – aber explizit erwähnt werden die Vasallen an dieser Stelle des Buches nicht. Die entsprechende Szenenfolge im Film indes, die nicht als Binnenerzählung angelegt ist, ist nicht auf Kriemhilds begrenzte Sicht eingeschränkt, sondern visualisiert sorgfältig die Beziehung Siegfrieds zu seinen Begleitern. c) »mit zwölf seiner Recken«: Fritz Langs Siegfried Siegfried hält sich – im Gegensatz zum Nibelungenbuch, das ihn nach Xanten reiten lässt – während des gesamten Films stets in der Fremde auf. Selbst in Worms ist er als derjenige, »der heute kommt und morgen bleibt«7, allen Integrationsbemühungen zum Trotz stets ein Fremdkörper. Dass er in Worms plötzlich als kultivierter und stolzer Königssohn auftreten kann, ist zumindest überraschend. Unbekleidet, wie er zu Beginn erscheint, ist Siegfried »untouched by class and status conscious-
7
Simmel, Georg: »Exkurs über den Fremden«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 41958, S. 509512, hier S. 509.
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ness«8, wie Anton Kaes schreibt. Die zwölf Könige, die Siegfried – ohne dass dies im Film gezeigt wird – unterworfen hat, stehen für den Übergang vom halbnackten Krieger zum ritterlichen König. Dieser Übergang vollzieht sich in Thea von Harbous Nibelungenbuch wohl während Siegfrieds Aufenthalt in Xanten, da die zwölf bezwungenen Könige zu Siegfrieds Übergang zur Höfischkeit nichts beitragen. Insofern sind die Männer im Film nicht wie im Nibelungenbuch und im Nibelungenlied eine kaum funktionalisierte Begleitung Siegfrieds, sondern ein Signum von Herrschaft, eine Personifikation der kriegerischen Potenz Siegfrieds als Eroberer und ein Bestandteil der Aneignung und Präsentation von Höfischkeit des nun für die Werbung Kriemhilds qualifizierten Protagonisten. Der in Worms ankommende Siegfried ist nicht derjenige, der von Mime und dessen Sippe losgeritten war. Siegfrieds Kleidung, ihr Schnitt und ihre Musterung passen zu Worms und auch die Anwesenheit der zwölf Könige, die die Wormser Spielregeln kennen, verweist darauf, dass Siegfrieds Eroberungen eine notwendige und auch erfolgreiche Vorarbeit für die Werbung um Kriemhild waren, eine Legitimation, um in die Burgundenwelt eintreten zu können – auch wenn sich dies erst im Nachhinein erweist. Hagens Misstrauen bei der Ankunft Siegfrieds in Worms liegt in Siegfrieds Rolle als Eroberer begründet, von der Volker zuvor erzählt hat. Zwar kommt Siegfried nicht als Eroberer nach Worms, sondern als Werber um Kriemhild – anzusehen ist ihm dies jedoch nicht, denn auf der Zugbrücke vor dem Wormser Burgtor steht er gemeinsam mit zwölf Rittern. Dass es sich dabei um die zwölf Könige handelt, die sich Siegfried zu Vasallen gemacht hat, legt vorerst nur die Handlungsfolge nahe, bis Siegfried wenig später mit einer deiktischen Geste die Beziehung zu seinem Gefolge deutlich macht und hierdurch die zwölf Ritter als Könige ausweist und sie so gewissermaßen überhaupt erst zu Königen macht. Die Brücke markiert als liminaler Raum und Übergang von der Natur zur Kultur deutlich den Weg von den nicht visualisierten Praktiken der Eroberung und Unterwerfung hin zum dauerhaften Aufenthalt Siegfrieds am höfischen Wormser Hof. Am Beispiel der zwölf Könige lässt sich eine erfolgreiche Aushandlung der Machtrelationen zwischen einzelnen Figuren und Figurengruppen beobachten. Dies ist angesichts all der prekären und instabilen Personenbeziehungen eine bemerkenswerte Ausnahme. Gerade mit Blick auf schwierige Hierarchieverhältnisse bildet Siegfrieds Unterwerfung der zwölf Königreiche ein funktionierendes Modell der Subordination, durch das die Defizienz anderer Modelle hervorgehoben wird. Eingewoben in dieses »Erfolgsmodell« sind verschiedene Kategorien, die für eine stabile und effektive Subordination stehen, insbesondere das ›Geschlecht‹, der
8
Kaes, Anton: »Siegfried – A German film star. Performing the nation in Lang’s Nibelungenfilm«, in: Tim Bergfelder (Hg.), The German cinema book, London 2002, S. 63-70, hier S. 66.
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›Stand‹ sowie die ›kulturelle Zugehörigkeit‹: Die zwölf Ritter, mit denen Siegfried in Worms ankommt, sind – wie Siegfried – männlich, königlicher Abstammung und Mitglieder einer adeligen Ritterkultur. Zu den Konfliktlinien, die durch Siegfrieds Ankunft entstehen, gehört auch das Aufeinanderprallen verschiedener Konzepte von Männlichkeit.9 Alexandra Tischel unterscheidet zwischen dem »von Siegfried verkörperten Modell individueller, ursprünglich-naturwüchsiger Männlichkeit« und dem »Männerbund der Burgunden […], in dem die soziale Hierarchie durch die Werte Treue und Kameradschaft zum Teil ausgehebelt scheint«10. Die zwölf Könige könnten eine Ressource für Kameradschaft und Männerbündnisse bilden, sie sind aber, wie zu zeigen sein wird, ein Teil und ein Zeichen der Individualität des Helden.
Abb. 1: Siegfried und seine Vasallen reiten durch das Burgtor (NF I 00:40:08)
In drei Vierergruppen reiten die zwölf Ritter in voller Montur, mit Helm, Rüstung und Lanzen hinter Siegfried, der ohne Rüstung allein vor ihnen reitet. Die Anordnung visualisiert eine Differenz zwischen einem gesichtslosen, disziplinierten Ritterkollektiv und der Kühnheit des exponierten Helden. Als Ornament, das unter-
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Zur Konstruktion von Männlichkeit vgl. den Aufsatz von Peter Somogyi in diesem Band.
10 Tischel, Alexandra: »›Ihr kennt die deutsche Treue nicht, Herr Etzel‹ – Nation und Geschlecht in Thea von Harbous ›Nibelungenbuch‹«, in: Kati Röttger/Heike Paul (Hg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung, Berlin 1999, S. 264-284, hier S. 272.
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schiedlich symmetrisch angeordnet werden kann, fügen sich die Ritter zudem in die ornamentale Logik des Films. Die Kameraeinstellung, die nach dem Öffnen des Tors Siegfrieds Einzug mitverfolgt, zeigt frontal das hölzerne Burgtor und den deutlich vor seinen Rittern reitenden Siegfried (Abb. 1). Dabei nimmt die Kamera nicht die Perspektive der einzelnen Protagonisten ein, weder Siegfrieds noch Gunthers Perspektive, sondern sie ist stets von einem nicht näher definierten Beobachterstandpunkt aus auf die klar hierarchisierte Gruppe gerichtet, die aus Siegfried und den zwölf Rittern besteht. Diese Perspektive ändert sich beim Aufeinandertreffen von Siegfried und Gunther, als die Kamera zuerst den Saal zeigt, in dessen rittergesäumtem Fluchtpunkt Gunther auf seinem Thron sitzt (Abb. 2), um anschließend Siegfried und seine Ritter in den Blick zu nehmen, die – nun ohne Pferde – den Saal betreten (Abb. 3). Es sind, dies legt die Kameraperspektive nahe, zwei Personen, die aufeinandertreffen. Die anschließende Draufsicht macht eine Zweiteilung des Raumes sichtbar: Während sich im hinteren Bereich sowohl die Wormser Ritter als auch Siegfrieds zwölf Könige befinden, stehen sich im vorderen Bereich Siegfried und Gunther gegenüber. Die Wormser Ritter, die in zwei Reihen an der rechten und linken Seite stehen und mit beiden Armen ihre auf den Boden gestützten Schilde halten, scheinen auf den ersten Blick keine kriegerische, sondern eher eine repräsentative Funktion zu haben. Dass sich dies anders verhält, wird deutlich, als Gunther und Hagen Siegfried das Ansinnen vortragen, Gunther dabei zu helfen, Brunhild für sich zu gewinnen. In diesem Moment klärt Siegfried die Beziehung zu seinen zwölf Rittern (»Zwölf Könige sind meine Vasallen«) und stellt fest: »Nie war ich eines Königs Vasall und werde es nimmermehr!« (S 00:45:21) Damit ist ein zentrales Modell der Personenbeziehung und -hierarchie angesprochen, denn das Modell der Vasallität ist für Worms von überragender Bedeutung – schon allein wegen Hagens Beziehung zu Gunther und nicht zuletzt, weil Vasallität auch bei der Auseinandersetzung der Königinnen den zentralen Streitpunkt bildet.11 Wenn es – so heißt es später bei der Auseinandersetzung vor dem Dom in einem Zwischentext – »dem Weibe eines Vasallen« nicht »geziemt«, »vor der Königin Burgunds den Dom zu betreten« (NF I 01:36:16), so werden Kriemhild und mit ihr Siegfried vor dem Hintergrund genau jener Logik der Vasallität bewertet und abgewertet, die die Beziehung zwischen Siegfried und den zwölf Königen regelt. Im Anschluss an ein Wortgefecht mit Hagen zieht Siegfried sein Schwert, die zwölf Könige bilden mit ihm einen Ring, die Wormser Ritter zur Rechten und zur Linken ziehen ebenfalls ihre Schwerter, im Hintergrund stürmen weitere Ritter in den Saal und es beginnt eine Auseinandersetzung, die sich erst durch das Auftreten
11 Da ich mich auf den Siegfried-Film beschränke, bleibt mit Rüdiger ein wichtiger Vasall außen vor. Vgl. zu dieser Figur den Aufsatz von Regina Toepfer in diesem Band.
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Abb. 2: Blick in den Saal und auf die Wormser Königsfamilie (NF I 00:42:22)
Abb. 3: Blick aus dem Saal und auf Siegfried mit seinen Vasallen (NF I 00:42:31)
Kriemhilds entspannt (Abb. 4). Siegfried selbst zeigt seine Stärke und Kühnheit während des kurzen Scharmützels, indem er lächelnd und mit halb erhobenem Schwert den Blick auf Hagen und Gunther richtet, während seine Könige die ornamentale Gitterstruktur aufgeben und einen Kreis bilden, um den sicher darin Einge-
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schlossenen zu verteidigen (Abb. 5).12 Mit dem Lächeln und der furchtlosen Fröhlichkeit präsentiert Siegfried seine Überlegenheit und seine Unantastbarkeit. Das Ritterkollektiv, das er um sich geschart hat, kämpft für ihn und an seiner Stelle. So wie Siegfried durch das Blut des Drachen weitgehend vor Verletzungen geschützt ist, schirmt ihn der Kollektivkörper der zwölf Ritter gegen die Wormser Übermacht. Zudem wird hier zusätzlich zu Siegfrieds auratischer Dominanz seine übermenschliche Stärke in Form der zwölf kämpfenden Männer demonstriert. Diese Männer ohne individuelles Profil kämpfen nicht nur für ihn, sondern sind Teil seiner Ausstrahlung und Signum seiner übermenschlichen Stärke. Gleichzeitig stehen sie für ein radikales Modell der Anerkennung und Treue, zu dem die unbedingte Bindung der Gefolgsleute an ihren Herrn gehört – ohne Rücksicht auf das eigene körperliche Wohl. Diesem Modell der Treue ist in der erzählten Welt des Films eine Statusschranke eingeschrieben, denn die Herstellung einer Treuebeziehung zwischen Siegfried und Gunther wird zwar durch die Blutsbrüderschaft und den Frauenhandel versucht, erweist sich jedoch als problematisch. Nicht nur hierarchische Personenbeziehungen scheitern, auch egalitäre Beziehungen werden als problematisch gekennzeichnet, sodass lediglich Siegfrieds Sieg über die ihm ständisch gleichrangigen Ritter ihm eine dauerhafte Stabilisierung der Hierarchie ermöglicht.
Abb. 4: Siegfried und seine Ritter bilden einen Ring (NF I 00:45:56)
12 Der Gegensatz zwischen runden und rechteckigen Formen gehört zur grundlegenden Formensprache des Films. Laut Sabine Hake repräsentieren Rundungen »a mythological time, a magic world of fairy tales«. Hake, Sabine: »Architectural Hi/stories: Fritz Lang and The Nibelungs«, in: Wide Angle 12 (1990), S. 38-57, hier S. 52.
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Abb. 5: Siegfried inmitten seiner kampfbereiten Ritter (NF I 00:46:00)
Durch ihre wiederholt dargestellte geometrische Aufstellung werden die Ritter zu zwölf disziplinierten Körpern, deren soziale Position durch die ornamentale Gruppierung performativ her- und dargestellt wird. Die zwölf Könige stehen für eine stabile und effektive Subordination, für eine »geglückte« Vasallität – wobei gerade Siegfrieds expliziter und nachdrücklicher Widerstand gegen eine Vasallenrolle deutlich macht, dass diese Position mit einer Erniedrigung einhergeht. Die Konzepte von Unterwerfung und Dienstbarkeit sind somit in der erzählten höfischen Welt klar negativ markiert. Während es unproblematisch ist, dass Alberich erschlagen wird, führt im Fall der zwölf Könige die Kombination von höfischer Männlichkeit und Herrschaft zu einer alternativen Beziehungsform: Weil sie sowohl höfische Männer als auch besiegte Herrscher sind, werden sie nicht getötet, sondern müssen loyalen Dienst an ihrem Herrn leisten. Vasallität zielt im Film auf die Körper ab, auf deren Disziplinierung und ornamentale Formierung, auf die Anordnung der Körper rund um den Helden, dessen Individualität durch die Kollektivität der Vasallen hervorgehoben wird. Gezeigt werden unbedingte Ergebenheit und bedingungsloser Gehorsam. Die zwölf Könige ähneln, was die Loyalität und die ornamentale Kollektivität angeht, den Rittern am Wormser Hof, die ebenfalls eine homogene, kaum individualisierte Gruppe bilden. Den Gegenpol zu den Wormser Rittern bildet die Wormser Herrschaftsgemeinschaft, die sich durch Individualität, Zugang zu Ressourcen und eine unhinterfragte und nicht in Zweifel gezogene Legitimation ihrer Herrschaft auszeichnet. In ihrer Handlungsfähigkeit unterscheiden sich die zwölf Könige indes von den Zwergen, die für Alberich die Schale des Hortes tragen, und deren Schicksal eng mit Alberich verbunden ist. Im Gegensatz zu den Zwergen muss niemand
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die zwölf Könige in Ketten legen. Die Zwerge wiederum sind in ihrer Aktantenrolle mit jenen Wormser Rittern verknüpft, die bei der Ankunft Brunhilds den menschlichen Landungssteg bilden. Weil die Unterwerfung der zwölf Könige »glückt« und weil sie lediglich zusammen mit Siegfried auftreten, spielen sie im weiteren Verlauf des Films keine Rolle mehr und werden marginalisiert. Zwar tauchen sie auf Isenstein und beim Transport des Nibelungenhorts nach Worms noch kurz im Bild auf, für die Handlung jedoch hat ihr Auftreten keinerlei Relevanz mehr. Dies bedeutet auch, dass von den zwölf Königen keine Bedrohung ausgeht. Siegfrieds Beziehung zu ihnen ist denn auch ein Indiz für die Etablierung eines Modells von Männlichkeit, zu dem zwar die problemlose Unterwerfung fremder Könige gehört, gleichzeitig aber auch die Aneignung und die – das zeigt die ornamentale Choreographie des Films – körperliche Integration des besiegten Kollektivs. Wegen dieser Form von kollektiver Individualität bieten die zwölf Vasallen Siegfried keinen dauerhaften Schutz und kein Potential für Allianzbildungen. Gerade weil sie die Dominanzverhältnisse nicht infrage stellen, können sie marginalisiert und zu Siegfrieds Kollektivkörper werden, der wiederum zum Objekt der Wormser Intrige wird. Die zwölf Könige spielen dementsprechend nach Siegfrieds Tod keine Rolle mehr; sie sterben gleichsam mit ihm.
2. I NTERSEKTIONALITÄT
UND
S ELBSTVERVIELFÄLTIGUNG
a) Hierarchische Personenbeziehungen Die unterschiedlichen Welten, die in Fritz Langs Nibelungenverfilmung entworfen werden, korrespondieren mit unterschiedlichen Eroberungsbewegungen und daran anschließende Praktiken. Hierzu gehört das situative Bezwingen des Gegners, aber auch seine dauerhafte Unterwerfung und sogar seine Tötung. Am Beispiel Siegfrieds, der sich in drei der vier erzählten Welten bewegt13, lässt sich beobachten, dass die mit den Eroberungen verknüpften Praktiken je nach Geschlecht‹, ›kultureller Zugehörigkeit‹, ›Stand‹ und ›Religion‹ der Besiegten variieren. Es ist die spezi-
13 Zu den vier Welten vgl. das Programmheft anlässlich der Filmpremiere: Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174. Vgl. auch Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang: Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/ Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 204f.
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fische Verknüpfung dieser ungleichheitsgenerierenden Kategorien, die bestimmt, wie erobert wird und welche Folgen die jeweilige Eroberung zeitigt. Siegfried will, wie es in einem Zwischentitel des Films heißt, »ausziehen, Kriemhild zu gewinnen« (NF I 00:12:32). Ausgelöst wird dieses plötzliche Begehren durch die Erzählung von Worms, an die sich erst in einem zweiten Schritt die Erzählung von Kriemhild anschließt. Worms fungiert im ersten Teil des Nibelungenfilms als Zentrum, dem die Nibelungenwelt um die Gnome, Alberich und den Drachen ebenso als Peripherie zugeordnet ist wie die Welt Brunhilds. Gleichwohl führt Siegfrieds Weg nicht direkt nach Worms, sondern zuerst in einen Raum, der auf vielfältige Weise zu erobern ist. Ganz überraschend ist dieser scheinbare Umweg nicht, denn bei Siegfried überkreuzen sich zwei Begehren. Bevor er nämlich auszieht, um Kriemhild zu »gewinnen«, steht mit dem Schwert, das er schmiedet, ein begehrenswertes symbolisches Objekt im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, das nicht nur den Abschluss eines Lebensabschnitts markiert, sondern auch mit zukünftigem Verhalten korrespondiert. In der in diesem Zusammenhang entscheidenden Szenenfolge erprobt Mime die außergewöhnliche Schärfe des Schwertes durch eine Feder, die beim Fallen auf die Klinge feinsäuberlich zerteilt wird. Siegfrieds Ausbildung zum Schmied – dies wird durch die »Federprobe« sichtbar – war erfolgreich und ist abgeschlossen; das Schwert macht Siegfried von nun an zum Krieger. Deshalb spielt dieses symbolische Objekt im Folgenden eine zentrale Rolle in den Episoden, die zwischen dem Abschied von Mime und der Ankunft in Worms stehen. Das Schwert markiert eine Phase von Kämpfen und Eroberungen, bei der nicht ganz klar wird, ob diese Phase zur Neujustierung des Begehrens auf Kriemhild gehört oder dieser Neuausrichtung vorgelagert ist. Die Phase beginnt mit der Tötung des Drachen und der Tötung Alberichs und gelangt mit der Eroberung von zwölf Königreichen vorerst zu einem Abschluss. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass sich Siegfried bei seinem Griff in den Hort nicht für die Krone interessiert, sondern für ein neues, besseres Schwert (Abb. 6): Der Drang nach Kämpfen und Eroberungen ist stärker als der Drang nach einer durch die Krone symbolisierten Herrschaft. Es ist dieser Drang nach Eroberungen, der sich bereits bei dem Sieg über den Drachen zeigt, denn von diesem »unaggressive[n] Untier«14 geht keine unmittelbare Bedrohung aus. Siegfried ist es, der ohne Not angreift und den Drachen tötet. Auf diese Weise setzt sich in dieser Situation nicht das Begehren nach Kriemhild durch, zu der er unterwegs ist, sondern das Begehren, für das das Schwert steht.
14 C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 206.
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Abb. 6: Siegfried ergreift das Schwert aus Alberichs Hort (NF I 00:34:0)
Im Gegensatz zum passiven Drachen wird Alberich zweimal als Angreifer gezeigt. Seine Aggression gegenüber Siegfried trägt dazu bei, dessen Verhalten gegenüber dem Angreifer zu legitimieren. Aufgrund seiner Physiognomie und seines Verhaltens ist Alberich derart »anders«, dass seine Tötung im Rahmen der filmischen Narration gerechtfertigt zu sein scheint. Weil aber die Eroberung des Hortes mit der legitimen Tötung des Zwergenkönigs einhergeht, ist auch der Fluch, mit dem Alberich den Hort belegt, ein blindes Motiv, das später keine Rolle mehr spielt. Die Nibelungenwelt ist »ruhig gestellt – was der Film im spektakulären Bild der versteinernden Zwerge einfängt«15. Dass allerdings eine Tötung, wie sie anhand des Drachen und Alberichs vorgeführt wird, nicht zwingend ist, zeigt das Alternativmodell der Bezwingung Brunhilds. Die dritte Welt, in der sich Siegfried bewegt, ist die Welt Brunhilds. Dass diese Welt zu einer anderen kulturellen Sphäre gehört als Worms, wird vor allem anhand der undisziplinierten Frauenmassen und der weiblichen Herrschaft deutlich. Von Worms unterscheidet sich Isenstein, wie es durch Brunhild repräsentiert wird, somit vor allem hinsichtlich des ›Geschlechts‹ und hinsichtlich der ›kulturellen Zugehörigkeit‹. Zudem erobert Siegfried nun nicht für sich, sondern für Gunther, dem er beim Wettkampf zur Seite steht. Indem es Siegfried gelingt, Brunhild für Gunther zu bezwingen16, kann die durch das Flammenmeer symbolisierte Immobilität Brun-
15 Ebd. 16 Der Film verwendet allerdings eine andere Sprachregelung als dieser Aufsatz. Als Hagen, Gunther und Siegfried in der Hochzeitsnacht darüber nachdenken, wie Brunhild unschäd-
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hilds gebrochen werden: Durch ihr »displacement«, ihre erzwungene Migration wird Brunhild dauerhaft aus ihrer Herkunftswelt herausgelöst. Im Gegensatz aber zu den zwölf Königen, die ebenfalls ihre Heimat verlassen müssen, um Siegfried nach Worms zu begleiten, kann Brunhild, die »geraubte« Frau, in Worms nicht dauerhaft subordiniert und integriert werden. Dass diese nicht erfolgte Subordination nicht nur der Differenz der unterschiedlichen Welten, sondern insbesondere der Geschlechterdifferenz geschuldet ist, zeigt sich daran, dass Brunhild zweimal bezwungen werden muss: zuerst auf Isenstein und dann im Wormser Ehebett. Dass Ihre Integration in Worms selbst danach noch brüchig und vorläufig bleibt, zeigt schließlich ihr Suizid, der – im Gegensatz zum Nibelungenlied – das endgültige Scheitern der Subordination Brunhilds deutlich macht. Das dritte Modell für Personenbeziehungen, die mit Praktiken der Eroberung einhergehen, lässt sich anhand der zwölf Könige beobachten. Sie stehen in der Verfilmung für eine »geglückte« Aushandlung von Machtverhältnissen und für eine daraus resultierende stabile Vasallität. Der Film kann dabei nicht nur auf Vorarbeiten des Nibelungenbuchs Thea von Harbous, sondern mittelbar auch auf das hochmittelalterliche Nibelungenlied zurückgreifen. b) Intersektionelle Differenzen Aus intersektioneller Perspektive lassen sich Siegfrieds Eroberungen als Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen der Subordination lesen, die von der Tötung des Gegners im Falle einer rassischen Differenz über die stabile Vasallität bis hin zur Zähmung und Bezwingung einer fremden, unkultivierten Frau reichen. Unterlegt man dieses Dreiermodell von Tötung, Vasallität und Bezwingung schließlich mit einer religiösen Zuordnung, wird deutlich, dass diesem Dreiermodell im Film zudem unterschiedliche Religionen zugeordnet sind, so dass die Tötung Alberichs mit dem Judentum, die Unterwerfung der zwölf Könige mit dem Christentum und die Bezwingung Brunhilds mit dem Heidentum gekoppelt ist. Während Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit und Stand der Figuren recht deutlich markiert sind, ist die religiöse Dimension in der erzählten Welt von geringerer Bedeutung. Gleichwohl ist diese Kategorie der Generierung von Ungleichheit im Film markiert und für Rezipienten lesbar. Dass Alberich als Jude dargestellt
lich gemacht werden kann, heißt es in einer Texttafel: »Besiegt ist Brunhild, nicht bezwungen!« (S 01:18:40) Mit dem »Bezwingen« ist hier eine nachhaltige Subordination gemeint. Eben dies fällt im vorliegenden Aufsatz unter den Begriff der »Unterwerfung«, während der Sieg über Brunhild als (instabiles und deshalb prekäres) »Bezwingen« verstanden wird.
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wird, ist ikonographisch kaum von der Hand zu weisen.17 Die Verknüpfung mit den Reichtümern des Hortes tut ihr übriges. Brunhild ist – im Nibelungenbuch noch deutlicher als im Film – als Heidin gekennzeichnet, die sich an heidnische Riten hält und mit den christlichen Ritualen am Wormser Hof nichts zu tun haben will. Wenn sie bezwungen wird, dann nicht nur als Frau, sondern auch als Heidin, die nicht zuletzt deshalb nur schwer in die Wormser Gesellschaft zu integrieren ist. Demgegenüber passen die zwölf Könige, mit denen Siegfried in das christlich geprägte Worms kommt, offenbar problemlos in diese christliche Sphäre – zumindest werden weder bei Siegfried noch bei den zwölf Rittern religiöse Konflikte gezeigt. Ihre Integration funktioniert, was diesen Faktor anbelangt, problemlos. Anders formuliert: Da das Christentum aus Wormser Sicht die religiöse Norm darstellt, müssen andere Religionen markiert werden, während die zwölf Ritter, da sie in religiöser Hinsicht unmarkiert sind, automatisch dem Christentum zugeordnet werden können. Damit wird auch deutlich, dass es die religiöse Markierung Brunhilds und Alberichs ist, die den »Normalfall« des Christentums überhaupt als Norm installiert. Der religiöse Diskurs, der dem Film auf diese Weise eingeschrieben wird, dürfte den Diskussionen der 1920er Jahre geschuldet sein und ist im Rahmen des Films ein Beleg für die Bedeutsamkeit und dichte Verwobenheit verschiedener, zur Taxierung von Menschen verwendeter Kategorien.18 Je nach Perspektive verschiebt sich
17 Albrecht Schöne zitiert aus einer Filmkritik des Jahres 1924, in der Alberich mit einem »Ostjuden« identifiziert wird. Vgl. Schöne, Albrecht: »Siegfried. Zu Fritz Langs Film ›Die Nibelungen, Teil I‹«, in: Ders.: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, München 2005, S. 178-186, hier S. 182. Georg John, der Alberich spielte, wurde im Nationalsozialismus als »Volljude« klassifiziert; er starb im Ghetto Lodz. 18 Auf den politisch-kulturellen Kontext des Nibelungenfilms gehe ich nicht näher ein, obwohl gerade die Darstellung einer »geglückten« Unterwerfung angesichts des aus deutscher Sicht verlorenen Ersten Weltkriegs nicht uninteressant ist. Zwar hat Siegfried Kracauer in seiner einflussreichen Analyse den Film als Vorläufer einer nationalsozialistischen Massenästhetik gesehen (vgl. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übersetzt von Ruth Baumgarten/Karsten Witte, in: Ders.: Schriften, hg. von Karsten Witte, Band 2, Frankfurt am Main 1979, S. 100-104), dennoch spricht einiges für den Vorschlag Klaus von Sees, den Film »nicht so sehr vor dem Hintergrund der Leni-Riefenstahl-Filme und der NS-Ideologie zu interpretieren«, sondern »vielmehr aus dem geistig-kulturellen Klima seiner eigenen Zeit, also der Jahre nach dem Versailler Diktat und der frühen Weimarer Republik« (See, Klaus von: »›Dem deutschen Volke zu Eigen‹. Fritz Langs Nibelungenfilm von 1924«, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 115-132, hier S. 120). Wenn zu diesem »geistig-kulturellen Klima«
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deshalb auch die Gewichtung der jeweiligen Kategorie. Dass gerade der hinterlistige und gegenüber Siegfried körperlich benachteiligte Alberich ohne moralische Bedenken erschlagen werden kann, hat neben der körperlichen Benachteiligung sehr viel mit der religiösen Zuordnung zu tun, die viele Zuschauerinnen und Zuschauer der 1920er Jahre wohl recht problemlos vornehmen konnten. Dass die zwölf Könige sich Siegfried unterordnen, hat sehr viel mit dem Stand zu tun und mit dem Geschlecht, aber eben auch mit der kulturellen und unmarkierten religiösen Zugehörigkeit. c) Das Phantasma der Selbstvervielfältigung Die zwölf eroberten Ritter des Buches und des Films finden sich also bereits im Nibelungenlied, wobei dort unklar bleibt, ob Siegfried der zwölfte ist. Während aber die Ritter im Nibelungenlied nicht besiegt werden müssen, um Siegfried von Xanten nach Worms zu begleiten (wo sie nicht mehr erwähnt werden), wird ihre Rolle im Nibelungenbuch und in der Verfilmung ausgebaut und neu funktionalisiert. Der Siegfried, der im Nibelungenbuch mit den zwölf eroberten Königen nach Xanten reitet, bleibt im Film stets ein Fremder, der die zwölf Ritter auf dem Weg von Mimes Schmiede nach Worms unterwirft. Bei der Ankunft in Worms, bei den schwierigen Verhandlungen um Kriemhild und bei der Aushandlung der Hierarchiebeziehung zwischen Siegfried und der Wormser Führungsschicht werden die zwölf KöKönige als Kollektivkörper Siegfrieds gezeigt. Die weißen, gehorsamen, einheitlich gekleideten Krieger repräsentieren stabile Hierarchieverhältnisse und eine entindividualisierte, unhinterfragte und nicht in Zweifel gezogene Aufopferungsbereitschaft für ihren Herrn Siegfried. Da sie ornamentale Muster formen, bilden sie eine geschlossene Gruppe, die als stumme Gemeinschaft Siegfried wie ein Schatten zugeordnet ist. Weil sie stumm bleiben – weil man nur über sie sprechen kann, nicht aber mit ihnen – ist ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt und auf Siegfried ausgerichtet. Im Kontrast zur Tötung Alberichs und zum Bezwingen Brunhilds demonstrieren die zwölf Könige gerade im Gegensatz zu den ansonsten scheiternden Hierarchiebeziehungen, dass eine stabile, auf Über- und Unterordnung basierende Personenbeziehung möglich ist. Diese im Film dargestellte Möglichkeit, die im Nibelungenlied weder angelegt noch vorgesehen ist, eröffnet einen Raum für die Frage
auch eine »Kultur der Niederlage« gehört, kommt den im Film imaginierten Eroberungen und Unterwerfungen durchaus kulturelles Gewicht zu (vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918, Darmstadt 2001). Dass der Film eng mit der Repräsentation der Nation verbunden ist, führt Anton Kaes (A. Kaes: Siegfried – A German film star) aus.
S IEGFRIEDS
KÖNIGLICHE
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nach den Bedingungen für den Erfolg von Hierarchiebeziehungen. Im Rahmen der erzählten Welt des Films, der unterschiedliche scheiternde Personenbeziehungen anbietet, ist es die spezifische Kombination von ›Geschlecht‹, ›kultureller Zugehörigkeit‹, ›Stand‹ und ›Religion‹, die aus den bezwungenen zwölf Königen verlässliche Vasallen macht. Angesichts der kollektiven Individualität Siegfrieds lässt sich schließlich sogar die Frage stellen, ob die zwölf Könige nicht vielleicht als Visualisierung komplexer Subjektivierungspraktiken zu verstehen sind. Immerhin wird keine interpersonale Auseinandersetzung mit Siegfried und seinen Vasallen gezeigt, die ja sowieso kein personales Gegenüber darstellen, mit dem er sich kommunikativ auseinandersetzen könnte. Die gelingende Vasallitätsbeziehung lässt sich deshalb als eine Auseinandersetzung Siegfrieds mit sich selbst lesen. Die zwölf Könige sind dann eine »Ausfaltung« Siegfrieds, eine Selbstvervielfältigung, und er unterwirft letztlich niemand anderen als sich selbst. Mit Blick auf die drei diskutierten Personenbeziehungen ergeben sich dann drei Optionen der Überwindung des Anderen. Die erste Option besteht darin, den Anderen zu töten und somit dessen Bedrohungspotential dauerhaft zu eliminieren (Alberich). Die zweite Option besteht darin, den Anderen zu bezwingen; sie impliziert allerdings – im Unterschied zur Tötung –, dass der oder die Bezwungene jederzeit wieder aufbegehren könnte (Brunhild). Die dritte Option, die der Film anbietet, betrifft die Unterwerfung der zwölf Könige. Sie steht für das Phantasma, dass es gelingen könnte, jenseits des Tötens und Bezwingens eine dauerhafte und gelingende Personenhierarchie zu etablieren. Gelingen kann diese Form der Unterwerfung jedoch nur, weil sie sich letztlich auf den Unterwerfenden selbst richtet. Mit der Selbstvervielfältigung und Selbstunterwerfung Siegfrieds in den zwölf Königen wird paradoxerweise eine Differenz imaginiert, die weder auf Ungleichheit beruht noch eine solche generiert. Wenn Siegfried die zwölf Könige unterwirft, ist er ganz bei sich selbst.
Behinderte. Helden Ability und Disability in Fritz Langs Film Siegfried N ATAŠA B EDEKOVIû
Mehr als das deutsche Wort ›Behinderung‹ benennt der englische Begriff ›disability‹ das Kriterium, auf das es aus traditioneller medizinischer Sicht ankommt – die Fähigkeit oder ›ability‹. Das Präfix ›dis‹ verweist dabei auf das Fehlende und Nichtanwesende: »Disability is absence of ability«1. Dieser Verweis auf die Abwesenheit des Könnens unterstellt, dass die betroffene Person bestimmte Funktionen oder Aufgaben nicht ausführen könne. Dadurch wird nicht nur der adäquate Beitrag der betroffenen Person zur Gesellschaft in Frage gestellt, sondern als Konsequenz daraus auch ihre eng damit verbundene soziale Rolle. Grundlegend für diese Annahme ist die gesellschaftlich tief verwurzelte Vorstellung von Behinderung als einer körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung, die es nach Möglichkeit individuell durch medizinische Expertise und Rehabilitation zu mildern oder zu beheben gilt. Eine neue Sicht auf Behinderung jenseits der Rehabilitationswissenschaften forderte in den 1970er Jahren die emanzipatorische Behindertenbewegung in Großbritannien. Disability sei kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das nicht aufgrund des Körperschadens, sondern des Barrieren aufstellenden sozialen Systems entstehe: »In our view, it is society which disables… Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society. Disabled people are therefore an oppressed group in society.«2 Demnach stehen Disability (Behinde1
Epstein, Julia: Altered Conditions: Disease, Medicine, and Storytelling, New York 1995,
2
Union of Physically Impaired Against Segregation/Disability Alliance: Fundamental
S. 11. Principles of Disability, London 1976, S. 31, zit. nach Priestley, Mark: »Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise«, in: Anne Waldschmidt (Hg.), Kul-
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rung) und Impairment (Beeinträchtigung) in keiner kausalen Beziehung, sondern sind vielmehr auf eine Dichotomie von ›Natur‹ und ›Kultur‹ zurückzuführen. Während die Behinderung als Produkt gesellschaftlicher Benachteiligung angesehen wird, basiert die gesundheitliche Beeinträchtigung auf biologisch-medizinischen Erkenntnissen und wird nicht weiter hinterfragt.3 Mit Bezug auf Michel Foucault und seine Studie zum Wahnsinn4 ließe sich aber auch aus medizinischen Begriffen, die verschiedene Beeinträchtigungen bezeichnen, eine Diskursgeschichte ableiten, die den scheinbar gegebenen Tatbestand als ein historisches Artefakt entlarvt, das stets von je spezifischen Macht- und Wissenskonstellationen geprägt wird. Aufgrund dessen postuliert Anne Waldschmidt, dass beide Ebenen, sowohl Disability als auch Impairment, als gesellschaftliche Konstruktionen zu begreifen sind.5 Analog zur Differenzierung des Konzepts Geschlecht in die Aspekte Sex und Gender ermögliche ein kulturelles Modell von Behinderung auch die Dichotomie von Behinderung und Beeinträchtigung von einer vermeintlichen Naturhaftigkeit zu befreien und beide Kategorien vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu analysieren. Diese kulturwissenschaftliche Sichtweise bietet die Möglichkeit, die normative Ordnung aus der Sicht der Minderheit zu hinterfragen und Achsen der Differenz aufzudecken – ähnlich wie dies auch in den Gender Studies und in den Queer Studies praktiziert wird. Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre aber, Behinderung nicht mehr als ein persönliches oder gesellschaftliches Problem zu begreifen, das mit der individuellen oder kollektiven Identität verbunden ist. Dem vorgeschlagenen kulturellen Modell nach ist Behinderung ein »kulturelles Deutungsmuster«, das als »Ergebnis von Stigmatisierung« entsteht und seinen Ausgangspunkt nicht etwa in der medizinischen Expertise, sondern in »Erfahrungen aller Mitglieder einer Kultur«6 hat.
turwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, S. 23-35, hier S. 27, Anm. 3 [Herv. i.O.]. 3
Vgl. Waldschmidt, Anne: »Brauchen die Disability Studies ein ›kulturelles Modell‹ von Behinderung?«, in: Gisela Hermes/Eckhard Rohrmann (Hg.), Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung, Neu-Ulm 2006, S. 83-95, hier S. 87. Zum kulturellen Konstrukt von Impairment vgl. u.a. auch Tremain, Shelly: »On the Subjekt of Imapirment«, in: Mairian Corker/Tom Shakespeare (Hg.), Disability/Postmodernity. Embodying disability theory, London/New York 2002, S. 32-47; Thomas, Carol/Corker, Mairian: »A Journey around the Social Model«, in: Corker/Shakespeare, Disability/Postmodernity (2002), S. 18-31.
4
Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeit-
5
Vgl. A. Waldschmidt: Kulturelles Modell, S. 88f.
6
Ebd., S. 93.
alter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973.
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Obwohl die Kategorie Disability bisher in der Intersektionalitätsdebatte nur eine untergeordnete Rolle spielt, plädiert die Disability-Forschung dafür, »die Masterkategorie Behinderung als eine intersektionale und interdependente Kategorie zu konzipieren«, da »unterschiedliche gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse wie z.B. Homophobie, Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus mit Behindertenfeindlichkeit wechselseitig in Beziehung stehen.«7 Der zentrale Berührungspunkt und der Überschneidungsort hierfür ist der minorisierte, markierte Körper, an dem sich die unterschiedlichen Differenzkategorien manifestieren. Wie solche Zuschreibungen von körperlicher Tauglichkeit oder Inferiorität im Medium eines Spielfilms vorgenommen werden, lässt sich beispielsweise an Fritz Langs Verfilmung des Nibelungenstoffs beobachten.8 Dort spielen gerade die Inszenierungen des Körpers und seiner Unzulänglichkeiten eine besonders wichtige Rolle. In der nibelungischen Welt ist körperliche Stärke die Eigenschaft, welche den mythischen Helden Siegfried von den ruhmreichen Königen von Worms unterscheidet und die ihn vor allem im Kampf als überragend kennzeichnet. Doch die »Vernichtung«, so heißt es bei Joseph Campbell, »kann gerade aus dem sich ergeben, was unsere eigentliche Kraft ausmacht«9. Helden sind demnach nicht nur durch ihre wie auch immer geartete Schwäche gefährdet, sondern gerade auch durch ihre spezifischen Stärken. Zwar geht es in Campbells Studie Der Heros in tausend Gestalten, die inzwischen zum Standardwerk der Mythos- und Heldenforschung geworden ist, nicht um die Nibelungen, jedoch gibt es nur wenige Helden, auf die seine Beobachtung besser zutrifft: Dass die Repräsentanten des Wormser Könighofs den Helden als Bedrohung empfinden, liegt an Siegfrieds außerordentlicher physischer Kraft. Während diese körperliche Differenz in bestimmten kulturellen Räumen noch als besondere Ability zu Ansehen führt, verhindert sie in Worms aus der Sicht der normativen Ordnung des Hofes die soziokulturelle Eingliederung des mythischen Helden.
7
Raab, Heike: »Doing Feminism: Zum Bedeutungshorizont von Geschlecht und Heteronormativität in den Disability Studies«, in: Kerstin Rathgeb (Hg.), Disability Studies: Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen, Wiesbaden 2012, S. 69-89, hier S. 72. Zu Überschneidungen der Kategorie Disability mit anderen Kategorien vgl. u.a. auch Tervooren, Anja: Der verletzliche Körper. Überlegungen zu einer Systematik der Disability Studies, in: A. Waldschmidt: Kulturwissenschaftliche Perspektiven, S. 37-48.
8
Zitierte Ausgaben: Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem Decla-Ufa-Film ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
9
Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Berlin 2011, S. 30.
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Der folgende Text erörtert, wie in Fritz Langs Film Siegfried die körperliche Stärke der Protagonisten als Ability konstruiert wird, wie sie aber paradoxerweise auch ihre Geltung verlieren und sich in Disabilty verwandeln kann. Die Analyse der Produktion von Körpernormativitäten und sozialen Strukturen in der Nibelungenwelt, in Isenland und in Worms soll dazu beitragen, die Verwobenheit der Kategorie Dis/Ability mit anderen Differenzkategorien aufzuzeigen, die in ihrer Wechselwirkung den soziokulturellen Einschluss oder Ausschluss bedingen. Die folgende Analyse gliedert sich in vier Abschnitte, die jeweils eine andere Figur ins Zentrum stellen. Der erste Teil führt Schritt für Schritt in das Filmsetting ein. Die detailreichen Beschreibungen der Raum- und Figurenkonstellationen der nibelungischen Welt sollen zeigen, wie aufgrund von komplexen sozialen Strukturen die körperliche Devianz der Zwerge zu Diskriminierung und Disability führt. Im darauf folgenden Abschnitt wird die Figur Hagens fokussiert, der trotz seines von Kriegswunden versehrten Körpers und monströser Züge in seinem äußeren Erscheinungsbild vor Ability geradezu strotzt. Bevor abschließend Siegfrieds Aufstieg und Fall diskutiert werden, widmet sich der dritte Teil dem ohnmächtigen Wormser König, der trotz seines gesunden Körpers Prothesen braucht, um seine soziale Rolle adäquat erfüllen zu können.
1. D ER
VERWACHSENE
Z WERG
Fritz Lang selbst nennt es eine seiner wichtigsten Aufgaben bei der Verfilmung des nibelungischen Mythos, »in den Nibelungen vier vollkommen in sich abgeschlossene, einander fast feindliche Welten, streng zu unterscheiden und jede in sich selbst zum Gipfel zu führen: Die Welt von Worms, das hieß die Welt einer schon überfeinerten Kultur, in der jede Geste, jedes Gewand, jeder Gruß von einer fast müden, aber sehr adligen zur Sitte gesteigerten Einfachheit war. [...] Die zweite Welt. Die Welt des jungen Siegfried, der sich als Schmiedegeselle Mimes das Schwert, mit dem er den Drachen erschlägt, selber schafft, – der Dom des Waldes, die im Dämmer liegenden Wiesen, die verkrüppelten Bäume, in denen gespensthaft-elfisch der Herr der Zwerge, Alberich, haust. Gleichsam die Welt des Unterirdischen, reich an Gold, an Spuk, an Geheimnissen des Steins.«10
10 Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174, hier S. 172f.; zu den vier Welten vgl. auch Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang: Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 204f.
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Wie die zwei benannten Welten, so sind auch Isenland und das Hunnenreich, die als dritte und vierte Welt zur Strukturierung des Filmes beitragen, jeweils mit einer eigenen Ästhetik versehen und stehen für vier voneinander unabhängige Herrschaftsgebiete. Alberich, Gunther, Brunhild und Etzel herrschen souverän über ihre Königreiche und verfügen über gewaltige, verschiedenartige Ressourcen. Die räumliche, aber auch zivilisatorische Isolierung der einzelnen Welten voneinander wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass nur einige wenige Akteure die Grenzen zwischen ihnen überschreiten können: Es bedarf offensichtlich besonderen Wissens und besonderer Handlungsfähigkeit (Agency), um in die fremden Räume eindringen zu können und noch mehr davon, um sie heil wieder zu verlassen. Dies gelingt allen voran Siegfried, der auch die einzige Figur ist, die sich durchgehend in der Fremde befindet. Dass er keiner Gruppe wirklich angehört, ist in erster Linie an seiner körperlichen Differenz zu beobachten. Anders als bei Thea von Harbou, die ihr Buch zum Film mit einer unruhigen, düsteren Szene in medias res beginnt, deutet der Anfang von Fritz Langs Film eine heile Welt an. Zu sehen ist eine paradiesische, hügelige Landschaft, die von klarem Himmel und einem Regenbogen überspannt und von der Sonne strahlend erleuchtet wird. Je tiefer die Kamera in den Wald eindringt, desto düsterer wird es. Die Helligkeit verschwindet, Schatten breitet sich aus und auch der Anblick der Bewohner dieser märchenhaften Welt stört das anfängliche Wohlbehagen. Die »verkrüppelten Bäume« aus Langs Beschreibung entpuppen sich hier als eine Metonymie, denn es handelt sich um spärlich mit Fell bekleidete Krüppel, die auf der blanken Erde ihr Essen zubereiten und es verzehren.11 Gewinnt das Publikum dadurch erste Eindrücke von der Kultur dieses Volkes, verstärkt die nächste Einstellung die entstandenen Impressionen über die physische Beschaffenheit der Waldbewohner. Die Nahaufnahme in der dunklen Schmiedehöhle bietet einen unverstellten Blick auf den Körper eines der Bewohner, der durch seine starke Körperbehaarung bei den Zuschauer_innen den Eindruck erwecken kann, mehr einem Tier als einem Menschen ähnlich zu sein. Das von der anstrengenden Arbeit verzerrte Gesicht verstärkt das Unbehagen der Rezipient_innen, das der fast nackte Körper verursacht. Das verfilzte Haar im Gesicht und am Oberkörper unterscheidet sich kaum von dem Fellstück, das die Kreatur um die Hüfte gebunden trägt (Abb. 1). Wenn die Kamera in der nächsten Einstellung Siegfried beim Schmieden zeigt, ist für alle Zuschauer_innen klar, wer der Held der Geschichte sein muss. Es ist sein nackter, muskulöser Oberkörper, der Siegfried in erster Linie für diese Rolle qualifiziert, denn seine mit visuellen Mitteln hervorgehobene körperliche Überlegenheit könnte größer nicht sein. Das Feuer, das noch nicht direkt zu sehen ist, beleuchtet Siegfrieds glatte, helle und saubere Haut und lässt den zuvor gezeigten Nibelungen noch dunkler, 11 Zum Umgang mit Nahrung als Differenzierungsmerkmal vgl. den Beitrag von Lisa Pychlau-Ezli in diesem Band.
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Abb. 1: Der behaarte nibelungische Schmiedegehilfe mit von der Anstrengung verzerrten Gesichtszügen (NF I 00:03:16)
Abb. 2: Siegfrieds glatter Oberkörper wird durch eine Lichtquelle in Szene gesetzt (NF I 00:03:21)
behaarter und verschmutzter erscheinen (Abb. 2). Die Hitze und die Anstrengung scheint Siegfried nicht wahrzunehmen, denn seine Gesichtszüge bleiben bei der Arbeit entspannt und seine blonden Haare ordentlich. Dass hier gerade etwas Besonderes geschieht, kann man erahnen, weil die Kamera, verstärkt durch die wirkungsvoll platzierten Lichtquellen, Siegfrieds muskulösen Körper zeigt. Diese Ahnung verstärken Mimes begehrliche Blicke, mit denen er, versteckt hinter einem Stein, Siegfried beobachtet. In der Beschreibung der Szene betont Thea von Harbous Ni-
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belungenbuch Siegfrieds Anziehungskraft: »Aber Mime, der verkrüppelt und ebenso böse wie häßlich war, kauerte auf dem Mooslager und sah Siegfried zu, und er haßte ihn, weil er schöner war als alles, was man sich denken kann […].« (NB 38) Erst als das Licht stärker wird, kann das Publikum eindeutig erkennen, dass Siegfried ein Schwert schmiedet. Sodann kommt auch Mime gebeugt aus seinem Versteck heraus. In der »Welt des Unterirdischen« kreuzen sich zwei Perspektiven, die jeweils eine andere Norm voraussetzen. Aus der Sicht des Publikums lassen visuelle Gegensätze wie hell-dunkel, sauber-schmutzig, unbehaart-behaart, schön-hässlich, jung-alt, gerade-krumm oder gesund-verkrüppelt Kontrastbilder entstehen, die in dieser Sequenz nicht nur sympathielenkend sind. Solche binären Oppositionen rufen auch die Wahrnehmung von Über- und Unterordnung hervor. Der Film führt mit künstlerischen Mitteln die gesellschaftliche Praxis des »Othering«12 vor, durch die das als anders identifizierte Objekt in Differenz zur subjektiven Selbstwahrnehmung eines Einzelnen oder zur intersubjektiven Selbstwahrnehmung einer bestimmten Gruppe gesetzt wird. Indem Siegfried die Eigenschaften verkörpert, die das Publikum auch sich selbst zuschreibt oder zuschreiben möchte, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl. Gleichzeitig werden die Zwerge als fremd und niederträchtig gebrandmarkt und als andersartig klassifiziert. Parallel zu identitätsbildenden Prozessen werden hier Kohäsions- und Abstoßungsmechanismen innerhalb von und zwischen Gruppen konstruiert. Die Zwerge werden über ihre körperliche Unterschiedenheit von Siegfried nicht nur als physisch different, sondern zusätzlich auch als ethisch-moralisch unterlegen markiert. Ihre Körper werden semiotisch zu Bedeutungsträgern aufgeladen. Zusätzlich zur physiognomischen Hässlichkeit wird den Zwergen auch eine hässliche Seele zugeschrieben: Sie lachen Siegfried aus, als er ankündigt, Kriemhild heiraten zu wollen; sie schicken den Nichtsahnenden zu dem Drachen und bringen so den strahlenden Helden, den das Publikum womöglich schon ins Herz geschlossen hat, in Gefahr; sogar hinterlistig töten will ihn Mimes Bruder Alberich, obwohl ihm Siegfried nichts getan hat. Zusätzlich stehen die Nibelungen für Praktiken der Versklavung und Unterwerfung, was besonders in der Schatzhöhle deutlich wird.13 Die abweichende Körperlichkeit der Nibelungen stört somit nicht nur die natürliche, sondern auch die moralische Ordnung der Welt, für die Siegfried in jeglicher Hinsicht den normativen Maßstab liefert. Die divergieren-
12 Zum Begriff »Othering« vgl. u.a. Spivak, Gayatri Chakravorty: »The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives«. in: Francis Barker (Hg.), Europe and the Others, Vol. 1 Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, Colchester 1985, S. 128-151. 13 Der Schatz der Nibelungen liegt im Film in einer unterirdischen Höhle, auf einer Riesentafel, die versklavte, in Ketten gelegte Zwerge auf ihrem eigenen Rücken halten müssen.
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de Form des Körpers suggeriert hier Charakterschwäche14 und die biologische Impairment-Ebene beeinflusst die soziokulturellen Wertvorstellungen, indem das Publikum die Zwerge als das Andere erkennt und sie in Differenz zu sich selbst setzt. Aus der Perspektive der Nibelungen betrachtet, ist jedoch Siegfried das auffällige Andere. Der glatte, helle Körper ist aus ihrer Sicht derart deviant, dass, auch wenn sich Siegfried durch seine Kleidung den Gebräuchen der Nibelungen anpasst, seine Zugehörigkeit zur ethnischen Gemeinschaft der Nibelungen ausgeschlossen bleibt. Die Feindlichkeit, die die Zwerge ihm gegenüber zeigen, wenn sie ihn auslachen oder absichtlich in den vermeintlichen Tod schicken, wird aber von einem Begehren begleitet, das für sie unerfüllt bleiben muss. Im Unterschied zu den im Wald bleibenden Kreaturen wagt Siegfried es, um die umschwärmte Kriemhild zu werben. Auch Mimes Wunsch nach Zerstörung des zugleich begehrten und gehassten Gesellen wird nicht in Erfüllung gehen. Die Welt der Nibelungen ist eine männlich-homosoziale. Zwar können die Zwerge als ältere Männer identifiziert werden; das eigene biologische Geschlecht scheint jedoch für die monströsen Körper bedeutungslos zu sein, da die völlige Abwesenheit des weiblichen Geschlechts in keiner Weise thematisiert wird und scheinbar auch für die Fortpflanzung keine Rolle spielt. Die Nibelungen erscheinen somit als geschlechtliche Neutren, die keine Verwirklichung des sexuellen Begehrens kennen. Obwohl der verträumte Gesichtsausdruck des Erzählers von Kriemhilds Geschichte Sehnsucht andeutet, ist Siegfried der einzige, der Handlungswilligkeit zeigt und sich entscheidet, die Frau für sich zu gewinnen. Die Zwerge kennen den Weg nach Worms, erwägen aber noch nicht einmal die Möglichkeit, Kriemhild für sich zu beanspruchen. Dass körperliches Begehren dennoch präsent ist, lässt sich aus den Blicken erahnen, die auf Siegfrieds Körper gerichtet werden. Während Siegfried sein Schwert in der Höhle schmiedet, bewundert ihn Mime aus dem sicheren Versteck heraus, als dürfe er es nicht in aller Öffentlichkeit tun. Wenn der stolze Schmied die Waffe dann ausgestreckt in die Luft hält und das eigene Werk bewundert, präsentiert er dem Publikum und sich selbst seine Potenz, und seine Männlichkeit erreicht den vorläufigen Höhepunkt (Abb. 3). Damit ist auch das Versteckspiel beendet. Eine ähnliche Inszenierung ist am nächsten Punkt von Siegfrieds Initiationsweg zu beobachten, nämlich im Kampf mit dem Drachen. Die unterirdische, dunkle Höhle weicht hier einem paradiesischen Wald, durch den Siegfried mit nacktem Oberkörper auf einem weißen Pferd reitet.15 Inmitten eines 14 Vgl. Mitchell, David T./Snyder, Sharon L.: »Introduction: Disability Studies and the Bind of Representation«, in: Dies. (Hg.), The Body and Physical Difference. Discourse of Disability, Ann Arbor 1997, S. 1-31, hier S. 5. 15 Als Vorbild für diese Szene erkannte die Forschung ein Böcklin-Gemälde. Vgl. dazu Hake, Sabine: Architectural Hi/stories: Fritz Lang and The Nibelungs, in: Wide Angle 12 (1990), S. 38-57, hier bes. S. 43f. Zu weiteren Inszenierungsvorbildern vgl. Schönemann,
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»locus amoenus« kann der Held Unverwundbarkeit gewinnen, indem er seinen bisher ohnehin nur leicht bekleideten Körper vollständig entblößt und im Blut des getöteten Drachen badet. Dass der Eindruck vom paradiesischen Zustand aber trügerisch ist und weder Unsterblichkeit noch Unschuld wiedererlangt werden können, zeigt der Film durch die Wahl der Kameraperspektive. Durfte das Publikum dem Kampf mit dem Drachen noch ganz aus der Nähe beiwohnen, billigt der Film beim Bad im Drachenblut nur einen kurzen Blick aus der Ferne auf Siegfrieds nackten Körper zu. In der nur von Männern bewohnten Welt ist sich die Kamera Siegfrieds Nacktheit durchaus bewusst – beobachtet wird mit voyeuristischer Vorsicht nur aus sicherer Entfernung, versteckt zwischen Bäumen (Abb. 4). Wie Mime zuvor den schmiedenden Siegfried in der Höhle heimlich beobachtete, so versetzt der Film nun sein Publikum in die gleiche Lage; jetzt sind es die Zuschauer_innen, die Siegfried beim Nacktbaden ausspähen.
Abb. 3: Mime beobachtet Siegfried versteckt hinter einem Stein (NF I 00:04:44)
Siegfrieds von Beginn an strahlende Schönheit trennt den Helden von den restlichen Einwohnern zusätzlich auch auf der Gender-Ebene. Entworfen wird ein hybrides Modell der Männlichkeit, das Jugend und Kraft vereint, gleichzeitig aber auch auf Charakteristika setzt, die stereotypisch dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben werden. Sein gepflegtes Äußeres und sein strahlendes Lachen sondern ihn nicht
Heide: Fritz Lang. Filmbilder, Vorbilder, Berlin 1992 und Breitmoser-Bock, Angelika: Film, Bild, Schlüsselbild. Zu einer kunstwissenschaftlichen Methodik der Filmanalyse am Beispiel von Fritz Langs Siegfried (Deutschland, 1924), München 1992.
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Abb. 4: Die Kamera und somit auch die Zuschauer_innen beobachten Sigfried versteckt hinter einem Baum (NF I 00:22:25)
nur von den Nibelungen ab, sie lassen ihn auch die symbolische Rolle der begehrten Frau in der groben Männerkultur übernehmen. All dies hilft, Siegfried in den folgenden Gesängen als begehrenswerten Helden wahrzunehmen. Die Initiation verläuft im Film über verschiedene Stufen, die allesamt mit Siegfrieds physischer Kraft in Verbindung stehen. Um sich als geeigneter Werber um Kriemhild zu qualifizieren, muss Siegfried über eine besondere Fähigkeit oder Ability verfügen, denn Kriemhild ist nicht für jeden Werber erreichbar. Zuallererst muss Siegfried den Weg nach Worms finden und dies gelingt ihm, indem er sich körperlich durchsetzt – er droht den alten Zwerg Mime umzubringen, sollte dieser ihm den Weg nicht verraten wollen. Den Drachen und Alberich muss er tatsächlich töten, ganz ohne Panzer, nur mit der Kraft seiner Muskeln und seines Schwertes. Siegfrieds Kämpfe gegen die zwölf Könige werden zwar nicht gezeigt, Volker erzählt allerdings, dass »der Starke« (NF I 00:35:29) sie bezwang.16 Die Insignien, die Siegfried bei seinen Abenteuern erlangt, verleihen ihm körperliche und herrschaftliche Potenz, die – repräsentiert durch das Schwert, den Nibelungenhort und die treuen Vasallen – auch für die Öffentlichkeit wahrnehmbar ist. Somit wird Siegfried als Inbegriff von Ability präsentiert. »Bei Körpern als Produktion und Produzenten von Gesellschaft geht es sozialwissenschaftlich also weniger darum, was sie sind, sondern vielmehr, was sie bedeuten, wie (weit) sie formbar sind und welche Eigensinnigkeiten sie gesellschaftlich in Anschlag bringen. Körper
16 Vgl. den Beitrag von Michael R. Ott in diesem Band.
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sind in diesem Sinn physikalisch, emotional und sensitiv erfahrbare Medien und Erfahrungsdimensionen von AkteurInnen, die für die Zuschreibung sozialer Positionen nutzbar sind.«17
Anhand der anfänglichen Körperinszenierungen konstruiert der Film kulturelle Ordnungen, die auf Stereotypen beruhen und dazu dienen, Siegfried als Helden zu inszenieren. Ihm wird sexuelle und herrschaftliche Potenz zugewiesen, den Zwergen hingegen Ohnmacht und Asexualität. Dem jungen Körper wird Tugendhaftigkeit und Kraft unterstellt, dem alten moralische und körperliche Schwäche. Und so fort: dem schönen Körper Leidenschaft, dem hässlichen verbotenes Begehren; dem gesunden Körper Ability, dem verkrüppelten Disability. In der »Welt des jungen Siegfried«18 wirken verschiedene Ungleichheitskategorien auf die Konstruktion von Disability ein. Um diese Mechanismen zu fassen, bedarf es einer »Neuakzentuierung in der Sichtweise von Differenz […], welche nicht allein die Untersuchung des Anderen, sondern ebenso die Analyse der dominanten Kategorie in den Mittelpunkt stellt.«19 Indem das Gegenteil von Behinderung fokussiert wurde, hat die Analyse entsprechend gezeigt, dass beide Kategorien ohne einander nicht existieren können. Vor allem hat die Analyse zu Tage gebracht, wie das soziale Setting über Dis/Ability entscheidet und wie Dis/Ability über verschiedene Faktoren, die sie begünstigen, verhandelt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Disability der Zwerge nur in dem Maße zum Vorschein kommt, wie der Film die Ability Siegfrieds in den Vordergrund stellt. Besonders deutlich wird das am Beispiel Mimes: Der Blick auf Siegfrieds Schönheit offenbart ihm die eigene Hässlichkeit, die ihm erst im Vergleich bewusst wird. Innerhalb der homogenen Gruppe der nibelungischen Sippe sind die verwachsenen Körper in keiner Weise auffällig. Erst der Vergleich mit dem durchtrainierten, männlichen Helden, der körperliche Dominanz ausstrahlt, führt zu einer Unterordnung der Zwerge. Die Identifikation des Publikums mit den Vorzügen, die Siegfried verkörpert, führt über das Prinzip des »Othering« zu einer Selbstaufwertung, die in der Diskriminierung des Anderen resultiert. Der biologisch beeinträchtigte Körper wird in seiner Fremdartigkeit unterschiedlich gedeutet und bewertet. Wie Michael Hagener feststellt, sind die Monstrositäten »nicht loszulösen vom realen oder symbolischen Raum, in dem sie öffentlich repräsentiert werden. Zweifellos sind körperliche Fehlbildungen in den verschiedenen Kulturen und wohl zu allen Zeiten als verstörendes und furchterregendes Phänomen wahrgenommen worden.
17 Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 50. 18 F. Lang: Worauf es beim Nibelungen-Film ankam, S. 171. 19 A. Tervooren: Der verletzliche Körper, S. 43.
132 | N ATAŠA B EDEKOVIû Doch das macht sie nicht zu Monstrositäten. Dazu werden sie erst, indem etwas an ihnen gezeigt wird, indem sie mit Bedeutung aufgeladen werden.«20
Wie gezeigt, dient die biologische Abweichung als Ansatzpunkt für ästhetische und ethische Zuschreibungen, die aber nur dann möglich sind, wenn eine kulturelle Ordnung, ein Verständnis über die geltende Norm schon existiert. Indem die Zwerge jeder Individualität beraubt werden, werden sie als Gruppe wahrgenommen – als eine durch die Gemeinsamkeit der Beeinträchtigung getragene Ethnie, der Hässlichkeit und moralische Verwerflichkeit zugeschrieben wird. Die körperliche Abweichung wird also durch die moralische verstärkt und mit einer Devianz des Geschlechts und des Begehrens vervollständigt. Dem Männlichkeitsideal, das Siegfried repräsentiert, können die Nibelungen weder mit ihren Körpern noch mit ihrem Begehren gerecht werden. Indem sich ihre Begierde ausgerechnet auf Siegfrieds ›able-body‹ ausrichtet, verletzen sie die Norm der heteronormativen Männlichkeit und vergrößern damit aus der Perspektive der Zuschauer die eigene Andersartigkeit. Eine Überkreuzung aller dieser Differenzkategorien – Beeinträchtigung, Ethnie und Geschlecht – fließt in die Vorstellung von Disability ein, wodurch eine interdependente Kategorie entsteht. Die durchgeführte Analyse bestätigt somit, »dass Behinderung mit verschiedenen Differenzkategorien verwoben ist und, dass diese sich wechselseitig bedingen, hervorbringen oder auch außer Kraft setzten.«21 Nur in der Abgrenzung von der Disability der Zwerge kann Ability zum konstituierenden Merkmal des Helden werden.
2. D ER
EINÄUGIGE
K RIEGER
In der Wormser Welt der »überfeinerten Kultur«22 muss die Bedeutung des Körpers neu verhandelt werden, da die Zeichen, die in der Nibelungenwelt zu Ability und Disability geführt haben, in einem neuen Raum ihre Bedeutung verändern. Dem kulturellen Erwartungshorizont entsprechend verändern sich auch Siegfrieds Kontrahenten. Als Opposition zu Siegfrieds Körper dienen in der Wormser höfischen Welt keine verwachsenen Zwerge, sondern ein Krieger, dessen Stärke durch seinen versehrten Körper bezeugt und nicht etwa gemindert wird. Obwohl es Stand und Herrscherrolle verlangen würden, muss sich Siegfried nicht gegen Gunther durchsetzen, sondern gegen Hagen, der mit seinem gepanzerten Körper für den Schutz 20 Hagner, Michael: »Monstrositäten in gelehrten Räumen«, in: Petra Lutz et al. (Hg.), Der [im]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, S. 42-61, hier S. 45. 21 H. Raab: Doing Feminism, S. 72. 22 F. Lang: Worauf es beim Nibelungen-Film ankam, S. 171.
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des physisch schwachen Königs zuständig ist. Die Oppositionen zwischen Siegfried und Hagen inszeniert der Film, indem er Hagens Körper als Reminiszenz an die Körper der Nibelungen und des Drachen in Szene setzt. Das offensichtlich Monströse hat in der höfischen Welt keinen Platz und erscheint bei Hagen deswegen in einer abgeschwächten und umcodierten, aber dennoch deutlich erkennbaren Form. Eine der Korrespondenzen zwischen Hagen und den Nibelungen lässt sich an Hagens Gesicht erkennen: Hagens Bart, den er als einziger am Wormser Hof trägt und durch den er »[a]us der zivilisatorischen Ordnung fällt«23, erinnert an die starke Körperbehaarung der Zwerge. Außerdem ist seine rechte Augenhöhle mit schwarzen struppigen Haaren so stark überwachsen, dass das Fehlen des Auges nur zu erahnen ist (Abb. 6). Dass diese Kampfwunde an den verletzten Drachen erinnern soll, den Siegfried mit einem Stich ins Auge getötet hat, legt Thea von Harbous Roman nahe: Die verbliebenen Augen Hagens und des Drachen schimmern in der gleichen Farbe. Das Auge des Drachen glitzert grün, bevor er mit letzter Kraft die Linde schüttelt, von der das unheilvolle Blatt auf Siegfrieds Haut fällt: »Das eine Auge, ausgeschlagen, grinste aus leerer Höhle. Im anderen stand noch ein letztes, grünglitzerndes Licht, ein letzter Haß, eine letzte Bosheit.« (NB 42) Als Hagen daran erinnert, dass Kriemhild keinesfalls Etzel heiraten dürfe, da er sich auf ihren Wunsch hin für Siegfrieds Tod an den Wormsern rächen werde, findet sich in seinem Auge der gleiche Schimmer: »In dem einen Auge, das ihm der Kampf im Wasgenwald gelassen hatte, glimmerte ein schwaches, dunkelgrünes Licht« (NB 30). Dass Hagen Siegfried ausgerechnet in dem Moment tötet, als dieser sich vorbeugt, um aus der Quelle zu trinken, verstärkt die Assoziation noch zusätzlich, denn an einer Quelle hat auch Siegfried den Drachen getötet. Hagens Gesicht weist noch weitere animalische Facetten auf. Wie im Nibelungenbuch zu lesen ist, weicht Hagen nicht zurück, wenn er sich angegriffen fühlt, sondern legt tierhafte Verhaltensmuster an den Tag: »Sein Auge verkroch sich; unterm Barte gleißten seine Zähne, Tierzähne, mächtig und hart.« (NB 31) Fritz Lang greift diese Symbolik auf, indem er in den eingeblendeten Texttafeln einen Wolf zu Hagens Emblem macht. Eine weitere Parallele zwischen der Inszenierung Hagens und der Zwerge findet sich in der Verwendung der Farbe Schwarz. Die Opposition hell-dunkel, die schon in der nibelungischen Welt präsent war, setzt Lang auch in Worms ein. Hagens schwarze Haare, das schwarze Panzerhemd und die schwarze Rüstung markieren ihn – wie vorher die Zwerge – als dunkle Figur, die Unbehagen ausstrahlt. Und wie bei den Zwergen lässt auch in seinem Fall das schwarze Äußere auf ein dunkles 23 Seibert, Peter: »Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten. Masseninszenierungen in Fritz Langs ›Nibelungen‹«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/ Zoltán Szendi (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 187-196, hier S. 192.
