Das Handeln der Tiere: Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies [1. Aufl.] 9783839432266

This cross-disciplinary collection, a project by the Chimaera Research Group for Human-Animal Studies, is the first Germ

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German Pages 272 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Handeln nichtmenschliche Tiere?
I. Wie Können wir Handelnde Tiere Denken? Transdisziplinäre Konzeptualisierungen Tierlicher Agency
Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht
(In)VulnerAbilities
Nichtmenschliche Tiere als moralisch Handelnde?
»Laborratte« oder »worker« im Vivisektionslabor?
Leiblichkeit und tierliche Agency
II. Konkrete Nichtmenschliche Tiere und Ihre Agency. Von Subjekten, Kooperation und Widerstand
Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren als Ausdruck von und Herausforderung für problematische Konzeptionen tierlicher Agency
Ausbruch aus dem Schlachthof
Autonomie bei Hunden
Autonom handelnde Individuen, Kooperationspartner_innen, Naturoder Kulturwesen?
Jedes Tier ist eine Künstlerin
Informationen zu den Autor_innen
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Das Handeln der Tiere: Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies [1. Aufl.]
 9783839432266

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Sven Wirth, Anett Laue, Markus Kurth, Katharina Dornenzweig, Leonie Bossert, Karsten Balgar (Hg.) Das Handeln der Tiere

Human-Animal Studies

Sven Wirth, Anett Laue, Markus Kurth, Katharina Dornenzweig, Leonie Bossert, Karsten Balgar (Hg.)

Das Handeln der Tiere Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Detail aus dem Scherenschnitt »Seven Sleepers«/ 2014 der Künstlerin Lin May Saeed/linmay.de Satz: Johannes Borda Aquino Lektorat & Korrektorat: Karsten Balgar, Leonie Bossert, Katharina Dornenzweig, Markus Kurth, Anett Laue und Sven Wirth Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3226-2 PDF-ISBN978-3-8394-3226-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Handeln nichtmenschliche Tiere? Eine Einführung in die Forschung zu tierlicher Agency Markus Kurth, Katharina Dornenzweig und Sven Wirth | 7

I. W ie können wir handelnde Tiere denken ? Tr ansdisziplinäre K onzep tualisierungen tierlicher A gency Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency Mieke Roscher | 43

(In)VulnerAbilities Postanthropozentrische Perspektiven auf Verwundbarkeit, Handlungsmacht und die Ontologie des Körpers Dominik Ohrem | 67

Nichtmenschliche Tiere als moralisch Handelnde? Eine kritische Reflexion der Argumente von Marc Bekoff/Jessica Pierce und Mark Rowlands Leonie Bossert | 93

»Laborratte« oder »worker« im Vivisektionslabor? Zur Kontroverse um Donna Haraways Konzeptionen von Agency und ihrer Kritik an Tierrechten Sven Wirth | 115

Leiblichkeit und tierliche Agency Die Handlungsfähigkeit von Tieren im Kontext von Leiblichkeitskonzepten Karsten Balgar | 137

II. K onkre te nichtmenschliche Tiere und ihre A gency. V on S ubjek ten , K ooper ation und W iderstand Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren als Ausdruck von und Herausforderung für problematische Konzeptionen tierlicher Agency Katharina Dornenzweig | 149

Ausbruch aus dem Schlachthof Momente der Irritation in der industriellen Tierproduktion durch tierliche Agency Markus Kurth | 179

Autonomie bei Hunden Die Fähigkeit, das eigene Handeln durch selbst gesetzte Zwecke Regeln zu unterwer fen, macht nichtmenschliche Tiere im Kant’schen Sinne zu Zwecken an sich Martin Balluch | 203

Autonom handelnde Individuen, Kooperationspartner_innen, Natur- oder Kulturwesen? Der Beitrag von Führhunden zur Herstellung von Agency in Mensch-Tier-Triaden Natalie Geese | 227

Jedes Tier ist eine Künstlerin Jessica Ullrich | 245

Informationen zu den Autor_innen | 267

Handeln nichtmenschliche Tiere? Eine Einführung in die Forschung zu tierlicher Agency Markus Kurth, Katharina Dornenzweig und Sven Wirth »We think it is time to focus on animal agency.« McFarland/Hediger 2008: 16

Eine Kuh bricht aus einem Schlachthof aus und bahnt sich ihren Weg durch eine Großstadt. Ein Führhund widersetzt sich den Befehlen seiner blinden Begleitperson und rettet ihr dadurch das Leben. Eine Schimpansin malt Bilder, erlernt Zeichensprache und nutzt diese, um Bitten an eine Wissenschaftlerin zu richten. Solche Berichte begegnen uns immer wieder als Sensationen in den Populärmedien. Anders als in der Berichterstattung über nichtmenschliche Tiere im Tierindustriellen Komplex (vgl. Noske 2008), die meist nur als entindividualisierte und quantifizierbare Exemplare einer Spezies vorkommen, wird von diesen Einzelschicksalen oft anthropomorphisierend und in einer aktiven und subjektivistischen Sprache berichtet. Die Tiere bekommen Namen, ihnen wird ein konkretes Interesse sowie ein bewusstes Handeln und daraus folgend ein Subjektstatus zugeschrieben. Die Geschichten über die freiheitsliebenden und gewitzt handelnden Tiere scheinen die Ausnahme zu bilden, die die Regel bestätigen, wonach ›das Tier‹ das Gegenbild ›des Menschen‹ darstellt (vgl. Chimaira 2011: 7-11). Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen scheinbaren Einzelschicksalen und Verhaltensweisen gibt es kaum. Dies ist umso problematischer, als die Zuschreibung oder Nicht-Zuschreibung von Handlungsfähigkeit bei nichtmenschlichen Tieren – wie der Chimaira-Arbeitskreis bereits 2011 im Sammelband Human-Animal Studies argumentierte – neben einer erkenntnistheoretischen auch eine immanent politische Dimension besitzt. Werden nichtmenschliche Tiere statt als Agierende als lediglich Operationen Verrichtende und ansonsten passive ›Naturwesen‹ beschrieben, so kann die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen von Menschen zu ihnen ebenso einfach zurückgewiesen werden wie der bestehende Umgang mit Pri-

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mat_innen, Schweinen, Delfinen und Elefant_innen1 legitimiert werden kann (vgl. Chimaira 2011: 19). Die politische Dimension dieser Debatte auszuklammern, affirmiert den bestehenden Status Quo und verschleiert, dass wir es hier oftmals eben nicht mit klaren Fakten zu tun haben, sondern mit widerstreitenden Narrativen, die im Wissen um ihre Konsequenzen verfasst wurden. In diesem Sinne möchten wir die in diesem Sammelband vorgestellten Stimmen als vielfältige und sich teilweise stark voneinander unterscheidende Perspektiven auf die Fragestellung verstanden wissen, die aus unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Hintergründen verfasst wurden. Wir haben uns entschieden, die Diskussion über tierliches Handeln in diesem Band anhand des Agency-Begriffes zu führen, der gerade in der internati1 | In diesem Text wird die Darstellung sprachlicher Formen, die trotz des Bezugs auf mehrere Geschlechter nur ein Geschlecht (zumeist das männliche) benennen, durch einen Unterstrich zwischen männlicher und weiblicher Form abgebildet (›Gender Gap‹). Der Gender Gap, der im innermenschlichen Rahmen die binären Kategorien männlich und weiblich aufbrechen soll und einen Raum für all diejenigen schaffen will, die in dieser Einteilung ausgeschlossen werden oder sich selber in dieser nicht wiederfinden, versucht auf sprachlicher Ebene Irritationen hervorzurufen (vgl. Herrmann 2007). Dieses Vorgehen wenden wir auch auf die Beschreibung nichtmenschlicher Tiere an. Damit soll dazu beigetragen werden, die dualistische Konstruktion einer Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen und dem Kontinuum der verschiedenen Geschlechtsausprägungen auch bei tierlichen Individuen gerecht zu werden. Den Gender Gap auch außerhalb der menschlichen Sphäre anzuwenden, soll darauf hinweisen, dass Geschlechterverhältnisse auf mehreren Ebenen mit Mensch-Tier-Verhältnissen verwoben sind. So werden Geschlechterstereotype beispielsweise mit scheinbar natürlichen Verhaltensweisen im ›Tierreich‹ begründet. Dass aber auch hier Geschlecht nicht als binäre Kategorie gedacht werden kann, zeigt unter anderem Bruce Bagemihl mit seinem Konzept der »Biological Exuberance« (Bagemihl 1999). In dem gleichnamigen Buch werden unzählige Beispiele für Verhalten jenseits der heterosexuell-binären Matrix bei verschiedensten nichtmenschlichen Spezies aufgezeigt. Die Biologie ist ein Diskurs, wenn auch nicht die konkreten menschlichen und nichtmenschlichen Materialitäten. In diesem Diskurs dominiert eine Bezeichnungspraxis, in der Geschlechter nach der menschlichen Vorstellung auf nichtmenschliche Tiere übertragen werden. Dies geht so weit, dass beispielsweise homosexuelles Verhalten bei Bonobos mit allen möglichen Erklärungsversuchen jenseits des Sexuellen verortet wird, da es nicht in eine hegemoniale Vorstellung heteronormativer Sexualität passt. Die feministische Biologin Lynda Birke fügt ein weiteres Argument an: Sie kritisiert, dass obwohl wenig bekannt ist über Sex-/Gender-Differenzen jenseits von Menschen, eine Reduzierung tierlicher Sexualität auf Hormone und andere biologische Abläufe wieder auf eine Konstruktion von nichtmenschlichen Tieren als reinen Naturwesen hinauslaufe und deren soziale Systeme so komplett außer Acht gelassen würden (vgl. Birke 1994: 111).

Handeln nichtmenschliche Tiere?

onalen wissenschaftlichen Diskussion Konjunktur hat. Im deutschsprachigen Kontext wird Agency – wenn überhaupt – teils als Handlungsmacht oder -trägerschaft, an anderer Stelle aber auch als Wirkungsmacht übersetzt, je nachdem aus welcher (disziplinären) Perspektive sich mit dem Thema auseinandergesetzt wird. Gerade um die Offenheit des Konzeptes zu behalten und um verschiedene Aspekte berücksichtigen zu können, haben wir uns in diesem Band an den englischen Begriff gehalten. Agency hat in einigen philosophischen Debatten den teils als problematisch angesehenen Begriff ›Freiheit‹ abgelöst. In manchen Spielarten posthumanistischer Soziologie hat der Terminus allerdings eine ganz andere Tradition und wird weniger als das Vermögen eines Individuums, denn als Netzwerk von Effekten und Interaktionen theoretisiert. Im Gegensatz zu traditionelleren Handlungskonzepten, die in der humanistischen Philosophietradition auf den Menschen beschränkt sind, wird Agency häufig offener und distributiver verwendet; das Konzept Agency ist theoretisch offen für die Anwendung auf Mensch-Tier-Verhältnisse und für eine Annäherung an eine Analyse tierlicher Handlungs- und Wirkungsweisen bzw. deren Effekte. Auch diesem geringeren definitorischen und traditionsbedingten Ballast des Konzeptes ist es geschuldet, dass in diesem Band meist von Agency die Rede sein wird. Damit angesichts der Vagheit des Begriffes und der zum Teil sehr unterschiedlichen Beiträge im vorliegenden Band dennoch eine Orientierung besteht, wird in dieser Einleitung zunächst in Abschnitt 1 ein kurzer Überblick über den aktuellen Forschungsstand in den deutschsprachigen Human-Animal Studies (HAS) gegeben und die Forschungslücke in Bezug auf Agency umrissen. Danach wird in Abschnitt 2 eine genauere Erläuterung bereits bestehender Agency-Konzepte gegeben, es werden erste kritische Punkte angesprochen und die Forschungslücke, die dieser Band füllen möchte, wird theoretisch herausgearbeitet.2 Eine detailliertere Übersicht über die verschiedenen Beiträge in diesem Band wird dann in Abschnitt 3 erfolgen.

Z um E ntwicklungsstand der H uman -A nimal S tudies (im deutschspr achigen R aum) Die Erforschung gesellschaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse im deutschsprachigen Raum hat sich in den letzten fünf Jahren in einem rasanten Tempo entwickelt. Seit Beginn der Arbeit des Chimaira-Arbeitskreises im Jahre 2010 und der Herausgabe unseres ersten Sammelbandes Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen (2011) hat sich die Zahl 2 | Für eine darüber hinausgehende Einführung in die Genese des Agency-Begriffes sei auf den ersten Beitrag dieses Bandes von Mieke Roscher verwiesen.

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der themenrelevanten Publikationen vervielfacht.3 Auffällig ist hier zunächst, dass nichtmenschliche Tiere nun auch innerhalb von weiteren Disziplinen in den Fokus rücken. Hervorzuheben sind in den letzten Jahren vor allem Beiträge aus den Geschichts-, Kunst- und Kulturwissenschaften. Exemplarisch nennenswert sind hier die Bände Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History (Krüger/Steinbrecher/Wischermann 2014) sowie Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch (Borgards 2015). Bemerkenswert ist inzwischen auch der Einfluss der Neurowissenschaften und der Philosophy of Mind, durch welche die kognitiven Fähigkeiten nichtmenschlicher Tiere verstärkt zum Forschungsgegenstand wurden. Die Perspektive vieler der aktuellen Publikationen zielt auf sehr klar abgegrenzte Fragestellungen, wie etwa Studien zu einzelnen Tierarten oder speziellen Aspekten der Mensch-Tier-Verhältnisse. Das Bewusstsein für ein gemeinsames Forschungsfeld und die transdisziplinäre Vernetzung scheinen indes bislang zu fehlen. Hintergrund hiervon ist die Tatsache, dass ein Großteil der Forschungsarbeiten nicht aus der disziplinenübergreifenden HAS-Perspektive geschrieben wird, welche in der akademischen Landschaft des deutschsprachigen Raums noch immer nicht eigenständig etabliert ist. Stattdessen entstammen die zunehmenden Publikationen und Forschungsprojekte Einzeldisziplinen, die sich – einem Forschungstrend folgend – aktuell verstärkt mit nichtmenschlichen Tieren beschäftigen. Überblickswerke zu allgemeineren, disziplinenübergreifenden Fragestellungen, gemeinsame Publikationsorgane und ein übergreifender Zusammenschluss der Forscher_innen zu Kongressen oder anderen Projekten, sind dementsprechend nach wie vor eher die Ausnahme. Erste positive Entwicklungen zeichnen sich jedoch ab. So erscheint seit 2012 regelmäßig das bisher einzige deutschsprachige Journal der HAS, welches einen explizit interdisziplinären Fokus hat, die Tierstudien. Kürzlich sind die ersten beiden Professuren entstanden, die sich im Kontext der HAS bewegen: Im Jahr 2013 wurde an der Hochschule für Musik in Nürnberg eine Professur für interdisziplinäre Musikforschung mit dem Schwerpunkt HAS eingerichtet und 2014 kam an der Universität Kassel im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften eine Professur für interdisziplinäre Tierforschung hinzu. An vielen Hochschulen gab es in den vergangenen Jahren Lehrveranstaltungen, die sich implizit oder explizit in diesem Themenfeld ansiedeln lassen, exemplarisch etwa das Hauptseminar »Philosophie im Kontext der Human-Animal Studies« an der Humboldt-Universität zu Berlin, welches durch den Chimaira-Arbeitskreis unterstützt wurde. Besonders hervorzuheben sind Forscher_innen der Universität Innsbruck, die mit sehr gut besuchten Ring3 | Für eine regelmäßig aktualisierte Übersichtsliste über die wichtigsten Werke siehe das Informationsportal des Chimaira-Arbeitskreises: http://www.human-animal-stu dies.de/publikationen/literatur/

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vorlesungen und Seminaren sowie der Herausgabe zweier Sammelbände das Forschungsfeld stärken (Disziplinierte Tiere. Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen von Spannring et al. 2015a und Tiere, Texte, Transformationen – Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies von Spannring et al. 2015b). Auch die Hamburger Group for Society and Animal Studies gab Lehrveranstaltungen sowie einen Sammelband heraus (Gesellschaft und Tiere, Pfau-Effinger/Buschka 2013). Ebenfalls aus sozialwissenschaftlicher Perspektive – von Herausgeber_ innen verschiedener Universitäten – entstand 2015 die Anthologie Das Mensch-Tier-Verhältnis (Brucker et al. 2015). Außerdem 2015 erschienen ist der Sammelband Texte zur Tiertheorie mit philosophischen und soziologischen Grundlagentexten (Borgards/Köhring/Kling 2015). Auch der Chimaira-Arbeitskreis selbst war weiter tätig. Nachdem unser erster Sammelband (Chimaira 2011) als eine der ersten themenbezogenen Publikationen einen Überblick über ein relativ breites Spektrum des Forschungsfeldes gab, war der Fokus des zweiten Bandes auf Tierbilder und Tierökonomien gerichtet (Chimaira 2013). Eine Sonderrolle nimmt der Bereich der Tierethik ein. Die Tierethik ist ausgesprochen gut vernetzt und etabliert und erhebt teilweise den allgemeineren Anspruch einer Tierphilosophie. Die Publikationen sind nahezu unüberschaubar geworden, hervorgehoben werden sollen hier die Bände Texte zur Tierethik (Wolf 2008), Tierethik (Schmitz 2014) sowie das Fachjournal TIER­ethik. Ein verstärktes Interesse an der Tierethik, speziell mit dem Fokus auf Ernährung (im Gegensatz zu früheren Schwerpunkten wie Tierversuchen), lässt sich auch über den akademischen Bereich hinaus feststellen. Im Rahmen der ve­ gan-vegetarischen Welle und eines gesellschaftlichen Trends, erreichen auch populärwissenschaftliche Werke wie Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen (Joy 2013), aber auch Konsumangebote oder Sachbuch-Bestseller wie Tiere Essen (Foer 2010) oder Artgerecht ist nur die Freiheit (Sezgin 2014) ein breites Publikum. Trotz dieser verstärkten Beschäftigung mit nichtmenschlichen Tieren über den akademischen Bereich hinaus, sind viele wichtige Themenfelder noch völlig unbearbeitet. Ein Beispiel für eine solche Forschungslücke ist die Beschäftigung mit tierlicher Agency. Dies kritisiert auch der Historiker Jason Hribal als eine generelle und inhaltlich problematische Lücke in der Forschung der Human-Animal Studies. »Agency is discussed as a theory, but it is not applied in practice. The agents (i.e. the animals themselves) dissipate into a vacant, theoretical category« (Hribal 2007: 102), und er ergänzt, diese Lücke bewertend: »This is a view from above« (ebd.). Hribals Kritik zielt darauf ab, dass die aktive und geschichtlich wirkungsmächtige Rolle nichtmenschlicher Tiere im hegemonialen Diskurs negiert wird und dass auch die HAS keinen alternativen Entwurf tierlicher Agency als Korrektiv anbieten. Während eine allgemeine Beschäftigung mit Agency international (zumeist implizit als mensch-

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liche Agency) verstärkt betrieben wird, sind Fragen der tierlichen Agency noch unterrepräsentiert. Der erste Sammelband, der sich mit dieser Fragestellung beschäftigte, war der 2009 erschienene Band Animals and Agency (McFarland/ Hediger 2009). Seitdem hat sich indes keine zusammenhängende Diskussion ergeben. Es existieren lediglich einzelne Artikel u. a. von Vinciane Despret und Donna Haraway (Haraway/Despret 2011; Despret 2013), von Helen Steward (2009), von Susan Nance (2013), mit dem Fokus auf moral agency von Grace Clement (2013) und von Hribal (2007, 2010) selber. Im deutschsprachigen Kontext sind die Forschungsprojekte des Chimaira-Arbeitskreises (eine Forschungswerkstatt zu tierlicher Agency und der vorliegende Sammelband) die einzigen interdisziplinären Projekte zu tierlicher Agency. Bereits 2011 nach der Herausgabe von Human-Animal Studies wurde in einigen Rezensionen von FAZ bis Philosophiemagazin die Kritik geäußert, dass das ›konkrete Tier‹ in unserer Arbeit fehle. Auch wenn sich hieran die Frage anschließt, was denn mit dem ›konkreten Tier‹ genau gemeint ist, haben wir uns mit dieser Kritik auseinandergesetzt und bestimmte Elemente davon für uns angenommen. Der Sammelband Tiere Bilder Ökonomien (2013) mit seinem Schwerpunkt auf tierliche Materialitäten und Ökonomien war eine Antwort darauf. Bestimmte Implikationen dieser Kritik laufen allerdings auch in eine problematische Richtung, wurde doch von einigen Rezensent_innen gefordert, mehr Geschichten und Berichte über Individuen und Spezies im Kontext der HAS zu veröffentlichen. Diese Perspektive ist zwar einerseits sinnvoll und wichtig, um die konkrete Agency in ganz konkreten Interaktionen und Prozessen nicht aus den Augen zu verlieren. Andererseits bedarf es zusätzlich noch einer sozialtheoretisch fundierten Analyse der gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse und der damit korrespondierenden Materialitäten, Machtverhältnisse und Episteme. Ohne eine solche analytische Abstraktion und ohne einen (meta)theoretischen Zugriff auf das Thema wird die Auseinandersetzung der Komplexität der Fragen nach tierlicher Agency nicht gerecht. Auch Hribals Arbeiten sind in einem solchen Kontext noch ungenügend, werden doch die sozialtheoretischen und philosophischen Zusammenhänge zu stark außer Acht gelassen. Genau diesem komplexen Problem des Ineinandergreifens sozialtheoretischer, machtsensibler Analysen und dem Fokus auf konkrete tierliche Handlungs- und Wirkungsmacht und konkrete tierliche Praktiken stellt sich der vorliegende Band. Doch welche Agency-Konzepte lassen sich hierfür mobilisieren? Es folgt nun ein Überblick über verschiedene wichtige theoretische Zugriffe auf Agency. All diesen Ansätzen ist aber gemeinsam, dass die verwendeten Konzepte nicht für nichtmenschliche Tiere entwickelt wurden, sondern ursprünglich entweder speziell für Menschen oder für einen viel weiteren Bezugskreis, der auch unbelebte Dinge enthält. Wir wollen uns folglich in diesem Band explizit den Fragen stellen, welche Agency-Konzepte aus den verschie-

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denen Disziplinen für nichtmenschliche Tiere sinnvoll anwendbar sind und wie bzw. ob bestehende Konzepte kritisch transformierbar sind und sich zur Analyse tierlicher Agency anwenden lassen. Dabei kann dieser Band aufgrund des Forschungsstandes nur erste Ansätze und Kritiken liefern. Eine tiefergehende Bearbeitung des komplexen Feldes tierlicher Agency wird weiterhin eine Aufgabe sein, der sich die HAS in den nächsten Jahren stellen müssen.

A gency -K onzep te

im

Ü berblick

Hinführung Die umfassende Auseinandersetzung mit tierlicher Agency steht großen Herausforderungen gegenüber. Eine der ersten stellt die Begriffsbestimmung innerhalb der unterschiedlichen Forschungsdisziplinen dar. Einerseits gibt es eine Reihe konkurrierender Wissensbestände, die allesamt Deutungshoheit über den Begriff ›Agency‹ beanspruchen. Andererseits stehen alle Disziplinen, von der Philosophie über die Sozialwissenschaften bis hin zur Neurobiologie und Ethologie, vor demselben Problem: Nichtmenschliche Tiere und ihre Beziehungen zu Menschen stehen in einem Spannungsverhältnis von biologischen Spezieskapazitäten und gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen – und in diesem unübersichtlichen Feld sind die Kontroversen größer als das unumstrittene Wissen. Als Beispiel sollen hier die Sozialwissenschaften herangezogen werden. Sozialwissenschaftliche Debatten um menschliche Agency können auf einem breiten anthropologischen Wissen auf bauen, welches erlaubt, sich auf Fragen der sozialen und politischen Organisation zu konzentrieren. Doch selbst hier gilt: »The concept of agency has become a source of increasing strain and confusion in social thought. Variants of action theory, normative theory, and political-institutional analysis have defended, attacked, buried, and resuscitated the concept in often contradictory and overlapping ways.« (Emirbayer/Mische 1998: 962f.)

Für nichtmenschliche Tiere ist die Ausgangslage deutlich unbefriedigender. In der Vergangenheit wurden menschliche Fähigkeiten vielfach gerade in Abgrenzung zu jenen nichtmenschlicher Tiere postuliert. Doch der Nachweis, dass diese Unterschiede zu nichtmenschlichen Tieren bestehen, hat sich als schwer bis unmöglich erwiesen. Die postulierten Unterschiede werden beständig feiner und die nichtmenschlichen Tiere zeigen in Tests Qualitäten, die man ihnen früher abgesprochen hätte – immer mehr Tierarten erkennen sich im Spiegel, demonstrieren eine Theory of Mind, nutzen Werkzeuge, um ande-

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re Werkzeuge zu bauen, erlernen menschliche Sprachsysteme oder demonstrieren eigene Sprachsysteme (vgl. den Beitrag von Katharina Dornenzweig in diesem Band). Festlegungen der Mensch-Tier-Grenze müssen demzufolge immer wieder verschoben werden, weil viele der exklusiv menschlich gedachten Fähigkeiten auch bei Rabenvögeln, nichtmenschlichen Primat_innen oder Del­f inen beobachtet wurden. Diese Experimente dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass menschliche Erkenntnisse über nichtmenschliche Tiere noch immer lückenhaft sind und sich viele Aspekte der Handlungsmacht der naturwissenschaftlichen Überprüfung entziehen. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass ein Verweis auf naturwissenschaftliche Fakten für eine scharfe Grenzziehung zwischen Menschen als einzigen Akteur_innen auf der einen Seite und nichtmenschlichen Tieren auf der anderen inzwischen nicht mehr haltbar ist. Wenn es um die Analyse tierlicher Agency geht, gilt es keine homogene Gruppe »Tier« zu erforschen. Das dürfte allein daran scheitern, die Intentionen, kognitiven Kapazitäten und Wirkmächtigkeit von einem Delfin mit denen einer Auster zu vergleichen. Gefragt werden muss dennoch, wie stark die agentiellen Kapazitäten, die durch die Spezieszugehörigkeit vorstrukturiert sind, gegenüber den persönlichen Erfahrungen eines Lebewesens wiegen. Letztere sind insbesondere relevant, wenn es um Interspezies-Interaktionen geht. Denn nicht nur die Grenzen zwischen den Lebewesen markieren ihre Agency, vor allem sind es ihre sozialen Beziehungen (vgl. Haraway 2003: 20). Wird ein solches sozialwissenschaftliches Verständnis zugrunde gelegt, so ist für einen Begriff tierlicher Agency also nicht nur entscheidend, dass mit ihm keine einheitliche Kategorie »Tier« unterstellt wird, sondern auch, dass diese Agency nicht aus dem nichtmenschlichen Tier selbst emergiert, sondern aus den Beziehungen und Verhältnissen, in die dieses Tier eingebunden ist. Der Begriff tierliche Agency selbst ist allerdings äußerst anfällig für ein Rückfallen in das Denken personaler Agency, da er Assoziationen an das Handeln eines Individuums weckt. Weiterhin ist zu fragen, ob im Kontext einer Mensch-Tier-Beziehung und den gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen deren soziale und kulturelle Struktur nicht gleichsam die biologischen Vorbedingungen überschreibt, weil es für ein Elefantenindividuum vorrangig von Bedeutung ist, ob es in einer Beziehung mit Menschen als ein sogenanntes ›Wild-‹, ›Nutz-‹ oder ›Zootier‹ agiert. Am deutlichsten wird diese Problematik wohl an jenen domestizierten Tieren, die sich in ihrer Körperlichkeit stärker über ihr Zuchtziel als über ihre Spezies identifizieren lassen, etwa in der Gegenüberstellung von ›Legehühnern‹ und ›Masthühnern‹. Nicht nur grundlegende Wissensdefizite verhindern klare definitorische Fortschritte für einen Begriff tierlicher Agency. Wer wie warum handelt, kann auch innerhalb der Disziplinen je nach Theorie radikal verschieden sein. Grundlegende Unterscheidungen basieren hierbei in den meisten Fällen auf

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der Annahme einer wie auch immer gearteten anthropologischen Konstante und dem Menschen als Bezugsgröße für die Untersuchung. Nehmen wir ein Beispiel aus der Soziologie: So unterscheiden etwa die Soziolog_innen Bob Carter und Nickie Charles (2013) in Anlehnung an Margaret Archer eine primäre und eine kooperative Agency. Während nichtmenschliche Tiere, ausgestattet mit primärer Agency, handlungsfähige Individuen sein können, fehle es ihnen an grammatikalischer Struktur, um kooperativ zu handeln. An einer politischen Gemeinschaft können sie deshalb nicht teilnehmen, sind nicht integrierbar. Deutlich wird, wie Sprachbefähigung mit dem Gattungswesen Mensch identifiziert wird und entsprechend alle nichtmenschlichen Tiere aus einer theoretischen Kategorie ausgeschlossen werden. Die Notwendigkeit klarer Definitionen theoretischer Begriffe enthebt hierbei nicht von der Pflicht, diese kritisch an der sozialen Realität zu überprüfen. Zuverlässig zeigt sich, dass theoretische Differenzierungen, die eine starre Mensch-Tier-Grenze ohne die Annahme von Ambivalenzen oder gemeinsamen Räumen rechtfertigen würden, der Empirie nicht standhalten. So zeigen sich durchaus abseits der Menschensprache tierliche Kommunikations- und Organisationsformen. Es ist allerdings umstritten, ob diese dem Anspruch einer menschlichen Theorie der Kommunikation und Organisation genügen. Sind nichtmenschliche Tiere deshalb aus einer Theorie kollektiver Agency auszuschließen oder ist nicht vielmehr das theoretische Modell zu überdenken und z. B. um speziesübergreifendes kollektives Handeln zu erweitern (z. B. Hunde_Hündinnen im Krieg, bei der Jagd und als Begleittiere für blinde Menschen)? Das Beispiel der Unterscheidung von Carter und Charles demonstriert weiterhin, wie wissenschaftlich-theoretische Thesen politische und ethische Implikationen in Bezug auf unser Verhältnis zu nichtmenschlichen Tieren sowie unsere politische Gemeinschaft besitzen. Häufig wird auf die Notwendigkeit menschlicher Sprache verwiesen, um Kooperationen einzugehen und politisch handlungsfähig als Teil der menschlichen Gemeinschaft zu werden, und nichtmenschliche Tiere werden mit unbegründeter Selbstverständlichkeit als Wesen ohne logos ausgeschlossen (vgl. als Stimme dagegen den Beitrag von Dornenzweig in diesem Band, vgl. auch Kurth 2011) Aber es fehlt auch der theoretische wie gesellschaftliche Wille, andere Formen der Kommunikation in die Analyse einzubeziehen. Aus einer anderen Perspektive, als ein aktuelles, populäres Gegenbeispiel, gilt der Vorschlag der »Zoopolis« von Sue Donaldson und Will Kymlicka (2011). Politiktheoretisch versuchen sie über den Begriff der citizenship nichtmenschliche Tiere als Teil der menschlichen Gesellschaft zu konzeptualisieren. Grundlage für die Annahme, dass auch nichtmenschliche Tiere Teil des politischen Systems seien, ist ihre These, dass auch ihnen eine gewisse Form von politischer Agency zukommt, nämlich die den Disability Studies entlehnte dependent bzw. assisted agency (vgl. Donaldson/Kymlicka 2011: 112). Mit einer citizenship gehe für sie die moralische Verantwortung einher,

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jene, mit denen wir in Beziehung stehen, auch in die politische Gemeinschaft einzubeziehen. Eine Beziehung scheint also auch trotz fehlender Menschensprache möglich zu sein, vorausgesetzt, der Zugriff über die Tierrechtstheorie wird als eine legitime Prämissensetzung geteilt. Auf dieser Theorie bauen Donaldson und Kymlicka auf, erweitern sie jedoch um kontextsensitive Elemente, was durch die Relevanz von Beziehungen deutlich wird. Unabhängig davon, ob diesen Thesen über tierliche Agency zugestimmt wird oder nicht, setzt aber sowohl eine Theorie fußend auf einem erkenntnistheoretisch anthropozentrischen Weltbild als auch eine basierend auf Tierrechtstheorie, spezifisches Wissen über nichtmenschliche Tiere voraus. Doch welches Wissen über nichtmenschliche Tiere, ihre Agency und Mensch-Tier-Beziehungen ist erforderlich, um derartige Standpunkte einzunehmen? Gelten die in Feldbeobachtungen gewonnenen Anekdoten der Ethologie als verlässlicheres Wissen als die reproduzierbaren Tierversuche unter Laborbedingungen? Was bedeuten sie für sozial- und geisteswissenschaftliche Überlegungen? In jedem Fall sind die Gebundenheit von Wissen an die verschiedenen Ebenen des Wissens über nichtmenschliche Tiere und die Konsequenzen aus der Theorie nicht zu trennen. Sarah McFarland und Ryan Hediger betonen: »As human animals, we know that meeting basic needs is not enough. Indeed, we often advocate for essential rights of activity that include the expression of agency: the rights to life, liberty, and the pursuit of happiness in one key formulation. Many have contended that other animals deserve no such opportunities because they lack the abilities, particularly the cognitive abilites, to make use of them.« (McFarland/ Hediger 2009: 1)

Fraglich bleibt, ob es legitim ist, dass viele Antworten auf die Frage nach tierlicher Agency unverbunden nebeneinander stehen können oder ob gerade die unausweichliche politische Konsequenz der Konzeptualisierung eindeutigere Antworten erfordert. Die ethische und politische Diskussion um Ausmaß und Berechtigung der Nutzung und Vernutzung von nichtmenschlichen Tieren für menschliche Zwecke ist jedenfalls zu einer der großen Fragen der Gegenwart geworden. Im Folgenden sollen nun Annäherungen an einen möglichen Begriff tierlicher Agency diskutiert werden. Disziplinenübergreifend befindet sich der Begriff der Agency in einem Spannungsfeld aus der Intentionalität von Handeln, der Möglichkeit/Kapazität zur Handlung bzw. dem Vollzug der Handlung (»Performanz«) und den messbaren bzw. historisierbaren Effekten von Handlungen. Die Betrachtung dieser Elemente wird von der großen erkenntnistheoretischen Frage gerahmt, ob die verschiedenen Theorien der tierlichen Agency mit der Übertragung humanwissenschaftlicher Konzepte überhaupt

Handeln nichtmenschliche Tiere?

gerecht werden können. Im Panorama der unterschiedlichen Ansätze lassen sich dennoch wertvolle Anhaltspunkte für eine zu schaffende Theorie tierlicher Agency entnehmen. Zunächst wird dabei die stark subjektphilosophisch geprägte Diskussion um die Intentionalität von Handeln betrachtet. Hier dienen nichtmenschliche Tiere deutlich als Abgrenzungselement für menschliche Fähigkeiten. Das sozialwissenschaftlich geprägte Argument, dass weniger die Intention als die Performanz, die Kapazität zum Handlungsvollzug, im Zentrum stehen soll, liest sich ambivalent. Es kann in einer humanistischen Argumentation als Ausschlusskriterium anthropozentrisch oder aber posthumanistisch als grenznivellierend-distributiv gelesen werden. Letztere Lesart radikalisiert sich, wenn in Form des New Materialism einzig danach gefragt wird, welche Effekte sich aus einer Assemblage ergeben und dabei von der Materie her gedacht wird, also keine eventuell subjektphilosophisch begründbare Erweiterung der (humanwissenschaftlichen) Agency-Theorie um nichtmenschliche Tiere, sondern eine Verteilung, in der die Unterscheidung von belebt und unbelebt an Gewicht verliert und entsprechend auch die Intentionen. Vorweg sei bereits betont: Keine dieser Theorien wird vollumfänglich über nichtmenschliche Tiere Auskunft geben können.