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Gemüt schließen. Hagen lacht nie, vertraut keinem und scheut nicht davor, Unschuldige zu beseitigen, wenn sie seinem König schaden könnten. Sogar Züge der körperlichen Devianz finden sich bei Hagen, denn das behaarte Gesicht und die leere Augenhöhle sind die einzigen Körperteile Hagens, die zu sehen sind; der Rest des Körpers bleibt dauerhaft unter dem Panzer versteckt (Abb. 5). Der exponierte Helm dominiert Hagens Erscheinung dermaßen, dass das verunstaltete Gesicht in den Hintergrund tritt (Abb. 6). Das Monströse an Hagen ist also sichtbar, jedoch nicht mehr wirksam. Weil er einen festen Platz in den normativen Strukturen des kultivierten Wormser Hofes hat, darf und kann er nicht ausgegliedert werden. Wie gefestigt seine Position ist, zeigt auch die Tatsache, dass er seine eigene Meinung äußern darf, auch wenn sie sich von der Meinung des Königs unterscheidet. Der beste burgundische Ritter ist engster Vertrauter des Königs und verantwortlich für alles Strategische und Militärische. Auch das macht ihn zu Siegfrieds Gegenspieler, denn der gesunde männliche Körper Siegfrieds, der den verkrüppelten Körpern der Zwerge hierarchisch übergeordnet wird, ist in Worms kein normativer Maßstab mehr. Dort ist das hierarchische Gefälle unter den Figuren nicht mehr eindeutig zu entschlüsseln und muss mit Hilfe anderer Parameter definiert werden. In der höfischen Welt von Worms ist Macht stets mit Herrschaft verkoppelt. Wenn aber sowohl Siegfried als auch Gunther und durch ihn auch Hagen über Herrschaft und die damit verbundenen Ressourcen fast unbegrenzt verfügen, muss die Rangordnung über körperliche Kraft verhandelt werden. Mit seinem gepanzerten Körper repräsentiert Hagen das Bild eines Recken, der vor kriegerischer Potenz geradezu platzt und durch das Kettenhemd nur schwer verwundbar und somit fast unbesiegbar wirkt. Ein dermaßen bewaffneter Körper lässt vom Aussehen auf die Funktion schließen – Hagen ist Schutzschild der Könige, denn »er war der einzige am Hof zu Worms, der in den Waffen seiner Väter lebte; die Könige liebten das weiche Kleid.« (NB 32f.) Den Eindruck von Hagens andauernder Kampfbereitschaft, der durch die immer präsente Rüstung erzeugt wird, bestätigt sein verletztes Auge. Der Krieger hat seinen Körper offenbar schon eingesetzt und, wenn auch nicht ohne Verletzungen, die Kämpfe für sich entschieden. Dass er vor keinem Gegner weicht, zeigt auch seine Bereitwilligkeit, sich jederzeit mit Siegfried anzulegen, obwohl ihm dessen heldenhafte Vergangenheit sehr wohl bekannt ist. Die Reihe der Abweichungen zu anderen Figuren am Hof setzt sich mit Hagens ständigen Brüchen der höfischen Normen fort. Nicht nur, dass er seine Rüstung nie ablegt – Hagen ist auch in der Kirche vollbewaffnet –, er ist auch bereit, das Gebot der Gastfreundschaft zu verletzen und das Wort, das König Gunther Siegfried gegeben hat, zu brechen. Auch vor unfairem Kampf schreckt er nicht zurück und ermordet Siegfried mit einem Speerstoß in den Rücken.
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Abb. 5: Hagen im Panzerhemd (NF I 01:44:33)
Abb. 6: Hagens behaartes, einäugiges Gesicht (NF I 00:45:14)
Doch auch der Verrat höchster höfischer Ideale schadet Hagens Ansehen nicht. Weder die körperliche noch die moralische Devianz können seine Position am Hof in Frage stellen. Anders als bei den Nibelungen führen sie vielmehr dazu, seine gesellschaftliche Stellung zu stützen. Der Film instrumentalisiert das Aussehen und Verhalten Hagens, auch wenn sie die in Worms herrschende Norm brechen, um ebendiese Norm noch zu stärken. Indem alle auffälligen physischen und charakterlichen Züge Hagens für seine Rolle als Beschützer des Königs funktionalisiert werden, erfüllt Hagen virtuos die ihm zugeteilte soziale Rolle, so dass sie nicht wie bei
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den Zwergen zu einer Stigmatisierung, sondern zu einer Aufwertung der Person führen. Hagens normverletzende Andersartigkeit ist seine Garantie für die Inklusion und wird deswegen nicht als Disability wahrgenommen. Die umcodierten Zeichen der körperlichen Versehrtheit betonen vielmehr gesteigerte Ability, die sich auch in der zu jeder Zeit abrufbaren Kampfestüchtigkeit Hagens erweist. Doch auch der scheinbar unzerstörbare Krieger hat eine Schwachstelle, die er hinter seinem Panzer nicht verstecken kann – Gunther, seinen König.
3. D ER
LAHME
K ÖNIG
Dass Gunther über ein mächtiges Königreich herrscht, erfährt das Publikum schon aus der Erzählung des Schmiedeknechts. Die kurze, in Worms spielende Sequenz, die den Kirchgang der Königsfamilie zeigt, erzeugt einen drastischen Kontrast zur nibelungischen Welt. Dem Wald und der Schmiedehöhle steht eine imposante Burg gegenüber; den verwachsenen Zwergen, die mit hektischen Bewegungen in primitiver Weise ihr Essen zubereiten, werden die versteinert wirkende Wache im Vordergrund und die im Hintergrund steif und langsam zur Kirche schreitende Königsfamilie entgegengesetzt. Ähnlich wie Siegfried bei den Nibelungen sticht auch hier eine Figur aus der Masse hervor, doch ist es wider Erwarten nicht Gunther, sondern Hagen, der mit seiner auffälligen Silhouette als einziger eindeutig zu identifizieren ist. Signifikanterweise zeigt der Film schon in dieser Szene keinen herausgehobenen Herrscher, sondern einen König, der als Teil eines Zeremoniells und eines mächtigen Staatsapparats fungiert, und dessen Krone neben dem Helm Hagens vergleichsweise unauffällig wirkt. Wie das Burgundenland organisiert ist, zeigt auch die zweite Sequenz in Worms, in der die ganze Familie mit Hagen in einem Burgsaal zu sehen ist. Auch im privaten Bereich sind die Figuren zeremoniell angeordnet, mit einer strengen Rollenzuweisung. Während Volker singt, üben alle Anwesenden jene Beschäftigungen aus, die ihnen die höfische Ordnung zuweist. Während die Frauen mit Handarbeiten beschäftigt sind, bereiten Giselher und Gernot Pfeile für die Jagd vor und hält Hagen sein Schwert bereit, um den König im Notfall zu verteidigen. Nur Gunther sitzt, das Kinn in die Hand gestützt, auf seinem Thron und erweckt den Anschein, als wäre es seine einzige Aufgabe, eben diesen Thron zu hüten. In die Leere blickend bewegt er nur die Finger seiner linken Hand und deutet mit dieser Geste seine Langweile an. Suggeriert die rituelle Präsentation vor der Öffentlichkeit in der Kirche die Stärke und Macht des Königs, offenbaren sich hier seine Passivität und Lethargie, aus der ihn Siegfrieds Ankunft in Worms befreien soll. Seine Rolle im Zeremoniell der Begrüßung spielt Gunther mit Souveränität, doch mit selbstständigem Handeln tut sich der König schwer. Unentschlossen und
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unsicher sucht er mit seinem Blick bei Hagen nach Rat, als Siegfried um Kriemhilds Hand bittet. Anders als sein König handelt Hagen sofort und weiß, wie Siegfried für Gunthers Interessen zu instrumentalisieren ist. Glaubt man Hagens Worten, so sehnt sich Gunther »nach einer mächtigen und kühnen Magd« (NF I 00:43:23), die ihm aber im Kampf körperlich überlegen und deswegen unerreichbar ist. Ähnlich wie die Nibelungen nicht um Kriemhild werben wollen, so versucht auch der schwache Gunther Brunhild nicht für sich zu beanspruchen, da er sich seiner körperlichen Unterlegenheit bewusst ist: »Was mahnst Du mich an Brunhild, wenn Du weißt, daß nur der stärkste Held, der sie dreimal besiegt, sie im Kampf zu erringen vermag?« (NF I 00:44:09) Hagen hingegen insistiert auf dieser Braut, die dem Zuschauer als seine und nicht als Gunthers Imagination vorgestellt wird. So ist in der kurzen Einblendung Brunhilds äußerliche Ähnlichkeit mit Hagen nicht von der Hand zu weisen: Auch Brunhild trägt ein Panzerhemd und einen Helm, der wie der Helm Hagens mit auffälligen Flügeln geschmückt ist; und auch bei ihr dominiert die Farbe Schwarz. Außerdem wird sie nicht etwa als höfische Dame in einer Burgkemenate gezeigt, sondern wie Hagen in voller Rüstung und mit Pfeil und Bogen. Auf ähnliche Art und Weise werden auch Siegfried und Kriemhild aufeinander bezogen. Noch bevor Siegfried seine Einwilligung gibt weiß jeder, dass er dem König bei der Brautwerbung helfen wird, um so im Gegenzug die Erlaubnis zu bekommen, Kriemhild, die für ihn bestimmte Frau, heiraten zu dürfen. Bevor das Abkommen mit einem Handschlag besiegelt wird, wird die Figurenkonstellation mehrfach in Szene gesetzt: Wenn Siegfried aus einer Schale trinkt, die ihm Kriemhild gereicht hat, und ihr dabei lange in die Augen schaut, entsteht der Eindruck der Zusammengehörigkeit beider Figuren. Parallel dazu stehen Gunther und Hagen nebeneinander und bilden so ein weiteres Paar. Auch in der nächsten Einstellung, in der alle vier Figuren zusammengeführt werden, bleibt die Konstellation unverändert. Kriemhild und Siegfried formen die waagrechte Achse im Vordergrund des Bildes, während Gunther mit Hagen in seinem Rücken die Senkrechte bildet. Wer der Stärkere und Mächtigere in diesem Männerpaar ist, zeigt die Vertragsszene: Nach dem Handschlag der Könige versucht Siegfried, seine Hand aus Gunthers Hand wieder zurückzuziehen, doch hindert ihn dieser daran. Erst nachdem auch der Vasall Hagen seine segnende Hand über ihre Hände gelegt hat, gilt der Vertrag auch für den König. Die als mächtig inszenierte Herrschaft offenbart in ihrem Zentrum große Schwäche. Gunther ist entscheidungsschwach und körperlich kraftlos. Sowohl in Worms, wo er in Frieden herrscht, als auch in Isenland, wo er sich durch seine Kriegskünste durchsetzen soll, wirkt er wie gelähmt. Um seine soziale Rolle erfolgreich ausführen zu können, braucht Gunther eine Körperverlängerung, die, wie eine Prothese, Handlungsfähigkeit herstellt. In Worms tritt Hagen für Gunther ein, im fremden Isenland muss Siegfried als Stütze dienen.
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Gemäß dem Brautwerbungsschema verschieben sich die Rollen aller Beteiligten. Nicht der Werber, sondern der Berater schwärmt von der Braut; nicht der Anwärter, sondern der Werbungshelfer gilt als Bester; und auch Brunhild ist nicht nur die begehrte Braut, sondern übernimmt zugleich die Rolle des gefährlichen Brautvaters.24 Im entfernten Isenland herrschen verkehrte Verhältnisse. In der matriarchalen Welt erscheint Gunther nicht als mächtiger König, sondern nur als einer von vielen Werbern, die bislang ausnahmslos die Anmaßung, Brunhild besiegen zu können, mit dem eigenen Leben bezahlt haben. Keiner kennt den Herrscher von Worms, jeder aber den heldenhaften Siegfried. Im Nibelungenlied weiß Siegfried als einziger den Weg zu Brunhilds Heimat, im Film hört er in Worms zum ersten Mal von Brunhild. Dass sie ihn trotzdem sofort als den Anwärter auf ihre Hand identifiziert, bestätigt seine heldenhafte Exorbitanz und gilt als Bestätigung jener Männlichkeit, die Gunther fehlt.25 Anders als Gunthers Herrscherpotenz besitzt Siegfrieds Heldenhaftigkeit also räumliche Allgemeingültigkeit; sie ist nicht auf einen bestimmten Ort begrenzt. In Isenland muss sie aber verleugnet werden, um Gunthers Position zu festigen. Brunhild erscheint Gunther »schwächer als mancher schon überwundene Held« (NB 66) und um diese Schwäche auszugleichen, muss Siegfried im Kampf mit Brunhild dem König seine Kraft leihen. Lang zeigt diese Symbiose mit genuin filmischen Mitteln, indem er Gunther und Siegfried zu einer Figur verschmelzen lässt und damit mehrere Asymmetrien ausgleicht: Der beste Anwärter bekommt die Braut und der schwache Körper des Königs erhält in Siegfried eine Prothese, die ihn und seine Position rehabilitiert. Stärker kann sich Siegfried nicht instrumentalisieren lassen: In dem Maße, in dem er von seiner Identität absieht, kann Gunther seine eigene Identität wiederherstellen. Siegfrieds Kraft kann den schwachen höfischen König aufwerten, 24 Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Peter Strohschneider am Beispiel des Nibelungenlieds. Vgl. dazu Strohschneider, Peter: »Einfache Regel – komplexe Strukturen. Ein strukturalistisches Experiment zum ›Nibelungenlied‹«, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 43-75. Zu einzelnen Figurenrollen vgl. auch Schmid-Cadalbert, Christian: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung: ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985. 25 Zur Inszenierung des gegenseitigen Erkennens der Figuren durch Blicke vgl. Kanzog, Klaus: »Der Weg der Nibelungen ins Kino. Fritz Langs Film-Alternative zu Hebbel und Wagner«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Eine Münchner Vorlesung, München 1987, S. 202-223, hier bes. S. 208ff.; Tischel, Alexandra: »›Ihr kennt die deutsche Treue nicht, Herr Etzel‹ – Nation und Geschlecht in Thea von Harbous ›Nibelungenbuch‹«, in: Kati Röttger/Heike Paul (Hg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung, Berlin 1999, S. 264–284.
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dies allerdings nur in zeitlicher Begrenzung (während der Brautwerbungsfahrt) und räumlich ausgelagert (in Isenland). Sich unsichtbar zu machen gelingt Siegfried nur jenseits der höfischen Welt, mit deren Wertekodex der Betrug, den Gunther und Siegfried in Isenland begehen, nicht zu vereinbaren ist. Wieder zurück in Worms, wo der eindrucksvolle Empfang Macht und Ansehen Gunthers im eigenen Königreich bestätigt, bedroht eine Lüge nach der anderen die scheinbar intakte Ordnung. Weil sich Brunhild darüber wundert, dass ein König seine Schwester einem Vasallen zur Frau gibt, muss die Standeslüge aufgeklärt werden. Ausgerechnet Siegfrieds höfische Herkunft und die herrschaftliche Souveränität, die Hagen seit Siegfrieds Ankunft in Worms konsequent leugnen konnte, müssen jetzt legitimiert werden. Die Blutsbruderschaft, die zwischen Gunther und Siegfried nach der Trauung vollzogen wird, vermag Brunhilds Zweifel nicht zu beseitigen. Und wie die Hochzeitsnacht zeigt, dient das Ritual der Verbrüderung viel mehr dazu, Siegfried gefügiger zu machen, als dazu, die ohnehin nicht existierende Standesproblematik zu klären. Wenn Gunther nämlich Hilfe braucht, um Brunhild, die sich ihm immer noch verwehrt, endgültig zu bändigen, erinnert Hagen nicht mehr an Siegfrieds Heroentum, das bisher stets im Vordergrund stand. Das Heldenhafte, das Hagen bei Siegfrieds Ankunft in Worms ständig in Erinnerung ruft, soll hier wieder unsichtbar gemacht werden und die verwandtschaftlichen Bande sollen an Kraft gewinnen. Wenn Hagen Siegfried zu überzeugen versucht, dass er in Gunthers Gestalt in die Kemenate gehen solle, dann schickt er also nicht mehr den Helden, dessen Hilfe in Isenland benötigt wurde, sondern den Freund und Schwager: »Willst Du den Freund im Stiche lassen, der Dir die eigene Schwester gab?« (NF I 01:18:46). Und dennoch lässt sich das Heldenhafte nicht gänzlich ausschalten, da Siegfrieds exorbitante Kraft immer noch gebraucht wird. Wie instabil Siegfrieds neue Rolle ist, beweist Gunther selbst, der, von Unsicherheit und Eifersucht geplagt, vor der Kemenatentür lauscht und sich fragt, wie weit Siegfried bei der Bändigung der frisch vermählten Königin tatsächlich geht. Gunther zweifelt hier deutlich am ehrenhaften Verhalten eines höfischen Ritters im Umgang mit der Frau eines Freundes und Verwandten. Und wenn Brunhild später behauptet, Siegfried habe sie entjungfert, schenkt Gunther ihren Worten sofort Glauben. Schon der König, der elend vor der verschlossenen Kemenate die eigene Ehefrau und Siegfried als verbesserte Ausgabe seiner selbst belauscht, ist ein entmannter König. Dieses Bild wird noch verstärkt durch die folgende Szene, die das von Zuneigung und Zärtlichkeit erfüllte Zusammentreffen Kriemhilds und Siegfrieds zeigt. Anders als in Isenland, wo Siegfrieds Stärke noch dazu eingesetzt werden konnte, das Ansehen des Königs zu vermehren, steht sie in Worms für die Schwäche dieses Königs. Auch der Nibelungenhort, der als Morgengabe nach Worms kommt, erinnert an Siegfrieds Heldenhaftigkeit und Kraft, mit der er den Schatz erobert hat. Dies stellt Gunther noch zusätzlich in den Schatten, wie Hagen schnell bemerkt: »Der Glanz
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Burgunds ist im Verbleichen, König! Sehr Not tut ihm der Nibelungenhort!« (NF I 01:25:06) Die finanzielle und physische Unterlegenheit des Wormser Königs kann jetzt auch das Volk wahrnehmen. Während Siegfried den Schatz großzügig an Gunthers Untertanen verteilt, verrät Kriemhild ihrer Gegenspielerin Brunhild und den versammelten Wormsern den Betrug, der in der Hochzeitsnacht stattgefunden hat. Siegfrieds Errungenschaften können nicht mehr dem König zugeschrieben werden, jede weitere Instrumentalisierung des Heros wird unmöglich. Die Männlichkeit des Königs wird dekonstruiert, seine finanzielle Macht und Freigebigkeit durch den Hort relativiert, seine Souveränität als jederzeit angreifbar entlarvt. Siegfrieds in Isenstein eingenommene Funktion als Prothese verselbstständigt sich in Worms und bringt die Schwäche des Königs zum Vorschein. Gleichwohl bleibt der Eindruck von Gunthers Ability in Worms bestehen, auch wenn Gunther ohne Hagen wie paralysiert ist. Da die Benutzung dieser anderen Prothese, nämlich Hagens, innerhalb des geltenden Systems vorgesehen ist, wird sie nicht sanktioniert. Trotz aller körperlichen Schwäche und seines eklatanten Mangels an Agency kann so Gunthers auf seiner Herkunft basierende Herrschaftspotenz weiterhin bestehen.
4. D ER
VERWUNDBARE
H ELD
Ganz anders steht es um Siegfried und seine Schwächen. Um der schönen Kriemhild würdig zu sein, muss er sich nach traditionellen Mustern als Held beweisen. Was ihm in der nibelungischen Welt aufgrund von äußerlichen Eigenschaften zugestanden wurde, muss nun durch Taten bewiesen werden. Da Siegfried im Film, anders als etwa im Nibelungenlied oder in Thea von Harbous Nibelungenbuch, aus allen familiären und politischen Strukturen herausgelöst ist, findet keine klassische Schwertleite statt. Seine Initiation verdient sich der junge Held Schritt für Schritt, indem er verschiedene Insignien der Herrschaft und Macht erringt. Nun ist aber auffällig, dass jeder einzelne Schritt auf Siegfrieds heldischem Initiationsweg von einer Ambivalenz begleitet wird. Zunächst muss sich Siegfried gegen alte Zwerge mit deformierten Körpern durchsetzen. Alberich, der unter Siegfrieds Fäusten »wie eine gefangene Ratte« (NB 44) schreit, traut sich überhaupt nur, den Drachentöter anzugreifen, weil er auf den Schutz des unsichtbar machenden Mantels setzt, mit dem er seine physiognomische Insuffizienz zu kompensieren versucht. Wie es auch das Nibelungenbuch beschreibt, fällt Siegfried der Hort, über welchen er nach Alberichs Tod verfügen darf, eher zu, als dass er ihn erobern müsste: »Er fragte wenig nach Gold. Noch weniger nach Kronen. Doch während Alberich mit Lippen, die wie Blätter flogen, vom großen Hort der Nibelungen
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schwatzte, gedachte Siegfried der Utetochter, und es fiel ihm ein, daß es schön sein würde, ihr den Nibelungenhort als Morgengabe zu bringen.« (NB 45) Wie unbeabsichtigt der junge Held an seine heroischen Errungenschaften kommt, zeigt auch der Kampf mit dem Drachen. Nur eine Kette von zufälligen Handlungen bringt Siegfried dazu, im Drachenblut zu baden. Weil das fließende Blut seine Haut verbrennt, leckt er es instinktiv auf und erlangt somit die Fähigkeit, den Vogelgesang zu verstehen, der ihn wiederum über die Möglichkeit unterriechtet, durch ein Bad im Drachenblut Unverwundbarkeit zu erlangen. Siegfried gewinnt den unverletzlichen Körper also nicht allein aus eigener Kraft, vielmehr braucht er dafür eine Anleitung. Doch ausgerechnet bei der Taufe zur Unsterblichkeit setzt der Film auf der Ebene des Körpers eine Grenze. Das Lindenblatt, das zwischen Siegfrieds Schultern liegt, verdeckt jene Körperstelle, an der Siegfried weiterhin verwundbar sein wird. In eben jenem Moment, in dem der Held übermenschliche Ability erlangt, wird sein vollkommener Körper zugleich als versehrt markiert (Abb. 7). Nichtsdestoweniger findet hier eine Aufwertung des Körpers und zugleich des Heros statt. Die auf die Tötung des Drachen folgenden Schatz- und Landeroberungen sind exorbitant und werden am Wormser Hof besungen. Noch bevor Siegfried den Raum der Wormser Welt betritt, weiß jeder von seiner körperlichen Überlegenheit. Seine anfangs aufwendig inszenierte Schönheit, die auf seinen heldischen Charakter schließen lässt, tritt hier zunächst in den Hintergrund. Vielmehr wird in Worms durch das preisende Lied die Bedeutung des starken Körpers abgerufen, die unabhängig von der bloßen Leibhaftigkeit existiert. Die Zuschreibung der großen Macht, die nicht nur in Volkers Lied, sondern auch in Hagens Widerstand gegen die Aufnahme Siegfrieds in Worms Ausdruck findet, geht zwar aus dem Physischen hervor, beruht aber auch auf der Angliederung sekundärer Objekte, die Siegfrieds Körper symbolisch erweitern. Die gepanzerte Haut, das Schwert und die zwölf Könige fungieren bei Siegfried als »Ausweitung seiner selbst« und werden mit ihm »zum geschlossenen System«.26 Der modifizierte Körper verursacht, wie Martin Thiele zeigt, eine veränderte Außenwirkung, verlangt aber auch nach einem verwandelten Selbstverständnis: »Der Mensch erweitert seinen Körper mit Schwert und Rüstung und unabhängig davon, was er mit dieser Erweiterung anstellt, trägt diese eine Botschaft schon allein für sich und ändert Interaktionsverhältnisse. Der bewaffnete Mensch scheint dem unbewaffneten gegenüber überlegener, woraus er offenbar eine grundsätzliche Überlegenheit ableitet.«27
26 McLuhan, Herbert Marshall: »Verliebt in seine Apparate. Narzißmus als Narkose«, in: Ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media, 2. erw. Aufl., Dresden/Basel 1995, S. 73. 27 Thiele, Martin: Mehr Sehen. Betrachtungen zur Habgier des Blicks, Berlin 2011, S. 16f.
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Abb. 7: Das Lindenblatt zwischen Siegfrieds Schultern (NF I 00:22:43)
Dass man Siegfried von außen inzwischen anders wahrnimmt, als das noch die Zwerge taten, zeigt sich bei der Ankunft des Helden in Worms. Statt Gelächter kommt hier Ehrfurcht zum Vorschein, als Hagen rät, Siegfried keine Gastfreundschaft zu gewähren. Aber Siegfrieds verändertes Auftreten weist auch auf die neue Selbstwahrnehmung hin. Vom halbnackten Jüngling, der ziellos durch den Wald ritt, ist nicht mehr viel zu sehen. Sein Übergang vom Natur- zum Kulturraum, der im Film mit dem Überschreiten der Brücke vor der Stadtmauer verbildlicht wird, zeugt von einer transformierten Persönlichkeit, die sich auch in der Kleiderwahl niederschlägt. Siegfried tritt, seinem neuen Status entsprechend, angezogen, bewaffnet und in Begleitung seiner zwölf königlichen Vasallen an.28 All das, was der Film nicht zeigt, sondern nur auf einer Texttafel erzählt, schlägt sich in Siegfrieds Auftritt nieder. Er ist nicht mehr der naturverbundene Schönling, sondern ein gestandener höfischer Ritter und Herrscher, der seine Tauglichkeit in der Überwindung der zwölf Könige zu beweisen vermochte. Wie beeindruckend seine Erscheinung wirkt, zeigen die neugierigen und bewundernden Blicke der Wormser Knappen beim Öffnen des Tors, die die gelungene Verwandlung vom Schmiedegesellen zum höfischen Helden bestätigen. Entsprechend selbstsicher fordert er Kriemhilds Hand. Was also das Publikum von Anfang an gesehen hat, nämlich einen alles überstrahlenden Helden, nehmen jetzt auch die Bewohner der höfischen Welt wahr. Die Eindrücke der erzählten und der realen Welt treffen sich in dem Moment, als Sieg28 Zur Bedeutung der zwölf Könige für die Identitätsbildung Siegfrieds vgl. den Beitrag von Michael R. Ott in diesem Band.
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fried in der Wormser Hofgesellschaft eintrifft. Obwohl sich der Brautwerber auch hier in der Fremde befindet, wird Siegfrieds positive Andersartigkeit, die in der Nibelungenwelt so offensichtlich war, getilgt, da das Beherrschen von höfischen Verhaltensnormen den Eindruck der Zugehörigkeit erzeugt. Wenn bei der ersten Begegnung mit Kriemhild die blonden Haare und die helle Kleidung auf die Zusammengehörigkeit des größten Helden und der schönsten Prinzessin verweisen, könnte man meinen, Siegfried hätte sein Ziel bereits erreicht. Doch wie groß auch immer die Verwandlung sein mag – Siegfrieds körperliche Stärke bleibt nach wie vor diejenige Eigenschaft, die besonders hervorgehoben wird. Vor allem Hagen reduziert den Brautwerber auf dieses eine Merkmal, angefangen bei der Weigerung, Siegfried in Worms zu empfangen. Dass Gunther dies dennoch tut, verdankt sich Siegfrieds Herkunft: »Nimmermehr soll man sagen, daß man zu Worms nicht wisse, wie Könige sich grüßen! Siegfried, König Siegmunds Sohn, soll mir willkommen sein.« (NF I 00:38:36). Während sich Gunther nach dem höfischen Verhaltenskodex richtet und Siegfrieds königliche Abstammung respektiert, fürchtet Hagen den Heros aus der anderen Welt, von dem Volker gerade in jenem Moment zu erzählen aufhörte, als er vor dem Stadttor ankam. Wie Hagen den Gast wahrnimmt, kann man seinen Beschreibungen entnehmen: Siegfried ist für ihn »der starke Held« (NF I 00:47:50), »ein Held, dem kein anderer gleicht« (NF I 00:44:31). Die höfischen Attribute nimmt er weder wahr, noch bringt er sie zu Sprache. Er ignoriert sie geradezu, als er Siegfried auffordert, sich bei der Brautwerbung in Gunthers Dienst zu stellen. Darauf angesprochen, insistiert »der starke Held« jedoch auf seinem Herrscherstatus: »Nie war ich eines Königs Vasall und werde es nimmermehr.« (NF I 00:44:51) Ähnlich wie zuvor Gunther legt Siegfried ein Selbstverständnis an den Tag, das sich von dem Hagens wesentlich unterscheidet. Während Siegfried als mächtiger Herrscher um Kriemhild wirbt, zählt Hagen bei der Werbung Gunthers um Brunhild auf die Hilfe des starken Helden. Während Siegfried auf seiner Standeszugehörigkeit besteht, fokussiert der andere seine körperliche Kraft. Den Einschluss in die höfische Gesellschaft, den Siegfried auf Grund seiner Herkunft verlangt, lehnt Hagen ab, weil er ihn nur auf das eine Merkmal – die besondere körperliche Stärke – reduziert. Auf solche Diskrepanzen in der Wahrnehmung des fremden Gegenübers weist Erving Goffman in seiner Studie über das Stigma hin: »Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet.«29 Bei der ersten Begegnung mit einem Fremden werden diese aktiviert, um seine »soziale Identität«, die aus persönlichen Charaktereigenschaften und strukturellen Merkmalen besteht, zu antizipieren: »Wir stützen uns auf diese Anti29 Goffman, Erwing: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main 212012, S. 9.
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zipationen, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen.«30 Die Annahmen, was das Gegenüber sein sollte, die Zuschreibungen und Charakterisierungen »im Effekt«, seien die »virtuale soziale Identität«, während auf den bewiesenen Kategorien und Attributen die »aktuale soziale Identität«31 beruhe. Wenn Hagen also den unverletzbaren Drachentöter und überstarken Besitzer des Tarnmantels erwartet und nicht den höfischen Brautwerber, als der sich Siegfried ausgibt, so entsteht jene Diskrepanz zwischen zwei Identitäten, die laut Goffman ein Stigma konstituiert.32 Spätestens wenn Hagen für die Zwecke Gunthers Siegfried zu instrumentalisieren versucht, dieser aber auf seiner Souveränität beharrt, ist Siegfried kein höfischer Gast mehr. Für Hagen tritt jetzt der Held in den Vordergrund, der als potenzieller Gegner wegen seiner Stärke gefährlich werden kann. Das Attribut »Held« wird zum festen Bestandteil von Siegfrieds Person und Namen. Wie Hagen und Siegfried die Herrscherrolle Gunthers aufrufen und ihn immer als »König Gunther« ansprechen, so gehört sowohl für Hagen als auch für Gunther und Brunhild die Bezeichnung »Held« ohne Ausnahme zu Siegfrieds Namen: Hagen betont das Heldenhafte, wenn er Siegfried als Werbehelfer zu rekrutieren versucht (vgl. NF I 00:44:41, 00:47:53); Brunhild, wenn sie glaubt, in ihm den Werber und damit ihren Gegner zu erkennen (vgl. NF I 00:55:00); Gunther, wenn er ihm nach der erfolgreichen Brautwerbung seine Zustimmung zur Hochzeit mit Kriemhild gibt (vgl. NF I 01:12:19). Das Attribut »Held« unterscheidet Siegfried von allen anderen Figuren und betont seine Andersartigkeit. Diese wird versprachlicht und auch verbildlicht, wenn Kriemhild das Kreuz auf Siegfrieds Gewand näht, um seine einzige verwundbare Stelle zu markieren. Weder die angepasste Kleidung noch die höfischen Umgangsformen können die körperliche Exorbitanz unsichtbar machen. Die diskreditierende Wirkung des Stigmas vergrößert sich in Siegfrieds Fall graduell: Als Werbungshelfer in Isenland kann die physische Kraft in den Dienst des Königs gestellt werden, als Kriemhilds Gatte ist er aber aufgrund dieser Stärke unberechenbar. Nachdem der in der Hochzeitsnacht begangene Betrug bekannt wird, zeigt der Film die zunehmend diskreditierende Wirkung des Stigmas zum wiederholten Male auch auf der sprachlichen Ebene. Sigfried ist nicht mehr der »Held«, sondern bekommt ein neues Epitheton: Hagen und Gunther sprechen jetzt nur noch vom »Drachentöter« (NF I 01:40:54, 01:41:52, 01:46:48), wodurch vor allem die gefährliche Körperkraft in Erinnerung gerufen wird. Obwohl Siegfried nach wie vor als Sympathieträger figuriert, verliert die physische Stärke, die eines der konstituierenden Merkmale des Heros darstellt, ihre affirmative Kraft. Nach der betrügerischen Brautwerbung wird nicht Gunthers, son30 E. Goffman: Stigma, S. 10. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 11.
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dern Siegfrieds Verhalten sanktioniert. Siegfried muss ausgeschaltet werden, da seine Instrumentalisierung scheitert. Er muss getötet werden, da seine Exorbitanz nicht unsichtbar zu machen ist. Wie in der Nibelungenwelt macht die Schwäche der anderen Protagonisten Siegfrieds Stärke besonders deutlich erkennbar, doch anders als in der Welt der Natur verwandelt sie sich hier in einen Nachteil. Die Stärke verhindert den Einschluss und die gesellschaftliche Akzeptanz, die politischen Verfahren und subjektiven Sichtweisen transformieren sie in Disability. Konstellationen, die denen der Nibelungenwelt ähneln, führen in Worms zu gegensätzlichen Ergebnissen: Weil die herrschende Norm eine andere ist, können sowohl das Monströse Hagens als auch die körperliche und charakterliche Schwäche Gunthers in das System integriert werden, nicht jedoch Siegfrieds körperliche Stärke. Disability beruht dementsprechend nicht nur auf körperlichen Merkmalen, sondern wird kulturspezifisch ausgehandelt und im sozialen Verkehr unterschiedlich interpretiert. Siegfrieds Fähigkeit, in ihm fremde Welten eindringen zu können, belegt Waldschmidts Behauptung, dass Behinderung »keine fixe Kategorie, sondern ein ›lockerer‹ Oberbegriff [ist], der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen und kognitiven Merkmalen bezieht, die oft nichts gemeinsames haben als das soziale Stigma der Begrenzung, Abweichung und Unfähigkeit.«33 Wie der Vergleich der Nibelungen- und der Wormser Welt bestätigt, ist Disability keine universelle Kategorie, sondern ein nur im Zusammenhang mit anderen Differenzkategorien denkbares Konstrukt, das der Relativität von Kategorisierungs- und Stigmatisierungsprozessen unterliegt. Die »Lockerheit« des Oberbegriffs konnte an einzelnen Figuren bestätigt werden. Da alle Helden stets beide Aspekte, Ability und Disability, vereinen, liegt es nahe, das Verhältnis von Ability und Disability nicht als Opposition, sondern als Dialektik zu fassen.
33 Waldschmidt, Anne: »›Behinderung‹ neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies«, in: Dies., Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies (2003), S. 11-22, hier S. 13.
In/Kommensurabilität Artikulationen von ›Rasse‹ im mittelalterlichen Nibelungenlied und in Fritz Langs Film Die Nibelungen B EATRICE M ICHAELIS
Mein Beitrag fragt nach interdependenten Prozessen der Rassisierung im mittelalterlichen Nibelungenlied und in Fritz Langs modernem Film Die Nibelungen sowie nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der narrativen und filmischen Konstruktion rassisierter Differenz.1 Über eine Parallellektüre von Film und Text sollen Beziehungen (Kontiguitäten, Kontinuitäten und Diskontinuitäten) zwischen den verschiedenen Logiken rassisierender Differenzerzeugung aufgezeigt und diese als je eigene Artikulationen von ›Rasse‹ verstanden werden. Im Vordergrund steht die Frage nach der spezifischen Funktionsweise der Kategorie und danach, mit welchen anderen Kategorien sie jeweils koartikuliert wird. Im mittelalterlichen Epos wie im modernen Film ist bei diesen anderen Kategorien vor allem an Geschlecht, Begehren, Stand sowie Religion und Herkunft zu denken. Spannend wird der Vergleich da, wo die Darstellungen rassisierter Differenz, wie sie für das Mittelalter imaginiert werden, im Film mit rassierenden Logiken der Moderne überlagert werden oder aber in deutlichem Kontrast zum mittelalterlichen Epos stehen. Die Analyse fokussiert vorrangig zwei Aspekte. Erstens: Wie organisieren Text und Film über die jeweilige Form der rassisierenden Differenzerzeugung Zugehörigkeit? Meine These ist, dass sich rassisierte Inklusions- und Exklusionsprozesse
1
Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II] , Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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im Nibelungenlied und im Nibelungenfilm entlang von Kommensurabilitäten und Inkommensurabilitäten vollziehen. Damit meine ich jene Momente, in denen eine Vergleichbarkeit oder eben eine Unvergleichbarkeit zwischen Eigenem und Anderem postuliert wird.2 Während beispielsweise die Betonung einer geteilten höfischen Kultur häufig der Herstellung von Kommensurabilität dient, kann anhand von religiöser Differenz gerade die Inkommensurabilität bestimmter Gruppen hervorgehoben werden. Diese Prozesse verstehe ich als intersektionell, da über das spezifische Zusammenwirken von Differenzkategorien mit der Kategorie ›Rasse‹ entweder eine Kommensurabilität erzeugt oder aber eine Inkommensurabilität verstärkt wird. Zweitens: Welche Rolle spielen Hautfarben, Physiognomien und weitere somatische Merkmale und welchen Stellenwert nehmen die Referenzen auf kulturelle Praktiken, Religion und Herkunft ein? Die Historisierung der Kategorie ›Rasse‹ wird über die intersektionelle Perspektive erreicht, denn Intersektionalität beschreibt die temporale, räumliche und epistemologische Mobilität von Kategorien in ihrem Wirken in veränderlichen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen. Durch eine Überblendung intersektioneller mit queertheoretischen Überlegungen gelingt zudem die Dekonstruktion von ontologisch verstandenen Kategorien als solchen.3 Der Blick auf mittelalterliche Diskurse kann zeigen, wie eine Historisierung und Analyse der Konstruktionsprozesse von Kategorien die Dekonstruktion und Denaturalisierung eben dieser Kategorien befördert. Dies ist nicht nur hilfreich hinsichtlich der Dis/Kontinuitäten von ›Rasse‹ zwischen Mittelalter und Moderne, sondern auch für Kategorien wie Geschlecht und Sexualität. Die dekonstruktive Perspektive auf Diskurse beeinflusst das heutige Verständnis mittelalterlicher Äußerungen, Institutionen und Praktiken. Sie hilft zugleich, moderne Behauptungen der Stabilität und Natürlichkeit zu hinterfragen und die Überschneidungen zwischen Wissen und Macht sowie die Konkurrenz verschiedener wahrheitsproduzierender Institutionen im historischen Wandel zu beleuchten. Daher geht es in diesem Artikel sowohl um die diachrone als auch die synchrone Komplexität von Kategorien und um die Frage, wie sich auf diese Weise, über Kategorien nachzudenken, diese gleichsam aus den Angeln heben lassen. Im Folgenden werde ich nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Verwendung der Kategorie ›Rasse‹ für die Analyse eines mittelalterlichen Textes und
2
Vgl. Schausten, Monika: Suche nach Identität: Das ›Eigene‹ und das ›Andere‹ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2006.
3
Vgl. Haschemi Yekani, Elahe/Michaelis, Beatrice/Dietze, Gabriele: »›Try Again. Fail Again. Fail Better.‹ Queer Interdependencies as Corrective Methodologies«, in: Yvette Taylor/Sally Hines/Mark Casey (Hg.), Theorizing Intersectionality and Sexuality, Houndmills, Basingstoke 2010, S. 78-98.
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schließlich auch für seine filmische Adaption zu Beginn des 20. Jahrhunderts beide Werke nacheinander diskutieren, dabei aber Text und Film immer schon aufeinander beziehen. Schließlich sollen am Ende nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den rassisierenden Logiken sichtbar werden, sondern auch der analytische Gewinn einer intersektionellen Perspektive auf dieses historisch wie medial differente Material.
1. ›R ASSE ‹
IM
M ITTELALTER ?
Seit den 1990er Jahren wird vor allem in der englischsprachigen Mediävistik – und hier in erster Linie für die englische und französische mittelalterliche Literatur sowie Geschichte – eine intensive Diskussion über die Verwendung der Kategorie ›Rasse‹ für mittelalterliche Texte und Diskurse geführt.4 Die deutschsprachige Mediävistik hingegen beteiligt sich noch kaum an dieser Debatte. Kennzeichnend für die Auseinandersetzungen deutschsprachiger Mediävist_innen über die Kategorie ›Rasse‹ ist die Uneinigkeit darüber, ob sich angesichts einer Absenz des betreffenden Terminus bereits in mittelalterlichen Texten Logiken nachweisen lassen, die wir heute mit den Begriffen ›Rasse‹ und Rassismus fassen. Vielfach wird entweder die Unzeitgemäßheit der Verwendung ins Feld geführt oder aber der Gebrauch alternativer Konzepte vorgeschlagen. Diese Verfahrensweisen sollen einerseits zum Ausdruck bringen, dass das Mittelalter Rassismus in seiner modernen Form noch nicht kannte, und andererseits Abstand von einem als zu belastet wahrgenommenen Begriff halten. Dieser Beitrag wird hingegen von einem analytischen und heuristischen Verständnis von ›Rasse‹ angeleitet, nicht aber von einem ontologischen Verständnis, das eine gleichbleibende Substanz der Kategorie behauptet. Denn erst diese ontologische Auffassung ist es, die meines Erachtens Positionen ermöglicht, die eine Absenz von Rassismus im Mittelalter postulieren. Das analytisch-heuristische Verständnis folgt jenen Ansätzen der »Critical Race Theory«, die ›Rasse‹ in einer dezidiert nicht ontologischen Weise verwenden, wie Jeffrey Cohen erläutert: »This use is inspired by the cautious deployment of the term in anthropology and critical race studies, where race is […] described as a shifting, ultimately non-reifiable category that nonetheless passes itself off as possessing an essence and a historical durability.«5 ›Rasse‹ entsteht folglich an der Schnittstelle sich wandelnder Diskurse;
4
Vgl. exemplarisch das Journal of Medieval and Early Modern Studies 30,3 (2000) und
5
Cohen, Jeffrey Jerome: Art.: »Race«, in: Marion Turner (Hg.), A Handbook of Middle
31,1 (2001). English Studies, Oxford 2013, S. 109-122, hier S. 115.
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wie Geschlecht oder Klasse ist sie durch Interdependenz und historische Varianz gekennzeichnet. ›Rasse‹ und Rassismus emergieren jeweils neu; die Differenzen in der Verwendung und Wirkweise dieser Kategorie sind jedoch nicht substanziell, sondern graduell. In diesem Punkt folge ich Geraldine Heng, die ›Rasse‹ als eine strukturelle Relation zur Artikulation und Steuerung von menschlichen Differenzen, nicht aber als substantiellen Inhalt begreift.6 ›Rasse‹ wird laut Heng dazu verwendet, Menschen mittels Differenzen voneinander zu scheiden, und zwar mittels solcher Differenzen, die selektiv als absolut und fundamental essentialisiert werden, um Machtpositionen differentiell zwischen Menschengruppen zu verteilen.7 Interessant ist in dieser Perspektive nicht mehr die Frage, ob es überhaupt so etwas wie ›Rasse‹ im Mittelalter gegeben habe, sondern vielmehr, in welcher spezifischen Weise die Kategorie im Mittelalter funktioniert und mit welchen anderen Kategorien sie sich jeweils koartikuliert. Für meine weiteren Überlegungen ist neben den Kategorien des Geschlechts, des Begehrens, des Stands und der Herkunft vor allem die religiöse Differenz von Bedeutung. Diese Differenz oszilliert im Mittelalter zwischen Somatisierung und Kulturalisierung. Heng weist darauf hin, dass Religion im Mittelalter sowohl in soziokultureller als auch in biopolitischer Hinsicht funktionalisiert wurde.8 Für das Mittelalter ist daher nach mit religiöser Differenz verknüpften Hautfarben- und anderen somatisch orientierten Diskursen und nach ihrer Rolle in rassierenden Prozessen zu fragen. Zugleich lässt sich ›Rasse‹ im Mittelalter eben nicht auf eine Farbsemiotik reduzieren, die auf die Haut projiziert wird. In diesem Sinne schreibt Jeffrey Cohen: »Medieval race may certainly involve skin color, […] yet race cannot be reduced to any of its multiple signs. Religion, descent, custom, law, language, monstrosity, geographical origin, and species are essential to the construction of medieval race.«9 Naturphilosophische, klimatologische und theologische Diskurse sind für den mittelalterlichen Hautfarbendiskurs maßgeblich. Wie Eliav-Feldon, Isaac und Ziegler in dem von ihnen herausgegebenen Band The Origins of Racism in the West argumentieren, reiben sich die betreffenden Diskurse gerade an der Frage der Veränderbarkeit oder Unveränderbarkeit: »Ideas and behaviours implying the immutability of Jews and Jewishness as well as of Saracens, originating in religious thought and not from biological distinctiveness, could hint at a powerful proto-
6
Vgl. Heng, Geraldine: »The Invention of Race in the European Middle Ages I: Race Studies, Modernity, and the Middle Ages«, in: Literature Compass 8 (2011), S. 315-331, hier S. 319.
7
Vgl. ebd., S. 324.
8
Heng, Geraldine: »The Invention of Race in the European Middle Ages II: Locations of
9
J.J. Cohen: Race, S. 111.
Medieval Race«, in: Literature Compass 8 (2011), S. 332-350, hier S. 332.
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racist sentiment current at that time [13. Jhd., B.M.]«.10 Auch das Mittelalter kennt also bereits die Vorstellung einer Unveränderbarkeit und eines Angeborenseins von Differenz. Diese Auffassungen treten im Zuge von Konversionshandlungen besonders deutlich hervor. Vor allem hinsichtlich jüdischer und muslimischer Konvertit_innen zum Christentum zeigt sich ein Verdachtsdiskurs, der eine völlige Wandlung nicht denken kann. Vielmehr insistiert dieser Diskurs auf der Existenz eines unwandelbaren Kerns, der aufgrund der Verknüpfung von Hautfarben- und Blutbildern als rassisiertes Residuum zu verstehen ist, das sich als spezifisch für mittelalterliche Rationalisierungen erweist.11 Im Folgenden werde ich besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen farblichen Codierungen von Figuren in ihrer Verschränkung mit anderen differentialen Aspekten lenken, um die spezifische Herstellung einer rassisierten Differenz im Nibelungenfilm aufzuspüren und sie vergleichend an den mittelalterlichen Diskurs und insbesondere an das Nibelungenlied zurückzubinden. Es sei vorweggenommen, dass sich Epos und Film mit Blick auf Distanzvariationen sowie auf Kommensurabilität und Inkommensurabilität im Zeichen von ›Rasse‹ unterscheiden. Während das Epos Distanzen verringert, indem es Kategorien der Kommensurabilität ins Feld führt – wie Ritterlichkeit und Höfischkeit –, betont der Film Differenzen und damit Distanz. Der Nibelungenfilm kennt keine Distanz überbrückenden Mittlerfiguren wie etwa Hagen und Rüdiger und imaginiert Etzel und die Hunnen als das inkommensurabel Abjekte. Wie diese unterschiedlichen Verfahrensweisen der Differenzierung zwischen Annäherung und Distanzierung jeweils realisiert werden, sollen die beiden folgenden Abschnitte erläutern.
2. D AS N IBELUNGENLIED Eine rein auf somatische Merkmale orientierte Lektüre des Nibelungenlieds würde unweigerlich auf die Schwierigkeit stoßen, dass sich ›Rasse‹ im Text nicht ›sehen‹ lässt. Im Nibelungenlied gelingt nur verbal, was der Film sichtbar machen kann, weil Visualisierung zu seinen genuinen Möglichkeiten gehört. Für das Epos gelten wenigstens drei Bereiche des Somatischen, anhand derer Menschen bzw. Menschengruppen voneinander unterschieden werden: (1) (Haut-)Farben, (2) Körperkraft und (3) die An- bzw. Abwesenheit von Monstrosität. Aber wie bereits ange-
10 Eliav-Feldon, Miriam/Isaac, Benjamin H./Ziegler, Joseph: Introduction, in: Miriam EliavFeldon/Isaac H. Benjamin/Joseph Ziegler (Hg.), The Origins of Racism in the West, Cambridge 2009, S. 1-31, hier S. 20. 11 Vgl. Dinshaw, Carolyn. »Pale Faces: Race, Religion, and Affect in Chaucer’s Texts and Their Readers«, in: Studies in the Age of Chaucer 23 (2001), S. 19-41, hier S. 25.
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deutet, reichen Hautfarben, Physiologie und Physiognomie – kurzum der gesamte Bereich des Somatischen – nicht aus, um die »zusammengesetzte Kategorie«12 der ›Rasse‹ im Mittelalter zu beschreiben. Dennoch begegnen im Nibelungenlied vielfach Epitheta und Vergleiche aus dem semantischen Feld der Farben, mit deren Hilfe die Differenz, aber auch die wechselseitige Bezogenheit von Paaren, Familien und Kampfgefährten auf narrative Weise visualisiert werden können. Wiederholt hebt der Text die weiße Haut des Gesichts und der Hände, das helle Haar oder die aufeinander abgestimmten Farben der Kleider, der Ausrüstung und der Pferde hervor. Für die erstgenannte Form des Farbeinsatzes ist etwa an die Beschreibung von Kriemhilds Gesichtsfarbe zu denken, die dem Glanz des sie umgebenden Goldes standhält: Di geste hiez man füeren balde an ir gemach. under wîlen blicken man Brünhilde sach an vroun Kriemhilde, diu schœne was genuoc. ir varwe gegen dem golde den glanz vil hêrlîchen truoc. (NL 796) »Die Gäste ließ man schnell zu ihrer Unterkunft führen. Immer wieder sah man, wie Brünhild Frau Kriemhild, die sehr schön war, mit Blicken maß. Die Farbe ihres Gesichtes hielt dem Glanz des Goldes stand.«
Der zweite Fall, die farbliche Aufeinanderbezogenheit zusammengehörender Gruppen, wird besonders deutlich in Ausstattung und Auftreten derer, die nach Isenstein fahren, hier Siegfried und Gunther: Reht in einer mâze den helden vil gemeit von snêblanker varwe ir ros unt ouch ir kleit wâren vil gelîche. ir schilde wolgetân die lûhten von den handen den vil wætlichen man. (NL 397) «Pferde und Ausrüstung der beiden trefflichen Helden stimmten in ihrer schneeweißen Farbe vollkommen überein. Die prunkvollen Schilde leuchteten den vorzüglichen Männern an der Hand.«
Damit werden sie zugleich auf das Ziel ihrer Brautwerbung bezogen, denn kurz zuvor weist der Erzähler auf Brünhilds schneeweiße Kleidung hin (vgl. NL 390). Neben der Farbgebung von Haut und Kleidung spielen weitere körperliche Eigenschaften eine wichtige Rolle, so insbesondere körperliche Stärke, die im Falle von
12 J.J. Cohen: Race, S. 116 [Übersetzung: B.M.].
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Siegfried und Brünhild als rassisierte Differenz bearbeitet werden muss, um ihre Inklusion am Hof zu ermöglichen. Während Siegfrieds Stärke im Rahmen der Brautwerbung Gunthers noch für den Hof funktionalisiert wird, scheint ihre Ostentation in der Jagd- und Mordszene fast schon wie ein Beweis für die Notwendigkeit seiner Beseitigung. Brünhilds Kraft muss von vornherein bearbeitet werden, um sie als Frau am Hof integrieren zu können. Erst der Verlust ihrer Kraft leitet die gelungene Ehegemeinschaft Brünhilds mit Gunther ein.13 Langs Film dagegen führt nicht nur besonders vitale und starke, sondern auch auffällig schwache und defizitäre Körper ins Feld. Drittens flektiert das Epos die Kategorie ›Rasse‹ auch durch die mittelalterliche Kategorie der Monstrosität. Doch auch hier wird ein Unterschied zum Film deutlich, da die Approximationen an das Nichthumane, vor allem das Tierische, im Epos zumeist der Aufwertung der Figuren dient. Besonders augenfällig wird dies in der Verschmelzungsszene zwischen Siegfried und dem Drachen, von der Hagen beinahe andächtig berichtet: Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekannt: einen lintrachen, den sluoc des helden hant. er badet sich in dem bluote. sîn hût wart hurnîn. des snîdet in kein wâfen. daz ist dicke worden schîn. (NL 98) »Ich weiß noch mehr von ihm, was mir zu Ohren gekommen ist. Einen Drachen hat der Held erschlagen. Er badete sich in dem Blut, und daraufhin hat er eine Hornhaut bekommen. Deshalb verwundet ihn keine Waffe. Das hat sich schon oft gezeigt.«
Im Nibelungenfilm stehen solche positiven Überblendungen neben vielfach pejorativeren Gebräuchen einer Tiernähe. Dies gilt in erster Linie für die Darstellung der Hunnen (ich komme darauf zurück). Eine zentrale Kategorie, mit der sich ›Rasse‹ im Epos koartikuliert, ist die Religion, das heißt die religiöse Differenz zwischen Christentum und Heidentum. Diese Differenz spielt vor allem in der Eheanbahnung zwischen Kriemhild und Etzel eine zentrale Rolle, wenn beide Bedenken hinsichtlich ihrer Religionsangehörigkeit äußern. Etzel reagiert äußerst skeptisch auf den Vorschlag, um Kriemhild zu werben: Dô sprach der künic rîche: ›wie moht daz ergân, sît ich bin ein heiden unt der toufe niene hân?
13 Vgl. Michaelis, Beatrice: (Dis-)Artikulationen von Begehren. Schweigeeffekte in wissenschaftlichen und literarischen Texten, Berlin/New York 2011, S. 210.
154 | B EATRICE M ICHAELIS sô ist diu vrouwe kristen, dâ von sô lobt sis niht. ez müese sîn ein wunder, ob ez immer geschiht.‹ (NL 1142) »Da fragte der mächtige König: ›Wie sollte das möglich sein, da ich Heide bin und die Taufe nicht empfangen habe? Die Herrin dagegen ist Christin; deshalb wird sie nicht zustimmen. Es müsste ein Wunder sein, wenn das jemals geschieht.‹«
Und wie zur Bestätigung dieser Skepsis denkt Kriemhild wenig später im Stillen: […] und sol ich mînen lîp geben einem heiden? ich bin ein kristen wîp. des muoz ich zer werlde immer schaden hân. gæbe er mir elliu rîche, ez ist von mir vil ungetân. (NL 1245) »Und soll ich mich einem Heiden vermählen? Ich bin Christin. Das bleibt vor der Welt für immer eine Schande. Selbst wenn er mir alle Königreiche schenkte, so ist mir das ganz unmöglich.«
Bei diesen Gesprächen wird entweder Etzels Höfischkeit und damit der gemeinsame Stand als Kommensurabilitätsargument vorgebracht oder aber Rüdiger von Bechelaren verweist als Mittlerfigur auf die Präsenz von Angehörigen der christlichen Religion an Etzels Hof: Sogar Siegfried, so heißt es, sei bereits dort gewesen und Hagen habe sich in seiner Jugend als Geisel an Etzels Hof aufgehalten (vgl. NL 1258f.). Damit ergibt sich für rassisierte Figuren bzw. Figurengruppen das Bild einer A-/Nicht-A-Differenzierung, also eines konträren Gegensatzes, der so für den Film nicht mehr gilt. Das Andere wird dabei in gradueller, jedoch nicht wesenhafter Differenz vom Eigenen imaginiert.14 Auch wenn Rüdiger die Hoffnung auf die Taufe Etzels und später Kriemhild die Hoffnung auf die Taufe Ortliebs artikulieren, so scheint die religiöse Differenz kein unüberwindliches Hindernis für eine Annäherung und schließlich für Ehe und Reproduktion zu sein. Bezeichnenderweise wird die religiöse Differenz nicht explizit an somatisierende Argumente geknüpft. Folglich ist hinsichtlich der Artikulation von ›Rasse‹ einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Text und Film in der zunehmenden Somatisierung von Differenz zu sehen. Die über die spezifische Intersektion von somatischen und religiösen Merkmalen konstruierten rassisierten Differenzen zwischen Nibelungen, Burgunden und
14 Vgl. Klinger, Cornelia: »Beredtes Schweigen und verschwiegenes Sprechen: Genus im Diskurs der Philosophie«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 34-59, hier S. 42.
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Hunnen im mittelalterlichen Epos können damit nicht nur als graduell, sondern auch als potentiell mutabel begriffen werden. Langs Film setzt im Gegensatz zum mittelalterlichen Epos stets auf immutable Differenzen und Binnendifferenzen (Nibelungen, Siegfried, Burgunder), weil sein Ziel ein völlig anderes ist. Ihm geht es eben nicht nur um eine Distanzvariation zwischen ständisch Gleichen, aber religiös Anderen, sondern er beabsichtigt vielmehr die größtmögliche Distanzierung. Diese ist immer schon jene Abjektion, als deren aufgeworfene Resultate das »deutsche Volk« (NF I 00:01:50) und die »deutsche Seele« (NF II 01:42:16) emergieren. Daher schwächt der Film Gemeinsamkeiten ab, die zwischen Burgunden und Hunnen entstehen könnten. Langs Hunnen sind nicht höfisch, weshalb das Turnier zu Ehren der burgundischen Gäste, von dem das Epos noch berichtet, im Film nicht mehr präsent ist (vgl. NL 1868ff.). Auch fungiert Hagen nicht mehr wie im Epos neben Rüdiger als Übersetzer des Anderen, sondern als burgundisches Eigenes, das nicht übertragbar ist. Auch wenn die Hagenfigur des Films visuell sowohl an den Drachen (aufgrund seiner Einäugigkeit) als auch an Brünhild (durch farbliche Übereinstimmungen und den geflügelten Helm) gemahnt, so widersetzt sie sich doch einem expliziten Brückenschlag zwischen diesen Bereichen. Der Text kennt Graduierungen und Mutabilitäten, die der Film aufgrund der modernen Rassentheorien so nicht übernimmt. Das heißt aber nicht, dass man dem mittelalterlichen Text keine Artikulation von ›Rasse‹ attestieren darf; vielmehr zeigt gerade der intersektionelle Blick, welche transformatorische Qualität diese Kategorie besitzt, die vielfach erst in der Koartikulation15 mit anderen Kategorien wirksam wird. Geraldine Heng zitiert Ann Laura Stolers These, dass das Chamäleon ›Rasse‹ wie ein Vakuum wirke, da es andere soziale Differenzkategorien in sich aufsauge: »[T]he concept of race is an ›empty vacuum‹ – an image both conveying [the] ›chameleonic‹ quality [of race] and [its] ability to ingest other ways of distinguishing social categories.«16 Damit tritt abermals die Relevanz der intersektionellen Perspektive hervor. Fehlte sie, wäre es nicht möglich, rassisierende Effekte solcher interdependenter Kategorien wahrzunehmen, die nicht schon ›Rasse‹ im modernen Sinn sind. Heng geht noch weiter, wenn sie konstatiert, dass Rassisierung nicht nur ein Effekt anderer Differenzkategorien sei. Vielmehr funktioniere ›Rasse‹ als Zusammenspiel dieser jeweils anderen Kategorien: »The ability of racial logic to stalk and merge with other hierarchical systems – such as class, gender, or sexuality
15 Hier folge ich Anne McClintock, die, einen additiven Ansatz von »race«, »class«, »gender« und »locality« vermeidend, betont, dass die betreffenden Kategorien bereits durch die jeweils anderen Kategorien ›artikuliert‹ werden; vgl. McClintock, Anne: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York/London 1995, S. 5. 16 G. Heng: Invention I, S. 319.
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– also means that race can function as class (so that whiteness is the color of medieval nobility), as ›ethnicity‹ and religion […], or as sexuality […].«17 Damit ist für das mittelalterliche Nibelungenlied vorerst Folgendes festzuhalten: Es führt zum einen vor Augen, dass die Distanzvariation zwischen Eigenem und Anderem einem Verständnis von Differenz folgt, das Kommensurabilität und Mutabilität akzentuiert. Zum anderen artikuliert sich ›Rasse‹ hier in der spezifischen Verschränkung von somatischen, religiösen und ständischen Differenzen im Sinne einer Koartikulation.
3. S IEGFRIED
UND
K RIEMHILDS R ACHE
Fritz Langs Verfilmung Die Nibelungen weist über die Verschränkung von Religion und Herkunft mit Hautfarbe/Physiognomie seine Anknüpfung an mittelalterliche rassisierende Diskurse aus. Ein Unterschied zu mittelalterlichen Logiken der Rassisierung liegt darin, dass Lang hier nicht mehr nur das Andere konstruiert und fokussiert, sondern vor allem die Kategorie des Weißseins in den Mittelpunkt rückt.18 Die visuelle und narrative Thematisierung von Differenzkategorien zieht im Film sowohl die Sichtbarmachung von Whiteness als auch die Ostentation des Anderen nach sich. Auch der mittelalterliche Hautfarbendiskurs ist darauf angelegt, das Eigene zu konstruieren und zu stabilisieren; bei dieser Operation gerät jedoch häufiger noch das Andere in den Blick. Erst seit einiger Zeit fokussieren mediävistische Arbeiten wie jene von Susan Conklin Akbari oder Geraldine Heng verstärkt die Konstruktion von Whiteness, die auch in mittelalterlichen Texten sowie in visuellen und materiellen Quellen des Mittelalters untersuchbar ist. In ihren Überlegungen zu mittelalterlicher ›Rasse‹ mahnt Heng daher: »[A] critical shift in our attention is timely, to make visible what has been invisible in the field of the spectacular: the ascension of whiteness to supremacy as a category of identity in the definition of the Christian European subject.«19 Für Langs Film dagegen ist diese Blickverkeh-
17 Ebd. 18 Im Rahmen der – sehr heterogenen – Critical Whiteness Studies wird seit einigen Jahren die Konstruktion des hegemonialen weißen Subjekts verstärkt in den Blick genommen. Weißsein wird anders als Schwarzsein nicht primär als politische Positionalität, sondern als kritische Kategorie für die Analyse rassisierender Prozesse begriffen. Theoretiker_innen wie Richard Dyer heben die Präpotenz dieser unhinterfragten, ›blanken‹ Kategorie hervor und zeigen, wie sie vor der Folie eines stets markierten Anderen als unmarkiertes Eigenes ihre normative Macht entfaltet. 19 G. Heng: Invention II, S. 343. Conklin Akbari rückt in ihrer Untersuchung zu Alexandererzählungen zudem die Emergenz des europäischen Westens in den Vordergrund (vgl.
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rung auf den machtvollen weißen Körper schon stärker nachvollzogen und analysiert worden (ich komme darauf zurück). Darstellungen rassisierter Differenz, wie sie im Mittelalter imaginiert werden, werden im Film mit rassierenden Logiken der Moderne überlagert. Die Bewohner_innen von drei der von Lang konstruierten vier Welten, nämlich die Zwerge, Brünhild und ihr Gefolge sowie die Hunnen, stehen für das Andere ein. Lang selbst beschreibt die Gestaltung dieser distinkten Räume und ihre Funktion wie folgt: »Die Welt von Worms, das hieß die Welt einer schon überfeinerten Kultur, in der jede Geste, jedes Gewand, jeder Gruß von einer fast müden, aber sehr adligen zur Sitte gesteigerten Einfachheit war. Und dabei war es notwendig, glaubhaft zu machen, daß in den fast kahlen, unsäglich ernsten Räumen Menschen lebten und ihr Schicksal erfüllten. Das hieß, der Stil des um die Menschen her Erbauten durfte mir die Menschen nicht erdrücken, er mußte Rahmen bleiben, der mir die Menschen steigerte. Die zweite Welt: Die Welt des jungen Siegfried, der sich als Schmiedegeselle Mime's das Schwert, mit dem er den Drachen erschlägt, selber schafft, – der Dom des Waldes, die im Dämmer liegenden Wiesen, die verkrüppelten Bäume, in denen gespensterhaft-elfisch der Herr der Zwerge, Alberich, haust. Gleichsam die Welt des Unterirdischen, reich an Gold, an Spuk, an Geheimnissen des Steins. Die dritte Welt: Die Welt Brünhilds, lsenland, das Nordlicht, fremde, bleiche, eisige Luft, in der die Menschen wie verglast aussehen. Blöcke erstarrter Lava, grau, schwarz, darüber die Ewigkeit eines im Nordlicht ruhelos zuckenden Himmels. Die vierte Welt: Die Welt der Hunnen und Etzels, des Asiaten, dem Herrn der Erde, dessen Schicksal sich an der unerbittlichen Liebe seines Weibes zu einem Toten, an der Rache für diesen ihm fremden Toten, erfüllt.«20
Der Film nutzt seine medialen Möglichkeiten für das Insistieren auf Differenz. Trotz seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik bzw. der monochromen Sepiafärbung spielt er mit den Farben. Sie werden angedeutet, indem zum Beispiel bei der Darstellung der Kleidung oder auch bei der Raumgestaltung mit Referenzen an die moderne Malerei gearbeitet wird. Gleich zu Beginn des Films sieht das Publikum einen Regenbogen und gleitet der Kamerablick über ein Feld von Blumen im Wald. So wird der
Conklin Akbari, Suzanne: »Alexander in the Orient: bodies and boundaries in the Roman de toute chevalerie«, in: Ananya Jahanara Kabir/Deanne Williams (Hg.), Postcolonial Approaches to the European Middle Ages. Translating Cultures, Cambridge 2010, S. 105-126). 20 Zitiert in: Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang. Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 204f.