Subjekttheoretische Handlungsmodelle Was bedeutet eigentlich Handeln? Die klassische Handlungstheorie fragt danach, was Handeln ist, wie es sich beschreiben lässt und inwiefern es erklärbar ist. Im Betrachtungsschwerpunkt standen und stehen dabei stets die Handlungsgründe, also die Intentionen einer Handlung. Damit ist eines der Grundprobleme in der Diskussion um Handlungsvorstellungen angesprochen: Handlungsfähigkeit hängt oft an Zuschreibungen zur inneren Verfasstheit von Individuen: Diese haben angeblich einen Willen zu diversen Zielen, wägen ab, treffen bewusst Entscheidungen und setzen diese kontrolliert um. Damit erklärt sich die klassischerweise starke Verknüpfung zwischen Handlungsfähigkeit und Intentionalität (vgl. Wilson/Shpall 2012). Die Problematik hierbei ist, dass uns die inneren Zustände anderer Wesen – egal ob menschlich oder nicht – prinzipiell nicht zugänglich sind. Dass wir überhaupt anderen Lebewesen bewusstes Erleben und Intentionen zuschreiben, ist somit immer ein Sprung über das Objektive hinaus, eine Einfühlung und Projektion, in der wir hinter Verhalten, das unserem ähnelt, und einem Organismus, der unserem ähnelt, auch ein Fühlen und Denken vermuten, das unserem ähnelt. Bei anderen Menschen wird dieser Sprung als Selbstverständlichkeit gesehen; bei

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nichtmenschlichen Tieren dagegen wird man zuweilen mit dem Vorwurf des Anthropomorphismus konfrontiert. 4 Das Verständnis von Handlung als intentionales und freies Tun geht schon auf Aristoteles zurück: »Bei jedem Handeln und Entschlusse ist es das Ziel. Denn dieses ist es, wegen dessen man stets das übrige tut.« (Aristoteles 2004: 114) Er versteht unter einer Handlung somit nicht einfach ein geschehendes Ereignis, sondern ein Tun, welches das handelnde Subjekt auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet und bei dem für ihn_sie die Möglichkeit besteht, etwas anderes als diese Handlung auszuführen. Das höchste Ziel, welches jeder Handlung zugrunde liegen sollte, ist bei Aristoteles die Glückseligkeit. Die Fähigkeit zu solch intentionalem Handeln kommt in seiner Ethik nur (erwachsenen) rationalen Menschen zu, denn »sinnvollerweise nennen wir nun auch weder ein Rind noch ein Pferd noch irgendein anderes Tier glückselig. Denn keines von ihnen kann an einer solchen Tätigkeit teilhaben« (Aristoteles 2004: 122). In der Aufklärung gerät das Individuum in den Fokus der philosophischen Betrachtungen. Damit wird eine an Gott und an metaphysischen Erklärungsmodellen orientierte Interpretation der Welt abgelöst. Die Entwicklung der in dieser Epoche entstehenden Humanwissenschaften ist dabei an spezifisch moderne Episteme gekoppelt und ihr Gegenstandsbereich, ›der Mensch‹, ist, wie Michel Foucault es ausdrückt, »eine Erfindung [...] junge[n] Datum[s]« (Foucault 1974: 462). Demzufolge sind die Humanwissenschaften »von dem Tag an erschienen, an dem der Mensch sich in der abendländischen Kultur gleichzeitig als das konstituiert hat, was man denken muß, und als das, was zu wissen ist« (ebd.: 414). Die klassische Subjektphilosophie, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts durchsetzte, geht von einem menschlichen Subjekt aus, das autonom, sich selbst durchschauend und aus sich heraus – a priori – ein Subjekt seines Lebens ist. So unterschiedlich die verschiedenen Subjekt-Konzeptionen auch sind, von Descartes bis Locke und von Hume bis Kant, ist ih4 | Vgl. hier auch Hüppauf 2011: 27, der eine Unterscheidung zwischen sentimental-naivem und kritisch-reflektiertem Anthropomorphismus vorschlägt. Wie hier individuell differenziert werden kann, ist allerdings eine offene Frage: Wenn im voice-over einer Naturdokumentation Pinguinen ewige Liebe füreinander unterstellt wird, scheint es ein deutliches Beispiel für die erste Kategorie zu sein; wenn eine Schimpansin erlernte Zeichensprache nutzt, um Forscher_innen auszutricksen und so ein Experiment zu verändern, scheint es eher ein Fall für das zweite. Aber wie ist beispielsweise die häufige Situation zu beurteilen, dass sogenannte ›Haustierbesitzer_innen‹, die sehr viel Zeit mit der Interaktion mit ihren ›Haustieren‹ verbringen und somit tatsächlich auf einen signifikanten Erfahrungsschatz zurückgreifen können, zumeist der festen Überzeugung sind, dass diese Tiere bestimmte Dinge wollen und kommunizieren, die dann allerdings eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Bedürfnissen der menschlichen Halter_innen haben?

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nen doch gemein, dass sie eine (weitgehende) Emanzipation des Menschen von der göttlichen Allmacht bedeuten sowie mit Konzepten wie Freiheit, Bewusstsein und logos in Zusammenhang stehen. Das Subjekt wird die zentrale Instanz des Reflektierens und des Handelns sowie die Grundlage dieser Reflexionsleistungen und Handlungen. Die Grundlage hiervon wird nicht etwa in einem Außen, sondern im Innen des Subjektes selbst verortet. »Das klassische Subjekt ist als Ich eine sich selber transparente, selbstbestimmte Instanz des Erkennens und des – moralischen, interessegeleiteten oder kreativen – Handelns« (Reckwitz 2008: 12). Von Natur aus oder qua Vernunft ist das Subjekt eine universelle Figur, die ihren »Kern in bestimmten mentalen, geistigen Qualitäten, die zugleich Ort seiner Rationalität sind, [erhält]« (Reckwitz 2008: 12). Nicht zufällig ist es René Descartes, der als einer der Begründer der neuzeitlichen Subjektphilosophie gilt. Jener Descartes, der den Geist zur eigenständigen Substanz erhebt und die res cogitans der res extensa, der Welt des Materiellen, entgegenstellt. Der Descartes, der mit dem cogito ergo sum sowohl den totalen Zweifel an allen körperlichen Sinneseindrücken als auch die totale Handlungsmacht des Menschen (bzw. dessen Verstandes) einführt. Und eben auch jener Descartes, der nichtmenschliche Individuen mit Maschinen gleichsetzt und ihnen jedes Schmerzempfinden und jedes Bewusstsein abspricht (vgl. Descartes 1960: 91ff.). Einer der ›Väter‹ des omnipotenten menschlichen Subjektes ist gleichzeitig auch einer der radikalsten Vertreter des Mensch/ Tier-Dualismus. Jemand, der nichtmenschliche ›Tiere‹ als das ›ganz Andere‹ des Menschen-Subjektes konstruiert und durch diese Abgrenzung das ›Eigene des Menschen‹ erst zu definieren im Stande ist. Das Cartesianische Subjekt hat einen »inneren Kern […], der mit der Geburt des Subjekts entsteht und sich mit ihm entfaltet« (Spies 2009: 3f.). Diese Autonomie des Menschen wird mit der Objektifizierung ›des Tieres‹ und durch dessen Beschreibung als Automaten erreicht. Eine der weiteren erwähnenswerten Positionen in der Entwicklungsgeschichte der Moderne ist die des Moralphilosophen David Hume. Dieser setzt ebenfalls ein freies Individuum ins Zentrum seiner Gesellschafts- bzw. Staatskonzeptionen. Daraus folgt bei ihm ein Handlungsmodell, das auf der Fähigkeit zur Selbstbestimmung basiert. Hume argumentiert aber, in Abgrenzung zu früheren philosophischen Modellen, dass die geistigen Operationen der Menschen nicht alleinig auf eine abstrakte Vernunft zurückzuführen sind. Es sind vielmehr zusätzlich die sinnlichen Erfahrungen, die die Hintergründe der Handlungen darstellen und die er in ein verallgemeinertes menschliches Handlungsmodell als ›menschliche Natur‹ darstellt (vgl. Bonß 2013: 18f.). Hume führt in seiner Handlungstheorie allerdings keinen so eindeutigen Mensch/Tier-Dualismus ein, wie es einige seiner Vorläufer getan haben. Der menschliche Verstand hat bei ihm zwar eine wichtige Rolle in der Unterschei-

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dung zwischen Eindrücken und Einbildungen, jedoch sind ihm zufolge Menschen genau wie nichtmenschliche Tiere durch Erfahrungen und instinktives Vermögen bestimmt (vgl. Bonß 2013: 20). Auch die entstehende soziologische Handlungstheorie, die sich in ihren Anfängen oftmals auf Ansätze wie den von Hume, aber auch von Adam Smith, bezieht, folgt keinem klassischen cartesianischen Modell, ist aber weitestgehend anthropozentrisch ausgerichtet. Dies ist entweder Folge eines rationalistischen Handlungsmodells, aus dem nichtmenschliche Tiere per Festlegung ausgeschlossen werden, oder es ist die Folge der Einschränkung des Gegenstandsbereiches der eigenen Theorien auf die menschliche Sphäre, die u. a. in ihrer Entstehungszeit dem Unterfangen geschuldet ist, die Soziologie als Wissenschaft von den Naturwissenschaften abgrenzen zu können (vgl. Lemke 2007: 248). So sind beispielsweise die Konzepte von Max Weber so eng formuliert, dass sie soziales Handeln lediglich in der innermenschlichen Sphäre verorten. Sie haben das Axiom eines_einer menschlichen, sozialen Akteurs_Akteurin, obwohl Weber selbst nicht der Überzeugung ist, dass nichtmenschliche Individuen völlig aus diesen Überlegungen ausgeschlossen werden sollten (vgl. Weber 1980: 7). Da laut Weber aber nichtmenschliche Tiere nicht unter der Perspektive der sozialen Handlungen untersucht werden (können), werden auch diejenigen mit hochkomplexen Sozialstrukturen nur als Mittel oder Zwecke behandelt (vgl. Weber 1980: 3). Birgit Mütherich resümiert kritisch die Handlungsvorstellung in der klassischen Soziologie als eine kategoriale Gegenüberstellung von menschlichem Handeln und tierlichem Verhalten. Ersteres sei gekennzeichnet durch ein primär vernunftgeleitetes, sinnhaftes, intentionales, zweckorientiertes, aktives und auf der Basis von internalisierten Symbol-, Wert-, und Normensystemen stattfindendes Handeln. Das Zweite wird beschrieben als durch unbewusstes, spontanes, reflexartiges und durch Trieb- und Instinktleistung gesteuertes Reagieren auf Umweltreize (vgl. Mütherich 2004: 221). Nicht alle klassischen Sozialwissenschaftler_innen haben diese Trennlinie in voller Schärfe gezogen, jedoch gehört sie zum Grundbestand der disziplinären Theorieproduktion. Und dies bis heute. So ist beispielsweise in einem Einführungswerk in die Handlungstheorie von 2013 zu lesen: »Allen soziologischen Theorien gemein ist die Annahme, dass individuelles Handeln weder instinkthaft oder völlig determiniert noch rein zufällig ist. Handeln wird vielfach als intentional im Sinne eines absichtsvollen Handelns verstanden, was sowohl ein bewusst rationales als auch ein gewohnheitsmäßiges oder an Vorstellungen orientiertes Handeln sein kann. Wichtig dabei ist vor allem, Handeln von einem bloß reaktiven Verhalten beziehungsweise auch von einem rein durch Instinkte geleiteten Tun oder Lassen abzugrenzen, wie es für Tiere charakteristisch ist. Vielmehr wird Handeln durch

Handeln nichtmenschliche Tiere? Entscheidungsfähigkeiten und Entscheidungsmöglichkeiten der Handelnden bestimmt und im Hinblick auf seine sozialen Effekte betrachtet.« (Bonß 2013: 7)

Wenn auch die verschiedenen Dezentrierungen des humanistischen Subjekts und weitere kritische Interventionen dazu geführt haben, dass sich alternative Agency-Modelle entwickelt haben (siehe hierzu die nachfolgenden Abschnitte), ziehen sich bestimmte Vorstellungen einer rein menschlichen Handlungsfähigkeit durch die aktuelle Theorieproduktion in den Sozial- und Geisteswissenschaften hindurch. Durchweg ist von nichtmenschlichen Tieren entweder gar nicht die Rede, oder sie werden genutzt, um auszuloten, ob die Theorie Handlungen trennscharf genug fasst, um nichtmenschliche Tiere auszuschließen. Wo eine Theorie offenbar tierliches Verhalten mitabdecken würde, wird ihr das als Fehler und Problem ausgelegt (vgl. O’Connor 2014 oder Hursthouse 2010: 318). Die auf die Inklusion nichtmenschlicher Tiere abzielenden Texte fügen ihren Überlegungen meist nur einen knappen Nebensatz bei, dass zu den handelnden Wesen nebst dem Menschen eventuell einige ›höhere‹ Tieren zählen (z. B. Primat_innen). Doch auch in diesen Fällen wird deren Agency höchstens als wohl mit zu nennende, aber nicht sonderlich interessante Möglichkeit abgetan und nicht, wie häufig beim Menschen, als Gewissheit gehandelt. Weiterhin wird dem Großteil der nichtmenschlichen Tiere Agency kategorisch abgesprochen. Aber was ist es also, das angeblich den fundamentalen Unterschied zwischen Menschen als Agierenden und nichtmenschlichen Tieren als Nicht-Agierenden konstituieren soll? Den klassischen Handlungstheorien zufolge wird ›den Menschen‹ ein freier Wille zugeschrieben. Dieser wird gerade dadurch gedacht und verständlich, dass er sich von Bedürfnissen, wie sie nichtmenschliche Tiere und historisch auch bestimmte Gruppen von Menschen besitzen, unterscheidet. Nichtmenschliche Tiere würden – im Gegensatz zu intentionalen Menschen – instinktgeleitet und triebhaft agieren (vgl. Sehon 2010: 122). Zwar hätten auch nichtmenschliche Individuen Bedürfnisse, etwa nach Nahrung. Aber zum einen wären dies ›niedere‹ Bedürfnisse und nichtmenschliche Tiere hätten keine darüber hinaus gehenden Interessen, etwa an Freiheit im Allgemeinen oder an politischer Partizipation. Zum anderen seien nichtmenschliche Tiere nicht in der Lage, diese Bedürfnisse als Bedürfnisse zu verstehen und zu reflektieren, sondern in ihrem unmittelbaren Erleben gefangen. Nicht zuletzt seien die Wege der Bedürfnisbefriedigung automatisiert, unkontrolliert und zwischen einzelnen nichtmenschlichen Tieren zu unterschiedlich. Was nichtmenschlichen Tieren hier fehle, sei einerseits Intentionalität bzw. rationale Fähigkeiten der Reflexion und Sprachfähigkeit (vgl. Pink 2010: 475). Andererseits fehle ihnen der Subjektstatus, insofern nichtmenschliche Tiere weder Ich-Bewusstsein noch Charakter hätten. Dieses Narrativ hat sich, wie

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oben angedeutet, historisch in verschiedene Formulierungen gekleidet; inzwischen wird von genetischer Vorprogrammierung statt von Instinkten gesprochen und davon, dass nichtmenschliche Tiere nicht in zweiter Ordnung über ihre Bedürfnisse reflektieren können, sondern lediglich in erster Ordnung.5 So ist Handlungsfähigkeit zunächst gefasst als etwas, das nichtmenschliche Tiere nicht nur explizit ausschließt, sondern sich sogar erst über diesen Ausschluss konstituiert; die Genese des Begriffes ist gegen die Inklusion nichtmenschlicher Tiere eingestellt, d.h. rein anthropozentrisch. Der Ausschluss tierlicher Individuen ist dabei keinesfalls folgenlos.6 Dabei gibt es unzählige Beispiele von tierlichen Handlungen, die erklärungsbedürftig sind. So konnte bei Rabenvögeln und Schimpansen durch eine Reihe von Experimenten gezeigt werden, dass sie begreifen, wenn andere Tiere aktuell andere/ähnliche Ziele oder Wissensstände haben als sie selbst, indem sie beispielsweise registrieren, wenn sie beim Verstecken von Nahrung beobachtet werden und die Nahrung dann später unbeobachtet neu verstecken oder ein leeres Versteck aufsuchen, um Nahrungskonkurrent_innen gezielt zu täuschen (vgl. Emery/Clayton 2004). Damit handelt es sich hier offenbar um eine Theory of Mind – also die Fähigkeit, anderen Wesen Überzeugungen und Intentionen zuzuschreiben, die sich von den eigenen unterscheiden. Auffällig ist, dass nichtmenschliche Tiere hier in einer Beweispflicht stehen, die für Menschen so niemals bestanden hat. Es ist unklar, was auf Handlungsebene ein objektiver Nachweis für tierliche Agency wäre und ob Menschen ihn bestehen würden. Wo wir auf wissenschaftliche Tests stoßen, die auch auf Menschen angewandt werden, ist oftmals das Problem, dass diese eher ›Menschlichkeit‹ nachweisen sollen. Ein sehr häufig angewandtes Testverfahren dafür, ob nichtmenschliche Tiere ein Subjektbewusstsein haben, sind die sogenannten Spiegelexperimente. Bei diesen wird Proband_innen unbemerkt ein Punkt auf die Stirn angebracht, um sie im Anschluss vor einen Spiegel zu setzen. Betrachten sie sich dann länger im Spiegel, als wenn kein Punkt angebracht wurde oder zeigen typische Handlungen, wie sich an die Stirn fassen, so lautet das Urteil, dass sie ihr Spiegelbild erkennen und also ein rudimentäres Ich-Bewusstsein haben. Gorillas bestehen diesen Test standardmäßig nicht. Daraus 5 | Also Handlungen, auf die sie Lust haben, überdenken und schließlich aus höherwertigen Gründen unterlassen, wie etwa entwickelt von Thomas Reid (vgl. Alvarez 2010: 508), Harry Frankfurt und Gerald Dworkin (vgl. Fischer 2010: 312). 6 | Z. B. ist der Status als Agent_in, insbesondere die Fähigkeit zur bewussten Reflexion über Intentionen, Voraussetzung für die Übernahme von Pflichten und moralischer Verantwortung (vgl. Mele 2010: 108). Ebenso wird oft auch der Besitz moralischer Rechte und Personenstatus mit Handlungsfähigkeit verknüpft (vgl. Reader 2010: 200). Insofern also an der Zuschreibung tierlicher Agency so schwerwiegende politische Konsequenzen hängen, ist eine Klärung gleichermaßen notwendig und erschwert.

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zu folgern, dass sie kein Ich-Bewusstsein haben, scheint überraschend, wenn man bedenkt, dass die Gorilladame Koko auf die Frage, wer sie sei, in der ihr vermittelten amerikanischen Zeichensprache antworten kann: »Koko. Gorilla. Gut.«. Einen Erklärungsansatz kann der Vergleich mit Menschen, die die Spiegelexperimente nicht bestehen, bieten. Ein überraschend großer Anteil einer Studiengruppe von Nso-Kindern (einer Bevölkerung des Banso im Kamerun) bestand den Spiegeltest ebenfalls nicht, und Forscher_innen konnten eine Korrelation zwischen dem Versagen im Test und der Tatsache, dass die Kinder selten Blickkontakt mit anderen Menschen hatten, nachweisen (vgl. Keller et al. 2004). Möglicherweise schauten die Kinder – die selbstverständlich über ein Ich-Bewusstsein verfügten – den menschlichen Schemen im Spiegel aus Gewohnheit nie genau an und erkannten sich so nicht selbst. Blickkontakt kaum zu kennen oder zu suchen kann teils die Form einer kulturellen Konvention annehmen. Da bei Gorillas direkter Blickkontakt als aggressive Geste gewertet wird, wird das ›Scheitern‹ des Spiegelexperiments nachvollziehbar. Das Experiment weist also lediglich nach, dass Gorillas andere kulturelle Gepflogenheiten als aus eurozentrischer Perspektive konstruierte Akteur_innen haben – nicht, dass es ihnen notwendig an Ich-Bewusstsein fehlt. Besonders in den Sozialwissenschaften hat es Versuche gegeben, den Agency-Begriff stärker von der Intentionalität und der Vorstellung zu trennen, dass die Intentionen und Kapazitäten zum Handeln zusammenfallen und im Inneren der Subjekte zu verorten sind. Die Konsequenzen dieser Argumentation für nichtmenschliche Tiere sollen im nächsten Abschnitt erörtert werden.

Handlungskapazitäten Zusammenfassend können wir die eben näher gezeigte klassische Agency-Konzeption folgendermaßen beschreiben: Die theoretischen Ansätze der modernen Subjektphilosophie sehen Agency als essentielle Eigenschaft von Subjekten, als individuelles Vermögen. Menschen handeln absichtsvoll, weil sie Menschen sind; ihr Handeln gestaltet die Welt. Insbesondere in der Soziologie wurden hingegen Ansätze stark, welche durch die Analyse der gesellschaftlichen Objekte, Institutionen, und Strukturen die Rolle des a priori handelnden Subjektes stark einschränken. In diesen Erklärungen wird das individuelle Handeln als durch die Gesellschaftsstruktur begrenzt dargestellt oder gar als einseitiger Effekt der Übernahme gesellschaftlicher Normen definiert. Im Hinblick auf eine Theoretisierung von tierlicher Agency ist der Einbezug sozialtheoretischer Perspektiven unabdingbar – obgleich diese Mensch-Tier-Verhältnisse kaum thematisieren. Die Setzung, dass Menschen mit Menschen handeln und soziologisch erforscht werden, nichtmenschliche Tiere mit ihrem Verhalten hingegen Gegenstand der Biologie seien und als Teil

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von Natur innerhalb ihrer Arten verhandelt werden, steht hier paradigmatisch für eine Entwertung des Materiellen zugunsten der Kultur: »›das Soziale‹ innerhalb der Soziologie [wird] verstärkt unter Abstraktionen von allen materiellen-stofflichen Bedingungen seiner Existenz thematisiert« (Görg 1999: 182). Gerade in den letzten Jahrzehnten sind Sozialtheorien in großem Maße zu Kulturtheorien geworden (vgl. Reckwitz 2008: 131ff.). Und diese zeichnen sich insbesondere über die Privilegierung des Symbolischen, Textuellen oder Kulturellen gegenüber dem Materiellen aus. Verkürzungen prägen das Bild des Materiellen. Nichtmenschliche Tiere können in diesen kulturalistischen Rahmen nur schwerlich integriert werden. Sie werden entweder als Materielle und Nicht-Kulturelle ausgegrenzt, also schlicht jenseits von Gesellschaft verortet oder passiviert als Objekte, die ihre Bedeutung erst über die Repräsentation durch beobachtende und interpretierende Menschen gewinnen. Selbst die sozialkonstruktivistischen Ansätze verharren in dieser »klassisch idealistischen Auffassung des Materiellen als Gegenstand des Wissens« (Reckwitz 2008: 145). Subjekt und Objekt stehen einander gegenüber und werden in verschiedenen Ausformungen von der Sozialtheorie ins Verhältnis gesetzt. Sind die Begriffe auch am Menschen ausgerichtet und die nichtmenschlichen Tiere sowie die Strukturen des Zusammenlebens mit anderen Spezies kein Teil der Soziologie, so stellt sie doch die Mittel zur Verfügung, um das anthropozentrische Denken der Humanwissenschaften kritisch zu hinterfragen. Die Auflösung dieses Denkens vollzieht sich in zwei Schritten. Zunächst dynamisieren praxeologische Ansätze die Beziehung von gesellschaftlichen Subjekten und Objekten, um schließlich in ihren postanthropozentrischen Varianten über diese Dichotomie hinauszugehen und Räume zu schaffen, auch nichtmenschliche Tiere in diese Theorien miteinzubeziehen. So greifen etwa bei Anthony Giddens einerseits die strukturellen Momente sozialer Systeme derart in Raum und Zeit aus (vgl. Giddens 1997: 78), dass sie sich der Kontrolle der einzelnen menschlichen Individuen entziehen. Andererseits ist aber die Struktur (auch) als Ermöglichungsstruktur gedacht. Die Vermittlungsbemühungen von Handlungs- und Strukturtheorie als Praxeologie geben dabei bislang prägende Momente des Handlungsbegriffes auf. Handlung ist nicht isoliert, sondern in einen Handlungsfluss eingebunden. Dieser Handlungsfluss ist jedoch nicht mehr, wie etwa bei Max Weber, von den Intentionen der Subjekte abhängig. Gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse (re-)produzieren sich jenseits von Intention: »Die menschliche Geschichte wird durch intentionale Handlungen geschaffen, sie ist aber kein beabsichtigter Entwurf; sie entzieht sich beständig den Anstrengungen, sie unter eine bewußte Führung zu bringen. Die Menschen unternehmen jedoch immer wieder solche Versuche« (Giddens 1997: 79). Wie die Intention an Gewicht verliert, gewinnt der Blick auf den Handlungsvollzug als körperliche Praktik an Bedeutung. Be-

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trachtet wird die Performanz selbst, das »Vermögen, solche Dinge überhaupt zu tun (weshalb Handeln Macht impliziert […]).« (Giddens 1997: 60) Eine Unterscheidung von Handeln und Verhalten wird irrelevant, entscheidend ist, dass das Individuum die Kapazitäten besitzt, eine Handlung auszuführen.7 Trotz theoretischer Entkräftung der Intention unterliegt bei Giddens die Kapazität zum Handeln – wie bereits in der Debatte um Intention zu beobachten – einer mustergültigen anthropozentrischen Engführung: »Ein menschliches Wesen zu sein, heißt, ein zweckgerichtet Handelnder zu sein, der sowohl Gründe für seine Handlungen hat, als auch fähig ist, diese Gründe auf Befragung hin diskursiv darzulegen (oder auch: sie zu verbergen).« (Giddens 1997: 53) Giddens versucht nicht, wie Weber es noch tat, die Eigenschaften zu definieren, derer es bedarf, um zu handeln. Stattdessen kehrt er das Argument um und schreibt Agency als anthropogene Qualität fest: Ich handele zweckgerichtet, weil ich Mensch bin. Nur das menschliche Individuum kann agent in den menschengemachten Strukturen sein. Der Versuch Agency aus dem »Imperialismus der gesellschaftlichen Objekte« (Giddens 1997: 52) zu befreien, führt zu einer Identifizierung von Agency mit dem Individuum. Wenn die Intention, Zweckgerichtetheit und Gründe jedoch nur beiläufige Beobachtungen oder Beiwerk zum Kriterium des Vermögens zur Handlung sind, ist die Frage wie sich – fernab der Setzung einer anthropologischen Konstante – eine starre Grenze zwischen Menschen und anderen ›Handelnden‹ argumentativ behaupten lässt. Die posthumanistischen Theorien im Umfeld der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) geben darauf eine einfache Antwort: gar nicht. Während also bei Giddens noch ein klar identifizierbares menschliches Subjekt aufgrund seines Menschseins handelt, verliert sich in der fortschreitenden Sozialtheorie die Spur dieses Subjekts. Im folgenden Kapitel werden die Linien in diese Richtung weitergeführt, indem in die Arbeiten des New Materialism eingeführt wird. Auch mit dem Hintergrund einer Subjekttheorie lässt sich ohne einen Bezug auf Intentionen weiter denken: Nehmen wir die Soziologie von Bruno Latour, welcher in weiten Zügen ähnlich praxeologisch wie Giddens argumentiert. Allerdings beschreibt er die Wirkmacht von nichtmenschlichen Entitäten. Diese bilden im Zusammenschluss mit anderen Entitäten (diese können Menschen, nichtmenschliche Tiere oder auch ein Wirbelsturm sein) in Netzwerken sogenannte Aktanten und sind für Hand7 | Voraussetzung dafür ist, »dass das Individuum in jeder Verhaltenssequenz auch hätte anders handeln können« (Giddens 1997: 60). Dies verweist auf eine zu individualistisch-voluntaristische Vorstellung von Handeln, die den Relationierungen von Individuen zueinander nicht gerecht wird. Selbst wenn stark benachteiligten Gruppen diese Fähigkeit unterstellt wird, sorgt ihre soziale Stellung doch für die Folgenlosigkeit der Handlung – ein starkes Indiz dafür, dass eine anthropologische Konstante auch für menschliche Handlungsfähigkeit eine ungleichheitsverdeckende Kategorie darstellt.