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Blick der Zuschauenden für eine Farbaufmerksamkeit konditioniert, die zunächst überraschen mag. Ähnliches gelingt auch über die Beleuchtung. Mit ihrer Hilfe werden die gewissermaßen hinter dem Auge, das heißt in der Imagination gesehenen Farben noch einmal in Hell und Dunkel, in Licht und Schatten geschieden. Damit ist zugleich auf das wichtigste Gestaltungsmittel hingewiesen, das wiederum mit der Differenzpolitik des Filmes korreliert. Vielfältige Kontraste kommen zum Einsatz, die sich zwar nicht auf Farben beschränken, dort aber besonders prominent sind. Dies gilt vor allem für das Spiel zwischen Schwarz und Weiß.21 Zu denken ist an den Gegensatz zwischen der weißen und der schwarzen Kriemhild, die anfänglich inmitten einer kaltweißen Landschaft ihre Macht ausübt, oder auch an die expressionistische Inszenierung von Kriemhilds Falkentraum, wo in Zeichentrickmanier zwei schwarze Vögel mit einem weißen kämpfen. Auffällig ist, dass das dunkle, schwarze Spektrum negativ konnotiert ist als Angleichung an das Andere, als Bedrohung, als Vorausdeutung auf das Unabwendbare. Diese Farbkontraste sind weitreichend und umfassen mitunter die gesamte Darstellung der vier Welten des Films oder auch konkreter Räume. Während sich die Anderen wie Mime, Alberich, Brünhild und die Hunnen häufig in dunklen Höhlen aufhalten, ist etwa der hell angestrahlte Siegfried in lichter Natur zu sehen. Auch dieser Kontrast zwischen Außen und Innen organisiert Differenz und Zugehörigkeit, hat aber auch Konsequenzen für die Rassisierung und Vergeschlechtlichung von Figuren. Siegfried und Kriemhild halten sich in jenen Szenen, die die Idealität ihrer Beziehung zeigen sollen, im Vergleich zu Gunther und Brünhild meist in Außenräumen auf. Sie erscheinen als die aktiveren oder aktiver gemachten Figuren, gegen die in starkem Kontrast die passiven oder passiv gemachten Figuren Gunther, Etzel und Brünhild stehen. Die Räume changieren zwischen Geformtheit (mitunter Überformtheit) und Unförmigkeit. Ich denke hier vorrangig an die symmetrischen und eckigen Formen in Worms, die ihren Gegensatz in der nichthöfischen Welt der abgerundeten und asymmetrischen Wände und Räume der Hunnen finden. In Worms herrscht eine Präponderanz von Ornamenten und Dekor, in deren geordneten Linien der Einzelne verschwindet. Schließlich wird das damit in Verbindung stehende Kontrastpaar Sauber/Unsauber zur Konstruktion von Differenz benutzt, bezogen sowohl auf Räume als auch auf die in ihnen befindlichen Körper. Während die Wormser Innenräume keinerlei Anschein von Unsauberkeit zeigen, befindet sich in der Mitte des hunnischen Palastes ein großer Pfuhl (Abb. 2), auf den Kriemhild bei ihrer Ankunft mit Ekel blickt (Abb. 1).
21 Vgl. hierzu Husmann, Jana: Schwarz-Weiß-Symbolik: dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld 2010.
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Abb. 1: Kriemhild blickt auf den Pfuhl (NF II 00:34:07)
Abb. 2: Der Pfuhl im hunnischen Palast (NF II 00:34:17)
Auch hier spielen Kleidung sowie häufiger noch Frisuren oder Behaarung eine zentrale Rolle, und zwar einerseits für die Kennzeichnung der Zugehörigkeit, andererseits für die Distanzierung. Zu denken ist an Siegfrieds blondes Haar, das im deutlichen Kontrast zu Etzels (des »Heiden«) zerzauster, beinahe tierischer Behaarung steht.22 Auffällig sind zudem das Verhältnis von Masse und Einzelnem sowie
22 Vgl. Bartlett, Robert: »Symbolic Meanings of Hair in the Middle Ages«, in: Transactions of the Royal Historical Society 4 (1994), S. 43-60.
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die Anordnung von Figuren im (Außen-)Raum, insbesondere die Angleichung der Figuren als Teil einer Masse. Nibelungen, Burgunden und Hunnen werden oftmals entlang von Ordnung, Disziplin und Zivilisiertheit unterschieden. So essen Zwerge und Hunnen in ungeordneten Gruppen rohes Fleisch. Auch für Cohen hat Essen eine zentrale Bedeutung für die Artikulation von ›Rasse‹: »Race is evinced in such highly visible actions as the choice, preparation and consumption of food; patterns of speech and use of language; law; customs and ritual; and practice of sexuality.«23 Zugehörigkeit und Aufeinanderbezogenheit werden, wie schon im Epos, nicht nur durch diese räumlichen Ordnungen, sondern vor allem auch durch farbliche Abstimmung sichtbar gemacht. Siegfried und Kriemhild teilen das weiße Spektrum, während bei Kriemhild im zweiten Teil schließlich eine Angleichung an Etzel zu beobachten ist, insofern sie hinsichtlich Kleidung und Schminke immer dunkler wird. Über das Spiel mit Licht und Dunkel hinaus arbeitet der Film mit Perspektivwechseln, Fokalisierungen, Montagen, verschiedenen Rahmen und Einstellungen, um rassisierte Differenz zu erzeugen. Zugleich bewegt er sich mit diesen Mitteln zwischen der Distanzierung des Anderen und der Annäherung des Eigenen. An der Figur Siegfrieds werden die Bedeutung des Lichts (ja das Begehren nach Licht) sowie der Perspektive besonders augenfällig. Für eine Weile lässt sich sogar eine Angleichung der Helligkeit von Siegfried und Gunther erahnen, die die temporäre Nähe und wechselseitige Bezogenheit der beiden Figuren akzentuiert (Abb. 3).
Abb. 3: Gunthers und Siegfrieds Bund (NF I 01:16:33)
23 J.J. Cohen: Race, S. 112; vgl. auch den Beitrag von Lisa Pychlau-Ezli in diesem Band.
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Siegfried wird in Untersicht und stark beleuchtet in Szene gesetzt. Auf ihn richtet sich der begehrende Blick des ›wilden‹, dunkelhäutigen Zwergs24, der die Differenz zwischen »arischem« und abjektem Körper umreißt. Siegfried ist der zeit- und raumlose »Halbgott« oder »Halbmensch«25, der erhöht auf dem weißen Pferd die in Erdnähe verharrenden Zwerge zurücklässt. Siegfrieds Weißsein wird dabei durch das helle Pferd und die helle Kleidung noch verstärkt.26 Zwar rückt ihn der Kampf mit den nichtmenschlichen Wesen verdächtig in deren Nähe, doch Siegfried erscheint wie der wagnersche »Gott des Lichts, der Sonne«27, bei dessen Tod der Baum mit weißen Blüten verdorrt und sich in einen Totenkopf transformiert.28 Gerade bei der Inszenierung Siegfrieds knüpft der Film mit seinen spezifischen Mitteln an mittelalterliche rassisierende Konventionen an. Auch im mittelalterlichen Epos verbinden sich Lichtmetaphysik, Farbsymbolik, Somatik und Religion zum Kompositum ›Rasse‹. Das Zusammengesetztsein aus verschiedenen Elementen wie Hautfarbe, Physiognomik, Religion und Stand ist eine Spezifik des mittelalterlichen Konzepts von ›Rasse‹29; davon unberührt bleibt die interdependente Logik, die ›Rasse‹ mit anderen Differenzkategorien teilt, in denen sie sich immer schon koartikuliert. An den Stellenwert der Religion im Text schließt der Film zwar nicht an, doch die vielen Szenen im lichtdurchfluteten Münster oder davor – etwa als Kriemhild nach der Trauerfeier für Siegfried von versehrten Bettlern umringt wird – und die häufige Präsenz der Glocken im Kontext von Siegfrieds Tod heben hervor, dass auch für die Rassisierungen im Nibelungenfilm neben den somatischen Aspekten die religiöse Dimension relevant wird. Entsprechend der christlichreligiösen Prägung der mittelalterlichen Weltauffassung verhilft die christliche Symbolik im Film dem weißen Eigenen zur Suprematie über das heidnische Andere. Im Film tritt auch das Motiv des Bluts hinzu und zwar in deutlich prononcierterer somatischer Weise als im Text. Dies wird besonders deutlich, wenn Siegfried und Gunther Blutsbrüderschaft trinken oder wenn Kriemhild sich Siegfrieds Körper mittels der mit seinem Blut getränkten Erde symbolisch einverleibt, indem sie ihr
24 Als Figuration des Nichthumanen ist der Zwerg, dem Riesen vergleichbar, eine ›Kontaktfigur‹ zwischen Mittelalter und Moderne. Thea von Harbou beschreibt Mime im Drehbuch auch als Gorilla (vgl. Kaes, Anton: »Siegfried – A German film star. Performing the nation in Lang’s Nibelungenfilm«, in: Tim Bergfelder (Hg.), The German cinema book, London 2002, S. 63–70, hier S. 66.). 25 Ebd., S. 63. 26 Vgl. ebd., S. 66. 27 Buschinger, Danielle: Das Mittelalter Richard Wagners. Übersetzt von Renate Ullrich und Danielle Buschinger, Würzburg 2007, S. 60. 28 Vgl. C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 223. 29 J.J. Cohen: Race, S. 116.
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Gesicht darin versenkt. Mit diesem Bild schließt Lang an eine rassistische Denkweise an, die unter den Nationalsozialisten als »Blut-und-Boden«-Ideologie reüssieren sollte. Auf die Binnendifferenzierungen in Langs Film, die zwischen den Nibelungen, Siegfried und den Burgunden etabliert werden, hatte ich bereits hingewiesen. Die Welt der Hunnen erachte ich jedoch nicht mehr als Teil einer solchen Binnendifferenzierung, denn mit ihr konstruiert der Film einen kontradiktorischen Gegensatz im Sinne einer A/B-Differenzierung. Etzel erscheint als der Herr der Erde; er kommt aus der Wüste (vgl. NF II 01:00:03) und wird als »der Asiate«30 als servil in stets gebückter Haltung inszeniert. Auch die übrigen Hunnen lässt der Film insektenähnlich in Erdnähe kriechen oder auf Bäumen leben: Die Kinder begegnen Kriemhild bei ihrer Ankunft nackt, womit der Film nicht nur auf ihre Unschuld, sondern mehr noch auf ihre Natürlichkeit und (Noch-)Nichtzivilisiertheit referiert. Damit ist der Gegensatz zwischen Worms und dem Land der Hunnen größtmöglich entfaltet. Kriemhild ist aus Sicht der Hunnen zunächst das »weiße Weib« (NF II 00:41:11), d.h. sie verkörpert all das, was jene nicht sind und auch nicht sein können, aber dennoch in Besitz zu nehmen begehren. Daher bilden sie eine Gefahr für die zum Fest angereisten Nibelungen, denn diese lassen sich vom Tanz der Hunnen anstecken, sodass Unordnung und Verunreinigung drohen. Mit dieser Episode, aber auch mit der farblichen Transformation Kriemhilds impliziert der Film die Instabilität und stets nur graduelle (also nicht absolute) Differenz von Weißsein gegenüber allem Nicht-Weißen.31 Die Kombination aus zunehmend dunkler Kleidung und dunklen Akzentuierungen ihres »bleichen« Gesichts indiziert den engen Zusammenhang von ›Rasse‹, Religion und Affekt, den Carolyn Dinshaw herausgearbeitet hat: »Paleness here is a mark of loss: sudden loss of blood, loss of family, even […] loss of purity.«32 Wie der Kontrast zwischen Worms und Hunnenland ist auch die Distanz zwischen Kriemhilds erstem und zweitem Ehemann maximal. Etzel zeigt sich im Kampf passiv; er betrauert in nahezu petrifizierter Weise sein Kind und ist zu jeder anderen Handlung unfähig. So widerspricht er den Vorstellungen heroischer Männlichkeit, für die Siegfried steht. Damit überblendet der Film stärker als das Nibelungenlied, das noch die religiöse Differenz in den Mittelpunkt rückte, Geschlecht und ›Rasse‹, um die Inkommensurabilität von Nibelungenwelt und Hunnenwelt hervorzuheben. Kommensurabilität ist bei Lang nicht mehr denkbar. Folglich hat Diu Klage, jener stets mit dem Nibelungenlied gemeinsam überlieferte Bericht von der
30 F. Lang, zitiert in C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 205. 31 Vgl. C. Dinshaw: Pale Faces, S. 28. 32 Ebd., S. 23.
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gemeinsamen Trauer um die Gefallenen, keinen Raum im Film, der Eigenes und Anderes über sein Ende hinaus unversöhnlich gegeneinander stellt.
4. S CHLUSSBEMERKUNG Der intersektionelle Blick auf Epos und Film eröffnet die Kategorie ›Rasse‹ in ihrer diachronen und synchronen Komplexität und Transformation. Er zeigt, dass ›Rasse‹ in Flexionen zum Einsatz kommt, wenn hierarchische Beziehungen erzeugt werden. Nibelungenlied und Nibelungenfilm nutzen die intersektionelle Artikulation von ›Rasse‹ in gegenläufiger Weise. Während das Epos Kommensurabilität zwischen Nibelungenwelt und Hunnenreich behauptet, auch um die Ehe zwischen Christin und Heiden zu rechtfertigen, insistiert der Film auf der Inkommensurabilität beider Welten. Eine wünschenswerte Mutabilität, etwa in Form der Taufe Etzels oder Ortliebs, und damit eine Annäherung zwischen den Welten erscheint nicht an Langs Horizont. Bei ihm stehen Eigenes und Anderes unversöhnt und unversöhnlich gegeneinander. Im Nibelungenlied vermag die Kommensurabilität die Gewalt zwischen Nibelungen und Hunnen gleichwohl nicht zu verhindern. Doch während Gewalt im Nibelungenlied als beinahe tragisches Resultat verwandtschaftlicher und herrschaftlicher Konkurrenzen erscheint, muss sie in Langs Inszenierung als unmittelbare Folge rassisierender Verwerfungen angesehen werden. Dieser Sachverhalt ermöglichte später die faschistische Vereinnahmung des Films.
Gottesbrot und Menschenbrei Essen als Zeichen sozialer Differenzierung im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen L ISA P YCHLAU -E ZLI
1. K ULTURTHEORETISCHE G RUNDLAGEN a) »Doing Difference« In ihrem aus der Geschlechterforschung hervorgegangen »Doing Difference«Ansatz vertreten Sarah Fenstermaker und Candace West die These, dass soziale Ungleichheiten kulturelle Hervorbringungen sind und aktiv erzeugt werden.1 Die Forscherinnen verstehen »difference« als fortwährenden Interaktionsprozess und beurteilen die Kategorien der ›Rasse‹, der Klasse und des Geschlechts als Mechanismen, die soziale Ungleichheit hervorrufen.2 Die Entstehung sozialer Ungleichheitskategorien resultiert demnach aus permanent ablaufenden Konstruktionsvorgängen. Judith Butler zufolge vollziehen sich diese Konstruktionen performativ über Akte, Gesten und Inszenierungen, die auf der Oberfläche des Körpers den Effekt eines genuinen inneren Kerns hervorrufen.3 Die Konstruktionsprozesse setzen voraus, dass normative Vorstellungen davon existieren, wie sich Personen, die einer 1
Vgl. Fenstermaker, Sarah/West, Candace: »Doing Difference«, in: Gender & Society 9 (1995), S. 8-37; Fenstermaker, Sarah/West, Candace: »›Doing Difference‹ Revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog der Geschlechterforschung«, in: Bettina Heintz (Hg.), Geschlechtersoziologie, Wiesbaden 2001, S. 236-249, hier S. 238.
2
Vgl. S. Fenstermaker/C. West: Doing Difference, S. 8 (»ongoing interactional accom-
3
Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 200.
plishment«).
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bestimmten Klassen-, ›Rassen‹- oder Geschlechtskategorie zugeordnet werden, verhalten und präsentieren.4 Handlungen werden an Normen gemessen und, beispielsweise im Falle des Geschlechts, als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ beurteilt. Auf dem Wege der Bestätigung und Reproduktion der Ungleichheiten etabliert sich eine soziale Ordnung, die auf eben diesen Kategorien gründet und als ›normal‹ und ›natürlich‹ wahrgenommen wird. Die Ungleichheitskategorien überschneiden sich, sie wirken simultan und interdependent. Differenzen sind somit nicht naturgegeben, sondern werden performativ erzeugt und durch soziale Interaktionen und Praxen vollzogen. Das Phänomen der Nahrung ist in besonderer Weise geeignet, soziale Zugehörigkeiten zu markieren.5 In semiotischer Hinsicht kann man von einem alimentären Code, in soziologischer Hinsicht von einem alimentären Habitus sprechen. Nationen6, Religionen7, Klassen8 und Geschlechter9 unterscheiden sich durch ihre Essgewohnheiten.10 Nahrung dient als Signifikant, der auf eine bestimmte nationale, religiöse, klassen- oder geschlechtsspezifische Zugehörigkeit verweisen kann. Im Signifikationsprozess werden vielfach binäre Oppositionen gebildet und verkettet wie männlich vs. weiblich, gläubig vs. ungläubig, arm vs. reich oder zivilisiert vs. unzivilisiert. Auf diese Weise konstruiert und repräsentiert Nahrung soziale Unterschiede und Ungleichheiten.11 Der Verzehr von Speisen impliziert Inklu-
4
Vgl. S. Fenstermaker/C. West: Doing Difference Revisited, S. 240.
5
Vgl. Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Ein-
6
Vgl. Sandgruber, Roman: »Österreichische Nationalspeisen. Mythos und Realität«, in:
führung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München 1999, S. 96f. Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 179-203; Barlösius, Eva/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen: »Leitgedanken über die Zusammenhänge von Identität und kulinarischer Kultur im Europa der Regionen«, in: Teuteberg/Neumann/Wierlacher, Essen und kulturelle Identität (1997), S. 13-26, hier S. 13. 7
Vgl. E. Barlösius: Soziologie des Essens.
8
Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
9
Vgl. Sandgruber, Roman: Frauensachen – Männerdinge. Eine ›sächliche‹ Geschichte der
Übersetzt von Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt am Main 1982. zwei Geschlechter, Wien 2006, S. 25-46 (»Das Geschlecht der Esser«); Wirz, Albert: »›Schwaches zwingt Starkes‹: Ernährungsreform und Geschlechterordnung«, in: Teuteberg/Neumann/Wierlacher, Essen und kulturelle Identität (1997), S. 438-458. 10 Zu den Abhängigkeiten von Essen, Klasse und Geschlecht vgl. Frerichs, Petra/Steinrücke, Margareta: »Kochen – ein männliches Spiel? Die Küche als geschlechts- und klassenstrukturierter Raum«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main 21998, S. 231-258. 11 Vgl. E. Barlösius: Soziologie des Essens, S. 97f.
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sions- und Exklusionsmechanismen, die Identitäten festigen und Differenzen markieren. b) Essen im »Prozess der Zivilisation« Norbert Elias beschreibt in seinen sozio- und psychogenetischen Untersuchungen zum Prozess der Zivilisation auch die Entstehung der Norm moderner westlicher Essgebräuche.12 Der Zivilisationsprozess resultiert Elias zufolge aus der sozialen Distinktion der Oberschicht, die sich durch eine progressive Verfeinerung der Sitten, insbesondere auch des Essverhaltens, von den unteren Schichten abgrenzt. Indem aufstrebende Gruppen den Habitus der oberen Schichten imitieren, veranlassen sie diese zur fortwährenden Verschiebung ihrer Normen. Ende des 18. Jahrhunderts wird nach Elias jener Standard der Essgebräuche erreicht, der in der zivilisierten Gesellschaft der Neuzeit als selbstverständlich gilt. Im Verlauf des Zivilisationsprozesses wird der Trieb- und Affekthaushalt einer beständigen Selbstkontrolle unterworfen, wodurch sich ursprüngliche Fremdzwänge – wie die Einhaltung von Tischsitten – in Selbstzwänge verwandeln. Grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Hunger werden zunehmend als animalisch und vulgär empfunden. Es entwickelt sich ein Peinlichkeitsgefühl, das sich in Bezug auf das Essen in einer Reihe von Verboten und Geboten niederschlägt, die darauf abzielen, die Notwendigkeit der Ernährung durch die Ästhetisierung des Prozesses der Nahrungsaufnahme zu verschleiern. Hierzu gehört beispielsweise, dass ein zum Verzehr bestimmtes Tier nach der Zubereitung nicht mehr als solches zu erkennen ist. Während im Hochmittelalter die Zurschaustellung des zubereiteten, aber unzerlegten Tieres als Zeichen für Reichtum und Adel galt, ist der Anblick eines ganzen Tieres auf dem Tisch in der Neuzeit peinlich geworden. Die physiologische Funktion des Essens wird mit der fortschreitenden Zivilisierung immer stärker negiert und die Nahrungsaufnahme zur gesellschaftlichen Zeremonie stilisiert. So ersetzt der Gebrauch von Geschirr und Besteck das Essen mit den Händen. Während das Essen mit der Hand den Essenden unmittelbar mit der Materie verknüpft und daher als Äußerung ungezügelter Begierde gilt13, schafft der Gebrauch von Messer und Gabel, der für den Verzehr von
12 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main 1978, S. 110-174 (Kap. »Über das Verhalten beim Essen«). 13 Vgl. Simmel, Georg: Soziologie der Mahlzeit, in: Ders.: Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susmann hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 243-250, hier S. 246.
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Speisen durchaus nicht zwingend notwendig ist, eine Distanz zur Nahrung.14 Entsprechend wird auch die Zerlegung und Zubereitung der Speisen hinter die gesellschaftlichen Kulissen, nämlich in die Küche verlegt. Die Reglementierung des Essverhaltens zielt auf die Demonstration disziplinierter Zurückhaltung: Man soll nicht zu schnell essen, nicht schmatzen, den Mund beim Kauen schließen, Schnäuzen und Kratzen vermeiden, dem Tischnachbarn nicht das Essen wegnehmen. Die Entstehung der Tischsitten ist weniger durch die Einhaltung körperlicher Hygiene motiviert als vielmehr durch die Herstellung eines gesellschaftlichen Ordnungssystems. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Tischsitten entwickelt sich die gemeinsame Nahrungsaufnahme zu einem gesellschaftlichen Zeremoniell, dessen primäre Funktion nicht mehr in der Ernährung, sondern in seinem sozialkommunikativen Charakter wie beispielsweise der Abbildung ständischer Hierarchie liegt.
2. D AS N IBELUNGENLIED Auch im Nibelungenlied dient Nahrung als Zeichensystem, um Figuren und Figurengruppen hinsichtlich ihrer ›Rasse‹, ihres Standes, ihrer Religion, ihres Geschlechts und ihres Alters zu markieren.15 Die Wahl der Speise ist Teil des Habitus und verweist auf die Zugehörigkeit der betreffenden Figuren zu einer bestimmten sozialen Schicht.16 Im Nibelungenlied fungiert Nahrung als Standesattribut, das vom Reichtum der adeligen Protagonisten zeugt. Als typisch höfische Lebensmittel werden französisches Weißbrot und Wein erwähnt, sie gelten als kostbar und verweisen auf den hohen gesellschaftlichen Rang der Essenden.17
14 Vgl. auch Lévi-Strauss, Claude: Mythologica 1: Das Rohe und das Gekochte. Aus dem Franz. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1976, S. 431. 15 Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem DeclaUfa-Film ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek). 16 Vgl. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 288-322. 17 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 102002, S. 244.
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a) Das Gastmahl bei Rüdiger von Bechelaren Wie der Verzehr ausgewählter Speisen zur Konstitution höfischer Identität beiträgt, lässt sich beispielhaft an jener Szene illustrieren, in der die Burgunden bei ihrer Reise ins Hunnenland am Hofe des Markgrafen Rüdiger von Bechelaren Station machen. Rüdiger ist von hoher Abstammung, lebt jedoch im Exil und dient dem hunnischen König Etzel als Vasall. Vor ihrer Ankunft in Bechelaren befinden sich die Burgunden in einer verzweifelten Situation. Ihnen ist die Nahrung ausgegangen und sie hoffen auf einen höfischen Gastgeber, der sie mit Brot bewirtet (vgl. NL 1634). Der Grenzposten Eckewart empfiehlt ihnen, Rüdiger aufzusuchen, der sich dann auch durch die großzügige Bewirtung der Burgunden als idealer höfischer Gastgeber erweist. Zunächst empfängt er die Burgunden mit einem Willkommenstrunk: do hiez man balde schenken den gesten guoten win. / jane dorften nimmer helde baz gehandelet sin. (NL 1665,3f.: »Da ließ man den Gästen sogleich guten Wein einschenken. Niemals dürften Helden besser bewirtet worden sein«). Anschließend gehen Männer und Frauen getrennt zu Tisch, und Rüdiger kümmert sich vorbildlich um die Versorgung der fremden Gäste: Nâch gewonheite sô schieden si sich dâ. ritter und vrouwen, di giengen anderswâ. dô rihte man die tische in dem sale wît. den unkunden gesten diente man hêrliche sît. (NL 1668) »Sie trennten sich dann, wie es üblich war. Ritter und Damen gingen in verschiedene Richtungen. Da deckte man die Tische in dem großen Saal. Die fremden Gäste bewirtete man auf herrliche Weise.«
Außerdem wird erzählt, dass Rüdigers Frau, die Markgräfin Gotelind, zu Ehren der Burgunden an der Tischgemeinschaft der Ritter teilnimmt: Durch der geste liebe hinze tische gie / diu edele marcgrâvinne […] (NL 1669,1f.: »Den Gästen zuliebe ging die edle Markgräfin zur Tafel«). Im Anschluss an das Mahl machen die Burgunden den Vorschlag, Rüdigers Tochter mit Giselher, dem jüngsten der burgundischen Könige, zu verloben. Rüdiger hält eine derartige familiäre Verbindung zunächst für unmöglich. Die Heimat- und Besitzlosigkeit Rüdigers, der über keinerlei Ländereien verfügt, die er seiner Tochter mit in die Ehe geben könnte, sprechen für ihn gegen die Vermählung der Tochter mit Giselher. Rüdigers höfische Gesinnung, die sich in seiner Gastfreundschaft äußert, und die Zurschaustellung des höfischen Habitus durch die großzügige Bewirtung bringen jedoch sehr deutlich zum Ausdruck, dass der Gastgeber durchaus am Habitus seiner Gäste partizipiert. Schließlich leistet er den Burgunden einen Treueid, woraufhin die Verlobung beschlossen
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wird. Am nächsten Tag fordert Rüdiger seine Gäste auf, ihren Aufenthalt in Bechelaren zu verlängern. Dankwart erkundigt sich danach, ob er in der Lage sei, sie ausreichend mit Brot und Wein zu versorgen: wâ nemt ir di spîse, daz brôt und ouch den wîn, / daz ir sô manigen recken noch hînte müeset han? (NL 1686,2f: »Woher solltet Ihr die Verpflegungen, das Brot und auch den Wein nehmen, um so viele Gäste noch heute Nacht zu beherbergen?«) Doch Rüdiger kann den Anforderungen der Burgunden nachkommen und die Burgunden verweilen für weitere vierzehn Tage in Bechelaren. Das gemeinsame Speisen trägt dazu bei, bestehende Differenzen zu überwinden. Die integrative Geste geht von beiden Seiten aus. Einerseits versorgt Rüdiger die Burgunden mit einem Mahl, obwohl sie unkunden (NL 1671,4) sind; andererseits beschließen die Burgunden im Anschluss an das gastfreundliche Mahl die familiäre Verbindung mit Rüdiger, obwohl dieser ellende (NL 1676,3) ist. Die Mahlgemeinschaft ist geeignet, die ständischen und herkunftsbezogenen Differenzen zwischen Rüdiger und den Burgunden zu überwinden. Bemerkenswert ist freilich die Differenzierung der höfischen Mahlgemeinschaft hinsichtlich der Geschlechter. Ritter und Damen essen an getrennten Tischen; allein die Gattin des Gastgebers setzt sich zu den Gästen, was als ehrende Ausnahme von der Regel der Geschlechtertrennung dargestellt wird. b) Das Gastmahl beim Hunnenkönig Etzel Eine zweite aufschlussreiche Szene ist das gemeinsame Festmahl der Burgunden und Hunnen im Reich König Etzels. In dieser Szene ist zwischen den Fassungen B und C des Nibelungenlieds zu unterscheiden. Die Fassung C neigt zur christlichen Überformung der Geschichte, was nicht ohne Folgen für die Inszenierung von sozialen Differenzen bleibt. In beiden Fassungen speisen die beiden Völker, Burgunden und Hunnen, gemeinsam, da sie gleichermaßen dem höfischen Adel angehören. Doch während in der Fassung B die Differenz der Religionen keine Rolle spielt, macht die Fassung C in dieser Hinsicht einen Unterschied. Zwar speisen die adeligen Gäste ebenfalls mit Etzel gemeinsam im Saal, doch erhalten die Christen andere Speisen als die Heiden: Der wirt der schuof den gesten den sedel uber al, den hohsten und den besten, zuo zim in den sal. den christen und den heiden ir spise er underschiet. man gab genuoc in beiden, als ez der weise künec beriet.18 (NL C 1961)
18 Zitierte Ausgabe: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe hg. und übersetzt von Ursula Schulze, Düsseldorf 2005.
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»Der Landesherr sorgte dafür, dass seine vornehmsten und höchsten Gäste überall bei ihm im Saal Platz fanden. Christen und Heiden ließ er unterschiedliche Speisen auftragen. Beiden gab man reichlich, wie es der kluge König vorgesehen hatte.«
Etzel lässt für Christen und Heiden verschiedene Gerichte auftragen, aber alle werden gleichermaßen gut versorgt. Außerdem wird betont, dass das Gefolge nicht am Festmahl teilnimmt, sondern in den Unterkünften versorgt wird: Ir ander ingesinde zen herbergen azen (NL C 1962,1: »Das übrige Gefolge wurde in den Unterkünften bewirtet«).19 In der Fassung C dienen die Mähler und Speisen also der performativen Umsetzung sozialer und religiöser Differenzen. Dabei wird eine Hierarchisierung der Unterschiede vorgenommen. Die Differenz zwischen Heiden und Christen wird durch die Zuteilung verschiedener Speisen markiert; doch ist der gemeinsame Stand von größerer Bedeutung als die religiöse Zugehörigkeit. Nur die Gefolgsleute werden vom Festmahl ausgeschlossen, die ständische Differenz zwischen Adel und Gefolge wird also durch die räumliche Trennung beim Mahl umgesetzt. In Handschrift B hingegen werden Differenzen hinsichtlich Stand, Herkunft und Religion durch die Zurschaustellung des gemeinsamen höfischen Habitus überwunden. Die Zugehörigkeit zum selben Stand zählt hier mehr als die religiöse Differenz zwischen Christen und Heiden.
3. T HEA VON H ARBOUS N IBELUNGENBUCH F RITZ L ANGS F ILM D IE N IBELUNGEN
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Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Film Die Nibelungen teilen die erzählte Welt in vier Räume. Die Burgunden, die Nibelungen, Brunhild und die Hunnen verfügen je über einen eigenen Geltungsbereich.20 Das Weltbild ist von Gegensätzen geprägt; der Raum der Burgunden kontrastiert mit den drei anderen Räumen.21 Die Burgunden zeichnen sich, wie Fritz Lang betont, durch ihre »überfeinerte Kultur«22 aus; dagegen werden die übrigen Gruppen in Film und Buch deutlich abgewertet. Brunhilds Welt teilt zwar den kulturellen und zivilisatorischen Rang der Burgunden, ist aber matriarchalisch organisiert. In Island regieren und 19 Ebd., Str. 1962,1. 20 Vgl. Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang: Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174, hier S. 171f. 21 Vgl. Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang: Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 201, 206, 208. 22 F. Lang: Worauf es beim Nibelungen-Film ankam, S. 171f.
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kämpfen die Frauen, sie entsprechen also nicht der Geschlechternorm der burgundischen Frauen. Die Welten der Nibelungen und Hunnen sind wie die der Burgunden patriarchalisch organisiert, weisen aber nicht dieselben kulturzivilisatorischen Formen auf. Diese Differenz kommt vor allem über die Körper und den Habitus der Hunnen und Nibelungen zum Ausdruck. Während im Nibelungenlied die Religion das entscheidende Differenzierungsmerkmal zu den Burgunden darstellt, wird die Trennlinie in Nibelungenbuch und Nibelungenfilm vorrangig über das Merkmal der ›Rasse‹ gezogen. Die dominierende Ungleichheitskategorie verschiebt sich also von der Religion (im mittelhochdeutschen Epos) zur ›Rasse‹ (in den modernen Adaptationen). Zwar deuten auch Nibelungenbuch und Nibelungenfilm an, dass die Hunnen Heiden sind23, doch ordnen sie die religiöse in die ›rassische‹ Differenz ein. Für das mittelalterliche Heldenepos hingegen spielt die Kategorie der ›Rasse‹ keine Rolle.24 Das Nibelungenbuch bezeichnet die Hunnen mehrfach als ›braun‹ oder ›braungelb‹, während die Burgunden als ›weiß‹ beschrieben werden.25 Die Rassisierung der Burgunden und Hunnen bedient sich also des Merkmals der Hautfarbe. Den Hunnen wird außerdem ein abweichender Habitus zugeordnet, der mit der rassisierenden Markierung einhergeht. Den Hunnen – und ebenso den Nibelungen – werden die zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften der Burgunden hinsichtlich Architektur, Kleidung, Umgangsformen etc. systematisch abgesprochen. Zivilisation und Kultur werden als Überwindung der Natur definiert. Während sich die Gesellschaft der Burgunden durch Disziplinierung und Artifizialität auszeichnet und alles Natürliche verdrängt26, werden Nibelungen und Hunnen der Natur zuge-
23 Das Nibelungenbuch verweist darauf, dass die Hunnen Etzel wie einen Gott verehren (vgl. NB 148f.), während Etzel selbst verkündet, von einem polytheistischen Glauben zum Atheismus gelangt zu sein, da er den menschlichen (männlichen) Willen als stärker einschätzt als den göttlichen (vgl. NB 8) und sich selbst anstelle Gottes setzt (vgl. NB 155). Antichristliche Tendenzen deutet der Film an, indem sich die Hunnen darüber beschweren, dass Etzel sein Versprechen nicht einlöst, ihnen Ställe für ihre Pferde in den Kirchen Roms einzurichten. Schließlich scheint Etzel Kriemhild anzubeten und will ihr ein Münster bauen (vgl. NB 170). 24 See, Klaus von: »›Dem deutschen Volke zu Eigen‹. Fritz Langs Nibelungenfilm von 1924«, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 115-132, hier S. 128. 25 Vgl. u.a. NB 12, 116, 122, 133, 143, 145f., 150f., 153, 159, 173, 189, 215. 26 Vgl. Seibert, Peter: »Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten. Masseninszenierungen in Fritz Langs ›Nibelungen‹«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/Zoltán Szendi (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 187-196, hier S. 191.
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ordnet.27 Sie erscheinen als unzivilisiert28, werden zu einer »Minderrasse«29 bzw. zu »asiatischen Untermenschen«30 stilisiert. Wie Peter Seibert betont, beruht die Alterität des Etzelhofs nicht auf traditionellen ethnischen Vorstellungen von den Hunnen, sondern sie wird vielmehr – im Sinne des »Doing Difference«-Ansatzes – antagonistisch zum christlich-zivilisierten Burgundenhof konstruiert. Den Bezugspunkt bieten dabei die Kulturen der europäischen Kolonien.31 Während der Hof von Burgund als unmarkierte Norm etabliert wird, stellen die Hunnen und Nibelungen in ihrer Normabweichung das ›Andere‹ dar. Die Rassisierung der Hunnen und Nibelungen erfolgt performativ über den Körper, die Kleidung, den Habitus, die Gesten, die Bewegungen und Verhaltensweisen, die dem Erscheinungsbild der Burgunden kontrastiv gegenüberstehen.32 Der markierte Status stigmatisiert die Nibelungen und Hunnen als unzivilisierte Heiden und verschleiert den unmarkierten Status der Burgunden. Dies ist eine Variante dessen, was in der Intersektionalitätsforschung als »intersektionelle Unsichtbarkeit« bezeichnet wird; sie erschwert die Offenlegung des privilegierten Status der Burgunden, die in Nibelungenbuch und -film scheinbar nicht markiert werden.33 Um die Hunnen und die Nibelungen als das von der Norm abweichende ›Andere‹ zu markieren, bedienen sich von Harbou und Lang 27 Vgl. Gephart, Irmgard: »Faszination des Untergangs. Die Verfilmung des Nibelungenstoffs durch Fritz Lang und Thea von Harbou«, in: Sprache und Literatur 34 (2003), S. 96-117, hier S. 116. 28 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 194. 29 K. von See: Dem deutschen Volke zu eigen, S. 128; von See deutet das Verhältnis zwischen Burgunden und Hunnen nicht im Sinne einer Rassentheorie als Opposition von Herren- und Sklavenrasse, sondern als Opposition von Ordnung und Chaos, Kultur und Barbarei (vgl. ebd.). 30 Heller, Heinz-B.: »›Man stellt Denkmäler nicht auf den flachen Asphalt‹. Fritz Langs Nibelungen-Film«, in: Joachim Heinzle/Anneliese Waldschmidt (Hg.), Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum, Frankfurt am Main 1991, S. 351-369, hier S. 358. 31 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 193. 32 So fallen vor allem die geduckte Körperhaltung und die schnellen und »affenartigen« Bewegungen der Hunnen auf; vgl. I. Gephart: Faszination des Untergangs. 33 Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectional Invisibility‹: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung«, in: Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 223-243, hier S. 227. Knapp bezeichnet die Form der Nicht-Markierung des dominanten Allgemeinen als einen der wirkungsvollsten Exklusionsmechanismen der Moderne. Im Nibelungenfilm und vor allem im Nibelungenbuch kommt es jedoch immer dann auch zu einer Markierung der Burgunden, wenn diese als ›weiß‹ bezeichnet werden.
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vor allem auch der Essensszenen. Die Art der Speisen, der Umgang mit der Nahrung und die Essmanieren der Hunnen und Nibelungen werden als das genaue Gegenteil des normativen Essverhaltens der Burgunden inszeniert. Auf diese Weise werden die Hunnen und Nibelungen als wild, unzivilisiert und rückständig deklassiert. a) Die Welt der Nibelungen Die ersten Szenen des Films zeigen den Wald, in dem die Nibelungen leben. Siegfried ist in der Lehre bei dem Schmied Mime, dessen Werkstatt zunächst nur von außen zu sehen ist. Vier Nibelungen sitzen vor der Schmiede auf dem Boden, drei von ihnen sind mit der Verarbeitung von Nahrungsmitteln beschäftigt. Der vierte Nibelunge macht sich über eine große Keule her; er hält das Fleisch mit bloßen Händen vor sein Gesicht und beißt Stück um Stück davon ab (Abb. 1). Die nächste Kameraeinstellung zeigt die Schmiede von innen. Hier hängen eine große weiße Gans, Hühner und anderes Geflügel an der Wand. Mime zupft eine Feder aus, um damit die Schärfe des Schwertes, das Siegfried gerade angefertigt hat, zu testen. Als Siegfried die Schmiede verlässt, zeigt eine längere Einstellung die Nibelungen, die immer noch vor der Schmiede sitzen. Einer von ihnen klopft mit einem Stein auf ein am Boden liegendes Tierfell ein, ein anderer scheint soeben eine Schüssel hergestellt zu haben. Ein dritter schneidet einen großen Fisch auf, der auf seinen Knien liegt, und hebt anschließend mit beiden Händen die Innereien in die Schüssel. Der vierte Mann ist immer noch mit dem Verzehr der Keule beschäftigt. In diesen Szenen wird deutlich, dass die Nibelungen keine Trennung zwischen Zubereitung und Verzehr von Speisen, zwischen Küche und Öffentlichkeit praktizieren. Die Waffenwerkstatt dient zugleich als Vorratskammer. Die Nibelungen essen dort, wo sie gerade stehen oder sitzen. Auch mangelt es an den einfachsten Requisiten einer zivilisierten Mahlzeit. Nirgends sind Tische und Stühle, Küchengeschirr oder Essbesteck zu sehen. Die Nahrungsaufnahme der Nibelungen ist weder räumlich noch zeitlich noch sozial organisiert. Ihr fehlt jeglicher zeremonielle Charakter, der laut Elias den natürlichen Nahrungstrieb verschleiert. Die Nibelungen essen mit bloßen Händen, es mangelt ihnen an einer kultivierten Esstechnik, die Elias als »Grundstock« des zivilisierten Umgangs mit der Nahrung bezeichnet.34 Auch die Nahrung selbst ist kaum kulturell überarbeitet. Geflügel und Fisch werden roh verzehrt; nirgendwo brennt ein Feuer, auf dem das Essen gekocht werden könnte.
34 Vgl. N. Elias: Prozeß der Zivilisation I, S. 140.
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Abb. 1: Die Nibelungen vor der Schmiede (NF I 00:06:50)
b) Die Welt der Burgunden Die Nibelungen erzählen Siegfried von der burgundischen Prinzessin Kriemhild. Der Film zeigt den Inhalt ihrer Schilderung. Man sieht, wie die Hofleute in einer Prozession zum Wormser Münster schreiten, wie der Priester den Messwein und die Hostie segnet und wie Kriemhild inbrünstig betet. Die Darstellung der Messfeier demonstriert nicht nur die christliche Gesinnung der burgundischen Gesellschaft, sondern auch ihren kontrolliert-disziplinierten Umgang mit der Nahrung. Während die Nibelungen fortwährend mit der Beschaffung, der Verarbeitung und dem Verzehr von Nahrung beschäftigt sind, beschränken sich die Burgunden auf die Wandlung von Brot und Wein im gottesdienstlichen Ritual. Der Verzehr der eucharistischen Gaben wird schon nicht mehr gezeigt. Zwischen dem primitiven Benehmen der Nibelungen und dem rituellen Verhalten der Burgunden nimmt Siegfried eine mittlere Position ein. Als Siegfried im Anschluss an den Bericht über den Wormser Hof erklärt, dass er nun Kriemhild gewinnen wolle, wird er von den Nibelungen ausgelacht. Daraufhin nimmt er einen zu Boden gefallenen Fisch auf und wirft ihn nach einem Nibelungen. Er trifft damit jedoch einen anderen, der gerade eine Schüssel mit Speisen aus der Schmiede herausträgt und das Essen zu Boden fallen lässt. Siegfried wird zwar ebenso wenig wie die Burgunden beim Essen gezeigt, sein Umgang mit der Nahrung ist jedoch auch nicht diszipliniert. Obwohl er sein Verhalten den Nibelungen im Wald angeglichen hat, ist er später in der Lage, sich dem rituellen Essverhalten der Burgunden anzupassen. Als Kriemhild ihn nach seiner Ankunft in Worms mit einem Willkommenstrunk begrüßt, interpretiert den Wein zutreffend als Willkommensgruß und Friedenszei-
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chen. Kriemhild betritt die Szene in eben jenem Moment, als eine kämpferische Auseinandersetzung zwischen den Burgunden und Siegfrieds Vasallen35 auszubrechen droht. Das zeichenhafte Ritual des Willkommenstrunks entfaltet seine Wirkung in eben jenem Augenblick, in dem die verbale Kommunikation versagt. Die Geste des Willkommenstrunks wird von allen verstanden und akzeptiert. Erkennbar ist der rituelle Charakter des Begrüßungstrunks vor allem daran, dass Siegfried nur einen Schluck von dem Wein nimmt und die Schale sogleich an eine Zofe zurückreicht. Das Überreichen und Entgegennehmen der Weinschale ist außerdem Ausdruck der entstehenden Liebe. Indem Siegfried und Kriemhild beim Überreichen der Schale zweimal ihre Hände übereinander legen und einander dabei in die Augen blicken, erscheint das Trinken nicht nur als Begrüßungsritual, sondern auch als erotische Handlung (Abb. 2). Komplementär dazu verhält sich später das Zeremoniell der Blutsbrüderschaft von Siegfried und Gunther. In dieser Szene halten sich Gunther und Siegfried bei den Händen und trinken nacheinander aus einer goldenen Schüssel, die mit Wein und dem Blut der Freunde gefüllt ist.36 Der Schluck aus der Schüssel dient in beiden Fällen dazu die intime Bindung zeichenhaft zu besiegeln.
Abb. 2: Kriemhild reicht Siegfried den Begrüßungstrunk (NF I 00:47:16)
35 Zu Siegfrieds königlichen Vasallen vgl. den Beitrag von Michael Ott in diesem Band. 36 Zur Konstitution von Liebe und Freundschaft vgl. den Beitrag von Ninja Roth in diesem Band.
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c) Die Welt der Hunnen Ein ähnliches Essverhalten, wie es die Nibelungen zeigen, zeichnet im Film auch die Hunnen aus. Nachdem Kriemhild Etzels Werbung angenommen hat, entsendet der hunnische König Späher, die ihm die Ankunft Kriemhilds melden sollen. Als die Späher zurückkehren, ist der große Saal zu sehen, in dem Etzel residiert. Überall sitzen und liegen die Hunnen auf dem Boden, der aus festgetretenem, mit Stroh bedecktem Lehm besteht, oder sie rennen durcheinander. Diese Szene zeigt eine der auf De-Subjektivierung und Enthumanisierung ausgerichteten Masseninszenierungen des Films.37 Etzel beobachtet düster von seinem Stierkopf-Thron aus das chaotische Treiben der essenden, streitenden, einander jagenden, offenbar betrunkenen Hunnen. Auf einem Feuer inmitten des Saals wird ein großer Kessel erwärmt, aus dem ein Hunne mit einer Kelle Suppe oder ein heißes Getränk austeilt. Die anderen Hunnen drängen sich mit ihren Schüsseln um den Kessel (Abb. 3). Eine Außenansicht von Etzels Palast, der im Nibelungenbuch als »Lehmpalast« (NB 154) bezeichnet wird, zeigt die ankommenden Späher, die auf ihren Pferden in den Saal galoppieren und dabei ein Schwein und einige Hühner verscheuchen, die frei herumlaufen. Als die Späher quer durch den Saal reiten, müssen die auf dem Boden sitzenden Hunnen beiseite springen, um einen Gang freizumachen. Auf der freien Fläche bleiben fallengelassene Schüsseln und verschüttete Speisen zurück. Als Kriemhild erscheint, weist Etzel die mit offenen Mündern staunenden Hunnen aus dem Saal. Er bewegt sich einige Schritte auf Kriemhild zu und erwartet, dass sie ihm ebenfalls entgegenkommt. Kriemhild blickt jedoch mit einem Ausdruck des Ekels auf den mit Speisen und Getränken verunreinigten Boden, woraufhin Etzel seinen Krönungsmantel vor ihren Füßen über eine Weinlache breitet.38 Etzel ist somit durchaus in der Lage, die Perspektive der kultivierten burgundischen Prinzessin auf die Hunnen einzunehmen. Er scheint Kenntnis über höfische Umgangsformen zu besitzen und sich für den hunnischen Schmutz zu schämen.39 Das Nibelungenbuch beschreibt die Saalszene vor Kriemhilds Ankunft in ähnlicher Weise und geht noch näher auf die einzelnen Speisen und den Umgang der Hunnen mit der Nahrung ein: Feuer brannten unter Kesseln, aus denen der Dunst kochenden und gewürzten Weines aufstieg, oder der Geruch von kochendem und ungewürztem Blut. Nackte Männer, die vor Fett troffen, den Schurz um die Lenden, Leder am Schenkel, teilten aus Gefäßen, deren manches von Gold war, an braune, von Wein und Blut trunkene Männer, an braune, von Wein und 37 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 191, 195. 38 Die Verschmutzung des Boden ist im Film nicht genau zu erkennen, im Nibelungenbuch jedoch heißt es: »In trüben Lachen stand der verschüttete Wein.« (NB 152) 39 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 194.
178 | L ISA P YCHLAU -E ZLI Blut trunkene Weiber Wein und Blut aus. Der Lehmboden war ein Spiegel der Nässe. […] [Etzel] freute sich, dass die Weiber sich den süßen kochenden Wein zwischen die Zähne gossen und sich in Trunkenheit und Genuß auf die Bäuche klatschten […]. So, in Lärm und Stank, umgeben von besoffenen Weibern und rülpsenden Männern, wollte er die weiße Frau empfangen […]. (NB 145f.)
Abb. 3: Die Hunnen in Etzels Königshalle (NF II 00:47:06)
Die Differenz der Hautfarben korrespondiert mit unterschiedlichen Verhaltensregeln für den Umgang mit Nahrung. Das Gebaren der Hunnen steht im Gegensatz zu den Normen, die den Burgunden zugeschrieben werden und die auch Etzel zu kennen scheint, da er es darauf anlegt, seinen kultivierten Gast mit den hunnischen Umgangsformen zu konfrontieren. Die Trunkenheit der Frauen und das Aufstoßen der Männer zeigen, dass die Hunnen im Buch ebenso maßlos mit der Nahrung umgehen wie im Film. Das Betrinken mit Wein und Blut, die sich in Farbe und Konsistenz ähneln, wirkt orgiastisch und archaisch. Während der Wein ein kulturell verfeinertes Getränk darstellt, ist das Blut eine natürliche Flüssigkeit, der besondere Kräfte zugewiesen werden.40 Das Nibelungenbuch übernimmt das Motiv des Bluttrinkens aus dem mittelalterlichen Nibelungenlied. Dort sind es allerdings die Burgunden, die auf Hagens Rat das Blut der getöteten Hunnen trinken. Die kannibalische Geste des Bluttrinkens wird im Nibelungenlied zwar als Überlebensstrategie der Burgunden rationalisiert, besitzt aber dennoch eine archaische Konnotation, da die Burgunden
40 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Erste vollständige Ausgabe. Aus dem Franz. von Horst Brühmann, Berlin 2010, S. 100f.
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durch das Trinken des Blutes der getöteten Feinde an Kraft gewinnen.41 Zugleich dokumentiert sie den Untergang der höfischen Umgangsformen. Im Nibelungenbuch hingegen ist das Kannibalismus-Motiv auf die Hunnen verschoben und stigmatisiert diese als wild und fremd. Der Gegensatz zwischen dem Wein als Zeichen der Kultur und dem Blut als Zeichen der Natur spiegelt sich im Gegensatz von »gewürzt« und »ungewürzt«. Das Gold der Trinkgefäße verweist einerseits auf den Reichtum Etzels und stellt andererseits einen Kontrast zu den unfeinen Manieren der Hunnen dar. Ebenso wie der prächtige Goldschmuck, mit dem sich viele Hunnen zeigen, scheinen die goldenen Becher keine hunnischen Kulturzeugnisse, sondern Trophäen aus Eroberungszügen zu sein. Der Schmutz, die vor Fett triefenden nackten Männer und der verschmutzte Boden sind eine Parallele zwischen Nibelungenbuch und Nibelungenfilm. d) Das Sonnwendfest am Etzelhof Den Höhepunkt des zweiten Teils von Fritz Langs Nibelungenfilm bildet das große Festmahl am Etzelhof im fünften Gesang. Wie im Nibelungenlied hat Kriemhild die Burgunden eingeladen, um Rache an Hagen zu nehmen. Beim Mahl speisen die Protagonisten – ähnlich wie in der Nibelungenlied-Handschrift C – nach unterschiedlichen Kriterien getrennt. Im großen Saal von Etzels Palast wird ein Tisch in erhöhter Position aufgestellt, an dem Etzel, Kriemhild, Gunther, Gernot, Giselher, Volker und Hagen Platz nehmen (Abb. 4). Im selben Saal speisen an mehreren langen Tischen die Amelungen Dietrichs von Bern sowie Rüdiger von Bechelaren. Die Hunnen und die burgundischen Knechte hingegen feiern und essen in einer Art unterirdischer Höhle. In der hierarchischen Trennung gemäß Stand, ›Rasse‹ und Religion bildet sich eine Hierarchisierung der Ungleichheitskategorien ab. Am erhöhten Tisch speisen bis auf Hagen und Volker nur Könige und bis auf Etzel nur Christen und Burgunden. Dietrich und die Amelungen sowie Rüdiger von Bechelaren42, die zwar fremder Herkunft, aber Christen sind, erhalten immerhin Zugang zum Saal. Die burgundischen Knechte, die zwar christlich sind, aber einem niedrigen Stand angehören, sowie die Hunnen, die sich von den Mitgliedern der Festgemeinschaft im Saal hinsichtlich ›Rasse‹, Religion und Stand unterscheiden, werden ausgeschlossen. Die burgundischen Knechte essen zwar gemeinsam mit den Hunnen, grenzen sich aber doch von diesen ab. Sie werden nicht beim Essen gezeigt, sondern im Erstaunen über die Hunnen.
41 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 433. 42 Zur Identität Rüdigers von Bechelaren und seinem Ausschluss aus der burgundischen Tischgesellschaft vgl. auch den Beitrag von Regina Toepfer in diesem Band.
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Während des Festmahls unterscheiden sich die drei Essgemeinschaften – Könige, Amelungen und Hunnen – durch ihr Essverhalten. Obwohl die Burgunden erneut nicht essen und kaum trinken, ist ein ausgeprägtes Zeremoniell zu beobachten. Die Burgunden sitzen auf Stühlen am Tisch, sie haben eigene Gedecke und werden bedient. Wie im ersten Teil des Films setzen sie Nahrung ausschließlich zur zeichenhaften, nonverbalen Kommunikation ein und werden nicht beim Essen gezeigt. Der Konflikt zwischen Kriemhild und Hagen äußert sich im Bruch des Zeremoniells. Hagen lässt sich Wein einschenken, um Kriemhild und ihren Brüdern zuzutrinken. Hagen und Gunther blicken Kriemhild auffordernd an, damit auch sie ihren Becher erhebt. Kriemhild dreht ihren Becher jedoch um als Zeichen, dass sie nicht mit den Burgunden trinken will (Abb. 5). Während Hagen durch das Heben des Bechers eine Versöhnungsgeste ausführt, signalisiert Krimhild durch das Umdrehen des Bechers ihre Weigerung, sich mit ihren Feinden zu versöhnen. Hagen lässt sich als Reaktion auf Kriemhilds zeichenhaftes Handeln nachschenken und leert einen weiteren Becher Wein, womit er seinerseits seiner Absicht Ausdruck verleiht, nicht nachzugeben. Kriemhild und ihre Brüder, die die Merkmale ›burgundisch‹ (Herkunft), ›christlich‹ (Religion) und ›königlich‹ (Stand) auf sich vereinen, essen und trinken während des gesamten Mahls nichts und werden auch nicht mit Speisen gezeigt. Anders Hagen und Etzel, die jeweils nicht alle der drei genannten Kategorien erfüllen. Sie sind die einzigen am Königstisch, die beim Trinken oder Essen gezeigt werden. So greift Hagen nach einem Fisch und beginnt ihn zu entschuppen; anschließend trinkt er Wein, nachdem Kriemhild ihren Becher umgedreht hat. Etzel hingegen beißt mehrfach von einem Stück Brot oder Fleisch ab, das auf seinem Teller liegt. Deutlich zu sehen ist zudem, dass die flachen Teller der königlichen Geschwister leer und sauber sind. Das auf den Tellern gekreuzte Besteck weist daraufhin, dass keiner von ihnen etwas gegessen hat oder essen möchte. Auf Hagens und Etzels Tellern hingegen sind Speisereste zu erkennen. Der Film stimmt in diesem Punkt mit dem Nibelungenbuch überein: Es wurde viel Wein gebracht. Etzel sprach laut. Er ermunterte seine Gäste. Aber keiner der Burgunden, die mit ihm an einem Tische saßen, sprach ein einziges Wort. Sie blickten stumm vor sich nieder. Nur Hagen Tronje aß und trank mit Behagen und erwiderte Etzels Rede derb und dröhnend. […] Keinen Bissen rührte [Kriemhild] an. Unberührt stand vor ihr der Wein. (NB 211)
Im Unterschied zu den Burgunden verhalten sich die Amelungen, die nur kurz gezeigt werden, während des Mahls unauffällig. Sie sitzen an langen Bänken und werden ebenso wie die Burgunden bedient, aber sie essen mit Messer und Gabel und unterhalten sich dabei.
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Abb. 4: Die Burgunden beim Mahl in Etzels Palast (NF II 01:09:28)
Abb. 5: Kriemhild dreht ihren Becher um (NF II 01:10:32)
Einen ausgeprägten Kontrast zum Geschehen im Saal bildet das Mahl der Hunnen im Kellergewölbe. Es stellt wiederum eine Masseninszenierung dar. Im Gegensatz zu den Burgunden und Amelungen benutzen die Hunnen weder Stühle noch Tische; sie verwenden nur ein Minimum an Geschirr und werden auch nicht bedient. Sie sitzen auf dem Boden oder essen im Stehen; sie benutzen zum Essen die Hände, beißen von großen Fleischstücken oder Keulen ab und trinken aus Schüsseln oder direkt aus der Flasche. Im Gegensatz zu den Burgunden kochen sich die Hunnen ihr Essen selbst. Auf einem Feuer wird ein Kessel erwärmt, aus dem ein Hunne aus-
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teilt, während sich die anderen mit ihren Schüsseln um ihn herum drängeln. Ein voreiliger Hunne wird mit dem Fuß weggetreten. Auf einem anderen Feuer braten zwei Hunnen ein ganzes Rind, das wie ein Spanferkel aufgespießt ist (Abb. 6). Da das Tier sehr groß ist, lässt es sich nur unter Mühen drehen. Ein dritter Hunne, der seinen Gefährten zu Hilfe kommt und versucht, das Rind am Rumpf zu packen und zu drehen, wird verjagt. An dem einzigen Tisch, der sich im Gewölbe befindet, teilt ein Hunne mit bloßen Händen Brei aus einem Topf aus, während sich die anderen Hunnen aus demselben Topf selbst bedienen. Werbel, ein hunnischer Spielmann, springt auf den Tisch und fängt an zu singen und zu spielen. Er dreht den Breitopf um, um ihn als Podest zu benutzen. Die Hunnen treten näher, um ihn zu ermutigen und ihm zuzuhören. Nur ein Hunne hockt allein in einem Felsloch in der Wand und stopft sich mit beiden Händen Brei in den Mund. Er isst mit offenem Mund und schiebt sich die nächste Portion in den Mund, bevor er geschluckt hat, wobei er heftig kleckert. Als Werbel zu singen beginnt, klopft der Hunne im Takt die Hände auf die Knie, wobei Brei aus der Schüssel und aus seinem offenen Mund durch die Gegend spritzt (Abb. 7). Dieses übertrieben inszenierte Einverleiben und Ausspeien des Breis deutet die Überschreitung der Leib-Welt-Grenze an, die Michail Bachtin als kennzeichnendes Element des Grotesken beschreibt.43 Der Leib wächst aus sich heraus und schlingt zugleich die Welt in sich hinein. Essen und Trinken sind nach Bachtin zentrale Ereignisse im Dasein des grotesken Leibes. Der aufgerissene Mund und der geschwellte Bauch sind typische Merkmale des grotesken Körpers. Auch im Film und im Nibelungenbuch werden nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Münder und Bäuche der Hunnen exponiert dargestellt, wenn diese Kriemhild mit offenen Mündern anstarren und ihr die Zunge rausstrecken (so im Film) oder wenn die nackten Hunnenfrauen sich mit den Händen auf die Bäuche klatschen (so im Buch). Durch dieses groteske Betragen werden die Hunnen infantilisiert. Zu diesem Eindruck tragen auch die Blicke Rüdigers von Bechelaren bei, der das Treiben der Hunnen belustigt beobachtet. Wenn sich Werbel zum Singen und Spielen auf den Tisch stellt, bietet er eine Parallele zu dem Kind Ortlieb, das im Saal ebenfalls auf dem Tisch der Burgunden steht. Das Nibelungenbuch legt einen besonderen Akzent auf die Schilderung der chaotischen Masse: Holzfeuer lohten. Triefend von Fett drehte am Spieß sich ein Ochse. In schwarzglühenden Kesseln kochte gewürzter Wein. Riesengroß war der Raum, doch zu eng für die Menschenmenge, die sich in ihm wie besessen durcheinander drängte. Kreischende Hunnenweiber, burgundische Knechte, Hunde und Schweine, Feuer und siedende Kessel […]. (NB 214)
43 Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russ. übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe, Frankfurt am Main 1985, S. 15-23.
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Abb. 6: Die Hunnen braten ein ganzes Rind am Spieß (NF II 01:09:20)
Abb. 7: Ein Hunne isst Brei mit den Händen (NF II 00:40:08)
Nibelungenbuch und Nibelungenfilm betonen in vergleichbarer Weise das ungehemmte und ungeordnete Benehmen der Hunnen. Sie inszenieren ein orgiastisches Massentreiben, das ungebändigte Triebhaftigkeit in Bezug auf das Essen und die Sexualität demonstriert.44 Der Kontrast zwischen der formellen Mahlzeit der Burgunden und dem ausgelassenen Fest der Hunnen wird im Film durch häufige Szenenwechsel besonders hervorgehoben. 44 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 194.
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4. I NTERSEKTIONELLE P ERSPEKTIVEN Essen erfüllt in den untersuchten Bearbeitungen des Nibelungenstoffs (Nibelungenlied, Nibelungenbuch, Nibelungenfilm) zwei Funktionen. Zum einen besitzen die Mähler soziales Inklusions- und Exklusionspotential: Differenzen können verstärkt wie auch überwunden werden. Zum anderen trägt das Essverhalten zur Konstruktion sozialer Ungleichheitskategorien wie Stand, ›Rasse‹ und Religion bei. Wie die Analysen ferner zeigten, lässt sich im Übergang vom mittelalterlichen Nibelungenlied zu seinen Bearbeitungen in den 1920er Jahren eine Verschiebung der Dominanzkategorie konstatieren. Im Nibelungenlied steht der Stand im Vordergrund, alle weiteren Kategorien sind darauf bezogen. In Nibelungenbuch und Nibelungenfilm hingegen tritt die Kategorie der ›Rasse‹ in den Vordergrund; die Figuren und Figurenbeziehungen werden ›rassisiert‹, d.h. mit der Kategorie der ›Rasse‹ überformt. Im Nibelungenlied hingegen ist diese Kategorie noch weitgehend irrelevant.45 a) Nibelungenlied: Dominanz der Kategorie ›Stand‹ Die dominante Differenzkategorie im Nibelungenlied ist der Stand, der sich im höfischen Habitus zu erkennen gibt. Die Partizipation am höfischen Habitus ermöglicht es in der Fassung B, dass Figuren unterschiedlicher Standes- und Religionszugehörigkeiten dennoch miteinander speisen. Diesen Sachverhalt zeigen die Festmähler bei Rüdiger und Etzel. Doch verläuft eine Trennungslinie zwischen den Geschlechtern. Die Frauen werden, von Kriemhild abgesehen, marginalisiert. Zwar wird beim Festmahl in Bechelaren die Anwesenheit der Damen erwähnt, doch nehmen Ritter und Damen die Mahlzeit an separaten Tischen ein. Das Geschlecht stellt hier ein Differenzierungsmerkmal für Speisegemeinschaften innerhalb der höfischen Gesellschaft dar. Doch betont der mittelalterliche Dichter, dass die Anwesenheit von Rüdigers Frau Gotelind die Tischgemeinschaft Rüdigers mit den Burgunden bereichert habe. Als Gattin des Gastgebers ist sie nicht nur berechtigt, am Tisch der Gäste zu sitzen, sondern ihre Präsenz wird sogar als Zeichen der Ehrung verstanden. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie verschiedene Kategorien intersektionell austariert werden. In der Fassung C dienen die Mähler vor allem der sozialen Exklusion. Neben Stand und Geschlecht ist hier die Religion die entscheidende Kategorie für die Trennung der Mahlgemeinschaften, wie sich am Festmahl am Hunnenhof zeigen lässt. Die unterschiedlichen Speisen, die Christen und Heiden gereicht werden, heben die Differenzen hervor und verschärfen sie. Gleichwohl 45 Klaus von See weist darauf hin, dass das mittelhochdeutsche Nibelungenlied die rassistischen Vorbehalte nicht kennt und somit nicht als Vorbild für rassistische Tendenzen im Nibelungenfilm gedient haben könne. Vgl. K. von See: Dem deutschen Volke zu eigen, S. 128.
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speisen Christen und Heiden als Mitglieder der höfischen Gesellschaft an einem Tisch. Anders verhält es sich mit der Standesgrenze. Die burgundischen Gefolgsleute essen beim Festmahl am Hunnenhof nicht im Saal, sondern in ihren Unterkünften. Somit sind Differenzierungsgrade der Trennung und Gemeinschaft erkennbar, die Rückschlüsse auf den intersektionellen Status der Figuren erlauben: (1) gleiche Speisen am gleichen Tisch, (2) verschiedene Speisen am gleichen Tisch, (3) getrennte Tische im gleichen Saal, (4) getrennte Speisen in getrennten Räumen. b) Nibelungenbuch und Nibelungenfilm: Dominanz der Kategorie ›Rasse‹ Auch in Fritz Langs Film und in Thea von Harbous Roman fungieren die Mähler als Zeichen sozialer Differenzierung. Zudem trägt das unterschiedliche Essverhalten der Nibelungen, Hunnen und Burgunden zur Konstruktion der Kategorie der ›Rasse‹ bei, die in den neuzeitlichen Adaptationen des Nibelungenlieds – im Unterschied zu diesem – das Hauptdifferenzierungsmerkmal darstellt. Der Umgang der Burgunden mit der Nahrung gibt somit Aufschluss über ihre kulturelle und religiöse Identität. Sie setzen Nahrung vor allem im rituellen und sakralen Kontext sowie zur nonverbalen Kommunikation ein. Ebenso wie Kleidung, Architektur und Umgangsformen erweist sich ihr Essverhalten als künstlich, diszipliniert, kontrolliert und im Ritual erstarrt. Indem Essen nicht mehr der Ernährung dient, sondern allein der kulturellen Repräsentation, erweisen sich die Burgunden nicht nur als zivilisiert, sondern geradezu als überzivilisiert. Erst unmittelbar vor ihrem Untergang zeigen auch die Burgunden körperliche Bedürfnisse. So äußert Gunther im Nibelungenbuch während des Saalbrandes seinen Durst (vgl. NB 227) – ein Motiv aus dem Nibelungenlied, das der Film getilgt hat. Im Film hingegen repräsentiert der nach dem Kampf verwüstete Königstisch die Zerstörung der rituellen Ordnung, die mit dem Untergang der Burgunden einhergeht. Die Darstellung der Nibelungen und Hunnen hebt sich von der burgundischen Folie kontrastiv ab. Nibelungen und Hunnen wird ungehemmte Gier und ein undistanzierter, teilweise grotesker Umgang mit der Nahrung zugeschrieben. Die mangelnde Empfindung der Peinlichkeit in Bezug auf Nahrung, die zur zivilisatorischen Selbstdisziplinierung motiviert, weist darauf hin, dass die Hunnen und Nibelungen im Verständnis des Nibelungenbuchs und des Nibelungenfilms den Zivilisationsprozess nicht durchlaufen haben. Sie unternehmen keinen Versuch, ihren Nahrungstrieb zu verleugnen und zu verschleiern. Weder organisieren noch ästhetisieren sie die Nahrungsaufnahme. Sie essen mit den Händen und zerkleinern ihre Nahrung nicht. Sowohl bei den Nibelungen (Geflügel) als auch bei den Hunnen (Rind) werden unzerkleinerte, für den Verzehr bestimmte Tiere gezeigt. Statt durch Disziplin und Zurückhaltung zeichnen sich Hunnen und Nibelungen durch eine primitive, fast
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animalische Form der Bedürfnisbefriedigung aus.46 Nibelungenbuch und Nibelungenfilm assoziieren das hunnische Verhalten auch in der Weise mit Tieren, dass Schweine, Hunde und Hühner bei den hunnischen Mählern frei herumlaufen. Im Nibelungenbuch werden die Hunnen sogar explizit mit Hunden verglichen: »Dort lagen die Reiter Etzels zusammengerollt wie Hunde, und schliefen in schmierigen Fellen, schnarchend und sorglos. […] Aber sie knurrten im Schlaf und wälzten sich knurrend beiseite.« (NB 115f.) Diese Zusammenhänge treten noch deutlicher hervor, wenn man sie im Sinne des kulinarischen Dreiecks von Claude Lévi-Strauss betrachtet. Rohe Nahrung ist demnach natürlich und steht im Gegensatz zur Kultur. Die Verwesung der rohen Nahrung stellt die natürliche Transformation dar, während das Kochen die kulturelle Transformation und die Basis der Kultur bildet. Erst durch den kulturellen Akt der Zubereitung von Pflanzen und Tieren bewertet der Mensch diese als Lebensmittel und somit als essbar. Die Mahlzeit stellt somit eine kulturelle Inszenierung dar, die mit der Überwindung der Natur verbunden ist. Während die Nibelungen und die Hunnen immer mit Essen gezeigt werden, ist am Hof der Burgunden bis auf die Eucharistie und den Begrüßungstrunk kein Essen zu sehen. Die Differenz zwischen den Burgunden und den Hunnen und Nibelungen spiegelt sich nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität der Speisen wider. Die Vorliebe für das Rohe weist Hunnen wie Nibelungen als kulturfern aus. Bei den Nibelungen gibt es keinen Hinweis für eine kulturelle Überarbeitung der Nahrung. Sie hantieren mit rohem Fisch und lagern ihr Geflügel durch Trocknung an der Luft. Das Feuer dient ihnen zum Schmieden von Waffen, aber nicht zum Kochen. Die Hunnen hingegen werden mehrfach beim Zubereiten von Nahrung über dem offenen Feuer gezeigt. Das gebratene Rind positioniert die Hunnen dennoch auf der Seite der Natur.47 Gebratenes verkörpert laut Lévi-Strauss die Ambiguität des Rohen und des Gekochten, also der Natur und der Kultur.48 Das Gebratene besitzt jedoch im Gegensatz zum Gesottenen eine höhere Affinität zum Rohen; dies gilt vor allem dann, wenn das Gebratene nicht ganz durchgegart ist.49 Stärker als der Film betont das Nibelungenbuch die Vorliebe der Hunnen für das Rohe. Ihm zufolge ernähren sich die Hunnen von »blutrohem Fleisch« (NB 143) und auch das Mahl der Hunnen während der Sonnwendfeier wird als »roh« (NB 217) bezeichnet. Die Kontrastfolie für das unzivilisierte Verhalten von Hunnen und Nibelungen bildet stets das überzivilisierte Verhalten der Burgunden, das die Norm für den Umgang mit Nahrung darstellt. Das hunnische und das nibelungische Essverhalten sind somit Konstrukte, die auf dem – seinerseits konstruierten – burgundischen 46 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 194. 47 Vgl. C. Lévi-Strauss: Mythologica 3, S. 514. 48 Vgl. ebd., S. 524. 49 Vgl. ebd., S. 516.