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lungen und das Soziale mitverantwortlich. Latour möchte mit der Stärkung nichtmenschlicher Wirkmacht keineswegs nahelegen, dass Dinge Menschen Handlungen ausführen lassen, aber er möchte alle Mittler, Verkettungen von Mittlern und Übersetzungen identifizieren, um eine neue Soziologie entstehen zu lassen: »ANT ist nicht die leere Behauptung, daß Objekte etwas ›anstelle‹ der menschlichen Akteure tun: Sie sagt einfach, daß eine Wissenschaft des Sozialen nicht einmal beginnen kann, wenn die Frage, wer und was am Handeln beteiligt ist, nicht zunächst einmal gründlich erforscht ist, selbst wenn das bedeuten sollte, Elemente zuzulassen, die wir, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, nichtmenschliche Wesen (non-humans) nennen könnten.« (Latour 2007: 124)

Handlungen sind in dieser Perspektive stets Vermittlung und Übersetzung, Assoziation und Zusammensetzung sowie wenig vorhersehbar. Deswegen ist »das Handeln auch für den ›Urheber‹ etwas Unberechenbares, Überraschendes und Ereignishaftes, das sich in der Regel erst nachträglich begründen lässt« (Latour 2002: 345). Dabei sind Werkzeuge mehr als nur Zwischenglieder, sie sind unverzichtbare Komposita einer Handlung: »Ein Schimpanse sucht beispielsweise einen Stock, findet auch einen, doch der ist zu stumpf, woraufhin das Tier nach einer neuerlichen Krise beginnt, ihn anzuspitzen, und so unterwegs mit einem neuen Unterprogramm ein zusammengesetztes Werkzeug erfindet […]. Handeln ist eine Eigenschaft von Verbindungen, von assoziierten Entitäten. Agent 1 wird von den anderen Agenten in den Stand versetzt, befähigt, ermächtigt und autorisiert. Der Schimpanse plus der angespitzte Stock erreichen (und nicht: er erreicht) die Banane. Daß wir einem der Akteure die Rolle des ersten Bewegers zuschreiben, enthebt uns nicht der Notwendigkeit, die Handlung durch die Zusammensetzung mehrerer Kräfte zu erklären.« (Latour 2002: 220f.)

Menschen handeln folglich nicht qua freiem Willen, sondern weil sie (über Giddens hinaus) mit vielen weiteren Entitäten eine stimmige Übersetzungskette bilden. Dabei ist es kein Zufall, dass in dieser zusammengesetzten Handlung einem Schimpansen die Funktion des »ersten Bewegers« zukommt. Stehen intentionale Akteur_innen auch nicht im Forschungsinteresse der ANT, so schreiben sich doch Momente einer Subjektphilosophie wieder in sie ein – wenn auch in einer modernisierten Variante. Strukturell wird die bisherige anthropozentrische Variante, nach der Menschen mit Menschen intentional handeln, um nichtmenschliche Elemente eher erweitert denn ersetzt: Bestimmte nichtmenschliche Tiere können tendenziell die Position als Handlungsauslösende einnehmen und zumeist sind technische Artefakte unverzichtbar in den

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untersuchten Praktiken. Auch über Theoretisierungen, die Agency in einer gelungenen Übersetzungskette verschiedener Entitäten in einem gemeinsamen Netzwerk verorten, schreiben sich alte Grenzen in neuer Form ein. Intentionen mögen nicht mehr den Fokus der Untersuchung bilden, aber implizit werden belebte und unbelebte Entitäten sowie Menschen und Maschinen geschieden, indem Figuren wie ein ›erster Beweger‹ eingeführt werden. Leider bietet uns die ANT nur unzureichende Anknüpfungspunkte, um uns explizit tierlicher Agency nähern zu können. Nichtmenschliche Tiere werden lediglich beiläufig in das theoretische Instrumentarium integriert. Dies führt dazu, dass sie entweder trotzdem relativ undifferenziert als Negativfolie fungieren, indem beispielsweise ein Einfluss von Artefakten auf die Sozialstruktur von nichtmenschlichen Primat_innen ausgeschlossen wird, während menschliche Gesellschaften aber gerade in Abgrenzung hierzu definiert werden (vgl. Latour 2007: 121). Oder sie haben lediglich einen Beispielcharakter und werden nicht weitergehend sozialtheoretisch untersucht. An dieser Stelle gibt es mehrere Wege, Agency weiter zu denken: Der New Materialism kann als radikalisierte Form dieser Überlegungen bezeichnet werden, welche ohne die Figur eines ›ersten Bewegers‹ auskommt. Hier werden noch stärker Materialitäten betrachtet. Der Blick fokussiert sich hier auf die distributive Gestalt von Agency, indem das Netzwerk als Assemblage radikalisiert wird und nun primär die Effekte ins Zentrum der Analyse gesetzt werden.

New Materialism Folgen die Sozialwissenschaften in ihren Ausführungen zumeist verschiedenen Varianten einer Subjektphilosophie, gibt es in der posthumanistischen Philosophie des New Materialism die Bestrebung eine Ontologie zu entwerfen, die Agency radikal distributiv und im ständigen Werden begreift. Auch wenn nichtmenschliche Tiere in dieser Philosophie keine eigene Position einnehmen, bleibt diese Perspektivierung nicht ohne Folgen für eine Diskussion um tierliche Agency. Der Ausgangspunkt des New Materialism lässt sich mit einer Aussage Karen Barads veranschaulichen: »Der Sprache wurde zuviel Macht eingeräumt« (Barad 2012a: 7). Dahinter steht eine grundlegende Kritik an einer Materialitätsvergessenheit, welche als eine Folge der großen Wenden, wie dem linguistic turn oder dem cultural turn und deren Fokussierungen auf Diskurse, analysiert wird. In Abgrenzung zu klassischen Formen des Materialismus konzeptionalisieren Vertreter_innen des New Materialism Materialität nicht als Grundlage, Ressource, Ursprung oder festgelegte Einheit, sondern gehen von Materialitäten als aktiven Entitäten aus (vgl. u. a. Barad 2012a: 96). Wo bereits Donna Haraway mit ihren materiell-semiotischen Knotenpunkten die dualistische

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Unterscheidung von Materialität und Diskurs bzw. Sprache auf brechen wollte (vgl. Haraway 2006: 17), setzt ihre Lehrstuhlnachfolgerin Barad ebenfalls an. Diese denkt Diskurspraktiken als »keine von Menschen gestützten Aktivitäten, sondern [als] spezifische materielle (Re-)konfigurationen der Welt« (Barad 2012a: 100) und Materialitäten nicht als »ein für alle Mal bestimmtes Wesen; vielmehr […] [als] Substanz in ihrem intraaktiven Werden« (Barad 2012a: 100). Barads Konzept geht davon aus, dass Entitäten durch die von ihr begrifflich entwickelte ›Intraaktion‹ erst hergestellt werden, nicht also als statische oder präexistente Entitäten existieren und sich folglich im permanenten Werden befinden: »The usual notion of interaction assumes that there are individual independently existing entities or agents that preexist their acting upon one another. By contrast, the notion of ›intra-action‹ queers the familiar sense of causality (where one or more causal agents precede and produce an effect), and more generally unsettles the metaphysics of individualism (the belief that there are individually constituted agents or entities, as well as times and places).« (Barad 2012b: 77)

Die Materie selbst ist hier »agentiver Faktor« (Barad 2012a: 87) und das Tätigsein funktioniert über ständige Materialisierungen. Aus einer solchen Konfiguration von Materialität lässt sich der Zugriff auf Agency erklären, der auch vielen anderen Ansätzen des New Materialism gemein ist. Abgrenzungspunkt sind hier ebenfalls humanistische, handlungsphilosophische und subjekttheoretische Ansätze, in denen Agency als intentionales Vermögen von Menschen gedeutet wird. Wo solche modernen Ansätze der Figur der passiven Materie aktives Leben bzw. aktiv handelnde Subjekte entgegensetzen, gehen Vertreter_innen des New Materialism davon aus, dass die Materie bereits jene Entität darstellt mit der Agency in Zusammenhang gebracht werden kann. Dies steht im Gegensatz zum modern-hegemonialen Verständnis von Materialität, welches Diana Coole und Samantha Frost auf eine Traditionslinie bis hin zu Descartes zurückführen: »This provided the basis for modern ideas of nature as quantifiable and measurable and hence for Euclidian geometry and Newtonian physics. According to this model, material objects are identifiably discrete; they move only upon an encounter with an external force or agent, and they do so according to a linear logic of cause and effect.« (Coole/Frost 2010: 7)

Bei Coole und Frost so wie bei vielen weiteren Vertreter_innen des New Materialism wird auch explizit die politische Rolle betont, die diese moderne Weltanschauung mit sich bringt: Die Herrschaft über die Natur ist die eine Seite der

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Medaille, deren andere die Omnipotenz des Menschen-Subjektes darstellt (vgl. ebd.: 8). Die Antwort darauf ist eine neue Ontologie, die in die dualistischen Strukturen interveniert. »For materiality is always something more than ›mere‹ matter: an excess, force, vitality, relationality, or difference that renders matter active, self-creative, productive, unpredictable. In sum, new materialists are rediscovering a materiality that materializes, evincing immanent modes of self-transformation that compel us to think of causation in far more complex terms; to recognize that phenomena are caught in a multitude of interlocking systems and forces and to consider anew the location and nature of capacities for agency.« (Ebd.: 9)

Diese neue Konfiguration von Materie, aber auch von Agency, hat den Eigenanspruch, sich von der anthropozentrischen Theorietradition abzukehren. Menschen wird deshalb keine gottesebenbildliche Sonderrolle mehr zugesprochen, sondern sie werden zwischen anderen Entitäten angeordnet, die alle zusammen ihre agentielle Kapazität aus der Macht der Materialität erhalten. Wobei Materialität, wie bereits angedeutet, nicht als feststehende Kategorie gedacht wird, sondern als ständig in Entwicklung begriffen. Die aktive Materialität beeinflusst dabei sowohl das was klassisch als natürliche Welt verstanden wird als auch die sozialen Welten von Menschen und nichtmenschlichen Tieren. Eine Grenzziehung zwischen Mensch und Natur wirkt aus dieser Perspektive kontingent (vgl. ebd.: 20). Zum besseren Verständnis wie Agency konkret in den Ansätzen des New Materialism theoretisiert wird, wird nun im Folgenden kurz der Ansatz von Jane Bennett vorgestellt, der in vielen Punkten programmatisch für das Feld ist. Aus Kritik an einer, wie Bennett es beschreibt, onto-theologischen dualistischen Praxis (vgl. Bennett 2010: x), die in Kategorien wie Leben/Materie, Mensch/Tier, Willen/Determination und organisch/anorganisch unterteilt, entwirft sie einen Materialitätsbegriff, der klassisch als unbelebt gedachte Entitäten als vital denkt. Dem ontologisch-theologischen Argument der passiven Materie setzt Bennett ihr Konzept von ›vibrant matter‹ entgegen, mit welchem sie Theorien von Agency, Aktion aber auch Freiheit strapazieren möchte (vgl. ebd.). Hierbei geht Bennett von einer aktiven Macht von Nicht-Subjekten aus, und ihr Agency-Konzept ist stark distributiv. Ein distributiver Ansatz von Agency setzt kein Subjekt als Grund oder Ausgangspunkt des Effektes. Es sind stattdessen immer Schwärme von Vitalitäten, die die Veränderungen verursachen: »My aim, again, is to theorize a vitality intrinsic to materiality as such, and to detach materiality from the figures of passive, mechanistic, or divinely infused substance. This vibrant matter is not the raw material for the creative

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activity of humans or God.« (Bennett 2010: xiii) Die zentrale Kategorie, die Bennett in die Debatte einführt, ist »Thing-Power: the curious ability of inanimate things to animate, to act, to produce effects dramatic and subtle« (Bennett 2010: 6). Der Fokus ist dabei, wie schon in der ANT, stärker auf einen Effekt der Agency eines Netzwerkes bzw. Assemblage gerichtet als auf die Frage nach einer zugrundeliegenden Intention. Die Agency einer Assemblage wird laut Bennett nicht durch eine zentrale Instanz gesteuert, sondern deren Effekte werden durch die vitale Macht der Materialität generiert (vgl. Bennett 2010: 24): »In this assemblage, objects appeared as things, that is, as vivid entities not entirely reducible to the contexts in which (human) subjects set them, never entirely exhausted by their semiotics.« (Bennett 2010: 5) Als Folge der Konzeption von Thing-Power, welche von Bennett unabhängig von Subjektivität gedacht wird (es gibt keine Instanz wie beispielsweise die Natur, die in irgendeiner Art subjektivistisch die Dinge steuert) haben unbelebte Dinge die Macht Körper zu affizieren und in ihrer Macht zu beeinflussen. Als ein Beispiel für ihre These führt Bennett Tsunamis an. Diese haben, ohne von einem Subjekt gesteuert zu werden, die Macht verheerende Auswirkungen auf menschliche Zusammenhänge, aber auch auf andere unbelebte Entitäten auszulösen. Ein zweites Beispiel sind Mineralien. Sie argumentiert, dass vor 5000 Millionen Jahren durch die kreative Agency der Mineralisierung die Evolution erst in Gang gesetzt wurde. Folglich geht auch, wenn wir keine metaphysische Instanz einführen wollen die dem zwischengeschaltet ist, die menschliche Agency auf die Agency der Mineralien zurück (vgl. Bennett 2010: 11). Aber diese radikale Neukonfiguration von Agency hat nicht die Absicht, alle Entitäten gleich zu machen, wie sich aus der Herleitung von menschlicher Agency aus mineralischer Agency schließen ließe. »This understanding of agency does not deny the existence of that thrust called intentionality, but it does see it as less definitive of outcomes. It loosens the connections between efficacy and the moral subject, bringing efficacy closer to the idea of the power to make a difference that calls for response.« (Bennett 2010: 32) Die partikularen materiellen Konfigurationen haben bei Bennett jeweils spezielle Kapazitäten und Kräfte. Die Aktanten werden von ihr zwar unterschieden, aber weniger vertikal oder hierarchisch gedacht, als es in der humanistischen Subjektphilosophie der Fall ist (vgl. Bennett 2010: 9f.). Infolgedessen unterscheidet Bennett auch zwischen Dingen und Personen, aber die beiden Sphären tauschen sich ständig miteinander aus und sind nicht als völlig abgegrenzte Entitäten zu verstehen. Die Agency-Konzeptionen des New Materialism sind in ihren Grundstrukturen anders aufgebaut als anthropozentrische Modelle, auch wenn sie in ihrer konkreten Ausformulierung doch gelegentlich in anthropozentrische Denkmuster zurückfallen. Speziell da der Fokus auf die Effekte von Prozessen/ Handlungen/Operationen gelegt wird, gibt es nicht mehr die Notwendigkeit,

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etwa nach handlungsmächtigen Subjekten oder nach einem ›ersten Beweger‹ Ausschau zu halten. Stattdessen werden die Abläufe, die Veränderungsprozesse und das stetige Werden ins Zentrum der Analyse gesetzt. Ob der New Materialism allerdings geeignete analytische Werkzeuge zur Verfügung stellt, um sich dem komplexen Feld der vielfältigen Formen tierlicher Agency anzunähern, bleibt zu hinterfragen. Es ist gerade eine Herausforderung für die Human-Animal Studies die verschiedenen Ebenen der Theoretisierung von Agency in einem Zusammenhang mit der Analyse von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen zu setzen. Wenn es auf der einen Seite schwierig ist, intentionalistische Agency-Theorien auf nichtmenschliche Tiere zu übertragen, da ja, wie bereits erwähnt, diese Theorien das handelnde menschliche Subjekt erst durch die Abgrenzung vom nicht-handelnden Nicht-Menschen konstruieren, ist es auf der anderen Seite ebenso schwierig tierliche Agency unter die Agency von Materie zu subsumieren, würde diese Position doch allzu stark dem hegemonialen Diskurs ähneln, der nichtmenschliche Tiere zu nicht-intentionalen Naturdingen macht. Im Kontext des New Materialism wäre es fatal, diese Spannung zu ignorieren, basieren diese Ansätze doch auf der Verquickung von ontologischen und ethischen Aussagen (Barad nennt dies ›Onto-Ethico-Epistemologie‹, vgl. Barad 2012a). Der Lückenschluss einer neomaterialistischen Ontologie, welche nichtmenschliche Tiere in ihrer Ethik ausdrücklich berücksichtigt, fehlt bisher jedoch.

Leerstellen und Auswege Betrachten wir die verschiedenen hier diskutierten Konzepte und Ansatzpunkte zur Definition von Agency in ihrer Gesamtheit, wird deutlich, dass keine davon tierlicher Agency angemessen ist. Die referierten Begriffe wurden jeweils für Gruppen von Akteur_innen oder Aktanten entwickelt, die nichtmenschliche Tiere eigentlich nicht oder nur als eine von vielen Untergruppen enthalten. Die zunächst referierten Positionen waren auf den Menschen ausgelegt, und darin so anthropozentrisch, dass viele Konzepte keine Gültigkeit für Agency in einem weiteren Sinne beanspruchen könnten. Die später referierten Distributionspositionen waren zu unspezifisch für nichtmenschliche Tiere und wurden der Intentionalität nichtmenschlicher Tiere nicht mehr gerecht; diese wurde zwar nicht ignoriert, spielte für den Status als Akteur_in allerdings keine Rolle mehr. Dennoch kann die Analyse und Kritik dieser so unterschiedlichen Agency-Entwürfe begreiflich machen, welche Aspekte eine angemessene Konzeption tierlicher Agency zu berücksichtigen hat. Ausgehend vom Begriff der Intention könnte argumentiert werden, dass Facetten der Intentionalität notwendig sind, um eine Agency-Ethik zu formulieren, welche nichtmenschliche Tiere inkludiert. Schließlich könne nur die

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Abgrenzung zu einer bloßen Wirkmacht und mechanischer Responsitivität in diesem Paradigma eine gesellschaftliche Berücksichtigung als ein (wie auch immer geartetes) Subjekt in der menschlichen Gesellschaft garantieren. Die bereits erwähnten Donaldson und Kymlicka verdeutlichen, dass ein derart autonomistisches Verständnis von Agency keinesfalls zugrunde gelegt werden muss (auch weil es viele Menschen ausschließen würde), dennoch basiert auch ihr Ansatz auf einer spezifischen Form von Intentionalität. Welche (kognitiven) Fähigkeiten verlangt sind, um aktiver Teil menschlicher Gesellschaft zu werden, das bleibt jedoch strittig. Denn auch, wenn das Kriterium der Befähigung zugrunde gelegt wird, kann daraus kein klarer Agency-Begriff abgeleitet werden. Die individualisierende Überlegung von ›wesensgemäßen‹ Fähigkeiten und Kapazitäten wirkt im Spiegel sozialwissenschaftlicher Argumentationen defizitär. Nicht Essentialisierungen entlang von Spezies können Befähigungen nachzeichnen, nur Analysen der sozialen Realität können jeweils in konkreten Gefügen existierende tierliche Kapazitäten identifizieren. Dementsprechend ist eine Analyse tierlicher Agency notwendigerweise auch mit einer Analyse von Machtverhältnissen verbunden, was oftmals aus der Theorieproduktion ausgeblendet wird. So stellen Machtverhältnisse die Rahmenbedingungen dar, in denen Prozesse und Interaktionen stattfinden. Ein Fokus auf Agency, gedacht als Potential (von Individuen), ist so wiederum notwendigerweise unterkomplex, da die konkrete Aktion immer durch bestimmte Rahmenbedingungen verhindert und ermöglicht bzw. eingeschränkt und begünstigt wird. Beispielsweise ist eine Ratte in einem Vivisektionslabor, die an einen Tisch geschnallt ist, hier auf drastische Weise von einem als Herrschaftsstruktur verfestigten Machtverhältnis betroffen. Ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten sind von den sie umgebenden herrschaftsförmigen Strukturen stark eingeschränkt. Auch menschliche Handlungen finden in einem machtförmigen Kontext statt. Und auch hier haben die Machtverhältnisse eine, je nach Sphäre, diskursive, gewaltförmige, normative oder strukturierende Ausprägungsform (vgl. hierzu Foucault 2005 und auf bereitet für die Analyse von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen Wirth 2011). Wir müssen Agency also immer im Verhältnis zu den sie einschränkenden, begrenzenden aber auch hervorbringenden und verstärkenden Machtstrukturen theoretisieren. Soll aber deshalb der Analyse von Beziehungen und Verhältnissen allgemein der Vorzug vor der Betrachtung von Spezies und Individuen gegeben werden? In diesem Fall drohen – vgl. hierzu die bereits thematisierte Kritik von Hribal (2007: 102) – die konkreten Tiere in ihrer Einzigartigkeit und Widerständigkeit wieder hinter den abstrakten Kategorien zurückzutreten und zu verschwinden.

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An der Frage der Personalität und Subjektbezogenheit von Handeln stößt ein transdisziplinäres Verständnis an seine Grenzen, wenn die eingeschränkten Freiheitsentwürfe, die angesichts der Determinismusdebatte in Philosophie und Neurowissenschaften noch möglich sind, in Einklang gebracht werden sollen mit der sozialwissenschaftlichen Erfahrung von Handlungsmacht. Zudem erinnern die Vertreter_innen des New Materialism deutlich daran, dass es unterkomplex sein könne, in Bezug auf nichtmenschliche Tiere schlicht die bisherige Akteur_innengrenze zu verschieben und sie in eine nicht grundlegend reformierte, sondern lediglich erweitert-modernisierte Variante von Subjektphilosophie unter der Stärkung der Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Entitäten zu integrieren. Die Vorstellung von intentionalen Menschen und nichtmenschlichen Tiere einerseits, welche der materiellen Verfasstheit der ungeistigen ›Umwelt‹ andererseits gegenüberstehen, wird aus dieser Perspektive als verkürzt erachtet. Im Gegenzug wäre allerdings zu fragen, ob nichtmenschliche Tiere mit ihren spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnissen in einer holistischen Betrachtung genügend ethische Berücksichtigung erhalten würden. Genau an dieser Stelle prallt eine sozialwissenschaftliche Argumentation möglichst ganzheitlicher Betrachtung sozialer Gefüge und Interaktionen in der empirischen Realität auf das philosophische Plädoyer für die Relevanz des Kriteriums der Intentionalität. Dieses wird verbunden mit dem Hinweis auf die politischen Implikationen der Intentionalität in Bezug auf mögliche Rechte für nichtmenschliche Tiere, etwa wenn man hier die Diskussion um ›Menschenrechte für Menschenaffen‹ betrachtet. Diese Fragen erfordern komplexe Antworten auf der Grundlage nicht nur natur-, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Frage nach der Handlungsfähigkeit von nichtmenschlichen Tieren lässt sich einerseits keinesfalls einfach den Naturwissenschaften zur Klärung überreichen. Es müssen sowohl der Begriff der nachzuweisenden Handlungsfähigkeit geklärt als auch die Probleme bei der wissenschaftlichen Beobachtung von Handlungsmacht im – immer fiktiven – machtfreien Raum reflektiert werden. Hinzu kommt die grundlegende Unmöglichkeit, Freiheit oder Intentionalität naturwissenschaftlich zu verifizieren. Andererseits können naturwissenschaftliche Experimente wie die Libet-Experimente8 und die

8 | In diesen gaben Proband_innen an, wann sie gefühlt eine Entscheidung trafen und gleichzeitig wurde gemessen, wie das Gehirn Vorbereitungen für die Umsetzung der einmal getroffenen Entscheidung traf. Die Umsetzung der finalen Entscheidung durch das Gehirn erfolgte hier bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem die Proband_innen angaben, sich noch gar nicht entschieden zu haben. Das Gefühl, noch zu überlegen und noch die Kontrolle über die Entscheidung auszuüben, entlarvte sich somit als Illusion. Vgl. die ursprünglichen Publikationen Libet 1983 & Libet 1985.

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split-brain-Experimente9 aus einer kontemporären Debatte zu Agency auch nicht ausgeklammert werden, sondern haben unabweisbare konkrete Verdeutlichungen und damit eine neue Dringlichkeit alter Argumente aus der Determinismusdebatte erreicht. Wenn es auch gilt, die Verfügungsgewalt, den Anthropozentrismus und die Mensch-Tier-Verhältnisse zu kritisieren, darf sich dabei nicht darauf beschränkt werden, die Kritik von Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegungen zu wiederholen. Dementgegen kommt den Human-Animal Studies die Aufgabe zu, umfassender als politisch motivierte Forderungen dies könnten, die Beziehungen und Verhältnisse zwischen Menschen und Tieren in ihrer ganzen Breite und Ambivalenz herauszuarbeiten (vgl. Noske 2008: 150). Gerade die politische Stilisierung von nichtmenschlichen Tieren als gemeinhin Stimmlose unter der Gewalt der Menschen Leidende, die ihrer paternalistischen Befreiung harren, verdeckt die ganze affektive und lebensweltlich-empirische Bandbreite von Mensch-Tier-Beziehungen. Die Passivierung von nichtmenschlichen Tieren etwa im Tierversuch oder in der Tierhaltung einseitig zu reproduzieren, vergibt das Potenzial einer adäquaten Analyse dieser Verhältnisse. Dennoch ist stets die Gefahr virulent, tierliche Möglichkeitsräume zu überschätzen: Es ist unbestreitbar aktuell nichtmenschlichen Tieren unmöglich, ihrem Unterdrückungsverhältnis ohne Hilfe von außen zu entkommen (vgl. dennoch die ›Momente der Irritation‹ bei Markus Kurth in diesem Band), sie sind in einem grundlegend stärkeren Sinne als andere unterdrückte Gruppen darauf angewiesen, durch andere Gruppen – und das heißt hier: Menschen, die sich ihrer Verantwortung stellen müssen – unterstützt zu werden. So weist Haraway einerseits zurecht darauf hin, dass sogar sogenannte ›Versuchstiere‹ noch Widerstand zeigen und sich nicht auf Objekte reduzieren lassen; andererseits zeugt es aber auch von einem gewissen 9 | In diesen Experimenten wurden die zwei Gehirnhälften von Menschen aus medizinischen Gründen getrennt. Die mit dem Sprachzentrum verknüpfte Gehirnhälfte, die flüssig und plausibel ›erinnert‹ und erklärt, wieso der Patient_die Patientin sich gerade für etwas entschieden hat und die Gehirnhälfte, die allein über eine Verknüpfung zum genutzten Auge und bewegten Arm verfügt und die Entscheidung tatsächlich traf, verfügten über keinerlei Verbindung mehr. Dennoch lieferten die Patient_innen teils plausible, teils angesichts der für sie objektiv nicht mehr nachvollziehbaren Entscheidungen hanebüchene Erklärungen, wieso sie sich gerade für etwas entschieden haben und bleiben von der eigenen Urheberschaft überzeugt. Damit stellt sich für ›ungetrennte‹ Gehirne die Frage, ob normalerweise zwischen dem Teil eines Gehirns, der eine Entscheidung trifft, und dem Teil, der das Treffen der Entscheidung gefühlt erlebt und kontrolliert, überhaupt eine Verbindung besteht. Immerhin scheint die Trennung keine nennenswerten Irritationen mit sich zu bringen, vgl. den Review-Artikel durch Gazzaniga (1998).

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Zynismus, die Freiheit einer ›Labormaus‹ in der Pharmaindustrie zu betonen (zur dazugehörigen Kontroverse siehe den Beitrag von Sven Wirth in diesem Band). So gibt es gute Gründe, zu hinterfragen, ob nichtmenschliche Tiere mangels einer grammatikalischen Sprache (dagegen vgl. den Beitrag von Dornenzweig in diesem Band) über die kooperative Agency verfügen, die für die Befreiung menschlicher Gruppen so eine große Rolle gespielt hat; hier wäre eine detaillierte Analyse und Kontrastierung von Schwarmeffekten bei nichtmenschlichen Tieren einerseits und politischer Vernetzung von Menschen andererseits vonnöten. In diesem Sinne kann es ein entscheidendes Element zur Rekonzeptualisierung der Mensch-Tier-Verhältnisse sein, gewaltarme Verbindungen sozialtheoretisch jenseits von einseitig handelnden Menschen und behandelten Tieren zu denken – etwa als jenseitige Konversationen (vgl. Haraway 2006, Kurth 2011) oder widernatürliche Anteilnahmen (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 353, Kurth 2013). Andockend an verschiedenste wissenschaftliche Traditionen und Diskussionen kann ein Entwickeln tierlicher Agency eher ein Arbeiten an diesen Schnittstellen sein als das Entwickeln einer monolithischen Theorie-Antwort. Wenn in ethischen Debatten um das Handeln nichtmenschlichen Tieren der Status des moral agent abgesprochen wird, dann sind sie vielleicht als moral subject und nicht als moral patient zu verstehen (vgl. den Beitrag von Leonie Bossert in diesem Band). Wenn ihnen in sozialwissenschaftlichen Debatten in Netzwerken der ANT nur Wirkmacht analog der technischen Apparaturen zukommen soll, dann sind sie vielleicht doch dem Menschen in diesen Konzeptionen näher zu denken. Aber vor allem ist überall dort, wo bisher exklusiv menschlich gedacht wurde, das Tierliche mitzudenken, einzudenken, umzudenken. Den verschiedenen disziplinären und theoretischen Zugängen geschuldet, werden all diese Fragen im Band nicht einheitlich zu beantworten sein. Stattdessen wird ein Spektrum von Agency-Formen aufgezeigt, denen zunächst nur gemein ist, dass sie der Unterbetonung tierlicher Agency entgegentreten und den ungleichen Macht- und Gewaltverhältnissen zum Trotz widersätzliche tierliche Subjektivitäten entdecken.