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Essverhalten basieren und dieses systematisch ins Gegenteil verkehren. Der demonstrativen Zurückhaltung und Disziplinierung der Burgunden beim Essen steht die ebenso demonstrative Maßlosigkeit der Hunnen gegenüber und der kulturell überformte Umgang der Burgunden kontrastiert mit dem natürlichen, unkultivierten Verhalten der Nibelungen und Hunnen. Durch ihre unzivilisierten Essmanieren, die Art der Speisen, den Ort und die mangelnde Organisation des Mahls werden die Nibelungen und insbesondere die Hunnen mit ›rassen‹-, alters- und schichtspezifischen Markierungen versehen. Auf diese Weise werden die nibelungische und die hunnische ›Rasse‹ – im Sinne des »Doing Difference«-Ansatzes von West und Fenstermaker und der Performanz-Theorie von Judith Butler – über das Verhalten, die Gesten und den Umgang mit der Nahrung performativ konstruiert. Hunnen und Nibelungen demonstrieren durch ihr Essverhalten ihre zivilisatorische Unterlegenheit gegenüber den Burgunden und Amelungen. Als Konsequenz aus dieser Unterlegenheit werden die Hunnen von der burgundischen Mahlgemeinschaft ausgeschlossen. Das Essverhalten von Nibelungen, Hunnen, Burgunden und Amelungen ist somit identitätsbildend, indem es zur Konstruktion der ›Rasse‹ beiträgt, und stellt gleichzeitig den Grund für den Ausschluss aus der festlichen Mahlgemeinschaft dar. Der Ausschluss der Hunnen vom Festmahl im Saal beruht aber nicht nur auf dem Aspekt der ›Rasse‹, sondern resultiert aus einer Überschneidung der intersektionellen Kategorien ›Rasse‹, Stand und Religion. So erhalten nur diejenigen Zugang zum Saal, die christlich, nicht-hunnisch und von hohem Stand oder königlich sind. Etzel nimmt am Mahl der normativen Burgunden aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung als König teil, die Amelungen hingegen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit. Insofern stellt der Ausschluss der Hunnen vom Mahl im Festsaal eine Form der ständischen, ›rassischen‹ und religiösen Ausgrenzung dar. Bei dem Mahl im Kellergewölbe unterscheiden sich die Hunnen wiederum aufgrund ihrer ›rassischen‹ Zugehörigkeit und ihres infantilisierten Verhaltens von der burgundischen Unterschicht. Das Nibelungenbuch erwähnt zwar die Speisegemeinschaft der hunnischen Männer und Frauen, betont dabei aber die Trunkenheit der hunnischen Frauen. Somit werden letztere im Nibelungenbuch als besonders unzivilisiert ausgewiesen. Die Dichotomie überzivilisiert vs. unzivilisiert, die durch Kontrastierungen beim Essen, der Kleidung, den Umgangsformen, der Architektur etc. konstruiert wird, zielt letztendlich auf die Präsentation ›weißer‹ Superiorität ab. Über die Darstellung des unzivilisierten Essverhaltens der ›braunen‹ Hunnen wird gleichzeitig die Konstitution des eigenen zivilisierten ›weißen‹ Selbst erreicht und somit nicht nur das Andere ausgegrenzt, sondern auch die eigene Identität geschaffen.50 Diese 50 Vgl. Schaefer-Rolffs, Jos: »›King Kong und die weiße Frau‹. Konstitution eines zivilisierten Selbst«, in: Katharina Knüttel/Martin Seeliger (Hg.), Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentation, Bielefeld
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Konstruktion des kulturellen Selbst kann aber nur über die Abgrenzung des kulturellen Anderen gelingen.51 Die kulturelle Alterität der Hunnen und Nibelungen dient somit allein dem Zweck, die kulturelle Identität der Burgunden zu bestätigen.52 Der Film lässt die kulturelle Identität der Burgunden als national und die kulturelle Alterität der Nibelungen und Hunnen als ›rassisch‹ erscheinen.53 Die Darstellung der Ungleichheitskategorien, insbesondere der ›Rasse‹, verfolgt somit vorrangig den Zweck, ›deutsche‹ Identität zu konstituieren und dient der nationalen Selbstvergewisserung und der Förderung des ›deutschen‹ Selbstwertgefühls.54 Die ›Rassen‹ der Nibelungen und der Hunnen erweisen sich als filmische bzw. literarische Konstrukte, die die zeitgenössischen Kolonialdiskurse widerspiegeln. Die Nahrung dient in diesem Zusammenhang der Umsetzung und Veranschaulichung intersektioneller Differenzierungen. Im Nibelungenbuch verdichtet sich die Abwertung der intersektionellen Identität der Hunnen in der alimentären Metapher des »kochenden Menschenbreis« (NB 227), mit der den in Massen sterbenden Hunnen der Subjektstatus verwehrt wird.55 Eine Überlegung zum Schluss. Im Nibelungenfilm nehmen die Amelungen einen besonderen Rang ein. Er findet Ausdruck darin, dass sie vom Königstisch ausgeschlossen werden, da sie keine Burgunden und keine Mitglieder oder nahe Angehörige der Königsfamilie sind. Da sie jedoch zur ›weißen Rasse‹ gehören und Christen sind, speisen sie im selben Saal – allerdings separat und an nicht erhöhten Tischen. Außerdem sitzen sie auf Stühlen und essen mit Messer und Gabel. Auf diese Weise bilden sie eine Norm für den Rezipienten, von der sich sowohl das überzivilisierte Verhalten der Burgunden als auch das unzivilisierte Verhalten der Hunnen abhebt. Im Gegensatz zu den Hunnen und den Nibelungen sind die Amelungen weniger aktiv am Geschehen beteiligt, sondern bleiben unauffällig im Hintergrund und fungieren somit, wie das Publikum im Kinosaal, als Beobachter. Das Zuschauerverhalten der Amelungen markiert die fiktive Dimension der Handlung. Nimmt man an, dass sie im Nibelungenfilm die unmarkierte Norm darstellen, so könnte dies als Element der Dekonstruktion gedeutet werden. Indem sich Fritz Langs Film als fiktive, konstruierte Welt zu erkennen gibt, legt er die Konstruktionsprozesse offen und deutet eine alternative Perspektive an.56 2011, S. 215-231, hier S. 218. Peter Seibert weist auf die Parallelen zwischen beiden Filmen hin, vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 195. 51 Vgl. J. Schaefer-Rolffs: King Kong, S. 229. 52 Vgl. C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 221. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. ebd., S. 192. 55 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 195f. 56 Vgl. auch die in der Einleitung zu diesem Band besprochene »Kino-Szene« in Alberichs Höhle im ersten Teil von Langs Film.
Erste Begegnungen Paarbeziehungen und Grenzüberschreitungen im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen N INJA R OTH
Im Mittelpunkt des Nibelungenlieds stehen fünf Figuren, die vorübergehend oder dauerhaft die Rolle eines Herrschers oder einer Herrscherin einnehmen.1 Sie gruppieren sich zu vier Figurenpaaren. Am Anfang steht die männlich-homosoziale Beziehung zwischen Gunther, dem König der Burgunden, und Siegfried, dem König der Niederlande. Als Freunde verhelfen sie sich wechselseitig zu heterosozialen Verbindungen: Als Gunthers Ehefrau wird Brünhild Königin der Burgunden, als Siegfrieds Ehefrau wird Kriemhild Königin der Niederlande. Im Unterschied zu Kriemhild, die zunächst in der Obhut ihrer königlichen Brüder steht, ist Brünhild, bevor sie Gunther heiratet, souveräne Herrscherin in Island. Die genannten Paarbeziehungen sind in Form eines doppelten Dreiecks aufeinander bezogen. Das erste Dreieck umfasst Gunther, Siegfried und Brünhild, das zweite Gunther, Siegfried und Kriemhild. Gunther und Siegfried bilden die gemeinsame Achse dieser Figurendreiecke. Im zweiten Teil des Nibelungenlieds ändert sich die Konstellation: Siegfried ist tot, Brünhild tritt in den Hintergrund, Kriemhild verheiratet sich in 1
Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem Decla-UfaFilm ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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zweiter Ehe mit Etzel und wird somit an seiner Seite Königin der Hunnen. Die Herrscherfiguren gehören verschiedenen Räumen an. Siegfried stammt aus der höfischen Welt der Niederlande mit dem Herrschersitz in Xanten; zugleich verfügt er über eine heldenhafte Vergangenheit im Reich der Nibelungen, das er im Laufe der Handlung erneut betritt. Umgekehrt stammt Brünhild aus der höfischen, aber zugleich mit mythischen Merkmalen geprägten Welt von Island; sie verlässt diese aber, um mit Gunther in Worms zu herrschen. Auch Kriemhild gehört als Königin nacheinander zwei Reichen an, die sie jeweils von Worms aus betritt: zunächst die Niederlande, dann das Hunnenland. Nur Gunther und Etzel sind an feste Orte gebunden: Gunther an den Königshof in Worms, Etzel an den hunnischen Herrschersitz. Neben den Kategorien des ›Geschlechts‹ und der ›Herkunft‹ sind auch die Kategorien des ›Standes‹ und der ›Religion‹ von Bedeutung. Die genannten Figuren, Brünhild und Etzel eingeschlossen, gehören dem höfischen Adel an. Hinsichtlich der Religion ergibt sich ein differenziertes Bild. Während Xanten und Worms christlich geprägt sind, lässt sich über Isenstein und das Nibelungenland diesbezüglich keine Aussage treffen. Etzel lässt sich christlich taufen, um Kriemhild heiraten zu können. Der folgende Beitrag vergleicht in intersektioneller Perspektive die Paarbeziehungen des Nibelungenlieds mit zwei modernen Bearbeitungen: Thea von Harbous Nibelungenbuch (1923) und Fritz Langs Filme Siegfried und Kriemhilds Rache (1924). Die modernen Versionen schildern die Paarbeziehungen unter anderen Voraussetzungen als die mittelalterliche Vorlage. Dies betrifft insbesondere die neu eingeführte Kategorie der ›Rasse‹. Um diesen Zusammenhang exemplarisch darzustellen, werden jeweils die ersten Begegnungen der betreffenden Figurenpaare in den Fokus gerückt. Als theoretischer Bezugspunkt dient mir das von Sarah Fenstermaker und Candace West entworfene Konzept des »Doing Difference«.2 Fenstermaker und West betonen, dass die Konstruktion sozialer Differenzen einerseits auf kollektiven normativen Vorstellungen beruht und sich andererseits in der Interaktion von Individuen performativ vollzieht. Die Ungleichheitsverhältnisse beschränken sich nicht auf einzelne Kategorien, sondern beruhen auf deren Zusammenspiel. Entsprechend sind die fiktiven Figuren des Nibelungenlieds, des Nibelungenbuchs und des Nibelungenfilms als Orte der Überkreuzung intersektioneller Kategorien zu verstehen. Die Probleme, die aus den intersektionellen Verhältnissen resultieren, treten immer dann sichtbar hervor, wenn die betreffenden
2
Vgl. Fenstermaker, Sarah/West, Candace: »Doing Difference«, in: Gender & Society 9 (1995), S. 8-37, hier S. 8f.; Fenstermaker, Sarah/West, Candace: »›Doing Difference‹ Revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog der Geschlechterforschung«, in: Bettina Heintz (Hg.), Geschlechtersoziologie, Wiesbaden 2001, S. 236-249.
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Figuren ihre gewohnte Sphäre verlassen, einander begegnen und miteinander in Beziehung treten.
1. S IEGFRIED
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Die erste Paarbeziehung, die im Nibelungenlied geschlossen wird, ist die Freundschaft zwischen Siegfried und Gunther. Sie repräsentieren zwei rivalisierende Konzepte von Männlichkeit3, die mit ihrer jeweiligen Herkunft korrespondieren. Gunthers Männlichkeit ist höfisch geprägt, Siegfrieds Männlichkeit hingegen hat neben der höfischen auch eine mythische Dimension. Gunthers Macht fußt auf dem Prinzip des herrschaftlichen Kollektivs, dem er als König voransteht. Seine Entscheidungen sind abhängig von der Wissenskompetenz seines Vasallen Hagen und von der heroischen Kompetenz seines Freundes Siegfried. Gunthers Schwäche ist zugleich seine Stärke, denn er weiß sich zur Ausübung seiner Herrschermacht Hagens Rat und Siegfrieds Stärke erfolgreich zu bedienen. Die erste Begegnung zwischen Siegfried und Gunther vollzieht sich unter den Augen der Wormser Hofgesellschaft. Siegfried fordert Gunther heraus, indem er dessen Reich beansprucht. Daraufhin rät Hagen dem burgundischen König, die Aggression diplomatisch aufzufangen und Siegfried gastfreundlich zu begrüßen: Wir suln den herren enpfâhen deste baz, daz wir iht verdienen des jungen recken haz. sîn lîp der ist sô küene, man sol in holden hân. er hât mit sîner krefte sô menegiu wunder getân. (NL 99) »Wir werden den Herrn möglichst freundlich empfangen, damit wir uns nicht seine Feindschaft zuziehen. Er ist so kühn, dass man ihn freundlich gegen sich stimmen sollte. Mit seiner Stärke hat er schon viele Wundertaten vollbracht.«
Hagen kennt Siegfrieds Heldentaten und weiß um die Unverwundbarkeit des Drachentöters. Daher empfiehlt er seinem Herrn, den Eindringling freundlich zu empfangen, sich seiner Freundschaft zu versichern und ihn in die Hofgesellschaft zu integrieren. Während Siegfried im Nibelungenlied von Xanten aus nach Worm kommt, sich also innerhalb der höfischen Sphäre bewegt, zeigt Fritz Langs Film Siegfried zunächst die Taten des jungen Helden im Nibelungenland und dann seine Ankunft in Worms. Er betont somit die Grenzüberschreitung von der archaischen
3
Vgl. Connell, Reawyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999; vgl. den Beitrag von Peter Somogyi in diesem Band.
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Welt der Nibelungen, in der sich Siegfried als heroischer Kämpfer erweist, in die zivilisierte Welt der Burgunden, die von höfischen Verhaltensregeln bestimmt ist. Die erste Begegnung zwischen Gunther und Siegfried im Film beruht auf anderen Voraussetzungen als im Epos. Die burgundische Hofgesellschaft – und mit ihr das Publikum des Films – hat vor Siegfrieds Ankunft bereits durch Volkers Gesang von dessen heroischen Taten gehört. Es ist also Volker und nicht Hagen, der sich durch den Besitz mythischen Wissens auszeichnet. Hagen spricht sich gegen den Empfang Siegfrieds am Hofe seiner Könige aus und versucht Gunther davon zu überzeugen, Siegfried den Willkommensgruß zu verweigern. Gunther widersetzt sich und handelt gegen den Rat seines Vasallen, indem er Siegfried im Bankettsaal willkommen heißt. Die beiden Männer treten sich bei ihrer ersten Begegnung als Gleichberechtigte respektvoll gegenüber und reichen einander die Hände zum Gruß. Siegfried trägt den Grund seiner Reise vor: »Ich komme, König Gunther, bei Dir um Deiner Schwester Kriemhild Hand zu werben!« (NF I 00:42:44) In dieser Szene wird das Verhältnis zwischen Gunther und Hagen deutlich. Hagen fungiert als ständiger Begleiter des Königs. Gunthers Abhängigkeit von Hagen artikuliert sich zum einen in dessen Omnipräsenz, zum anderen wird sie in Gunthers Mimik und Gestik verdeutlicht. Wann immer Gunther eine Entscheidung abverlangt wird, wendet er seine Blicke Unterstützung suchend zu Hagen. Dieser setzt sich über die Standesgrenze hinweg, trifft eigenmächtig Entscheidungen und wird zur Stimme Gunthers. Auch als Gunther von den Werbungsabsichten Siegfrieds erfährt, sucht er den Augenkontakt mit Hagen. Im Nibelungenbuch antwortet Hagen ebenfalls für Gunther. Er stellt Siegfried Kriemhild als Lohn für die Dienste in Aussicht, die er Gunther bei der Brautwerbung um Brunhild leisten soll: »Doch Gunthers Augen, die gern seitwärts blickten, suchten das Auge Hagen Tronjes, der neben dem Thronsitz stand. […] König Gunther gab keine Antwort. Hagen gab sie für ihn.« (NB 53f.) Siegfried empfindet den verlangten Dienst und die damit verbundene Unterordnung als Beleidigung. Denn Siegfried und Gunther begegnen sich aufgrund ihrer Ritterlichkeit, ihrer adligen Abstammung und ihrer Zugehörigkeit zur höfischchristlichen Sphäre als Gleiche. Diese Egalität wird jedoch durch Hagens Forderung infrage gestellt. Die Auseinandersetzung zwischen Hagen und Siegfried in Folge des verlangten Vasallendienstes etabliert den Antagonismus zwischen ihnen. Gleichwohl kommt es zum Ausgleich, weil Siegfried die Eheschließung mit Kriemhild in Aussicht gestellt wird. Es konstituiert sich ein männlich-homosoziales Dreieck, das sich in wechselseitigen Blicken manifestiert. Das Händereichen besiegelt den Bund der Männer. Hagen, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hat, tritt im entscheidenden Moment in den Vordergrund, legt seine Hand auf die Hände Gunthers und Siegfrieds und wird so Teil des Bundes (Abb. 1). Siegfrieds Integration in den Männerbund am burgundischen Hofe kann somit nur über die von Hagen initiierte Instrumentalisierung des Helden für Gunthers Zwecke erfolgen.
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Drei weitere Begegnungen zwischen Siegfried und Gunther verdienen Aufmerksamkeit, weil sie die Einheit der Freunde zur Anschauung bringen. Die erste Begegnung betrifft die Brautwerbungsfahrt nach Isenstein. Während der Wettkämpfe, die Gunther gegen Brunhild zu bestehen hat, kommt ihm Siegfried im Schutz der Tarnkappe zur Hilfe. Im Nibelungenlied lässt ihn die Tarnkappe während der
Abb. 1: Männerbündnis (NF I 00:48:50)
Kämpfe vor den Augen der anderen Figuren verschwinden. So verhält es sich auch im Nibelungenfilm, doch kann das Publikum beim Dreikampf Siegfrieds durchsichtige Gestalt sehen. Besonders eindrucksvoll ist die Szene, in der Siegfrieds Hand beim Speerwurf Gunthers Hand umfasst. Das Bild visualisiert den Sachverhalt, dass Gunther und Siegfried eine Einheit bilden und dass ihre Zusammenarbeit erforderlich ist, um die Wettkämpfe zu bestehen.4 Die zweite Begegnung, die es hervorzuheben gilt, ist jene Szene, in der die Freunde nach erfolgreicher Brautwerbung um Brunhild Blutsbrüderschaft schließen. Sie hat kein Vorbild im Nibelungenlied. Die auf Isenstein etablierte Einheit Siegfrieds und Gunthers wird durch ihre Blutsbrüderschaft auf eine Ebene erhoben, die maßgeblich von Treue geprägt ist. Die parallele Gestaltung der Blutsbrüderschaft und der Doppelhochzeit zwischen Siegfried und Kriemhild sowie Brunhild und Gunther ist frappierend. Die Szenen folgen im Film unmittelbar aufeinander, sodass die Übertragung des heterosozialen Zeremoniells der Vermählung auf den männlich-homosozialen Bündnisschluss deutlich markiert wird. Die heterosozialen Paare werden im Münster vermählt. Zur Besiegelung der Ehe umwickelt der Priester die Hände der Paare mit einer Stola. Im Ritual
4
Zu Siegfrieds Sichtbarkeit vgl. den Beitrag von Andreas Kraß in diesem Band.
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der Blutsbrüderschaft nimmt Hagen die Funktion des Priesters ein (Abb. 2). Siegfried und Gunther halten sich während des gesamten Zeremoniells bei den Händen und trinken nacheinander aus einer Schale, in der Wein mit ihrem Blut gemischt worden ist. Die Darreichung eines Trankes erinnert wiederum an jene Szene, in der Kriemhild Siegfried den Willkommenstrunk anbietet (Abb. 3).
Abb. 2: Blutsbrüder (NF I 01:17:13)
Abb. 3: Kriemhild reicht Siegfried den Willkommenstrunk (NF I 00:46:39)
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Hagen besiegelt den Bund der Blutsbrüder, indem er die Treueformel spricht. Zum Abschluss des Rituals umarmen sich Siegfried und Gunther – eine Geste, die an den Kuss erinnert, der die Ehe besiegelt. Noch eine dritte Begegnung gehört in diesen Zusammenhang. Der Film erklärt retrospektiv, warum Hagen den Bund zwischen Siegfried und Gunther forciert. Hagen mahnt Siegfried, der sich weigert, Brunhild für Gunther in der Brautnacht zu bezwingen, an seine Treueverpflichtung gegenüber dem Blutsbruder. Siegfried ist durch seinen Eid gebunden; er muss Gunther helfen, auch wenn es ihm widerstrebt. Zu diesem Zweck macht er wiederum von der Tarnkappe Gebrauch. Im Nibelungenlied bewirkt sie erneut Siegfrieds Unsichtbarkeit, im Nibelungenbuch und Nibelungenfilm hingegen einen Gestaltwechsel. So heißt es im Nibelungenbuch: »Siegfried vermied die Augen Gunthers; doch fühlte er ihren fressenden Blick. Scham erfüllte ihn, die zwischen Männern nicht sein darf. Ihr ein Ende zu machen, sagte er Ja. Den Tarnhelm, den Hagen ihm aus dem Gürtel riß, streifte er über das Blondhaar, sprach den WandelSpruch, wurde zu Gunther. In Gunthers Gestalt betrat er die Kammer Brunhilds.« (NB 80)
Nachdem Siegfried Brunhild bezwungen hat, verlässt er das Schlafgemach. Der Film setzt das Motiv des Doppelgängers visuell um, indem Siegfried, der immer noch Gunthers Gestalt hat, auf den wahren Gunther trifft. Dieser betritt das Schlafgemach, wo Brunhild am Boden liegt und sich nicht mehr rührt. Gunther löscht das Licht und vollzieht die Ehe mit ihr. Der Anblick des Doppelgängers gleicht einem Blick in den Spiegel und somit einer Verdopplung des Ichs. Wie Daniel Patrick Ritter in einer Studie über Doppelgänger im Film darlegt, ist der Doppelgänger als »ein nach außen verlagerter, unheimlicher, weil ungelebter eigener Seelenanteil« zu verstehen.5 Ritter orientiert sich an Sigmund Freud, der in seiner Studie über das Unheimliche im Doppelgänger Folgendes erkennt: »alle unterbliebenen Möglichkeiten der Geschicksgestaltung […] und alle Ich-Strebungen, die sich infolge äußerer Ungunst nicht durchsetzen konnten, sowie alle unterdrückten Willensentscheidungen, die die Illusion des freien Willens ergeben haben«6. Jacques Lacan führt in seinem Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion aus7, dass der erstmalige Blick in den Spiegel ein imaginäres Bild von der Gestalt des menschli-
5
Ritter, Daniel Patrick: Über Männer und Schatten. Doppelgänger im Film, Wien 2009,
6
Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch ge-
S. 11. ordnet, hg. von Anna Freud, Frankfurt am Main 1999, Band XII, S. 227-268, hier S. 248. 7
Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«, in: Ders.: Schriften I, ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Freiburg im Breisgau 1973, S. 61-70.
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chen Körpers konstituiere. Es werde eine somatische Einheit entworfen, mit der sich das in den Spiegel blickende Ich identifiziere. Dabei handelt es sich nicht um die bloße Wahrnehmung eines ähnlichen Gegenübers, sondern um die Setzung eines Ideal-Ichs, dem der reale Zustand aufgrund mangelhafter körperlicher Befindlichkeit widersprechen kann. Der Doppelgänger verkörpert in dieser Filmszene somit das Ideal-Ich. Der Blick in den ›Spiegel‹ führt Gunther seine eigene Unzulänglichkeit und Schwäche vor Augen und negiert seine Männlichkeit. In diesem Sinne heißt es im Nibelungenbuch, dass »nichts in der Welt geschehen [könne], das grauenvoller sei für Gunther […], als der Augenblick, da er sich selbst vor eigenen Augen sah.« (NB 81) Gunther sieht in dieser Szene gleichsam doppelt: Einerseits nimmt er wahr, was er nicht ist, aber gerne wäre (sein Ideal-Ich in der Gestalt Siegfrieds); andererseits erkennt er sich so, wie er tatsächlich ist, nämlich als zu schwach, um Brunhild ohne Hilfe zu bezwingen (Ist-Zustand). Nachdem Brunhild endgültig bezwungen ist, initiiert Hagen die Zerstörung des exklusiven Zweierverhältnisses von Siegfried und Gunther. Der Königinnenstreit und Brunhilds offene Forderung von Siegfrieds Tod bereiten den Boden für Hagens Mordplan. Seine wiederholten Überschreitungen der Standesgrenze finden hier ihren Höhepunkt. Hagen ist Regisseur des weiteren Geschehens, während Gunther in einen Zustand zunehmender Handlungsunfähigkeit verfällt. Zwar erinnert er Hagen an die Blutsbrüderschaft, die ihn mit Siegfried verbindet, und fragt: »Soll ich ihn töten, weil er mir treu war?« (NF I 01:44:29) Insgesamt aber verhält er sich untätig. Erst als Brunhild behauptet, dass derjenige, der ihr den Reif nahm, auch ihre Jungfräulichkeit raubte, trifft er eine Entscheidung und lässt zur Jagd rufen. Gunthers Männlichkeit und seine Stellung als Herrscher werden durch Brunhilds Lüge, Siegfried habe sie entjungfert, in Frage gestellt. Er muss handeln, um seine Macht zu sichern, überlässt jedoch alle weiteren Aktionen Hagen. Gunther plagen moralische Zweifel ob der Tötung seines treuen Freundes; er vermag es aber nicht, Hagen an der Ausführung der Tat zu hindern. Der Tod des nibelungischen Helden kommt einer Amputation Gunthers gleich. Siegfrieds exorbitante Stärke, die in seinem Dienst stand, wird ihm durch den Mord genommen. Gunther erscheint im weiteren Verlauf der Handlung schwächer als je zuvor und in Passivität befangen.
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Das Nibelungenlied führt Kriemhild als höfische Dame ein, die unter dem Vormund ihrer königlichen Brüder steht und ihnen somit subordiniert ist: Ir pflâgen drîe kunege edel und rîch, Gunther unde Gêrnôt, die recken lobelich,
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und Gîselher der junge, ein ûzerwelter degen. diu frouwe was ir swester, die fürsten hetens in ir pflegen. (NL 2) »Sie beschützten drei edle und mächtige Könige: Gunther und Gernot, hoch angesehene Recken, und der junge Giselher, ein ausgezeichneter Ritter. Kriemhild war ihre Schwester; die Fürsten hatten sie in ihrem fürsorglichen Schutz.«
Die geschlechtsspezifische Ungleichheit am Wormser Hof ist Ausdruck der Männerherrschaft. Kriemhild wird als Inbegriff idealer höfischer Weiblichkeit und Schönheit exponiert. Mit ihrer Figur wird in Worms eine Norm etabliert, von der Brünhilds kämpferische und aufbegehrende Weiblichkeit abweicht. Auch in Fritz Langs filmischer Adaptation wird Kriemhild als höfische Jungfrau eingeführt, die in der Obhut ihrer Brüder steht. Dagegen unterscheidet sich Siegfrieds Exposition im Film grundlegend vom mittelhochdeutschen Epos. Während Siegfried im Nibelungenlied, entsprechend der Einführung Kriemhilds, eingebettet in seinen Familienzusammenhang eingeführt wird (vgl. NL 18-41), zeigt der Film Siegfried als Teil der männlich-homosozialen Welt der Nibelungen und als Bewohner eines »märchenhaft-archaischen Riesenwaldes«8. Siegfried erscheint im Film als strahlende, nur dürftig mit einem Fell bekleidete Lichtgestalt, die in Mimes Höhle ein Schwert schmiedet und dabei von den missgünstigen und hasserfüllten Blicken des gnomenhaften Schmiedes verfolgt wird. Im Nibelungenbuch heißt es entsprechend: »Aber Mime, der verkrüppelt und ebenso böse wie häßlich war, kauerte auf dem Mooslager und sah Siegfried zu, und er haßte ihn, weil er schöner war als alles was man sich denken kann.« (NB 38) Siegfrieds Schönheit und Jugend stehen in starkem Kontrast zu Mimes Physiognomie und Gestik. Der Film zeigt Mime überwiegend in kauernder Haltung. Im Nibelungenbuch heißt es, dass sein Äußeres »nicht Menschen mehr [glich]; Haare wuchsen auf [seinen] Gliedern, wie den Tieren Felle wachsen.« (NB 37) Die gegensätzliche Konzeption der beiden Figuren erhebt Siegfried über Mime und etabliert das Ideal überlegener Männlichkeit. So argumentiert Anton Kaes: »Siegfried is presented as the bodily foil to Mime: tall vs stunt; erect and upright vs lying and crouching; hairless vs. hairy; groomed and taut vs unkempt and slovenly; nude vs. covered; white and clean vs dirty and squalid; blond Aryan superman vs the debased and abject dark other.«9 Die körperliche Differenz mar-
8
Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang. Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 205.
9
Kaes, Anton: »Siegfried – A German Filmstar Performing the Nation in Lang’s Nibelungen Film«, in: Tim Bergfelder (Hg.), The German Cinema Book, London 2002, S. 63-70, hier S. 63.
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kiert Siegfried innerhalb der männlich-homosozialen Sphäre der Nibelungenwelt als Fremden. Dauerhaftes Verweilen ist für ihn unmöglich. Siegfrieds Weg aus dieser archaisch-feindseligen Welt ist nach dem Modell einer Initiation, eines »rite de passage« geformt. Der strahlende Held muss sich auf seinem Weg gegen die Antagonisten Mime und Alberich bewähren. Siegfrieds Bad im Drachenblut wirkt »als härtendes Stahlbad« und schafft einen »Körperpanzer«10. Seine exorbitante Stärke und seine Unverwundbarkeit sind körperliche Zeichen männlicher Autonomie, die Voraussetzung für seine Werbung um Kriemhild und seine Werbungshilfe für Brunhild ist. Siegfried erwirbt diese Form der Männlichkeit in der Auseinandersetzung mit Gestalten, die auf einer kulturell niedrigeren Stufe als er angesiedelt werden.11 Auch die Entstehung der Liebe zwischen Siegfried und Kriemhild präsentiert der Film anders als das Epos. In beiden Fällen handelt es sich um Fernliebe, doch gestaltet der Film den Prozess des Sich-Verliebens erzählerisch aus. Er erfindet eine Erzählerfigur, die dem Bericht über Kriemhild eine Stimme verleiht. Während Mimes Gesellen über die schöne Königstochter von Burgund sprechen, zeigt eine Einblende die Wormser Hofgesellschaft beim Kirchgang. Die Einblende schließt mit einer Volltotalen auf Kriemhild ab. Der Film visualisiert das Erzählte, sodass das Motiv der Fernminne, wie Christian Kiening und Cornelia Herberichs betonen, an »Plausibilität und Authentizität«12 gewinnt. Kriemhild wird im Film durch Volkers Gesang von Siegfried und seinen Heldentaten unterrichtet, während dieser schon auf dem Weg nach Worms ist. Volkers Gesang endet in eben jenem Moment, als Siegfried vor den Toren von Worms um Einlass bittet. Auf diese Weise wird suggeriert, dass Siegfrieds Taten unmittelbare Vorgeschichte des gegenwärtigen Ereignisses seien.13 Bei seinem Erscheinen in Worms tritt Siegfried nach höfischer Art gekleidet und in Begleitung von zwölf Königen14 vor Gunther und dessen Gefolge. Siegfrieds Werbung um Kriemhild provoziert eine Auseinandersetzung mit Hagen, die zu eskalieren droht. Erst Kriemhilds Erscheinen im Saal kann die Konfliktsituation entschärfen. Kriemhild verkörpert in dieser Szene ein Ideal frommer und keuscher Weiblichkeit. Sie trägt lange, kunstvoll gebundene Zöpfe, und ihr Körper ist durch
10 Tischel, Alexandra: »›Ihr kennt die deutsche Treue nicht, Herr Etzel‹ – Nation und Geschlecht in Thea von Harbous ›Nibelungenbuch‹«, in: Kati Röttger/Heike Paul (Hg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung, Berlin 1999, S. 264-284, hier S. 270. 11 Vgl. ebd. 12 C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 203. 13 Vgl. ebd. 14 Der Gruppe der zwölf Könige, die Siegfried begleiten, widmet sich Michael R. Ott in seinem Beitrag.
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das bodenlange Kleid vollständig bedeckt.15 Kriemhild hält ihren Kopf leicht nach unten geneigt, ihr Blick ist demütig gesenkt. Diese Gebärden verweisen auf ihre Unterordnung unter die patriarchale Herrschaft ihrer Brüder. Die Gender-Rollen am Wormser Hof sind klar konturiert. Die Frauen des Hofes, insbesondere Kriemhild, zeichnen sich durch ihre Zurückhaltung und durch die Wahrung höfischer Etikette aus, aber auch durch exzeptionelle Schönheit, die hohe Anziehungskraft auf die männlichen Adligen ausübt. Im Nibelungenlied wird Kriemhild als Morgenrot beschrieben, das durch die Wolken bricht (NL 279) und ihr Leuchten ähnelt dem Mond, der die Sterne überstrahlt (NL 281). Ihr Auftritt hat illuminierende Wirkung, Kriemhilds Leuchtkraft zieht das anwesende männliche Publikum in den Bann.16 Auch im Film lässt Kriemhilds Erscheinen alle Männer beim Anblick ihrer Schönheit erstarren und Siegfried seine Empörung über die Aufforderung Hagens vergessen, er solle als Gunthers Werber fungieren und sich dem burgundischen König unterordnen. Siegfried verharrt mitten in der Bewegung und kann seinen begehrenden Blick nicht mehr von Kriemhild abwenden. Kriemhild beschreibt im Nibelungenbuch gegenüber Rüdiger die Situation folgendermaßen: »Ich sah Siegfried auf mich zukommen. Dies war gegen alle Sitte und dünkte mich seltsam atembeklemmend. Und doch war es gut so und richtig und war das Einzige, das geschehen konnte. So gingen wir aufeinander zu, die Füße setzend wie Träumende, denn auch sein Antlitz, das eben noch im Zorn gefunkelt hatte, war nun wie das Antlitz eines Kindes, ungläubiggläubig, verlangend-dankbar, fromm und ohne Maßen schön.« (NB 55)
Siegfried und Kriemhild werden voneinander angezogen, und ihre Blicke verschränken sich. Ihre erste Begegnung ist, wie Alexandra Tischel formuliert, ein »somnambules Aufeinanderzuschreiten zweier selbsttätiger Körper«17 (Abb. 4). Die Entstehung der Paarbeziehung zwischen Siegfried und Kriemhild ist heteronormativ geprägt. Gemäß dem heldenepischen Schematismus wird die schönste Frau dem besten und stärksten Mann zugeordnet. Beide Figuren agieren im Rahmen der Geschlechterhierarchie und der traditionellen Gender-Rollen. Die Zuordnung wird durch äußerliche Entsprechungen verstärkt. Siegfried und Kriemhild haben blondes Haar und tragen helle Kleidung. Ihre Ähnlichkeit schafft ein Begehren, das
15 Vgl. Seibert, Peter: »Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten. Masseninszenierungen in Fritz Langs ›Nibelungen‹«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/ Zoltán Szendi (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 187-196, hier S. 193. 16 Vgl. Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel 2006, S. 175f. 17 A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 272.
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sich jeweils auf den anderen richtet. Die gegenseitige Erkenntnis der Körper gleicht dem Blick in einen Spiegel. Siegfried sieht in Kriemhild sein weibliches Spiegelbild. Auch hinsichtlich ihres Standes und ihrer Religion begegnen sich die Figuren auf einer Ebene. Beide sind Mitglieder des Adels und entstammen einem patriarchalen Herrschaftssystem, das sich durch höfische Sitten und christlichen Glauben auszeichnet.
Abb. 4: Siegfried und Kriemhild schreiten aufeinander zu (NF I 00:46:09)
3. G UNTHER
UND
B RUNHILD
Im Nibelungenlied markiert die erste Begegnung zwischen Gunther und Brünhild deutliche Unterschiede. Gunther entstammt der höfischen Welt von Worms, Brünhild zeichnet sich durch ihre zugleich höfische und mythische Provenienz aus. Die Gefahr, die die erforderliche Grenzüberschreitung – Isenstein ist nur mit einem Schiff zu erreichen – in sich birgt, wird auf Brünhild als Herrscherin übertragen. Dies manifestiert sich in den Warnungen, die Kriemhild vor Gunthers Aufbruch zur Brautwerbungsfahrt äußert: Si sprach: ›vil lieber bruoder, ir möhtet noch bestân unt wurbet ander frouwen. daz hiez ich wolgetân, dâ iu sô sêre enwâge stüende niht der lîp. ir mugt hie nâher vinden ein alsô hôchgeborn wîp. (NL 370)
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»Sie sprach: ›Mein lieber Bruder, noch könntet ihr hierbleiben und um eine andere Dame werben. Das hielte ich für vernünftig, weil Euer Leben nicht so sehr auf dem Spiel stehen würde. Ihr könnt auch hier in der Nähe eine hochgeborene Frau finden.«
Auch Siegfried rät Gunther von seinem Vorhaben ab und warnt vor den schrecklichen Angewohnheiten (NL 328,2: sô vreisliche sit) der Königin. Brünhilds Waffentüchtigkeit entspricht nicht der Norm höfischer Weiblichkeit, wie man sie in Worms kennt. Die erste Begegnung zwischen Gunther und Brünhild ist im Epos (wie auch im Film) als Kontrast zum ersten Aufeinandertreffen von Siegfried und Kriemhild konzipiert. Von großer Bedeutung für die Entstehung und den Verlauf der Beziehung ist die Tatsache, dass die Begegnung zwischen Gunther und Brünhild nicht auf zwei Figuren beschränkt ist, sondern durch Siegfrieds Präsenz nachhaltig beeinflusst wird. Siegfried wird durch Hagens Einwirken für die Brautwerbung um Brünhild instrumentalisiert und somit als Dritter in die Beziehung zwischen Gunther und seiner Braut eingebunden. Entsprechend nimmt auch Gunther in der Beziehung zwischen Siegfried und Kriemhild die Position des Dritten ein, ohne aber ihre Beziehung zu stören. Siegfried hingegen fungiert in der Beziehung von Gunther und Brünhild als Störfaktor und zeigt in der Funktion des Dritten eine stärkere Präsenz als Gunther. Durch Siegfrieds doppelte Identität als mythischer Held und höfischer Ritter werden ihm schon im Nibelungenlied beide weiblichen Protagonistinnen zugeordnet. Auf diese Weise wird der heldenepische Schematismus erweitert. Siegfried wird als schönstem Mann die schönste Frau, nämlich Kriemhild, und zugleich als stärkstem Mann die stärkste Frau, nämlich Brünhild, zugeordnet. Gunther, der sich im Gegensatz zu Siegfried weder durch übermäßige Stärke noch durch besondere Schönheit auszeichnet, kommt als Werber um Brünhild nicht in Frage – und ist doch derjenige, der sie heimführen wird. Gunthers Werbungsabsichten sind im Nibelungenbuch und im Film anders motiviert als im Epos. Im Nibelungenlied wird Gunthers Begehren nach einer Frau durch Siegfrieds Werbungsabsicht ausgelöst. Trotz der mimetischen Natur seines Begehrens18 ist es Gunther selbst, der die Entscheidung für die Werbungsfahrt trifft: Dô sprach der vogt von Rîne: ›ich wil níder an den sê hinze Brünhilde, swie ez mir ergê. ich wil durch ir minne wâgen mînen lîp: den wil ich verliesen, sine werde mîn wîp.‹ (NL 327)
18 Vgl. Girard, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster/Hamburg,/London 1999, hier bes. S. 11-61.
202 | N INJA R OTH »Da sprach der Vogt vom Rhein: ›Ich will hinab zum Meer, zu Brünhild, wie es mir dabei auch ergehen mag. Aus Liebe zu ihr will ich mein Leben wagen. Ich bin bereit es zu verlieren, wenn sie nicht meine Frau wird.‹«
Anders verhält es sich im Nibelungenbuch und im Film. Indem Hagen einen Handel um Kriemhild vorschlägt, trifft er für Gunther die Entscheidung eine Frau zu gewinnen. Im Epos wie auch in den modernen Adaptationen macht Hagen die Gewinnung Brunhilds zur Bedingung für Siegfrieds erfolgreiche Werbung um Kriemhild. Gunther ist sich seiner Unterlegenheit gegenüber Brunhild bewusst. So heißt es im Nibelungenbuch: »›Willst du Kriemhild gewinnen, Held aus Niederland, so hilf zuvor König Gunther zu dem Weibe, das er sich ersehnt.‹ […] Unwillig wies Gunther die Rede Hagens zurück. ›Was mahnst du mich an Brunhild, da du doch weißt, daß nur der Stärkste sie gewinnen kann?‹« (NB 54) Siegfried muss an Gunthers Stelle den Brautwerbungswettkampf bestreiten. Um Kriemhild für sich zu gewinnen, willigt Siegfried in den Dienst ein. Er ordnet sich dem burgundischen König unter und negiert seine eigene Stellung. Im Film prophezeit Brunhilds Seherin die Ankunft des Einen, dessen Präsenz das die Burg umgebende Flammenmeer zum Erlöschen bringt. Die Szene lässt nicht genau erkennen, wessen Gegenwart das Feuer beseitigt, da Siegfried und Gunther nebeneinander stehend gezeigt werden. Der Akzent liegt auch dadurch stärker auf der Egalität der beiden Männer, dass die öffentliche Degradierung Siegfrieds durch den Steigbügeldienst fehlt, den er im Nibelungenlied Gunther bei der Ankunft in Isenstein leistet. Gunther und sein Gefolge betreten die Burg und werden im Saal von Brunhild empfangen. Brunhild sitzt auf einem Thron, die eintretenden Männer postieren sich an der gegenüberliegenden Seite des Saales. Gunther steht vorn; schräg hinter ihm, durch eine Stufe leicht erhöht, aber zurückgesetzt, befinden sich rechtsseitig Siegfried und Hagen, linksseitig Gunthers Brüder und Volker. Wie im Nibelungenlied, wo sich Siegfried bei der Ankunft auf Isenstein hinter Gunther stellt, verdeutlicht auch der Film durch die räumliche Anordnung, dass Gunther derjenige ist, der um Brunhild zu werben beabsichtigt. Den stärksten Kontrast zur ersten Begegnung von Siegfried und Kriemhild bildet bei der ersten Begegnung von Gunther und Brunhild die fehlende gegenseitige Erkenntnis der Körper. Dieses Verkennen geht so weit, dass Brunhild an Gunther, dem eigentlichen Werber, vorübergeht und ihren begehrenden Blick starr auf Siegfried richtet (Abb. 5). Im Nibelungenbuch heißt es: »Brunhild stand auf, fast heftig; sie ging auf die Könige zu. Auch ihr Schritt war heftig und dennoch zögernd. Sie schritt an Gunther vorüber; sie sah ihn nicht. Sie hielt nicht inne in diesem hemmungslosen Vorwärtsschreiten, bis sie vor Siegfried stand. Sie trat so dicht vor ihn hin, als sehne sie sich danach, ihr bleiches dunkles Haupt in den Schimmer seiner strahlenden Blondheit zu tauchen, daß er sie durchleuchtete und durchwärme.« (NB 62f.)
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Abb. 5: Brunhild hält Siegfried für den Werber (NF I 00:55:08)
Brunhild wird, wie vor ihr schon Kriemhild, von Siegfrieds strahlender Männlichkeit angezogen, doch bleibt die Attraktion einseitig. Indem Brunhild Gunther zielgerichtet ignoriert, wählt sie sich den potentiellen Kampf- und Ehepartner selbst und durchkreuzt so das »symmetrische Gefüge der Passungsverhältnisse«19. Wie Siegfried in Kriemhild sein weibliches Spiegelbild sieht, so erkennt Brunhild in Siegfried ihr männliches Spiegelbild. Die Exorbitanz ihrer Stärke und die Ähnlichkeit ihrer Frisur lassen sie einerseits als Siegfrieds weibliches Äquivalent erscheinen; andererseits ordnen die dunklen Farbwerte, die ihre Darstellung bestimmen, sie Gunther und Hagen zu. Letzterem ähnelt sie vor allem, wenn sie ihre Rüstung trägt. Brunhild vertritt ein Modell von Weiblichkeit, das dem Idealbild der Dame, wie es Kriemhild verkörpert, kontrastiv entgegensteht. Brunhilds Haare sind dunkel, sie trägt ihre Frisur kinnlang wie die Männer. Ihr Körper wird durch die Kleidung nicht verhüllt, im Gegenteil zeichnet der kurze Waffenrock die Bewegungen ihres Körpers während des Wettkampfes fließend nach.20 Brunhilds Äußeres, ihre Stärke und ihre physische Aktivität verkehren die traditionelle Geschlechterdichotomie, wie sie in Worms durch den Entwurf des idealen Paares Siegfried und Kriemhild als Norm markiert wurde. Das Weiblichkeitsmodell, das von Brunhild vertreten wird, ist zugleich religiös und politisch codiert. Brunhild und ihr Gefolge gehören einer heidnisch-mythischen, matriarchalen Kultur an. Ihre aufbegehrende Weiblichkeit erzeugt unterschiedliche Reaktionen auf Seiten der Männer. Gunther ist von der amazonenhaften Königin und ihrer Stärke fasziniert und eingeschüchtert. Er weiß,
19 A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 272. 20 Vgl. P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 193.
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dass er selbst zu schwach ist, um die Königin zu bezwingen. Siegfried hingegen nimmt Brunhild, die ein kriegerisches Modell von Weiblichkeit verkörpert, nicht als begehrenswert wahr. Die Unmöglichkeit der Integration Brunhilds in die Gesellschaft des burgundischen Hofes ist Zeugnis ihrer Marginalisierung. Diese hat ihre Ursache in der Überkreuzung der Kategorien ›Herkunft‹, ›Geschlecht‹ und ›Religion‹. Brunhild kommt aus der Ferne; sie repräsentiert ein auf matriarchalen Strukturen basierendes Herrschaftsgefüge, widerspricht der Norm einer höfischen Dame und ist Heidin. Die Desintegration wird in der Begrüßungsszene visualisiert. Brunhild verweigert Ute den Begrüßungskuss und schreckt vor der Berührung durch das Kreuz des Priesters zurück. Ihre exzeptionelle Weiblichkeit stellt auch nach der Vermählung eine Bedrohung für Gunthers Männlichkeit dar, wie Hagen erkennt: »Besiegt ist Brunhild, nicht bezwungen! Soll der König Burgunds zum Gespött werden durch ein törichtes Weib?« (NF I 01:18:03) Das normative und die bestehende Herrschaftsordnung in Worms stabilisierende Verhältnis von weiblicher Subordination und männlicher Suprematie muss durch die gewalttätige Unterdrückung der kriegerischen Frau herbeigeführt werden. Um Brunhild endgültig zu bezwingen und sie zu domestizieren, bedarf es erneut Siegfrieds Mitwirken. Mithilfe der Tarnkappe tritt Siegfried in Gunthers Gestalt in diesen »körperbetonten Nahkampf« ein21. Brunhilds Gegenwehr provoziert Siegfried und stellt seine Männlichkeit in Frage. Der Brautnachtbetrug ist ein »fundamental antagonistischer Geschlechterkampf«22. Während Siegfried mit Brunhild ringt, sitzt Gunther wartend und in einen Mantel gehüllt vor der Kemenate. Diese Darstellung gleicht der Präsentation der burgundischen Frauen, die ihre Körper stets in Mäntel hüllen und sich durch Zurückhaltung auszeichnen, was Gunther effeminiert erscheinen lässt. Er ist hilflos, schwach und ohnmächtig und bedarf der aktiven Unterstützung durch einen dominanten Mann.
4. E TZEL
UND
K RIEMHILD
Die erste Begegnung zwischen Etzel und Kriemhild ist in Langs Film nicht nur eine Konfrontation der Geschlechter, sondern auch der Rassen. Kriemhild, deren physische, charakterliche und kulturelle Merkmale sie innerhalb der Welt von Worms als Idealbild einer höfischen Dame stilisierten und als weibliche Norm etablierten, wird inmitten der hunnischen Masse als Fremde markiert. Es vollzieht sich ein Perspektivwechsel: Kriemhild entspricht nicht der Norm der Hunnen. Die Attribuierung als »weiße Frau«, als die Kriemhild im zweiten Teil des Films wiederholt bezeichnet
21 A. Tischel: Nation und Geschlecht, S. 273. 22 Ebd.
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wird, ordnet sie einer bestimmten ethnischen Gruppe zu, nämlich den weißen, zivilisierten Burgunden. Auf diese Weise wird sie einer Rassisierung inmitten der »braunen« hunnischen Masse unterworfen. In explizitem Kontrast stehen Kriemhild, die weiße, zivilisierte Christin, und Etzel, der braune, unzivilisierte Heide, sowie das weibliche Individuum und die hunnische Masse. Ein solcher Gegensatz besteht im Nibelungenlied nicht. Das Epos zeichnet von Etzel das Bild eines zivilisierten Herrschers, der es versteht, Rüdiger für seine Werbungsfahrt nach Worms angemessen auszurüsten und mit prächtiger Kleidung auszustatten (NL 1149, 1176). Auch wird Etzel im Nibelungenlied wiederholt als edler und mächtiger König bezeichnet, der über großen Reichtum verfügt (NL 1190,2, 1191,1, 1241,3, 1257,3). Im Epos lehnt Kriemhild Etzels Werbung zunächst aufgrund seines Heidentums ab. Seine Macht und sein Reichtum und die damit einhergehende Aussicht auf Erfüllung ihrer Rache an den Mördern Siegfrieds veranlassen sie jedoch, ihre anfängliche Ablehnung zu überdenken und in die Verbindung einzuwilligen. Bei ihrer ersten Begegnung tritt Kriemhild ihrem zukünftigen Gatten wohlgesonnen gegenüber und begrüßt ihn mit einem Kuss: Zwêne fursten rîche, als uns daz ist geseit, bî der vroun gênde truogen iriu kleit, dâ ir der künic Etzel hin engegen gie, dâ si den fursten edele mit kusse güetelich enpfie. (NL 1347) »Zwei angesehene Fürsten begleiteten die Herren und trugen, wie uns gesagt worden ist, die Schleppe, als der König Etzel auf sie zukam und sie den edlen Fürsten mit einem Kuss freundlich empfing.«
Etzel erweist sich als vorbildlicher Fürst, der es an Freundlichkeit und Höflichkeit nicht fehlen lässt und daher auf eine ebenso freundliche Entgegnung seines Gasts rechnen kann. Ganz anders gestaltet sich die erste Begegnung zwischen Etzel und Kriemhild in Langs Film. Kriemhilds höfische Erscheinung, ihr maßvolles Eintreten in den schmutzigen und chaotisch wirkenden Saal, der von der de-individualisierten Menge der Hunnen erfüllt ist, lässt Etzel die peinliche Differenz zwischen sich und seiner Braut gewahr werden. Diese Szene unterwirft ihn einem Prozess der Rassisierung. Nachdem er seine Gefolgsleute aus dem Saal geschickt hat, nähert er sich Kriemhild langsam und mit starr auf sie gerichtetem Blick. Das Nibelungenbuch beschreibt, wie er traumwandlerisch auf sie zuschreitet: »Da ging der Herr der Erde, König Etzel, Frau Kriemhild entgegen, Schritt um Schritt gebeugtes Knie vorschiebend, nicht wissend, daß er’s tat.« (NB 151) Etzels Begehren richtet sich nicht nur auf Kriemhild als Frau, sondern auch als Repräsentantin einer höheren Kultur. Dies erlaubt wiederum Rückschlüsse auf den im Land der Hunnen herrschenden unzivi-
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lisierten Zustand. Die Art, wie sich Etzel Kriemhild nähert, erinnert an die erste Begegnung zwischen Siegfried und Kriemhild, doch könnte der Kontrast nicht größer sein. Kriemhild zeigt sich Etzel gegenüber verschlossen. Haupt und Gestalt sind vollständig von ihrem schwarzen Gewand bedeckt, und sie hält beide Arme vor ihren Körper. Etzels Verbeugung vor Kriemhild symbolisiert zum einen die Negation der Geschlechterhierarchie: weibliche Suprematie, männliche Subordination (Abb. 6). Zum anderen wird Kriemhild mit dieser Gebärde der Unterwerfung »als Vertreterin einer überlegenen Kultur«23 anerkannt. In dieser ersten Begegnung manifestiert sich die Asymmetrie ihres Verhältnisses, die im Folgenden fortbestehen wird. Kriemhild verweigert die weibliche Rolle. Selbst die Geburt des Sohnes, der als Symbol der Überkreuzung beiden Rassen fungiert24, vermag sie nicht aus ihrer Erstarrung zu wecken. Kriemhild fühlt sich dem Kind nicht verbunden; es ist immer noch Siegfried, dem all ihre Liebe und Treue gilt. Einzig die Erde, die sie als Andenken an Siegfried aus Worms mitgenommen hat, erfährt von ihr eine Liebkosung. Etzel hingegen widmet sich dem Kind hingebungsvoll. Seine väterliche Liebe zu Ortlieb macht umso deutlicher, dass Kriemhild die Rolle der sorgenden und liebenden Mutter verweigert. Nach der Ermordung des Kindes wird Etzel von Apathie befallen. Kriemhild hingegen agiert als rächende Herrscherin so selbstbewusst wie ein Mann; sie zeigt keine Gnade mit den Hunnen, die ihrem Befehl unterstellt sind und die sie in Massen in den todbringenden, brennenden Saal schickt.
Abb. 6: Etzels Unterwerfung (NF II 00:38:01)
23 Ebd., S. 276. 24 Ebd.
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5. I NTERSEKTIONELLE A SPEKTE Anhand der vergleichenden Analyse der ersten Begegnungen im Nibelungenlied und in Fritz Langs Nibelungenfilm ließen sich zwei Sachverhalte herausarbeiten: zum einen die Parallelisierung homosozialer (Gunther/Siegfried) und heterosozialer (Siegfried/Kriemhild, Gunther/Brünhild, Etzel/Kriemhild) Beziehungsformen und zum anderen die Akkumulation der Differenzkategorien. Die Freunde Siegfried und Gunther sind sich am ähnlichsten, sie unterscheiden sich lediglich partiell hinsichtlich ihrer Herkunft. Beide entstammen der höfischen Sphäre, Siegfried verfügt aber zudem über eine heroische Herkunft. Wie Gunther stammt auch Kriemhild als Angehörige des Wormser Königshofes einem höfischen Milieu. In der ersten Begegnung von Siegfried und Kriemhild wird die heroische Herkunft Siegfrieds vorübergehend ausgeblendet, dafür aber die Differenzkategorie ›Gender‹ betont. Das Paar entspricht heteronormativen Konzepten von höfischer Männlichkeit und Weiblichkeit und etabliert somit eine Norm, an der sich andere Figuren messen lassen müssen. Gunther und Brunhild weichen von der Norm ab, indem sie die Gender-Rollen vertauschen. Brünhild entspricht im Epos als waffentragende Frau nicht der durch Kriemhild etablierten höfischen Norm, vielmehr spiegelt sie Siegfried in der heroischen Dimension seiner Figur. Indem Brünhild die Gender-Rolle eines Mannes annimmt, wird sie Siegfried auch hinsichtlich der Kategorie ›Gender‹ ähnlich. Im Nibelungenbuch und im Film wird Brunhild stärker als im Epos einem Prozess der Rassisierung unterworfen, der sie in der Welt von Worms als fremd markiert. In der ersten Begegnung von Etzel und Kriemhild erreicht die Akkumulation der Differenzkategorien einen Höhepunkt. Beide Figuren differieren hinsichtlich ihrer Herkunft, ihres Geschlechts – wobei sich wiederum ein Tausch der Geschlechterrollen vollzieht – und ihrer Religion. Desweiteren repräsentieren die heterosozialen Paarbeziehungen unterschiedliche Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit, die miteinander in Interaktion treten und durch ihre Überkreuzung mit den Kategorien der Herkunft, des Standes und der Religion Mechanismen der Inklusion und Exklusion aufdecken. In Kriemhild wird das Ideal der höfischen Dame etabliert, dem Brunhild mit ihrer kämpferischen Weiblichkeit widerspricht. Aufgrund der spezifischen Überkreuzung der Kategorien wird Brunhild somit als Fremde markiert und marginalisiert. Sowohl Siegfrieds als auch Brunhilds Herkunft und die mit ihrer Herkunft verbundenen Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit führen zu einer Exklusion, die im Nibelungenlied in der Eliminierung Siegfrieds und im Nibelungenfilm in der Eliminierung beider Figuren gipfelt. Die Katastrophen, von denen das Nibelungenlied, das Nibelungenbuch und der Nibelungenfilm erzählen, resultieren aus Grenzüberschreitungen, die mit der Inszenierung von Differenzkategorien einhergehen. Wären die Burgunden unter sich geblieben, wäre das Desaster ausgeblieben – aber es gäbe auch keine Geschichte, von
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der sich erzählen ließe. Erst die Überschreitungen räumlicher Grenzen und die Begegnungen von Gestalten verschiedener Herkunft erzeugen ein erzählbares Sujet. Jurij M. Lotman stellt in seiner Raumtheorie die These auf, dass ein Sujet durch ein Ereignis generiert wird. Unter einem Ereignis versteht er »die Versetzung einer Figur über die Grenzen eines semantischen Feldes«25. Solche semantischen Felder stellen die erzählten Welten des Nibelungenlieds, des Nibelungenbuchs und des Nibelungenfilms dar. Die Grenze teilt den erzählten Raum in zwei oder mehrere »disjunktive Teilräume« 26, die in binärer Opposition zueinander stehen. Die Grenze ist unüberschreitbar, allein der Held einer Geschichte vermag sie zu überwinden. Diese Überlegungen lassen sich auf das Nibelungenlied und stärker noch auf Langs filmische Adaptation übertragen. Fritz Lang betonte in der Programmbroschüre zum Nibelungenfilm: »Hauptaufgabe mußte meiner Empfindung nach sein, in den Nibelungen vier vollkommen in sich abgeschlossene, einander fast feindliche Welten, streng zu unterscheiden und jede in sich selbst zu einem Gipfel zu führen«27. Die homo- und heterosozialen Paarbeziehungen werden über räumliche Grenzen hinweg geschlossen, und eben dadurch wird die Katastrophe in Gang gesetzt. Siegfrieds Untergang beginnt mit seiner Ankunft in Worms. Und wenn die Burgunden die Grenzen ihrer Welt überschreiten und in Interaktion mit fremden Ländern und Personen treten, hat dies ebenfalls fatale Konsequenzen. Dies betrifft insbesondere Gunthers Brautwerbung um Brunhild, die das Volk von Isenland repräsentiert, und Gunthers Reise zu Etzel, der dem Volk der Hunnen vorsteht. Auch Gunthers Indienstnahme von Siegfried, der nicht nur die höfische Welt von Xanten, sondern auch die heroische Welt der Nibelungen verkörpert, lässt sich als eine Form der Grenzüberschreitung verstehen. Siegfried und die Burgunden scheitern in den ihnen fremden Welten, die Überschreitung der eigenen Grenzen erweist sich für sie als tödlich. Als einzige Figur, die an einer Paarbeziehung beteiligt ist, überlebt (außer Brünhild im Nibelungenlied) Etzel. Er ist derjenige, der keine Grenze überschreitet und sich ausschließlich in seiner angestammten Welt bewegt.
25 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München 41993, S. 332. 26 Ebd., S. 327. 27 Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174, hier S. 171.
Die Frauen von Bechelaren Stand, Herkunft und Geschlecht im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen R EGINA T OEPFER
Fragestellungen der Intersektionalitätsforschung lassen sich in vielfältiger Weise für die Literatur des Mittelalters fruchtbar machen. Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gruppe ist entscheidend für die Stabilität des sozialen Gefüges und die Identitätskonstitution literarischer Figuren, Machthierarchien werden ausgelotet und das Glück wie das Unglück der Protagonisten wird durch Strategien der Inklusion oder Exklusion bestimmt. Die Thematik fehlender Akzeptanz, Ausgrenzung und Diskriminierung ließe sich beim Nibelungenlied an verschiedenen Figuren untersuchen. Wenn der Fokus im Folgenden auf die Frauen von Bechelaren gelegt wird, entspricht dies dem Ziel der Intersektionalitätsforschung, die gesteigerte Diskriminierung derjenigen zu untersuchen, die verschiedenen minderprivilegierten Gruppen angehören.1 Schon die Situation des Markgrafen Rüdiger von Bechelaren ist durch die Überkreuzung von Ungleichheitsrelationen gekennzeichnet. Mehr als alle anderen Figuren der nibelungischen Welt bemüht er sich um eine Integration in bestehende Herrschaftsverbände. Bei dem Hunnenkönig Etzel macht er sich durch seine Diens1
Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem Decla-UfaFilm ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
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te unentbehrlich, und den Burgunden sucht er sich durch Gastfreundschaft und Heiratspolitik zu verbinden. Zwar gehört Rüdiger zu den wenigen Helden des Nibelungenlieds, die ungeteilte Sympathie genießen. In expliziten Wertungen sowohl des Erzählers als auch der Figuren wird seine Großzügigkeit gerühmt und wird er als vater maneger tugende (NL 2199,4: »Vater ritterlicher Vollkommenheit«) gepriesen. Dennoch scheitern seine Inklusionsbemühungen und endet die Handlung für ihn in der Katastrophe. Noch weitreichendere Konsequenzen haben die ungleichen Machtverhältnisse für die weiblichen Figuren an Rüdigers Hof. Ihre narrative Existenz ist nur gesichert, solange sie in einer Relation zu ihrem Ehemann und Vormund stehen. Die ungleiche Sichtbarkeit weiblicher und männlicher Figuren spiegelt sich in der Wahrnehmung der Forschung. Rüdigers Konflikt wurde vielfach behandelt und auf seine konkurrierenden Bindungen an beide Kampfparteien zurückgeführt.2 Seine Frau und seine Tochter fanden dagegen kaum Beachtung, obwohl der anonyme Dichter des Nibelungenlieds ihre Rollen detailreich gestaltet hat. Mit Hilfe der historischen Intersektionalitätsforschung lässt sich eine neue Perspektive auf die Geschichte der Markgrafenfamilie werfen. Wie die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw am Beispiel von ›Women of Color‹ zeigt, führt eine Überschneidung mehrerer Kategorien der Subordination zu einer neuen Qualität der Diskriminierung.3 Die Metapher der Kreuzung (»intersection«) ist für meine Argu2
Vgl. Campbell, Ian R.: »Hagen’s Shield Request. Das Nibelungenlied, 37th Aventiure«, in: Germanic Review 71 (1996), S. 23-34; Grosse, Siegfried: »Rüdiger von Bechelaren. Beobachtungen zur dramatischen Rezeption und Konzeption einer Gestalt des Nibelungenliedes«, in: Dorothee Lindemann u.a. (Hg.), ›Bickelwort‹ und ›wildiu maere‹. Festschrift für Eberhard Nellmann, Göppingen 1995, S. 237-259; Hasebrink, Burkhard: »Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des ›Nibelungenliedes‹«, in: Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer (Hg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter, Tübingen 2003, S. 7-20; Splett, Jochen: Rüdiger von Bechelaren. Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes, Heidelberg 1968; Thelen, Lynn: »Hagen’s Shields. The 37th Âventiure Revisited«, in: Journal of English and Germanic Philology 96 (1997), S. 385-402; Toepfer, Regina: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen, Berlin/New York 2013, S. 211-241; Wapnewski, Peter: »Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes«, in: Ders.: Zuschreibungen. Gesammelte Schriften, hg. von Fritz Wagner/Wolfgang Maaz, Hildesheim 1994, S. 41-71.
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Vgl. Crenshaw, Kimberle: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color«, in: Stanford Law Review 43 (1991), S. 1241-1299. – Eine stärkere Beachtung von Crenshaws Thesen fordert: Chebout, Lucy: »Back to the roots! Intersectionality und die Arbeiten von Kimberlé Crenshaw«, 2012, URL: www.portal-intersektionalität.de vom 07.06.2012 – Kritik an der Metapher einer Straßenkreuzung, die die Verwobenheit der Kategorien vernachlässige, übt dagegen Walgen-
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mentation insofern relevant, als die situative Verortung der weiblichen Figuren in den Blick genommen wird, bei denen sich ›class‹, ›race‹ und ›gender‹ überschneiden.4 Der Ausschluss der Frauen von Bechelaren aus der nibelungischen Welt, so meine These, liegt wesentlich in der Überlagerung verschiedener Ungleichheitskategorien begründet. Da entscheidende theoretische Voraussetzungen, insbesondere im Bereich der Rassenlehre, jedoch erst im 19. Jahrhundert ausgebildet werden, historisiere ich die intersektionellen Kategorien und untersuche Stand, Herkunft und Geschlecht im Nibelungenlied. Die Analyse beginnt mit der Überkreuzung der Kategorien im mittelhochdeutschen Epos und wendet sich dann den modernen Adaptationen zu.
1. D AS N IBELUNGENLIED a) Der Aufenthalt Kriemhilds in Bechelaren: Weibliche Handlungskompetenz Die Markgräfin Gotelind von Bechelaren wird zu Beginn des zweiten Handlungsteils des Epos erstmals erwähnt. Ihr Mann Rüdiger will sie darüber informieren, dass er als Bote nach Worms ziehen wird (vgl. NL 1156,3f.). Der Fokus verschiebt sich vom Hunnenhof nach Bechelaren, und der Erzähler bietet einen der seltenen Einblicke in das Innere einer Figur. Gotelind reagiert mit ambivalenten Gefühlen auf die Nachricht von der geplanten Brautwerbung: dô wart diu margrâvinne trûrec und hêr. (NL 1157,2: »Da wurde die Markgräfin traurig und stolz zugleich.«) Ihr Stolz lässt sich mit der ehrenvollen Beauftragung ihres Mannes erklären, der ein enger Vertrauter und wichtiger Ratgeber des mächtigen Hunnenkönigs ist. Überlagert wird das Hochgefühl der Markgräfin durch die Trauer, die ihr Gedanke an Etzels erste Frau, Helche, weckt. Gotelind ist ihrer früheren Herrin noch immer minnecliche (NL 1157,4: »voller Liebe«) zugetan und fürchtet eine Neuordnung der Machtverhältnisse: weinens si gezam, / ob si gewinnen solde vrouwen alsam ê (NL 1158,2f.: »Sie musste einige Tränen bei dem Gedanken vergießen, ob sie wohl eine solche Herrin bekäme wie vorher.«). Dem hierarchischen Dienstverhältnis von Rüdiger und Etzel wird ein weibliches Gefolgschaftsmodell gegenübergestellt. Go-
bach, Katharina: »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgenbach u.a. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007, S. 23-64, hier S. 49. 4
Zu den Kategorien vgl. K. Crenshaw: Mapping the Margins, S. 1246; Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 10, 38f.; K. Walgenbach: Gender, S. 42-44.
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telinds Tränen sind nicht nur als Zeichen der Trauer um die frühverstorbene Königin, sondern auch als Vorausdeutung auf das Unglück zu interpretieren.5 Kriemhilds künftige Herrschaft wird als problematisch markiert. Als der Markgraf wenig später in seinem Herrschaftsbereich eintrifft, wird auch die zweite Frauenfigur von Bechelaren sichtbar; diu junge margrâvinne, daz Rüedegêres kint, / sach ir vater gerne unt die sîne man. (NL 1160,2f.: »Die junge Markgräfin, Rüdigers Tochter, freute sich, ihren Vater und seine Begleiter zu sehen.«) Ihr Auftritt ist an die Anwesenheit des Vaters gebunden, der ihren Handlungsspielraum bestimmt. Im Vergleich zu Gotelind ist Rüdigers Tochter schon dadurch marginalisiert, dass sie keinen eigenen Namen erhält. Rüdigers Gemahlin bezeichnet der Erzähler dagegen gar als Gotelint diu rîche (NL 1162,4: »die mächtige Gotelind«), deren Handlungskompetenz aus ihrer Teilhabe an Rüdigers Lehen resultiert. Das Nahverhältnis des Markgrafenpaares wird in Szene gesetzt, als Rüdiger seiner Frau nachts im Ehebett von seinem Werbungsauftrag erzählt.6 Gotelind hofft, dass die neue Königin Helches Verlust kompensieren kann, und ordnet sich ihr breitwillig unter: ouch möhte wir si gerne zen Hiunen krône lâzen tragen. (NL 1167,4: » Auch möchten wir sie gern im Hunnenland die Krone tragen sehen.«) Etzels erste Frau wird als Idealfigur gezeichnet und fungiert als Kontrastfolie gegenüber der rachsüchtigen Kriemhild. Der Platz der Markgräfin in der höfischen Machthierarchie wird – wie der ihres Mannes – genau bestimmt7; Gotelind steht zwar unter der verstorbenen und unter der künftigen Königin, doch werden ihr wichtige höfische Aufgaben übertragen. Auf Rüdigers Bitte hin stattet Gotelind seine Begleiter mit prächtigen Kleidern für die Reise aus (vgl. NL 1168-1171). Die Szene verweist paradigmatisch auf die Brautwerbungsepisoden im ersten Teil des Epos und erinnert an die Vorbereitungen der Königinnen in Xanten und Worms. Aufgrund der Vakanz weiblicher Herrschaft am Hunnenhof erfüllt Gotelind eine Stellvertreterinnenfunktion und nimmt zeitweilig die Position der ranghöchsten Frau in Etzels Reich ein. Die Bedeutung der Markgräfin wird am burgundischen Hof präsent gehalten. Hagen tituliert Rüdiger als der schœnen Gotelinde man (NL 1186,4: »Gemahl der schönen Gotelind«), was 5
Zur Zeichenfunktion von Tränen vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 269, 279; Suerbaum, Almut: »›Weinen si began‹. Male and Female Tears in the Nibelungenlied«, in: William J. Jones/William A. Kelly/Frank Shaw (Hg.), ›Vir ingenio mirandus‹. Studies Presented to John L. Flood, Göppingen 2003, S. 23-37.
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Das nächtliche Bettgespräch, in dem Kriemhild Etzel ihre wahre Intention verheimlicht (vgl. NL 1397-1404), lässt sich somit als eine negative Verkehrung von Gotelinds und Rüdigers Dialog interpretieren.
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Rüdiger wird einerseits vor allen Gefolgsleuten ausgezeichnet, andererseits ist er dem Hunnenkönig als Vasall zu Diensten verpflichtet.
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der Erzähler an späterer Stelle aufgreift (vgl. NL 1275,1). Selbst wenn Hagens Schönheitspreis als lobende Anerkennung des Ehemanns verstanden werden kann, ist diese Formulierung ungewöhnlich. Rüdiger wird über seine Zugehörigkeit zu Gotelind definiert. Bei Kriemhilds Einzug ins Hunnenreich werden zuerst die Frauen von Bechelaren mit ihrer neuen Herrin zusammengeführt. Wie von Rüdiger erbeten, reitet Gotelind der Königin mit ihren Gefolgsleuten entgegen. Die Begegnung der beiden Frauen ist detailliert gestaltet und steht in paradigmatischer Beziehung zu Brünhilds Ankunft in Worms und ihrer Begrüßung durch Kriemhild. Erneut übernimmt Gotelind wichtige höfische Herrschafts- und Repräsentationsaufgaben. Als die höchste geistliche Instanz der erzählten Welt, Bischof Pilgrim, die beiden Damen einander vorstellt, erscheint ihre hierarchische Differenz nivelliert. Kriemhild lässt sich sofort aus dem Sattel heben, um der Markgräfin auf Augenhöhe zu begegnen, und begrüßt sie mit einem Kuss. Während Kriemhilds fremde Herkunft mit der Bezeichnung diu ellende (NL 1309,4: »die Fremde«) hervorgehoben wird, tritt Gotelind als Vertreterin des Reiches auf. Sie heißt ihre lieb[e] vrouwe (NL 1310,2: »liebe Herrin«) vil minneclichen (NL 1310,1: »sehr liebenswürdig«) in disen landen (NL 1310,3: »hierzulande«) willkommen. Kriemhild wiederum würdigt die adlige Abstammung ihrer Gesprächspartnerin: vil edeliu Gotelind (NL 1311,1: »edle Gotelind«). Die beiden Damen lassen sich gemeinsam nieder und werden schnell miteinander vertraut: si gewunnen maniger künde, di in vil vremede wâren ê (NL 1312,4: »die sich vorher fremd gewesen waren, lernten jetzt einander kennen«). Wie der Markgraf ehrenvoll von den Burgunden aufgenommen worden ist, begegnen Kriemhild und Gotelind einander freundlich und respektvoll. In Bechelaren, wo bereits diverse Vorbereitungen getroffen wurden (vgl. NL 1297,2; 1314,2), tritt auch Rüdigers Tochter in Erscheinung. Im Gegensatz zu ihrer Mutter darf sie den väterlichen Hof nicht verlassen und ist an den Repräsentationsaufgaben nur punktuell beteiligt. Das Hierarchieverhältnis zwischen der Königin und den Frauen von Bechelaren ist differenziert gezeichnet, wie sich an der Vergabe von Geschenken ablesen lässt.8 Kriemhild beschenkt nur die Tochter mit zwölf rotgoldenen Armreifen und ihrem besten Kleid, wohingegen Gotelind die Gäste mit Edelsteinen und Geschenken ehrt. Die beiden Damen erscheinen in ihrem freigebigen Verhalten gleichgestellt, obwohl sich die Markgräfin Kriemhild verbal unterordnet und ihr getriuwerliche[n] dienest (NL 1322,3: »treue Dienste«) anbietet. Deutlich stärker wird der Statusunterschied zwischen der Königin und Rüdigers Tochter herausgestellt. Nach Gotelinds Treueversprechen folgt die junge Markgrä8
Zur Logik des Gabentauschs allgemein vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1968; Oswald, Marion: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004.
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fin dem Beispiel der Mutter. Sie äußert den Wunsch, Kriemhild ins Land der Hunnen zu folgen und ihr als Hofdame dienen zu dürfen: Si sprach zer küneginne: ›swenne iuch nu dunket guot, ich weiz wol, daz iz gerne mîn lieber vater tuot, daz er mich zuo ziu sendet in der Hiunen lant.‹ daz si ir getriuwe wære, vil wol daz Kriemhilt ervant. (NL 1323) »Diese sagte zur Königin: ›Ich weiß wohl, dass mein lieber Vater mich gerne zu Euch ins Land der Hunnen schicken würde, wenn Ihr diesen Plan für gut haltet.‹ Kriemhild bemerkte sofort, dass sie ihr treu ergeben war.«
Die Dienstbereitschaft der jungen Markgräfin bleibt von einer doppelten Zustimmung abhängig; sowohl Kriemhild als auch ihr Vater müssen diesen Plan gutheißen. Da Rüdiger stets jeden Wunsch zu erfüllen sucht und er der hunnischen Königin besonders verpflichtet ist, kann seine Tochter mit einer Einwilligung rechnen. Konsequenzen zieht ihr Ergebenheitsversprechen jedoch nicht nach sich. Sie bleibt weiterhin in der Obhut ihrer Mutter und am Hof in Bechelaren, während Rüdiger Kriemhild zu Etzel geleitet, ihr seine rühmlichen Recken vorstellt und sie in die hunnische Gesellschaft einführt. Die einzige Aktion, die die junge Markgräfin initiiert, bleibt wirkungslos. b) Der Aufenthalt der Burgunden in Bechelaren: Männliche Dominanz Die Frauen von Bechelaren geraten erst wieder in den Blick, als Etzel die Burgunden im dreizehnten Jahr nach seiner Eheschließung an den Hunnenhof einlädt.9 Rüdiger bittet erneut seine Frau um einen höfischen Empfang und erteilt genaue Anweisungen, wen sie und ihre Tochter mit einem Begrüßungskuss auszeichnen sollen. Zwei Strophen lang richtet der Erzähler den Fokus auf die Damen, die sich mit prächtigen Kleidern herausputzen und frisieren, bevor er sich – mit betonter Diskretion – wieder den männlichen Akteuren zuwendet: In solhen unmuozen sul wir di vrouwen lân (NL 1652,1: »In diesen eifrigen Vorbereitungen werden wir die Damen jetzt verlassen«). Durch die weibliche Schönheitspflege ist die Begrüßungsszene, die aus der Perspektive der burgundischen Ritter geschildert wird, schon
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Schon Etzels Boten treten bei ihrer Reise mit den Bechelarnern in Kontakt. Rüdiger, Gotelind und ihre Tochter lassen Grüße an den Rhein ausrichten (vgl. NL 1421-1423), und das Markgrafenpaar reagiert mit großer Freude, als es vom baldigen Kommen der Wormser hört (vgl. NL 1493).
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vorab erotisch aufgeladen.10 Die Schönheit der jungen Markgräfin und ihrer Begleiterinnen, deren Schmuck, Gewänder und Edelsteine funkeln, beeindruckt die Gäste. Die Konnotation des Empfangs verschiebt sich vom rituellen Akt zum erotischen Erlebnis, indem nur Rüdigers Tochter, nicht aber seine Frau, beim Küssen der Helden dargestellt wird. Von außen betrachtet weist die junge Markgräfin typische Minnesymptome auf: gemischet wart ir varwe, bleich unde rôt (NL 1663,2: »Sie wurde dabei blass und rot.«). Die interne Fokalisierung legt jedoch offen, dass der Wechsel der Gesichtsfarbe durch einen negativen Affekt motiviert ist: Rüdigers Tochter fürchtet sich vor Hagen, doch hat sie keine Wahlmöglichkeit: Dô muoste si daz leisten, daz ir der wirt gebôt. (NL 1663,1: »Doch sie hatte das zu tun, was der Hausherr ihr befahl.«) Als sich das Geschehen ins Innere des Palasts verlagert, wird das Verhalten der jungen Frau weiterhin erotisiert. Ihre Verbindung zu Giselher wird dadurch vorbereitet, dass sie seine Hand ergreift, wohingegen ihre Mutter mit Gunther ein Paar bildet und ihr Vater Gernot in den Saal geleitet. Die Blicke der männlichen Besucher richten sich auf sämtliche Damen, haften aber vor allem an Rüdigers Tochter. Sie ist das begehrte Objekt, dessen sich die Betrachter imaginär bemächtigen: jâ trûtes in den sinnen vil manic ritter guot (NL 1666,3: »ja, in Gedanken liebten sie viele tüchtige Ritter«). Der Erzähler zeigt Verständnis für dieses erotische Gedankenspiel und betrachtet es als Zeichen besonderer Wertschätzung: daz konde ouch si verdienen. si was hôhe gemuot (NL 1666,4: »Das verdiente sie durchaus. Sie hatte eine edle Gesinnung«). In der Erzählrealität wird eine solche Annäherung freilich durch die höfischen Normen unterbunden. Ritter und Damen werden zum Ärger der Gäste getrennt zu Tisch gebeten.11 Nur Gotelind, die ihrer Tochter sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch hinsichtlich ihres Familienstandes überlegen ist, darf zu Ehren der Ritter bei dem Mahl zugegen sein. In Abwesenheit der jungen Frau beginnt der burgundische Spielmann mit einem Frauenpreis, der schnell an Ernsthaftigkeit gewinnt und in eine Ehevereinbarung mündet. Volker rühmt die Schönheit und die Tugendhaftigkeit der jungen Markgräfin, die selbst einem König als Gattin gezieme. Rüdiger steht diesem Lob kritisch gegenüber und beurteilt die Heiratschancen der jungen Frau ungeachtet ihrer körperlichen Attraktivität sehr skeptisch. Dô sprach der margrâve: ›wi möhte daz gesîn, daz immer künec gerte der lieben tohter mîn?
10 Auch die anschließende Erklärung des Erzählers trägt dazu bei, die körperlichen Reize herauszustellen: Gevelschet froun varwe vil lützel man dâ vant. (NL 1651,1: »Geschminkte Damen sah man da nicht.«) 11 Zur Bedeutung des Essens als Merkmal sozialer Distinktion vgl. den Beitrag von Lisa Pychlau-Ezli in diesem Band.
218 | R EGINA T OEPFER wir sîn hi ellende, beide ich und mîn wîp. was hilfet grôziu schœne an der juncvrouwen lîp?‹ (1673) »Da antwortete der Markgraf: ›Wie könnte das sein, dass jemals ein König meine liebe Tochter zur Frau haben wollte? Meine Frau und ich sind hier Fremde. Was würde dann dem guten jungen Mädchen selbst große Schönheit helfen?‹«
Der Markgraf bezeichnet sich und seine Gattin als fremd und heimatlos. Er gehört nicht von Geburt an zum hunnischen Herrschaftsverband, sondern aufgrund der Gnade Etzels. Die Burgunden schlagen diesen Einwand jedoch aus und sehen über die ungleichen Machtverhältnisse hinweg. Um den Markgrafen zu ehren, konkretisieren sie das Lob seiner Tochter und raten, der jüngste Burgundenkönig möge sie heiraten. Bei der Absicherung dieser Ehevereinbarung wird Rüdigers defizitäre Position noch einmal handlungsrelevant. Aufgrund seiner sozialen Subordination ist er nicht in der Lage, seine Tochter mit einer angemessenen Mitgift auszustatten. Der Markgraf sucht dieses Defizit durch seine Dienste zu kompensieren und verpflichtet sich den Burgunden in ähnlicher Weise wie zuvor Etzel: sît ich der bürge niene hân, / sô sol ich iu mit triuwen immer wesen holt. (NL 1678,4-1679,1: »Da ich keine Burgen besitze, so werde ich Euch immer treu verbunden sein.«) Der Markgraf verfolgt mit seiner Tochter also andere Pläne, als sie selbst wünschte. Statt zu Kriemhild an den Hunnenhof will er sie an Giselhers Seite nach Worms schicken. Dem von den männlichen Figuren ausgehandelten Ehekontrakt muss die junge Markgräfin zumindest noch zustimmen.12 Ihre ambivalenten Gefühle (ein teil was ez ir leit, NL 1681,2: »ihr [war] das ein wenig unangenehm«) relativiert der Erzähler als übliche mädchenhafte Scheu in Ehefragen. Die Möglichkeit, ihr Zögern als Indiz für einen eigenen Willen und den Widerstand gegen ihre Vereinnahmung zu deuten, wird sofort abgebogen. Der allwissende Erzähler stellt klar, dass die junge Markgräfin den stattlichen Mann eigentlich nehmen will, und auch die handlungsinterne Autoritätsperson macht ihren Einfluss geltend. Obwohl Rüdiger seiner Tochter rät, daz si spreche jâ / unt daz si in gerne naeme (NL 1682,1f.: »mit Ja zu antworten und ihn gern zu nehmen«), bleibt diese weiterhin eine Antwort schuldig. Stattdessen wird von Giselhers Initiative berichtet, der sehr schnell an ihrer Seite ist und sie mit seinen Händen umbeslôz (NL 1682,3: »umarmte«).13 Die Stimme der Braut findet bei der Zeremonie kein Gehör; für sie spricht der Brautvater und handelt der Bräutigam. Auch der Brautmutter wird kein Mitspracherecht 12 Damit wird die kirchenrechtliche Forderung, eine Eheschließung müsse auf einem Konsens der Brautleute beruhen, formal erfüllt. Zum Ehekonsens vgl. Weigand, Rudolf: Liebe und Ehe im Mittelalter, Goldbach 1993, S. 59-61. 13 Die Besitz ergreifende Implikation dieser Geste kommt in Grosses Übersetzung kaum zum Ausdruck.
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eingeräumt. Rüdiger sichert den Gästen seine Tochter zu, ohne dass Gotelind je in die Heiratspläne einbezogen worden ist. Im Verhältnis der Geschlechter dominieren eindeutig die Männer, die Ehepolitik betreiben und die Muntgewalt übertragen. Die ungleichen Machtverhältnisse zwischen männlichen und weiblichen Figuren werden beim abschließenden Gabentausch noch einmal vor Augen geführt. Der Markgraf darf sich als großzügiger Spender erweisen, und die burgundischen Könige ehren ihn durch die Annahme seiner Geschenke. Rüdigers Tochter wird dabei den materiellen Gaben gleichgeordnet. Der Erzähler rekapituliert, dass Rüdiger Giselher seine Tochter gegeben habe, bevor er von den Waffengeschenken für Gunther und Gernot berichtet.14 Da die junge Markgräfin durch das Heiratsversprechen in einen neuen Stand versetzt worden ist, darf sie die burgundischen Vasallen auch für den Aufenthalt am Hunnenhof ausstatten und beschenken. Sie überreicht Dankwart viele herrliche Kleider (vgl. NL 1700,3f.), während die Markgräfin Volker für seinen Gesang und Minnedienst mit zwölf Armreifen belohnt (vgl. NL 1702-1704). Ein Bruch des rituellen Gabentauschs zeichnet sich ab, als Gotelind Hagen ein ausgewähltes Geschenk überreichen will. Der Erzähler betont ausdrücklich, dass ihr Handeln dem höfischen Verhaltenskodex entspricht: als ir vil wol gezam (NL 1694,1: »wie ihr das zukam«). Hagens männliche Überlegenheit setzt die ständische Hierarchie jedoch außer Kraft. Der Vasall weist die minnecelichen gâbe (NL 1694,2: »liebevoll ausgesuchtes Geschenk«) der Schwiegermutter des Königssohns zurück und verlangt stattdessen etwas anderes. Diese Kränkung wird auf den geforderten Schild projiziert, aber Gotelinds Weinen auf andere Weise legitimiert. Die Markgräfin selbst erklärt ihre Tränen mit der Trauer um den früheren Besitzer, dessen Tod ihr armem wîbe (NL 1697,4: »arme Frau«) stets Schmerzen bereite. Schon hier nimmt Gotelind die Position einer unglücklichen Hinterbliebenen ein, so dass Rüdigers Tod in ihrer Schildgabe an Hagen antizipiert wird. Zugleich beweist die Markgräfin eine ebenso große Freigebigkeit wie später ihr Mann, indem sie Hagen den Schild bereitwillig übergibt. Als Rüdiger mitsamt seinen Gästen zum Hunnenhof aufbricht, bleiben seine Frauen in Bechelaren zurück. Beim Abschied beginnen die Damen – im Unterschied zu Rüdigers früheren Reisen – zu weinen. Der Erzähler weist ausdrücklich auf den zeichenhaften Charakter dieser Tränen hin: Ich wæn, ir herze in sagete diu krefteclichen leit (NL 1708,3: »Ich glaube, im Stillen ahnten sie das furchbare Leid«). Aufgrund ihres früheren Ergebenheitsversprechens gegenüber Kriemhild besäße die junge Markgräfin grundsätzlich das Potential, in einen ähnlichen Konflikt wie ihr Vater zu geraten, doch wird die Geschichte nicht aus ihrer Perspektive erzählt. Der Fokus bleibt auf Rüdiger gerichtet, der die Raumgrenzen zwischen Burgund, Bechelaren und dem Hunnenhof mühelos überschreiten kann. Mit dem 14 Zu Rüdigers milte und der Ambivalenz seiner Gaben vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 352f.
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antizipierten Leid endet der Auftritt der Frauen von Bechelaren in der nibelungischen Welt. c) Der Aufenthalt der Burgunden an Etzels Hof: Die Exklusion von Rüdigers Tochter Während in der 27. Aventiure ständische und ethnische Dominanzverhältnisse außer Kraft gesetzt erscheinen, gewinnen sie am Hunnenhof zunehmend an Bedeutung. Die Inklusion der Markgrafenfamilie in den burgundischen Herrschaftsverband ist nicht von Dauer, weil Rüdiger seine Treuepflicht als hunnischer Lehnsmann erfüllen muss. Der Vorwurf eines namenlosen Hunnen legt die Problematik seines Verhaltens offen (vgl. NL 2135-2137): Etzels mächtigster Vasall darf seinem Herrn in der Notsituation nicht die Gefolgschaft verweigern, selbst wenn er gegen Freunde kämpfen muss, denen er Gastfreundschaft gewährt, seine Tochter versprochen und Geleitschutz geboten hat. Der Ansatz der historischen Intersektionalitätsforschung ermöglicht es, die Ursachen für Rüdigers Konflikt genauer zu bestimmen. Während andere Vasallen der nibelungischen Welt wie Hagen und Volker ihren Herren bedenkenlos dienen, überlagert sich die ständische Komponente bei Rüdiger mit der seiner Herkunft. Rüdigers nichthunnische Abstammung findet in seiner Selbstbezeichnung als ellender Ausdruck. Dies bietet den Ansatzpunkt für seine spätere rassisierende Markierung in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen.15
15 Robert Bartlett (Bartlett, Robert: The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change 950-1350, Princeton 1993, S. 197) stellt heraus, dass im Mittelalter die ethnische Identität durch kulturelle Merkmale bestimmt wurde: »It is worth stressing at the outset that, while the language of race – gens, natio, ›blood‹, ›stock‹, etc. – is biological, its medieval reality was almost entirely cultural.« Im Rückgriff auf einen Brief des Abts Regino von Prüm führt Bartlett vier Kategorien an, die nach mittelalterlicher Vorstellung zur Ausbildung von nationes führen und für die Zugehörigkeit zum Kollektiv entscheidend sind: Abkunft, Bräuche, Sprache und Gesetzgebung (genus, mores, lingua, leges). Nur die erste Kategorie ist für die Rüdiger-Handlung relevant, während der Markgraf sich problemlos mit Hunnen und Burgunden verständigen kann und deren Sitten und Gesetze kennt. – Zu den Unterschieden zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen ›Rasse‹-Diskurs vgl. auch Bartlett, Robert: »Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity«, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), S. 39-56; Hahn, Thomas: »The Difference the Middle Ages Makes: Color and Race before the Modern World«, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), S. 1-37; Schausten, Monika: Suche nach Identität. Das ›Eigene‹ und das ›Andere‹
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Weil Etzel den Nachteil, der Rüdiger aus seiner Exilsituation erwächst, durch ein Lehen ausgeglichen hat, ist ihm der Markgraf einerseits besonders verpflichtet. Andererseits identifiziert sich Rüdiger nur zögerlich mit dem hunnischen Herrschaftsverband. Aufgrund seiner ethnischen Differenz verbindet er sich überhaupt mit den Burgunden. Seine Unterordnung unter den Hunnenkönig verhindert jedoch zugleich eine vollständige Inklusion in den burgundischen Personenverband. Etzel erkennt Rüdigers doppelseitige Bindung nicht an, sondern pocht auf die Erfüllung der Lehnspflicht. Wäre der Markgraf nur aufgrund entweder seines Standes oder seiner Herkunft subordiniert, würde er nicht in eine vergleichbar schwierige Lage gelangen. Eine der beiden Ungleichheitsdimensionen ließe sich durch sein vorbildliches Verhalten und die Wertschätzung seiner Bündnispartner überwinden. Die Überkreuzung beider Kategorien führt jedoch dazu, dass Rüdiger isoliert ist und sich seine prekäre Situation von der anderer Figuren der nibelungischen Welt deutlich unterscheidet. Rüdiger hat keine Möglichkeit, eine eigene Entscheidung zu treffen, sondern wird durch die innertextuellen Machtverhältnisse zum Kampf gezwungen.16 Noch problematischer stellt sich die Konstellation für die Frauen von Bechelaren dar. Der Markgraf weiß genau, dass sich sein unvermeidlicher Tod für die ganze Familie negativ auswirken wird. Daher kann er Etzel nur darum bitten, seine Schutzverpflichtung als Lehnsherr auch gegenüber seinen Hinterbliebenen wahrzunehmen: […] ich bevilh iu ûf genâde mîn wîp unde mîniu kint / und ouch di vil ellenden, die dâ ze Bechelâren sint. (NL 2161,3f.: »Eurer Fürsorge empfehle ich meine Frau und Kinder und die vielen fremden Gefolgsleute, die sich in Bechelaren befinden.«) Dass die ständischen und ethnischen Ungleichheitskategorien seine Tochter in gesteigerter Weise betreffen, zeigt auch Rüdigers letzter Dialog mit Giselher. Der Markgraf bittet seinen Schwiegersohn, die junge Frau nicht für das Verhalten ihres Vaters büßen zu lassen. Doch dieser Wunsch erweist sich als utopisch, wie Giselher klarstellt: Wenn Rüdiger einen seiner Verwandten töte, […] sô muoz gescheiden sîn / diu vil stæte vriuntschaft zuo dir und ouch der tohter dîn. (NL 2188,3f.: »[…] so muss das feste verwandtschaftliche Verhältnis zu Dir und auch Deiner Tochter gelöst sein.«) Schon in der Wortwahl macht Giselher deutlich, dass seine Verbindung zu der jungen Markgräfin über ihren Vater verläuft. Er erwähnt Rüdiger an erster Stelle und distanziert sich verbal von seiner Verlobten, indem er sie als Rüdigers Tochter, in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 87-99. 16 In der Forschung wurde Rüdiger vorgehalten, sich nicht für das Exil und ein gottgefälliges Leben in Mittellosigkeit entschieden zu haben. Diese Kritik verkennt, dass Rüdiger nicht in die Fremde gehen kann, weil er schon in der Fremde ist. Vgl. Hoffmann, Werner: Nibelungenlied, München 21974, S. 47.
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nicht aber als seine künftige Frau adressiert. Sowohl inhaltlich als auch rhetorisch kommt diese Aussage einer Aufkündigung des Eheversprechens gleich. Ohne ihr Zutun wird die junge Markgräfin aus dem burgundischen Personenverband ausgeschlossen. Bei ihr sind Stand, Herkunft und Geschlecht untrennbar miteinander verwoben: Weil ihre Eltern ellende sind und der Vater seine Lehnspflicht erfüllen muss, verliert sie ihren neuerworbenen Status und wird aus der privilegierten Gruppe ausgeschlossen. Als unverheiratete Frau ohne Erbland besitzt die junge Markgräfin keine Möglichkeit, selbst zu agieren und ihre Marginalisierung zu verhindern. Erzählt werden die Auswirkungen von Rüdigers Tod auf Gotelind und ihre Tochter erst in der Nibelungenklage.17 Im Epos werden die Frauen mit Rüdigers Abreise aus Bechelaren unsichtbar und unhörbar; sie dürfen nicht einmal in die Totenklage um den Markgrafen einstimmen.
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UND
a) Rüdiger im Exil: Die Rassisierung des Markgrafen Die verschiedenen Ungleichheitskategorien wirken auch in den modernen Bearbeitungen des Nibelungenstoffs aufeinander ein. Thea von Harbou und Fritz Lang greifen die im Nibelungenlied verhandelten Hierarchien auf, verstärken sie und setzen neue Akzente.18 Zwar weisen das Nibelungenbuch aus dem Jahr 1923 und der Nibelungenfilm aus dem Jahr 1924 insgesamt auffällige genderspezifische Differenzen auf. Die Autorin verleiht weiblichen Figuren weit häufiger eine Stimme und gesteht Kriemhild gar die Deutungshoheit über Siegfrieds Leben und Tod zu, indem sie die Geschichte von ihr auf intradiegetischer Ebene erzählen lässt.19 Doch in der Dar-
17 Gotelind ist ohne ihren Mann nicht lebensfähig und stirbt an Kummer. Ihre Tochter ist dagegen durch eine neue Ehe in ein patriarchales System integrierbar. Sie kann weiterleben, weil Dietrich von Bern verspricht, ihr einen anderen Mann zu suchen. Vgl. Die Nibelungenklage. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Einführung, neuhochdeutsche Übersetzung und Kommentar von Elisabeth Lienert, Paderborn u.a. 2000, V. 4207-4294, vgl. auch V. 2796-3286. 18 Kiening/Herberichs bescheinigen Lang ein ambivalentes Verhältnis zum Epos, das gleichzeitig evoziert, reproduziert und überschrieben werde. Vgl. Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang: Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226, hier S. 200f. 19 Rüdiger wird dadurch zu einer Hauptfigur und zum ersten Rezipienten der Nibelungenerzählung.
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stellung der Frauen von Bechelaren unterscheiden sich die beiden modernen Werke weniger stark, weshalb sie im Folgenden gemeinsam behandelt werden. Die Kategorie der Herkunft, die im Nibelungenlied nur Rüdigers Fremdheit kennzeichnet und keine biologistischen Implikationen besitzt, wird im Nibelungenfilm rassisierend markiert.20 Ausschlaggebend für diese Veränderung ist Langs Entscheidung, die nibelungische Erzählwelt in vier gegensätzliche Welten aufzuteilen und diese miteinander zu kontrastieren. Im ersten Teil des Filmes werden die Welten Siegfrieds und Brunhilds der höfischen Welt in Worms gegenübergestellt, die Lang als »die Welt einer schon überfeinerten Kultur« charakterisiert. In dem für die Rüdiger-Handlung relevanten zweiten Teil, Kriemhilds Rache, verlagert sich das Geschehen von Worms in die »Welt der Hunnen und Etzels, des Asiaten«. Rückblickend hebt der Regisseur hervor, wie wichtig der Entwurf verschiedener Welten für seine Gesamtkonzeption gewesen sei: »Die Schicksale dieser Menschen aus ihren Ursprüngen her zu erklären und notwendig erscheinen zu lassen […] – darauf kam es mir an.«21 Damit erklärt Lang die rassisierende Dimension, die schon von Harbou in ihrem Nibelungenbuch überbetont22, zu einem Leitmotiv seiner Inszenierung. Für Rüdiger und die Frauen von Bechelaren muss diese anthropologische Konzeption gravierende Konsequenzen haben. Während sich die Herkunft im mittelalterlichen Epos auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Herrschaftsgebiet bezieht, wird die Abstammung in den modernen Werken mit Elementen ethnischer 20 Zu rassisierenden Mustern in Langs Film vgl. den Beitrag von B. Michaelis in diesem Band sowie Hackfurth, Jörg: »Ein deutsches Nibelungen-Triptychon. Die Nibelungenfilme und der Deutschen Not«, in: Komparatistik Online 4 (2009), S. 39-62, hier S. 53f.; Seibert, Peter: »Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten. Masseninszenierungen in Fritz Langs ›Nibelungen‹«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/Zoltán Szendi (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 187-196, hier S. 195; See, Klaus von: »›Dem deutschen Volke zu Eigen‹. Fritz Langs Nibelungenfilm von 1924«, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 115-132, hier S. 128. 21 Lang, Fritz: »Worauf es beim Nibelungen-Film ankam«, in: Fred Gehler/Ullrich Kasten (Hg.), Fritz Lang: Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 170-174, hier S. 171f. 22 Die Autorin kontrastiert die Lebensweisen von Burgunden und Hunnen in aller Schärfe, indem sie die »weiße« Kriemhild strahlend aus der »gelbe[n]«, »verzottelten«, »grunzend[en]« Menge »von besoffenen Weibern und rülpsenden Männern« emporragen (NB 146) lässt. Während die Blicke der Hunnen an ihr »wie saugende Tiere« hängen, erscheint ihr »weiße[s] Antlitz« Etzel unerreichbar und »fern, von der ewigen Ferne der wolkennachbarlichen Gipfel« (NB 151). Die Distanz zwischen Kriemhild und den Hunnen erscheint so groß, dass sie wie eine Göttin verehrt wird: »Kriemhild hieß: Weltanfang. Kriemhild: Ziel, Begnadigung, Gottheit!« (NB 173)
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Zugehörigkeit aufgeladen. Der vorbildliche höfische Held des Epos ist in den modernen Bearbeitungen einerseits einer Welt zugeordnet, die als minderwertig aufgefasst wird. Andererseits kommt ihm aufgrund seiner Verbindungen zu den Burgunden eine privilegierte Stellung unter den Hunnen zu. Thea von Harbou stellt den Markgrafen gleich zu Beginn ihres Romans als einen Grenzgänger zwischen den Welten dar. Sie führt ihn als Etzels Vertrauten ein, mit dem sich der schlaflose Hunnenkönig nachts im Lager unterhält. Das Motiv des nächtlichen Bettgesprächs zwischen dem Markgrafenpaar wird in veränderter Besetzung inszeniert, so dass das Nahverhältnis zwischen dem »Herrn der Erde« (NB 19) und »Herrn Etzels Freund« (NB 8, 11) ersichtlich wird. Diese Figurenkonstellation wird bei Rüdigers Aufenthalt in Worms gespiegelt. Auch für Kriemhild wird Rüdiger zur wichtigsten Vertrauensperson; er verbringt mit ihr eine ganze Nacht, um die traurige Geschichte ihrer Liebespassion anzuhören. Verbunden ist der Markgraf mit Kriemhild und den Burgunden zudem in religiöser Hinsicht. Ausdrücklich thematisiert von Harbou, dass sich Rüdiger – im Gegensatz zu Etzel – zum Christentum bekennt (vgl. NB 10). In allen Aspekten weltlicher Herrschaft ist der Markgraf dagegen auf den Hunnenkönig bezogen, als dessen Bote er sich stets präsentiert. Fritz Lang markiert Rüdigers besondere Position durch Kostüm, Frisur und Maske. In seinem Aussehen und mit seiner Kleidung unterscheidet er sich nur geringfügig von den Wormser Burgbewohnern. Im Unterschied zu ihnen trägt er kein langes, mit Verzierungen besticktes Kleid, sondern ein mit einer Vielzahl von großen Pailletten versehenes Gewand, die kleinen Schilden ähneln.23 Die so entstehende Ornamentik verbindet Rüdiger optisch mit den Burgunden und hebt ihn von seinen hunnischen Begleitern ab, die in Fell und Pelz gehüllt sind (Abb. 1).24 Solange Rüdiger sich am burgundischen Hof aufhält, definiert er sich über seinen sozialen Status und ist die rassisierende Komponente kaum von Belang. Nur seine Frisur passt wenig zu den geordneten Verhältnissen am Wormser Hof; das dunkle und strähnige Haar fällt wirr auf seine Schultern.25 Dem Entwurf gegensätzlicher Welten entsprechend, geleitet Rüdiger Kriemhild nicht wie im Epos von einem höfischen Kulturraum zu einem anderen, vielmehr führt er sie in eine fremde, schmut-
23 Das Motiv der Schildgabe wird auf diese Weise aufgenommen und in einen Selbstschutz Rüdigers umgewandelt, der durch die Vielzahl der Stücke zugleich zersplittert erscheint. 24 Zur Ornamentik vgl. C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 211-213. 25 Zu Haarfarbe, Haltung und Blick als »semantisierte ›Körperzeichen‹« vgl. Tischel, Alexandra: »›Ihr kennt die deutsche Treue nicht, Herr Etzel‹ – Nation und Geschlecht in Thea von Harbous ›Nibelungenbuch‹«, in: Kai Röttger/Heike Paul (Hg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung, Berlin 1999, S. 264–284, hier S. 268.
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zige und primitive Welt ein.26 Statt Etzels ruhmvolle Recken vorzustellen, müssen aufgeregte Gaffer aus dem Saal geworfen werden. Das Gewimmel von Menschen, deren Masse ebenso wie ihre Geschwindigkeit beeindruckt, stellt einen wirksamen Kontrast zum steifen burgundischen Zeremoniell dar.27 Rüdigers ständische Subordination und seine ethnische Zugehörigkeit zur Hunnenwelt werden daran ersichtlich, dass Etzel ihn für seine Dienste großzügig belohnt: »Wähle Dir ein Königreich aus meinen Landen, Rüdiger, zum Dank für diese Frau.« (NFD II 00:35:37) Ergeben neigt der Markgraf vor seinem Herrn das Haupt (Abb. 2). Nicht seine Exilsituation führt im weiteren Handlungsverlauf zu einer wachsenden Diskriminierung, sondern seine Zuordnung zum Hunnenkönig, dessen Rassisierung auf Rüdiger abzufärben scheint.
Abb. 1: Rüdiger in Worms (NF II 00:23:32)
Wie problematisch die doppelseitige Bindung für den Markgrafen ist, kann in einem narrativen Text leichter verbalisiert werden als in einem Stummfilm mit eingeblendeten Zwischentiteln. Von Harbous allwissende Erzählinstanz gibt bei Kriemhilds Empfang am Hunnenhof einen Einblick in Rüdigers Gefühlsleben. Weil er beiden Figuren von Herzen zugetan ist, schmerzt ihn der Anblick von Etzels körperlicher Annäherung an Kriemhild (vgl. NB 153f.). Die ambivalenten Gefühle, die 26 Zum Kontrast beider Sphären vgl. auch C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 214f.; P. Seibert: Masseninszenierungen, S. 191-194. 27 Nach Ansicht P. Seiberts (Masseninszenierungen, S. 195) lassen sich vor allem die Auftritte der Hunnen als Dokument eines »ausgeprägten Rassismus« lesen. Die »These vom bedrohlichen ›Untermenschentum‹« werde »gerade durch sein massenhaftes, epidemisches, die Räume überschwemmendes Auftreten« greifbar.
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Gotelind im Epos angesichts von Etzels Brautwerbung empfunden hat, werden im Nibelungenbuch an späterer Stelle erwähnt und auf Rüdiger übertragen. Diese Inszenierungsstrategie ist charakteristisch für die Umgangsweise der modernen Adaptationen mit den Frauen von Bechelaren. Ihre Handlungsanteile sind im Vergleich zum Nibelungenlied deutlich reduziert; zwar werden einige Elemente aus der Geschichte der Markgräfin und ihrer Tochter beibehalten, doch mehrfach anderen Figuren zugeschrieben.28
Abb. 2: Rüdiger und Etzel (NF II 00:36:00)
b) Bechelaren im Fokus: Die Eliminierung der Markgräfin Im Nibelungenbuch treten die Frauen von Bechelaren bemerkenswerterweise nie selbst in Erscheinung; nur in den Reden anderer Figuren wird von ihnen berichtet. Bereits in der ersten Episode lenkt der ruhelose Hunnenkönig die Aufmerksamkeit 28 So wechselt im Nibelungenbuch Giselher statt der jungen Markgräfin bei der Begegnung mit einem männlichen Helden die Gesichtsfarbe. Thea von Harbou beschreibt die Faszination, die Dietrich von Bern auf Giselher ausübt: »Wenn seine mächtigen, trauergewaltigen Augen Giselhers Knabengesicht streiften, überlief es sich mit Scharlach. Heldenanbetung lag dem Königsknaben im Blute.« (NB 179) Auf eine männliche Figur übertragen wird in Buch und Film auch die Separation bei Tisch. Während im Epos die junge Markgräfin von der Teilnahme am Essen mit den burgundischen Rittern ausgeschlossen wurde, darf Rüdiger in den modernen Werken nicht am Tisch der Könige Platz nehmen (vgl. NB 208). Aufgrund der Überkreuzung von ›race‹ und ›class‹ wird er degradiert und muss – im Unterschied zu den burgundischen Vasallen Volker und Hagen – am Nebentisch sitzen.
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auf Rüdigers Tochter, als er seine eigenen Verluste mit Rüdigers familiärer Situation kontrastiert: »Die mein Weib war, ist tot. Meine Söhne sind tot. Du hast eine Tochter; ich habe keine.« (NB 8) Wichtiger als eine Gemahlin ist aus Etzels Perspektive eine Tochter, die die Nachkommenschaft sichert. Somit wird schon früh das Motiv einer Vater-Kind-Beziehung eingeführt. Nur an einer einzigen Stelle wird im Nibelungenbuch der Markgräfin von Bechelaren gedacht: In Worms erkundigt sich Kriemhilds alte Mutter bei Rüdiger: »Ich hoffe, Eurer Gattin geht es gut, und was macht Dietlind, Eure zarte Tochter?« (NB 23) Die ungleiche Wertschätzung von Mutter und Tochter schlägt sich in Utes Fragestellung ebenso nieder wie im Gespräch zwischen Etzel und Rüdiger. Ein eigener Name wird der Markgräfin im Nibelungenbuch nicht zugebilligt, wohingegen Rüdigers Tochter namentlich bekannt ist und als jung und schützenswert charakterisiert wird. Im Nibelungenfilm, der sich auf die Haupthandlung konzentriert, findet Rüdigers Frau überhaupt keine Erwähnung. Zu erklären ist Gotelinds Marginalisierung mit dem Entwurf gegensätzlicher Welten, in denen kein Raum für eine höfische Parallelwelt innerhalb oder an den Grenzen des hunnischen Reiches bleibt. Daher verzichten von Harbou und Lang auf die Zwischenstationen in Bechelaren; sie können keine weibliche Vermittlerfigur zwischen beiden Welten gebrauchen. Damit entfallen alle höfischen Rituale, für die Gotelind im Epos verantwortlich war: Es werden keine Boten ausgestattet, keine Begrüßungsküsse verteilt und keine Geschenke gemacht. Statt die Hunnenkönigin an der Spitze einer weiblichen Machthierarchie zu installieren, erscheint Kriemhild in der Welt der hunnischen Krieger von Anfang an isoliert. Der Verzicht auf ihren Empfang durch die Damen in Bechelaren ist somit exemplarisch für die Enthöfisierung der hunnischen Welt.29 Ebenso wenig passt der Aufenthalt der Burgunden in Bechelaren zu der Kosmologie und Anthropologie der modernen Bearbeitungen des Nibelungenstoffs. Völlig ignorieren können die Autorin und der Regisseur diese Episode jedoch nicht, wenn sie den Konflikt des Markgrafen ausleuchten möchten. Thea von Harbou wählt dieselbe Strategie, mit der sie die Markgräfin in die Geschichte integrierte: Sie wechselt die Erzählebene und lässt Rüdiger von dem Heiratsversprechen in Bechelaren berichten. Auf der Reise zur Etzelburg bestätigt der Markgraf dem Helden Dietrich von Bern, dass das Gerücht von Dietlinds Verlobung mit Kriemhilds jüngstem Bruder wahr sei: »Als die Burgunden […] auf ihrem Zuge zu Bechlarn rasteten, fanden die beiden Kinder sich zueinander. Da ich sie beide liebe, bin ich in beiden glücklich, ungedenk der Ehre, die ich dadurch gewinne.« (NB 182) Anders als im Nibelungenlied wird die Verbindung der jungen Leute nicht als ein feudalpolitisches 29 Zwar lassen sich gewisse höfische Formen auch an der Etzelburg beobachten, doch werden diese übersteigert und ins Negative verkehrt. Vgl. auch C. Kiening/C. Herberichs: Die Nibelungen, S. 216.
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Ehebündnis interpretiert, sondern mit dem Konzept einer romantischen Liebe begründet. Die Verlobung, die für Rüdiger sowohl in emotionaler als auch in gesellschaftlicher Hinsicht vorteilhaft ist, geht auf den eigenen Wunsch der jungen Leute zurück.30 Die Zustimmung der Markgräfin ist im Nibelungenbuch ebenso wenig erforderlich wie im mittelhochdeutschen Epos, doch bleibt die Rolle von Dietlinds Mutter gänzlich unbesetzt. Zugleich wird die Beziehung zwischen Dietlind und Giselher zu einer Kinderminne stilisiert31, was den Markgrafen in die Lage versetzt, gegenüber beiden ›Kindern‹ väterliche Gefühle entwickeln zu können. Fritz Lang entscheidet sich ebenfalls dafür, den Besuch der Burgunden in der narrativen Brechung durch intradiegetische Erzähler darzustellen. Zwei halbnackte Hunnen berichten Kriemhild, dass sich die Ankunft der Reisenden verzögern wird: »Länger denn einen Mond verweilten Deine Brüder als Gäste Rüdigers zu Bechelarn.« (NF II 00:52:25) Filmisch in Szene gesetzt wird von dem gesamten Aufenthalt nur der Moment der Eheschließung. Indem die Hunnen das Geschehen Sängern in den Mund legen, wird es auf eine metadiegetische Ebene verlagert, was eine weitere Distanzierung zur Folge hat: »Die Spielleute singen ein neues Lied von der Liebe Giselhers, des jungen, und Rüdigers einzigem Kinde, Dietlind, der schönen!« (NF II 00:52:45) Wie im Nibelungenlied wird die Schönheit der jungen Frau hervorgehoben, wie im Nibelungenbuch erhält sie einen Namen und entspricht ihre Verbindung mit Giselher einer romantischen Liebesvorstellung. Geschlechtsneutral ist ihr Status als einzigartig markiert. Im Anschluss an diesen Zwischentitel blendet Lang die erzählte Hochzeit als fernes Geschehen ein (Abb. 3). Die Aufstellung der Anwesenden zeigt, dass beide Gruppen bei dem Ritual nicht wirklich verbunden sind. Die Burgunden stehen auf der rechten Seite, auf der linken befinden sich mehrere verhüllte Gestalten. Die sieben weiß verschleierten Frauen im Hintergrund sind dem Paar seitlich zugewandt, die drei von hinten gezeigten Figuren, die ebenfalls eine Kopfbedeckung tragen, betrachten das Geschehen frontal, aus der Perspektive des Betrachters. Während die burgundischen Helden klar zu identifizieren sind, weist keine der anderen Gestalten individuelle Züge auf. Die Figur der Markgräfin wird multipliziert, was mit einer Entpersonalisierung und Anonymisierung einhergeht. Gotelind erhält auch bei der Filmhochzeit ihrer Tochter weder eine Stimme noch ein Gesicht. Der Weitwinkel 30 Noch an zwei weiteren Stellen wird auf das Eheversprechen Bezug genommen, wobei der Anteil der männlichen Akteure stärker betont wird: Kriemhild kritisiert Rüdiger in ihrem ›Anti-Wiegenlied‹: »Schlecht beraten warst du, Bechelarner, als du Giselher und Dietlind bandest!« (NB 184) Hagen erinnert Volker daran, »[a]ls wir nach Bechlarn kamen und die zwei hübschen Kinder Dietlind und Giselher zusammengaben« (NB 196). 31 Dazu trägt auch Giselhers Charakterisierung durch den Erzähler bei: »Als seine Lippen den Mund von Rüdigers schönem Kinde berührten, waren sie aufgeblüht und schlossen sich nie mehr herb.« (NB 194)
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der Kameraführung verengt sich, so dass Rüdiger, Giselher und Dietlind in Nahaufnahme zu sehen sind (Abb. 4). Mit rassisierenden Merkmalen ist die junge Frau im Gegensatz zu anderen weiblichen Figuren der hunnischen Welt nicht gezeichnet. Vielmehr erinnert sie mit ihrer sittsamen Gestik an die heile Wormser Damenwelt aus dem ersten Teil des Nibelungenfilms. Mit ihrem sorgfältig frisierten blonden Haar wirkt sie wie eine weibliche Doublette Giselhers.
Abb. 3: Hochzeit in Bechelaren (NF II 00:53:07)
Abb. 4: Rüdiger als Priesters (NF II 0:53:53)
Der Markgraf nimmt die Position des Priesters ein, legt seine Stola über die Hände der jungen Leute und vereint sie mit den Worten: »So binde ich in Treue Bechelarn
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und Burgund: Ein Herz, Ein Leben, Ein Tod!« (NF II 00:53:41)32 Von der Liebe des Brautpaars und einer selbst gewählten Verbindung ist bei Rüdigers Trauspruch nicht mehr die Rede. Vielmehr betrachtet der Markgraf die Brautleute als Repräsentanten zweier Herrschaftsbereiche, deren Bündnis von Beginn an auf den Tod angelegt ist. Dass eine Eheschließung aufgrund ständischer oder ethnischer Differenzkriterien problematisch sein könnte, wird weder im Nibelungenbuch noch im Nibelungenfilm thematisiert. Zu ähnlich sind Dietlind und Giselher konzipiert. c) Kindsmord in der Hunnenburg: Die Marginalisierung Dietlinds Beim Ausbruch der Gewalt ignoriert der Markgraf zunächst die Machtstrukturen. Er verortet sich nicht auf der Seite der Hunnen, sondern ist um seinen Schwiegersohn besorgt. Thea von Harbou beschreibt im Nibelungenbuch Rüdigers Schmerz und Verzweiflung: »Er dachte nur Eines: die Kinder! Sein eigenes, Dietlind, die Schöne geheißen, und Giselher, der Knabe, der ihr lieb war.« (NB 233) Von den verschiedenen Gründen, die Rüdiger im Epos für seinen Kampfverzicht anführt, ist in den modernen Adaptationen nur das Heiratsmotiv relevant. Dreimal, im Gespräch mit Dietrich, Kriemhild und Etzel, betont Rüdiger die enge Beziehung, die er mit Giselher eingegangen ist. Während Thea von Harbou Dietlind als Verbindungsglied zwischen Rüdiger und Giselher präsent hält, reduziert Fritz Lang diese Dreieckskonstellation auf die männlich-homosozialen Partner. Im ersten Dialog mit Dietrich reflektiert der Markgraf nicht, was der Tod des Geliebten für seine Tochter bedeutet, sondern argumentiert mit den eigenen Gefühlen: »In Giselher stirbt mir das eigene Kind.« (NF II 01:32:04) Rüdigers verzweifelter Ausruf ist doppelt lesbar: das eigene Kind kann sich sowohl auf seine Tochter als auch auf seinen Schwiegersohn beziehen. Im Nibelungenbuch legt Rüdigers vorherige Sorge um Dietlind nahe, er fürchte, Giselhers Tod werde auch seine Tochter zerstören. Im Nibelungenfilm, in dem dieser Kontext fehlt, scheint sich die Bedeutung von Rüdigers einzigem Kind durch die Eheschließung zu verschieben. Dietlind dient als Mittel zum Zweck, eine persönliche Beziehung zwischen Rüdiger und dem Wormser Königssohn zu begründen. Die Tochter fungiert als Platzhalterin, bis Giselher die Position des geliebten Kindes übernimmt. Die unspezifische Geschlechtsbezeichnung »mein Kind«, die Rüdiger sowohl für Dietlind als auch für Giselher gebraucht, führt zu einer Angleichung und Überblen-
32 Die Szene steht in einem paradigmatischen Zusammenhang mit dem Ritual der Blutsbrüderschaft von Gunther und Siegfried im ersten Teil des Nibelungenfilms. Indem Rüdiger die Position Hagens einnimmt, wird auf seinen Mord an Giselher hingedeutet. – Zur Bedeutung von paradigmatischen Bildern im frühen Film vgl. allgemein Kiening, Christian: »Mittelalter im Film«, in: Kiening/Adolf: Mittelalter im Film, S. 3-101, hier S. 44.
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dung beider Figuren. Auch beim zweiten Dialog mit Kriemhild differenziert nur von Harbou zwischen Rüdigers einziger Tochter und seinem Schwiegersohn. Zwar bedeutet ihm dieser so viel wie ein eigenes Kind, doch wird die Differenz zwischen leiblicher und angeheirateter Verwandtschaft aufrechterhalten: »Herrin! Ich habe mein Kind, mein einziges Kind, Dietlind, die Schöne genannt – (wenn Ihr sie kenntet!) – ich habe mein Kind Eurem Bruder Giselher in feierlichem Verlöbnis anverlobt! Eure Brüder sind meine Sippen geworden! Giselher ist wie mein leiblicher Sohn! Soll ich hingehen und vor den eigenen Sippen, vor dem eigenen Sohn das Schwert hochreißen?« (NB 237)
Lang reduziert die Argumentation dagegen auf wenige Worte, wobei er den Anteil des Markgrafen an der Eheschließung ebenfalls herausstellt. Rüdiger ballt die Hände erst zu Fäusten und faltet sie dann bittend: »Mein einziges Kind verlobte ich Giselher!« (NF II 01:36:54) Die Szene der Eheschließung wird noch einmal eingeblendet und von Rüdiger gestisch imitiert, indem er beide Arme ineinander schlingt.33 Auf diese Weise macht er seinen eigenen Körper zum Schauplatz der Verbindung (Abb. 5). Die fehlende Anerkennung dieser Nahbeziehung stellt somit einen Angriff auf Rüdigers körperliche Integrität dar. Bei dem drittem Rechtfertigungsversuch inszeniert Lang Rüdigers Konflikt als ein Ringen um die (Un-)Möglichkeit väterlichen Handelns. Er kontrastiert den unglücklichen Markgrafen mit dem gebrochenen Hunnenkönig, der mit seinem toten Kind apathisch auf dem Thron sitzt. Sichtlich bewegt fällt Rüdiger vor Etzel auf die Knie (Abb. 6) und fleht34: »Herr! Zwingt mich nicht, mein eigenes Kind zu töten!« (NF II 01:38:03) Bei diesem Zwischentitel streicht Lang von Harbous Analogiebezug im Verwandtschaftsverhältnis und billigt Giselher so den Status eines eigenen Sohnes zu.35 Doch der König lässt Rüdigers Verbindung in die Wormser Welt ebenso wenig wie Kriemhild als Grund für einen Kampfverzicht gelten. Schwerer als Kriemhilds Worte wiegen Etzels Gesten. Er öffnet stumm die Arme, sodass Rüdiger den toten Hunnenprinzen erblicken muss. Der Markgraf erkennt, dass alle 33 Insofern Rüdigers Tochter nur in der Erzählung der Hunnen, im Lied der Spielleute und der Erinnerung ihres Vaters Gestalt annimmt, präsentiert sie Lang durchgehend als eine Wunschprojektion und Männerphantasie. 34 Dabei handelt es sich um eine Abwandlung der Pose aus dem Nibelungenlied, als das hunnische Königspaar vor Rüdiger kniet (vgl. NL 2149). Zur Macht dieses Rituals vgl. B. Hasebrink: Aporie, S. 12f. – K. von See (Langs Nibelungenfilm, S. 123) berücksichtigt diese Szene zu wenig, wenn er meint, dass Rüdiger im Film nicht zwischen Loyalitätspflichten schwanke, sondern unbeirrt zu seinem Treueschwur stehe. 35 Im Nibelungenbuch fleht Rüdiger: »[…] Herr Etzel! Giselher ist wie mein eigenes Kind! Zwingt mich nicht, Herr, mein eigenes Kind zu töten!« (NB 240)
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Bitten vergebens und seine Inklusionsbemühungen gescheitert sind. Nachdem der Sohn des Königs ermordet wurde, kann der Lehnsmann sein Kind nicht länger bewahren.
Abb. 5: Rüdiger und Kriemhild (NF II 01:37:11)
Abb. 6: Rüdigers Kniefall (NF II 01:38:02)
Rüdigers Auffassung von seiner Vaterschaft spiegelt sich in der Einstellung seines Schwiegersohns. Giselher reagiert froh und erleichtert, weil er glaubt, der Markgraf werde Frieden bringen. Im Nibelungenfilm wirft der jüngste Königssohn die Waffen zu Boden und eilt Rüdiger entgegen. Die offenen Arme lässt er jedoch erstarrt sinken, als er den Markgrafen in voller Rüstung erblickt. Die Kameraführung kontras-
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tiert die divergierenden Haltungen der Figuren in aller Schärfe. Giselhers ungläubige und Schreckens geweitete Augen werden in Nahaufnahme gezeigt36, bevor er die Frage formuliert: »Was bringst Du uns, Vater?« (NF II 01:39:58) Die Antwort Rüdigers, dessen Gesicht durch Helm und Schild abgeschirmt ist, bestürzt in ihrer lakonischen Kürze: »Den Tod« (NF II 01:40:07). In dem filmischen Dialog wird erneut nur das Nahverhältnis von Rüdiger und Giselher ausgeleuchtet, wohingegen Dietlind keine Erwähnung findet. Weder bittet der Markgraf Giselher, seine Tochter nicht zu verstoßen, noch findet sein Schwiegersohn noch Worte für die junge Frau. Thea von Harbou hält hingegen die Erinnerung an Rüdigers Tochter wach. Giselher wird über seine Verlobte auf Rüdiger bezogen; er reagiert entsetzt, weil »der Mann, den der Vaterlose als Vater liebte, – Dietlinds guter Vater – so freudloses Spiel trieb«. (NB 244) Die problematische Einseitigkeit dieser Beziehung veranschaulicht von Harbou, indem sie von der Liebe desjenigen spricht, der seinen Vater längst verloren hat. Nachdem die Rolle von Giselhers biologischem Erzeuger im gesamten Werk unbesetzt geblieben ist, findet nun seine Wahlkindschaft ein jähes Ende. Der junge Königssohn gibt sich mit Rüdigers Erklärung jedoch nicht zufrieden, sondern sucht im Nibelungenbuch noch einmal eine körperliche und verbale Annäherung: »Giselher drängte die Brüder heftig beiseite. Er trat vor Rüdiger hin. Er sah ihm in die Augen. Er legte die Knabenhände auf Rüdigers Schultern. ›Vater‹, sagte er stammelnd. Er versuchte zu lächeln. ›Vater…!‹« (NB 245) Auch im Nibelungenfilm versucht Giselher, seinen Schwiegervater noch einmal zu berühren, doch steht dessen Schild unüberwindbar zwischen ihnen. Mit seiner bloßen Hand bekommt der Königssohn nur das Eisen zu greifen, und Rüdiger unterbindet angestrengt jeden weiteren Blickkontakt (Abb. 7). Die gravierendste Abweichung zwischen dem mittelalterlichen Epos und den modernen Adaptationen betrifft das Ende der Handlung. Rüdiger verschenkt nicht selbstlos seinen Schild, er wird weder von Hagen noch von Volker verschont und er fällt auch nicht im Kampf mit Gernot. Stattdessen machen von Harbou und Lang den untadeligen Helden zum unfreiwilligen Kindsmörder. Als der Markgraf das Schwert gegen Hagen erhebt, wirft sich der unbewaffnete Giselher ihm entgegen. Rüdiger begeht damit selbst die Tat, vor der er sich am meisten gefürchtet hat. Da ihr Verhältnis zuvor als eine Vater-Sohn-Beziehung stilisiert worden ist, kann die Tötung als absoluter Tiefpunkt der Handlung gewertet werden. Die Kameraführung stellt das Entsetzliche dieses Mordes aus, indem sie den Fokus auf das sterbende Opfer richtet (Abb. 8). Giselher öffnet noch einmal, blutüberströmt und von seinen
36 Zur Blickregie als Mittel der Handlungsführung allgemein vgl. Kanzog, Klaus: »Der Weg der Nibelungen ins Kino. Fritz Langs Film-Alternative zu Hebbel und Wagner«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner ›Der Ring des Nibelungen‹, München 1987, S. 202-223, hier S. 214-217.
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Brüdern gestützt, die Augen, streckt die Arme aus und sinkt dann in sich zusammen.
Abb. 7: Giselher und Rüdiger (NF II 01:41:38)
Abb. 8: Giselhers Tod (NF II 01:42:27)
Thea von Harbou legt Rüdigers väterliches Versagen offen, indem sie ihm Giselhers Liebe im letzten Moment entzieht. Im Sterben, das Züge einer Apotheose trägt und einer Rückkehr zum glücklichen Ausgangsstadium gleicht, verschiebt sich Giselhers primäre Bezugsperson: »Noch schmaler, noch lichter wurde das Knabengesicht und wurde wieder Gesicht eines zärtlichen Kindes. Er lächelte. Er streckte die Arme aus. Er strahlte noch einmal auf. Er sagte: ›Mutter…?‹« (NB 246) Giselher
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stirbt nicht als Verlobter einer jungen Frau, sondern als schutzbedürftiges Kind. Nachdem Rüdiger sein Vertrauen grausam enttäuscht hat, wird das Bild des unbarmherzigen Vaters durch das der liebenden Mutter abgelöst. Welche Folgen Giselhers Tod für Dietlind hat, wird weder im Buch noch im Film thematisiert. Doch kommt Rüdigers Schwertschlag in erzählstruktureller Hinsicht einem doppelten Kindermord gleich. Nur in genealogischer Hinsicht stellt Dietlind das Verbindungsglied zwischen den beiden männlichen Figuren dar, wohingegen sie in narrativer Hinsicht von dem burgundischen Königssohn abhängig erscheint. Während die junge Markgräfin im Epos als eigenständige Figur mit einem begrenzten Handlungsspielraum in Erscheinung tritt, ist sie in den modernen Werken vollständig auf ihren Verlobten bezogen. Damit bildet Giselhers Verhältnis zu Rüdiger die notwendige Voraussetzung dafür, dass Dietlind überhaupt existieren kann. Dass der vater maneger tugende (NL 2199,4) mit der physischen Tötung bzw. der narrativen Eliminierung der Kinder seinen Anspruch auf allgemeine Wertschätzung verliert, schlägt sich in der Bildregie nieder. Während im Epos Hunnen, Amelungen und Burgunden um Rüdiger klagen, wird sein Tod im Film kaum registriert. Rüdiger erhält nicht viel mehr Aufmerksamkeit als die Vielzahl namenloser Hunnen, die wie Tiere abgeschlachtet werden.37 Die Kamera fängt kein Bild des toten Markgrafen ein, und auch das literarische Gedächtnis wird ihm verweigert. Seine Totenklage ist zu einer Hohnrede Hagens umgestaltet, der Kriemhild provozierend verkündet: »Freu dich deiner Rache, Kriemhild! […] Tot sind Rüdiger und die Seinen.« (NF II 01:45:01)
3. F AZIT Zusammenfassend erscheinen mir folgende Strategien für die Darstellung der Frauen von Bechelaren im Nibelungenlied, im Nibelungenbuch und im Nibelungenfilm charakteristisch: (1) Stand und Geschlecht: Die ständischen Verhältnisse werden im mittelhochdeutschen Epos genau differenziert, und zwar in geschlechtsspezifischer Weise. Wie Rüdiger von Etzel unter allen Gefolgsleuten ausgezeichnet wird, steht Gotelind an der Spitze der weiblichen Hierarchie im Hunnenreich und ist nur der jeweiligen
37 Die Todesdarstellung der Hunnen und der Burgunden unterscheiden sich signifikant, wie P. Seibert, (Masseninszenierungen, S. 195) betont. Während die Burgundenkönige einen »individuellen Tod sterben«, werden die Hunnen »in der Masse abgeschlachtet«, ohne eine Regung von ihnen einzufangen: »Noch im Sterben wird von der Kamera den Massenmenschen ein Subjektstatus verwehrt […]: Vorgeführt wird ein filmästhetisches Verfahren der De-Subjektivierung der Massen […].«
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Königin untergeordnet. Ihre unverheiratete Tochter hingegen ist in ihren Handlungen stark eingeschränkt. Das Modell männlicher Lehnsherrschaft spiegelt sich demnach in den weiblichen Machtstrukturen. Überlagern sich männliche und weibliche Herrschaftsbereiche, sind die Frauen minderprivilegiert, weshalb ein männlicher Vasall Gotelinds Geschenk ablehnen kann. Zudem hat die Markgräfin im Epos keinen Einfluss darauf, wen ihre Tochter heiraten soll. Die Entscheidungsgewalt besitzt der Vater, der auf diese Weise selbst eine Verbindung zu den Burgunden knüpft. In den modernen Werken ist die Kategorie ›class‹ zwar weniger bedeutend, doch bleibt Rüdigers ständische Subordination als Motiv für seinen Kampfeintritt unverzichtbar. Auf Dietlinds Heiratschancen wirkt sich die Stellung ihres Vaters nicht nachteilig aus. (2) Stand und Herkunft: Das ständische Ungleichgewicht genügt alleine nicht, um das Unglück der markgräflichen Familie zu begründen. Schließlich versucht im Nibelungenlied kein anderer Vasall, sich in einen konkurrierenden Herrschaftsverband einzugliedern. Weil Rüdiger nicht zum Hof Etzels gehört, sondern in der Fremde lebt, verbindet er sich überhaupt mit den Burgunden. Diese Konstellation führt zu einer Überkreuzung der ständischen und der ethnischen Subordination, die seine Situation zu einer singulären in der nibelungischen Welt macht. In den modernen Bearbeitungen wird die mittelalterliche Vorstellung von einer fremden Herkunft biologistisch interpretiert und rassisisiert. Die Konzeption gegensätzlicher Welten bewirkt signifikante Veränderungen im Handlungskonzept: Weil Rüdiger der unzivilisierten Welt der Hunnen zugeordnet ist, kann Bechelaren nur in Form einer Imagination filmisch eingeblendet und auf intradiegetischer Ebene dargestellt werden; in Etzels Reich ist kein Raum für eine höfische Parallelwelt. Aufgrund der strikten Scheidung der Welten kann sich Rüdiger nicht dauerhaft mit den Burgunden verbinden, obwohl er Giselher als eigenen Sohn betrachtet. Deutlichste Zeichen für Rüdigers Diskriminierung sind seine Präsentation als Kindsmörder und der Verzicht auf die Totenklage. (3) Herkunft und Geschlecht: Im Nibelungenlied beeinträchtigt Rüdigers Abstammung sein Verhältnis zu den Burgunden nicht. Diese betrachten den Markgrafen als Ihresgleichen, wollen ihn und seine Tochter in ihren Personenverband integrieren und akzeptieren eine Kompensationsleistung für die fehlende Mitgift. Für Rüdiger wird seine Fremdheit erst zum Problem, als er sich Etzels Forderung nicht entziehen und in keinen autonomen Herrschaftsbereich zurückkehren kann. Dass Rüdiger die Situation seiner Frauen als besonders prekär betrachtet, zeigt sich an seiner letzten Bitte an Etzel. Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen und ethnischen Benachteiligung benötigen sie den besonderen Schutz des Königs. Thea von Harbou und Fritz Lang kombinieren ›gender‹ und ›race‹ auf verschiedene Weise. Die Autorin entwirft ein binäres Modell von Elternschaft, das ›rassistisch‹ überformt ist. Sie setzt die gütige Mutter, die von der treuen Ute verkörpert wird und in der burgundischen Welt zu verorten ist, über den mordenden Vater aus der Welt der Hun-
D IE F RAUEN
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nen. Rüdigers ethnische Unterlegenheit wirkt sich im Nibelungenbuch nachteiliger aus als seine geschlechtsspezifische Überlegenheit. Der Regisseur verzichtet bei Dietlind auf jede körperliche Markierung ihrer Zugehörigkeit zur Hunnenwelt und inszeniert sie als ein weibliches Ebenbild Giselhers. Diese scheinbare Würdigung trägt jedoch implizit dazu bei, ›rassistische‹ Hierarchien zu bestätigen. Giselhers ethnische Überlegenheit verlangt, dass ihm seine Verlobte optisch entsprechen muss. (4) Stand, Herkunft und Geschlecht: Die Frauen von Bechelaren stehen im Kreuzungspunkt aller drei Ungleichheitskategorien, was zu einer gesteigerten Diskriminierung und ihrer fehlenden Sichtbarkeit führt. Von dieser Marginalisierung sind Dietlind und Gotelind in den drei Bearbeitungen in unterschiedlicher Weise betroffen.38 Im Nibelungenlied wird Rüdigers Tochter kein Einfluss auf ihre Verbindung zu Giselher eingeräumt. Die männlichen Figuren handeln einen Ehekontrakt aus, ohne dass die junge Markgräfin zu Wort kommt. Ebenso wenig kann sie sich vor ihrem Verlobten verteidigen und ihren Ausschluss aus dem burgundischen Personenverband verhindern. Die modernen Adaptationen gestehen Dietlind noch weniger Handlungsspielraum zu. Zwar erscheint sie implizit gegenüber ihrer mittelhochdeutschen Vorgängerin privilegiert, indem ihre Heirat mit Liebe begründet wird. Doch erhält Dietlind keine eigene Stimme und berichten nur die männlichen Figuren von einer Zuneigung zu Giselher. Die problematische Situation der jungen Frau am Ende der Schlacht wird in Buch und Film völlig ausgespart. Rüdigers Sorge gilt allein dem geliebten Sohn und der Destruktion der männlich-homosozialen Bindung. Auch ihr Verlobter widmet Dietlind vor seinem Tod keinen Gedanken mehr, sondern ist völlig auf seinen Schwiegervater fixiert. Zwischen Opferbereitschaft und Selbstmord schwankend, stürzt er sich in Rüdigers Schwert. Am negativsten wirkt sich von Harbous und Langs Verstärkung der Machtdifferenzen auf Gotelind aus. Für die Markgräfin bleibt im Nibelungenfilm aufgrund der rassisierenden Überformung der hunnischen Welt kein Platz mehr.39 Während sie im Epos Repräsentationsaufgaben übernimmt, Herrschaftspflichten erfüllt und großzügige Geschenke verteilt, tritt sie im Buch als Figur nicht in Erscheinung und gerät im Film nicht einmal in der Utopie von Bechelaren in den Blick. In Etzels Reich dominieren männliche Krieger, nur selten fokussiert die Kamera hunnische 38 Dies zeigt, dass Intersektionalitätsforschung stets kontextspezifisch und gegenstandsbezogen erfolgen muss, vgl. G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 15. 39 Die historische Intersektionalitätsforschung öffnet nicht nur den Blick für die Marginalisierung weiblicher Figuren in ›männlichen‹ Inszenierungen, sondern verbietet zugleich eine einseitige Würdigung einer ›weiblichen‹ Erzählperspektive. Der mutmaßlich männliche Dichter des Nibelungenlieds schenkt der Markgräfin weit mehr Aufmerksamkeit als die Autorin des Nibelungenbuchs. Diskriminierungsstrategien sind somit viel komplexer, als es ein binäres Geschlechtsmodell von Autorschaft erwarten lässt.