Ü berblick

über die

B eitr äge

in diesem

B and

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes gruppieren sich um zwei Schwerpunkte. Im ersten Abschnitt wird ein thereotischer und begrifflicher Rahmen für die Diskussion tierlicher Agency geschaffen, indem anhand aktueller Debatten bestehende Theorien aus unterschiedlichsten Disziplinen und Schulen vorgestellt, kritisiert und miteinander vermittelt werden. Im zweiten Abschnitt

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werden hingegen die konkreten nichtmenschlichen Tiere und ihre widerständigen und kooperativen Praktiken anhand von empirischen Forschungen und Erfahrungen in den Blick genommen. Insofern Theorie und Praxis sich nicht sauber trennen lassen – und wir eine solche Trennung auch nicht als wünschenswert erachten – enthalten allerdings die meisten Beiträge beide Aspekte.

Abschnitt 1: Wie können wir handelnde Tiere denken? Transdisziplinäre Konzeptualisierungen tierlicher Agency Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zeichnet Mieke Roscher die Genese der verschiedenen Agency-Begriffe nach und zeigt auf, wie die Überführung des Agency-Begriffes in die Tiergeschichte diversen »Begriffsverwirrungen« gegenüber steht. Sie reflektiert die Verwendung des Akteursbegriffs als wissenschaftliches Konzept, um geschichtlich spezifische Formen von Subjektivität zu fassen und zeigt Alternativen in Form einer Differenzierung des Agency-Begriffes vor dem Hintergrund soziohistorischer Umstände auf. Darauf folgt eine philosophische Annäherung an den Agency-Begriff anhand des Begriffes der Verwundbarkeit durch Dominik Ohrem. Ohrem kritisiert hierbei unter Rückgriff auf feministische Arbeiten die negative Interpretation des Begriffes bis hin in den Posthumanismus und plädiert für eine postanthropozentrische Ontologie des Körpers, die sich der Dichotomie von (passiver) Verwundbarkeit und (aktiver) Handlungsmacht entzieht und die konstitutive ›Welt-Offenheit‹ menschlicher und tierlicher Körper betont. Aus Perspektive der Tierethik untersucht Leonie Bossert Konzepte moralischer Agency auf ihre Tauglichkeit für tierliche Akteur_innen. Anhand der im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipierten Analysen von Marc Bekoff und Jessica Pierce (»Wild Justice«), sowie von Marc Rowlands (»Can Animals be Moral?«) diskutiert sie die Möglichkeiten tierlicher Moralbefähigung sowie die gesellschaftlichen Implikationen der Debatte. Sven Wirth erschließt in seinem Beitrag die Kontroverse um Donna Haraways Postulat, dass auch ›Labortiere‹ »workers in labs« seien und nimmt es zum Anlass, um die theoretischen und normativen Aspekte der Theorien von Donna Haraway einerseits und von Autor_innen aus den Reihen der Human-Animal Studies andererseits in den Blick zu nehmen. Diese Konfrontation von distributiven und subjekttheoretischen Agency-Vorstellungen verspricht einen umfassenderen sozialtheoretischen Zugriff auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse. Karsten Balgar untersucht aus soziologischer Perspektive die Relevanz von Leiblichkeitskonzepten für tierliche Handlungsfähigkeit und eröffnet damit eine neue Perspektive auf die Handlungsfähigkeit von Menschen und nichtmenschlichen Tieren in sozialen Gefügen. Er diskutiert machttheoretische

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Ansätze zur Sozialität des Subjektes sowie existenzialistische Ansätze, die Leiblichkeit als Brücke zwischen Subjekten begreifen und somit eine Perspektiven jenseits der Mensch-Tier-Dichotomie eröffnen sollen.

Abschnitt 2: Konkrete nichtmenschliche Tiere und ihre Agency. Von Subjekten, Kooperation und Widerstand Katharina Dornenzweig analysiert Fallbeispiele aus naturwissenschaftlichen Versuchen, nichtmenschlichen Tieren menschliche Sprachen beizubringen auf problematische Konzeptionen tierlicher Agency und entwickelt hierbei den Begriff des neuen Anthropozentrismus. Sie fragt anhand konkreter widerständiger tierlicher Praxis durch einzelne Menschenaffen_äffinnen und Vögel, wie tierliche Agency im anspruchsvollen Sinne gefasst werden kann. Sie bringt dafür naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse mit philosophischer Kritik zusammen. Markus Kurth betrachtet die widerständige Praxis von Schlachthofausbrüchen individueller Kühe im Hinblick auf die Verwobenheit der Struktur des Schlachthofes mit der Grenzziehung im Mensch-Nutztier-Verhältnis. Im Kontext von Technik, Macht und Subjektivität werden die Beispielfälle solcher Ausbrüche detailliert beschrieben und in ihrer Bedeutung entlang latourscher Praxeologie, Foucaults Biopolitik und der Analytik des Werdens interpretiert. Martin Balluch zeigt, wie der kantische Begriff der Autonomie sowie neurobiologische und physiologische Forschungen nutzbar gemacht werden können, um seine eigenen Erfahrungen mit Hunden in der Wildnis zu analysieren. Er plädiert anhand detaillierter Beschreibungen von Verhaltensweisen dafür, Hünd_innen als freie, intentionale Akteur_innen zu fassen, die sich selbst Zwecke setzen können. Natalie Geese geht, auch anhand eigener Erfahrungen, der Frage nach, wie Agency in der Interaktion von Führhund und blindem Menschen hervorgebracht wird und welche Funktionen der Führhund innerhalb dieses Prozesses übernimmt. Sie plädiert dafür, dass Agency nur in kooperativer Interaktion verwirklicht werden kann und zeigt auf, welche vielfältigen Beiträge Führhunde zu einer situationsbezogenen Agency innerhalb eines Führgespanns leisten. Abschließend reflektiert Jessica Ullrich anhand verschiedener Fallbeispiele die Rolle von nichtmenschlichen Tieren als kunstschaffenden Akteur_innen. Ullrich wirft die Frage auf, ob in manchen Fällen von tierlicher Autorschaft oder Ko-Autorschaft gesprochen werden kann. Dafür stehen ausgewählte Kunstwerke im Fokus, in denen nichtmenschliche Tiere in menschliche künstlerische Praxis einbezogen werden, dort eine eigene Handlungsmacht entfalten und künstlerisch (mit-)erschaffen.

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Aufgrund der unterschiedlichen Disziplinen und Schulen, aus denen die Beiträge stammen, und der Tatsache, dass diese Debatte auch international noch sehr jung ist, findet sich in diesem Band keine einheitliche Antwort auf die Frage nach der Theoretisierung und Beschaffenheit tierlicher Agency, sondern es werden zumeist eher neue Fragen aufgeworfen. Wir hoffen jedoch, damit eine Debatte zu tierlicher Agency im deutschsprachigen Raum anzustoßen.

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Markus Kur th, Katharina Dornenzweig und Sven Wir th

Wirth, Sven (2011): »Fragmente einer anthropozentrismus-kritischen Herrschaftsanalytik. Zur Frage der Anwendbarkeit von Foucaults Machtkonzepten für die Kritik der hegemonialen Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse«, in: Chimaira, Human-Animal Studies, S. 43-84.

Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency Mieke Roscher Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Anwendung von Akteursbegriffen als genuinem Gegenstand sozialhistorischer Annäherungen an historische Subjekte und der Problematik der Ausweitung dieser Annäherung auf Tiere. Dargestellt wird, wie diese Probleme sowohl semantischer wie methodischer Natur sind und welche Auswirkungen diese Differenz in der Auslegung von Agency für Tiere als historische Subjekte hat. Damit wird einerseits für eine sauberere Trennung zwischen der Zuschreibung von Wirkungsmacht und Handlungsmacht, andererseits für eine generelle Ausweitung der Untersuchung auf das Soziale plädiert. Vorgeschlagen wird eine Diversifizierung von Akteurseigenschaften nach relationaler agency, embodied agency, animal agency und entangled agency unter Berücksichtigung des jeweiligen sozialen und zeitlichen Kontextes.

E inleitung Als der englische Historiker Edward P. Thompson sich Ende der 1950er Jahre des Agency-Konzeptes bediente, um der bis dahin von der Geschichtsschreibung weitgehend ignorierten Arbeiterklasse eine historische Stimme zu verleihen, aktivierte er explizit die Differenz zum Tier, um die Arbeiterschaft als Kollektiv und als Summe ihrer Mitglieder als historisch handlungsmächtig zu beschreiben. Er wollte ihnen über diesen Schritt auch als Individuen Akteurseigenschaften zuschreiben. Seitdem gehört Agency, als »master trope« (Johnson 2003: 113), zum festen Bestandteil der Sozialgeschichte, als historiographischer Ansatz, der sich eben über die gesellschaftlichen Strukturen hinweg mit dem Leben einzelner, handelnder Subjekte – als Macher_innen der eigenen Geschichte – beschäftigt. Die strukturgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse begreift dieser Ansatz zwar als konstitutiv für die Geschichte, ihm ist es jedoch ein Anliegen, den Einfluss Einzelner auf diese Strukturen trans-

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parent zu machen und letztlich die Wechselwirkungen zwischen Struktur und Handlungen darzustellen. Auch die Tierhistoriographie hat sich zuletzt verstärkt dem Agency-Konzept zugewandt, um Tieren im Kontext menschlicher Geschichte Gehör zu verschaffen. Anders als Handlungsmacht wird hier jedoch eine abgeschwächte Form des Agency-Begriffes angewendet: Als Aktanten im Sinne einer symmetrischen Anthropologie wird ihnen zumeist »Wirkungsmacht« auf menschliches Handeln bescheinigt (vgl. z. B. Krüger et al. 2015: 12ff.). Zudem wird hier weniger der Tradition der Sozialgeschichte, als vielmehr der latourschen Wissenschaftstheorie gefolgt, welche einige der Begriffsverwirrungen erklärt, die ich in diesem Aufsatz aufzeigen möchte. Daher soll beleuchtet werden, was diese semantische Differenz in der Auslegung von Agency für Folgen für Tiere als historische Subjekte hat. Latour folgend, der eine Differenz zwischen Akteuren und Aktanten postuliert, sind hier Wortfeldverschiebungen mit nicht unerheblichen Konsequenzen verbunden.1 Nach einer Bestandsaufnahme der sozialhistorischen Genese des Agency-Begriffes in der Sozialgeschichte und seiner Nutzung durch die Tiergeschichte2 bzw. der historischen Human-Animal Studies, wird in diesem Aufsatz zweischrittig vorgegangen. Zunächst werde ich die theoretischen Unterschiede zwischen Handlungsmacht und Wirkungsmacht auf einer Meta-Ebene eruieren. Dabei werden die Begriffe hinsichtlich ihrer Semantik, ihrer Übersetzung und ihrer disziplinbezogenen Bedeutung untersucht. Hier ist augenfällig, dass insbesondere in der englischsprachigen Auseinandersetzung mit Tiergeschichte vermehrt kulturgeschichtliche Interpretationen und Theorien (Stichwort: Praxeologie) herangezogen werden. Diese kulturgeschichtliche Annäherung hebt darauf ab, Kultur als eben nicht mehr nur durch Sprache und Schrift geschaffen zu begreifen, sondern auch als einen interaktiven Prozess, an dem Mensch und Tier beteiligt sein können, als culture in the making. Auch die Sozialgeschichte, in die diese Ansätze als doing history eingeschrieben werden, muss sich also methodisch überlegen, wie sie die Beziehungen zwischen Mensch und Tier als konstitutiv für soziale Bedingungen begreifen will, wie dort zwischen Handlungs- und Wirkungsmacht zu differenzieren ist. In einem zweiten Schritt wird deshalb für eine Neukartierung der Agency-Begriffe und für eine Tiergeschichte als Sozialgeschichte plädiert. 1 | Die Begriffe Akteur und Aktant sowie Sender und Empfänger sind in diesem Aufsatz im Hinblick auf ihre neutrale bzw. neutralisierende Nutzung in der Sprach- bzw. Sozialtheorie, die u. U. losgelöst ist von menschlichen Protagonist_innen, nicht gegendert worden. 2 | Unter Tiergeschichte wird der spezifische Ansatz deutschsprachiger Historiker_innen verstanden, denen es darum geht, sich von der Untersuchung der rein symbolischen Ebene von Tieren in der Geschichte, dem Repräsentationsansatz, zu lösen, und sich stattdessen den realen Tieren und ihren Handlungen zuzuwenden.

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ohne

Tiere

Der britischen Sozialgeschichte und ihren primären Protagonist_innen der 1960er Jahre, Thompson, Christopher Hill, Eric Hobsbawm u. a., ging es um die Emanzipation der Geschichte von der strukturgebenden Herrschaftsgeschichte. Zwar gaben diese Sozialhistoriker_innen zu bedenken, dass Strukturen (ökonomische, politische, soziale) das Leben eines jeden Individuums beeinflussten, dass jedoch der_die Einzelne nicht nur Opfer dieser Strukturen sei, sondern aktiv an ihrer Änderung und damit an der Geschichtsbildung teilhabe. Dies war ein durch und durch politisches Anliegen. Mit der Emanzipation der Geschichte und der Öffnung für bis dato von ihr ignorierter und somit unterdrückter Gruppen, wollten sie gesamtgesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Wie Thompson 1957 in einem Aufsatz in dem marxistischen The New Reasoner, der Vorgängerzeitschrift zur New Left Review, schrieb: »Men make their own history: they are part agents, part victims: it is precisely the element of agency which distinguishes them from the beasts, which is the human part of man, and which it is the business of our consciousness to increase.« (Thompson 1957: 122, Herv. im Org.)

Das Menschliche wurde also ausdrücklich hervorgehoben, Tiere als Akteure somit aus der Sozialgeschichte ausgeschlossen. Thompson kritisierte in diesem Artikel aber nicht nur die herrschende Auffassung von Geschichte, sondern auch die innerhalb des kommunistischen Spektrums gegebene Interpretation, insbesondere stalinistischer Ausprägung3 , in der nur die Klasseninteressen und letztlich ökonomische Strukturen Geschichte bestimmen. Geschichte illustrierte nach Thompson den Prozess, in dem Menschen ihre Leben gestalten und umgestalten. Strukturelle Barrieren werden demnach, in einem bewussten Akt der (Selbst-) Aneignung der sozialen Welt, überwunden. Auch in dieser Wesensbestimmung der Topoi der Sozialgeschichte zog Thompson Tiere als Kontrastfolie heran. So schreibt er, dass die stalinistische Historiographie »entirely mistakes man’s nature, as revealed in his unfolding history. The Stalinist is fixated by Pavlov’s dogs: if a bell was rung, they salivated. If an economic crisis comes the people will salivate good ›Marxist-Leninist‹ belief. But Roundhead, Leveller, and Cavalier, Chartist and Anti-Corn Law Leaguer, were not dogs; they did not salivate their creeds in response to economic stimuli; they loved and hated, argued, thought, and made moral choices. Economic changes impel changes in social relationships, in 3 | Veranlassungen für diese Abgrenzung zur stalinistischen Geschichtsauffassung sind bei Thompson vor allem auch biographisch begründet. Vgl. Barrow 2015.

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Mieke Roscher relations between real men and women; and these are apprehended, felt, reveal themselves in feelings of injustice, frustration, aspirations for social change; all is fought out in the human consciousness, including the moral consciousness. If this were not so, men would be – not dogs – but ants, adjusting their society to upheavals in the terrain.« (Thompson 1957: 122)

Thompsons 1963 folgendes monumentales Werk The Making of the English Working Class, welches sicherlich einen der Grundpfeiler für die Neue Sozialgeschichte darstellt, baut auf diesen Prämissen auf. Agency ist auch hier zentral. Wie Agency genau inhaltlich zu füllen war, das ließ er offen für Interpretationen (vgl. Callinicos 2004: 2ff.). Nur eins war für Thompson offensichtlich eindeutig: Agency unterschied Menschen von Tieren. 4 Auch Hobsbawm verwies bei seiner Definition von Sozialgeschichte auf die Differenz zum Tier: Sozialgeschichte sei »the history of societies as well as of human society (as distinct from, say, that of apes and ants)« (1971: 30). Diese Definitionen von Agency, so vage sie waren, orientierten sich noch stark an Rechts- und Subjektverständnissen der Moderne (vgl. O. Krüger et al. 2005: 5), an dem Beharren auf den freien Willen des Subjekts (vgl. Duncan 2010: 20). Hobsbawm wollte mit seiner Anführung der Tiere jedoch darüber hinaus konzeptuelle historiographische Probleme ansprechen. Er insistierte, dass man definieren müsse, was man beobachten möchte, wenn man Geschichte schreibe, und mahnte, dass in diesem Prozess die jeweils vorhandenen sozialen Strukturen oft vereinfacht dargestellt bzw. generalisiert würden. Dass es dennoch zu soliden historischen Arbeiten komme, liege daran, so Hobsbawm, dass »horses can be recognized and ridden by those who can’t define them« (Hobsbawm 1971: 36). Was Hobsbawm damit sagen wollte war, dass man bei einer genauen Untersuchung der sozialen Strukturen Aussagen über einzelne Akteure treffen kann ohne sie per se definieren können zu müssen. Die Nutzung der Pferde-Metapher geschah sicherlich nicht mit Hinblick auf eine spätere tierzentrierte Analyse: Dennoch öffnete er hiermit durchaus auch Türen zu tiergeschichtlichen Perspektiven auf Sozialgeschichte als einer Geschichte von Gesellschaft, die Tiere mit einschließt.5 Über diesen Zugriff werden auch die Strukturen als zweite Zugriffsfläche der Sozialgeschichte betrachtet, die sowohl auf das Leben der Menschen wie auch der Tiere einwirken. Und in der 4 | Auch in der Kolonialgeschichte und in der Geschichte der Sklaverei ist diese Unterscheidung zum Tier prävalent. Der Agency-Begriff wird und wurde hier verwendet, um zu zeigen, dass Menschen auch unter den widrigsten Umständen und in fast vollständiger Unterdrückung und Machtlosigkeit immer noch Menschen, »fully human« sind. Vgl. Wilson 2008: 246. 5 | Dies bedeutet auch, dass generell von gesellschaftlichen Tier-Mensch-Verhältnissen gesprochen werden sollte, da die Gesellschaft diese Beziehung nachhaltig formt.

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Tat hat die Tiergeschichte hier angesetzt, um neue Sichtweisen in Betracht zu ziehen. Swart etwa folgerte, dass es möglich sein müsse, die Geschichte des Pferdes zumindest im Ansatz vom Pferd aus zu schreiben, nachdem sie festgestellt hatte, dass »The ›world the horses made‹ is still too much a history of their riders. It is still too much the ›world the horses were made to make‹ (by humans) rather than the ›world they made‹.« (Swart 2010: 252)

Radikal den Blick der Tiere einzunehmen, wie einige Tierhistoriker_innen fordern, dies sollte hier kurz erwähnt werden, ist indes auch in der Tiergeschichte umstritten (Despret 2013: 29f.). Befürchtet wird hier nicht bloß die Anthropomorphisierung. Es habe geradezu etwas Übergriffiges, Tieren das Wort zu geben und gleichsam für sie zu sprechen (vgl. Pöppinghege 2014: 13). Als »sympathetic projection« (Daston 2005: 53) würde Tieren hier eigentlich Agency genommen, weil das Besondere des Tierlichen ignoriert werde.6 An dieser Stelle soll jedoch zunächst resümiert werden, dass sich Elemente der Sozialgeschichtsschreibung auch jenseits der Agency-Zuschreibung für eine Tiergeschichte anbieten, dass gleichsam jedoch die Frage nach den historisch Handelnden zentral für die Neue Sozialgeschichte der 1960er war.7

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des

F eldes

Dass die Sozialgeschichte in den folgenden Jahrzehnten einen regelrechten Boom erfuhr, lag auch in der Tatsache begründet, dass neue historische Akteure in den Blick genommen wurden, die es zu untersuchen galt. Dabei verlor sie als Alltags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte gedreht, zwar zusehends den marxistisch-materialistischen Impetus der Vorgängergeneration, der vor allem daran gelegen war, die Geschichte der Armen und der radikalen sozialen Bewegungen (und des Sozialismus) zu schreiben (vgl. Hobsbawm 1971: 21). Sie wurde in diesem Zuge aber insbesondere um diskursorientierte Herangehensweisen postkolonialer und genderorientierter Historiographien bereichert (vgl. Eley 2005). Sozialgeschichte hat sich heute anderen Kategorien zugewandt, als Hobsbawm und Thompson sie ins Auge nahmen. Statt Klasse sind dies in erster Linie Geschlecht, race, materielle Kultur und Umwelt. Damit wandte 6 | Der Blick auf eine genuine Animal Agency, die frei ist von der menschlichen Parallelisierung, wird weiter unten noch genauer ausgeführt. 7 | Nur angedeutet werden kann hier eine daraus folgende These, nämlich, dass sich die Neue Sozialgeschichte der 1960er nicht für Tiere interessierte, weil sie sie als Abgrenzungsfolie brauchte.

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sie sich Akteuren zu, denen auch anders auf die Spur zu kommen war (vgl. Poster 1997: 45). Mit der poststrukturalistischen Lesart des linguistic turns auf die Geschichtswissenschaften und den Verlagerungen auf den Text gab es durchaus Schwierigkeiten, Akteure ohne Sprache zum Sprechen zu bringen. Inzwischen hat sich jedoch der rigorose Einfluss des linguistic turns gelockert und in der Neuen Kulturgeschichte eine Versöhnung zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte stattgefunden. Unter ihrem Eindruck geht es nun darum, den »intermediate place«, wie Eley ihn definiert (vgl. 2005: 45), zwischen materiellen und semiotischen Kategorien jeweils historisch zu befragen. Auch dies macht die Sozialgeschichte offen für tierzentrierte Perspektiven, die sowohl die Präsenz des Tieres in menschlichen Gesellschaften als auch den Eindruck dieser Präsenz zu untersuchen gedenkt.

H andlungsmacht und W irkungsmacht : Tiergeschichtliche A nnäherungen Im Zuge dieser Bestrebungen, neue Akteure zuzulassen bzw. andere Perspektiven für eine sozialhistorische Betrachtungsweise zu berücksichtigen, bedurfte es für die Tiergeschichte »einer konzeptuellen Ausweitung« (Steinbrecher 2009: 284) des Agency-Begriffes. So fragen Steinbrecher und Krüger, »inwiefern Tiere selbst zu Akteuren werden (können)« (2011: 169). Dahinter steckt die grundsätzlichere Frage, ob ein Tier, ob Tiere eine Geschichte haben und wie diese Geschichte verfolgt und geschrieben werden kann (vgl. Swart 2010: 243). Wie bereits angemerkt, kam der Bezug zur Inkludierung von Tieren als Akteure in der Geschichte nicht über die Sozialgeschichte, sondern über die Sozialtheorie. Im Einklang mit der »sozialtheoretischen Grundlegung« der modernen Sozial- und Kulturgeschichte durch ein »breites Spektrum ›praxeologischer‹ Ansätze« (Welskopp 2002: 85) werden hier neue Wege eingeschlagen, Tiere zu inkludieren. 2010 schlugen Pearson und Weismantel vor, die Interaktionsebenen zwischen Mensch und Tier in den Blick zu nehmen und dabei zu betrachten, dass »Geschichte auch durch anderes Handeln als durch Sprechen und Schreiben gemacht wird« (Pearson/Weismantel 2010: 389). Sie verwiesen in diesem Zuge auch auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die von der französischen Sozialtheorie um Bruno Latour prominent gemacht wurde. Sie findet in der Tiergeschichte vor allem auch Anklang, weil nicht erst, wie es die Neue Sozialgeschichte verlangt hatte, die Humanität der Akteure bewiesen werden muss. Im Gegenteil: Die ANT schließt offensiv ›Dinge‹ mit ein und subsumiert darunter das ›Nicht-Menschliche‹, also auch Tiere. Zudem ist durch die ANT die Zielrichtung der Handlung nicht vorgegeben bzw. ist ihr Ergebnis stets offen formuliert. Handlung wird von Latour als etwas Unkontrollierbares verstanden: »Andere Entitäten, über die wir kei-

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ne Kontrolle haben«, bewegen menschliche Akteure dazu, »Dinge zu tun« (Latour 2007: 88). Dies ist ein schwacher Handlungsbegriff, der konsequenterweise im Deutschen zumeist mit Wirkungsmacht übersetzt wird, weil die Empfänger der Aktion (heißt: die Menschen) betrachtet werden, nicht die Sender (heißt: die Tiere). Diese Wirkungsmacht, die »quer durch alle Quellengattungen zu erkennen ist« (Steinbrecher 2009: 283), dürfte sich inzwischen als Forschungsperspektive auf Tiere innerhalb der breiteren Geschichtswissenschaften durchaus durchgesetzt haben. Wenn die Spuren tierlicher Agency im Quellenmaterial nicht explizit auftauchen, nimmt aber auch die Tiergeschichte an, dass das Konzept von Wirkungsmacht – im Gegensatz zur Handlungsmacht – quasi als einzige alternative Anwendung des Agency-Begriffes in Frage komme, um Tiere zum Sprechen zu bewegen. Auch darin liegt die Attraktivität des Konzeptes begründet, da es »Tiere nicht von vornherein aus dem Tableau der historisch Handelnden ausschließt« (Krüger et al. 2015: 14). Ziel der Tiergeschichte ist es aber perspektivisch, auch die Sender der Aktion in den Fokus zu rücken, sie damit als handlungsmächtige Wesen zu konzipieren. Sie werden so als »Handlungsträger« (Steinbrecher 2012: 20) apostrophiert, in die Handlung quasi körperlich eingeschrieben ist. Kean etwa sieht diese Handlungsmächtigkeit insbesondere dann aufleuchten, wenn individuelle Tiere in den Quellen auftauchen, diese einerseits auf den Verfassenden der Quelle einwirkten und dies taten, weil sie einmalige oder herausstehende Verhaltensweisen an den Tag legten, die mit Agency beschrieben werden müssen (vgl. Kean 2012: 61). Eine »relative Autonomie« des Tieres, die sich etwa in der Wahl eines Aufenthaltsortes und eines gefälligen Verhältnisses zum Menschen abzeichne, deute auf Handlungsmacht hin, die über Wirkungsmacht hinausgehe (ebd.). Einige Tierhistoriker_innen verweisen darauf, dass insbesondere bei tierlichen Widerstandshandlungen zu den ihnen von Menschen oktroyierten Leben bzw. bei der Transgression menschlicher Normvorstellungen durch Tiere in den Quellen Formen von Agency als Handlungsmacht aufscheinen würden (vgl. Hribal 2007: 102; Hribal 2008; Carter/Charles 2013: 323; Swart 2010: 252). Auch andere »nichtdiskursive Praktiken« des Freizeitwie des Arbeitslebens gelte es im Bezug zur Interaktion zum Tier zu befragen, so auch Eitler und Möhring (2008: 100f.). Die Arbeit, die sie geleistet haben, um letztlich menschliche Geschichte nachhaltig zu beeinflussen, z. B. in der Industrialisierung, Urbanisierung und Kolonialisierung (Pearson/ Weismantel 2010; Walker 2013) hätte nach Meinung der Tiergeschichte einen stärkeren Handlungsbegriff verdient. Strategien, Tiere letztlich selbst als Teil der arbeitenden Klasse zu betrachten (vgl. Hribal 2003: 453), müssen deshalb

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als Anknüpfungsversuch an die Pioniere der Neuen Sozialgeschichte und ihren spezifischen thematischen Zugriff bewertet werden. 8 Vor allem geht es also darum, Tiere von ihrem Dasein als völlig vom Menschen kontrolliert zu befreien und ihnen somit auch »a history of their own« (Wilson 2008: 247) zuzugestehen. Sie werden von der Tiergeschichte als »Geschichte verändernde Wesen, die selbst wiederum Geschichte verändern« (Steinbrecher 2012: 29) begriffen. Skabelunds an Spivaks angelehnte Frage »Can the subaltern bark?« zielt dabei eben auf die vermeintliche Stimmlosigkeit in den Quellen ab, die sich in eine vermeintliche Geschichtslosigkeit übersetzt (Skabelund 2005). Von daher ist auch noch eine andere Lesart des Agency-Begriffes für die Geschichtswissenschaft relevant. Tiere werden so als insgesamt »geschichtsmächtig« (Steinbrecher 2012: 10) in den Blick genommen, um somit eine Wirkungs- und Handlungsmacht außerhalb des Sprachlichen zu postulieren. Dabei besteht dennoch die Frage, wie genau diese Geschichtsmächtigkeit zu konzipieren ist, »wenn es um mehr als um die Feststellung geht, dass Tiere in der Vergangenheit Menschen beeinflusst haben« (Krüger 2014: 27). Diese Frage berührt sowohl die Semantik wie die Deutung von Agency. Wie Steinbrecher sagt, sind »die Debatten, wie tierliche Agency als historische Wirkungsmacht zu konzipieren ist, noch im vollen Gange« (Steinbrecher 2014: 42, Herv. im Org.). Welche Dimensionen diese Debatten haben (oder haben sollten), wird im Folgenden dargelegt.

A gency z wischen H andlungsmacht L ost in Tr ansl ation ?

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W irkungsmacht :

Wenn man eins von Thompson und Hobsbawm gelernt hat, ist es, dass ein Perspektivenwechsel eine neue Sicht auf Akteure zulässt (vgl. auch McWilliam 2014: 149). Einen Perspektivenwechsel auf Tiere hatten die beiden Sozialhistoriker wohl nicht im Sinn, aber genau dieser ist mit der Sicht auf das Nicht-Menschliche mit dem Animal Turn und der Etablierung von Human-Animal Studies eingeläutet worden. Auch dieser Perspektivenwechsel verlangt nach der Berücksichtigung der Tiere bei der Schreibung von Geschichte, der Anerkennung ihrer historischen Relevanz, die sich eben auch im Agency-Begriff abzeichnet. In ihrer Einleitung zu den Konturen einer Animate History fassen Krüger et al. die zentralen Fragen der Tiergeschichte im Bezug zur Agency zusammen, die gleichzeitig die Mehrdeutigkeit des Agency-Begriffes illustriert: »Kommt Tieren analog zu Menschen Handlungsmacht zu? Und 8 | Interessant ist hier Desprets Anmerkung, wenn sie darauf hinweist, dass tierliche Agency zumeist nur im Widerstand wahrgenommen werde. Das widerstandslose Arbeiten werde nicht als Agency erkannt (vgl. Despret 2013: 43).

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in welcher Weise können Tiere auf historische und soziale Prozesse einwirken?« (2015: 15) Diese Mehrdeutigkeit spiegelt somit sowohl eine semantische wie eine ontologische Ebene wider. Dabei changiert das Wirken/Handeln von Tieren zwischen ihrer Rolle als entweder »Interferenten oder Motivatoren« (Steinbrecher 2014: 33). Im Sinne Haraways (2008: 4) wird mit dieser Frage auch die materiell-semiotische Konzeption von Tieren angesprochen, die die spezifische Produktion von Tieren sowohl auf körperlicher wie diskursiv-semiotischer Ebene umfasst. Um den Schwierigkeiten der Zuweisung von entweder Handlungs- oder Wirkungsmacht auf den Grund zu kommen, scheint es deshalb ratsam zu sein, die unterschiedlichen Dimensionen des Problems, die divergenten Definitionen von Agency, ihre Polysemie und ihre spezifische kontextuelle Aufladung zunächst auf einer Meta-Ebene zu betrachten und mit den Forderungen der Tiergeschichte abzugleichen. Der Soziologe Giddens definierte Agency folgendermaßen, und dies beeinflusste auch die Neue Kulturgeschichte maßgeblich: »At its root, minimalist definition, agency refers to the individual’s capacity to act, to do something (intentionally or otherwise), implying at the very least an agents practical knowledge and mastery of the common elements of culture, a form of cultural competency founded less upon discursive than practical consciousness.« (Giddens, zit.n. Spiegel 2005: 15)

Somit wird im Rekurs auf eine solche Definition argumentiert, dass tierliche Wirkungsmacht menschliches Handeln bedinge und daher nur als indirekte Handlungsmacht definiert werden könne. Tierliches Handeln bedarf also eines menschlichen Rezeptors, um als Wirken wahrgenommen zu werden. Pöppinghege etwa drängt auf eine Differenzierung zwischen »menschlich-intentionalem und nicht-menschlichem Handeln« (Pöppinghege 2012: 5). Wenn allerdings mit der ANT davon ausgegangen wird, dass auch nichtmenschliche Akteure (oder Aktanten) Bewegung in Strukturen bringen, müsste im Hinblick auf die Veränderungen auf Struktur jedoch eigentlich ein starker Handlungsbegriff vertreten werden.9 Hier ist somit ein Oszillieren zwischen Aktiv- und Passivstatus, zwischen Subjekt und Objekt quasi schon in die Begrifflichkeit eingebunden. Dass mit der Unterscheidung in Handlungs- und Wirkungsmacht das Tier damit zwangsläufig passiv ist, wird damit noch nicht ausgedrückt. Es geht vielmehr darum, dass die Umstände darüber entscheiden, wo und auf welcher Skala Agency anzulegen ist. Tatsächlich geht es den Vertreter_innen einer akteurszentrierten Geschichtsschreibung ja vor allem darum, dass historische Akteure die Welt nach 9 | Zur Umsetzung der ANT in den Human-Animal Studies allgemein vgl. auch Carter/ Taylor 2013.

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ihrem eigenen Wissen mitformen und dass die Wahrnehmung dieses Wissens zwar durch kulturelle Rahmenbedingungen eingeengt, aber eben nicht vollkommen kontrolliert werde. Inwieweit sie in ihren darauf basierenden Handlungen frei sind, hängt dann jeweils von dem Zugeständnis an strukturelle versus prozessuale Grundbedingungen ab (vgl. Spiegel 2005: 13). Bemühungen zum Nachweis von Denken und Handeln der Tiere als Voraussetzungen a priori hält Steinbrecher im Bezug zur Tiergeschichte für »wenig fruchtbar« (Steinbrecher 2014: 30). Ähnliches müsste dann auch für die Richtung von Agency gelten. Diese jedoch im Vorhinein als »Attributionen bzw. Projektionen« (Pöppinghege 2012: 5) abzutun, halte ich für zu kurz gegriffen.

Begriffsver wirrungen 1: Eine Frage der Semantik? Eines der größten Probleme der Agency-Zuschreibungen ist ein semantisches: Was steckt überhaupt hinter dem Begriff? Der Übersetzer und Wissenschaftssoziologe Roßler stellte fest, dass es in der deutschen Sprache »keinen neutralen Terminus« gebe, der »menschliche wie nicht-menschliche Handlungsund Wirkungsmacht umspannt« (Roßler 2007: 177). Agency sei in der Tat »unübersetzbar«, in seiner Polysemie »schimmernd«, und jeder Ansatz einer Übersetzung meistens eine »Notlösung« und »Interpretation« (Roßler 2007: 178ff.). Auch Steinbrecher hat auf die Schwierigkeiten des Begriffes verwiesen, weshalb man »auch hier mangels einer adäquaten Übersetzung von Agency« (Steinbrecher 2009: 272) spreche. Was genau unter Handlungsmacht und was unter Wirkungsmacht im Bezug zur Tiergeschichte verstanden wird, ist bisher noch nicht feiner durchdekliniert worden. Dabei hätte es zumindest einer präziseren Definition von Sendern und Empfängern historischen Handelns bedurft.

Begriffsver wirrungen 2: Eine Frage der Sprache? Aber Agency bleibt auch in der englischsprachigen Welt ein schwammiger Begriff, in den vielleicht zu viel und durchaus ambivalenter Inhalt gegossen wird. Agency stelle ein »cluster of notions that share resemblances and similarities« (Wilson 2008: 245) dar, sodass eine Unterscheidung in Handlungsmacht und Wirkungsmacht, bei auch hier klarerer Definition, durchaus Sinn machen könnte.10 Shaw entschied sich in dem von ihm herausgegebenen Sonderheft von History and Theory zu Tieren als Akteuren zu folgender Definition: »an agent or actor is minimally someone without whom things, especially a particular doing, might have been significantly different« (Shaw 2013b: 148). 10 | Für diesen Hinweis möchte ich Philip Armstrong danken. Vgl. auch Armstrong 2008; Carter/Charles 2013: 325; Shaw 2013b.

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Gleichzeitig verweist er auf die klassische Auslegung von Agency, nach der ihr Intentionalität und rationelles Entscheidungsvermögen unterliege (ebd.). Dennoch müsse auch berücksichtigt werden, dass Intention sich eben nicht immer im Handeln abbilde. Dies fügt eine weitere Eskalationsstufe im Versuch der Definition von Agency hinzu (ebd.: 153). Andersherum wird inzwischen auch an dem Mangel an tierlicher Intentionalität gezweifelt (vgl. C. Pearson 2013: 134ff.), der sich vor allem auch in der historischen Rückschau materialisiert: Agency bedeutet Unterschiedliches zu unterschiedlichen Zeiten. Die historiographische Ebene verlangt also noch eine größere Aufmerksamkeit.11 Wilson unterscheidet zwei grundsätzliche Richtungen, die die Agency-Debatte bestimmen würden: Zum einen eine selbstreferentielle Ebene (heißt: die Geschichte im Kontext der eigenen Kultur vermitteln zu können) und eine handlungsorientierte Ebene (heißt: die Geschichte selbst mit Handeln zu bestimmen). Beide könnten jedoch nach Shaw als »historical agency« beschrieben werden, die sich eben von »rational agency« unterscheide (Shaw 2013b: 149), etwas, das zu selten getrennt werde: »Historically relevant agency encompasses a continuum of actions, and the doers of those actions turn out to be historically variable sorts of things, not necessarily or only people.« (Shaw 2013b: 165)

Auch in dieser Diskussion schwingt also die Unterscheidung nach Handlungsund Wirkungsmacht mit. »Animals may be theorized as actors, but they are not proved to be actors. Instead, they appear as a tool or form of technology that has, over the centuries, been utilized and manipulated by humans.« (Hribal 2007: 102)

Hribal referiert hier den Unterschied zwischen Wirken und Handeln, der somit auch in der anglophonen Welt mitschwingt. Als Werkzeuge in der Konstruktion menschlicher Geschichte wird ihnen eine, zugegebenermaßen schwache, Wirkung attestiert. Hribal selbst sieht darin quasi ein Zugeständnis an die traditionelle Geschichtswissenschaft.

Begriffsver wirrungen 3: Eine Frage der Disziplin? Neben der Unklarheit der Übersetzung besteht noch eine disziplinbezogene Ungenauigkeit: Philosophie und Soziologie meinen mitunter ganz andere Dinge, wenn sie über Agency sprechen (vgl. Roßler 2007: 182f.). Auch die den 11 | Der Blick auf eine Historisierung von Agency wird weiter unten noch genauer ausgeführt.

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Geschichtswissenschaften und ihren jeweiligen historiographischen Traditionen geschuldeten Annäherungen sind zu berücksichtigen (vgl. Kean 2012: 58). Die Auseinandersetzung darüber, wie die Geschichtswissenschaften die Agency-Problematik austarieren, ist mit Hinblick auf die Nebeneinanderverwendung von Wirkungsmacht und Handlungsmacht insbesondere im Kontext des Nicht-Menschlichen noch nicht geführt worden. Wirkungsmacht wird hier wohl verwendet, da der Begriff »das umfassendste Spektrum möglicher Handlungs- und Aktionsträger umspannt« (Roßler 2007: 183).

Begriffsver wirrungen 4: Eine Frage des Handlungsziels? Wenn Nash im Bezug zur Agency von Natur einfordert, dass auch »so-called human agency cannot be separated from the environments in which that agency emerges« (Nash 2005: 69), bringt sie eine weitere Ebene hinein, die bei der Definition von Agency wichtig erscheint: Dass sie nämlich einen Resonanzboden braucht, einen Spiegel oder eine Zielscheibe. Handlungen, die ohne Wirkungen bleiben, werden von der Geschichtsschreibung kaum identifizierbar sein. Gleichzeitig stehen Handeln und Wirken in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, dass durchaus dialektisch zu begutachten wäre. Zudem wird hier beschrieben, dass die Umgebung der Handlung mitzudenken ist. Beide Aspekte treffen meines Erachtens auch für die Tiergeschichte zu, in der sowohl die Wechselseitigkeit der Handlung als auch die Ergebnisse der Handlungen berücksichtigt werden müssen. Tiere sind eben keine leeren Container, die als Ziel menschlicher Agency fungieren, sondern reagieren auch auf menschliches Handlungspotential. Von daher ist es auch in Bezug auf menschliche Agency weniger problematisch, die »Effekte« (Carter/Charles 2013: 323) bzw. die Konsequenz einer Handlung zu beschreiben, als die subjektive Intention: »willed versus unwilled actions may be of diminished importance, especially if we expand our sense of what defines ›consequences‹«, so Richard Foltz (Foltz 2003: 23).

Begriffsver wirrungen 5: Agency, Akteure und Aktanten Aber auch der Akteursbegriff selbst ist mit weiteren definitorischen Schwierigkeiten belegt, denn er muss als mehr als eine Personalisierung des Agency-Begriffes gesehen werden und reiht sich somit in die ambivalente Semantizität von Agency ein. Latour etwa geht davon aus, dass nichtmenschliche Wesen Akteure sein müssen und »nicht bloß die glücklosen Träger symbolischer Projektionen« (Latour 2007: 25). Demnach ist »jedes Ding, das eine gegebene Si-

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tuation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur – oder, wenn es noch keine Figuration hat, ein Aktant« (ebd.: 123).12 Die Lösung, Tiere nicht als vollwertige Akteure, sondern als Aktanten zu bezeichnen – eine Hierarchisierung, die sich in der Aufteilung von Handlungs- und Wirkungsmacht zu spiegeln vermag –, wurde auch aufgrund der Widerstände der historischen Zunft vielleicht zu voreilig von der Tiergeschichte angenommen, noch bevor die Konsequenzen für den historiographischen Zugriff einerseits und die weitere Perspektivierung andererseits zu Ende gedacht worden sind. Krüger verwehrt sich entsprechend gegen diesen schwachen Aktantenbegriff und resümiert, dass wenn Tiere »Anstöße für Entwicklungen« (Krüger 2014: 40) sind, sie auch als »Akteure der Geschichte verstanden werden« müssen (ebd.). So attraktiv also die ANT für einen Zugang für die Tiergeschichte ist, in der einfach allen Dingen und eben auch Tieren Effekte und unbestimmte Agency zugesprochen werden, so sehr verwässert sie auch die generellen Aussagen, die über Tiere und ihre Geschichte gemacht werden könnten, denn was unterscheidet dann Tiere noch von Steinen? Und wie helfen uns diese Zuschreibungen samt ihrer ambivalenten Semantizität und ihrer Polysemie methodologisch und epistemologisch in der Schreibung von Tiergeschichte (vgl. auch Carter/Charles 2013: 328)? Um Tiere als Akteure darzustellen, bedarf es also offenkundig der Spezifizierung des Akteur-Netzwerks auf spezifische soziale Interaktionen, soziale Situationen und Geschichten des Sozialen. Dies könnte auch für eine Neuordnung der Agency-Begrifflichkeiten in der Lesung einer Tiergeschichte als Sozialgeschichte sprechen.

B ack to the S ocial : Z wischen D oing H istory, R el ationalität und E mbodiment In diesem nächsten Schritt soll deshalb noch einmal systematisch der Agency-Begriff an verschiedene historische Zugriffe auf das Soziale und die Praxis zurückgebunden werden, ohne a priori zwischen Handlungs- und Wirkungsmacht von Tieren unterscheiden zu wollen. Ich möchte ihn vielmehr als im Fluss befindlich begreifen, der kontextgebunden zu untersuchen ist. Die Einbindung der Akteure in Strukturen, vielleicht auch in Metagebilde wie Gesellschaften, die die Sozialgeschichte ja untersucht, hilft dabei, sowohl Praktiken 12 | Latour ist in der Zuweisung von Akteurs- und Aktantenstatus nicht konsequent. Im Parlament der Dinge sagt er zur Verwendung des Aktantenbegriffes, dass er damit dem Begriff des Akteurs »jede Form von Anthropomorphismus« nehmen möchte (Latour 2010: 108) bzw. weil es »im Falle von nichtmenschlichen Wesen etwas ungewöhnlich klingt von ›Agenten‹ zu sprechen, sagen wir besser Aktanten« (Latour 2002: 219).

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wie auch Bedeutungen zu rekonstruieren (vgl. Spiegel 2005: 3), die einen solchen Kontext bieten können. Praktiken bedeuten hier einen Ort, an dem sich Bedeutungen für soziale Akteure konstituieren. Im Rekurs auf Giddens, der Praktiken von Akteuren als weder von menschlicher Erfahrung allein noch von der sozialen Gesamtheit und ihren Strukturen bestimmt sieht, werden Bedeutungen erst im Handeln konstruiert und ständig neu entworfen (Giddens 1984: 2). Selbstredend spricht Giddens von menschlichen Akteuren – aber ausgeweitet auf Tiere, werden die Strukturbedingungen im relationalen, vernetzten und körperlichen Verhältnis zum Menschen auch für jene stets neu entwickelt: Mensch und Tier befinden sich in historisch spezifischen und wandelbaren Beziehungen – mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen auf die Sozialpartner_innen. Eine Sozialgeschichte, die also die Dialektik zwischen Struktur und Praxis und zwischen Text und Körper aufgreift, so argumentiert auch Spiegel, könnte der Tiergeschichte helfen, mit schwächeren Akteurszuschreibungen an Tiere zu operieren, in der die Unterscheidung in Handlungsund Wirkungsmacht dahingehend aufgelöst wird, als dass das Soziale in den Vordergrund gerückt wird. Auch Pearson und Weismantel sehen in der Konzentration auf das Soziale Möglichkeiten der Tiergeschichte. Der Blick richte sich auf die »soziale[n] Erfahrungen«, auf die »Art und Weise, wie jemand mit Tieren lebt« (Pearson/Weismantel 2010: 387). In diesen »Alltagspraktiken« könnten »›Subjekt‹ und ›Objekt‹ einer Handlung oftmals nicht eindeutig« (Eitler/Möhring 2008: 92) ausgemacht werden. Dies ist für die Tiergeschichte insoweit von Relevanz, als auf die Volatilität des Subjektbegriffes hingewiesen wird, der selbst immer eine historische Dimension hat. Im Rekurs auf das Konzept der doing culture, in dem Kultur gleichsam als Methode und Produkt begriffen wird und in der »Aktionen im Sinne eingelebter Umgangsweisen« (Hörning/Reuter 2004: 10) analysiert werden, möchte ich hier auch die Beeinflussung von historischen Prozessen als doing history interpretieren.13 Damit wird ein dynamischer Geschichtsbegriff verwendet, in dem die Geschichte als history in the making eben auch von Tieren mitgestaltet wird.14 Wenn man analog zum Begriff der doing culture davon ausgeht, dass das Handeln »eine nicht mit Intention verknüpfte Aktivität« darstellen kann, sondern »eine elementare Praxis vor der symbolischen Kondensierung von ›Handlungen‹« (Hirschauer 2004: 73) inkludiert, können Tiere ohne weiteres einbezogen werden, auch weil Praxis und Handeln jeweils eine »andere Empirizität« 13 | Ich möchte doing history hier nicht als ein körperliches Nacherleben von Geschichte verstanden wissen, wie es in der Form der living history interpretiert wird (vgl. Jureit 2014). 14 | Vgl. das Habilitationsprojekt von Aline Steinbrecher »Do Animals have Culture?«, ht tps://w w w.zukunf t skolleg.uni-konstanz.de/people/per sonen-details/steinbre cher-aline-2176/6338/2415/.

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(ebd.) einfordert. Sie können hiermit als »unvermeintlich eingeschlossen in den Vollzug sozialer Phänomene« (ebd.: 89, Herv. im Org.) Betrachtung finden. Diese Praktiken drücken sich in einzelnen Beziehungen oder in Netzwerken aus, oder sind in die an ihnen Partizipierenden körperlich eingeschrieben.

Relationale Agency Relationale Agency entfaltet sich in der Praxis der Face-to-face-Interaktion zwischen Menschen und Tieren beziehungsweise zwischen dem einzelnen Menschen und dem einzelnen Tier. Durch die relationale Betrachtung kann gezeigt werden, »in welcher Weise welche Tiere in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen ganz wesentlich menschliche Subjekte prägen und prägten« (Steinbrecher 2012: 20). Eine so gedachte Beziehungsgeschichte würde folglich die klaren »Subjekt-Objekt-Zuweisungen« (ebd.) auflösen und Tiere als aktive Partner_innen perspektivieren helfen. Haraway sieht deshalb die Beziehung als »the smallest possible unit of analysis« (Haraway: 2003: 20). Shaw spricht hier von »Units« enger Beziehungsgeflechte (2013b: 163), Steinbrecher von »Interaktionsgefüge[n]« (2014: 29) zwischen Mensch und Tier, die sich in nonverbaler Interaktion befänden, und als solche historisch zu untersuchen wären. Jede Beziehung, also auch die von Tier und Mensch, sollte »interaktiv und reziprok gefasst werden« (Steinbrecher 2014: 32). Ein Beispiel dafür liefert Power. Sie argumentiert, dass die Domestikation kein von Menschen forcierter Prozess gewesen sei, sondern im Gegenteil des Austauschs zwischen den Spezies bedurfte und darüber hinaus dynamisch gewesen ist: »Domestication is not a finished or stable relation, but must be continuously negotiated and held in place« (Power 2012: 371). Ko-Evolution ist somit nicht nur biologisch, sondern auch kulturell zu deuten, das Beziehungsgeflecht sowohl individuell wie gesellschaftlich zu sehen.15 Damit sind Tiere »intimate partner« (Walker 2013: 67) in der historischen Entwicklung der menschlichen Spezies. Tiere werden hier zu aktiv Mitgestaltenden innerhalb einer »co-constitutive relationship« (Haraway 2008: 208). In diesem Sinne ist Agency immer relational zu betrachten: »There is no agency that is not interagency« (Despret 2013: 44). In der Tiergeschichte bietet sich dieser Zugriff vor allem für die Sozialgeschichte der Haustiere an. Dieser mikrohistorische Blick auf das soziale Handeln ist dann mit der Makroebene der sozialen Institution abzugleichen (vgl. Welskopp 15 | Ko-Evolution ist ein Thema, welches in jüngster Zeit viel Aufmerksamkeit bei Historiker_innen geweckt hat und ein Feld, in welches die historische Tierforschung deshalb noch mehr Aufmerksamkeit stecken sollte. Denn, wie Edmund Russell in einer Sonderausgabe des American Journal of History zum Verhältnis von Biologie und Geschichte sagte, »Historians would have nothing to study without coevolution, because human beings probably would not exist« (Russell 2014: 1515).

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2002: 76). Als solche zu untersuchenden Makroebenen bieten sich beispielsweise zoologische Gärten an.

Entangled Agency Entlangled agency setzt auf die Vernetzung der Akteure, sowohl als Akteur-Netzwerke wie auch Akteursumwelten. Dieser Ansatz ist damit sowohl von den Science Studies wie von der Umweltgeschichte beeinflusst. Für letztere schlug Nash vor, den Menschen als Partner »in a conversation with a larger world, both animate and inanimate« (Nash 2005: 68) zu verstehen. Ingold hat dafür das Modell eines »organism-in-its-environment« entworfen (vgl. Ingold, zit.n. Nash 2005: 68), den die tierzentrierte Umweltgeschichte zu »agents-inthe-world« (Martin 2011: 253) transformiert hat. Dies verspricht ähnliche Zugriffe wie die ANT, erweitert sie aber um die distinktive Körperlichkeit, die hier zugrunde liegt und verschiedene Existenzformen umfasst, die durch die »multiplen materiellen Praktiken hergestellt und bestimmt werden« (Bauer 2012: 346). Auch Carter und Charles sprechen sich für eine vernetzte Definition von Agency aus, in der die jeweils zusammenkommenden Kollektive oder Face-to-face-Beziehungen »historically contingent and variable« (Carter/ Charles 2013: 329) sind. Damit beschreiben sie in Rekurs auf Archer die Handlungsspielräume bestimmter Spezies zu bestimmten Zeiten als Agency und die Handlungsoptionen einzelner Individuen als Aktion. Darüber hinaus lasse sich eine primäre Agency von einer kollektiven Agency unterscheiden, wobei Tiere sicherlich mit ersterer ausgestattet seien, nicht aber letztere besäßen, da diese kollektives Handeln für die Zukunft bedeute (ebd. 332): »The effectiveness of animal actions in bringing about change depends on their position in those relations of power and on the human actors involved« (ebd. 336). Insbesondere wenn es um Verflechtungsgeschichte als entangled history (Eitler/ Möhring 2008: 101) geht, wie sie von der Globalgeschichte vertreten wird, müssen immer schon mehr als nur die menschlichen Handlungsträger_innen berücksichtigt werden. So macht sich Foltz dafür stark, das Ökologisch-Soziale (vgl. auch Herron 2010: 39) auszuweiten: »All human actions take place within the context of ecosystems, and are affected by them in ways that differ enormously over time and space. To neglect this reality is as grave an omission as the kind which world historians have been attempting to correct among regionalists.« (Foltz 2003: 10)

Tiergeschichte als entangled history und mit Akteuren, die entangled agency besitzen, würde sich nicht nur, wie oben angedeutet, für umwelt- und globalge-

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schichtliche Zugriffe eignen, sondern auch wirtschaftsgeschichtliche Fragen der Sozialgeschichte der Tiere könnten hier aufgegriffen werden.

Embodied Agency Eingebettet in praxeologische Ansätze der neuen Kulturgeschichte, ist auch die Korporalität oder das Embodiment der Tiere zu befragen. Hier wird die »Materialität sozialer Praktiken« (Hörning/Reuter 2004: 11) in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt. Indem der Körper als außerhalb des sprachlichen Diskurses verstanden wird, in den eigene Strukturen und Routinen eingeschrieben sind (vgl. Spiegel 2005: 17), fungiert er hier als Ausgangspunkt alltagsgeschichtlicher Beschreibungen, in dem die Face-to-face-Interaktion neue beschreibbare Spielräume erhält. Die »embodied agency« (Steinbrecher 2012: 22), in der die Materialität der Aktion in den Fokus gerückt wird, ist auch für die Sozialgeschichte aufgreif bar. Die tierlichen Körper, die den gemeinsam geteilten Raum bevölkern und bestimmte konfliktbehaftete Interaktionen mit Menschen ausführen, legen hiervon Zeugnis ab (vgl. Roscher 2015). Doch auch außerhalb des sozialen Miteinanders spielt die Körpergeschichte eine zentrale Rolle für die Tiergeschichte, insbesondere dann, wenn Menschen Opfer von Tieren werden. Zur Geschichte von Hai- und Löwenangriffen ist schon entsprechend geforscht worden (vgl. bspw. Martin 2011; Krüger 2014), denn »the history of being prey underscores the similarities between humans and other animals of embodied nature and mortality« (Martin 2011: 452). Sie zeigt, dass Menschen eben nicht außerhalb der Natur stehen (vgl. Walker 2013: 48). Hier offenbaren sich konkrete Ansätze einer symmetrischen Anthropologie, die die Aufhebung des Natur/Kultur-Dualismus anvisiert. Gleichzeitig führt dies zu Auflösungserscheinungen von engen Subjekt-Objekt-Konstellationen (Shaw 2013a: 7). Andersherum schreibt sich die Geschichte der menschlichen Nutzung vor allem in die Körper der Tiere ein. Wie Swart zur Geschichte der Pferde während des Burenkrieges schreibt, sei dies »a history often written on their bodies. The scarred knees of a Cape carthorse, saddle sore scars of a Maluti Mountains pack horse, the steroid-based bone problems of a racehorse all bear testimony to how horses endured human needs.« (Swart 2010: 249)

Auch die Zucht von besonderen Tieren – zum Beispiel von Hunden, die bestimmte Geschmäcker und Schichtenzugehörigkeiten repräsentieren sollen – stellt eine körpergeschichtliche Annäherung dar (vgl. Walker 2013: 53). Im Zuge der Berücksichtigung von Soundscapes, einer Sound History, so schlägt Swart weiterhin vor, sollten sowohl die auditiven wie olfaktorischen Elemente, die die Tier-Mensch-Beziehung bestimmen, Untersuchung erfahren (Swart

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2010: 243). Auch hier würden die körperlichen Wirkungen der verschiedenen Akteure Berücksichtigung finden.

Animal Agency Sicherlich ist Krüger Recht zu geben, wenn sie dafür plädiert, bei der Tiergeschichte den »besonderen Status als nicht-menschliche Wesen« (Krüger 2014: 29) zu berücksichtigen. Sie sind also auch historiographisch anders zu behandeln als Menschen. Damit ist der Eindruck, den sie auf Menschen ausüben, historisch anders zu bewerten als zwischenmenschliche Geschichte und sollte deshalb auch nicht als Maßstab für menschliche Agency gelten (Shaw 2013b: 158). Zudem zeigen unterschiedliche tierliche Spezies sicherlich wiederum ganz unterschiedliche Formen von Agency (C. Pearson 2013: 135). Dies scheint mir besonders interessant im Kontext von Tieren, die außerhalb des menschlichen Nahraums16 leben. Wie sind diese zu behandeln? Martin argumentiert, dass Tiere »navigate their own life histories beyond human detection or expectations« (Martin 2011: 454). Jakob von Uexkülls Konzept des Tieres mit eigener Umwelt, einer eigenen subjektiven Zeit und eigenem subjektiven Raum klingt hier an (vgl. Uexküll 1909). Es liegt eben auch etwas Unerwartetes und Unbeobachtetes im Aktionsradius der Tiere, und dies ist vielleicht ein Teil dessen, was ihre Agency ausmacht, auch wenn das für die Historiker_innen wiederum mit ontologischen und epistemologischen Problemen einhergeht, die ja durch die Zuschreibung von Agency gerade gelöst werden sollten. Es geht also eher darum, die Verbindungen zwischen »menschlicher und tierlicher Handlungswelt« (Krüger et al. 2015: 13) zu suchen und die jeweils möglichen Handlungsspielräume zu erfassen.

Historicizing Agency Die Aufgabe der Historiker_innen ist es, die Handlungsspielräume zu beleuchten, die Agency bestimmen, und daraus ableitend Aktionen einzelner Tiere beschreiben zu können. Es wird »von einem spezifischen Setting« (Krüger et al. 2015: 31) ausgegangen, »in welchem bestimmte Tiere mit bestimmten Menschen etwas Konkretes (gemeinsam) tun oder taten« (ebd.). Es gilt darüber hinaus aber auch, Agency als Konzept selbst zu historisieren, zu fragen wie »Handlungsfreiheit historisch definiert wurde« (Pearson/Weismantel 2010: 394). Dies bedeutet, jenseits der definitorischen Unklarheiten, die durch die Polysemie der Übersetzungen und disziplinbezogene Zugriffe hervorgerufen

16 | Zum Konzept des Nahraums in der Tiergeschichte vgl. Wischermann 2015.

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werden, den Agency-Begriff selbst dynamisch zu deuten bzw. die Dynamiken der Interaktion zu analysieren (vgl. Steinbrecher 2009: 273). Tatsächlich ist Zeit ein Aspekt, der bei der Zuschreibung von Agency noch viel zu wenig Beachtung erfahren hat. Anders konzipierte Zeiteinteilungen, die beispielsweise nicht linear operieren, so argumentiert Bastian im Rekurs auf die Anthropologin Greenhouse, würden auch zu einer Verschiebung im Agency-Geflecht und der Handlungsmacht einzelner Akteure führen (vgl. Bastian 2009: 1). »The place of animals as agents will naturally vary across historical time«, so sagt auch Shaw (2013b: 146), und hänge von den jeweils vorherrschenden zeitgenössischen kulturellen Annahmen ab. »There are two good reasons for asking whether animals have agency: first, they just might and second, people might once have thought they did« (ebd. 151), so führt er weiter aus. Die Aufgabe der Historiker_innen und ihre Auseinandersetzung mit tierlicher Wirkungs- und Handlungsmacht hat damit eine doppelte Ebene, in der die zeitliche Verortung und Perspektive reflektiert werden muss. Wie Pearson anregt: »One of the most fruitful lines of inquiry might be to explore how humans have conceptualized and sought to harness nonhuman agency, and the consequences of this for humans and nonhumans.« (C. Pearson 2013: 145)

Mit dem Einsatz einer historischen Ontologie, die erkundet, wie »verteilt handelnde Aktanten performativ hervorgebracht« werden, lassen sich dann auch die »konkreten Relationen [...] nachzeichnen und historisieren« (Bauer 2012: 345f.) sowie genealogisieren.