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Frauen – mit dem Ziel, ihre Nacktheit und Primitivität voyeuristisch auszuleuchten. Der höfische Dienst, den Volker Gotelind mit seinem Minnesang in Bechelaren leistet, ist der kosmologischen Konzeption der modernen Werke entsprechend auf eine andere Frau, eine andere Zeit und eine andere Welt verschoben: Volker singt im ersten Teil des Films vor Kriemhild und wird von ihr mit einer Gabe belohnt. Am Fehlen Gotelinds wird offensichtlich, dass die Überlagerung der Ungleichheitskategorien ›class‹, ›race‹ und ›gender‹ zu einer besonders schwerwiegenden Art der Benachteiligung führt. Die Markgräfin wird nicht nur marginalisiert, sondern vollständig eliminiert.
Siegfrieds Sichtbarkeit Der vestimentäre Code im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen A NDREAS K RASS
Die Intersektionalitätsforschung bedient sich zweier Metaphern, um ihre Hauptanliegen zu markieren.1 Das erste Anliegen besteht darin, das Zusammenspiel der sozialen Rollen zu betrachten, die eine Person konstituieren, insbesondere ihre geschlechtliche, ständische, ethnische, nationale und religiöse Zugehörigkeit, aber auch ihre Sexualität, ihr Alter und ihre körperliche Verfassung. Die Metapher für dieses erste Anliegen ist die Kreuzung (»intersection«). Das zweite Anliegen besteht darin, die Marginalisierung von Personen aufzudecken, die mehrere Diskriminierungsmerkmale auf sich vereinen. Die Metapher für dieses zweite Anliegen ist die Unsichtbarkeit (»intersectional invisibility«).2 Die Motive der Kreuzung und der Unsichtbarkeit sind auch für die Figur Siegfrieds konstitutiv, des Helden im ersten Teil des mittelalterlichen Nibelungenlieds (um 1200), des Nibelungenbuchs Thea
1
Zur Intersektionalitätsforschung vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009; Katharina Walgenbach et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, 2. durchges. Aufl., Opladen/Berlin/Toronto 2012; vgl. auch die Einleitung zu vorliegendem Band.
2
Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectional Invisibility‹: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung«, in: Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 223-243.
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von Harbous (1923) und des Films Die Nibelungen (1924) von Fritz Lang.3 Siegfried verfügt über eine Tarnkappe, die ihn unsichtbar macht; und er muss sterben, weil Kriemhild ein Kreuz auf jene Stelle seines Gewandes näht, unter der sich die verletzbare Körperstelle verbirgt. Beide Motive – die Unsichtbarkeit infolge einer magischen Kappe und das Kreuzzeichen auf dem Gewand – ordnen sich ein in die Zeichenebene der Häute, Felle und Kleider, die in besonderer Weise geeignet ist, die Identität des Helden zu markieren.4 Der folgende Beitrag analysiert die Serie der Investituren, die Siegfried im Nibelungenlied sowie im Nibelungenbuch und Nibelungenfilm durchläuft, um danach aus intersektioneller Perspektive das Problem der Sichtbarkeit des Helden in den betreffenden Werken zu diskutieren.
1. S IEGFRIEDS I NVESTITUREN : H AUT , F ELL
UND
K LEID
a) Mittelalter: Nibelungenlied Siegfried wird im Nibelungenlied doppelt exponiert: zunächst, in der Erzählerrede, als höfischer Ritter und Königssohn, der die Schwertleite empfängt; dann, in der Figurenrede Hagens, als heroischer Kämpfer, der Zwergen und Drachen besiegt. Als höfische Figur wird Siegfried über seine Kleider markiert, als heroische Figur über seine Haut. Siegfried wird viermal in höfische Gewänder eingekleidet: bei seiner Ritterweihe, beim Aufbruch nach Worms, beim Aufbruch nach Isenstein und beim Aufbruch zur verhängnisvollen Jagd. Für jede dieser Einkleidungsszenen wendet der Erzähler mehrere sogenannte »Schneiderstrophen« auf.5 Die erste Einkleidung erfolgt im Rahmen der Ritterweihe. Siegfried empfängt von seinen Eltern höfische Gewänder, die ihn als Ritter auszeichnen: in hiez mit
3
Zitierte Ausgaben: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011 [= NL]; Harbou, Thea von: Das Nibelungenbuch. Mit 24 Bildbeilagen aus dem DeclaUfa-Film ›Die Nibelungen‹ von Fritz Lang, München 1923 [= NB]; Lang, Fritz: Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried [= NF I], Teil 2: Kriemhilds Rache [= NF II], Friedrich Murnau Stiftung 2012 (Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek).
4
Vgl. Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel 2006. Die Zeichenebenen der Kleidung und der Nahrung wirken in der Konstruktion von Identität zusammen; zum alimentären Code vgl. den Beitrag von Lisa Pychlau-Ezli in diesem Band.
5
Vgl. Wis, Marjatta: »Zu den ›Schneiderstrophen‹ des ›Nibelungenliedes‹. Ein Deutungsversuch«, in: Neuphilologische Mitteilungen 84 (1983), S. 251-260.
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kleidern zieren Sigmunt und Siglint (NL 23,2). Mit ihm empfangen weitere vierhundert Knappen die Schwertleite, die ebenfalls prachtvoll eingekleidet werden: Vier hundert swertdegene di solden tragen kleit mit samt Sîvride. vil manec schœniu meit von werke was unmüezec, wan sie im wâren holt. vil der edelen steine die frouwen leiten in daz golt, die si mit borten wolten wurken ûf ir wât den jungen stolzen recken, des newas niht rât. (NL 28-29,2) »Vierhundert Knappen sollten zusammen mit Siegfried die Ritterkleidung tragen. Viele schöne Mädchen hatten alle Hände voll zu tun, denn sie hatten ihn gern. Die Damen fassten viele Edelsteine in Gold, um sie mit Bändern den jungen, stolzen Recken auf der Kleidung zu befestigen, das musste nun einmal so sein.«
Die Bereitstellung der Kleider ist Sache der Frauen; auf diese Weise wird die Initiation der Jünglinge als Ritter zugleich auf die höfischen Geschlechterverhältnisse bezogen. Die zweite höfische Einkleidung erfolgt im Rahmen der Vorbereitungen für die Brautwerbungsfahrt nach Worms. Siegfried bittet seine Mutter um angemessene Kleidung für sich und seine Begleiter: Und helfet mir der reise in Burgonden lant, daz ich und mîne recken haben sölch gewant, daz alsô stolze helde mit êren mugen tragen. (NL 60,1-3) »Helft mir bei der Reisevorbereitung ins Burgundenland, damit ich und meine Recken solche Kleidung bekommen, die stolze Krieger ehrenvoll tragen können.«
Die Bitte wird erfüllt (vgl. NL 61-66). Bei ihrer Ankunft in Worms werden Siegfried und seine Gefährten aufgrund ihrer Kleider als höfische Ritter wahrgenommen: Ir schilde wâren niuwe, lieht unde breit, und vil schœn ir helme, dâ ze hove reit Sîvrit der vil küene in Gunthers lant. man gesach an helden nie sô hêrlich gewant. (NL 70)
242 | A NDREAS K RASS »Ihre Schilde waren neu, glänzend und breit, und besonders schön waren die Helme. Da ritt der tapfere Siegfried zur Burg in Gunthers Land. Man hatte noch nie an Helden eine so prachtvolle Kleidung gesehen.«
Diese Wahrnehmung wird durch Hagens Bericht konterkariert. Er erkennt Siegfried nicht an seinen höfischen Kleidern, sondern an seinem heroischen Charisma. Hagen erwähnt Siegfrieds Gewänder nicht, wohl aber Tarnkappe und Panzerhaut. Die Tarnkappe hat Siegfried, wie Hagen erzählt, im Kampf gegen einen Zwerg gewonnen (NL 95,3: dâ er die tarenkappen sît Albrîche angewan), die Panzerhaut im Kampf gegen einen Drachen, in dessen Blut er sich badete (NL 98,3: er badet sich in dem bluote. sîn hût wart hurnîn). Betrachtet man Haut und Kappe im Verhältnis zur höfischen Kleidung, so erweist sich Siegfrieds heroische Qualität als verdeckt: entweder durch die höfischen Gewänder, die er über der gestählten Haut trägt, oder durch die als Umhang zu denkende Tarnkappe, mit der er sich unsichtbar macht. Die dritte höfische Einkleidung erfährt Siegfried vor dem Aufbruch nach Isenstein. Gemeinsam mit den übrigen Reisenden erhält er prachtvolle Gewänder (vgl. NL 341-343, 355-368). Wiederum bewundert man bei der Ankunft die Gewänder der Gäste (vgl. NL 393). Bemerkenswert ist die Verteilung der Farben: Siegfried und Gunther sind weiß gekleidet (NL 397,2: von snêblanker varwe), Dankwart und Hagen hingegen schwarz (NL 400,3: von rabenswarzer varwe). Gunther erkennt Brünhild an ihrer Schönheit und ihrem weißen Gewand (NL 390,2: in snêwîzer wæte). Werber und Umworbene zeichnen sich durch die schneeweiße Farbe ihrer Gewänder aus und bilden somit eine dreiköpfige Figurengruppe, die sich von den übrigen, schwarzgekleideten Gestalten kontrastiv abhebt. In dieser Situation ist Siegfried nicht als Held ausgezeichnet; vielmehr wird die Differenz zwischen Siegfried und Gunther eingeebnet. Im Kampf gegen Brünhild vertritt Siegfried Gunther, indem er sich mithilfe der Tarnkappe unsichtbar macht und die Stelle des Königs einnimmt. Dies geschieht zunächst im Dreikampf Gunthers gegen Brünhild. Siegfried eilt zum Schiff, um die Tarnkappe zu holen; sobald er sie angelegt hat, nimmt man ihn nicht mehr wahr: dô was er niemen bekant (NL 429,4), daz in dâ niemen ensach (NL 430,4). Der Betrug wiederholt sich in der Brautnacht, wenn Siegfried im Schutz der Tarnkappe Brünhild bezwingt. Seine Unsichtbarkeit wird mehrfach betont. Zunächst entschwindet er Kriemhilds Blick, als er noch mit ihr im Bett liegt (NL 659,1: sîs niht mêr ensach); dann kann Gunther ihn nicht sehen, als er zu Brünhild ins Bett gestiegen ist (NL 664,2: swi er sîn niht ensach). Die vierte Einkleidung Siegfrieds findet vor der verhängnisvollen Jagd statt. Das prächtige Gewand, das er zu diesem Anlass trägt, wird ausführlich beschrieben: Von bezzerm pirschgewæte gehôrt ich nie gesagen. einen roc von swarzem pfellel, den sach man in tragen,
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und eine hût von zobele, diu rîche was genuoc. hey, waz er rîcher borten an sînem kochære truoc! (NL 949) Von einer ludemes hûte was allez sîn gewant. von houbet unz an daz ende gestreut man dar ûffe vant. ûz der liehten riuhe vil manic goldes zein ze beiden sînen sîten dem küenem jegermeister schein. (NL 951) »Ich habe niemals eine bessere Jagdausrüstung beschreiben hören. Man sah ihn einen Rock aus schwarzem Tuch tragen und einen Hut aus Zobelpelz, der sehr kostbar war. Und was er erst für reich verzierte Borten an seinem Köcher trug! Sein ganzes Gewand war aus einem seltsamen Fell gefertigt und von Kopf bis Fuß mit verschiedenfarbigem Pelzwerk besetzt. Aus den glänzenden Fellen leuchteten viele kleine goldene Spangen zu beiden Seiten des mutigen Jägermeisters hervor.«
Auffällig ist die schwarze Farbe, die das Jagdgewand als Vorausdeutung auf den nahenden Tod lesbar macht. Schon vor der Beschreibung des Gewands wird erzählt, das Kriemhild das Gewand mit einem gestickten Kreuz markiert. Hagen bittet Kriemhild darum vor der angeblichen Schlacht gegen die Sachsen und Dänen, die dann in die Jagd abgebogen wird: ûf daz sîn gewant / næt ir ein kleinez zeichen (NL 900,1f.).6 Kriemhild verspricht, seine Bitte zu erfüllen: Si sprach: ›mit kleinen sîden næ ich ûf sîn gewant ein tougenlichez kriuze. dâ sol, helt, dîn hant den mînen man behüeten, sô ez an die herte gât, swenn er in den stürmen vor sînen vîenden stât.‹ (NL 901) »Sie sagte: ›Mit kleinen Seidenstichen nähe ich auf sein Gewand ein kaum sichtbares Kreuz. Dort soll Deine Hand, treuer Held, meinen Mann beschützen, wenn es Ernst wird, also immer dann, wenn er im Kampf vor seinen Feinden steht.‹«
In der Mordszene wird noch einmal die Werbung um Brünhild symbolisch aufgerufen. Wieder siegt Siegfried in einem Wettkampf, diesmal im Wettrennen mit Gunther und Hagen zur Quelle. Während Gunther und Hagen im weißen Hemd laufen (NL 973,2: in zwein wîzen hemden sach man sie beide stân), trägt Siegfried die volle Jagdmontur, um den Sieg durch diese Erschwernis umso eindrucksvoller zu ma6
Das in der Forschung vieldiskutierte Problem, dass das Jagdgewand nicht mit dem Gewand identisch sein kann, auf das Kriemhild das Kreuz genäht hat, stellt sich für den Erzähler des Nibelungenlieds nicht, denn er sagt ausdrücklich, dass Hagen Siegfried durch daz kriuze (NL 978,2) ersticht.
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chen (vgl. NL 972). Wieder dient die Farbe Weiß der Markierung der Figurenkonstellation, doch stehen diesmal nicht Siegfried und Gunther gegen Hagen, sondern Gunther und Hagen gegen den schwarz gewandeten Siegfried. Dieser gewinnt das Wettrennen, und als er sich über das Wasser beugt, stößt ihm Hagen den Speer an jener Stelle in den Leib, die Kriemhild mit einem Kreuz gekennzeichnet hatte, und befleckt sein Gewand mit Siegfrieds Blut: Dâ der herre Sîfrit ob dem brunnen tranc, er schôz in durch das kriuze, daz von der wunden spranc daz bluot im von dem herzen vaste an Hagenen wât. sô grôze missewende ein helt nimmer mêr begât. (NL 978) »Als Herr Siegfried über die Quelle gebeugt trank, schoss Hagen durch das Kreuz hindurch, so dass aus der Wunde viel Blut vom Herzen bis an Hagens Kleidung sprang. Eine so folgenschwere Untat wird nie wieder ein Held begehen.«
Nach seinem Tod wird Siegfried ein letztes Mal eingekleidet. Zunächst wird sein Leichnam entkleidet und gewaschen (NL 1023,2: man zôch ûz den kleidern den sînen lîp), dann in neue Kleider gehüllt (NL 1048,1: In einen rîchen pfellel man den tôten want). Ent- und Einkleidung sind das Ritual, das den Übergang vom Leben in den Tod markiert. Eine Szene, in der Siegfried zu Lebzeiten seinen heldischen Körper entblößt, kommt im Nibelungenlied nicht vor. b) Moderne: Nibelungenbuch und Nibelungenfilm In den 1920er Jahren wird die Siegfriedfigur neu interpretiert. Während das Nibelungenlied die mythische Exposition des Helden zugunsten seiner höfisch-ritterlichen Qualität zurückdrängt, kehren Thea von Harbou und Fritz Lang die mythische Dimension in den Vordergrund.7 In den ersten Abschnitten beziehungsweise in den ersten Gesängen erscheint Siegfried als germanischer Held, der fast nackt und nur mit einem Fellschurz bekleidet durch den Wald streift. Darin erinnert er an Tarzan, die Hauptfigur des Romans, der im Jahr 1914 (neun Jahre vor dem Nibelungenbuch) erstmals erschien und im Jahr 1918 (sechs Jahre vor dem Nibelungen-
7
Zum Verhältnis von Nibelungenlied und Nibelungenfilm vgl. See, Klaus von: »›Dem deutschen Volke zu Eigen‹. Fritz Langs Nibelungenfilm«, in: Ders.: Text und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 115132; Kiening, Christian/Herberichs, Cornelia: »Fritz Lang. Die Nibelungen (1924)«, in: Christian Kiening/Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film, Berlin/New York 2006, S. 189-226.
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film) erstmals verfilmt wurde.8 So wird die Gestalt Siegfrieds in die Tendenz der ethnischen Markierung der erzählten Welten einbezogen. Es findet ein Kleiderwechsel statt, der den Übertritt von der ›germanischen‹ in die ›deutsche‹ Sphäre und somit die historische Abkunft der ›Deutschen‹ von den ›Germanen‹ markiert. Wie Edgar Rice Burroughs‘ Tarzan erlebt Siegfried eine Transformation von einer primitiven zu einer kultivierten Daseinsstufe. Als ›Germane‹ trägt Siegfried einen Fellrock, als ›Deutscher‹ die höfischen Gewänder eines phantasierten gotischen Mittelalters. In der mittelalterlichen Fassung der Nibelungensage steht der nackte Leib Siegfrieds am Ende der Geschichte und bezeichnet seinen Tod; in der modernen Fassung hingegen steht er am Anfang der Geschichte und bezeichnet die mythische Herkunft des Helden und der ›Nation‹, die er repräsentiert. Thea von Harbous Das Nibelungenbuch Das Nibelungenbuch nimmt einen signifikanten Perspektivenwechsel vor. Die Geschichte beginnt mit der Werbung Etzels um Siegfrieds Witwe. Kriemhild erzählt Rüdiger, dem Boten des hunnischen Königs, die Geschichte ihres Mannes Siegfried. Auf diese Weise wird Kriemhild erheblich aufgewertet, ebenso aber auch Rüdiger, der tragische Held im zweiten Teil des Nibelungenlieds. Die Geschichte eines fatalen Treuebruchs wird demjenigen erzählt, der selbst in einen fatalen Treuekonflikt gerät. Beide, Kriemhild und Rüdiger, bewahren ihre Treue im Tod. Wie im Nibelungenlied werden Siegfrieds mythische Jugendtaten in Form eines Figurenberichts nachgereicht. Während aber im Nibelungenlied Hagen als Erzähler auftritt, übernimmt im Nibelungenbuch Kriemhild selbst diese Rolle. Das von ihr erzählte Leben reicht bis zum Tod des Helden, doch sind wiederum die Jugendtaten Sieg-frieds in besonderer Weise eingeklammert. Kriemhild gibt in ihrer Erzählung ein Lied wieder, das sie einst aus dem Munde Volkers hörte: »Dies war das Lied, das Herr Volker von Siegfried sang.« (NB 37) Siegfried wächst bei dem Schmied Mime und seinen Knechten auf, die eine primitive Existenz im Wald führen: »Die Knechte Mimes glichen nicht Menschen mehr; Haare wuchsen auf ihren Gliedern, wie den Tieren Felle wachsen.« (NB 37f.) Mime, »der verkrüppelt und ebenso böse wie häßlich war« (NB 38), neidet Siegfried die Schönheit und wünscht ihm den Tod. Siegfried hebt sich mit seinem wohlgestalteten Körper von seinem Erzieher und seinen Dienern ab, nicht aber mit seiner Kleidung: »Ihn deckte nicht Harnisch noch Helm; hell wuchs ihm der Leib aus den Hüften, die das Fell einer Ziege deckte, vom Riemen gegürtet, daran ihm das Schwert hing.« (NB 40) Nachdem er den Drachen getötet und von einem singenden Vogel erfahren hat, dass ihn das Blut des 8
Zu Siegfried als ›nationaler‹ Figur und zur Tarzan-Parallele vgl. Kaes, Anton: »Siegfried – A German Filmstar Performing the Nation in Lang’s Nibelungen Film«, in: Tim Bergfelder (Hg.), The German Cinema Book, London 2002, S. 63-70.
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Drachen unverwundbar macht, entkleidet er sich und steigt nackt in die blutige Quelle: »Ab riß sich Siegfried das Fell von den Hüften, sprang hinab in die Quelle, darüber das Haupt des sterbenden Drachen hing. Nicht leicht erkauft wurde die hürnene Haut. Feuerregen, auf ihn niedertraufend, hätte nicht grimmiger gebrannt. Doch dünkte dem Knaben Siegfried Unverwundbarkeit damit nicht zu hoch bezahlt. Er duckte sich hell und schlank unter die grimmige Traufe.« (NB 41)
Das zweite Kleidungsstück erwirbt Siegfried von Mimes Bruder Alberich. Auch dieser ist ein verwachsener Zwerg, der sich »auf kurzen, halbgelähmten Beinen« (NB 43) fortbewegt und Siegfried nach dem Leben trachtet. Siegfried ringt ihm die Tarnkappe ab, die im Nibelungenbuch nicht als Umhang, sondern als geflochtener Goldhelm zu denken ist: »Er packte noch einmal zu und hielt ein Gewebe in seiner Rechten, weitmaschiges Gold, kunstvoll geschmiedet. […] ›Schenk mir das Leben um den Tarnhelm, Held‹ kreischte er und wimmerte und schrie. ›Unsichtbar macht er, verleiht jedwede Gestalt!‹« (NB 45) Zwei Modifikationen gegenüber dem Nibelungenlied sind festzuhalten: die kronenartige Qualität der Tarnkappe, die somit als Insigne des Herrschers über die Nibelungen ausgewiesen wird, und die zweifache Wirkung. Sie kann nicht nur Unsichtbarkeit verleihen (wie später im Dreikampf gegen Brunhild), sondern auch eine beliebige Gestalt (wie später im Bettkampf gegen Brunhild, wenn Siegfried in Gunthers Rolle schlüpft). Auf seiner Abenteuerfahrt erinnert Siegfried an Parzival, wenn er in unhöfischem Aufzug durch die Königreiche reitet und von den Menschen nicht ernst genommen wird: »Da lachten sie des Knaben, der auf dem weißen Pferde, nichts als ein Ziegenfell um die schmalen Hüften, mit unbedecktem schimmernden Haupte in die Welt hinauszog, Utes Tochter zu gewinnen.« (NB 47f.) Ritterliche Kleider erwirbt Siegfried erst, als er an den Hof seiner Eltern zurückkehrt. Als er Xanten wieder verlässt, um Kriemhild zu erwerben, nimmt seine Mutter von ihm Abschied: »›Kind!‹ sagte sie weinend, ›mein schönes, strahlendes Kind!‹ Und sie streichelte sein Haar, auf dem die Sonne leuchtete und strich mit den Händen über die Stelle, wo sein Herz schlug unter dem gestickten Kleid, das sie selbst genäht und gewoben hatte, denn nun war er königlich gekleidet. (Aber die Mägde von Xanten stritten sich, was ihm schöner stand: das königliche Kleid oder das Ziegenfell.)« (NB 48f.)
Von einer Schwertleite ist keine Rede, wohl aber von der erotischen Attraktion, die Siegfried auf die Frauen ausübt. Wie die Zofen, die Parzival bei seiner Einkehr in Gurnemanz’ Burg baden, werfen auch sie begehrliche Blicke auf ihn und finden – ein hübscher Damenwitz der Autorin –, er sehe im Fellschurz anziehender aus als
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im höfischen Gewand. Die Einkleidung ist nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust. Siegfried gewinnt eine höfische Existenz, verliert aber die naive Unschuld seines Waldlebens. Nachdem er den Übergang von der Natur in die Kultur bewältigt hat, wird sein nackter Körper zum Objekt erotischen Begehrens und muss daher bedeckt werden. Der Körper ist erst dadurch nackt geworden, dass er einmal bekleidet war. Als Siegfried in Worms eintrifft, erblickt man in dem kostbar Gekleideten einen Königssohn, aber sein lockiges Haar erinnert noch immer an den, der seine Jugend ungebändigt in der Natur verbrachte: »Sein Kleid war das Kleid eines Königs. Sein Haupt war unbedeckt. Nie hatte das Haupt eines Menschen schöneren und fürstlicheren Schmuck getragen, als dieses schimmernde, strömende, nie von Kronen gebändigte Haar.« (NB 52) Siegfried ist der edle Mensch, der seinen Adel nicht aus der Kultur, sondern aus der Natur bezieht. Ihn krönt das Haar, nicht die Krone. Durch die Einkleidung in Xanten ist Siegfried zum ›Deutschen‹ geworden, zu einem aber, dessen Wohlgestalt noch immer das Charisma der ›germanischen‹ Herkunft in sich trägt. Thea von Harbou zeichnet Siegfried mit der Aura des ›Arischen‹ aus. Hagen hingegen hat einen nüchternen Blick auf den Helden vom Niederrhein. Er weiß sogleich, wie man ihn instrumentalisieren kann: »›Nun‹, sagte Hagen mit dünnem Lächeln, ›der Stärkste ist Siegfried, unverwundbar durch Drachenblut; den Tarnhelm trägt er am Gürtel. Wenn er in deiner Gestalt mit Brunhild kämpfen wollte, – ein leichtes müßt’ es dem Balmungschwinger sein, ein trotziges Weib zu besiegen!‹« (NB 54) Siegfried wehrt die Zumutung mit einer Gebärde ab, die seine Jugend und Unschuld bestätigt: »Siegfried lachte; er schüttelte sein schönes Haar.« (NB 54) Die Geste markiert eine physische Ausstrahlung, die den Frauen (einschließlich der Verfasserin) gefällt, in der nach realpolitischen Prinzipien handelnden Welt von Worms die Autorität des Helden aber eher untergräbt. Während das Nibelungenlied beim Aufbruch zur Werbung um Brünhild mit sogenannten Schneiderstrophen prunkt, fallen Kleiderbeschreibungen im Nibelungenbuch an dieser Stelle aus. Doch spielt bei der Ankunft in Isenstein der Kontrast der Farben nach wie vor eine wichtige Rolle. Während im Nibelungenlied Siegfried, Gunther und Brünhild das Weiß des Schnees, Hagen und Dankwart hingegen das Schwarz der Raben zugeordnet wird, tritt die Brunhild des Nibelungenbuchs im Zeichen des schwarzen Schwans auf: »überhelmt von den Schwingen des schwarzen Schwans«, »Augen, finsterer als die schwarzen Federn der Helmschwingen« (NB 62). Den Kontrast bilden Siegfrieds »blaue Augen« (NB 63). Auch in der Szene, in der Kriemhild das Kreuz auf Siegfrieds Gewand näht, setzt das Nibelungenbuch einen eigenen Akzent. Kriemhild klagt sich vor Rüdiger als Närrin an, die den Mördern des geliebten Mannes ungewollt Beihilfe leistete: »Sieh, ich ging hin, nahm Siegfrieds Gewand, das er zur Jagd zu tragen liebte, und nähte mit goldenen Fäden ein Kreuz an die Stelle, wo einst das Lindenblatt auf die Schulter meines lieben Herrn gefallen war.« (NB 99) Das Motiv des goldenen Fadens erweist sich als ambivalent. Im Falle des Tarnhelms schützt er den Helden, im
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Falle des Jagdgewandes verrät er seine verwundbare Stelle. Kriemhild imaginiert, dass sie selbst dann noch an Hagens Treue geglaubt hätte, wenn ein Mann auf sie zugekommen wäre und ihr gesagt hätte: »Dieweil du hier das Kreuzlein nähst auf Siegfrieds Gewand, steht Hagen Tronje in der Waffenkammer und wiegt in der Hand den Speer, mit dem er das Kreuzlein zu treffen gedenkt!« (NB 99f.) Der Tod des Helden wird im Nibelungenbuch hinsichtlich der Kleidung anders inszeniert als im Nibelungenlied. Dieses verweist auf das von der Wunde befleckte, jenes überdies auf das von der Lanze zerfetzte Gewand: »Zerrissen war das Gewand über Siegfrieds Brust. Ein Fleck stand dunkel über seinem Herzen.« (NB 107) Im Nibelungenlied begegnet das Motiv des zerrissenen Kleids mehrfach als Zeichen der Jungfernschaft, die Gunther Brünhild zu nehmen versucht: Dô rang er nâch ir minne unt zerfuort ir diu kleit (NL 633,1; vgl. 638,4; 639,3f.; 667,2; 668,4). Läse man die Szenen im Zusammenhang, käme die Ermordung Siegfrieds symbolisch der Vergewaltigung Brünhilds gleich. Die Gewänder des Toten werden nicht mehr erwähnt, wohl aber der »schwarze Schleier« (NB 112) Brunhilds, die sich – anders als im Nibelungenlied – vor Siegfrieds Bahre erdolcht hat. Fritz Langs Film Die Nibelungen Der Nibelungenfilm stimmt in vielen Zügen mit dem Nibelungenbuch Thea von Harbous überein, weist aber auch eigenständige Merkmale auf. Von Harbous Idee, mit der stellvertretenden Werbung Rüdigers um Kriemhild zu beginnen und die vorherige Handlung in den Figurenbericht Kriemhilds zu verlagern, greift der Film nicht auf. Vielmehr entscheidet er sich für eine chronologische Erzählfolge, die in der Welt der Nibelungen ihren Anfang nimmt. Der Film gliedert die Geschichte in zwei Teile. Jeder umfasst sieben Abschnitte, die nicht, wie im Nibelungenlied, als aventiuren, sondern, wie in den homerischen Epen, als »Gesänge« bezeichnet werden. Auf diese Weise wird der Film als nationales Epos der ›Deutschen‹ markiert. Der erste Gesang (»Wie Siegfried den Drachen erschlug«) zeigt Siegfried als Heros im Fellschurz, als ›germanischen Tarzan‹. Mit den Nibelungen, bei denen er seine Jugend verbringt, teilt er die primitive Kleidung und die Nacktheit des Oberkörpers. Siegfried zeichnet sich durch athletische Wohlgestalt aus, sodass er in Gesellschaft der unförmig wirkenden Nibelungen wie ein Fremder erscheint (Abb. 1). Nachdem Siegfried als Mimes Lehrling ein Schwert geschmiedet hat, das so scharf ist, dass es eine fallende Daunenfeder zerteilt, verlässt er die Nibelungen auf einem Schimmel, mit dem er eine ästhetische Einheit bildet. In der Drachenkampfszene bekommt man Siegfried nackt zu sehen. Siegfried entkleidet sich, und wenig später wirft die Kamera aus der Ferne, im Schutz eines Baumstamms, einen voyeuristischen Blick auf die entblößte Rückseite des Helden, der in das Bad hinabsteigt (Abb. 2).
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Abb. 1: Siegfried im Fellschurz (NF I 00:02:44)
Abb. 2: Der nackte Drachentöter (NF I 00:22:41)
Die Szene erinnert an die zeitgenössische Freikörperkultur, sie erfindet für die Natur- und Nacktheitsbegeisterung der 1920er Jahre eine mythische Ätiologie. Die erotische Nuance, die der Szene eignet, findet sich schon im Nibelungenbuch, das Siegfried, der sich für das Bad entkleidet, als »hell und schlank« (NB 41) beschreibt. Die Blickführung im Nibelungenfilm verstärkt die erotische Dimension. Siegfried wird als Objekt des Begehrens inszeniert, ohne dass der begehrende Kamerablick auf ein Geschlecht festgelegt wird. Dies ist im Nibelungenbuch anders, jedenfalls in jener Szene, als die Frauen in Xanten darüber sinnieren, ob Siegfried ihnen im Fellschurz nicht besser gefallen habe als im ritterlichen Gewand.
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Der zweite Gesang (»Wie Volker vor Kriemhild sang und wie Siegfried nach Worms kam«) zeigt Siegfrieds Begegnung mit Alberich. Siegfried reitet durch die Wildnis, noch immer mit dem Fellschurz bekleidet. Alberich hockt auf einem Baum, macht sich mithilfe der Tarnkappe unsichtbar und versucht Siegfried zu überfallen. Diesem gelingt es, den Angreifer abzuschütteln und ihm die Tarnkappe zu entwinden: »Da sprach Alberich, der Nibelung: Schenke mir das Leben und den Tarnhelm, Held! Unsichtbar macht er, verleiht jedwede Gestalt!« (NF I 00:27:47) Die Tarnkappe entspricht in Form und Wirkung derjenigen des Nibelungenbuchs. Es handelt sich um ein Netz, das als Helm bezeichnet und auf dem Kopf getragen wird, und das nicht nur unsichtbar macht, sondern auch einen Gestaltwechsel zu bewirken vermag. Die Aneignung des Tarnhelms ist der zweite Teil von Siegfrieds Investitur im Nibelungenreich. Im Unterschied zu traditionellen Investituren werden ihm die Insignien nicht verliehen, sondern er eignet sie sich selbst an. Das erste Herrschaftszeichen ist das Schwert, das er bei Mime fertigt, das zweite ist der Helm, den er Alberich abringt. Als drittes Requisit kommt der Mantel hinzu. Es handelt sich um eine verkehrte Schwertleite, wenn Alberich Siegfried, der den Nibelungenschatz bewundert, in einem Tuch zu fangen sucht. Siegfried gelingt es wiederum, den Angreifer abzuwehren; anschließend trägt er das Tuch wie einen Umhang über der Schulter (Abb. 3). Ferner eignet er sich Balmung an, jenes mythische Schwert der Nibelungen, das fortan das selbstgeschmiedete Schwert ersetzt. Alberich erklärt Siegfried und dem Publikum: »Kein Schwert kommt dem Balmung gleich. Im Blutfeuer schweißten es die Nibelungen.« (NF I 00:33:47)
Abb. 3: Siegfried trägt Alberichs Tuch (NF I 00:34:29)
Die Schilderung der höfischen Vergangenheit in Xanten, der im Nibelungenlied die zweite Aventiure gewidmet ist, fällt im Nibelungenfilm komplett aus. Auch die im
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Nibelungenbuch erzählte Episode der Zwischeneinkehr in Xanten ist ersatzlos gestrichen. Es fehlt also eine höfische Einkleidungsszene, die Siegfried zum Ritter macht. Sie wird substituiert durch die Szene, in der Siegfried den Umhang aus dem Nibelungenschatz empfängt. Das höfische Gewand, das Siegfried bei seiner Ankunft in Worms trägt, ist mit jenem aber nicht identisch (Abb. 4). Die Herkunft der Ritterkleider wird nicht gezeigt; entscheidend ist allein, dass Siegfried inzwischen eine höfisch-ritterliche Identität angenommen hat. Aus dem germanischen Heros ist ein deutscher Ritter geworden, der mit zwölf Vasallen an seiner Seite in ornamentalen Formationen auftritt.
Abb. 4: Siegfrieds höfisches Gewand (NF I 00:43:10)
Anders als die literarischen Vorlagen kann der Film die Kleider der auftretenden Figuren nicht unerwähnt lassen, sondern muss sich in jeder Szene für ein bestimmtes Gewand entscheiden. Siegfrieds höfische Kostüme folgen dem Prinzip der Variation. Beim Aufbruch zur Werbungsfahrt nach Isenstein (Dritter Gesang: »Wie Siegfried Brunhild für Gunther gewann«) trägt Siegfried ein Gewand, das mit gezackten Mustern verziert ist, während er zuvor bei seiner Ankunft in Worms eines trug, das mit kreisförmigem Dekor geschmückt war. Vor dem Wettkampf gegen Brunhild bedeckt sich Siegfried mit der Tarnkappe, um sich unsichtbar zu machen. Der Film nutzt dies für eindrucksvolle Trickeffekte. Der unsichtbare Siegfried wird als transparente Figur über Gunther geblendet, der die Bewegungen, die Siegfried tatsächlich ausführt, simuliert. Zuvor sieht man den Schatten des unsichtbaren Siegfried, als dieser, nachdem er die Tarnkappe geholt und aufgesetzt hat, zu Gunther hinzutritt. Siegfried erweist sich, auch hinsichtlich der hier vorwaltenden Figurenbeziehung, als Gunthers Schatten. Im vierten Gesang (»Wie Brunhild zu Worms einzog, und wie die Könige sich vermählten«) wird die
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zweite Wirkung der Tarnkappe gezeigt. Siegfried nimmt Gunthers Gestalt an, um an seiner Stelle Brunhild im Bett zu bezwingen. Gunther trägt ein kittelartiges Kleid, das ihn effeminiert erscheinen lässt. So ist es für Siegfried, der in seinen höfischen Gewändern stets eine ebenso gute Figur macht wie im Fellschurz, eine Erniedrigung, die Rolle des Königs einzunehmen. Besonders eindrucksvoll ist die Szene, in der Gunther und der verwandelte Siegfried einander begegnen, die Gestalt Gunthers also in doppelter Ausfertigung zu sehen ist (Abb. 5). Gegenüber der Unsichtbarkeit ist dies eine Steigerung der Entfremdung Siegfrieds von sich selbst.
Abb. 5: Siegfried in Gunthers Gestalt (NF I 01:22:25)
Der fünfte Gesang (»Wie nach sechs Monden Siegrieds Morgengabe, der Nibelungen Hort, zu Worms eintraf, und wie die Königinnen miteinander stritten«) ist für die Frage nach Siegfrieds Identität wenig ergiebig, der sechste hingegen (»Wie Gunther Siegfried die Treue brach«) umso relevanter. Die Auslöschungen der Sichtbarkeit des Helden boten gewissermaßen nur die Vorstufen für seine physische Beseitigung. Während die Indienstnahme Siegfrieds mit zunehmender Unsichtbarkeit einhergeht, wird seine Eliminierung durch eine Markierung ermöglicht, nämlich durch das Kreuz, das Kriemhild auf sein Gewand näht. Der Film zeigt diese Schlüsselszene in einer Nahaufnahme.9 In der Mordszene selbst ist das Kreuz nicht zu sehen. Das Eindringen der Lanze in den Körper wird nicht gezeigt, sondern sie steckt schon zwischen den Schultern des Helden, als die Kamera vom werfenden Hagen zum getroffenen Siegfried wechselt. Siegfried trägt wieder ein helles Gewand, sodass er noch einmal die Leuchtkraft seines heroischen Charismas entfalten kann, bevor er durch die Untreue der Burgunden zu Tode kommt. 9
Vgl. das Frontispiz zu diesem Sammelband.
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Der siebte Gesang trägt eine Überschrift, die sich in bezeichnender Weise auf die Überschrift des sechsten Gesangs zurückbezieht: »Wie Kriemhild Hagen Tronje Rache schwur«. Die parallelen Formulierungen »Rache schwur« und »Treue brach« implizieren eine kausale Beziehung. Auf den Treuebruch folgt der Racheschwur, der seinerseits einen Treuebruch darstellt. Kriemhild verhält sich zu Hagen wie zuvor Gunther zu Siegfried. An die Stelle der Freundschaft der einen tritt die Feindschaft der anderen. Der Treuebruch Gunthers gegen Siegfried wiederholt sich im Treuebruch Kriemhilds gegen ihre Verwandten, die ihrerseits Gelegenheit erhalten, einander jene Treue zu erweisen, die sie gegenüber Siegfried preisgaben. Dieser ist im siebten Gesang, dem abschließenden des ersten Teils, ein letztes Mal präsent. Man sieht den aufgebahrten Leichnam des Ermordeten, der noch immer das Jagdgewand trägt. Im Unterschied zum Nibelungenlied – aber in Übereinstimmung mit dem Nibelungenbuch – wird das Ritual der Entkleidung, Waschung und Einkleidung des Leichnams nicht erzählt. Doch fehlt auch das Motiv des über der Brust zerrissenen Hemds. Der Akzent des Nibelungenfilms liegt auf der Präsenz beider Frauen an der Seite des in der Kirche aufgebahrten Siegfried. Brunhild, in schwarzem Gewand, hat sich erdolcht und ist am Fußende der Bahre in sich zusammengesunken; Kriemhild, in weißem Gewand, kniet trauernd am Kopfende nieder. Im zweiten Teil des Films kehrt sich der Kontrast um. Kriemhild, die im ersten Teil die Farbe der Unschuld und Reinheit trägt, wird im zweiten Teil die Farbe der Trauer und Rache tragen. Siegfried bleibt nach seinem Tod symbolisch präsent. Der zweite Gesang von Kriemhilds Rache (»Wie Kriemhild von der Heimat Abschied nahm, und wie sie von Herrn Etzel empfangen wurde«) zeigt, wie Siegfrieds Witwe am Tatort der Ermordung ihres Mannes eine Handvoll Erde in ein Tuch hüllt, um sie fortan als Reliquie mit sich zu führen: »Du hast Siegfrieds Blut getrunken, Erde! Einst will ich Dich tränken mit Hagen Tronjes Blut!« (NF II 00:20:14). Ein letztes Mal wird Siegfried symbolisch entblößt, wenn die sterbende Kriemhild das Tuch öffnet und die Erde zu Boden fallen lässt.
2. G RENZEN DER S ICHTBARKEIT : I NTERSEKTIONELLE P ERSPEKTIVEN a) Mittelalter: Nibelungenlied Zwischen realen und erzählten Welten besteht hinsichtlich der intersektionellen Unsichtbarkeit eine kategoriale Differenz. In der realen Welt können unsichtbare Menschen sichtbar gemacht werden, indem man die soziale Position der »Unsichtbaren« wissenschaftlich erforscht und gesellschaftspolitisch stärkt. In der Literatur hingegen können unsichtbare Figuren nicht sichtbar gemacht werden, wenn sie nicht er-
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zählt werden. Wenn sie hingegen erzählt werden, sind sie nicht mehr unsichtbar. So verhält es sich auch im Nibelungenlied. Allerdings bestehen Unterschiede zwischen der Sichtbarkeit männlicher und weiblicher Figuren. In der erzählten Welt des Nibelungenlieds bleiben Frauen, die der höfischen Sphäre nicht angehören und somit mindestens zwei Diskriminierungsmerkmale (weiblich/nicht höfisch) auf sich vereinen, außen vor.10 Insofern ihre Abwesenheit nicht markiert ist, wird noch die Tatsache ihrer Unsichtbarkeit unsichtbar gemacht. Sie werden erst gar nicht zum Gegenstand des Erzählens. Die erzählten weiblichen Figuren hingegen gehören sämtlich dem höfischen Milieu an: die vrouwen von Worms (Ute, Kriemhild), Xanten (Sieglinde), Isenstein (Brünhild) und Bechelaren (Gotelind, Dietlind).11 Selbst mythische Wesen – wie die Meerfrauen Hadeburg und Sieglinde, denen die Burgunden bei der Überfahrt über die Donau begegnen – werden der höfischen Welt zugerechnet und somit erzählbar. Doch ist die Sichtbarkeit der höfischen Damen oftmals eine Sichtbarkeit zweiten Grades, eine abgeleitete Sichtbarkeit. Sie sind in dem Maße sichtbar, wie sie einem Mann zugeordnet werden. Die erzählten Frauen können Mutter (Ute), Schwester (Kriemhild) und Gattin (Kriemhild, Sieglinde) eines Mannes sein. Sobald der Mann, auf den sie bezogen sind, nicht mehr lebt, ist die Sichtbarkeit der Frauen gefährdet. Ute ist als Dankrats Witwe nur eingeschränkt sichtbar, nämlich als Mutter der Könige von Worms. Entsprechendes gilt für Kriemhild, die als Siegfrieds Witwe ebenfalls nur eingeschränkt sichtbar ist, nämlich als Schwester der Könige von Worms. An Brünhild wird ein anderer Fall vorgeführt. Als mythische Figur, die in der literarischen Tradition der Amazonen steht, wird sie in dem Maße sichtbar, wie ein Mann um sie wirbt und sie selbst gleich einem Mann agiert. Sobald sie in die Welt der Burgunden integriert wird, tritt auch sie in die zweite Reihe zurück. Sie wird noch bis zum Streit der Königinnen – der sich am Rang der Ehemänner entzündet und entscheidet – präsent gehalten, spielt aber im zweiten Teil des Nibelungenlieds keine Rolle mehr. Dagegen wird Kriemhild gerade im zweiten Teil besonders sichtbar, weil sie die Beziehungen zu zwei Männern in sich akkumuliert (zu Etzel, den sie heiratet, und zu Siegfried, den sie rächt) und in ihrer kämpferischen Rache selbst ›männliche‹ Züge annimmt. Somit ist Kriemhild bezüglich ihrer Sichtbarkeit eine Inversionsfigur. Brünhilds Sichtbarkeit nimmt ab bis hin zu völliger Unsichtbarkeit; Kriemhilds Sichtbarkeit nimmt zu, bis sie schließlich von einem Mann gewaltsam getötet und in diesem Sinn ›unsichtbar‹ gemacht wird.12
10 Zur (Un-)Sichtbarkeit der weiblichen Figuren vgl. den Beitrag von Regina Toepfer in diesem Band. 11 Zu Kriemhilds Kleidung vgl. A. Kraß: Geschriebene Kleider, S. 174-176. 12 Vgl. Mecklenburg, Michael: »Die Waffen der Frauen? Zur Konstruktion weiblicher Heldenhaftigkeit in filmischen Adaptationen des ›Nibelungenliedes‹«, in: Johannes Kel-
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Von solchen Formen und Graden der Unsichtbarkeit ist Siegfrieds Unsichtbarkeit zu unterscheiden. In seinem Fall handelt es sich zunächst um erzählte Unsichtbarkeit. Siegfried ist immer dann unsichtbar, wenn er die Tarnkappe trägt. Dass man ihn nicht sehen kann, heißt aber gerade nicht, dass er nicht handlungsfähig wäre. Im Gegenteil vermag er im Schutz der Tarnkappe entscheidende Handlungen auszuführen. Doch sind es Handlungen, die er nicht für sich selbst, sondern im Dienst des burgundischen Königs vollzieht. Unsichtbar agiert er als Gunthers Stellvertreter im Wettkampf gegen Brünhild auf Isenstein und im Bettkampf gegen Brünhild in Worms. Das Motiv der Unsichtbarkeit verweist im Falle Siegfrieds auf die Ambivalenz seiner Gestalt zwischen Stärke und Schwäche, Privilegierung und Marginalisierung, Charisma und Tradition. Einerseits häuft Siegfried alle Eigenschaften auf sich, die in der erzählten Welt des Nibelungenlieds positiv besetzt sind. Er ist ein junger Ritter, der aus einem ›deutschen‹ Königshaus stammt; als Christ hat er den rechten Glauben; er strotzt vor Kraft und Gesundheit und richtet sein Begehren auf eine schöne Frau. In Siegfried verkörpert sich, wie sein sprechender Name indiziert, die Wunschvorstellung des sieghaften Heros oder, soziologisch gesprochen, der »hegemonialen Männlichkeit«.13 Diese Idealität markiert das Nibelungenlied mit der mythologischen Provenienz des Helden, die der Erzähler nicht selbst berichtet, sondern an die Figurenrede Hagens delegiert. Das Heroische, Mythische, Magische des Helden wird so als Zeichen für ein Herrschaftskonzept lesbar, das man mit Max Weber als charismatisch bezeichnen kann.14 Gleichwohl geht von Siegfried Zwietracht aus, die im Streit der Königinnen kulminiert und schließlich zu seiner Ermordung führt. Der endgültigen Niederlage geht die Demütigung voraus, dass er seine heldische, in den Dienst des burgundischen Königs gestellte Identität mithilfe der Tarnkappe unsichtbar machen muss. So gesehen wendet sich Siegfrieds Stärke in einer Welt, die traditionale Herrschaft mit realpolitischen Mitteln verteidigt, in Schwäche. Auf die magische Unsichtbarkeit unter der Tarnkappe folgt die physische Unsichtbarkeit in dem Sinne, dass Siegfried gewaltsam aus der Wormser Welt entfernt wird. Siegfried ist der durchkreuzte Held. Er ist der Heros, der von einer Welt zum Verschwinden gebracht wird, die sich des Heldischen bedient und es doch nicht erträgt. Dieser Sachverhalt verweist auf den prekären Status hegemonialer Männlichkeit in der Welt von Worms, die in dieser Hinsicht womöglich repräsentativ ist für die höfische Lebenswelt des Hochmittelalters. So sehr der Status hegemonialer Männlichkeit erstrebt und propagiert wird, gerät er doch zum ler/Florian Kragl (Hg.), 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldinnen, Wien 2010, S. 93-119. 13 Connell, Reawyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999, S. 98f.; vgl. den Beitrag von Peter Somogyi in diesem Band. 14 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt am Main 2010; vgl. den Beitrag von Astrid Lembke in diesem Band.
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Skandalon, wenn er aus der Phantasie (der Welt der Drachen und Zwerge) in die Realität eintritt. b) Moderne: Nibelungenbuch und Nibelungenfilm Eine entscheidende Differenz zwischen dem Nibelungenbuch Thea von Harbous und dem Nibelungenfilm Fritz Langs besteht in der Perspektivierung, die aus der jeweiligen Exposition der Geschichte resultiert. Das Nibelungenlied eröffnet die Geschichte mit dem Falkentraum der burgundischen Prinzessin und etabliert sie somit als Protagonistin. Das Nibelungenbuch geht noch einen Schritt weiter, indem es mit dem Bericht Kriemhilds über Siegfrieds Leben und Tod einsetzt und ihr somit eine auktoriale Rolle zuweist. In ihrer Eigenschaft als Erzählerin weiß sie mehr, als sie in ihrer Eigenschaft als erzählte Figur wissen kann. Sie steht über der Geschichte, deren Teil sie zugleich ist. Was im Nibelungenlied Erzählerbericht ist, präsentiert sich im Nibelungenbuch als Figurenbericht aus Sicht der weiblichen Heldin. Der Blick ist somit weiblich bestimmt, das Geschlecht der Autorin und der Erzählerin ist kongruent. Dieser Sachverhalt ändert die Regeln der Sichtbarkeit entscheidend. Die erzählte Welt des Nibelungenbuchs partizipiert an den Geschlechterverhältnissen der 1920er Jahre; die emanzipierte Autorin verleiht der weiblichen Hauptfigur einen Anteil an jener Souveränität, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Im Nibelungenbuch wird Kriemhild nicht als in Lebensdingen unerfahrene Prinzessin, von der Vormundschaft ihrer Brüder und dem Rat ihrer verwitweten Mutter abhängige Jungfrau gezeigt, sondern sie tritt als vom Schicksal getroffene Frau auf, die sich ihr bitteres Los erzählend vergegenwärtigt und im Prozess des Erzählens Eigenständigkeit und Handlungsmacht gewinnt. Es scheint, dass auch Brunhild von der weiblich dominierten Erzählperspektive profitiert, denn ihr bleibt jene Unsichtbarkeit erspart, von der die Frauen des Nibelungenlieds stets bedroht sind. Im Nibelungenbuch wird Brunhild nach Siegfrieds Tod nicht zur Statistin degradiert, sondern sie wählt den Freitod an Siegfrieds Bahre. Sie setzt ihrem Leben ein selbstbestimmtes Ende und gewinnt somit eine tragische Dimension, die ihr im Nibelungenlied noch fehlt. Zwar muss sie, wie Kriemhild, am Ende für die Anmaßung einer ›männlichen‹ Rolle sterben, aber immerhin bleibt ihr das Leben in sozialer Unsichtbarkeit erspart. Der Nibelungenfilm hingegen hebt die weibliche Perspektive auf, indem er die Figur Siegfrieds an den Anfang stellt. Mit diesem Eingriff geht es noch hinter das Nibelungenlied zurück, das immerhin der Exposition Siegfrieds die Exposition Kriemhilds voranstellte. Der Blick ist männlich bestimmt, auch der Blick auf Kriemhild, die als Gegenstand der Erzählung der Nibelungen eingeführt wird. In beiden Fällen, in Thea von Harbous Nibelungenbuch ebenso wie in Fritz Langs Nibelungenfilm, erscheint Siegfried als nationaler Held der Deutschen. Die mythische
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Dimension, die Siegfried im Nibelungenlied eignet, wird in beiden Fällen umgedeutet in eine imaginierte ›germanische‹ Provenienz. Die Opposition zwischen höfischer und heroischer Identität erscheint als historische Folge vom ›germanischen‹ zum ›deutschen‹ Zeitalter. In Siegfried verkörpert sich die kollektive Identität des deutschen Reichs, das sich seiner germanischen Vergangenheit ›erinnert‹ – d.h. eine heroische Vergangenheit von sich entwirft. Während Siegfried im Nibelungenlied zunächst als höfische Figur exponiert und die heroische Vergangenheit erst bei seiner Ankunft in Worms nachgereicht wird, setzt der Nibelungenfilm mit Siegfrieds Jugend bei den Nibelungen ein. Die höfische Herkunft Siegfrieds aus Xanten wird nicht erzählt. Somit kehrt der Nibelungenfilm diesbezüglich die Verhältnisse des Nibelungenlieds um. Es privilegiert nicht die höfische, sondern die heroische Abstammung des Helden. Die höfische Herkunft des Helden wird unsichtbar gemacht. Wenn Siegfried in Worms eintrifft, erscheint er als König, der zwölf Vasallen unterworfen hat.15 Der Schritt vom ›germanischen‹ zum ›deutschen‹ Helden ist bereits vollzogen. Über eine derartige ›germanische‹ Vergangenheit verfügt der Königshof von Worms nicht. Daher braucht Gunther Siegfrieds Hilfe bei der Brautwerbung um Brunhild, die, wie Siegfried, ein charismatisches Herrschaftskonzept repräsentiert. Gunther ist ein ›Deutscher‹, dem das ›Germanische‹ abhandengekommen ist oder der es nie besaß. Gemeint sind damit zwei verschiedene Prinzipien nationaler Identität, die mit verschiedenen Treuekonzepten korrespondieren. Siegfried steht noch mit seiner ›germanischen‹ Herkunft in Verbindung; dies verleiht ihm jene Stärke, die immer dann unsichtbar gemacht werden muss, wenn er sie in den Dienst Gunthers stellt. Siegfrieds Stärke ist in der Wormser Welt zugleich seine Schwäche, da sie, wenn sie sichtbar würde, auch Gunthers Hilfsbedürftigkeit sichtbar werden ließe. Dies kann Hagen, der das traditionale Herrschaftskonzept der Burgunden in seiner realpolitischen Spielart repräsentiert, nicht dulden. An die Stelle des deutschen Heros germanischer Provenienz tritt ein Ideal, das sich in Hagen verkörpert: die ›deutsche Treue‹.16 Diese ist im Grunde die Sublimation einer Untreue. Der nationale Mythos steht im Zeichen des Todes, in dem er seinen Ursprung nimmt (Siegfrieds Tod) und in dem er endet (Untergang der Burgunden). Er beruht auf einem paradoxen Opfer. Derjenige, der das ›Germanisch-Deutsche‹ in reinster Form verkörpert, muss eliminiert werden. Die Lehre des Nibelungenbuchs und des Nibelungenfilms ist somit eine ähnliche wie im Nibelungenlied. Wer als Frau zu schwach ist, wird unsichtbar; wer als Mann zu stark ist, muss unsichtbar gemacht werden. Im mittelalterlichen Epos wird das Problem als Kontrast zwischen heroi15 Vgl. den Beitrag von Michael R. Ott in diesem Band. 16 Zur Dekonstruktion der ›deutschen Treue‹ im Nibelungenfilm vgl. Kreimeier, Klaus: »Fritz Langs ›Nibelungen‹ und der Kampf um die Deutungshoheit in der Weimarer Republik«, in: Matteo Galli (Hg.), Deutsche Gründungsmythen, Heidelberg 2008, S. 213224.
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scher und höfischer Männlichkeit sowie zwischen charismatischer und traditionaler Macht ausgehandelt. Die neuzeitlichen Bearbeitungen übertragen diesen Konflikt in das Koordinatensystem einer ›deutschen‹ Nationalität, die ihre imaginierte ›germanische‹ Abkunft zugleich begrüßt und verwirft. Wenn Kriemhild ein Kreuz auf Siegfrieds Gewand näht, so kann man dies in allen drei Versionen der Nibelungensage als Versuch lesen, die Sichtbarkeit Siegfrieds, von der ihre eigene Sichtbarkeit abhängt, zu schützen. Doch wird diese Absicht von Hagens Plan, den übermächtigen Helden durch einen Lanzenstich in die markierte Stelle endgültig aus dem Sichtfeld der Burgunden zu entfernen, durchkreuzt.
Ent/Fesselung des fremden Heros Sîvrit zwischen Exorbitanz und Assimilation J UDITH K LINGER
»Er wird der Held, der kühnste, / Berühmt in aller Zeit, / Er wird der Recke schönste, / Zu Taten hocherfreut«, dichtete Ludwig Tieck 1804 über »Siegfried, den Drachentöter«1 und beschwor in archaisierendem Ton das Bild eines Helden, der durch seine großartige Schlichtheit bestach. Das Nibelungenlied stellt dagegen ein irritierendes Vexierbild von Sîvrit, dem helt von Niderlant (NL 852,3: »Held aus Niederland«), vor Augen: hier der höfische Königssohn und Ritter aus Xanten, dort der überaus starke und gefährliche Krieger, dessen Drachenkampf und Hortgewinn einer heroischen Anderzeit zugehören. Bei näherem Hinsehen stellt sich die »widersprüchliche Natur«2 dieses Helden als komplexe literarische Konstruktion dar, die sich im Spannungsfeld divergenter Herrschaftskonzepte, zwischen Macht und Ohnmacht, bezwingender Präsenz und prekärer Unsichtbarkeit konstituiert. Die Brüche und Widersprüche dieser Konstruktion werden keiner abschließenden Synthese zugeführt, noch gehen sie in einem kohärenten Deutungsmodell auf. Mithilfe dieser Spannungen figuriert das Nibelungenlied Sîvrit aber als unvergleichlichen Helden, dessen Überlegenheit auch durch seine Ermordung nicht zu löschen ist. Eine derartige Identitätsformation legt einen intersektionell orientierten Zugriff nahe, widmet sich die Intersektionalitätsforschung doch der »Überkreuzung oder Überschneidung von Kategorien und Herrschaftsstrukturen« und setzt damit auf ein »Identitätskonzept, das sich nicht auf eine Kategorie beschränkt«3. Intersektionalität 1
Tieck, Ludwig: »Siegfried, der Drachentöter«, in: Gedichte von Ludwig Tieck. Erster Theil, Dresden 1821, S. 269-283, hier S. 280.
2
Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübin-
3
Walgenbach, Katharina: »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgen-
gen 1998, S. 134. bach et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersek-
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ist dabei stets auf die Herstellung von Ungleichheit bezogen: Multiple Strategien zur Differenzierung von Identitäten, Sozialbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten werden im Kontext von Machtverhältnissen analysiert und auf den Beitrag hin befragt, den sie zur Privilegierung, zur Marginalisierung oder Subordination von Personen und Gruppen leisten.4 Etabliert hat sich diese Perspektive allerdings zur Erfassung von Differenzierungsmechanismen in modernen Industriegesellschaften; der theoretisch-methodische Zuschnitt ist – bei aller Vielfalt der Ansätze – im Grundzug von einer antidiskriminatorischen Ausrichtung geprägt.5 Wie sich das Intersektionalitätskonzept historisieren und für die Analyse vormoderner Verhältnisse oder Texte produktiv machen lässt, ist also noch zu klären. Im ersten Schritt umreiße ich daher einige Fragen, die sich beim Versuch einer Übertragung des Intersektionalitätskonzepts auf mittelalterliche Literatur – und das Nibelungenlied im Besonderen – auftun. Meine anschließende Analyse nimmt zuerst zentrale Kategorien, die an Identitätsformationen und Machtverhältnissen im Nibelungenlied beteiligt sind, sowie deren Interferenzen und interne Spannungen in den Blick. Im dritten und letzten Abschnitt beleuchte ich chronologisch jene Spannungsfelder, die die Figuration Sîvrits bis zu seiner Ermordung bestimmen.
1. U NGLEICHHEIT , U NVERGLEICHLICHKEIT , E XORBITANZ : VORMODERNE P ROVOKATIONEN Im Folgenden fokussiere ich schlaglichtartig einige Aspekte, die sich mir als vormoderne Provokationen der mit ›Intersektionalität‹ verbundenen Annahmen und Voraussetzungen darstellen und daher besonders geeignet erscheinen, die theoretisch-methodische Reichweite dieses Konzepts für mediävistische Analysen auszu-
tionalität, Diversität und Heterogenität, 2. durchges. Aufl., Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 23-64, hier S. 48f. 4
Vgl. einführend Klinger, Cornelia: »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2, Münster 2007, S. 14-48; Kerner, Ina: »Questions of intersectionality: Reflections on the current debate in German«, in: European Journal of Women’s Studies 19 (2012), S. 203-218.
5
Unter dem Stichwort »agency« versammelt Davis (Davis, Kathy: »Intersectionality in Transatlantic Perspective«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Überkreuzungen: Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 19-27, hier S. 26f.) in ihrer Forschungsübersicht allerdings einige Beiträge, die sich für eine weniger einsinnige Betrachtung von Definitionsmacht und Identitätszuschreibung aussprechen und ergänzend die performativen Aushandlungs- und Ermächtigungspotentiale hervorheben.
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loten. Dabei beziehe ich mich auf mittelalterliche Ordnungs- und Wissensdiskurse sowie Literaturformen und weise vorab auf spezifische Phänomene im Nibelungenlied hin, die mich in späteren Abschnitten beschäftigen werden. Der Intersektionalitätsforschung geht es um Machteffekte, die sich aus der Verschränkung unterschiedlicher Identitäts- und Differenzzuschreibungen ergeben. Allererst richtete sich das Interesse darauf, jene komplexen Formen der Diskriminierung aufzudecken, die eben nicht in einsinnigen Klassifikationen aufgehen, und sie zugleich der »intersektionalen Unsichtbarkeit«6 zu entreißen. Trotz der Erweiterung der analytischen Perspektiven werden die »Achsen der Ungleichheit«7 weiterhin im Rahmen moderner Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und Öffentlichkeitskonzepte verortet, die mit mittelalterlichen Verhältnissen und Auffassungen allerdings kaum etwas gemein haben. Schon der im 20. Jh. geprägte Begriff der ›Diskriminierung‹ bezeichnet nicht allein die ausgrenzende Unterscheidung von Personen und Gruppen sowie deren Benachteiligung, sondern rekurriert wie die Intersektionalitätsforschung auf ein demokratisches Grundprinzip, das in modernen Industriegesellschaften längst rechtsförmig geronnen ist.8 Diesem Prinzip zufolge sind alle Menschen grundsätzlich gleich und auf der Grundlage ihrer unveräußerlichen Menschenwürde auch gleich zu behandeln. Der sozialen Realität und kulturellen Praxis vielfältiger Ungleichheit sowie den resultierenden Formen von Benachteiligung treten daher Forderungen nach Gleichstellung, Gleichberechtigung und -behandlung entgegen. Mittelalterliche Gesellschaftskonzepte setzen dagegen prinzipielle Ungleichheit voraus. Die Denkfigur einer idealtypisch dreigliedrigen Ständeordnung der Bauern, Adligen und Kleriker wird durch stabile, gleichsam naturwüchsige Unterschiede fundiert, deren Zusammenwirken nach göttlichem Beschluss erst eine harmonische Ordnung ermöglicht9 und Machtprivilegien legitimiert. Die rechtlich verfestigte soziale Ungleichheit zeigt sich in der ökonomischen und politischen Praxis ebenso wie in divergenter Lebensführung und den kulturellen Selbstdeutungsmustern. Der 6
Vgl. grundlegend Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectional Invisibility‹: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung«, in: Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 223-243.