H andlungsmacht und W irkungsmacht – A ndere P erspek tiven , A ndere B licke : E in F a zit Können uns also die Pioniere der Sozialgeschichte, die ja Agency in Abgrenzung zum Tier definierten, überhaupt nicht weiterhelfen, wenn es um die Inklusion der Tiere in die Geschichte geht, eine Geschichte, die von unten geschrieben werden soll? Doch, das können sie: Mit Thompson und Hobsbawm sollten wir uns daran erinnern, dass die Verhältnisse, die die Akteure beeinflussen, immer auch eine ökonomische Dimension haben, etwas, das bei der Schreibung einer Tiergeschichte als Sozialgeschichte stets mit zu denken ist. Diese ökonomische Dimension beleuchtet sowohl die in sie eingeschriebenen Machtverhältnisse, die Zentralität des Tieres für ökonomische Entwicklung, als auch, klassisch marxistisch, die »Mensch-Tier-Produktionsverhältnisse« (Tapper, zit.n. Pearson/Weismantel 2010: 391), die von der ANT regelmäßig

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unterschlagen werden. Den sozialen Verortungen und Unterdrückungsmechanismen steht diese damit letztlich »neutral« gegenüber. Entsprechend drängt Brantz darauf, die jeweiligen soziokulturellen, ökonomischen und politischen Umstände offen zu legen, in der eine Tier-Mensch-Beziehung verortet ist (vgl. Brantz 2010: 3). Gesellschaftliche Strukturen und Tier-Mensch-Interaktionen, auch das lehrt uns die Sozialgeschichte, sind in »einem sich wechselseitig bedingenden dialektischen Verhältnis zu denken« (Steinbrecher 2014: 48). Einen wichtigen Hinweis liefert uns dazu Hribal, wenn er betont, dass es einen Unterschied macht, Tiere als Akteure zu begreifen und Tiere als Akteure zu konzipieren und gleichsam einen Perspektivenwechsel einzunehmen, der eine Geschichte von unten impliziert, indem die (Klassen-)Verhältnisse der Gesellschaft als Machtverhältnisse interpretiert und als Hintergrundfolie mitgedacht werden (vgl. Hribal 2007: 102). Eine Frage, die bleibt, ist, ob es jemals gelingen kann, das Tier aus diesen Quellen herauszulesen, da, genau wie Spivak es für die Schreibung einer subalternen Geschichte des Kolonialismus festgehalten hat, diese Stimmen dort gar nicht erst vorkommen, weil sie nicht vorkommen sollen (Spivak 1988). Eine Annäherung zwischen postkolonialer Geschichtsschreibung und Tiergeschichte sollte also insbesondere im Hinblick auf die Lesung von Quellen und die Identifizierung von Stimmen unter Berücksichtigung der spezifischen Machtverhältnisse noch weiter vorangetrieben werden. Der doppelte Zugriff auf Materiell-Körperliches und Diskursiv-Semiotisches muss nicht unbedingt auf den Akteursstatus allein abzielen. Tatsächlich dürfte es interessant sein, sich noch eingehender mit der Frage zu beschäftigen, ob es des Akteursstatus’ bedarf, um darüber Formen der gesellschaftlichen Anerkennung zu verhandeln, die dann historisch rückwirken. In anderen Worten: Müssen wir politische Fragen von Anerkennung im Kopf behalten, wenn es um die Verhandlung von Agency geht, die eigentlich losgelöst vom historiographischen Zugang zu beantworten wären, jedoch stets mit ihr verbunden sind und daher erst der Dekonstruktion bedürfen? Dieser Ansatz, der den historiographischen Zugriff auf Akteure (und die Inklusion immer weiterer Akteure) als diskursive Formation versteht, könnte so selbst wieder Teil sozialgeschichtlicher Analyse werden. Es scheint also auch aufgrund der semantischen Unklarheiten mühsam zu sein zu unterscheiden, ob und wann Tiere Handlungsmacht oder bloß Wirkungsmacht haben: vielmehr sollte auch diese Unterscheidung selbst zum Thema der Sozialanalyse werden. Hier könnte geschaut werden, ob relationale agency, embodied agency, animal agency oder entangled agency vorliegt, die in der historischen Rückschau entdeckt wird und stets gesellschaftlich verhandelt wurde und somit zum genuinen Feld der Sozialgeschichte gehört, auch weil Agency selbst historisiert werden muss.

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(In)VulnerAbilities Postanthropozentrische Perspektiven auf Verwundbarkeit, Handlungsmacht und die Ontologie des Körpers Dominik Ohrem Der Aufsatz setzt sich mit dem Begriff der Verwundbarkeit, dessen problematischem Verhältnis zum Agency-Konzept sowie der Relevanz beider Begriffe für gängige Vorstellungen von Körperlichkeit auseinander. Kritisiert wird ein noch immer vorherrschendes reduktionistisch-negatives Verständnis von Verwundbarkeit, das sich auch in der jüngeren posthumanistischen Begriffsverwendung – so etwa bei Cary Wolfe – widerspiegelt. In Bezug auf feministische und andere Arbeiten zu Korporalität plädiert der Aufsatz für eine postanthropozentrische Ontologie des Körpers, die sich der Dichotomie von (passiver) Verwundbarkeit und (aktiver) Handlungsmacht entzieht, die konstitutive ›Welt-Offenheit‹ menschlicher und tierlicher Körper betont und damit Impulse für die Analyse von Mensch-Tier-Beziehungen liefern kann.

»It is because bodies are opened onto others, rather than being distinct, that we can act, be affected, have an identity, and remain open to change without conscious direction. The generosity of intercorporeal existence is not governed by choice but is where agency, perception, affectivity and, combining all of these, identity, are born. Hence, we cry at the movies, even though we sit apart from the action. And we turn into our partners, and even our dogs, just by dwelling with them.« Rosalyn Diprose, Corporeal Generosity

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E inleitung Dieser Beitrag soll sich mit der Frage auseinandersetzen, wie menschliche und nichtmenschliche Tiere und deren Beziehungen im Spannungsfeld zwischen einem weiterhin enorm wirkmächtigen Ideal individueller Handlungsmacht und dem Faktum der unausbleiblichen Verwundbarkeit allen organischen Lebens gedacht werden können. Während Handlungsmacht seit Längerem ein zentrales Konzept der Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt und nun verstärkt aus posthumanistischen, neomaterialistischen und anderen Perspektiven rekonzeptualisiert wird, findet die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Verwundbarkeit in jüngerer Zeit ihre Inspiration nicht zuletzt in der verstärkten Wahrnehmung globaler sozial-ökologischer Krisenphänomene wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung und schwindender Biodiversität. Derartige Entwicklungen haben wohl auch dazu beitragen, die prekäre Realität der menschlichen Tiernatur sowohl auf der Makroebene des Menschen als Spezies als auch auf der Mikroebene individueller körperlicher Existenz stärker in den Vordergrund zu rücken. Im Gegensatz zu der mittlerweile angeschlagenen christlich-humanistischen Betonung menschlicher Transzendenz, die gegenwärtig in Form transhumanistischer szientistisch-technologischer Heilsversprechen sowohl wissenschaftlich als auch (populär)kulturell wieder auflebt, konzentrieren sich posthumanistisch, ökokritisch oder ökofeministisch orientierte Perspektiven nicht nur in einem ontologischen, sondern insbesondere auch in einem ethischen und politischen Sinne stärker auf die Korporalität und Immanenz des Menschen als verkörpertes Lebewesen und dessen Einbettung in die dynamische Materialität planetaren Lebens. Vor diesem Hintergrund kann der Verwundbarkeitsbegriff mit seiner beträchtlichen konzeptuellen Bandbreite – von einem subjektiv-körperlichen Erfahrungshorizont bis hin zu den globalen und genuin transspezifischen Problemstellungen des Anthropozäns – als ein wichtiges Element postanthropozentrischer Kritik auch innerhalb der Human-Animal Studies gelten, insofern er nicht zuletzt die fragile Interrelationalität und Interdependenz menschlichen und tierlichen Lebens auf einem geteilten Planeten unterstreicht. Aber was bedeutet es, verwundbar zu sein? Und wie verhalten sich der Verwundbarkeitsbegriff und das den Fokus des vorliegenden Bandes bildende Agency-Konzept zueinander? Die Diskussion von Verwundbarkeit im Kontext der Auseinandersetzung mit (tierlicher) Agency eignet sich besonders dazu, eine Problematik herauszustellen, die auch den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes bilden soll: die weit verbreitete dichotome Vorstellung von Handlungsmacht kontra Verwundbarkeit, die sich darin zeigt, dass diese Begriffe meist getrennt voneinander diskutiert bzw. implizit oder explizit gegeneinander gestellt werden. Während der Agency-Begriff darüber hinaus mittlerweile

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vielerorts in einer Weise neu gedacht wird, die weit über dessen konzeptuelle Abspaltung von menschlicher ratio, Intentionalität oder Subjektivität hinausgeht und den Begriff etwa in Form von Netzwerken, Relationen oder agencements1 denkt, hat der Verwundbarkeitsbegriff bisher keine vergleichbare theoretisch-philosophische Aufmerksamkeit erfahren.2 Die Vorstellung von Handlungsmacht als exklusive Eigenschaft vermeintlich ungebundener, rationaler, menschlicher (und implizit männlicher) Individuen wirkt im Kontext gegenwärtiger transdisziplinärer Forschung zunehmend wissenschaftlich absurd und politisch-ethisch suspekt und wird wohl nur noch vergleichsweise wenige Verfechter_innen finden. Dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Agency-Begriff steht aber eine allzu oft wenig hinterfragte tradierte Konzeption von Verwundbarkeit als reine Passivität und Negativität entgegen, die diskurshistorisch als abjekter korporaler Gegenpol von Fiktionen transzendentaler Subjektivität verstanden werden kann. In gewisser Weise verhält sich der Gegensatz von Handlungsmacht und Verwundbarkeit somit analog zu den grundlegenden Dichotomien Subjekt/Objekt, ›Geist‹/Körper und Mensch/ Tier in der westlichen Denktradition. Der vorliegende Beitrag plädiert deshalb, erstens, für eine stärkere Berücksichtigung der Realitäten körperlicher Verwundbarkeit in den gegenwärtigen Theoriedebatten um Agency innerhalb der Human-Animal Studies, fordert aber, zweitens, auch eine bewusste und strategische Rekonzeptualisierung von Verwundbarkeit, die eine Auflösung der Dichotomie beider Begriffe erlaubt. Wie hier ferner argumentiert werden soll, sind Handlungsmacht und Verwundbarkeit sowie die Relation dieser beiden Begriffe untrennbar an unser Verständnis von Korporalität gekoppelt, weshalb letztere den konzeptuellen Dreh- und Angelpunkt der nachfolgenden Diskussion bilden wird. Entsprechend sollen in diesem Beitrag weniger menschliche oder nichtmenschliche Subjekte, sondern vielmehr Körper im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Damit soll aber weder eine Dichotomie zwischen Subjekt und Körper produ1 | Der Begriff des »agencement« wird von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Tausend Plateaus entwickelt und kann mit »Gefüge« übersetzt werden (vgl. Deleuze/Guattari 1992). 2 | Die Literatur zum Agency-Konzept ist umfangreich, insbesondere wenn man die Vielzahl an Arbeiten einbezieht, die sich eher indirekt oder stellenweise mit dem Begriff auseinandersetzen. Für Arbeiten, die sich in Bezug auf nichtmenschliche Tiere bzw. Mensch-Tier-Beziehungen direkt und explizit mit dem Konzept auseinandersetzen vgl. etwa Hribal 2007; McFarland/Hediger 2009; Despret 2013; Shaw 2013; für eine Perspektive der analytischen Philosophie vgl. Steward 2012. Eine Ausnahme bezüglich der weitgehenden Vernachlässigung von Verwundbarkeit bilden, wie im Folgenden noch deutlich wird, besonders verschiedene Arbeiten aus der feministischen Theorie und Philosophie.

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ziert noch ein wie auch immer gearteter Subjektstatus nichtmenschlicher Tiere verneint, sondern lediglich unterstrichen werden, dass Subjektivität bei Tier und Mensch als unweigerlich verkörpert verstanden werden muss und daher nicht losgelöst von den Potentialen und Limitationen des Körpers gedacht werden kann.3 Wie Handlungsmacht und Verwundbarkeit auf Ebene insbesondere interspezifischer Korporalität verhandelt werden können und welche Konzeptionen von Körperlichkeit eine Annäherung an eine solche erlauben, soll hier nachfolgend im Fokus stehen.

V erwundbare K örper und/oder /als handlungsmächtige K örper ? Z ur P roblematik eines K onzep ts Aber welchen Nutzen bringt eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Verwundbarkeit für die Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen überhaupt mit sich? Welche gerade auch ethischen und politischen Impulse und Implikationen könnten damit verbunden sein? Um ein wenig des Teufels Anwalt zu spielen: Ist ein Fokus auf die Verwundbarkeit nichtmenschlicher Tiere überhaupt sinnvoll mit deren Rekonzeptualisierung als ernstzunehmende soziale und historische Akteure zu vereinbaren? Oder schreibt die Auseinandersetzung mit dem verwundbaren Tier dieses nicht vielmehr erneut als passiv-rezeptives Objekt einer bestenfalls paternalistischen ethischen Behandlung ein, ohne dass dieses dabei selbst als handlungsmächtig verstanden würde? Verhält sich eine solche Perspektive also nicht sogar ungewollt regressiv in Bezug auf die wissenschaftlichen und politisch-ethischen Zielsetzungen der Human-Animal Studies, insofern es diesen darum geht, die Präsenz nichtmenschlicher Tiere in menschlichen Gesellschaften und Geschichten nicht auf Viktimisierungsnarrative zu reduzieren, sondern ihre aktive, ko-konstitutive Rolle herauszuarbeiten? Rosi Braidotti etwa kritisiert die Beschwörung einer gemeinsamen mensch-tierlichen Verwundbarkeit in Zeiten des Anthropozäns als »reactive bond« (Braidotti 2013: 50) und als politisch fragwürdige Perspektive, »a belated kind of solidarity between the human dwellers of this planet, currently traumatized by globalization, technology and the ›new‹ wars, and their animal others« (ebd.: 79). Aus dieser Warte ließe sich somit argumentieren, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Problem der Verwundbarkeit lediglich den Auswuchs einer mittlerweile auch transspezifisch gedachten Globalgemeinschaft am Rande des (imaginierten) Abgrunds darstellt und dabei zugleich reale Machtasymmetrien und differente Verwundbarkeitspotentiale 3 | In Anlehnung an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys ließe sich deshalb auch von ›Körper-Subjekten‹ sprechen. Vgl. hierzu etwa die Diskussion von Merleau-Ponty in Crossley 1996.

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nicht nur zwischen Menschen und Tieren, sondern etwa auch zwischen globalem Süden und Norden, Postkolonie und Metropole zugunsten eines vermeintlich bedrohten Universalsubjekts nivelliert werden. Und selbst wenn man eine solche Perspektive geteilter Verwundbarkeit in Zeiten einer verstärkten Wahrnehmung ökologischer Krisen und eines zunehmenden Verlusts von Biodiversität primär als normative Grundlage einer neuen Tierethik versteht, so sind die daraus resultierenden Effekte keinesfalls offensichtlich und berechenbar. Denn aus dem ontologischen Faktum der Verwundbarkeit und der menschlichen Selbsterkenntnis als verkörpertes und verwundbares Subjekt, ergibt sich, wie etwa Ann Murphy betont, nicht notwendigerweise die erhoffte ethische und politische Reaktion. »There is absolutely no guarantee that the realization of one’s own vulnerability will motivate an attempt to respect the vulnerability of others. Indeed, there is ample evidence to the contrary. A sense of one’s own dispossession, availability to others, and vulnerability may incite violence just as readily as it does empathy, care, or tolerance. […] [F]rom the perspective of ethics, there is no normative or prescriptive force to be mined from these experiences.« (Murphy 2009: 56)

Diese Einwände sind einerseits berechtigt, andererseits teils selbst symptomatisch für eine wesentlich grundlegendere Problematik bezüglich der vorherrschenden Auslegung von Verwundbarkeit: Wo diese ›beginnt‹, so die (oftmals implizite) Annahme, versiegt Handlungsmacht und umgekehrt bedingt ein wie auch immer gearteter Akteursstatus eine mindestens teil- oder zeitweise Kontrolle oder ›Eroberung‹ der eigenen psychischen und physischen Verwundbarkeit. Derartig negative Konzeptionen des Verwundbarkeitsbegriffs finden sich auch in (körper-)philosophischen oder (körper-)soziologischen Texten zu diesem Thema. So etwa in Bryan Turners Vulnerability and Human Rights, wo Verwundbarkeit als »the condition of sentient, embodied creatures who are open to the dangers of their environment and are conscious of their precarious circumstances« sowie als »traumatic wounding« (Turner 2006: 28) verstanden wird und dabei die Grundlage seiner Überlegungen zu einer sozialen Ontologie des Körpers bildet. Aber ist die von Turner zurecht konstatierte Offenheit körperlicher Existenz gegenüber der Welt und anderen Körpern tatsächlich deckungsgleich mit dem Potential physischen oder psychischen Traumas? Im Gegensatz zu einer solchen Vorstellung soll hier für eine Perspektive auf Verwundbarkeit argumentiert werden, welche die biologische und soziale Fragilität und (Inter-)Dependenz von Körperlichkeit nicht als Antithese oder Endpunkt von Handlungsmacht, sondern in ihrer komplexen Verwobenheit mit dieser versteht. Entsprechend kann Verwundbarkeit nicht auf einen durch die Abwesenheit von Handlungsmacht erzeugten, selbst- oder fremdbewirkten Ausnahmezustand reduziert werden, dessen Extremfall wie bei Giorgio

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Agamben (2002) in der ohnmächtigen Körperlichkeit des nackten Lebens gegenüber der souveränen Macht besteht. Jede Form des In-der-Welt-seins bedeutet, verwundbar zu sein und sich unweigerlich anderen Formen von Handlungsmacht zu öffnen, in Bezug zu welchen eigenes Handeln überhaupt erst denk- und erkennbar wird. Verwundbarkeit ist damit aber in keinesfalls allein begrenzender, sondern zugleich in ermöglichender und grundsätzlich ambivalenter Weise mit dem Akteursstatus verknüpft und entzieht sich dabei der Dichotomie vermeintlich ›passiven‹ Erfahrens oder Erleidens und ›aktiven‹ Handelns. »Vulnerability is not just a condition that limits us but one that can enable us«, wie Erinn Gilson betont: »As potential, vulnerability is a condition of openness, openness to being affected and affecting in turn« (Gilson 2011: 310, Herv. im Org.; vgl. auch Drichel 2013). Die Realitäten körperlicher Verwundbarkeit und deren ethische Relevanz geraten auch in den stärker moralphilosophisch akzentuierten Arbeiten Judith Butlers zu prekären und (un)betrauerbaren Leben (Butler 2004, 2009) in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. In Frames of War setzt sich Butler verstärkt mit jenen diskursiven, normativen ›Rahmungen‹ auseinander, durch die eine Wahrnehmung und Anerkennung bestimmter von Gewalt bedrohter oder betroffener Gruppen als solche verhindert und diese damit sowohl politisch unsichtbar als auch – folglich – unbetrauerbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang betont Butler die Notwendigkeit einer neuen Ontologie des Körpers, denn erst eine solche ermögliche eine Rekonzeptualisierung zentraler Begriffe wie Interdependenz, Verwundbarkeit und Sozialität (vgl. Butler 2009: 2). Aber obwohl sich ihr Fokus primär auf durch epistemische oder physische Gewalt bedrohte oder verletzte Körper richtet, tappt auch Butler nicht in die Falle, den Verwundbarkeitsbegriff auf diese Aspekte zu reduzieren. Trauma und Verletzung, so Butler, sind »one thing that can and does happen to a vulnerable body (and there are no invulnerable bodies), but that is not to say that the body’s vulnerability is reducible to its injurability« (ebd.: 34). Vielmehr betont Butler die grundlegende Ambivalenz menschlicher Verwundbarkeit, die mit der körperlichen Eingebundenheit in eine sich uns aufdrängende Welt einhergeht, die permanent und in vielgestaltiger Weise unsere Rezeptivität und Responsivität ein- und herausfordert. »That responsiveness may include a wide range of affects: pleasure, rage, suffering, hope, to name a few« (ebd.). Butler adressiert damit besonders die immer schon soziale Dimension körperlicher Existenz, wobei das ontologische Faktum der Verwundbarkeit und die Risiken menschlicher Sozialität nicht als Hemmnis, sondern gerade als Grundlage letzterer zu verstehen sind. Umgekehrt spiegelt sich in den gängigen negativen Konnotationen des Verwundbarkeitsbegriffs – als Verlust von Kontrolle, Autonomie und Handlungsmacht, als Passivität, als hilflose Abhängigkeit von sozialen Anderen, der Umwelt oder einer widerspenstigen eigenen Körperlichkeit – nicht nur das

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Phantasma des cartesianischen Subjekts und dessen neoliberaler Neuauflage, sondern auch eine implizite und implizit maskulinistische Verachtung gegenüber der unweigerlichen Relationalität des In-der-Welt-seins. Angesichts der anhaltenden Wirkmacht derartiger ideologischer Erblasten ist es wenig erstaunlich, dass Verwundbarkeit häufig auf das Andere oder an die Ränder mensch-männlicher, autonomer Handlungsmacht projiziert und durch Imaginationen einer quasi-entkörperten oder zumindest in diskreter und konsequenzloser Form verkörperten Subjektivität ersetzt wird. In eine ganz ähnliche Richtung zielen Jean-Luc Nancys Bemerkungen zum Begriff der Koexistenz und dessen Stellenwert in autonomiezentrierten (neo-)liberalen Diskursen: »It is remarkable that this term still serves to designate a regime or state more or less imposed by extrinsic circumstances. It is a notion whose tone often oscillates between indifference and resignation, or even between cohabitation and contamination. Always subject to weak and unpleasant connotations, coexistence designates a constraint, or at best an acceptable concomitance, but not what is at stake in being or essence, unless in the form of an insurmountable aporia with which one can only negotiate.« (Nancy 2000: 43) 4

Während Verwundbarkeit als existenzielles Charakteristikum der conditio humana einerseits verstärkt den ethisch-politisch-ontologischen Schwerpunkt neohumanistischer Perspektiven bildet5 , scheint die dominante und dominant negative Auslegung des Verwundbarkeitskonzepts andererseits gerade symptomatisch für die anhaltende Wirkmacht einer tief verwurzelten humanistischen Philosophietradition und daran geknüpfter Konzepte von Subjektivität, Individualität und Autonomie, mittels derer Vorstellungen genuinen, vollwertigen Menschseins gegen die Negativfolie einer abjekten Animalität definiert werden. Und dennoch: gerade weil diese negative Konzeptualisierung körperlicher Verwundbarkeit und die Idee rationaler Handlungsmacht als deren vermeintlichem Widerpart so sehr an diese Diskurse geknüpft scheint, kann der Verwundbarkeitsbegriff umgekehrt als bedeutender Ausgangspunkt posthumanistisch-postanthropozentrischer Kritik verstanden werden. Es ist deshalb bereits aus strategischen Gründen sinnvoll, den Begriff nicht seiner hegemonialen Auslegung zu überlassen, sondern ihn jenseits weit verbreiteter Reduktio4 | Da nicht alle der nachfolgend verwendeten Texte französischer Autoren in deutscher Übersetzung vorliegen, werden hier der Einheitlichkeit halber die englischen Übersetzungen verwendet. 5 | So betont etwa Paul Gilroy die Notwendigkeit eines »planetary humanism capable of comprehending the universality of our elemental vulnerability to the wrongs we visit upon each other« (Gilroy 2005: 4). Auch Butlers jüngere Arbeiten ließen sich durchaus als neohumanistisch bezeichnen (vgl. Murphy 2011).

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nismen neu zu denken – eine Aufgabe, die sich mit Ralph Acampora treffend als »the truly posthumanist task of reappreciating bodily animacy as such [and] recognizing our own vital status as animate zoomorphs« (Acampora 2006: xiv) charakterisieren lässt.

V erwundbarkeit

und

K re atürlichkeit

Welche Implikationen hat die Auseinandersetzung mit der verwundbaren Tiernatur des Menschen für die Ontologie und Ethik der Mensch-Tier-Beziehungen? Eine Möglichkeit, sich dieser Problematik anzunähern, besteht in einer Perspektive auf den Aspekt der gemeinsamen ›Kreatürlichkeit‹ von Mensch und Tier – entweder in einem theologischen Sinne in Bezug auf den Status beider als ›Geschöpfe Gottes‹ oder im säkularen Sinne des von Mensch und Tier geteilten Status als verkörperte Lebewesen und dessen (tier-) ethische Implikationen. Solche Perspektiven prägen unter anderem den einflussreichen Posthumanismus Cary Wolfes und die kreatürliche Poetik Anat Picks mit ihrem Fokus auf einer mensch-tierlichen »condition of creaturely exposure« (Pick 2011: 29; vgl. zum Kreatürlichkeitsaspekt auch Santner 2006; Ohrem/Bartosch 2016). So versteht Wolfe die von Acampora geforderte philosophische Berücksichtigung menschlicher Animalität als entscheidend für eine Rekonzeptualisierung moderner Mensch-Tier-Verhältnisse und plädiert im Kern für eine Ontologie und Ethik der Kreatürlichkeit mit einem Fokus auf »embodiment and embeddedness« (Wolfe 2010: xv) in Abgrenzung zu (trans-) humanistischen Fantasien entkörperter Autonomie. Ebenso wendet sich Wolfe deutlich gegen Agency als Hauptaugenmerk posthumanistischer Ethik. So unterstreicht er im Zusammenhang mit seiner Diskussion möglicher Anknüpfungspunkte zwischen den Disability und den Animal Studies die Notwendigkeit einer interspezifischen Ethik »based not on ability, activity, agency, and empowerment but on a compassion that is rooted in our vulnerability and passivity« (ebd.: 141, Herv. im Org.). Während die Beschäftigung mit tierlicher Handlungsmacht gelegentlich dazu tendiert, ›das Tier‹ bzw. bestimmte Spezies in ihren Befähigungen näher an den Menschen zu rücken, entscheidet sich Wolfe für eine andere Strategie: den Menschen versteht er einerseits in seiner körperlichen Tiernatur, betont zugleich aber auch dessen spezifischen Status als »fundamentally prosthetic creature, coevolved with various forms of technicity and materiality, forms that are radically ›not-human‹ and yet have nevertheless made the human what it is« (ebd.: xxv). Wolfes kritische Auseinandersetzung mit der Agency-Frage findet primär vor dem Hintergrund einer liberal-humanistischen Tradition und daran gekoppelter Rechtskonzepte statt, in der Vorstellungen von Handlungsmacht im Modus einer wechselseitigen Hervorbringung mit dem Ideal souveräner menschlicher Subjektivität verbun-

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den werden. Diese grundlegende Kritik durchzieht auch Wolfes Diskussion verschiedener Tierrechtsargumentationen etwa in Form des einflussreichen Utilitarismus Peter Singers, die zwar zumindest potentiell eine gewisse politische Pragmatik mit sich bringen, sich aber (wohl auch gerade deshalb) nicht aus der dominanten humanistischen Tradition zu befreien vermögen. Auf die Philosophin Cora Diamond bezugnehmend argumentiert Wolfe, dass »the ›capacity to respond to injustice as injustice‹ depends […] on ›a recognition of our own vulnerability‹—a recognition not demanded and in some sense actively avoided by rights-oriented thinking« (Wolfe 2008: 11, Herv. im Org.). In den Arbeiten Wolfes wird Verwundbarkeit somit im Sinne der Impotentialität und Verletzbarkeit allen kreatürlichen Lebens verstanden. Es ist vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis bzw. der Anerkennung einer solchen gemeinsamen Kreatürlichkeit jenseits der traditionellen ontologischen Bifurkation zwischen menschlichem und tierlichem Leben – »the […] exposure to vulnerability and mortality that we suffer because we, like animals, are embodied beings« (Wolfe 2008: 8) –, dass die massenhafte Unterwerfung und Tötung nichtmenschlicher Tiere in der Maschinerie des ›tierindustriellen Komplexes‹ (vgl. Noske 1989) in ihrer ganzen Monstrosität erscheint. Und es ist im Kontext einer solchen Kritik an den Extremen tierlicher Ausbeutung, bei denen, in Elisa Aaltolas Formulierung, der eigene Körper zu einer nie versiegenden Quelle von Leid und Elend, zu einem Feind wird (vgl. Aaltola 2012: 45), dass sich Wolfes normative Ethik am überzeugendsten mit seiner kreatürlichen Ontologie verbindet. Schwieriger gestaltet sich hingegen der Versuch, seine Überlegungen darüber hinaus für eine inter- und transspezifische Ethik fruchtbar zu machen, die über die Perspektive eines gemeinsamen existenziellen Ausgesetztseins hinausgeht. Wolfe bekräftigt Diamonds (normative) Charakterisierung nichtmenschlicher Tiere als »fellow creature[s] […] in mortality, in life on this earth«, mit denen wir in einem mehr als rein biologischen Sinne unseren Status als Lebewesen teilen und deren Gesellschaft wir suchen können (Diamond 1991: 328f.). Doch sowohl Wolfe als auch Diamond selbst tendieren dazu, die Implikationen dieser gemeinsamen Kreatürlichkeit in einer Weise aufzugreifen, bei der letztere lediglich als Synonym für Verletzbarkeit und Endlichkeit steht. Das ist nicht nur deshalb problematisch, weil Körperlichkeit dadurch auf ein rein negatives, limitierendes Kriterium, auf eine traumatische Potentialität reduziert wird, die Mensch und Tier in einen mehr oder weniger passiven Körper sperrt. Damit zusammenhängend versäumt es Wolfes wichtige philosophische Rekonfiguration von Verwundbarkeit als ethisches Substrat anstelle eines abjekten (Ausnahme-)Zustands auch, das dichotome Verständnis von Verwundbarkeit und Handlungsmacht als solches effektiv zu hinterfragen. Mit seiner mehr oder weniger pauschalen Ausblendung von Handlungsmacht droht Wolfes Kritik letztlich zu einer bloßen Inversion der Marginalisierung von Verwundbarkeit in humanistischen Autonomie- und neoliberalen Produk-

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tions- und Selbstoptimierungsdiskursen zu werden und diese Dichotomie unter umgekehrten Vorzeichen neu einzuschreiben. Verwundbarkeit wird dabei als identifikatorisches Merkmal allen kreatürlichen Lebens zwar zu einem bedeutenden Faktor interspezifischer Ethik, die grundlegend negative Konzeption des Begriffes – selbst ein Produkt jener humanistischen Diskurse, auf die sich Wolfes Kritik maßgeblich bezieht – bleibt dabei aber intakt. Die Alternative zu einem zurecht kritisierten tierethischen Fokus auf tierlicher Handlungsmacht ist nicht ein ebenso exklusiver Fokus auf einer (fälschlicherweise) als passives Ausgesetztsein verstandenen Verwundbarkeit, sondern eine Idee von interspezifischer Relationalität, die nicht nur die reduktionistische Konzeption und dichotome Gegenüberstellung beider Phänomene überwindet, sondern letztlich auch den bestenfalls heuristischen Charakter ihrer Differenzierung unterstreicht. Die Forderung nach einer Berücksichtigung von Korporalität und der unweigerlichen Eingebundenheit körperlicher Existenz in die eigenund handlungsmächtige Materialität der Welt ist begrüßenswert, doch diese muss auf komplexeren (körper-)ontologischen Überlegungen basieren, als es das Kriterium einer geteilten Passivität und Verletzbarkeit und die damit implizit einhergehenden reduktionistischen Vorstellungen von Verwundbarkeit und Korporalität zulassen. Darüber hinaus steht Wolfes Betonung einer solchen gemeinsamen Passivität von Mensch und Tier aber auch der unveränderte Exzeptionalismus der ethischen Handlungsmacht des menschlichen Subjekts entgegen, das, wenig anders als zuvor, in quasi-transzendentaler Weise die Kriterien der ethischen Beziehung definiert: Im Kern offeriert Wolfes Posthumanismus eine kurios (neo-)humanistisch anmutende Ethik, in der die Selbsterkenntnis der menschlichen ratio als verkörpert und verwundbar mit der Formulierung einer normativen Ethik des Mitgefühls – »freely extended without hope of reciprocation by the other« (Wolfe 2010: 141) – verbunden wird. Dabei ließe sich argumentieren, dass zu den entscheidenden Problemen einer genuin posthumanistischen Ethik, nicht allein die wichtige Frage gehört, wer oder was als Bestandteil einer ethischen Beziehung berücksichtigt werden kann (vgl. ebd.: 49), sondern auch, wer in welchem Maße und in welcher Form gestaltend an und in solchen Beziehungen (mit-)wirken kann und dabei nicht nur als ein mit einem moralischen Status ausgestatteter stiller Rezipient menschlichen Wohlwollens oder Mitgefühls figuriert. Zweifelsohne sprengt die Komplexität dieser Debatten bei weitem den Rahmen dieses Aufsatzes. Nachfolgend sollen (tier-)ethische Debatten daher zwar nicht im Fokus stehen, eine wichtige Annahme besteht hier aber in der Verzahnung ontologischer und ethischer Fragestellungen – auch wenn, wie eingangs bereits in Bezug auf das Verwundbarkeitskonzept festgestellt, ethische Implikationen bestimmten Ontologien, erstens, selten in offensichtlicher Weise ›inhärent‹ sind und sich, zweitens, keineswegs immer in gelebte soziale und politische Praxis übersetzen lassen. Dennoch: Ebenso wie die mittlerweile viel

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gescholtene Metaphysik von Humanismus und Aufklärung maßgeblich an der Marginalisierung und ethischen Vernachlässigung von Körperlichkeit und Animalität zugunsten einer handlungsmächtigen ratio beteiligt war/ist, kann eine dezidiert postanthropozentrische Ontologie wichtige Impulse für eine inter- bzw. transspezifische Ethik liefern. Wie bereits angedeutet, soll eine solche Ontologie hier primär als Ontologie des Körpers verstanden werden.6 Denn wenn, in Kelly Olivers Worten, »all creatures on earth are blessed and cursed with the ability to respond« (Oliver 2010: 270), dann muss der Körper zugleich als Grundlage, Begrenzung und Medium dieser Interrelationalität und wechselseitigen Responsivität verstanden werden. Die Derrida’sche ›Frage nach dem Tier‹ ist deshalb immer schon, immer auch die ›Frage nach dem Körper‹, den Fähigkeiten, Grenzen und insbesondere den Möglichkeiten speziesübergreifender Interrelationalität und -konnektivität von Körpern, ohne dass dabei deren spezies-spezifische Differenz ignoriert werden darf. Tatsächlich erlaubt es vielleicht gerade eine korporale Perspektive, auch Interaktions- und Sozialitätsformen in und über morphologische, perzeptionelle, sensorische und/oder erfahrungsweltliche Differenz hinaus zu adressieren, ohne sich dabei notwendigerweise in den müßigen Debatten um Subjektivität bzw. Intersubjektivität, Empathie und das ewige Problem der ›other minds‹ zu verfangen. Hier soll somit zumindest in Ansätzen und aus einer etwas anderen Perspektive auf die bereits erwähnte Butler’sche Forderung nach einer ›neuen‹ Ontologie des Körpers eingegangen werden, denn ohne eine solche sind weder Verwundbarkeit und Handlungsmacht noch die Beziehung dieser Begriffe adäquat zu erfassen. Durchaus im Sinne Wolfes soll es hier deshalb um die Affirmation der Tatsache gehen, dass wir in Form unserer Körperlichkeit nicht nur wesentliche Aspekte unserer Existenz mit nichtmenschlichen Tieren teilen, sondern Korporalität auch als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Beziehung zwischen verschiedenen Lebewesen gelten muss und die Formen und Modi solcher Beziehungen bestimmt. Insofern ist es die vielförmige Interkorporalität von Mensch-Tier-Beziehungen, die gerade auch unter dem Gesichtspunkt einer gemeinsamen Kreatürlichkeit jenseits der Dichotomie des passiv-verletzbaren und aktiv-handlungsmächtigen (Menschen-)Tieres ontologischer und ethischer Berücksichtigung bedarf. Nur dann kann diese gemeinsame Kreatürlichkeit auch in Bezug auf ihre Implikationen für ein interspezifisches Miteinander und nicht bloß in Form der existenziellen Negativität und des monadenartigen, beziehungslosen Nebeneinanders eines ›Der-Welt-AusgesetztSeins‹ gedacht werden.