7
So der Titel des 2007 von Klinger, Knapp und Sauer herausgegebenen Bandes. Vgl. Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.), Achsen der Ungleichheit: Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt am Main 2007.
8
Vgl. I. Kerner: Questions of intersectionality, S. 206.
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Zu diesem Modell idealisierter Ständegliederung vgl. Oexle, Otto Gerhard: »Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters«, in: Winfried Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 1-54 sowie Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt am Main 1986.
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Begriff der ›Freiheit‹, den der mittelalterliche Adel für sich in Anspruch nimmt, ist daher auch nicht als Grundkategorie menschlicher Existenz konzipiert, sondern begründet ständisch exklusive Herrschaftsprivilegien.10 Der modernen Differenzierung nach ›Klassen‹ treten die Stände gegenüber, die sich Max Weber zufolge nicht durch versachlichte ökonomische Produktionsverhältnisse, sondern durch spezifische Formen der Lebensführung und der ›sozialen Ehre‹ voneinander unterscheiden.11 Prinzipielle Ungleichheit prägt auch die hierarchische Gliederung der soziopolitisch relevanten Verbände: Im Grundzug werden alle Beziehungstypen und Organisationsformen – auch der Familie, des Haushalts sowie Geschlechterverhältnisse – herrschaftsförmig gedacht.12 Vor diesem Hintergrund sind allerdings Formen genossenschaftlicher Einung13 sowie Strategien des Ausgleichs, der Angleichung und der Herstellung von Gleichrangigkeit zu beobachten, wie sie insbesondere die höfische Literatur programmatisch für den Adelsstand entwirft.14 Jede Analyse mittelalterlicher Machtverhältnisse und ihrer Legitimationsprinzipien hat aber die Selbstverständlichkeit hierarchisch strukturierter Ungleichheit zu berücksichtigen, die mit Begriffen der ›Unterdrückung‹ und der ›Diskriminierung‹ nicht historisch angemessen zu erfassen ist. Die feudale Herrschaftsordnung versteht sich als Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten15, so dass Akte der Subordination nicht nur das Fundament von Gesellschaftlichkeit überhaupt darstellen, son10 Zu den rechtlichen, politischen und semantischen Aspekten vgl. Arnold, Klaus: »Freiheit im Mittelalter«, in: Historisches Jahrbuch 104 (1984), S. 1-21. 11 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, S. 534-538; zum Zusammenhang von Ehre und Besitz vgl. Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns Iwein. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983, S. 106-110. 12 Zu den Organisationsformen weltlicher Herrschaft vgl. Brunner, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 51965, S. 240-356 sowie Friedrich, Udo: »Unterwerfung. Das Dispositiv der Gewalt im Mittelalter«, in: Klaus Michael Bogdal/Achim Geisenhanslücke (Hg.), Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault, Heidelberg 2006, S. 141-165, hier bes. S. 153f. 13 Vgl. Oexle, Otto Gerhard: »Die mittelalterlichen Gilden. Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen«, in: Albert Zimmermann (Hg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Berlin/New York 1979, S. 203-226 sowie Ders.: »Gilde und Kommune. Über die Entstehung von ›Einung‹ und ›Gemeinde‹ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa«, in: Peter Blickle (Hg.), Theorien kommunaler Ordnungen in Europa, München 1996, S. 75-97. 14 Vgl. Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988, S. 125-138. 15 Ebd., S. 43: »Herrschaft [...] als Gegenseitigkeit und sogar als Reziprozität auszulegen, ist [...] mittelalterliches Selbstverständnis«.
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dern darüber hinaus die Teilhabe an Herrschaft garantieren. Adlige Identität bildet sich insofern immer in der Dialektik grundherrlicher Selbstständigkeit und hierarchischer Vergesellschaftung.16 Prozesse der Differenzierung, der Privilegierung und Benachteiligung sowie der In- und Exklusion sind zwar – wie in der Moderne – Gegenstand komplexer Machtaushandlungen, doch konstituieren sie sich in Bezug auf Diskurse und Ordnungsmuster, die Ungleichheit als objektive Gegebenheit und positive Bedingung gesellschaftlicher Identität voraussetzen. Solchen systematisierenden Vereinfachungen ist freilich eine soziale und kulturelle Praxis gegenüberzustellen, die sich lokal und regional äußerst variabel gestalten kann. Noch bevor sich Fragen nach jenen identitätsbildenden Kategorien stellen können, für die sich die Intersektionalitätsforschung interessiert17, müssen daher die Prozesse der Kategorienbildung selbst in den Blick kommen. Die spezifischen Kommunikationsverhältnisse in modernen Staaten schaffen erst die Grundlage für weitreichende Abstraktionsleistungen in der ›Mehrheitsgesellschaft‹ sowie breitenwirksame Diskurse, deren Terminologie – so umstritten sie sein mag – transkulturelle Gültigkeit beanspruchen kann. Genau dies ist für mittelalterliche Kulturen jedoch nicht unbesehen zu veranschlagen. Unter anderem bedingt der gesellschaftlich ungleiche Zugang zu spezialisierten Wissensordnungen eine Partikularisierung der je relevanten und miteinander konkurrierenden Konzepte und Diskurse, die in divergenten medialen Konstellationen hervorgebracht werden. Verfügt die klerikale Elite über Modalitäten der systematisierenden Organisation und Überlieferung von Wissen, so ist die nur partiell schriftgestützte Wissensvermittlung an hochmittelalterlichen Adelshöfen wesentlich an situativ-konkrete Interaktionsformen gebunden. Abstrahierende Modelle entwickeln sich daher in spezifischen soziokulturellen Formationen.18 Ihr Geltungsanspruch kann ständisch, geographisch oder disziplinär variieren, wobei Diskurse der lateinisch-gelehrten Bildungstradition durchaus mit 16 Vgl. Czerwinski, Peter: »Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung«, in: Winfried Frey et al. (Hg.), Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Adel und Hof – 12./13. Jahrhundert, Opladen 1979, S. 49-87, hier S. 62. 17 Zur Diskussion um die Menge und inhaltliche Bestimmung der Kategorien vgl. K. Davis: Intersectionality in Transatlantic Perspective, S. 25; I. Kerner: Questions of intersectionality, S. 205-208. Knapp macht die »Reihe, Auswahl und Relevanz von ›differences‹« dagegen ganz vom jeweiligen Problemzusammenhang und Zugang abhängig (Knapp, Gudrun-Axeli: »Verhältnisbestimmungen: Geschlecht, Klasse, Ethnizität in gesellschaftstheoretischer Perspektive«, in: C. Klinger/G-A. Knapp, Überkreuzungen (2008), S. 138170, hier S. 143). 18 Für die höfische Literaturproduktion hat Czerwinski dies zugespitzt entwickelt (vgl. Czerwinski, Peter: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt am Main 1989).
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Universalien operieren, während die volkssprachliche Literaturproduktion eine noch gering ausdifferenzierte Begrifflichkeit in je unterschiedlichen Kontexten konkretisiert. So werden beispielsweise die mittelhochdeutschen Begriffe man und wîp zwar als Gattungstermini verwendet, doch bezeichnet man fallweise auch den Lehnsoder Gefolgsmann und Krieger, wîp näherhin die verheiratete Frau, womit herrschaftsständische, soziale und rechtliche Differenzen ohne begriffliche Präzisierung nur im konkreten Bedeutungsumfeld kenntlich werden.19 Schon eine solche semantische Unschärfe muss aber die Frage aufwerfen, welche Reichweite die vermeintlichen Gattungsbegriffe tatsächlich haben. Gerade aus intersektioneller Perspektive scheint es daher wesentlich, die Arbeit an Generalisierungen und die Konstruktionsprozesse verallgemeinerter (personen- oder gruppenbezogener) Differenzierungen konsequent in die Überlegungen einzubeziehen. Die diskursive Herstellung und Reflexion von Ungleichheit ist dann nicht von der Wirksamkeit vorausliegender Modelle abzuleiten, sondern als heterogene Produktion vielfältiger Deutungsmöglichkeiten mit begrenzter Geltung zu beschreiben.20 Plurale, miteinander konkurrierende oder verschränkte Deutungsmuster von Identität sind freilich Kernbestand der Intersektionalitätstheorie, die sich dezidiert auf moderne Verhältnisse bezieht. Daher muss ein letztes Strukturmerkmal mittelalterlicher Identitätsformationen hervorgehoben werden, das zugleich die grundlegenden Mechanismen von Inklusion und Exklusion berührt. In segmentär oder stratifikatorisch organisierten Gesellschaften konstituiert sich Identität über die vorausgesetzte Zugehörigkeit zu Kollektiven und bestimmt sich damit als besondere Qualität von Personengruppen.21 Anders als in der Moderne vollzieht sich Inklusion regelhaft gemäß jener gedachten Ordnungen, denen zufolge die Identität der Subjekte immer schon familial und geburtsständisch gegeben ist, so dass sich ›Individualität‹ erst auf dieser Grundlage herstellt, statt als elementar menschliche Qualität
19 Diese Überlagerungen sind im Nibelungenlied zu beobachten. Zum Bedeutungsspielraum von man vgl. Hennig, Ursula: »Herr und Mann. Zur Ständegliederung im Nibelungenlied«, in: Achim Massner (Hg.), Hohenemser Studien zum Nibelungenlied, Dornbirn 1981, S. 175-186, hier bes. S. 179. 20 Ein solcher Pluralismus zeichnet sich auch im semantischen Bereich von Marginalität und Marginalisierung ab: ›Minderheiten‹ und ›Randgruppen‹ werden je spezifisch über Exklusionsmechanismen konstituiert, ohne dass dies schon zur einer verallgemeinerten Konzeption der ›Mehrheitsgesellschaft‹ als Zentrum sozialer Ordnungsmodelle beitrüge (vgl. Wedell, Moritz: »Bilanz – Anmerkungen zum Begriff der Marginalität«, in: Das Mittelalter 16 (2011), S. 142-159, hier S. 143). 21 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 41991, S. 264.
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allen sozialen Bestimmungen vorauszuliegen.22 Die vielfältigen Formen von Ungleichheit führen also keineswegs zu jener essentialisierten Individualität, die sich in der Moderne als emanzipatorisches Aufbegehren gegen soziale Zuschreibungen realisiert.23 Vielmehr wird die Identität der Person – insbesondere mit Bezug auf den Adel – als unveräußerliche, naturwüchsig-körperliche24, zugleich aber kollektiv fundierte Qualität vorausgesetzt. Derart objektiv-substantiell gefasste Differenzqualitäten eröffnen ein anderes Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv, als es Intersektionalitätstheorien von modernen Konstellationen, insbesondere aber einem modernen Subjektbegriff ableiten. Auch das soziokulturell situierte Subjekt, so Judith Butler, stehe »in einem aktiven Verhältnis zu seinen Konstruktionen«, mit denen es nie vollständig identifizierbar sei, weshalb sich die Liste identitätsbildender Kategorien als unabschließbar darstelle: Es bleibt ein »Überschuß, der zwangsläufig jeden Versuch, die Identität ein für allemal zu setzen, begleitet«25. Ein solchermaßen im Subjektiven verankerter Überschuss ist unter mittelalterlichen Bedingungen ausgeschlossen (wiewohl sich ganz anders gelagerte Exzesse zeigen lassen). Differenzierungsprozesse setzen vielmehr inklusiv gebildete Identitäten – wie den adligen Her22 Wie es der moderne Individualitätsbegriff unterstellt. In diesem Sinne unterscheidet Luhmann die vormodern »inklusive« von der modernen »exklusiven« Individualität, die aller funktionalen Differenzierung vorgelagert wird und Identitätsbildung außerhalb sozialer Zugehörigkeit erst denkbar macht (vgl. Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik III. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989, S. 149-258). 23 Die funktional differenzierte Gesellschaft setzt dagegen auf die Vollinklusion aller in spezialisierte Funktionssysteme, die zwar vielfach, aber immer nur temporär und kontextbezogen erfolgt und die Individuen daher vor die Herausforderung einer Selbstkonstruktion stellt. Diesem Konzept der »Exklusionsindividualität« entsprechen nach Weinbach auch einige Subjekttheorien der neueren Geschlechterforschung (vgl. Weinbach, Christine: »›Intersektionalität‹: Ein Paradigma zur Erfassung sozialer Ungleichheitsverhältnisse? Einige systemtheoretische Zweifel«, in: C. Klinger/G.-A. Knapp, Überkreuzungen (2008), S. 171-193, hier S. 177). 24 Friedrich spricht von »in den Körper eingelassene[n] Ordnungsstrukturen« (U. Friedrich: Unterwerfung, S. 145), womit sich der Prozess der Subjektivierung als »Formgebung von außen« gestaltet (ebd., S. 151). Die Identität des adligen Herrn gründet »in seinem Körper, in Gewalt und Konsum« (P. Czerwinski: Das Nibelungenlied, S. 60); Selbstmächtigkeit und Herrschaftsfähigkeit des Adels sind daher besser als autogene Qualitäten denn als Resultat von Privilegierung zu beschreiben (vgl. Dilcher, Gerhard: »Der alteuropäische Adel – ein verfassungsgeschichtlicher Typus?«, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 57-86, hier S. 59). 25 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 210.
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renstatus – voraus, die allererst den Selbstbezug der Subjekte begründen26 Solche Differenzierungen sind dann auch im Sinne von Distinktion, nicht von ›Diskriminierung‹ zu begreifen. Umso schärfer muss sich aber die mit dem Intersektionalitätsparadigma aufgeworfene Frage nach den Dominanz- und Interferenzverhältnissen von Identitätszuschreibungen stellen. Während in der Moderne etwa Geschlecht als zentrale Kategorie konstruiert wird, die jedweder intelligiblen Identität vorausliegt und sich daher notwendig mit allen übrigen Zuschreibungen kreuzt27, ist eine derartige Vorordnung mittelalterlichen Diskursen nur fallweise zu entnehmen. Für das Selbstverständnis von Adelsgeschlechtern liegt es demgegenüber näher, dass sich weibliche Subjekte nicht über die Zugehörigkeit zur standesübergreifenden Gattung ›Frau‹, sondern allererst durch die Inklusion in Haus und Sippe und ihre besondere Stellung innerhalb dieses Verbands konstituieren. Wenn also Interdependenzen und Überkreuzungen beschrieben werden sollen, ist das historisch andere Arrangement identitätsbildender Kategorien und Differenzmerkmale selbst in den Blick zu nehmen. Das betrifft ebenso die Mechanismen der Exklusion. Die hochmittelalterliche Adelsliteratur ist beispielsweise derart exklusiv angelegt, dass sie sich weithin auf Subjekte beschränkt, die für die Zyklen gewaltförmiger Konkurrenz und Subordina26 Angesichts dieser Bedingungen scheint mir eine Übertragung der Begriffe »Über-« und »Unter-Inklusion«, die Knapp als Grundlage »intersektioneller Unsichtbarkeit« beschreibt (G.-A. Knapp: Intersectional Invisibility, S. 244f.), auf mittelalterliche Verhältnisse vorerst nicht möglich. Gemeint ist damit das »Über- und Ausblenden von Differenzen innerhalb diskriminierter Gruppen« (ebd., S. 244), doch setzt die Begriffsbildung selbst kulturspezifische Hierarchisierungen dieser Differenzen sowie die Möglichkeit alternativer Gruppenzuordnungen als Grundlage von Diskriminierungsmechanismen voraus. Ob und wie mittelalterliche Formen der Ausgrenzung und Marginalisierung überhaupt mit dem Konzept einer »Mehrfachdiskriminierung« oder »multiple subordinate identities« zusammengebracht werden können, kann jedoch nur im Rahmen weitergehender Untersuchungen geklärt werden. 27 Zwar betont die Intersektionalitätsforschung die wechselseitigen Bedingungsverhältnisse von Kategorien wie »gender«, »race« und »class«, die Möglichkeit von Identitätskonstruktionen jenseits der Geschlechterdifferenz wird aber nur vereinzelt eingeräumt, zumal das Intersektionalitätsparadigma zuerst im Kontext von Geschlechterforschung etabliert und weiterentwickelt wurde (zur Kritik an der »Metakategorie« Geschlecht vgl. Lykke, Nina: »Intersectionality Revisited: Problems and Potentials«, in: Kvinnovetenskaplig tidskrift 2 (2005), S. 7-17; C. Weinbach: Intersektionalität, S. 172). Demgegenüber ließe sich am Beispiel von Riesen und Zwergen in der mhd. Literatur zeigen, dass sich spezifische Personengruppen abseits von Geschlechtszuschreibungen bilden können (einzelne spätere Texte – wie Friedrich von Schwaben, das Eckenlied oder der Wolfdietrich D – kennen allerdings auch Zwerginnen oder Riesinnen).
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tion überhaupt in Frage kommen: Nichtadlige Personengruppen sind davon weitestgehend ausgeschlossen, während Drachen, Zwerge und Riesen trotz ihrer ›Fremdartigkeit‹ und ihres fallweise ›marginalen‹ Status in der erzählten Welt in den agonalen Austausch einbezogen werden können.28 Auf der Grundlage des Inklusionsprinzips ist weiterhin das literarische Phänomen der Exzeptionalität zu begreifen, das die historisch fremden Verhältnisse zwischen Einzelnen und Kollektiven pointiert und einen intersektionellen Zugriff vor besondere Herausforderungen stellt. Obschon die vorausgesetzte Kollektivzugehörigkeit die Identitätsformation trägt – weshalb man im Zusammenhang mittelalterlicher Literatur den Begriff des ›Typus‹ gegenüber jenem des ›Charakters‹ favorisiert hat29 –, gilt dem Außergewöhnlichen das besondere epische Interesse. So sehr Geschehen und Machtverhältnisse vom Personenverband aus gedacht werden30, so auffällig ist also die Hervorhebung außerordentlicher Einzelner. Ihre Unvergleichlichkeit konstituiert sich nicht allein in der gängigen Hyperbolik, die die ›Besten‹, ›Schönsten‹ und ›Stärksten‹ allenthalben umgibt, sondern auch im Bruch mit unterstellten Standards: unmâzen – jedes Maß überschreitend – schœne sind im Nibelungenlied etwa Kriemhilt und Brünhilt, womit denn auch exzeptionelle (Macht)Effekte einhergehen. Hier zeigt sich also ein mittelalterlich-poetischer SubjektÜberschuss, der sich jenseits moderner Individualitätskonzeptionen konstituiert und mit Begriffen wie ›Minderheit‹ oder ›Randgruppe‹ ebensowenig zu fassen ist. Im Exzess der kollektiv verbürgten Qualität – hier: der angeborenen Schönheit adliger Leiber – bilden sich vielmehr Singularitäten aus, deren Integrationsfähigkeit in Frage stehen kann.31 Diese literarische Figuration des Einmaligen lässt sich vor dem zeitgenössischen Horizont gedachter Ordnungen näher bestimmen. Sie kann zum einen auf die 28 Wie eine adelsgemäße Kommunikation mit Drachen möglich ist, zeigt die altskandinavische Überlieferung: vgl. etwa den gestaltwandlerischen Drachen in der Edda (Reginsmál, Fáfnismál) und der Thidrekssaga. 29 Vgl. Gerok-Reiter, Annette: »Auf der Suche nach der Individualität in der erzählenden Literatur des Mittelalters«, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin/New York 1996, S. 748-765, hier S. 751f.; Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin/Boston 2012, S. 12. 30 Müller betont, dass der Personenverband der eigentliche ›Held‹ des Nibelungenlieds sei (Müller, Jan-Dirk: »Motivationsstrukturen und personale Identität im Nibelungenlied. Zur Gattungsdiskussion um Epos und Roman«, in: Fritz P. Knapp (Hg.), Nibelungenlied und Klage, Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, Heidelberg 1987, S. 221-256 sowie Ders.: Spielregeln, S. 153f.). 31 Vgl. P. Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 389, zu Brünhilt und Isolde. Mit Bezug auf das Nibelungenlied betont J.-D. Müller: Motivationsstrukturen, S. 228, »die besondere Prägung einzelner Figuren«.
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»brisante[…], ›natürliche[…]‹ Unvergleichbarkeit und Isolation«32 von Adligen abseits ihrer Vergemeinschaftung am Hof rekurrieren; zum anderen kann sich im überlegenen Heroen ein autogenes Herrschaftskonzept gegen die komplexe Praxis idealtypisch inkorporieren.33 Greifbar wird damit zunächst, dass die Intensivierung und Radikalisierung kollektiv relevanter Qualitäten und Haltungen die literarische Inszenierung prägt. Dabei ist prinzipiell eine dialektische Konstruktion des kollektiv Verbindlichen und des Außerordentlichen zu beobachten: auch der singuläre Exzess hat seinen Bezugspunkt im gemeinschaftlich unterstellten Maß, das seinerseits in der Überschreitung manifest wird.34 Auf der Grundlage vorausgesetzter Inklusion entfalten sich dann aber vielfach Integrationsproblematiken. Anknüpfungspunkte für eine intersektionelle Analyse ergeben sich überall dort, wo Synkretismen das Exzeptionelle und Exzessive generieren. Allerdings ist die spannungsvolle Überlagerung divergenter – standesspezifischer, gattungstypischer oder erzählstruktureller – Rollenmuster und Identitätszuschreibungen bereits Gegenstand literaturwissenschaftlicher Interpretation. Eine Orientierung am Intersektionalitätskonzept kann nun erstens den Blick für die Komplexität und Heterogenität solcher Konstruktionen schärfen, zweitens aber eine wichtige Erweiterung leisten, indem Differenzbildung und Markierungspraktiken sowie deren Interferenzen und Interdependenzen entschieden auf Machtverhältnisse bezogen werden. Als »relationaler Begriff«35 kann Intersektionalität die Aufmerksamkeit zudem auf wechselseitige Konstruktions- und Bedingungsverhältnisse lenken und damit die unhinterfragte Privilegierung einzelner Analysekategorien blockieren.36 Allerdings bedarf 32 P. Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 343. 33 Vgl U. Friedrich: Unterwerfung, S. 155: »Was die politische Theorie zur rationalen Norm erhebt – ›Alle natürliche Herrschaft aber entspringt von einem.‹ –, und was sich in politischer Praxis als komplizierter Effekt kollektiver Strategien erweist, die Durchsetzung von Herrschaft, wird in der literarischen Inszenierung personalisiert«. 34 Diese Beschreibung lässt sich zwar auch auf den höfischen Roman beziehen, doch richtet sich dessen Interesse zumeist darauf, exzessive Qualitäten und Verhaltenstypen bei aller Problematisierung derart exemplarisch zu modellieren, dass sie zuletzt in kollektive Verbindlichkeit münden können (vgl. A. Schulz: Erzähltheorie, S. 128). Der Einzelne ist als Ritter zudem weniger auf einen durch Verwandtschafts- und/oder Herrschaftsverhältnisse strukturierten Verband bezogen als auf höfische Kollektive und deren besondere Vergesellschaftungsmodalitäten. 35 I. Kerner: Questions of intersectionality, S. 206. 36 Von hier aus lässt sich auch ein Desiderat der mediävistischen Genderforschung formulieren. Auf der Grundlage schon geleisteter Analysen zu Genderkonstrukten wäre eine Erweiterung auf die jeweilige Gesamtkonstellation der Differenzierungsmechanismen wünschenswert, die im nächsten Schritt zu einer kritischen Neueinschätzung des Status von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen führen könnte.
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es dazu einer historisierenden Reflexion des Differenzbegriffs37 und der Differenzierungsmechanismen, die in der mittelalterlichen Adelsliteratur weder einen Bezugspunkt in einem konstitutiven Außerhalb aller gesellschaftlichen Kategorienbildung haben, noch auf quantifizierbare Größen abzielen. Vielmehr zeigen sich qualitative Differenzierungen inklusiv gebildeter Identitäten und Sozialbeziehungen. Vor diesem Hintergrund werden die Oppositionsbegriffe ›Mehrheit‹ und ›Minderheit‹ ebenso funktionslos wie jene der ›Normalität‹38 und der ›Anomalie‹. Wie anders sich Devianzprobleme unter mittelalterlichen Bedingungen stellen, lässt das Phänomen heroischer Exorbitanz als Steigerungsfall literarischer Unvergleichlichkeit erkennen. Bezeichnet ist mit dem Begriff die Figuration eines Heldentypus, dessen Selbstmächtigkeit sich gesellschaftlicher Verbindlichkeit (und damit auch jeder Verallgemeinerung) sperrt39, wobei sich Regelwidrigkeit und -überschreitung in der Adelsliteratur häufig als unkontrollierbare, willkürliche Gewalt zeigen. Der Unterschied zum oben beschriebenen Exzess lässt sich anhand des Sprachgebrauchs im Nibelungenlied provisorisch illustrieren. Während die drei Wormser Könige als mit kraft unmâzen küene (NL 3,2: »von unermesslicher Kühnheit«) eingeführt werden, ihre Kühnheit also das kollektive Maß übersteigt, kennt man Sîvrit vor allem als »den starken«: Seine (gewalttätige) Stärke ist damit als kategoriale Differenz jenseits aller Vergleichbarkeit gesetzt. Nicht zufällig manifestiert sich Exorbitanz paradigmatisch im Bezirk der Gewalt: Aufgegriffen wird damit eine wesentliche Adelsqualität, zumal körperlichkriegerische Potenz und Waffenfähigkeit Herrschaft allererst legitimieren.40 Wenn 37 Ich verwende einen epistemologisch-konstruktivistischen (im weiteren Sinne systemtheoretischen) Differenzbegriff und verstehe Differenz daher als historisch kontingentes Resultat von Unterscheidungsoperationen. 38 Bei aller Heterogenität des Sprachgebrauchs zeichnet sich doch ab, dass sich das derzeit vorherrschende Konstrukt sozialer ›Normalität‹ im Wechselspiel zwischen der Erfüllung ideal gesetzter Normen und statistisch gebildeten, quantifizierbaren Werten (wie – unterstellter – Häufigkeit und Durchschnittlichkeit) etabliert hat. Link betont demgegenüber flexible Prozesse der Normalisierung (›Normalismus‹), die sich zunehmend von Normativität entfernen, beschreibt sie aber auf der Grundlage quantitativ beobachtbarer Ballung (vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997). Insofern ist ›Normalität‹ von der Konzeption einer ›Mehrheitsgesellschaft‹ auch nicht abzulösen, während für mittelalterliche Kulturen nur Konstruktionen einer von Qualitäten abhängigen Normativität in Rede stehen können. 39 Geprägt hat diesen Begriff von See. Vgl. See, Klaus von: »Was ist Heldendichtung?«, in: Ders. (Hg.), Europäische Heldendichtung, Darmstadt 1978, S. 1-38. 40 Entsprechend ist auch dem literarischen Helden »die adlige Gewaltfähigkeit, die konkrete, soziale Relevanz seines Körpers natürlich angeboren« (P. Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 88).
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exorbitante Gewalt ihren Bezugspunkt demgegenüber in sich selbst hat, gefährdet sie aber tendenziell die gesellschaftliche Ordnung. Darin zeichnet sich neben der Paradoxierung eines zentralen Legitimationsmusters auch die Frage nach dem Bedingungsverhältnis von Natur und Kultur ab, das adlige Herrschaft begründet.41 Der einzigartige, exorbitante Held tritt schließlich nicht jenseits aller sozialen Strukturen in Erscheinung42; sein prekärer Status43 kann daher auch Auseinandersetzungen um ordnungsbildende Gewalt und Gewaltreglementierung manifestieren. Solche Exorbitanz ließe sich demnach als Resultat einer Exklusion verstehen, indem ein signifikanter Aspekt des Eigenen dem kollektiven Zusammenhang als Ausnahmefall und sein archaisches ›Anderes‹ gegenübergestellt wird. Diese Beschreibung lässt bereits Anschlussmöglichkeiten für intersektionelle Lektüren erkennen, denn im Modus des Prekär-Einzigartigen kommt es zur Konstruktion eines ›Außenseiterstatus‹44, der zwar jede Gruppenzugehörigkeit ausschließt, in seiner Ambivalenz aber auf kollektive Machtdynamiken bezogen bleibt. Wiewohl heroische Exorbitanz im Gestus eines abgeschlossenen Aus-sich-selbst-seins in Erscheinung tritt, wird sie literarisch im Dialog mit kollektiven Ordnungen und Orientierungsmustern erzeugt. Zumal es sich um literarische Konstruktionen handelt, muss nun ein letzter Aspekt in den Blick rücken, nämlich die besondere narrative Verfasstheit solcher Differenzierungsprozesse. Ich beschränke mich hier auf Bemerkungen zum Nibelungenlied, doch kann gerade dieser Text, der sich modernen Kohärenzerwartungen so deutlich sperrt wie kaum ein anderer45, die besonderen Herausforderungen beispielhaft illustrieren, die nicht nur von der fremden Kultur, sondern auch von historisch fremden Erzählformen ausgehen. An erster Stelle ist das weitgehende Fehlen einer übergeordneten »Erzählstrategie, die auf Linearität und handlungslogische Kohärenz abzielt«, zu nennen; zu beobachten ist stattdessen die »parataktische Anordnung von Handlungssequenzen«46, 41 Vgl. U. Friedrich: Unterwerfung, S. 156f. 42 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 44; weiter Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2008, S. 303. 43 Vgl. U. Friedrich: Unterwerfung, S. 156f. sowie A. Schulz: Erzähltheorie, S. 155. 44 Hier ließe sich an die intersektionalitätstheoretischen Ansätze, dialektische Wechselverhältnisse von Identitätszuschreibung und Selbst-Ermächtigung zu fokussieren, anschließen (vgl. K. Davis: Intersectionality in Transatlantic Perspective, S. 27), wobei es mit Bezug auf mittelalterliche Texte selbstverständlich nicht um ein individuell konstituiertes Subjektbewusstsein, sondern um die Konstruktion ekzentrischer Subjektpositionen gehen muss. 45 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 13. 46 Quast, Bruno: »Wissen und Herrschaft. Bemerkungen zur Rationalität des Erzählens im Nibelungenlied«, in: Euphorion 96 (2002), S. 287-302, hier S. 287.
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die Zusammenhänge nicht syntagmatisch, sondern in Form paradigmatischer Verweisstrukturen ausbildet. Derart ›fremde Kohärenz‹ etabliert sich des Weiteren über eine Logik der Kontiguität, einer als objektiv wahrgenommenen Nachbarschaft und Nähe47, die beispielsweise erklärt, weshalb ähnlich angelegte Figuren wie Sîvrit und Brünhilt voneinander Kenntnis haben können, ohne sich je begegnet sein zu müssen. Anhand solcher Befunde sind insbesondere figurenpsychologisch orientierte Lektüren zu verabschieden; in den Vordergrund rücken dagegen jene Brüche und Leerstellen, mit denen heldenepisches Erzählen allenthalben aufwartet. Ein aggregrativ-paradigmatisches Erzählen ermöglicht nicht zuletzt Paradigmenwechsel, die konkurrierende Logiken des Handelns und divergente (Selbst-)Deutungsmuster miteinander konfrontieren, in der narrativen Kombinatorik aber auch dialogisch perspektivieren oder dekonstruieren. Dies ist insbesondere im Bereich der grundlegenden Spannung höfischer und heroischer Ordnungen zu beobachten, die konstitutiv aufeinander bezogen sind.48 An diesem Punkt zeichnet sich eine Interdependenz der Deutungsmuster ab, die sich methodisch mit den Parametern des Intersektionalitätskonzepts verbinden lässt, indem inhärente Spannungen und Überschneidungen in den Blick genommen werden. Tatsächlich scheint dieser Fokus besonders geeignet, die Mechanismen der Kohärenzbildung und deren machtvolle Effekte hervortreten zu lassen, statt eine geschlossene Ordnung der Identitäten und des Erzählens zu unterstellen.49 Inwiefern eine intersektionelle Analyse des Nibelungenlieds weitreichende Verschiebungen der intersektionalitätstypischen Gegenstände und Blickwinkel nach sich ziehen 47 Vgl. Haferland, Harald: »Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), S. 52-101, hier S. 82. Den Begriff der »fremden Kohärenz« stellt Schulz seinen Überlegungen zum Erzählen im ›Nibelungenlied‹ programmatisch voran (vgl. Schulz, Armin: »Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik«, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin/New York 2010, S. 339-360). 48 Vgl. Haug, Walter: »Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied«, in: Colloquio Italo-Germanico sul Tema: I Nibelunghi, Rom 1974, S. 35-50. Wieder in: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1990, S. 293-307. Müller betont, dass es sich bei den Kategorien ›höfisch‹ und ›heroisch‹ um analysegebundene Konstruktionen handelt, die daher stets als relationale Größen zu begreifen sind (vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 49). 49 Die Kritik am Subjektkonzept der Moderne, wie sie auch der Intersektionalitätsforschung zugrunde liegt, setzt bei der Verschleierung seiner inhärenten Destabilität, seiner Brüche und Widersprüche und seines komplexen Konstruktionscharakters an, die poststrukturalistisch orientierte (z.B. Gender, Queer und Postkoloniale) Theorien aufdecken wollen, und geht nicht zufällig einher mit der Dekonstruktion von Metanarrativen.
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muss, habe ich bereits an verschiedenen Stellen hervorgehoben: Allererst betrifft dies die historisch fremde Konstitution von Subjekten und Kollektiven, die Konzepte und Strukturen von Herrschaftsmacht sowie die spezifisch literarischen Konstruktionen von ›Außenseitern‹, deren Sonderstatus nicht über Diskriminierungsverfahren zu beschreiben ist, sondern konstitutive Ambivalenzen in den Machtverhältnissen und Identitätskonzepten gleichsam personifiziert. Dabei ist insbesondere die vormoderne Dialektik von Subordination und Herrschaftsansprüchen zu berücksichtigen, denn es geht im Folgenden ausschließlich um adlige Subjekte. Vor diesem Horizont sind nun als erstes die analyseleitenden Kategorien zu diskutieren, die für die besondere Figuration Sîvrits im Nibelungenlied bedeutsam sind.
2. K ATEGORIENBILDUNG , D IFFERENZIERUNGSPROZESSE , I NTERFERENZEN : I DENTITÄTSFORMATIONEN IM N IBELUNGENLIED Vorausschicken muss ich, dass die drei hier herausgestellten Kategorien und Differenzierungsmuster interpretatorische Abstraktionen darstellen, die einer komplexen Gemengelage abgelesen wurden, im Nibelungenlied aber keine begriffliche Entsprechung haben. Sie bilden damit ein heuristisches Frageraster, das im Dialog mit dem Text50 kritisch zu präzisieren ist. Weiterhin ist ihre Abfolge in meiner Darstellung ausdrücklich nicht als Abbild textinterner Hierarchien zu verstehen, die es erst noch zu identifizieren gilt. In allen drei Bezirken, die ich hier nur in systematisierender Raffung vorstellen kann, fokussiere ich jeweils wechselwirksame Bezüge, die intra- und interkategorialen Spannungen und Dissonanzen sowie insbesondere je körperhafte Dimensionen.51
50 Zugrunde gelegt ist die Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B, hg. von Ursula Schulze, ins Neuhochdeutsche übers. u. kommentiert v. Siegfried Grosse, Stuttgart 2011; Unterschiede der Redaktionen *B und *C muss ich hier außer Acht lassen. Die vorgelegten Deutungen, die ich auf begrenztem Raum weder vollständig ausformulieren noch detailliert am Text belegen kann, sind Gegenstand einer ausführlicheren Studie (in Vorbereitung). 51 Darin folge ich dem methodischen Vorschlag von Andreas Kraß, ›den Körper‹ nicht als eigene Kategorie intersektioneller Analysen, sondern vielmehr als alle Identitätskategorien durchquerende Dimension aufzufassen (vgl. die Einleitung zu diesem Band).
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a) Gender Mit der Frage nach der Geschlechterdifferenz im Nibelungenlied muss sich unmittelbar eine Einschränkung verbinden, denn es handelt sich um eine ständisch exklusive Konstruktion.52 Auch dort, wo vermeintlich von Männern und Frauen generell die Rede ist, können nur Bezüge zum adligen Personal hergestellt werden.53 Vor diesem Horizont entwirft der Text in den Eingangsaventiuren eine generalisierte höfische Geschlechterordnung, die beim Siegesfest nach dem Sachsen- und Dänenkrieg in der 5. Aventiure bildkräftig vor Augen geführt wird. Die Kriegsteilnehmer, unter ihnen Sîvrit, werden von den Burgondenkönigen mit dem Anblick hochadliger, überaus schöner Damen entlohnt. Dieses Aufeinandertreffen zweier Gruppen, die sich sonst überwiegend in getrennten, also je eingeschlechtlichen Lebenssphären bewegen, gibt einigen Aufschluss über die idealtypische Ordnung. Erstens wird darin das Fundament der Geschlechterdifferenz sichtbar: Adlige Frauen werden als das ›Andere‹ des Krieges, an dem sie aufgrund fehlender Wehrund Waffenfähigkeit nicht teilnehmen, figuriert. Auf dieser Grundlage können sie zugleich plausibel für die friedlichen Verkehrsformen bei Hof einstehen, die Gewalt und agonale Dynamiken virtualisieren:54 An die Stelle praktischer Konsequenzen treten symbolische Gesten, die sozialen Ausgleich sicherstellen. In diesem Punkt schließt sich das Nibelungenlied, wie die Mehrheit der zeitgenössischen Texte, einer rechtlich-politischen Geschlechterdifferenzierung an. Zwar ist das Gewaltprinzip identitätsstiftend für den Adel, doch sind adlige Damen, die nicht als selbstständige Rechtssubjekte aufgefasst werden, von unmittelbarer Gewaltausübung ausgeschlossen. Diese Differenzierung schlägt sich in einer Machtasymmetrie der Geschlechter nieder, die vielfach beobachtet worden ist: ›Weibliche‹ Identität wird grundsätzlich in Abhängigkeit vom jeweiligen Muntwalt (dem Ehemann oder einem männlichen Angehörigen) konzipiert, adlige Damen unterliegen daher männlicher huote und pflege, sind von Kriegshandlungen sowie der damit verbundenen 52 Ich beginne mit der Kategorie ›Geschlecht‹, weil die Beobachtung ihrer fundamentalen Wirksamkeit für moderne Identitätskonstruktionen den Ausgangspunkt jener Gendertheorie bildete, in deren Interesse es auch liegt, den historisch kontingenten Charakter der vermeintlich natürlichen Universalien – bis hin zu ihrer Dekonstruktion – zu exponieren. 53 Die einzige Ausnahme findet sich im Umfeld von Sîvrits Bestattung, denn an der allgemeinen Klage nehmen auch Wormser Stadt-›Bürger‹ teil (vgl. NL 1033f.), womit ausdrücklich ein adelsnahes Patriziat der edelen burgære gemeint ist. Wenn ich im Folgenden von ›Frauen‹ und ›Männern‹ spreche, sind also immer Adlige gemeint. 54 Zum Begriff vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 410-414. Solche Virtualisierung beschränkt sich selbstverständlich nicht auf Geschlechterverhältnisse, sondern definiert insgesamt die höfischen Interaktionsformen, die dem Ausgleich von Rang- und Machtdifferenzen und der Überführung von Hierarchie in Wechselseitigkeit gelten.
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Mobilität ausgeschlossen55 und nehmen nur begrenzt am Herrschaftshandeln teil, insbesondere an Vorgängen der Herrschaftsrepräsentation. Der Ausschluss von der Gewaltausübung bedingt also eingeschränkte Herrschaftsrechte; die Interdependenz56 von Geschlechterkonstruktion und Machtverhältnissen liegt insofern auf der Hand. Die höfisch inszenierte Geschlechterordnung, wie sich bei Festen und Empfängen zeigt, leistet – zweitens – eine Umstilisierung dieser Asymmetrie zur wechselwirksamen Identitätsbildung. Weibliche Schönheit bildet den Fokus kollektiver männlicher Blicke, löst hôhen muot und minne aus und regt zu ritterlicher Leistung bei Turnieren wie zu erotischer Imagination an (vgl. NL 294,1-3).57 Diese spezifische Konstellation von Begehren steuern die Burgondenherrscher durch den kalkulierten Auftritt der Damen58, womit Minnebegehren im Modus höfischer Virtualisierung zu verstehen ist: Nicht Inbesitznahme oder die Herstellung konkreter Geschlechterbeziehungen wird damit avisiert, sondern Imagination, die zu Selbstdisziplinierung anhält, die sich allein über Blicke herstellt und daher wechselseitig angelegt ist. So wird beispielsweise Sîvrits Schönheit Gegenstand der Minneblicke eines Damenkollektivs, und bei den höfischen Waffenspielen dürfen Beobachterinnen, vor denen die Herren sich auszeichnen, nicht fehlen. Zweierlei ist hier hervor-
55 Die Kemenate als ›weiblicher‹ Raum am Hof repräsentiert in moderner Sichtweise vor allem eingeschränkte Handlungs- und Bewegungsfähigkeit, gemäß mittelalterlicher Auffassung bildet sie dagegen auch einen Schutzraum, der Gewalt ausschließt und – wie das ›Nibelungenlied‹ in zwei Szenen vorführt – in dem männliche Gewalttaten zu Erzählungen transformiert und Herrschaftsrepräsentation vorbereitet wird. 56 Walgenbach plädiert aus gendertheoretischer Perspektive dafür, den Begriff der Intersektionalität durch den der Interdependenz zu ersetzen (vgl. K. Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie). Mir scheinen die im jeweiligen Begriff angelegten, konzeptionellen Unterschiede jedoch nützlich für die literaturwissenschaftliche Analyse zu sein, so dass ich immer dann von Interdependenzen spreche, wenn eine intern begründete Abhängigkeit der Kategorien vorliegt, wie hier im Fall der geschlechtsspezifisch divergenten Herrschaftsrechte. Hinsichtlich der durch externe Logiken – wie etwa die Stofftradition, narrative Strukturensembles u.ä. – bedingten Verknüpfung von Kategorien sowie der resultierenden Interferenzen liegt der Begriff der Intersektionalität dagegen näher. 57 Dass das allseitige männliche Begehren sein Ziel in der Imagination selbst finden soll, zeigt insbes. NL 298,2-4. 58 Von einem situationsunabhängigen, ›natürlichen‹ Begehren zwischen den Geschlechtern, wie es die heteronormative Ordnung der Moderne unterstellt, kann denn auch keine Rede sein: Das stets asymmetrisch inszenierte Minnebegehren zwischen adligen Herren und Damen stellt sich im Gegenteil als Resultat höfischer Kulturleistungen dar und wird gezielt für die Herrschaftsinteressen der Burgonden eingesetzt.
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zuheben: zum einen die durch Blicke strukturierte Komplementarität höfischer Körper, zum anderen der Prozess männlicher Subjektivierung. Wenn, wie oft festgestellt wurde, die männlichen Protagonisten primär über ihre Kampfkraft, die weiblichen hingegen über ihre ›Schönheit‹ definiert werden, ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich darin vor allem die Leiblichkeit (hoch-) adliger Qualität manifestiert.59 Im minne-gesteuerten Schau-Arrangement geht es also nicht etwa um ›Männerblicke‹ auf ›Frauenkörper‹. Adlige Schönheit wird zwar körperhaft gedacht, doch übergreift sie auch Gewand und Auftreten, so dass ein anatomisch fundiertes Geschlecht nirgends in den Blick gerät. Der Glanz weiblicher Schönheit bei Hof steht insofern für ein Allgemeines (nämlich sichtbare Adelsqualität) und führt die Verschiebung von Herrschaft als hierarchischer Ordnung zu Repräsentation und friedlichem Ausgleich vor Augen.60 Auf Seiten der Herren wird das durch spielerische Gewaltausübung bei Waffengängen, die keine tatsächliche Rangordnung herstellen, ergänzt. Zudem ist dieses komplementäre Arrangement nicht auf die Objektivierung der geschauten frouwen, sondern vielmehr auf männliche Subjektivierung, nämlich die Unterwerfung unter eine höfische Ordnung der zuht, abgestellt. Die strahlend schönen Frauen sind und bleiben unverfügbar; männliche Identität verwirklicht sich in diesem Rahmen als Selbstbeherrschung. Die Imaginationsmöglichkeiten, die mit dem Paradigma der Minne erschlossen werden, erweisen sich darin als herrschafts- und gesellschaftstragend. An diesem Punkt wird bereits eine Konvergenz der inszenierten Geschlechterordnung mit homosozialen Machtverhältnissen greifbar. Beim Fest in der 5. Aventiure setzen die Burgondenkönige den Auftritt der Damen vor der männlichen Öffentlichkeit gezielt als Machtinstrument zur Festigung homosozialer Bindungen – insbesondere mit Sîvrit – ein.61 Alle Überlegungen zu den Geschlechterver59 Zu den Körperkonzepten vgl. Renz, Tilo: Um Leib und Leben: Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied, Berlin/Boston 2012. Zumal der mhd. Begriff lîp und seine Realisierungen im Nibelungenlied sich nur partiell mit modernen Vorstellungen vom Körper berühren, indem beispielsweise auch Gewandung, Attribute und Habitus sowie Teilhabe am Subjektstatus darin eingeschlossen sind, versuche ich diese historisch andere Konzeption, die eine klar definierte Körpergrenze gerade nicht erkennen lässt, mit dem Begriff des Leibes anzudeuten. 60 Zur »Politik der Blicke« im Nibelungenlied vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 261-266, sowie mit Bezug auf Sîvrit ebd., S. 406: »Frauendienst ist ein kalkulierbares Mittel, den fremden Feudalherrn dauerhaft an den Hof zu binden und so den eigenen Machtinteressen verfügbar zu halten«. 61 Daher schlägt Gernot vor, dass Sîvrit Kriemhilts gruoz zuteilwerden solle: dâ mit wir haben gewunnen den vil zierlichen degen (NL 287,4: »Damit haben wir den prächtigen Ritter für uns gewonnen«.). Genau diesen Bezug auf die homosoziale Allianz formuliert dann auch Kriemhilt selbst: Nu lôn iu got, her Sîvrit, [...] / daz ir habt verdienet, daz iu
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hältnissen im Nibelungenlied haben diese trianguläre Konstellation zu berücksichtigen. Während über weite Strecken exklusiv homosoziale Verhältnisse im Mittelpunkt stehen, sind Geschlechterordnung und -beziehungen stets mit männlichen Allianzen und Machtaushandlungen verwoben. Das Fundament dieser Triangulierung bildet das Primat männlicher Identität aufgrund von Herrschafts- und Gewaltprivilegien: so wie sich ›weibliche‹ Identität von jener des jeweiligen Herren ableitet, sind Geschlechterverhältnisse nur ein Teilaspekt des gesellschaftlichen Gefüges, das allererst unter Männern hergestellt und gesichert wird. Diese Asymmetrie bedingt es ihrerseits, dass sich ein nur teilweise von der Geschlechterdifferenz bestimmtes Konzept von ›Männlichkeit‹ feststellen lässt. Der mittelhochdeutsche Begriff manheit (oft mit »Mannhaftigkeit« übersetzt) bezeichnet den performativen Nachweis einer leiblich verankerten Gewaltfähigkeit und Kampfstärke und knüpft damit an das adlige Gewaltprivileg an, von dem nicht nur adlige Frauen, sondern auch weitere Personengruppen wie Kleriker und Nichtadlige prinzipiell ausgeschlossen sind. In diesem Sinne differenziert sich ›Männlichkeit‹ nur partiell und fallweise durch Abgrenzung vom Weiblich-Anderen.62 Entsprechend insulär stellen sich jene höfischen Szenen dar, die eine idealtypische Geschlechterordnung virtueller Wechselseitigkeit entwerfen. Deren Geltung wird im Nibelungenlied nämlich gleich mehrfach begrenzt: durch erzählstrategische Brüche und Paradigmenwechsel, durch ihre Beschränkung auf bestimmte Handlungssphären und die Überlagerung mit herrschaftlich konzipierten Eheverhältnissen, insbesondere aber durch das Hervortreten von Ausnahmen und Sonderfällen. Von allen Ansätzen zur Generalisierung der (adligen) Geschlechterdifferenz sind die an Einzelnen vorgeführten Geschlechterbeziehungen, aber auch die singulären ›weiblichen‹ Subjekte, die das Nibelungenlied mit Brünhilt im ersten und Kriemhilt (vorwiegend) im zweiten Teil konstruiert, geradezu maximal unterschieden. Allererst wird die ›Abweichung‹ von der unterstellten Norm daran greifbar, dass sich beide Königinnen – unter äußerst unterschiedlichen Bedingungen – als gewaltfähig erweisen und damit genau jene Fundamentaldifferenz zu verletzen scheinen, die oben beschrieben wurde.63 Mit diesen Inszenierungen weiblicher Gedie recken sint / sô holt mit rehten triuwen, als ich sie hœre jehen (NL 301,1-3: Das vergelte Euch Gott, Herr Siegfried, [...], dass Ihr Euch die Recken so aufrichtig treu verbunden habt, wie ich sie habe sagen hören«). 62 Vgl. dazu auch Klinger, Judith: »Ohn-Mächtiges Begehren: Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit«, in: Ingrid Kasten (Hg.), Machtvolle Gefühle, Berlin/New York 2010, S. 189-217. 63 Tatsächlich könnte dies aber in der Differenzbildung selbst angelegt sein: Indem Adel sich über Gewaltfähigkeit konstituiert, sind darin prinzipiell auch Kinder, Frauen und Greise eingeschlossen, denen die Wehrfähigkeit sekundär und mit unterschiedlichen Begründungen abgesprochen wird. Zentral für diese sekundäre Differenzierung ist die leib-
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walt gehen pointierte Ambivalenzen einher, die in der Nibelungenlied-Forschung entsprechende Aufmerksamkeit gefunden haben. Insbesondere hat man misogyne Tendenzen, die ökonomisch-politische Depotenzierung und herrschaftliche Marginalisierung der Königinnen sowie deren Dämonisierung beschrieben.64 Am Beispiel Brünhilts ließe sich jedoch die besondere Komplexität einer Subjektkonstruktion zeigen, die sich den homosozialen Machtverhältnissen nicht nur sperrt, sondern auch Herrschafts- und Differenzierungsmechanismen erheblich destabilisiert. Ich kann hier nur einige markante Aspekte herausgreifen. Bezeichnend scheint mir, wie die – insgesamt seltenen – Formulierungen einer generalisierten Geschlechterordnung in die Erzählung der geschlechtsspezifischen ›Ausnahmesituation‹ eingebettet sind. Auf Isenstein, wo sich Gunther und Sîvrit gemeinsam einem gefährlichen Kräftemessen mit der exzessiv starken Brünhilt stellen müssen, ist es Hagens Bruder Dancwart, der bei zunehmender Angst vor der Fremden zu Verallgemeinerungsformeln greift (vgl. NL 441,3f). In der Kemenatenszene schöpft Sîvrit im lebensbedrohlichen Kampf mit Brünhilt seinerseits neue Kraft aus dem Gedanken an eine generell gültige Geschlechterordnung (vgl. NL 670; vgl. auch 859,1-3). Bei diesen Berufungen auf normative Machtverhältnisse unter den Geschlechtern handelt es sich jedoch um eine Verallgemeinerungsrhetorik, die der Selbstversicherung dient, alles Außerordentliche strategisch ausblendet und damit die prägnant geschilderte, exorbitante Übermacht Brünhilts gerade nicht zu reglementieren vermag. Die Figurenreden haben nämlich keine Entsprechung auf der Diskursebene: Nirgends wird Brünhilts leibliche wie herrschaftliche Sonderstellung durch die Erzählung selbst als Transgression von Geschlechtsidentität klassifiziert.65 lich, rechtlich und herrschaftlich begründete Einschränkung des Subjektstatus. Eine gesteigerte Herrschaftspotenz ›weiblicher‹ Subjekte ermöglicht dann aber auch die Überschreitung der adelsinternen Grenze und ist insofern als Sonderfall immer denkbar. Von hier aus ließe sich erklären, weshalb in der Adelsliteratur – trotz der vermeintlich verbindlichen Geschlechternorm – bemerkenswert oft gewalttätige, waffenfähige und kriegerische ›Frauen‹ auftreten, von denen eine besondere Faszination ausgeht (so etwa die ›Amazonenkönigin‹ Camilla in Veldekes Eneasroman): An ihnen wird gleichsam die Differenzierung der Differenz verhandelt. 64 Vgl. etwa Frakes, Jerold C.: Brides and Doom. Gender, Property, and Power in Medieval German Women’s Epic, Philadelphia 1994; Frank, Petra: Weiblichkeit im Kontext von potestas und violentia: Untersuchungen zum Nibelungenlied, Diss. Würzburg 2004. 65 Vreislich (schrecklich und erschreckend) ist Brünhilt, weil sie minne in eine radikale Gewaltlogik überträgt, vor allem aber aufgrund ihrer leiblichen Übermacht, der Gunther und Sîvrit nur gemeinsam und nur mithilfe der Tarnhaut gewachsen sind. Eine ›Dämonisierung‹ Brünhilts zum tîvels wîp (NL 436,4) geht zuerst von Hagen aus; nach der misslungenen Hochzeitsnacht nennt Gunther Brünhilt selbst den ubeln tîvel (NL 646,2: »den bö-
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Stattdessen – und darin liegt ein weiterer zentraler Aspekt dieser exzeptionellen Subjektkonstruktion – inkorporiert Brünhilt wie keine andere Figur im Nibelungenlied ein politisches Modell, das sich ganz auf die persönliche Stärke des Herrschenden gründet. Ihre Handlungslogik folgt durchgängig jener agonalen Dynamik gewaltbereiter Konkurrenz, die einzig auf Über- und Unterordnung abzielt und sonst ausschließlich homosoziale Verhältnisse bestimmt. Brünhilts Status als autonome Herrscherin wird bei den Isensteiner Kampfspielen mit ihrer performativen manheit zusammengebracht66, wobei die prekären Folgen dieser Vorgänge weniger die Geschlechterordnung als die homosozialen Allianzen und Machtbeziehungen betreffen. In diesem Bezirk zeichnen sich bereits intensive Überschneidungen mit dem Differenzmerkmal der Herrschaftsfähigkeit ab. Wenn Brünhilt das Prinzip der Machtausübung durch überlegene Stärke und ein radikal hierarchisches Herrschaftsverständnis verkörpert, bildet sie – und nicht etwa Sîvrit, der nie als derart ›heroischer‹ Herrscher figuriert wird67 – den Gegenpol zum höfischen Konzept, das Königsmacht durch die Verfügung über starke Vasallen, die Delegation von Gewalt sen Teufel«): Beides wird auf Diskursebene aber nicht aufgenommen (vgl. dazu ausführlich T. Renz: Um Leib und Leben, S. 110-119). Es bleibt der unbestreitbare Tatbestand, dass Brünhilt mittels list und Täuschung besiegt, unterworfen und ins Herrschaftsgefüge – freilich als dessen Königin – integriert wird. Diese spezifische Form der Subordination bringt jedoch im selben Maß Ambivalenzen in den Konstruktionen von manheit und männlicher Herrschaft zum Vorschein. 66 In der Verkoppelung von unmâzen schœne (NL 324,3: »maßlos schön«) mit michel kraft (NL 324,3: »sehr großer Kraft«) wird Brünhilt eingeführt, die nicht allein Wettkämpfe umb minne durchführt, sondern die Verlierer auch erbarmungslos köpfen lässt (NL 324f.). Auf Isenstein erscheint sie zunächst als Herrscherin mit höfischem Gefolge, doch versetzt das schiere Übergewicht ihrer Waffen und Wurfgeschosse noch vor Beginn der Kampfspiele die Wormser Recken in Todesangst (NL 433-449). Hier, wie beim Wettkampf selbst, fokussiert die Erzählung die ungeheure Wirkung von Brünhilts Übermacht und grässlicher Stärke. 67 Im Nibelungenland wiederholt Sîvrit in der 8. Aventiure nunmehr den Vorgang der gewalttätigen Eroberung und leistet durch Selbstgefährdung im Kampf den abermaligen Nachweis seiner manheit (vgl. J. Klinger: Ohn-Mächtiges Begehren, S. 192-194). Seine angestammte Königsherrschaft übernimmt er dagegen erst nach der Eheschließung mit Kriemhilt, wobei seine nur knapp geschilderte Regentschaft als Kompromissbildung höfischer und heroischer Aspekte zu beschreiben ist: Sie fußt sowohl auf Krönungszeremoniell und Lehnsvergabe als auch auf der Furcht, die von seiner außerordentlichen Stärke ausgeht (vgl. NL 711,4; 720,4); sie realisiert sich einerseits durch vorbildliche Hofhaltung und Beratung mit den Vasallen, andererseits durch die Verfügung über den unerschöpflichen, außerweltlichen Nibelungenhort (vgl. NL 771).
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und Herrschaftsfunktionen sowie gesellschaftsbildende Strategien des wechselseitigen Ausgleichs begründet. Als ›Fremde‹ bezieht Brünhilt damit zwar eine Außenseiterposition, doch ist gerade diese Position eine männlich definierte, die allererst Sîvrit zugeschrieben wurde. Dessen Exorbitanz manifestiert sich freilich nur abseits der ständischen Öffentlichkeit und fern vom Hof. Noch dazu verkoppelt die Tarnhaut, eines seiner eminent ›heroischen‹ Attribute, Überstärke untrennbar mit Unsichtbarkeit. Für die Konstruktion der Geschlechterdifferenz ist einstweilen festzuhalten, dass sie sich in Bezug auf vorgängige Herrschaftsparameter konstituiert und eine höfische Ordnung gemäß den Herrschaftsverhältnissen ausprägt, die allerdings nur partielle Geltung hat. Insbesondere zeichnen sich erhebliche Spannungen zwischen der prinzipiell unterstellten Geschlechter-Asymmetrie und den tatsächlich vorgeführten Konstellationen ab. Zwischen den Geschlechtern treten zudem konkurrierende Ordnungen des Begehrens in Erscheinung: höfische Minne verwirklicht sich als Imagination von Wechselseitigkeit, während die Brautwerbungen (Gunthers und Sîvrits) auf die Aneignung einer Ehefrau zum Zweck eigener Herrschaftsvervollständigung abzielen. Verknüpft sind beide Konfigurationen aber mit homosozialem Allianzbegehren und Machtaushandlungen unter Männern.68 Als besonderes Spannungsfeld zeigt sich weiterhin die Frage der Gewaltausübung, die unterschiedliche Herrschaftsmodelle ausprägt und für eine generalisierte Geschlechterdifferenz in Dienst genommen wird, deren Zuschreibungen sich freilich am Phänomen der Exorbitanz brechen. In diesem Bereich verschränken sich Geschlecht, Herrschaftspotenz und ›Fremdheit‹, die ich daher auch als zentrale Differenzierungsmechanismen herausgegriffen habe. b) Herrschaftsfähigkeit Aus intersektionalitätstheoretischer Perspektive mag es nachgerade widersinnig erscheinen, Herrschaft als differenzbildenden Faktor aufzufassen, statt sie als Resultat komplexer Zuschreibungen auszuweisen. An genau diesem Punkt muss jedoch die oben beschriebene Alterität mittelalterlicher Identitäts- und Machtformationen ins Recht gesetzt werden. Herrschaftsfähigkeit69 wird im Nibelungenlied als leibge68 Hier sind wesentliche Differenzen zum heteronormativen Paradigma der Moderne zu verzeichnen, die ich an dieser Stelle nicht näher ausführen kann. Hingewiesen sei nur auf das Prinzip der ständischen Gleichrangigkeit, das sowohl homosozialem als auch zwischengeschlechtlichem Begehren im Nibelungenlied zugrundeliegt und sich damit der heteronormativen Unterscheidung von Begehren, das sich entweder (heterosexuell) auf das ›Andere‹ oder (homosexuell) auf das ›Gleiche‹ richten muss, sperrt. 69 Diese Präzisierung ist notwendig, denn grundlegende Herrschaftsfähigkeit ist Merkmal jedes Adligen, während die von Einzelnen ausgeübte Grundherrschaft im Nibelungenlied
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stützte Personenqualität vorausgesetzt, immer wieder nachgewiesen, auf ihre Geltung befragt und weiter differenziert: unter anderem auch durch das Merkmal des Geschlechts. Im Grundzug konstituiert sich Adel als Herrschaftspotenz, die sich durch Gewaltausübung, Ehre und Statusrepräsentation realisiert und in der schon beschriebenen Dialektik von Eigenmacht und Subordination die herrschaftsständische Ordnung fundiert. Im Mittelpunkt des Nibelungenlieds steht als elementarer Typus von Machtbeziehungen das Abhängigkeitsverhältnis zwischen herr und man (in Form von Lehnsherrschaft und Gefolgschaft), das sich mit genossenschaftlichen Bindungstypen, mit vriuntschaft und Verwandtschaft überlagert.70 Dabei dominieren weithin exklusiv homosoziale Verhältnisse. Rang und Status von Einzelnen und Gruppen erzeugen Hierarchien unter den adligen Herren, die einander prinzipiell gleichrangig, aber mit unterschiedlichen Herrschaftsrechten ausgestattet sind. Solche Hierarchiebildung ist durch Herkunft, Tradition und (nicht näher präzisierte) rechtliche Verbindlichkeiten abgesichert. Daneben eröffnet das Nibelungenlied aber Hierarchien der Stärke und Gewaltfähigkeit – beides ist nicht voneinander zu trennen –, die nur stellenweise der Herrschaftsordnung entsprechen. Im Krieg gegen die Sachsen und Dänen zeichnet sich außer Sîvrit zwar auch Gernot durch besondere Kampftüchtigkeit aus, doch treten dessen Leistungen hinter der Stärke und Kühnheit der Vasallen – Hagen, Ortwin, Volker oder Dancwart – merklich zurück (vgl. NL 198, 209 sowie 199 und 304). Das Leibesattribut der Kampfstärke zeigt sich damit als alternatives Muster der Unterscheidung und gradualisierte Differenz.71 Am Zusammentreffen und Auseinandertreten von Status und Stärke unterscheiden sich zudem die bereits genannten konkurrierenden Herrschaftsmodelle.72 Brünhilt vertritt in der Praxis, was Sîvrit nur als Anspruch vorträgt: Königsherrschaft legitimiert sich durch überlegene persönliche Stärke und bedingt nicht zuletzt eine klar hierarchische Gliederung.73 Die Burgondenherrschaft, mit Gunther an der Spitkeine Rolle spielt: Dargestellt werden Formen der Königsherrschaft. Dass schon die Potentialität von Herrschaft bei der Herstellung und Differenzierung von Identität bedeutsam ist, zeigt sich insbesondere an Sîvrit, der erst in der 11. Aventiure gekrönt wird, bei seiner Ankunft in Worms aber bereits einen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit dem Herrscher formuliert. 70 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 153f. 71 Auf Isenstein bildet ›Männerstärke‹ das Regelmaß, gegen das sich Brünhilts Kraft abhebt (vgl. Renz, Tilo: »Brünhilds Kraft. Zur Logik des einen Geschlechts im Nibelungenlied«, in: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), S. 8-25), doch bezieht sich Stärke auch dort auf das agonale Prinzip und ist von Gewaltfähigkeit nicht zu trennen. 72 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 177f. 73 Obwohl auch Brünhilt ihre Herrschaft (von einem namenlosen männlichen Vorfahren) ererbt hat (vgl. NL 418,2) und ihre Hofhaltung durchaus Wormser Gepflogenheiten ent-
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ze, ist dagegen durch das traditionale Prinzip74 sowie die Delegation von Herrschaftsfunktionen und die Ausbildung eines ›Machtapparats‹ geprägt, womit höfische Strategien wechselseitigen Ausgleichs einhergehen und hierarchische Differenzen überformt werden. Diese Konkurrenz der Modelle führt zu Perspektivierungen im Text und wird nicht etwa zugunsten einsinniger Präferenzen aufgelöst.75 Sie steht zudem in Verbindung mit unterschiedlichen Typen der Gewaltanwendung. In Brünhilts Machtbezirk ist überlegene Leibesgewalt Grundlage für die Herstellung von Über- und Unterordnung, während der Wormser Hof Gewalt gegen äußere Feinde einsetzt, intern jedoch über Strategien der Gewaltreglementierung – etwa in Form spielerischer Inszenierung beim Turnier oder als höfische Selbstdisziplinierung – verfügt. Damit stehen dem agonalen Habitus, der immer auf Hierarchiebildung abzielt, höfische Verhaltensmuster der Virtualisierung und der Herstellung von Wechselseitigkeit gegenüber. Adlige Herrschaftsfähigkeit zeigt sich also als Fundament für komplexe, teils widerstreitende Differenzierungen, indem zu Rangunterschieden divergente Modalitäten des Gewalteinsatzes, der Vergesellschaftung und Hierarchiebildung treten. Die vorausgesetzte Geschlechterordnung soll, wie schon gesagt wurde, Frauen zwar prinzipiell von Gewaltausübung ausschließen, womit ihre Herrschaftspartizipation eingeschränkt wird, doch führen die eindrucksvollen Ausnahmefälle im Nibelungenlied die begrenzte Reichweite des normativen Arrangements von Geschlecht und Gewalt vor Augen. Präzisieren lässt sich dies anhand der unterschiedlichen Subjektivierungs- und Subordinationsprozesse, die Brünhilt und Sîvrit als Repräsentanten eines auf Stärke gegründeten Herrschaftsprinzips durchlaufen. In dieser Optik erscheint Brünhilt als konsequente Vertreterin eines agonalen Habitus, der nur hierarchische Machtverhältnisse zulässt.76 Gemäß dieser Logik unterwirft sie sich Gunther zweimal, sobald er ihr (vorgeblich) seine überlegene Körperstärke erwiesen hat. Die Ehe stellt sich Brünhilt entsprechend als Herrschaftsverhältnis dar, das mit friedensstiftender höfischer minne nichts gemein hat (vgl. NL 675,3f.). Widerstand leistet sie immer dann, wenn die hierarchische Ordnung uneindeutig zu werden droht. Ihre Subordination erfolgt demnach gemäß ihrem eigenen Herrschaftsverständnis77, an dem sich bis zu ihrem Verschwinden aus der Handlung spricht, dominiert in der Erzählung das heroische Machtprinzip und begründet damit implizit den Sonderfall autonomer ›weiblicher‹ Herrschaft. 74 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 130ff. 75 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 170-181. 76 Brünhilt kennt, so Müller, »nur die Alternative von Befehlen und Gehorchen, Herr und Knecht« (J.-D. Müller: Spielregeln, S. 178). 77 Schon von daher verbietet sich die immer wieder vertretene Einschätzung von Brünhilts Entjungferung als ›Vergewaltigung‹ (vgl. J.C. Frakes: Brides and Doom, S. 120f.; anders T. Renz: Um Leib und Leben, S. 102f.). Selbstverständlich geht es hier nicht um die Zu-
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nichts ändert. Ihre Gewaltfähigkeit wird ihr durch den Ehevollzug zwar körperlich entzogen, doch betont Brünhilt, wie der Streit mit Kriemhilt zeigt, weiterhin ihren Vorrang als Königin des (vermeintlich) mächtigsten Herrschers. Komplexer und widersprüchlicher gestaltet sich dagegen Sîvrits Subjektivierung und Subordination durch höfische minne, die sich im Spannungsfeld von exzessiver Gewaltfähigkeit und deren Reglementierung, von Herrschaftsansprüchen und Selbstunterwerfung sowie zwischen agonalen und höfischen Handlungsmustern, homo- und heterosozialer Ausrichtung vollzieht (dazu ausführlicher weiter unten). In Bezug auf die Differenzierung von Herrschaftsfähigkeit durch Gewalt und Stärke, Habitus und Geschlecht ergibt sich zunächst also ein paradoxer Befund: Am konsequentesten illustriert den ›männlich‹-agonalen Verhaltenstyp eine ›weibliche‹ Figur.78 Diese Interferenzen von Geschlecht und Herrschaftsfähigkeit stehen in unauflöslicher Verbindung mit dem Phänomen der Exorbitanz, das die Machtverhältnisse verkompliziert. Wie Sîvrit ist Brünhilt eine Ausnahmegestalt, deren Erscheinen im Text neue Regeln des Erzählens wie des Handelns hervorruft. Beiden gemeinsam ist exzessive Gewaltfähigkeit und eine radikalisierte, unvergleichliche Stärke, die das kollektive Maß sprengt. Sie wird als ›Naturgewalt‹ gesetzt (und inszeniert), im Wettkampf auf Isenstein aber auch gegeneinander abgewogen: Brünhilts Kraft erweist sich Sîvrits dabei insofern als überlegen, als ihm nur die Tarnhaut mitsamt der zusätzlichen Zwölfmännerstärke den Sieg ermöglicht (vgl. NL 335,1). Wenn allein das ›magische‹ Instrument, das zugleich der Täuschung dient, eine derartige Vereindeutigung herstellen kann, zeigt sich auch darin eine Sonderqualität jenseits kollektiver Maßstäbe. Mit dem Paradigma exorbitanter Stärke wird eine absolute Differenz behauptet, die quer zur gradualisierten Kriegerstärke steht und sich sozialer Integration sperrt. Ihre Leibhaftigkeit stellt sich aus Sicht des Hofs in der Ambivalenz von Furcht und Faszination dar, so dass sie einerseits begehrt, andererseits – mit unterschiedlichen Mitteln – getilgt werden muss: Brünhilt verliert sie mit der Entjungferung79, Sîvrit mit dem Tod. schreibung einer individuellen Subjektivität, sondern um die konsequente Konstruktion eines heroischen Subjekts, das sich allererst durch Fremd-, nicht durch Selbstunterwerfung konstituiert (so die systematisierende Gegenüberstellung von Heros und Ritter bei U. Friedrich: Unterwerfung, S. 156). 78 In derartiger Zuspitzung gilt dies freilich nur für den ersten Teil des Nibelungenlieds, während sich im zweiten Teil auch im Burgondenkollektiv ein agonal-heroischer Habitus durchsetzt. Aus der im ersten Teil dominanten höfischen Perspektive potenziert Brünhilts Geschlecht zunächst die ›Fremdheit‹ dieses Habitus. 79 Die entsprechend auch nicht als ›sexueller‹, sondern als herrschaftlicher Vorgang zu beschreiben ist. Allererst wird damit der Zusammenhang von Brünhilts Herrschaftsfähigkeit und Geschlecht vereindeutigt und der Zuschreibung wîp (in der Doppeldeutigkeit von
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Die Geschlechterdifferenz bedingt also die divergenten Modi der Bewältigung des Exorbitanten bis hin zur Vernichtung,80 die sich bei Sîvrit abermals komplexer darstellen als bei Brünhilt. Allerdings ist dieser Befund nicht mit einer Geschlechterhierarchie zu verrechnen, die etwa ›weiblicher‹ Stärke geringere Bedeutung beimisst. Brünhilts Geschlecht erweist sich vielmehr als Bedingung ihrer Integration an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie81, während Sîvrits prekärer Status in den Machtaushandlungen immer nur vorübergehend suspendiert werden kann. Beide Entwürfe sind aber von den Inszenierungen so bedrohlicher wie begehrenswerter ›Fremdheit‹ nicht zu trennen. c) Fremdheit Vremde82 ist im Nibelungenlied ein räumlich konzipierter Begriff, der zunächst alles umfasst, was sich außerhalb des je eigenen Machtbezirks befindet oder von außerhalb kommt.83 Zum relationalen Verständnis von Fremdheit als (herrschaftsbezogener) Auswärtigkeit tritt aber schon früh eine qualitative Differenz, denn der im Kol›Frau‹ und ›Ehefrau‹) Vorrang verliehen: Dône was ouch si niht sterker dann ein ander wîp (NL 679,1: »Da war auch sie nicht stärker als eine andere Frau«). 80 Gerade in Sîvrits Fall ist Vernichtung aber nicht mit radikalisierter Marginalisierung oder einem Auslöschen des übermächtigen Heros gleichzusetzen: Schon der Handlungsverlauf zeigt, dass seine fortgesetzte Präsenz (im Gedächtnis und den Spuren seiner Exorbitanz) ebenso übermächtige wie verheerende Wirkungen hat. Seine Unverfügbarkeit für kollektive Aneignungsprozesse beherrscht in einer transformierten Konstellation weiterhin das Geschehen. 81 Ihre ›Unterwerfung‹ ist dagegen nur mit magischen Hilfsmitteln und Täuschung zu bewerkstelligen und gerade nicht geschlechtsspezifisch bedingt. 82 Mit dem Begriff der ›Fremdheit‹ bezeichne ich hier stets einen spezifischen Modus der Perspektivierung: ›Fremd‹ ist, was außerhalb des (sozial, politisch, räumlich) ›Eigenen‹ lokalisiert wird. Die prekären Grenzverläufe dieser dialektischen Konstruktion werden im ersten Teil des Nibelungenlieds aus Sicht des Burgondenhofs ausgelotet. 83 Diese herrschaftsspezifische Zuordnung zeigt sich schon darin, dass ›Fremdheit‹ am häufigsten in der Formel von den vremden und den kunden (NL 25,4: »[d]en Auswärtigen und den Einheimischen«) bei Hofe auftritt (vgl. auch NL 35,4; 252,2 u.ö.), zunächst also Personengruppen, die der eigenen Herrschaft unterliegen, von solchen unterscheidet, die anderswo zugehörig sind. Ins selbe semantische Feld gehört der Terminus gast, der mhd. auch den Fremden bezeichnet. Weiterhin wird vremde oft als – zeitlich oder räumlich begrenzte – Verhältnisbeschreibung im Sinne von ›unbekannt, unvertraut‹ oder ›fern‹ verwendet (NL 44,4; 82,4; 86,4; 134,4 u.ö.). Daher kann das seltenere Verb vremden auch ›fern bleiben, sich fernhalten‹ bedeuten, womit mangelnde Vertrautheit einhergeht (NL 283,3; 1446,1).