6 | Ich würde mit Jean-Luc Nancy argumentieren, dass Ontologie als solche immer schon als Körperontologie verstanden werden muss: »the ontology of the body is ontology itself […] The body is the being of existence« (Nancy 2008: 15, Herv. im Org.).

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Ü berlegungen zu einer O ntologie des K örpers

postanthropozentrischen

Mensch und Tier, verbunden durch das geteilte Faktum ihrer Körperlichkeit und ihre Einbettung in eine komplexe Dynamik sozialer, ökologischer und anderer Realitäten, so ließe sich mit Jacques Derrida formulieren, »live and die together, the one with the other, the one like the other, they coexist, they sympathize, they are con-vivial, they co-habit the world that is the same […], whether one calls it the earth (including sky and sea) or else the world as world of life-death. The common world is the world in which one-lives-one-dies, whether one be a beast or a human sovereign.« (Derrida 2011: 264)

Derridas letztes Seminar über das schwierige Verhältnis von ›Tier‹ und ›Souverän‹ kreist in seiner Auseinandersetzung mit Martin Heidegger immer wieder um diese Frage einer unbestreitbaren Gemeinsamkeit oder irreduziblen, unüberbrückbaren Differenz der Welt(en) von Mensch und Tier. So schwierig, vielleicht sogar unmöglich, diese Frage letztlich auch zu beantworten sein mag, »one can still assert at least«, so Derrida, »that so-called human living beings and so-called animal living beings, men and beasts, have in common the fact of being living beings« (ebd.: 10). Eine solche gemeinsame lebewesentliche Realität bedingt und bedarf eine(r) geteilte(n) Welt, selbst wenn diese nicht von allen Kreaturen auf dieselbe Weise ›belebt‹, bewohnt oder überhaupt als solche wahrgenommen wird. Sie bringt die Notwendigkeit einer Perspektive auf diese beiden Figuren – Mensch und Tier, Tier und Souverän – mit sich, die danach fragt, »in what way – in a certain sense, in their being-with, whatever it be – they relate […] to each other, in some way or other in a world that is, at least hypothetically, undeniably common to both« (Derrida 2011: 262, Herv. im Org.). Wie aber können wir – und können wir überhaupt – uns der Frage eines solchen speziesübergreifenden »Mitseins« annähern? In der Ontologie Heideggers ist Mitsein untrennbar mit dem menschlichem Dasein verknüpft, weshalb Sein grundsätzlich immer als ein Sein inmitten Anderer zu charakterisieren ist. Aufgrund dieses »mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt« (Heidegger 1967 [1927]: 158f., Herv. im Org.). Mitsein ergibt sich dabei nicht aus der Tatsache unserer notwendigen Koexistenz und sozialen Interaktivität mit anderen Menschen, sondern bildet vielmehr das a priori einer solchen Sozialität: Menschliche Sozialität ist möglich, weil das In-der-Welt-sein menschlichen Daseins immer schon Mitsein ist. Doch was die Frage des Mitseins mit nicht-menschlichen Lebewesen anbelangt, scheinen Heideggers ontologische

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Ausführungen an ihre Grenzen zu geraten. Dies hängt, wie er betont, auch mit der »Grundschwierigkeit« der Frage »nach dem Wesen der Tierheit« (Heidegger 1983: 303, Herv. im Org.) zusammen. Nicht nur charakterisiert Heidegger ›das Tier‹ berüchtigterweise als »weltarm« in einem ontologischen Dazwischen mit dem »weltlosen« Stein auf der einen und dem »weltbildenden« Menschen auf der anderen Seite (ebd.: 262ff.), tierliche Seinsmodi und Welt-Sichten sind auch so radikal anders, dass sie sich menschlichem Zugang per se verweigern und wir daher zwar ständig von Tieren umgeben sein oder, in welcher Form auch immer, mit ihnen zusammenleben mögen, für Heidegger aber doch nicht wirklich mit ihnen sein können.7 Dies ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass menschliches Dasein bereits in seiner praktischen Existenz durch ein Seinsverstehen definiert ist, das nichtmenschlichen Tieren verwehrt bleibt sowie durch Heideggers Betonung eines die menschliche Sozialwelt prägenden »Mitverstehens«, das durch »Mitteilung« ausdrücklich mit anderen geteilt wird und ein wesentliches Kriterium menschlichen Mitseins darstellt (Heidegger 1967: 161f.). Während die Ontologie Heideggers zwar mit dem atomistischen, weltenthobenen cartesianischen Subjekt und dem damit verbundenen Dualismus von ›Geist‹ und Körper bricht, erschwert sein daseinsanalytischer Fokus auf Verstehen Zugänge zu Formen interspezifischer Beziehungen, die weder durch ein diesen vorgängiges Mitverstehen charakterisiert noch adäquat im Sinne eines sozialen, intersubjektiv geteilten Verstehenshorizonts erfassbar sind – eine Problematik, die sich mit Heideggers Betonung der engen Verbindung von Sein und Sprache noch weiter verschärft. 8 Dieser Anthropozentrismus Heideggers hängt nicht zuletzt auch mit der Rolle des Körpers in seinen Arbeiten zusammen. Denn während es in der Forschung umstritten ist, inwieweit man Heidegger tatsächlich eine Vernachlässigung von Korporalität als solcher vorwerfen kann oder vielmehr von einer impliziten, »versteckten« Körpertheorie sprechen sollte (vgl. Turner 2012), so bleiben bei ihm zumindest die postanthropozentrischen Potentiale des Körpers un(ter)beleuchtet. Eine Annäherung an und Rezeptivität gegenüber den Interaktionsformen und oftmals überraschenden Artikulationen von Agency zwischen verschiedenen Spezies, die etwa aufgrund geteilter Lebensräume oder sich überschneidender bzw. konfligierender Lebenspraktiken in einem sozialen Interaktionsverhältnis stehen, erfordert hingegen eine ebensolche Auseinandersetzung mit der speziesübergreifenden Interrelationalität von Körpern im Rahmen einer postanthropozentrischen Körperontologie. In eine solche Richtung zielen etwa Jean-Luc Nancys Überlegungen zu einer »ontology of being-with-one-another« (Nancy 2000: 53). Nancy denkt das Heidegger’sche 7 | Vgl. hierzu ausführlicher Heideggers Diskussion des Hundes bzw. Haustieres als »auffälliges Beispiel« tierlicher Weltarmut (Heidegger 1983: 307–310). 8 | Vgl. hierzu auch Heideggers Humanismusbrief (Heidegger 1976).

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Mitsein nicht nur in einem dezidiert korporalen Sinne, sondern fordert auch den Einbezug nichtmenschlicher Körper in eine solche korporale Ontologie des Mitseins – »of every body, whether they be inanimate, animate, sentient, speaking, thinking, having weight, and so on« (ebd.: 84). Neben dieser Berücksichtigung der Kapazitäten und (zoo-)ontologischen Relevanz nichtmenschlicher Körper unterstreicht Nancy aber einen weiteren bedeutenden Aspekt, der im Folgenden auch hier besonders im Fokus stehen soll: Alle Varietäten des Seins artikulieren sich nicht nur mittels des Faktums ihrer Körperlichkeit, diese Körperlichkeit ist zudem immer schon ›außer sich‹, inter- bzw. transkorporal und damit potentiell auch inter- bzw. transspezifisch. Körper weisen sowohl im biologischen als auch im sozialen Sinne immer schon über sich selbst hinaus und existieren weniger in, an und für sich, als in Form eines konstitutiven inter und trans. In Nancys Worten: »Above all else, ›body‹ really means what is outside, insofar as it is outside, next to, against, nearby, with a(n) (other) body, from body to body, in the disposition. […] [A] body is the sharing of and the departure from self, the departure toward self, the nearby-to-self without which the ›self‹ would not even be ›on its own‹.« (Ebd.)

Während auch Heidegger den existenzialen Charakter des Mitseins betont, ohne welches Dasein nicht denkbar ist, radikalisiert Nancy Heideggers Einsicht, indem er Existenz immer schon als Koexistenz, Ursprünglichkeit immer schon als ›Mit-Ursprünglichkeit‹ versteht (vgl. Nancy 2000: 26f.). Nancys Körperontologie ist deshalb nicht nur wegen ihres expliziten Einbezugs nichtmenschlicher Körper beachtenswert, sie verhindert auch, dass sich zentrale konzeptuelle Charakteristika des souveränen Subjekts im Gewand eines autonomen, ungebundenen Körpers durch die Hintertür erneut einschleichen. Nancys Körper sind post-individualistisch (ohne dabei in ein problematisches Verständnis organischer Gemeinschaft überzugehen), zumindest insofern man unter ›Individuum‹ ein in sich geschlossenes, isoliertes Selbst mit einer quasi-hermetischen Körperlichkeit außerhalb des konstitutiven Eingebundenseins in die interrelationale Dynamik der Welt versteht – eine ›Onto-Fantasie‹, die sich mit Butler als »ontology of discrete identity« (Butler 2009: 31) bezeichnen lässt. Ganz ähnliche Perspektiven auf die inter- und transkorporale Verfasstheit des Körpers finden sich auch in Arbeiten aus dem Bereich feministischer Theorie und Philosophie.9 Diesen Ansätzen inhärent ist nicht nur eine Kritik an Vorstellungen monadisch-monolithischer Subjektivität, sondern damit zusammenhängend auch eine Problematisierung reduktionistischer Handlungsmacht- und Verwundbarkeitskonzepte (oder verwandter Konzepte wie 9 | Für eine der früheren Arbeiten hierzu vgl. etwa Weiss 1999.

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Autonomie und Abhängigkeit). So charakterisiert etwa Butler in ihren Ausführungen zur interkorporalen Dimension von Sozialität den Körper als »porous boundary, given over to others« (Butler 2004: 25). Trotz der wichtigen strategisch-politischen Bedeutung feministischer Forderungen nach körperlicher Autonomie und Selbstbestimmung, betont sie deshalb die mit unserer unweigerlich sozialen Körperlichkeit verbundene Tatsache, dass wir immer schon »beyond ourselves, implicated in lives that are not our own« (ebd.: 22) sind. Den Körper durch seine vermeintlichen Grenzen zu definieren, geht deshalb an den komplexen biologischen und sozialen Realitäten körperlicher Existenz vorbei und verfehlt die Tatsache, »that the body is, in certain ways and even inevitably, unbound – in its acting, its receptivity, in its speech, desire, and mobility. It is outside itself, in the world of others, in a space and time it does not control, and it not only exists in the vector of these relations, but as this very vector.« (Butler 2009: 52f.)

Ähnlich Butler setzt sich auch Rosalyn Diprose mit der begrenzend-ermöglichenden Permeabilität von Körperlichkeit auseinander, indem sie die interkorporale »Generosität« körperlicher Existenz in den Blick nimmt (Diprose 2002). Entgegen vorherrschender liberal-individualistischer Vorstellungen kann diese Generosität nach Diprose nicht ausgehend von einem im Besitz seines Körpers befindlichen Individuums gedacht, sondern muss vielmehr als konstitutiv für die Existenz des Menschen als soziales Wesen verstanden werden. Körper treten nicht erst als Resultat der bewussten Entscheidung und Handlungsmacht des menschlichen Subjekts (und möglicherweise mit bestimmten ökonomischen Reziprozitätserwartungen) in soziale Beziehungen ein, sondern sind von vorneherein in Form einer immer schon interkorporalen Körperlichkeit in einem sozialen Feld verortet und dadurch anderen Körpern und deren Handlungen und Affekten gegenüber empfänglich. »[I]t is because my body is given to others and vice versa«, so Diprose, »that I exist as a social being. Hence, corporeal identity is never singular, always ambiguous, neither simply subject nor object« (ebd.: 54). Bei Diprose werden Handlungsmacht und Verwundbarkeit, Autonomie und Abhängigkeit, Freiheit und Fremdbestimmung somit nicht als Gegensätze, sondern als in einem dynamischen Beziehungsgefüge ineinander verflochten konzipiert, wobei die Offenheit und Rezeptivität von Körpern zu den grundlegenden Ermöglichungsbedingungen jeglichen Handelns gehört. Im Kontrast zu Butler unterstreicht Diprose dabei weniger die unbestreitbaren Risiken und Gefahren interkorporaler Existenz, als die damit einhergehenden Potentiale gemeinsamen Seins und Werdens, die zwar nie außerhalb hegemonialer Macht/Wissens-Strukturen verortet, aber ebenso wenig einfach mit diesen deckungsgleich sind (vgl. ebd.: 14f., 45).

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Während Butlers und Diproses Überlegungen zu interkorporaler Sozialität eher flüchtig über traditionelle Konstruktionen der Mensch-Tier-Grenze hinausgreifen10, öffnet Stacy Alaimos Konzept der Transkorporalität den Körper deutlicher für Verbindungen jenseits menschlicher Sozialität. Alaimos Interesse gilt den vielgestaltigen Überschneidungen und Austauschprozessen zwischen Körpern und ›Umwelten‹ – eine Unterscheidung, die, denkt man ihr Konzept konsequent zu Ende, nur noch bedingt funktioniert. Den Körper versteht sie als »coextensive with the material world« (Alaimo 2010a: 116), weshalb Transkorporalität durch ein permanentes Ineinanderfließen von Körper und Welt charakterisiert ist, eine Reziprozität und Interpenetration, die meist unter der Schwelle subjektiver Wahrnehmung und Handlungsmacht stattfindet. Hier findet sich eine un- bzw. erst retrospektiv in Form bereits manifester Effekte und vollendeter Tatsachen sichtbare Körper-Welt, in der die oftmals »unpredictable and unwanted actions of human bodies, nonhuman creatures, ecological systems, chemical agents, and other actors« (ebd.: 2) mit-, nebenoder gegeneinander wirken. Alaimos transkorporale Ontologie versteht sich zugleich als Annäherung an eine postanthropozentrische, immanente Ethik körper-weltlicher Verwobenheit und Interrelationalität, die den »allied, mutual vulnerabilities of human/animal/environment« (Alaimo 2010b: 18) gerecht zu werden versucht und Verwundbarkeit dabei im Sinne einer gemeinsamen transkorporalen Verfassung konzeptualisiert. An dieser Stelle wäre zu fragen: Inwieweit unterscheidet sich Alaimos Transkorporalitätskonzept, gerade angesichts ihrer Betonung der Risiken und Gefahren, denen sich poröse, permeable Körper beinahe permanent ausgesetzt sehen, von der Vorstellung eines existenziellen kreatürlichen Ausgesetztseins im weiter oben diskutierten Sinne? Handelt es sich hier bloß um einen semantischen Unterschied? Zweifelsohne zielt Alaimos anthropozentrismuskritischer Fokus auf einer ›erdgebundenen‹ Körperlichkeit in Abgrenzung zu Fiktionen souveräner Subjektivität in eine ähnliche Richtung. Davon abgesehen zeigen sich allerdings Unterschiede in Bezug auf die körperontologischen Implikationen und Konnotationen beider Perspektiven. Denn im Gegensatz zur Negativität passiven Ausgesetztseins evoziert Alaimos Transkorporalität die Vorstellung einer konstitutiven Fragilität mensch-tierlicher bzw. mensch-tier-weltlicher Koexistenz – die durchaus prekäre, aber immer auch generative Weltoffenheit gelebter Körperlichkeit auf der 10 | Insbesondere in Butlers jüngeren Texten finden sich aber immer wieder Passagen, die sich mit dem Problem des Anthropozentrismus und Konstruktionen der Mensch-Tier-Grenze auseinandersetzen (vgl. Butler 2004: 12, 2009: 16f., 19f., 75f., 2012). Auch Diprose setzt sich dezidiert mit posthumanistischer Ontologie und Ethik auseinander, ist aber äußerst schweigsam was die spezifische Relevanz nichtmenschlicher Tiere anbelangt (vgl. Diprose 2009, 2013).

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einen und die Rezeptivität sozialer, kultureller, politischer oder ›natürlicher‹ (Um-)Welten für die transformatorischen Fähigkeiten und Praktiken menschlicher und nichtmenschlicher Körper auf der anderen Seite.

W eltoffene K örper In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass das Konzept der ›Weltoffenheit‹ in der wissenschaftlichen Begriffstradition gerade nicht auf das weltliche Eingebettetsein menschlicher und tierlicher Organismen, sondern vielmehr auf jene vermeintlichen Kriterien verweist, die es dem Menschen erlauben, sich über den eigenen Status als ›bloßes Lebewesen‹ zu erheben.11 In der philosophischen Anthropologie Max Schelers wird Weltoffenheit als zentrales Merkmal menschlichen Exzeptionalismus in Abgrenzung zur Pflanzen- und Tierwelt angeführt, insofern der Mensch als »Geistwesen« mittels seiner rationalen, kulturschaffenden Handlungsmacht im Gegensatz zu dem in seiner jeweils spezifischen Umwelt gefangenen, trieb- und instinktdeterminierten Tier »›umweltfrei‹« ist (Scheler 1995 [1928]: 47, 38). Menschliche Weltoffenheit bezeugt nach Scheler die »Autonomie und Souveränität des Geistes« und dessen Überlegenheit über alles »Nur-Lebendige«, ja sogar den grundsätzlichen »Gegensatz von Geist und Leben« (ebd.: 72, 80, Herv. im Org.). In Unterscheidung zum »Geistwesen« Schelers ist der Mensch bei Arnold Gehlen hingegen zunächst ein biologisch unspezialisiertes »Mängelwesen«, dessen Weltoffenheit als physisches Ausgesetztsein zu verstehen ist, das durch menschliche Kultur und soziale Institutionen überwunden werden muss (vgl. Gehlen 1962 [1940]). Hierin zeigt sich aber zugleich die Sonderstellung des Menschen als welt- und wirklichkeitsformendes Wesen, das sich nicht mit einer ihm vorgegebenen Realität abfinden kann und muss, sondern sich seine eigene schaffen muss und kann. Das zentrale Charakteristikum des Menschen ist für Gehlen daher dessen Status als aktiv »handelndes Wesen« (ebd.: 23, Herv. im Org.) in Abgrenzung zu nichtmenschlichen Tieren, die sich lediglich triebund instinktgesteuert und in ausschließlich reaktiver Weise Bezug auf die Reize ihrer jeweils spezifischen Umwelt verhalten. Der Preis für die existenzielle Handlungssicherheit des Tieres ist damit gewissermaßen der Verzicht auf die lebensgestalterische Handlungsmacht des Menschen: Nichtmenschliche Tiere leben in ›geschlossenen‹ Welten; ihre Existenzweise bleibt wesentlich durch 11 | Eine umfassende Diskussion des Begriffs ist hier nicht möglich. Er findet erstmals in den nahezu zeitgleich erschienenen Arbeiten Max Schelers (Der Mensch und seine Stellung im Kosmos, 1927), Helmuth Plessners (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) und Heideggers (Sein und Zeit, 1927) mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen Verwendung.

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prädeterminierte biologische Zweckmäßigkeiten definiert. Positiv gewendet verweisen die mit der Umweltfreiheit des Menschen verbundenen Handlungszwänge – das Fehlen einer fest vorgegebenen »man-world in the sense that one may speak of a dog-world or a horse-world« (Berger/Luckmann 1991 [1966]: 65) – somit also gerade auf die weltbildende Potentialität des Menschseins. Die Umweltgefangenheit des Tieres hingegen ist bereits durch eine dieser vorgängige Körpergefangenheit bedingt, die auf einem restriktiven Verständnis von Körperlichkeit basiert: das Tier ist (›nur‹) sein Körper, während der Mensch seinen Körper darüber hinaus (zur Verfügung) hat, ihn also bewusst und ref lexiv zum Instrument seiner geistigen Schaffenskraft machen und sich damit in einer Weise über seine organische Existenz erheben kann, die nichtmenschlichen Tieren nicht zugestanden wird. Trotz der Kritik an Vernunftphilosophie und Cartesianismus und der durchaus intensiven Auseinandersetzung mit dem Körper bleibt das Konzept der Weltoffenheit im Diskurs der philosophischen Anthropologie somit weitestgehend dem Nexus von Korporalität-Animalität-Passivität – hier im Sinne einer trieb- und instinktdominierten Körper- und Umweltgebundenheit, die wenig Spielraum für die Kreativität und Varietäten tierlichen Handelns lässt – verhaftet und beleuchtet dabei zugleich die Funktionsmechanismen der »anthropologischen Maschine« (Agamben 2003), die im historischen Prozess die Mensch-Tier-Differenz anhand sich wandelnder Kriterien durch entsprechende Grenzziehungen immer wieder neu produziert. Während Weltoffenheit in der philosophischen Anthropologie also der Untermauerung einer Sonderstellung des Menschen dient, lässt sich der Begriff in Verbindung mit der obigen Diskussion der inter- bzw. transkorporalen Verfasstheit des Körpers aber auch im Sinne der Kontinuität menschlichen und tierlichen Lebens als eine Art zooanthropologisches Existenzial denken, das zugleich Perspektiven auf Formen interspezifischer Sozialität erlaubt. Anstelle einer vertikalen und mindestens implizit hierarchischen Vorstellung menschlicher Weltoffenheit, die es dem Menschen erlaubt, »sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen« (Scheler 1995 [1928]: 47, Herv. im Org.), soll hier von einer horizontalen kreatürlichen Konzeption von Weltoffenheit ausgegangen werden, die von der biologischen und sozialen Interrelationalität und Verwobenheit menschlicher und tierlicher Körper auf einem geteilten Planeten ausgeht. Die Überlegungen zu einer korporal-sozialen Ontologie bei Butler und Diprose verdeutlichen die Sozialität menschlicher Körper und die Korporalität sozialer Beziehungen. Menschliches Leben basiert aber, wie Butler selbst betont, nicht nur auf »reproducible and sustaining social relations« im engeren Sinne menschlicher Sozialität, sondern auch auf »relations to the environment and to non-human forms of life, broadly considered«, und zwar in einer Weise, die letztlich keine absolute Trennung zwischen dem Sozialen

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und dem Ökologischen erlaubt (Butler 2009: 19f.). Darüber hinaus sind neben dem Menschen aber auch nahezu alle nichtmenschlichen Tiere – zumindest bis zu einem gewissen Grad und in bestimmten Lebensphasen – nicht nur biologische, sondern auch soziale Lebewesen. Und folgen wir Tim Ingold, gilt diese grundlegende Biosozialität bereits für das Leben als solches: »That life unfolds as a tapestry of mutually conditioning relations may be summed up in a single word, social. All life, in this sense, is social. Yet all life, too, is biological, in the sense that it entails processes of organic growth and decomposition, metabolism and respiration, brought about through fluxes and exchanges of materials across the membranous surfaces of its emergent forms.« (Ingold 2013: 9, Herv. im Org.)

Nicht nur gehen menschliche und nichtmenschliche Körper immer schon in ihrer Existenz und ihrem Werden als Körper mit einer konstitutiven Offenheit gegenüber der Welt einher, diese biosoziale Weltoffenheit eröffnet, wie Acampora zudem betont, immer auch interspezifische Möglichkeitsräume im Sinne von »shared space[s] of convivial worldhood across speciated horizons« (Acampora 2006: 120). Eine solche speziesübergreifende ›Mitwelt‹ muss dabei nicht, wie etwa bei Heidegger, auf einem diese begründenden Mit- bzw. Seinsverstehen, sondern auf einer gemeinsamen und ähnlichen – wenn auch keineswegs identischen – Erfahrung und Erfahrbarkeit körperlicher Existenz basieren, die Acampora mit dem Neologismus »Symphysis« in Abgrenzung zum Begriff der Sympathie als mentaler Kapazität des Ein- und Mitfühlens adressiert (vgl. ebd.: 24, 76ff.). Als »primary experiential principle of conviviality« (ebd.: 78) verweist Symphysis auf Formen interspezifischer Interkorporalität und korporaler Kommunikation in einer Zwischenwelt jenseits von offenkundiger Identität und irreduzibler Differenz. Ein naheliegendes derartiges Arrangement besteht im Zusammenleben mit Haustieren, das alltagspraktisch wesentlich durch den Bezug auf eine geteilte speziesübergreifende Bedeutungswelt funktioniert, die selbst wiederum als erfahrungsbasiertes Ergebnis einer nicht notwendigerweise auf einer gemeinsamen Welt-Sicht bzw. – weniger anthropozentrisch – auf einer identischen Sensomotorik basierenden interkorporalen Beziehung gelten kann. Die Vorstellung einer horizontalen körperlichen Weltoffenheit weist eine große konzeptuelle Schnittmenge mit der eingangs vorgeschlagenen Konzeptualisierung von Verwundbarkeit als ambivalenter (und nicht nur traumatischer) Potentialität des In-der-Welt-seins auf. In einem dynamischen, prozessual-relationalen Sinne soll Weltoffenheit hier nicht als Zustand passiver Rezeptivität für negative oder positive Impulse ›von außen‹, sondern vielmehr im Modus einer aktiv ermöglichenden Responsivität – im Sinne von Einladung, Aufforderung, Provokation, Animation, Affordanz – verstanden werden. Wäh-

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rend unter anderem Kelly Oliver für eine auf einer solchen Relationalität und Responsivität basierenden postanthropozentrischen Ethik plädiert (vgl. Oliver 2010; jüngst auch Willett 2014), stellt sich darüber hinaus die Frage, welche (körper-)ontologischen Perspektiven sich dazu eignen, diese ethischen Überlegungen weiter zu unterfüttern. Was bedeutet es, dass, wie Oliver argumentiert, alle Lebewesen die Fähigkeit haben, in einem mehr als nur rein reaktiven Sinne zu antworten? Und welche Rolle spielt Korporalität dabei? Mittels dieser Fragestellung möchte ich abschließend einen Bogen zurück zum Ausgangspunkt dieses Aufsatzes, dem problematischen Verhältnis von Verwundbarkeit und Handlungsmacht in der gängigen Rezeption beider Begriffe schlagen. Und dies in Form von zwei Fragen: Die erste bezieht sich auf das wie des Handelns. Wenn man, wie ich in diesem Aufsatz, von einer mit der Weltoffenheit allen kreatürlichen Lebens einhergehenden aktiven Responsivität ausgeht und daher die Realisierung agentieller Potentiale immer schon in Form von Relationen und Verknüpfungen gedacht wird, können wir nicht noch einen Schritt weiter gehen und Responsivität als den grundlegenden, vielleicht sogar den einzigen Modus menschlichen und tierlichen Handelns als solches verstehen? Wie Nancy in seiner jüngeren Arbeit zu Sexualität in engem Zusammenhang mit seiner Körperontologie argumentiert, sind alle Lebewesen durch eine grundlegende An- und Erregbarkeit charakterisiert: »The living are above all excited, called upon to respond to an outside. As a result, the living being is always already responding to this call, always already excited, affected by an outside. Indeed, it is being affected by an outside that brings anything to life, whether we are talking about a plant or a human animal.« (Nancy 2013: 94)

Und da, wie Nancy in Form einer Herztransplantation und anschließenden Krebserkrankung am eigenen Körper erfahren musste12 , ›außen‹ und ›innen‹ eher als heuristische Kategorien im manchmal schmerzvollen Umgang mit der Transkorporalität des Körpers zu verstehen sind, ist letztendlich der an das Leben selbst und das lebende Selbst gebundene (Auf-)Ruf (»call«) das entscheidende, ohne dass dieser eindeutig in einem Innen, Außen oder anderswo zu lokalisieren wäre. In Anlehnung an Nancy ließe sich somit argumentieren, dass, ebenso wie Existenz immer Ko-Existenz und Ursprünglichkeit immer Mit-Ursprünglichkeit ist, Handeln nie initiativ, sondern vielmehr responsiv, nicht als (individuelle) Initiative, sondern als eine immer schon aus der mit-ursprünglichen Interrelationalität des Lebens hervorgehende ›Responsive‹ gedacht werden sollte, die sich im Modus einer Korrespondenz verschiedener Lebewesen artikuliert. Und zwar bereits an jenem Ort, den wir als von der 12 | Nancy setzt sich hiermit in seinem Aufsatz L’Intrus auseinander (vgl. Nancy 2002).