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lektivum vremdiu lant (»Fremdlande«) in eins gedrängte Außenbezirk bildet zugleich eine Zone außerordentlicher Vorgänge. Jenseits der – meist durch Gewässer markierten – Grenzen ist dieser Raum kaum topographisch differenziert, ausgezeichnet wird er vielmehr durch exzeptionelle Bewohner (Drachen, Riesen, Zwerge), durch Gegenstände mit magischen Eigenschaften, ungewöhnliche Gebräuche sowie Handlungsmöglichkeiten, die sich als Überschreitung des Gewohnten und Vertrauten konstituieren.84 Das solchermaßen ›Fremde‹ tritt also nur aufgrund eines spezifischen Blickwinkels in Erscheinung und stellt sich im Bezug auf das ›Eigene‹ als Resultat dialektischer Perspektivierung dar. Im Nibelungenlied wird dies nicht nur implizit kenntlich, sondern explizit als gerahmter Erzählvorgang inszeniert. Erst Hagens Bericht über Sîvrits heroische Taten eröffnet den Blick auf die außerhistorische Anderwelt und erzeugt das Bild jenes ›anderen‹ Sîvrit, der mit dem Xantener Königssohn der 2. Aventiure vorerst nur den Namen gemeinsam hat. Erst hier lässt sich ›Fremdheit‹ auch als kategoriales, nicht relationales Personenattribut verstehen und zeigt sich zugleich als Resultat von Zuschreibungen und Markierungspraktiken, die mit dem Konzept des ›Othering‹ näher gefasst werden sollen. Entwickelt wurde dieses Konzept im Zusammenhang postkolonialer Fragestellungen, um die koloniale Produktion ›anderer‹ bzw. ›fremder‹ Subjekte durch Diskurspraktiken der Beherrschung und Marginalisierung offen zu legen.85 Die Selektionsprinzipien und Sinngebungsverfahren, die ›Fremdheit‹ erst konstituieren, ermöglichen die Ausgrenzung und Subordination der ›Anderen‹, befestigen aber gleichermaßen die eigene Identität. So bleibt diese ethnozentrische Konstruktion von Ambivalenzen geprägt, die die Machtdiskurse durchaus stören und destabilisieren können. Das Nibelungenlied realisiert eine strukturell analoge Konstellation, wenn die ›Fremden‹ außerhalb des höfischen Zentrums prinzipiell als Subjekte künftiger Unterwerfung oder Indienstnahme zugunsten eigener Machtkonsolidierung wahrgenommen werden. Zugleich geht es, wie die Werbung um Brünhilt zeigt, nicht um territoriale Herrschaftserweiterung, sondern um die Integration der 84 Von dieser Fremde haben nur Einzelne – nämlich Hagen und Sîvrit – Kenntnis (vgl. B. Quast: Wissen und Herrschaft). 85 Vgl. einführend Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: Post-Colonial Studies – The Key Concepts, London/New York 2005, S. 156-158. Der Begriff geht zurück auf Spivak, Gayatri Chakravorty: »The Rani of Sirmur«, in: Francis Barker et al. (Hg.), Europe and its Others, Vol. 1. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, Colchester 1985, S. 128-151. Analytische Perspektiven und Frageinteressen lassen deutliche Gemeinsamkeiten mit dem Intersektionalitätskonzept erkennen, zumal mit der Analyse von Markierungspraktiken auch Prozesse der Differenzbildung in den Fokus rücken. (Die Kategorie der ›Fremdheit‹ im Sinne von ›Ethnizität‹ verwendet etwa C. Klinger: Überkreuzende Identitäten, S. 43f. und 47f.)
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fremden Braut ins Wormser Hofgefüge. Die Dialektik der Fremdheitskonstruktion ist, besonders in Sîvrits Fall, mit Figurationen der Grenzüberschreitung verknüpft86 und kreist um das Problem exorbitanter Gewalt. Derart regelwidrige Exorbitanz kann nur in bzw. aus der Ferne und im Zusammenhang der Fremde sichtbar gemacht werden, dann aber unter weitgehendem Ausschluss der Hofgesellschaft, also der textinternen Öffentlichkeit. Wie sich das ›Othering‹ Sîvrits im Nibelungenlied vollzieht, stelle ich im nächsten Abschnitt genauer dar. Kurz gefasst kulminiert die Integration des Exorbitanten in dessen Assimilation, indem seine außerordentliche, aber unsichtbare Stärke – ebenso erfolgreich wie verhängnisvoll – für den Leib des Herrschers vereinnahmt wird. Die Verwundbarkeit des vermeintlich unversehrbaren Drachentöters wird nur vor diesem Horizont verständlich, muss die Aufmerksamkeit zuerst aber auf die besonderen Verkörperungen des ›Fremden‹ lenken. Belebt wird die Anderwelt, die weder geographisch noch historisch fixiert ist, vor allem von Unikaten. So wie es im raumzeitlichen Außerhalb des Hofs nur einen Drachen und einen Zwerg (Alberich) gibt, existieren auch nur ein Nibelungenhort und eine Tarnhaut.87 Die Gattungsbezeichnungen rise, lintrache und getwerc markieren die je physische ›Sondernatur‹, Alberich wird aber mit den Epitheta stark, grimme, küene und wild weiter hervorgehoben (NL 95; 491f.) und so ausdrücklich dem ›fremden‹ Bezirk außerzivilisatorischer Gewalt zugeordnet. Daran partizipieren auch Brünhilt und Sîvrit: Mit ihrer überlegenen Stärke geht jeweils eine – freilich unterbetonte – besondere Körpergröße einher (vgl. NL 71,3; 462,1). Zeigt sich beider Ausnahmeleiblichkeit also primär performativ, in bedrohlicher Gewaltausübung, so tritt doch bei Sîvrit die mit Drachenblut gehärtete Haut als leibliche Markierung hinzu. Von der ersten bis zur neunten Aventiure sind die Manifestationen des ›Fremden‹ insofern räumlich und narrativ eingehegt, als sie nur unter je spezifischen Modalitäten zum Vorschein kommen. Dies endet, wenn Brünhilts Integration (vorerst) scheitert und Sîvrit sie mithilfe der Tarnhaut ein weiteres Mal, nun aber im Zentrum der höfischen Welt, für Gunther unterwerfen muss. Damit ist ein erster Auftakt für die Dekonstruktion der Fremdheitsdifferenz gesetzt. Im Blick auf das Textganze muss nämlich auffallen, dass auf Brünhilts vollständige Absorption in den Herrschaftsverband sowie auf Sîvrits Ermordung (im ersten Teil) ein Verschwimmen der zuvor gültigen, Differenzen fixierenden Per86 Einzig Sîvrit zeichnet sich durch die mehrfache Überschreitung der Grenzen zwischen dem bekannten und dem fremden Raum aus und transferiert nicht zuletzt anderweltliche Güter – wie den Nibelungenhort und die Tarnhaut – in die höfische Welt, wo sie ambivalente Wirkungen entfalten. 87 Allein die Riesen im Gefolge Schilbuncs und Nibeluncs treten einmal als Gruppe auf (vgl. NL 92,2), wobei in der 8. Aventiure, bei Sîvrits Rückkehr ins Nibelungenland, wieder nur ein Riese vorkommt.
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spektive (im zweiten Teil) folgt. Im Kollektiv überschreiten die Burgonden nun die trennende Grenze88 und werden in der Fremde, am heidnischen Etzelhof89, selbst zu Fremden. Diese Überlagerung ist symptomatisch für eine Konstellation, in der Grenzverläufe unklar werden und Herrschaftsstrukturen sich auflösen. Denn auf »ihrem Weg in den Untergang mutieren die Burgonden zu Nibelungen«, und damit »geht auf sie die zerstörerische Gewalt, die ›von außen kommt‹, über«: »Die Richtung, in die die blinde Gewalt wirkt, hat sich verkehrt«.90 Über die Verkehrung der Blick- und Deutungsrichtung hinaus ereignet sich aber die Zersetzung der zuvor gültigen Unterschiede: Herrschaftsstrukturen wie Divergenzen der Kampfstärke lösen sich überall dort auf, wo jeder Einzelne und alle gemeinsam zu entfesselt kämpfenden Heroen werden.91 Unter diesen Bedingungen kann es auch Exorbitanz, deren Singularität sich gegen das Kollektiv-Verbindliche abhebt, nicht mehr geben. Insgesamt scheitert die Ordnung der ›Fremdheit‹ also konsequent an ihrer inhärenten Dialektik, indem subordinierende Integration zur Inklusion und das ›Fremde‹ derart zum Prinzip des Eigenen wird, dass es keine identitätssichernde Differenz mehr stiftet. Auch Kriemhilt ist in diesem Zusammenhang fremd geworden und erscheint, wenn sie Rache an den eigenen Verwandten nimmt92, nicht länger als höfische Königin, sondern als vâlandinne (NL 1745,4; 2368,4): als Teufelin und Ungeheuer. Anders als die herrschaftlichen Differenzierungen bleibt der Geschlechtsunterschied insoweit gewahrt, als Kriemhilts abschließende Gewalttat – die ihn zunichtemachen müsste – umgehend mit ihrer Zerstückelung beantwortet wird (NL 2371,1f.). Damit ist die friedlich-höfische Geschlechterordnung indes ebenso radikal zusammengebrochen93 wie die übrigen hier beschriebenen Differenzierungsme-
88 Diese Grenze wird durch die Donau markiert, nach deren Überschreitung sich auch das Raumgefüge wandelt (vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 334). 89 Die Differenz der Religion ist dafür allerdings unerheblich (vgl. ebd., S. 199); sie wird nur fallweise aufgerufen und stellt im Untergangsgeschehen auch deswegen keine verbindliche Ordnung her, weil auf Etzels Seite neben den Hiunen christliche Exilanten und Heroen gegen die Burgonden kämpfen. 90 J.-D. Müller: Spielregeln, S. 337 und 342. 91 Vgl. dazu Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied, 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2009, S. 162. 92 Wie oben beschrieben bildet ›Verwandtschaft‹ ein mit Herrschaft verkoppeltes Differenzmerkmal, das zuvor gleichsam naturgegeben den Zusammenhalt des Personenverbands stärkte, mit Kriemhilts Blutrache an den eigenen Brüdern jedoch zum markantesten Symptom der Entdifferenzierung wird. 93 Dass sie im Untergangsszenario keine Geltung mehr hat, ist schon zuvor deutlich geworden und zeigt sich prägnant, wenn Volker einen Hiunen erschlägt, weil Minne und über-
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chanismen. Von der Welt adliger Herrschaft und Ehre bleibt nichts übrig, folgen kann darauf nur allgemeine Verzweiflung: Diu vil michel êre was gelegen tôt. / diu liute heten alle jâmer unde nôt (NL 2375,1f: »Das glanzvolle Ansehen war da verloschen und tot. Alle Leute trauerten in Jammer und Elend«). Die Konfigurationen, Interdependenzen und Interferenzen der diskutierten Kategorien ergeben insgesamt ein hochkomplexes Bild. Adelsherrschaft und -identität bilden das Fundament aller Differenzierungsprozesse, wobei der Geschlechterdifferenz nur partielle Geltung zukommt, doch treibt die Erzählung Spannungen und Widersprüche hervor – und dies auch anhand von Geschlechterverhältnissen, die gerade nicht der unterstellten Ordnung entsprechen. Diese Störfälle werden indes nicht auf eine Geschlechterproblematik festgelegt und nehmen ihren Ausgang vom Phänomen der Exorbitanz, das sich seinerseits als Schnittstelle divergenter Differenzierungsprozesse erweist und im Modus der ›Fremdheit‹ in Erscheinung tritt. Die Überkreuzung dieser quer einschießenden Differenz mit der Herrschaftsordnung führt letztlich zur Dekonstruktion von Unterschieden und Machtverhältnissen. Meine abschließenden Überlegungen konzentrieren sich daher in fünf Schritten auf die widerspruchsvolle Konstruktion des exorbitanten Sîvrit.
3. S ÎVRIT Sîvrit, königlicher Ritter aus Xanten, zieht nach Worms, um die einzige ihm gemäße Braut zu gewinnen. Bei seiner Ankunft erkennt Hagen in ihm jenen singulären Heros, der ein ganzes Heer von Riesen und Recken eigenhändig niedermähte, den Nibelungenhort gewann und einen Drachen tötete. Diese diskrepanten Bilder von Sîvrit konkurrieren im Nibelungenlied, überlagern sich und interferieren: gleiches Gewicht kommt ihnen freilich nicht zu. Im Handlungsgang dominiert über weite Strecken der ›höfische‹ Sîvrit, während der exorbitante Held mit seinem überschießenden Gewaltpotential nur in spezifischen Zusammenhängen, gleichsam kalkuliert entfesselt wird. Die narrativen Strategien zur Entfesselung und Bändigung des Heros müssen daher genauso interessieren wie die Parameter dieser Doppelkonstruktion, denn sie verschränken Diskrepanzen und Widersprüche in einer Erzählung von komplexen Machtdynamiken. a) Höfischer Ritter, ver-fremdeter Heros Die ersten fünf Aventiuren des Nibelungenlieds entwerfen zwei Modalitäten des Erzählens von Sîvrit: zur Subjektivierung durch die höfische Ordnung der minne große Nähe zu den Damen des Hofs sein Erscheinungsbild allzusehr ›verweiblicht‹ haben (vgl. NL 1882,3f.).
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tritt Hagens ›Othering‹ des gewalttätigen Heros. Eine Verknüpfung stellt sich aber durch den Allianzwunsch der Burgonden her, denen mit der Steuerung von Sîvrits Minnebegehren auch die Indienstnahme seiner überragenden Stärke gelingt. Als Sîvrit erstmals ins Blickfeld des Wormser Hofs gelangt, spricht Hagen aus der überlegenen Perspektive des einzigen Wissenden über ihn und kontrolliert so die Deutung des Fremden, der hier ohne Stimme bleibt.94 Hagens Erzählung verbindet Fremdheitsmarkierungen mit Ausbrüchen exzessiver Gewalt, wobei Ursachen und Motive im Dunkeln liegen. Nach der Auseinandersetzung mit Schilbunc und Nibelunc tötet Sîvrit alles, was sich ihm in den Weg stellt, und seine unvergleichliche Stärke (vgl. NL 97,4) erlaubt es ihm auch, den Drachen zu erschlagen. Der Bericht endet mit der Beschreibung eines fremd gewordenen Leibs, denn das Drachenblut panzert nun Sîvrits Körper (vgl. NL 98,3f.). Ungebremste Gewalt, gepaart mit Unverwundbarkeit: Sîvrit erscheint gleichermaßen schrecklich und erschreckend, ein wahrhaft vreislîcher man (NL 95,4). Hagens abschließender Ratschlag an Gunther – sîn lîp, der ist sô küene, man sol in holden hân (NL 99,3: »Er ist so kühn, dass man ihn freundlich gegen sich stimmen sollte«) – lässt die ambivalente Wirkmacht dieses Helden deutlich hervortreten. Hagens Bericht sind nun zentrale Diskurspraktiken des ›Othering‹ abzulesen, die ein hegemoniales Wissen über die ›Anderen‹ und ›Fremden‹ erzeugen: Auf der Grundlage einer Zuschreibung naturalisierter Differenzmerkmale vollzieht sich die Positionierung ›fremder‹ Subjekte, die zugleich ihrer Einbindung in vorausgesetzte Machtstrukturen dient.95 Im Nibelungenlied geht es dabei freilich nicht um Ausgrenzung. Die Strategien des ›Othering‹ werden vielmehr zum Ausgangspunkt für Allianzbestrebungen und einen Integrationsprozess, der Sîvrit in den Dienst der Burgondenkönige manövriert. Hagens Erzählung lokalisiert ihn in einer gefährli94 An keiner Stelle im Nibelungenlied werden Sîvrits heroische Taten Gegenstand seiner eigenen Rede. In Hagens Bericht findet sich also wieder, was Ashcroft, Griffiths und Tiffin als zentrale Mechanismen des ›Othering‹ beschreiben: »the assumption of authority, ›voice‹, and control of the ›word‹, that is, seizure and control of the means of interpretation and communication« (Ashcroft, Bill/ Griffiths, Gareth/ Tiffin, Helen: The Empire Writes Back. Post-Colonial Literatures, Theory and Practice, London/New York 22002, S. 96). 95 Ich folge hier dem Analysemodell von Eggers (Eggers, Maureen Maisha: »Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. Zur Aktualität und Normativität diskursiver Vermittlungen von hierarchisch aufeinander bezogenen rassifizierten Konstruktionen«, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 56-72, hier S. 57ff.), die systematisch Markierungs-, Naturalisierungs-, Positionierungs- und Ausgrenzungspraktiken unterscheidet.
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chen Fremde und markiert ihn als vreislich, wobei seine Exorbitanz eine Naturalisierung erfährt: Sie entlädt sich naturhaft in grundloser Gewalt und wird mit dem Drachenblut zum unveräußerlichen Leibesattribut. Zugleich verschieben ihn diese Zuschreibungen vom konkurrierenden Machtzentrum Xanten, mit dem Sîvrit bis dahin identifiziert war, ins Außerhalb der höfischen Welt. Diese Dezentrierung bildet die Grundlage einer Subordination, die sich bei der Brautwerbung um Brünhilt zur (vorgeblichen) Standesminderung konkretisieren wird.96 Um das zu ermöglichen, bedarf es freilich eines komplexen narrativen Arrangements: Mit Hagens Erzählung vom überstarken, fremden Heros kooperiert in dieser Sicht ausgerechnet Sîvrits Subjektivierung durch höfische minne, da sie seine Integration erst erlaubt. Zunächst wird die hôhe minne selbst (und nicht etwa die Nachricht von Kriemhilts außerordentlicher Schönheit) Sîvrit zur Motivation für seine Werbung und zur Bewährungsprobe seiner Identitätsbildung (vgl. NL 45; 50,2f.). Im Bezug auf die gesellschaftliche Macht eines verallgemeinerten Deutungsmodells bildet sich der Selbstbezug des Subjekts. Folgerichtig resultiert daraus Sîvrits – für manche Interpreten irritierende – Bereitschaft zur Unterwerfung. Dass man ihn in Worms Kriemhilt ein Jahr lang nicht sehen lässt, nimmt er hin; die erste Begegnung wird ihm dagegen zum Anlass zweifelnder Selbstbetrachtung und treibt ihn beinah wieder fort vom Hof. Allerdings bedingt Kriemhilts Nicht-Sichtbarkeit ein ›inneres Bild‹, gleichsam als Zwang zur Imagination, die ihrerseits den Subjektgestus stabilisiert und zur Selbstreflexion antreibt (vgl. NL 130,2; 134,4). Die bleibende Distanz zur begehrten Braut trotz räumlicher Nähe ist also notwendige Voraussetzung solcher Subjektivierung, doch wird sie von den Burgondenkönigen kontrolliert und steht damit in direkter Verbindung zu den Machtverhältnissen. Indem sich höfischer ›Frauendienst‹ mit Herrendienst überlagert97, kommt es zu faktischer Subordination: Im Sachsenkrieg stellt Sîvrit seine gewaltige Stärke in den Dienst der Wormser Könige. Das Siegesfest macht im Gegenzug deutlich, wie Gunther und seine Brüder den Anblick Kriemhilts (und der übrigen Damen) machtstrategisch zur Festigung homosozialer Bündnisse nutzen, um insbesondere Sîvrit – nun schon vriunt des Königs – enger an den Hof zu binden. Als Inbild idealer höfischer Ordnung werden Kriemhilt, die schönste frouwe, und Sîvrit, der beste riter, vor der (männlichen) Öffentlichkeit als Minnepaar inszeniert. Zugleich generiert das Minnethema einen weiteren Subjektivierungsschub mit ambivalenten Effekten. Die königlichen Brüder müssen Sîvrit gleich mehrfach davon abhalten, wieder auf-
96 Vgl. Müller, Jan-Dirk: »Sîvrit: künec, man, eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes«, in: ABäG 3 (1974), S. 85-124; U. Hennig: Herr und Mann; Schulze, Ursula: »Gunther sî mîn herre, und ich sîn man. Bedeutung und Deutung der Standeslüge und die Interpretierbarkeit des Nibelungenliedes«, in: ZfdA 126 (1997), S. 32-52. 97 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 406.
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zubrechen, denn: er trûwete niht erwerben, des er dâ hete muot (NL 318,2: »Er traute es sich nicht zu, das zu erreichen, was er gewollt hätte«). Die Steuerung kollektiven Begehrens im Interesse männlicher Bündnispolitik, die Virtualisierung von minne und die Inszenierung eines verbindlichen Ideals von ›Männlichkeit‹ bilden den Horizont, vor dem sich nun Sîvrits widerständiges Begehren re-konstituiert: der zwischenzeitlich suspendierte Wunsch nach dem Brauterwerb zeichnet sich erneut ab (vgl. NL 293,4; 302). Die höfisch-virtualisierte Ordnung der Minne lässt eine Inbesitznahme Kriemhilts freilich nicht zu. Erst als Gunther seinerseits den Beschluss fasst, um Brünhilt zu werben, bringt deren bedrohliche ›Fremdheit‹ (und damit ein narrativer Paradigmenwechsel) auch Sîvrits Exorbitanz neuerlich zum Vorschein: Sie wird gewinnbringend für Gunthers Absichten eingesetzt. Im Gegenzug für seine Hilfe erhält auch Sîvrit später seine Braut, doch ist die beschriebene Subjektivierung unverkennbar Voraussetzung seiner Subordination, diese wiederum Bedingung für die Entfesselung seines unvergleichlichen Gewaltpotentials. Am Abschluss der Erzählsequenz von Sîvrits Aufnahme in Worms ereignet sich dann ein weiterer Umbruch: vom verbindlichen Ritterideal zu regelwidriger Exorbitanz. b) Männlichkeitsdifferenzen und Leibeinheit Brünhilts Werbungsbedingungen subsumieren minne dem Gewaltprinzip, denn wer sie zur Ehefrau nehmen will, muss sich einem Wettkampf auf Leben und Tod stellen (vgl. NL 325,2-4). Der höfische, endlos wiederholbare Austausch von Dienst und Huld ist damit ebenso ausgesetzt wie symbolische Unterwerfungsgesten ohne herrschaftliche Konsequenzen. An ihre Stelle tritt eine stringent agonale Handlungslogik. Die Fahrt nach Isenstein wird damit von einer einzigen Regel beherrscht, deren vielfältige Effekte sowohl die Konzeption von Männlichkeit als auch die homosozialen Verhältnisse transformieren.98 Insbesondere verschärfen sich aber die Strategien der Differenzierung und der Aufhebung von Ungleichheit. Anhand der 6.-8. Aventiure ist eine aporetische Zuspitzung zu beobachten: Maximaler Unterschiedenheit und ›Fremdheit‹ tritt die leibliche Einung Gunthers und Sîvrits, die Brünhilt nur gemeinsam besiegen können99, gegenüber. Freilich gerät 98
Verbunden ist dies mit einer erzählstrukturellen Komplexitätssteigerung durch die Verschränkung zweier Brautwerbungserzählungen und der ihnen je zugeordneten Handlungsrollen (vgl. Strohschneider, Peter: »Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied«, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 43-75).
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Die Äquivalenzbeziehung, die das ›Nibelungenlied‹ zwischen Sîvrit und Brünhilt über das Merkmal der Stärke herstellt, hat in der Forschung oft den Blick darauf verstellt,
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Sîvrits Status als überragender Heros dabei in ein prekäres Zwielicht. Seine Unsichtbarkeit ist, paradox, Bedingung für den Einsatz seiner herausragenden Stärke; seine heroische Überlegenheit und sein vormals ›mythischer Glanz‹ werden aus den öffentlich wirksamen Machtverhandlungen daher notwendig ausgeblendet. Zumal Gunther die Werbungsfahrt nicht ohne Sîvrits Mitwirkung unternehmen kann, wandelt sich zuerst die höfisch konstituierte vriuntschaft beider Herren, verschiebt sich die nur virtuelle zu tatsächlicher Gleichrangigkeit unter Waffen- und Schwurbrüdern.100 Diese Gemeinschaft wird durch Brünhilts Herrschafts- und Handlungsmaxime jedoch schon im Grundzug gefährdet: Der Stärkste soll herrschen, und im Wettkampf mit ihr soll sich jeder allein an seiner leibhaftigen Gewaltfähigkeit messen lassen. So steht die Brautwerbung um Brünhilt im Zeichen einer paradoxen Konzeption von manheit, die ihre Vormacht erweist, indem sie sich in ganzer Linie aufs Spiel setzt, damit aber auch Ohnmacht und Niederlage riskiert.101 Solche Selbstgefährdung fordert jeden Einzelnen, weshalb die von Gunther und Sîvrit, Hagen und Dancwart gebildete Gemeinschaft in recken wîse (NL 339,1: »wie die Recken«), nicht etwa als ritterlich-höfischer Verband, auszieht.102 Die Kampfstärke und Gewaltfähigkeit, damit aber auch die Herrschaftspotenz eines jeden wird im Blick der Isensteiner Beobachter entsprechend taxiert (vgl. NL 409413). Schon darin zeichnet sich ab, dass es nicht länger um ein gemeinschaftsbildendes Modell von Männlichkeit, sondern um Differenzierungsprozesse geht. Die Unterscheidung der vier Herren im Angesicht massiver Bedrohung vollzieht sich weiter über die Farbcodierung der Gewänder, die jeweiligen Reaktionen auf Brünhilts Überlegenheit und die Partizipation am alles entscheidenden Wettkampf. Allein Sîvrit wird aber in eine Äquivalenzbeziehung zu Brünhilt gerückt, die sich nicht nur durch heroische Überstärke, sondern auch über Verbindungen mit dem ›Fremden‹ herstellt.103 dass die Erzählung eine solche Zugehörigkeit im gleichen Maße blockiert wie sie sie nahelegt. Schon vorab wird darauf hingewiesen, dass Sîvrit nur durch die zusätzliche Kraft der Tarnhaut – das heißt auch: notwendig unsichtbar – imstande ist, Brünhilt im Wettkampf zu besiegen (vgl. NL 335,1-3; 455,4). Daraus folgt zugleich, dass Gunthers Mitwirkung als sichtbarer Werber zwingend notwendig ist, dass also nur beide Männer – mithilfe der Tarnhaut zu einem Leib verschmolzen – Brünhilt unterwerfen können. 100 Vgl. J.-D. Müller: Sîvrit, S. 102. 101 Vgl. NL 327,3f. sowie J. Klinger: Ohn-Mächtiges Begehren. 102 Das Stellvertretungsprinzip, das zuvor die höfische Ordnung kennzeichnete, ist dabei ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Tatsächlich greift es auch nicht zur Beschreibung von Gunthers und Sîvrits gemeinschaftlichem Einsatz bei den Kampfspielen. 103 Sie zeigt sich schon darin, dass allein Sîvrit genauere Kenntnis von Brünhilt hat (vgl. NL 328; 338; 382) und man ihn seinerseits auf Isenstein erkennt, womit Nähe und Zugehörigkeit signalisiert werden.
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Gemeinsam ist beiden ein vreislicher sit104, nämlich maßlose Gewalt und Schrecklichkeit im Kampf, womit eine exklusive Ähnlichkeit als Bedingung für Brünhilts Unterwerfung und Vereinnahmung aufscheint. Brünhilts agonale Provokation fordert gleichsam den ›anderen‹ Sîvrit, dessen Identität sich in Abhängigkeit von den durch Brünhilt bestimmten Raum- und Machtkonditionen konstituiert und der nun auf die Tarnhaut, den Ausweis seiner Taten in der ›Fremde‹, zurückgreifen muss. Seine narrative Verähnlichung mit der exorbitanten Herrscherin führt insofern auch zur Ver-Fremdung, doch weist dieses neuerliche ›Othering‹ des Heroen signifikante Unterschiede zur Konstruktion in Hagens Bericht auf. Die Markierung durch exzessive Kraft entspricht noch dem Muster der Naturalisierung, doch soll die Tarnhaut als Produkt magischer Kunst eine bloß temporäre VerFremdung gewährleisten: Sîvrits ›Fremdheit‹ ist darin alles andere als ›natürlich‹, sie wird vielmehr künstlich hergestellt und machtstrategisch eingesetzt. Zugleich verschleiert dieses Machtinstrument den Ursprung der exzessiven Kampfstärke und bringt den Heroen für die textinterne Standesöffentlichkeit zum Verschwinden. Allein in der hoffernen Welt des Nibelungenlandes wird seine leibliche Übermacht noch wirksam. Sîvrits Unsichtbarkeit beim Werbungskampf manifestiert damit seine prekäre Position auf der Grenze zum ›Fremden‹ wie auch im Spektrum von manheit. Sîvrit ist in dieser Konstellation gleichermaßen bedrohlicher ›Fremder‹ und vertrauter höfischer Freund, dessen überragende Kraft mittels Tarnhaut Gunther zurechenbar wird. So kann die Differenz der Stärke mitsamt ihrem Spaltpotential in der Leibeinheit und der gemeinsamen Performance beider Männer aufgehoben werden, deren jeweilige Anteile an den Wettkampfleistungen nicht eindeutig zu unterscheiden sind.105 Indem der unverwundbare Sîvrit erstmals für Gunther blutet – nach Brünhilts Speerwurf schießt ihm das Blut aus dem Mund (vgl. NL 456,1) – wird zudem eine Gefährdung der Körpergrenze manifest. Zugleich verkomplizieren sich Machtverhältnisse und Differenzierungsmechanismen, denn der überlegen starke Sîvrit unterwirft sich freiwillig, stellt sich mit Leib und Leben in Gunthers Dienst, während nach außen eine herrschaftsständische Ungleichheit vorgegeben wird, die nicht den Tatsachen entspricht. Diese Täuschung ruft langfristig eine Spaltung der
104 Sîvrit wurde dies anlässlich seines Kampfverhaltens im Sachsenkrieg attestiert (NL 208,4), bei Brünhilt bezieht sich diese Zuschreibung auf den grausamen Umgang mit ihren Werbern (NL 328,2; 338,2). Entsprechend wird Sîvrit als vreislicher man, Brünhilt als vreislichez wîp (NL 652,4) geführt. 105 Vgl. T. Renz: Um Leib und Leben, S. 101 sowie ebd., S. 89: »Die Tarnkappe ermöglicht nicht nur, dass die Körper Gunthers und Siegfrieds miteinander verbunden werden, sondern sie eröffnet zugleich die Frage nach der Differenzierung beider in Hinblick auf die ihnen jeweils eigene Kraft«.
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Wirklichkeit hervor106, die Sîvrits prekären Status verstetigt, denn Brünhilt hält ihn von nun an unwiderruflich für Gunthers eigenman. Die Verschränkung gegenläufiger, tatsächlicher und vorgeblicher Hierarchien beider Herren konstituiert zunächst deren Gleichrangigkeit auf einer Stufe höherer Komplexität. Im Zeichen wechselseitiger Abhängigkeit und vollständiger Einmütigkeit erscheint ihre leibliche Einung hier noch als ideale Kooperation von herr und man und homosoziales Phantasma vollständiger Überlegenheit107, das erst Brünhilts Unterwerfung unter die (eherechtliche) Geschlechterordnung ermöglicht. Freilich zeichnet sich die Aporie dieser Konstruktion bereits ab: Die Assimilation von Sîvrits exorbitantem Gewaltpotential in den geeinten Herrschaftsleib mündet in eine Ununterschiedenheit der Identitäten, die sich später gegen das homosoziale Bündnis wenden und Sîvrit das Leben kosten wird. Dass Sîvrits gesteigerte Gewaltpotenz mit list aus dem öffentlichen Blickfeld ausgeblendet werden muss, ist insofern erster Vorschein seiner späteren Ermordung. c) Unsichtbare Ungleichheit, evidente Entdifferenzierung Trug und Täuschung rufen eine Spaltung der Wirklichkeit hervor, die mit der Doppelhochzeit in Worms zunehmend Wirkung zeigt. Gegen die bei Hof inszenierte Gleichrangigkeit Gunthers und Sîvrits stellt sich Brünhilts abweichende Wahrnehmung, die auf der eindeutigen Hierarchie von Herrscher und eigenman beharrt. Ihr Widerstand in der Hochzeitsnacht lässt (wenn auch nur auf Diskursebene) die Differenz der Kräfte offensichtlich werden, so dass sich Gunther und Sîvrit am folgenden Tag in ungelîcher (NL 645,1; 649,2) Verfassung begegnen. Beide Herren wollten ihre Königinnen »mit Minne besiegen« (NL 625,2). Zwar virtualisiert die Semantik des ›Minnekriegs‹ die inhärente Gewalt gemäß höfischen Leitvorstellungen, doch bleibt darin das erwartete Herrschaftsverhältnis kenntlich. An dessen Durchsetzung ist Gunther allerdings gescheitert, während Sîvrit der rechtskräftige Ehevollzug und damit die Vervollständigung seines Herrenleibs um die ihm angemessene Ehefrau108 mühelos gelang.109 Gunthers Klage gegenüber dem 106 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 249 und 271. 107 Um ein Phantasma handelt es sich schon deswegen, weil nur die Täuschung der Standesöffentlichkeit den Sieg über Brünhilt erlaubt. Wie eine manifeste Bedrohung der geeinten Macht solche Phantasmen homosozialer Leibeinheit hervorrufen kann, zeigt auch das Rolandslied (vgl. J. Klinger: Ohn-Mächtiges Begehren, S. 197-201). 108 Vgl. P. Czerwinski: Das Nibelungenlied, S. 67f. und 73. Dass die Ehe mit Kriemhilt zur Vollendung von Sîvrits Herrenidentität führt, machen die Vorbereitungen für seine Krönung in der 11. Aventiure sichtbar (vgl. NL 701,2-4). 109 Mit der geläufigen Formel si wart im sô sîn lîp (NL 626,3: »sie wurde ihm wie sein eigener Leib«) wird dies auf den Punkt gebracht. Die Verwendung dieser Redefigur im
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vriunt entfesselt nun abermals Sîvrits magisch potenzierte Stärke, doch vollzieht sich die zweite Täuschung Brünhilts in einer gewandelten Konstellation. Am unmittelbaren Aufprall und Wettstreit der Körper partizipiert Gunther nicht länger, ein Unsichtbarer übt überlegene Gewalt aus und bezwingt die Braut in einem Akt der Stellvertretung – wenn auch mit Mühe. Brünhilts Widerstand radikalisiert so die Stärkedifferenz unter den beiden Herren, die nicht mehr mit geeintem Leib gegen sie antreten könnten. Ergänzt wird dieser körperbasierte Unterschied nun durch eine vereinbarte Differenz. Um nämlich Gunthers Partizipation am Ehevollzug abzusichern, wird zuvor verabredet, dass Sîvrit Brünhilt notfalls zwar töten, nicht aber triuten (NL 652) – also einen vertraut-zärtlichen Umgang mit ihr pflegen – dürfe.110 Allein die Unterscheidung gewaltsamer Überwältigung von minne, die Gunther anschließend an Brünhilt vollzieht, garantiert noch Gunthers rechtswirksamen Status als Eheherr. Dass diese Differenz weder für die Öffentlichkeit noch für Brünhilt kenntlich werden kann (und darf), wird sich später allerdings als fatal erweisen. Die semantische Unschärfe von triuten weist insofern voraus auf ein Verschwimmen kritischer Unterschiede. Zugleich produziert der erneute, heimliche Einsatz von Sîvrit exorbitanter Leibesmacht im Innersten des Hofs einen unkontrollierten Überschuss. Nachdem er Brünhilt besiegt hat, nimmt er ihr Ring und Gürtel.111 Diese agonale Geste der Überlegenheit wird bekanntlich zum Auslöser für Brünhilts leit und Hagens Mordplan, nachdem die geraubten Gegenstände in die Öffentlichkeit gelangt sind. Die Vorausdeutung des Erzählers (vgl. NL 677) zeigt aber schon im Moment des Rau›Nibelungenlied‹ wie in zeitgenössischen Texten zeigt deutlich, dass darin nicht etwa die Innerlichkeit einer ›Gefühlsbindung‹ zum Ausdruck kommt. Auch nach der Eheschließung Kriemhilts mit Etzel heißt es: si was im alsô sîn lîp (NL 1397,3: »sie war ihm soviel wie sein eigener Leib«). 110 Faktisch behält sich Gunther die Entjungferung Brünhilts vor, doch über eine derartige Präzision verfügt der mittelhochdeutsche Begriff gerade nicht. Mit Bezug auf Sîvrit und Kriemhilt beschreibt triuten beispielsweise den Austausch von Zärtlichkeiten, aber nicht den Beischlaf (vgl. NL 658,3; 922,2). Der Sprachgebrauch von trût und triuten im ›Nibelungenlied‹ und zeitgenössischen Texten umfasst insgesamt persönliche Nähe und Zuneigung, die sich körperlich zeigen kann, ohne darauf festgelegt zu sein. 111 Der Erzähler kommentiert: ine weiz, ob er daz tæte durch sînen hôhen muot (NL 677,2: »Ich weiß nicht, ob er das in seiner höfischen Hochgestimmtheit getan hat«). Diese Bemerkung lässt offen, ob Sîvrits Handeln einem höfisch definierten Hochgefühl oder vielmehr heroischem übermuot »im Sinne sorgloser Selbstgewißheit« (J.-D. Müller: Spielregeln, S. 239) folgt. Deutlich wird aber: »Sîvrits hôher muot ist nicht höfischer Ausdruck gemeinschaftlicher Harmonie [...], sondern ist ganz und gar selbstbezogenes Bewußtsein seiner Überlegenheit über Gunther« (ebd., S. 273).
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bes an, dass selbst Tarnhaut und Finsternis Sîvrits Exorbitanz nicht vollständig löschen können – und das, obschon die Fremdheitsmarkierungen in dieser Episode merklich zurücktreten. Die verschärfte Differenz der Kräfte – Gunther wird im Kampf mit Brünhilt geschwächt, Sîvrit erweist mithilfe der Tarnhaut seine überlegene Gewalt – manifestiert sich nur im Blick der Textrezipienten, vor der höfischen Öffentlichkeit bleibt sie dauerhaft verborgen. Damit ist Sîvrits Übermacht zum gefährlichen Geheimnis geworden, von dessen Wahrung Gunthers Herrenidentität abhängt. Mit diesem exklusiven Geheimnis setzt sich zudem die (Selbst-)Ausgrenzung beider Herren aus dem Personenverband fort. Der Königinnenstreit in der 14. Aventiure zeigt nun, dass sich die divergenten Wahrnehmungen der gültigen Herrschaftsordnung mit den verfügbaren Mitteln der Evidenzherstellung nicht mehr harmonisieren lassen. Gilt die Auseinandersetzung Kriemhilts und Brünhilts zuerst dem Vorrang des jeweiligen Ehemanns und der Frage nach den Machtverhältnissen unter den Herren, so kommt es zu einem folgenschweren Umbruch, wenn Kriemhilt die beiden geraubten Gegenstände, Brünhilts Ring und Gürtel, vorweist. Als Memorialzeichen sind sie ihr rechtswirksame Beweise dafür, dass Sîvrit und nicht Gunther Brünhilt entjungfert habe.112 Zeigt ihre ›Fehldeutung‹ einerseits die Unzuverlässigkeit der Zeichen in einer gespaltenen Wirklichkeit an, so verweist die Evidenz der Gegenstände doch andererseits auf einen unzweifelhaften Übergriff, der Brünhilts Integrität beschädigt.113 Diese Evidenz lässt sich auch durch Sîvrits Reinigungseid nicht mehr entkräften.114 Indem sich der Streit zur Identifikation desjenigen, der Brünhilt entjungferte, verschiebt, wird aber die Unterscheidbarkeit Gunthers und Sîvrits 112 Der Gürtel zeigt dies für Kriemhilt eindeutig an: jâ wart mîn Sîfrit dîn man (NL 846,4: »Ja, mein Siegfried wurde dein Mann«). Zur Zeichen- und Evidenzproblematik vgl. Wenzel, Horst: »Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im Nibelungenlied«, in: ZfdPh 111 (1992), S. 321-343; H. Haferland: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung, S. 95f.; J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 147-155. 113 Für diese Feststellung eines Übergriffs ist es zunächst unerheblich, ob er sich in Form der Entjungferung oder als Raub vollzog. Die Evidenz der Dinge verweist zudem auf Sîvrits Beteiligung an Brünhilts abschließender Unterwerfung, womit er den rechtskräftigen Ehevollzug erst ermöglichte: In Kriemhilts Deutung entfällt also nur der Unterschied von triuten und Gewalt. Ring und Gürtel lassen sich hier als mehrfach kontextualisierte Zeichen beschreiben, denen – je nach Erkenntnismöglichkeit – keine Realität oder ein verborgener, nicht mehr zu entziffernder Vorgang entspricht. 114 Indem Sîvrit beschwört, sich nicht der Entjungferung Brünhilts gerühmt zu haben, konstituiert sein Eid eine ›leere‹ Evidenz, dem jede Referenz in der erzählten Wirklichkeit fehlt (zumal sich Sîvrit nirgends in der Erzählung zu seinem Besitz an Brünhilts Gütern äußert) und der den eigentlichen Gegenstand des Konflikts zudem nicht berührt (vgl. J.D. Müller: Spielregeln, S. 362).
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selbst zum Problem: Es geht nunmehr um die Identität, die nur einer von beiden innehaben kann. Damit ist das Ausschlusskriterium, das zur Ermordung Sîvrits führen wird, im Grundzug schon formuliert. Beim Königinnenstreit verkehrt sich also die Ununterschiedenheit von herr und man, die auf Isenstein noch homosoziale Machtkonsolidierung garantierte, zur problematischen Entdifferenzierung. Mit Brünhilts Ring und Gürtel treten nicht mehr lesbare Zeichen des Unterschieds ins Licht der Öffentlichkeit und lösen eine Krise der Evidenz aus, deren Kern die unmöglich gewordene, eindeutige Zuschreibung bestimmter Leistungen an nur einen Herrschaftsträger bildet. Das exklusive Geheimnis Gunthers und Sîvrits, das nicht mehr an die ständische Öffentlichkeit vermittelt werden kann, wirkt nun endgültig spaltend und bereitet die finale Ausgrenzung Sîvrits vor. d) Un/Verwundbarkeit und Phantasmen der Übermacht Das Bild des exorbitanten Helden, dessen Ausnahmeleib jedes höfische Maß überschreitet, wird im Zusammenhang seiner Ermordung letztmals, dafür umso lebhafter, vor Augen geführt. Abermals kommen die narrativen Strategien des ›Othering‹ zum Einsatz, doch führen sie nun zur Dekonstruktion der Fremdheitsdifferenz. Sîvrits heroische Übermacht, wie sie das Nibelungenlied figuriert, ragt über die körpergebundene Stärke weit hinaus: Sein Status als exorbitanter Drachentöter ist ihm leiblich eingeschrieben, dazu ist er mit ›übernatürlichen‹ Attributen – dem unerschöpflichen Nibelungenhort und der Tarnhaut – ausgestattet, die ihn als Grenzgänger zwischen der höfischen Welt und der ›Fremde‹ ausweisen. Deren Wirkungen fallen entsprechend zwiegespalten aus. Zwar verleiht die Tarnhaut Sîvrit zwölffach gesteigerte Kraft, tilgt diese überlegene Stärke aber aus dem Raum gesellschaftlicher Sichtbarkeit. Obschon sie, laut Hagens Bericht, einzig dem heroischen Sîvrit zustehen kann, soll sie doch bei jedem Besitzer die gleiche Wirkung haben und könnte damit einem anderen gehören (vgl. NL 336,2).115 Die doppelte Bezeichnung, tarnhût und tarnkappe, zeigt ihren uneindeutigen Status zwischen Körperattribut und Gewand denn auch präzise an. Als Signum des exorbitanten Heroen und Medium seines Verschwindens ermöglicht sie die Absorption von Sîvrits Stärke in die Wormser Herrschaftsmacht und signalisiert zugleich die Möglichkeit einer Abspaltung seiner Übermacht von seinem Körper. Eine ebensolche Möglich115 Mühlherr betont weiterhin, »dass der Tarnmantel – einerseits als Trophäe den Helden auszeichnend – zugleich die Grenzen seiner Kraft und seiner Handlungsmacht anzeigt. Denn als sichtbarer Siegfried hat er diese Art von Stärke nicht [...]. Siegfried ist von vornherein ein ›gebrochener‹ Heros« (Mühlherr, Anna: »Nicht mit rechten Dingen, nicht mit dem rechten Ding, nicht am rechten Ort. Zur tarnkappe und zum hort im ›Nibelungenlied‹«, in: PBB 131 (2009), S. 461-492, hier S. 479).
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keit eröffnet auch der Nibelungenhort, als Sîvrit ein einziges Mal zu seinen Lebzeiten davon Gebrauch macht, indem er die Boten, die ihn und Kriemhilt nach Worms einladen, überreich beschenkt (vgl. NL 761). Unmittelbar darauf wünscht sich Hagen, der Hort stünde den Wormser Herrschern zur Verfügung (vgl. NL 771). Dieses Phantasma der Aneignung von Sîvrits Übermacht bei gleichzeitiger Vernichtung seines lîp liegt auch dem Mordplan zugrunde: Hagen verhilft ihm mit dem Argument, Sîvrits Reiche würden nach seinem Tod den Burgonden zufallen (vgl. NL 867,3f)116, zur Durchsetzung. Damit tritt die Kehrseite des oben beschriebenen ›Othering‹ offen zutage. Aus der Blickrichtung des Wormser Hofs zeigt sich Sîvrits hypostasierte Übermacht zuerst als Gegenstand von Begehren, Integration und Assimilation. Wo diese Strategien an ihre Grenzen geraten, bildet sich dagegen ein Phantasma vernichtender Inbesitznahme aus. Auffallen muss daher, dass Sîvrits mit Drachenblut gehörnte Haut nur dort Relevanz für die Handlung erlangt, wo sie paradoxerweise seine Tötung erlaubt. Schon im Kampf mit Brünhilt, für Gunther, blutet der Unverwundbare zweimal (auf Isenstein sowie in der königlichen Kemenate; vgl. NL 456,1; 672,2f.), wird sein unsichtbarer Leib am Höhepunkt exzessiver Gewaltausübung für die Textrezipienten sichtbar versehrt. Diese ambivalente Artikulation der Körpergrenzen ist symptomatisch für das Konstrukt eines Ausnahmeleibs, dessen ›Fremdheit‹ widersprüchlichen Zuschreibungen offensteht. Im Umfeld des Mordkomplotts treten die ambivalenten Effekte von Sîvrits Übermacht erneut hervor, wenn Gunther erst Wertschätzung für den verdienten Freund, dann aber dessen erschreckende Unbesiegbarkeit hervorhebt (vgl. NL 869,3f.). An genau diesem Punkt verspricht Hagen, die Details seiner Verwundbarkeit von Kriemhilt in Erfahrung zu bringen (vgl. NL 872,4). Kriemhilts Auskünfte weisen unter umgekehrten Vorzeichen dieselbe Ambivalenz auf wie Gunthers Rede, denn sie leitet aus Sîvrits überlegener Stärke seine besondere Gefährdung ab (vgl. NL 893,3f.; 896f.). Ihr Bericht über Sîvrits Bad im Drachenblut erweitert die früher von Hagen vorgenommene Naturalisierung seiner ›Fremdheit‹, konzentriert sie aber auf den Aspekt des Vertrauten, indem sie Sîvrits Verwundbarkeit und ihre resultierende Sorge betont (vgl. NL 899). Das Zeichen, das sie auf Hagens Bitte an Sîvrits Gewand anbringt, ist damit – in der Doppelung der Perspektiven – Markierung des Vertrauten und des Fremden zugleich. Diese Ambiguisierung der Fremdheitsdifferenz kennzeichnet insgesamt die Erzählung vom Mord an Sîvrit. Gesteuert werden die Ereignisse durch Hagens erneutes ›Othering‹ des Heros117, doch wird ›Fremdheit‹ zugleich als trügerische Insze116 Herrschaftspolitisch ist diese Vorstellung unsinnig, zumal Sîvrit bereits einen Erben gezeugt hat; sie wird auch nirgends wieder aufgegriffen. 117 Der Prozess des ›Othering‹ beginnt, als sich Hagen zur Tötung Sîvrits verpflichtet und ihn als Schädiger des Hofs aus der homosozialen Gemeinschaft ausgrenzt. Seine Frage
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nierung kenntlich, wenn Hagen nur scheinbar fremde Boten eine falsche Kriegsnachricht überbringen lässt (vgl. NL 871, 875). Ebenso inszeniert ist der Jagdausflug, der Sîvrits Exorbitanz in hofferner Wildnis neuerlich entfesselt: Mit bloßen Händen ringt er einen Bären nieder, den er zuerst noch durchs burgondische Lager treibt, bevor er ihn tötet.118 Anschließend wird er selbst wie ein Tier erlegt, dessen Kadaver man Kriemhilt vor die Tür wirft (NL 999,3). Dieser radikalen Exklusion des ›Fremden‹ folgt die Erzählung selbst jedoch nicht, denn sie bringt zugleich den vorbildlich höfischen Sîvrit zum Vorschein, der Gunther den Vortritt bei der Quelle lässt und ihm sterbend, in wohlformulierter Rede, Leib und Leben seiner Frau anvertraut (NL 993f.) – freilich erst, nachdem er mit tobelicher Gewalt noch versucht hat, sich an Hagen zu rächen (NL 980f.). Auch in der Raumsemantik überlagern sich höfische Kultur und zivilisationsferne Wildnis, denn der Jagdwald ist zugleich kolonialisierter Expansionsraum des Hofs, und Sîvrit stirbt an einem topischen locus amoenus, inmitten domestizierter und höfisch stilisierter Natur, die heroische Isolation und Gewaltexzess gleichermaßen konterkariert.119 Während wiederholte Erzählerkommentare die Beteiligten am Mordkomplott – insbesondere Hagen – distanzieren und verurteilen, wird Sîvrit in einer außerordentlich detaillierten Beschreibung als hêrlicher jeger vor Augen geführt (vgl. NL 948-953) und erfährt auf der Schwelle zum Tod eine Apotheose, die das zuvor Differenzierte, wenn nicht Unvereinbare, zusammenschmilzt. Wenn das Schlussbild solchermaßen zwischen höfischer Disziplinierung und gefährlicher Exorbitanz oszilliert, zeigt sich ein dialektisches Schillern des ›Fremden‹, das sich eindeutiger Differenzbildung sperrt. Im Kontext einer gespaltenen Wirklichkeit haben die Ordnungskategorien des Fremden und des Eigen-Vertrauten alle Zuverlässigkeit eingebüßt. Am deutlichsten wird dies mit Kriemhilts Erkenntnis, dass die Mörder ihres Mannes nicht – wie man ihr vorspielt – fremde Räuber im Wald, sondern vielmehr die eigenen Verwandten waren (vgl. NL 1043,1-3).
suln wir gouche ziehen? (NL 864,1) operiert erneut mit einer Naturalisierung, indem sie Sîvrit implizit mit dem Kuckuck identifiziert, der fremde Nester für die eigene Fortpflanzung nutzt (vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 283, Anm. 68). 118 Daher folgert Strohschneider: »Mit dem Schwert Balmunc tötet Sîfrit den Bären [...], und es ist der hornhäutige Drachentöter, der von Hagen erschlagen wird. [...] Opfer des Mordanschlags also ist der Held aus der Sîfrit-Prünhilt-Welt« (P. Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen, S. 69). 119 Lienert; Elisabeth: »Raumstruktur im Nibelungenlied«, in: Klaus Zatloukal (Hg.), 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung, Wien 1997, S. 103-122, hier S. 108f.: »Der topische Ort steht zur Handlung in zugleich zeichenhaft verweisendem und kontrastierendem Verhältnis: Siegfried wird vom Jäger zum gejagten Wild, der locus amoenus zum Mordschauplatz«.
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e) Der unverfügbare Heros: Entgrenzung Die spezifische Figuration Sîvrits als Grenzgänger, die das Nibelungenlied erzeugt, macht ihn für Integrationsprozesse aller Art nur eingeschränkt verfügbar. Seine exorbitante Übermacht wird einer höfischen Bändigung unterzogen, machtstrategisch instrumentalisiert und für die Aushandlungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden narrativ freigesetzt. Diese Konstruktion ist freilich von einer stabilen Fremdheitsdifferenz und der Unterstellung einer klar definierten Grenze abhängig, also auch von den Wahrnehmungs- und Diskursbedingungen, wie sie die Erzählung selbst vorgibt. Sîvrits heroische Vorzeit-Taten eröffnen sich nur als seltsæniu mære der Imagination der Zuhörer, seine Leistungen bei der Überwindung Brünhilts werden niemals bekannt, so dass auch seine Unsichtbarkeit im Dienste Gunthers öffentlich unkenntlich bleiben muss. Nur in einer einzigen Situation, als Sîvrit nämlich den gefangenen Bären im Hoflager wüten lässt, um ihn anschließend gekonnt zu erlegen (NL 955-959), wird seine fremdartige Überstärke vor den Augen der höfischen Öffentlichkeit – und dies auch nur in einem Grenzbezirk des Hofs – tatsächlich sichtbar. Einerseits zeigt sich hier sein unkontrollierter übermuot, andererseits demonstriert Sîvrit seine Kontrolle über unzivilisierte Wildheit und naturwüchsige Gewalt, die niemand sonst innehat.120 An dieser Stelle ist es Sîvrit, der die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, dem Eigenen und dem Fremden, verkörpert und hütet. Im Zeichen seiner unausweichlichen Vernichtung beschwört die Erzählung das Bild eines exzeptionellen, gleichermaßen höfischen wie exorbitanten Helden und hebt damit jene Leitdifferenz auf, die sowohl Sîvrits Integration in die Wormser Machtbeziehungen als auch seine Ermordung möglich gemacht hatte. Von hier aus wird verständlich, weshalb es nach seinem Tod zu ›mythischen Wucherungen‹121 kommt: Die bereits benannten Phänomene der Entdifferenzierung im zweiten Teil des Nibelungenlieds, in dem sich die ritterlichen Burgonden zu heroischen Nibelungen wandeln122, sind Konsequenz der Preisgabe einer identitäts120 Nicht zufällig wird Sîvrit in dieser Episode als ›Herr der wilden Tiere‹ vor Augen geführt, der mit ungeheurer Stärke außer Wildschwein, Elch und Wisent auch einen Löwen erlegt und den Bären mit bloßen Händen bezwingt. Diese Inszenierung hebt sich deutlich von der Figuration des wilden Mannes im Iwein ab, der zwar auch mit überlegener Gewalt über die Tiere herrscht, seinerseits aber als Mischgestalt mit zoomorphen Attributen erscheint, in der sich Natur und Kultur körperhaft verbinden (vgl. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff; Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, Berlin/New York 31981, vv. 425-470). 121 Vgl. J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 162. 122 Sie haben ihre Entsprechung in der oben beschriebenen, ebenso ambivalenten Entdifferenzierung Sîvrits und Gunthers im ersten Teil.
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und gesellschaftskonstitutiven Grenze.123 Mit der Aufhebung dieser Grenze zum ›Fremden‹ geht die Entgrenzung von Sîvrits Übermacht einher: Die von Hagen erzeugte Vorstellung, man könne Sîvrit beseitigen, sich (mit dem Hort oder seinen Reichen) aber seine Macht aneignen, bildet eine weitere Voraussetzung für die Diffusion des Exorbitanten ins gesamte Textuniversum. Als ›Stärksten‹ und ›Besten‹ hat die Erzählung Sîvrit bis hierher in der Schwebe zwischen markanter Kenntlichkeit und irritierender Unsichtbarkeit gehalten. Mit dem Mord verkehrt sich aber die Konstellation von Präsenz und Abwesenheit. War Sîvrit bei der Unterwerfung Brünhilts notwendig unsichtbar, damit ein Anderer öffentlich als der Stärkste erscheinen konnte, so macht der Mord nunmehr seine Absenz öffentlich sichtbar.124 In der ungeheuren, kollektiven Klage über den Getöteten, die den gesamten höfischen Raum erfüllt, kulminiert die paradoxe Konfiguration der simultanen Gegenwart und Abwesenheit des unverfügbaren Heros.125 Wer Sîvrit sein könnte und was er in der Fülle seiner exorbitanten Leibesmacht tatsächlich getan haben soll, bringt das Nibelungenlied ausschließlich in Brechungen und Perspektivierungen zum Vorschein. Entsprechend sind nicht allein die Kenntnisse der textinternen Öffentlichkeit begrenzt: die Erzählmöglichkeiten von Sîvrit sind es ebenso. Dieser narrativen Konfiguration entspringt die immer weiter zugespitzte Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz des unvergleichlichen Helden, die als Begehren nach dem Unverfügbaren über seinen Tod hinaus fortwirkt und die Handlung antreibt. Sîvrit verbleibt damit in jener konstitutiven Ambivalenz, die aus der höfischen Perspektivierung heroischer Exorbitanz sowie der Dynamik ihrer Integration und Assimilation zwingend hervorgeht, da sie die Fremdheitsdifferenz zuletzt kollabieren lässt. Eine intersektionell ausgerichtete Analyse des Nibelungenlieds muss zwar mit spezifischen Modifikationen – insbesondere hinsichtlich der historischen Herrschafts- und Gesellschaftskonzepte und der damit verbundenen Identitätsformationen – arbeiten, doch kann sie auf dieser Grundlage deutlicher hervortreten lassen, welche Differenzierungsprozesse die Machtkonflikte strukturieren. Sie kann insbe123 Vgl. J.-D. Müller: Spielregeln, S. 337-343. 124 Bei der Brautwerbung um Brünhilt musste Sîvrit mithilfe der Tarnhaut »aus dem Raum der Evidenz in einer Schleife der Unsichtbarkeit verschwinden, wenn Gunther als der Beste sichtbar sein sollte«; sein Tod aber »schafft den Besten aus dem Raum der Päsenz hinaus und macht doch gerade seine Abwesenheit sichtbar« (P. Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen, S. 67), nämlich als Leichnam. Die Tarnhaut und Sîvrits Leichnam sind daher auch als »inverse und unterschiedlich leistungsfähige, doch funktionsäquivalente Elemente« (ebd.) zu beschreiben. 125 Der »Riß in der Welt der Evidenz«, so Strohschneider (ebd., S. 61), besteht gerade darin, dass es die »Präsenz des Besten« unter den im Nibelungenlied etablierten Bedingungen »nur als Absenz« geben kann.
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sondere ein komplexeres Bild der Macht- und Geschlechterverhältnisse zeichnen, indem sie neben Konvergenzen gezielt Störungen und Spannungen fokussiert. Umgekehrt provoziert die ›fremde Kohärenz‹ des Nibelungenlieds aber auch Fragen nach all jenen Kategorien und Unterscheidungsmechanismen, die sich dem modernen Blick (noch) entziehen.
Literaturverzeichnis
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Autor_innen
Nataša Bedekoviü, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ältere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Judith Klinger, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik an der Universität Potsdam. Andreas Kraß, Prof. Dr. phil., ist Professor für Ältere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Astrid Lembke, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ältere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Beatrice Michaelis, Dr. phil., ist germanistische Mediävistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Michael R. Ott, M.A., ist germanistischer Mediävist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 933 (»Materiale Textkulturen«) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Lisa Pychlau-Ezli, M.A., ist Doktorandin (Ältere deutsche Literatur) am Fachbereich Neuere Philologien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ninja Roth, M.A., ist Doktorandin (Ältere deutsche Literatur) am Fachbereich Neuere Philologien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Peter Somogyi, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im »Online-Repertorium der mittelalterlichen deutschen Übertragungen lateinischer Hymnen und Sequenzen (Berliner Repertorium)« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Regina Toepfer, PD Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ältere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht 2009, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1145-8
Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken 2013, 522 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8
Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (2., unveränderte Auflage 2010) 2009, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3
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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.) Scham und Schuld Geschlechter(sub)texte der Shoah 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1245-5
Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.) Nationalsozialismus und Geschlecht Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945 2009, 456 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-854-4
Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9
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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.) Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900. Festschrift für Christina von Braun 2011, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1572-2
Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften 2010, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0
Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3
Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie
Gabriele Jähnert, Karin Aleksander, Marianne Kriszio (Hg.) Kollektivität nach der Subjektkritik Geschlechtertheoretische Positionierungen 2013, 382 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2354-3
Ulrike Klöppel XX0XY ungelöst Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität 2010, 698 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1343-8
Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.) Das Geschlecht der Anderen Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1592-0
Katarzyna Leszczynska Hexen und Germanen Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung 2009, 396 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1169-4
2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-733-2
Jana Husmann Schwarz-Weiß-Symbolik Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie 2010, 410 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1349-0
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