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restlichen Welt und anderen Lebewesen klar differenzierbaren ›eigenen‹ Körper imaginieren, bei dem es sich aber tatsächlich, wie Nancy betont, um einen offenen Körper-Raum bzw. einen »body-place« handelt: »the body makes room for existence« (Nancy 2008: 15, Herv. im Org.). Diese korporale Weltoffenheit und Responsivität lebewesentlicher (Ko-)Existenz entzieht sich nicht nur der Dichotomie von Handlungsmacht und Verwundbarkeit, sie macht Verwundbarkeit, in dem zuvor diskutierten erweiterten Begriffsverständnis, auch zur Grundlage jeder Form menschlichen und tierlichen Handelns und definiert damit zugleich die Möglichkeiten interspezifischer Beziehungen. Eine zweite Frage ist von dieser Frage nach dem wie des Handelns nicht zu trennen: wer oder was handelt eigentlich, wenn wir von körperlicher Agency sprechen? Der inter- und transkorporalen Weltoffenheit des Körpers ist nämlich ein weiteres Merkmal bereits inhärent: die kollektive Verfasstheit ›individueller‹ Körperlichkeit im Allgemeinen und die nicht- bzw. mehr-als-menschliche Verfasstheit ›menschlicher‹ Körper im Speziellen, wie sie unter anderem im Rahmen neo-materialistischer Feminismen und der feministischen Science Studies immer wieder hervorgehoben wird. Ebenso wie ›Spezieskörper‹ nach Donna Haraway als »internally oxymoronic, full of their own others« und als »multispecies crowd[s]« (Haraway 2008: 165) zu verstehen sind, bilden auch insbesondere komplexere menschliche und nichtmenschliche Körper als stets vorläufige Manifestationen ko-evolutionärer Prozesse agencements einer Vielzahl von Organismen, die in ihrem Zusammenspiel nicht nur einen Nebeneffekt, sondern vielmehr die Grundlage körperlicher Existenz bilden (vgl. etwa Margulis/Sagan 2002: 19; Haraway 2008: 3f., 88). Im Zusammenhang mit einer Abkehr von rationalistischen und einer Hinwendung zu korporalen Konzeptionen von Handlungsmacht berührt diese Tatsache der mehr-als-menschlichen Verfasstheit des menschlichen Körpers nicht nur unmittelbar das Problem der ontologischen Legitimität einer strikten qualitativen Differenzierung zwischen tierlicher und menschlicher Handlungsmacht (oder gar einer Begrenzung auf letztere), sondern provoziert auch die Frage danach, mit welchen Konsequenzen menschliches Handeln immer (auch) tierliches Handeln ist. Die mit dessen Körperlichkeit einhergehende intrinsische, konstitutive Multiplizität des Akteurs Mensch verdeutlicht, dass es nicht nur andere Akteure – oder Aktanten – neben dem Menschen gibt, sondern der Mensch selbst – als multispezifisches agencement – immer nur in Form einer Vielzahl von Akteuren handlungsfähig ist. »I am not an agent but a hive of activity«, wie Tim Ingold betont. »If you were to lift the lid off, you would find something more like a compost heap than the kind of architectural structure that anatomists and psychologists like to imagine« (Ingold 2011: 17). In einem ganz ähnlichen, spezifisch deleuzianischen Sinne argumentiert Vinciane Despret, dass agentielle Potentiale überhaupt nur in Form von agencements realisierbar sind.

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Despret verweist damit, wie auch schon Deleuze und Guattari selbst, auf den prozessualen Charakter des Seins und Mitseins als Werden und Mitwerden13: Lebewesen haben demnach keine Agency, Lebewesen sind in ihrer körperlichen Existenzweise durch permanenten Wandel charakterisierte agentielle Gefüge, die wiederum mit wechselnden anderen agentiellen Gefügen verknüpft oder verschränkt sind. Als multispezifische agencements sind menschliche und nicht-menschliche Körper nach ›innen‹ und nach ›außen‹ durch Interrelationen und Interdependenzen charakterisiert, durch eine ko-existenzielle »Pluri-hetero-nomie« (ebd.: 44), bei der Handlungsmacht nicht im Gegensatz zu der Verwundbarkeit weltoffener Körper steht, sondern aus dieser hervorgeht.

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Nichtmenschliche Tiere als moralisch Handelnde? Eine kritische Reflexion der Argumente von Marc Bekoff/Jessica Pierce und Mark Rowlands Leonie Bossert

Die Auseinandersetzung mit Fragen nach tierlicher Handlungsmacht führt stets auch zur Frage nach der Befähigung nichtmenschlicher Tiere zu moralischem Handeln. Handelt z. B. ein Hund, der ein Kaninchenbaby mit ›nach Hause‹ bringt, welches sonst verhungern würde, moralisch? Diese Frage wird im vorliegenden Beitrag diskutiert. Dabei wird auf die, für die Debatte um tierliche Moralbefähigung zentralen, Positionen von Marc Bekoff und Jessica Pierce (Wild Justice) sowie Mark Rowlands (Can Animals be Moral?) fokussiert. Ihre Argumente, mit denen sie die Moralbefähigung nichtmenschlicher Tiere begründen, werden ausführlich dargestellt und im Anschluss daran kritisch ref lektiert. Das Ende des Beitrages stellt die Bezugnahme zur gesellschaftlichen Relevanz des Themas dar.

»Marc [Bekoff]’s late dog Jethro once brought home a tiny bunny, whose mother had likely been killed by a mountain lion near Marc’s home. Jethro dropped the bunny at the front door and when Marc came to the door he looked up as if to say, ›please help.‹ Marc brought the bunny into his house, and put it into a cardboard box with water, carrots, and lettuce. For the next two weeks, Jethro was pinned to the side of the box, refusing to go out for walks and often missing meals.« Bekoff/Pierce 2009: 108

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E inleitung Eine Auseinandersetzung mit tierlicher Agency ist schwer zu führen, ohne sich grundlegend mit Konzepten von Verantwortung, Motivation und Intentionalität zu befassen – Konzepte, die in der Philosophie kontrovers diskutiert werden, und die fast zwangsläufig in einer Auseinandersetzung mit der Befähigung zu moralischem Handeln münden. So führt die Beschäftigung mit tierlicher Agency oftmals zur Frage, die Inhalt des folgenden Beitrages sein wird: sind nichtmenschliche Tiere moralische Akteur_innen?1 Handelte Jethro moralisch, als er Marc Bekoff das Kaninchenbaby brachte? Die Fähigkeit zu moralischem Handeln wurde und wird in der westlichen Tradition, stark geprägt von Immanuel Kant 2 , meist an den Besitz bestimmter kognitiver Fähigkeiten geknüpft. Da jedoch die wenigsten zeitgenössischen Denker_innen die generelle moralische Berücksichtigungswürdigkeit des Menschen an kognitive Fähigkeiten knüpfen (was bestimmte Personengruppen schlicht aus dem Bereich der Moral exkludieren würde)3 , wird im philosophischen Diskurs zwischen ›moral agents‹ und ›moral patients‹ unterschieden. Als moral patients gelten alle Individuen, die als Teil der moralischen Gemeinschaft gesehen werden und damit um ihrer selbst willen direkt moralisch berücksichtigungswürdig sind. Insofern sie ihr Verhalten moralisch begründen, rechtfertigen und steuern können, sind sie außerdem moralische Akteur_innen (moral agents). Da nicht alle Individuen der moralischen Gemeinschaft dies können, sind die beiden Gruppen nicht deckungsgleich. Alle moral agents sind auch immer moral patients, nicht alle moral patients jedoch auch moral agents. Als moralische Akteur_innen werden klassischerweise erwachsene Menschen im Besitz bestimmter, v. a. kognitiver Fähigkeiten angesehen, als moral patients hingegen Kleinkinder, Menschen mit Demenz, Menschen mit geringer kognitiver Befähigung und – insofern sie überhaupt der Sphäre der Moral zugerechnet werden – nichtmenschliche Tiere.

1 | Agency wird hierbei nicht gleichgesetzt mit moralischer Agency. Moralische Agency ist eine Form von Agency, jedoch nicht die einzige. Für eine Übersicht zu den verschiedenen Agency-Konzepten siehe den Beitrag von Mieke Roscher in diesem Band. 2 | Für einen kurzen historischer Abriss zum Beginn der Debatte um tierliche Moralbefähigung vgl. Clement 2013: 2-4. Eine ausführlichere Darstellung der Positionen, die nichtmenschliche Tiere als moral agents auffassen, bietet Rowlands 2012: 75-84. 3 | Die (Nicht-)Verfügung über Rationalität wird jedoch nach wie vor häufig als Argument herangezogen, um nichtmenschliche Tiere aus dem Bereich der moralischen Berücksichtigung zu exkludieren. Zur Kritik daran vgl. u. a. Adams 2011, Francione 2014, MacKinnon 2004, Regan 2004.

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Um dafür zu argumentieren, dass nichtmenschliche Tiere als zu moralischem Handeln befähigt gesehen werden (sollten), lassen sich (mindestens) zwei Herangehensweisen unterscheiden: 1. Den agent-patient-Dualismus grundsätzlich als zu hinterfragendes Konstrukt zu kritisieren und für seine Aufhebung zu argumentieren. 2. Eine Argumentation zu entwickeln, um auch nichtmenschlichen Tieren den Status der moralischen Akteur_innen zuzusprechen. Die in diesem Beitrag vorgestellten Ansätze sind eher der zweiten Herangehensweise zuzuordnen. 4 Der zuvor aufgeführte klassische agent-patient-Dualismus spielt in einer bestimmten Debatte eine zentrale Rolle: bei der Frage danach, ob Vertreter_ innen einer Tierrechts- oder Tierbefreiungsposition, die die Tötung nichtmenschlicher Tiere durch Menschen für moralisch falsch5 halten, nicht auch das Töten eines ›Beutetiers‹ durch eine_n Prädator_in als moralisch verwerflich ansehen sollten. Dieser Einwand wurde häufig angebracht, um tierethische Positionen ad absurdum zu führen (vgl. z. B. Cohen 2007: 95; vgl. auch Sapontzis 1984, der gegen dieses Ad-Absurdum-Führen argumentiert). Um den Einwand zu entkräften und die kontraintuitive Konsequenz zu vermeiden, in die Prädation wildlebender nichtmenschlicher Tiere eingreifen zu sollen, wurde und wird von Tierethiker_innen argumentiert, Prädator_innen (wie z. B. Großkatzen, Wölfe oder Bären) seien keine moral agents, sondern moral patients und könnten folglich nicht moralisch falsch handeln (vgl. z. B. Regan 2004: xxxvii). Das Töten einer Gazelle durch eine Löwin könne zwar eventuell als bedauerlich angesehen werden, sei jedoch nicht moralisch falsch. Auf die Relevanz dieses Arguments wird im Folgenden noch eingegangen. 4 | Diese Auswahl erfolgt aus bestimmten, unten genannten, Gründen. Sie soll aber nicht besagen, letztere sei zwangsläufig die geeignetere Herangehensweise. Den agent-patient-Dualismus, sowie analog den Subjekt-Objekt-Dualismus, kritisch zu hinterfragen und alternative Denkansätze dazu aufzuzeigen, spielt eine wichtige Rolle, um die implizite hierarchische Wertung (dahingehend, agents hätten einen höheren moralischen Wert als patients) zu kritisieren. Die Nichtbehandlung der ersten Herangehensweise ist darauf zurückzuführen, dass eine Behandlung beider Ansätze den Rahmen des Beitrages überschreiten würde, und der erste Ansatz bereits intensiv im Beitrag von Sven Wirth in diesem Band diskutiert wird. 5 | Auch wenn die meisten Vertreter_innen tierbefreierischer Begründungsstrategien in der Regel betonen, dass sie rein materialistisch argumentierten und sich damit gemäß ihrem eigenen Verständnis deutlich von moralphilosophischen Argumenten abgrenzen, existieren durchaus Tierbefreiungsansätze, die moralphilosophisch argumentieren (vgl. z. B. Schmitz 2014).

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Um der Frage nach der Befähigung nichtmenschlicher Tiere zu moralischem Handeln nachzugehen, werden in diesem Beitrag zwei für diese Debatte bedeutsame Werke untersucht. Marc Bekoff und Jessica Pierce legen in Wild Justice. The Moral Lives of Animals (2009) eine detaillierte Begründung ihrer These dar, bestimmte nichtmenschliche Tiere seien als moral animals anzuerkennen. Die Relevanz von Wild Justice für die Debatte um tierliche Moralbefähigung zeigt sich deutlich in der Bezugnahme nahezu aller darauf folgenden Werke und Aufsätze zu dieser Thematik auf dieses Werk (vgl. z. B. Bradie 2011: 555; Clement 2013: 5; McFarland/Hediger 2009: 4; Rowlands 2012: x). Die Argumente von Bekoff und Pierce werden im zweiten Kapitel dargelegt und kritisch reflektiert. Das dritte Kapitel widmet sich einer stärker philosophisch argumentierenden Herangehensweise an die Thematik der moralischen Handlungsbefähigung nichtmenschlicher Tiere. Mark Rowlands spricht ihnen diese zu und führt dazu in Can Animals be Moral (2012) eine dritte Kategorie neben moral agents und moral patients ein, die so genannten moral subjects. Er argumentiert, nichtmenschliche Tiere seien zwar keine moral agents, dafür jedoch moral subjects, was sie nach seiner Definition (s. u.) ebenfalls zu gewissen moralischen Handlungen befähigt. Rowlands Argumentation lädt Philosoph_ innen vermutlich eher zu einer Auseinandersetzung ein als zahlreiche andere Beiträge, da er auf die philosophischen Annahmen hinter Fragestellungen zur Moral fokussiert, anstatt auf empirische Ergebnisse aus der Ethologie. Das letzte Kapitel dieses Beitrages gibt einen kurzen Ausblick zu gesellschaftlichen Aspekten, die sich hinter der Debatte um moralische Agency nichtmenschlicher Tiere verbergen. Die gängigen Argumente dafür, nichtmenschliche Tiere als moralisch Handelnde anzusehen, werden im Folgenden aufgezeigt.

W ild J ustice : D arstellung

und

K ritik

»The Moral Lives of Animals«: Die Position von Marc Bekoff und Jessica Pierce Bekoff und Pierce wollen mit Wild Justice keine neue Moraltheorie aufstellen. Ihr Ziel ist vielmehr, eine kritische Diskussion dazu anzuregen, was Moral darstellt, und über eine Verschiebung der Bedeutung von Moral nachzudenken. Sie betonen, dass einige ihrer Ideen kontrovers sind und dass es Argumente für und wider gibt, bei ihrem Anliegen tatsächlich von tierlicher Moral (animal morality) zu sprechen, statt einen anderen Begriff zu wählen. Sie treten gleichzeitig aber stark dafür ein, bestimmte nichtmenschliche Tiere als zur Moral Befähigte anzusehen. Ihre Argumente hierfür werden nun erst einmal dargestellt, eine kritische Reflexion folgt im Anschluss.

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Auch wenn Bekoff und Pierce darauf hinweisen, dass Moral schwer zu definieren ist, artikulieren sie zu Beginn ihres Werkes eine eigene Definition, welche sie im Weiteren zugrunde legen. Diese macht deutlich, welches Verständnis von Moral Bekoff und Pierce in Wild Justice vertreten: »We define morality as a suite of interrelated other-regarding behaviors that cultivate and regulate complex interaction within social groups. These behaviors relate to well-being and harm, and norms of right and wrong attach to many of them. Morality is a social phenomenon, arising in the interactions between and among individual animals, and it exists as a tangle of threads that holds together a complicated and shifting tapestry of social relationships.« (Bekoff/Pierce 2009: 7)

Zentral für das Moralverständnis von Bekoff und Pierce sind also Sozialität und Verhalten, sowie – nicht in der Definition genannt – Empathie (s. u.). In der Hervorhebung der sozialen Komponente der Moral klingt ein wichtiges Argument der Autorin und des Autors an. Moral regelt auch bei nichtmenschlichen Tieren das Zusammenleben in Gemeinschaften durch etablierte Regeln und Normen, wobei sie Norm definieren als »expected standard of behavior within a group and [...] enforced by the group« (ebd.: 14). Bekoff und Pierce argumentieren, dass die Fähigkeit zu moralischem Handeln bei Menschen aus sozialem Handeln entstanden ist, welches sich wiederum evolutiv herausgebildet hat (ebd.: xi). Daher ist es falsch, davon auszugehen, dass mit den Menschen nah verwandte Säugetiere nicht auch – zumindest im Ansatz – über diese Fähigkeiten verfügen. Folglich sprechen Bekoff und Pierce nicht allen nichtmenschlichen Tieren Moralfähigkeit zu, sondern vor allem den sozial lebenden Säugetieren. Hierzu zählen z. B. Primaten, Elefanten, Wölfe, Hyänen, Wale und Ratten. Sie ziehen dabei jedoch keine scharfe Grenze bei (sozialen) Säugetieren. Die äußerst intelligenten und ebenfalls sozial lebenden Rabenvögel stellen für sie auch geeignete Kandidat_innen für moralisch befähigte nichtmenschliche Tiere dar (ebd.: 10). Bekoff und Pierce weisen darauf hin, dass zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, dass bestimmte nichtmenschliche Tiere zu empathischem, kooperativem, reziprokem, u. a. Verhalten fähig sind, welches ihres Erachtens auch bei Menschen den Kern der Moral ausmacht. Dies untermauern sie mit Hilfe vieler Beobachtungen aus der Ethologie. Bekoff und Pierce fokussieren in Wild Justice auf die Fähigkeit zu Empathie und Kooperation als Grundlagen der Moral. Kooperative nichtmenschliche Tiere folgen etablierten sozialen Normen, die mit emotionalen und kognitiven Auffassungen über richtig und falsch verbunden sind (ebd.: 83). Und Empathie ist nach Bekoff und Pierce »the heart of animal morality« (ebd.: 45):

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In der Aussage, Empathie sei das Herz der tierlichen Moral, wird ein weiteres wichtiges Argument bei Bekoff und Pierce deutlich. Für sie ist Moral spezies-spezifisch, d. h. tierliche Moral ist nicht gleichzusetzen mit menschlicher Moral und Orca-Moral ist nicht gleichzusetzen mit Wolfs-Moral: »Wolf morality is unique to wolves. We don’t judge it at all, we simply describe, observe and seek to understand.« (Ebd.: 148) Es ist folglich falsch, menschliche Maßstäbe an tierliche Moral anzusetzen. Damit argumentieren sie auch, dass Prädator_innen nicht fürs Töten von ›Beutetieren‹ verantwortlich gemacht werden können, auch wenn sie als moralisch Handelnde gesehen werden, da nach Bekoff und Pierce Wölfe und Elche keine soziale Gemeinschaft bilden und somit keine soziale Norm verletzt wird, wenn Wölfe einen Elch töten (ebd.: 16). Abschließend sei erwähnt, dass die beiden die Auffassung vertreten, der Begriff moral agent sollte vermieden werden – auch wenn sie nichtmenschlichen Tieren grundsätzlich moral agency innerhalb ihrer spezies-spezifischen Moral-Gemeinschaft zusprechen würden –, da er irreführend sei und der agent-patient-Dualismus philosophische ›Verwirrung‹ auslösen könnte. Beide Punkte führen sie nicht weiter aus, weshalb man ihren Ansatz m. E. auch nicht der ersten Herangehensweise (s. o.) zuordnen kann. Dennoch wurde daher bei der Darstellung darauf geachtet, den Begriff moral agent zu vermeiden.

Von der Beschaffenheit der Moral: Kritik an der Position von Bekoff und Pierce Die Anliegen, die Bekoff und Pierce mit Wild Justice u. a. verfolgen, sind, ein anderes Verständnis von nichtmenschlichen Tieren voranzubringen und dazu anzuregen, stereotypes Denken in Bezug auf die Fähigkeiten nichtmenschlicher Tiere aufzubrechen (Bekoff/Pierce 2009: x). Doch obgleich dieses Anliegen äußerst unterstützenswert ist, gibt es in ihrem Werk einige, aus philosophischer Perspektive kritische Punkte. Mangelnde Differenzierung von Verhalten und Handlungen So ist beispielsweise schon die (oben aufgeführte) Definition von Moral problematisch. Stimmt man Marcus Düwell (2008: 32) zu, dass die Moral in erster Linie Handlungen bewertet, die als gut oder schlecht angesehen werden, wird deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Moral eine Differenzierung

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zwischen Handlung und Verhalten voraussetzt. Bekoff und Pierce beziehen sich in ihrer Definition allein auf Verhalten (behavior), im weiteren Verlauf des Werkes ist jedoch auch häufig von Handlung (action) die Rede, ohne dass dieser Übergang vermittelt wird. So wird nicht deutlich, wie bzw. ob sie überhaupt zwischen Verhalten und Handlung unterscheiden und wenn sie differenzieren, was sie voraussetzen, damit aus Verhalten eine Handlung wird. Diese begriffliche Unschärfe ist generell und speziell bei einem kontrovers diskutierten Thema wie dem der Moralfähigkeit nichtmenschlicher Tiere von Nachteil, da bei fehlenden Definitionen wichtiger Begriffe schlicht nicht deutlich wird, von was konkret gesprochen wird. Die Debatten innerhalb der Handlungsphilosophie sind zahlreich (vgl. Wilson/Shpall 2012), eine Eingrenzung der Begriffe Verhalten und Handlung ist also notwendig, will man die eigene Position nachvollziehbar und stichhaltig machen. Mangelnde Differenzierung sozialer und moralischer Normen Ähnlich zu kritisieren ist der Umgang von Bekoff und Pierce mit dem Begriff der Norm. Die oben aufgeführte Definition von Norm ist deskriptiver Natur. Sowohl bezüglich des Moralbegriffes als auch bezüglich des Norm-Begriffes ist zwischen einer deskriptiven und einer normativen Anwendung des Begriffs zu unterscheiden. Bei einer deskriptiven Verwendung werden die in einer Gesellschaft vorherrschenden Moralsysteme oder Normen beschrieben, bei einer normativen Verwendung werden sie anhand bestimmter Kriterien bewertet. Das erwartete Verhalten innerhalb einer Gemeinschaft, welches von dieser (durch z. B. Sanktionen) durchgesetzt wird, sagt nichts darüber aus, wie dieses Verhalten moralisch zu bewerten ist. Es muss zwischen sozialen Normen und moralischen Normen differenziert werden (vgl. Düwell 2008: 33). Dies versäumen Bekoff und Pierce. Dank der ethologischen Ergebnisse der letzten Jahrzehnte lässt sich schwerlich daran zweifeln, dass innerhalb der Gemeinschaften nichtmenschlicher Tiere bestimmte Verhaltenskodizes vorherrschen. Man kann hier gewiss von sozialen Normen sprechen. Ob jedoch innerhalb dieser Gemeinschaften auch moralische Normen bestehen, ist damit nicht gezeigt und bedarf anderer Begründungen als der, die Bekoff und Pierce anführen, indem sie sich überwiegend auf ethologische Forschungsergebnisse beziehen. Probleme der postulierten spezies-spezifischen Moral Eine sehr problematische Annahme im Ansatz von Bekoff und Pierce stellt die Spezies-Relativität der Moral dar. Diese wirkt zum einen konstruiert, um z. B. die schwierige Auseinandersetzung mit folgender Frage zu umgehen: Wie kann es zusammenpassen, dass zur Moral befähigte Individuen regelmäßig andere Individuen töten, ohne dabei unmoralisch zu handeln (wie es im Fall der Prädation auftritt, s. u.)? Zum anderen ›brechen‹ Bekoff und Pierce selbst

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mit ihrem Postulat der spezies-spezifischen Moral, wenn sie davon ausgehen, dass der Hund Jethro moralisch handelt, indem er das Kaninchenbaby bringt oder wenn sie als Beispiel für tierliche Moral den berühmten und viel zitierten Fall der Gorillafrau Binti Juan bemühen, die einen kleinen Menschen-Jungen rettete, der in das Zoo-Gehege von Binti Juan gefallen war (Bekoff/Pierce 2009: 1). Bekoff und Pierce widersprechen folglich ihrer eigenen These von spezies-spezifischer Moralität, indem sie Beispiele anführen, in denen nichtmenschliche Tiere ihres Erachtens im Umgang mit Individuen anderer Arten moralisch handeln. Zudem impliziert die Spezies-Relativität der Moral die äußerst wichtige Frage, weshalb Menschen im Umgang mit Individuen anderer Arten moralisch handeln sollten, wenn doch die Moral spezies-spezifisch ist. Dagegen ließe sich ein Argument entwickeln, wonach menschliche Moral als einzige Moral auf Reflexionsvermögen auf baut und dieses Reflexionsvermögen einen Grund dafür darstellt, auch Individuen anderer Spezies mit in die spezies-spezifische Moral einzubeziehen. Dennoch fehlt bei Bekoff und Pierce eine intensive Auseinandersetzung mit dieser offensichtlichen Frage. Auch fehlt die Darlegung der (philosophischen) Argumente, auf die sie ihre Annahme einer relativen Moral auf bauen. Diese Annahme führt zur Debatte um die Universalisierbarkeit von Moral und moralischen Normen, die schon bezogen auf menschliche Moral kontrovers geführt wird. Welche Argumente sprechen dafür, von einer großen, universellen moralischen Gemeinschaft auszugehen und welche dafür, von zahlreichen Moral-Gemeinschaften auszugehen, die alle ihre eigene Moral vertreten? Ein weiterer Kritikpunkt an der Spezies-Relativität der Moral ist der, dass sich die zahlreichen empirischen Beispiele, die aufgeführt werden, um zu zeigen, dass nichtmenschliche Tiere moralbefähigt seien, daran orientieren, was bei Menschen als (un)moralisch aufgefasst werden würde. Die ›Prüfung‹ der Handlungen nichtmenschlicher Tiere auf ihre (Un-)Moralität hin, erfolgt auch bei Bekoff und Pierce durch eine Orientierung an menschlicher Moral. Es werden damit stets menschliche Maßstäbe von moralisch guten oder schlechten Handlungen angesetzt, was es schwierig macht, im Weiteren zu argumentieren, dass z. B. eine Wolfs-Moral vollkommen losgelöst von menschlicher Moral betrachtet werden soll. Die Rolle der Reflexionsfähigkeit Die Positionierung in der Frage nach tierlicher Moralbefähigung hängt eng damit zusammen, welchen Stellenwert man der kritischen Ref lexionsfähigkeit über die eigenen Handlungen und eigenen Moralnormen zuschreibt. So argumentieren Bekoff und Pierce wie oben aufgeführt, dass nicht das Reflektieren zentral ist für eine moralische Handlung, sondern dass die Handlung aus empathischer Motivation heraus geschieht. Damit argumentieren sie konträr

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zur Position Kants, demzufolge normative Selbstkontrolle die Grundlage der Moral darstellt und der der Empathie in der Moral überwiegend eine marginale oder sogar kontraproduktive Rolle zuweist, und zu Aristoteles, demzufolge eine tugendhafte Handlung nur dann wirklich tugendhaft ist, wenn a) sich die_der Handelnde bewusst ist, dass es sich um eine tugendhafte Handlung handelt, b) sie aus genau diesem Grund ausführt und c) damit ihre_seine dauerhafte Disposition zum Ausdruck gebracht wird. Die Position von Bekoff und Pierce entspricht folglich eher einer Moraltheorie, die Emotionen eine zentrale Bedeutung zumisst und die Stützung der Moral auf Rationalität kritisiert, wie es in der Fürsorgeethik der Fall ist (vgl. Donovan/Adams 1996; Donovan 2008). In Zusammenhang mit der dargelegten Argumentation von Bekoff und Pierce halte ich einen Punkt für besonders wichtig, der gleichzeitig zu einem weiteren Kritikpunkt an ihrem Ansatz führt. Es sollte zwischen Handlungsfähigkeit und moralischer Handlungsfähigkeit unterschieden werden, auch wenn das Verständnis von moralischer Handlungsfähigkeit in eine umfassendere Handlungstheorie eingebettet sein muss. Marcus Düwell (2008: 32) oder auch Reiner Wimmer (2011: 2310) definieren Handlung als ein Tun, das sich durch Intentionalität und (Entscheidungs-) Freiheit auszeichnet. Diese Definition lege ich hier zugrunde. Die_der Handelnde muss mit dem Tun ein Ziel verfolgen und die Möglichkeit gehabt haben, etwas anderes zu tun.6 Das Ziel, welches verfolgt wird, muss aber kein moralisches Ziel sein, eine Handlung folglich nicht moralisch motiviert. Entsprechend sind es zwei verschiedene Debatten, ob man nichtmenschlichen Tieren Agency zuspricht und ob man ihnen moralische Agency zuspricht. Bekoff und Pierce differenzieren nicht zwischen Agency und moralischer Agency. Sie argumentieren, dass Individuen, die flexibles und plastisches Verhalten ausführen können, Akteur_innen sind und setzen dies gleich mit moralischer Agency (Bekoff/Pierce 2009: 145). Die vielen empirischen Beispiele, die Bekoff und Pierce (2009: u. a. ix, 15, 96-105) und andere Etholog_innen aufführen sowie die eigenen Erfahrungen, die jeder Mensch macht, wenn sie_er sich auf eine wie auch immer geartete Beziehung mit einem nichtmenschlichen Tier einlässt, zeigen, dass nichtmenschliche Tiere mit ihrem Verhalten bestimmte Ziele verfolgen können. Solch zielgerichtetes Tun legen sie auch in Situationen an den Tag, in denen es ihnen möglich wäre, eine andere Tätigkeit auszuführen. Nichtmenschliche Tiere sind somit zu Handlungen fähig7 und ihr Tun 6 | Die Debatte um die Handlungs-Freiheit von Individuen und damit zusammenhängend ihrer Determiniertheit von externen (aber auch internen) Faktoren ist extrem kontrovers und kann hier nicht weiter verfolgt werden. 7 | Hiermit gehe ich davon aus, dass es Sinn ergibt, Individuen die Fähigkeit zu solchen Handlungen zuzuschreiben, dass Menschen zu Handlungen nach der oben aufgeführten Definition von Handlung fähig sind und dies eben auch auf nichtmenschliche

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geht über reines ›sich verhalten‹ hinaus. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit der Befähigung zu moralischem Handeln. Hier halte ich die Fähigkeit, über das eigene Handeln reflektieren zu können, tatsächlich für relevant, da eine Handlung bewertet werden können muss, bevor sie als moralisch gut oder schlecht gesehen werden kann. Natürlich können nichtmenschliche Tiere Handlungen ausführen, die als moralisch gut oder schlecht bewertet werden können, die meisten von ihnen werden sie jedoch nicht selbst reflektieren (im Sinn eines normativen Bewertens) können, wie es auch zahlreiche Menschen nicht können.8 Dies beruht auf der Annahme, dass höhere kognitive Fähigkeiten die Voraussetzung für Reflexion im Sinne eines normativen Bewertens sind. Zu beachten ist, dass in der Aussage, die meisten nichtmenschlichen Tiere sowie zahlreiche Menschen verfügen nicht über diese Fähigkeit, keine Wertung steckt bzw. stecken sollte. Eine moralische Handlung, die auf Reflexion über das eigene Handeln zurückzuführen ist, ist nicht a priori eine bessere Handlung als eine Handlung, die als moralisch gut bewertet wird und auf Empathie9 gegenüber einem anderen Individuum zurückzuführen ist. Moralische Reflexionsfähigkeit ist nicht notwendig, um erstens als zu Handlungsmacht befähigt und zweitens als gleichwertiges Mitglied einer Gemeinschaft angesehen zu werden (vgl. Kapitel 4). Zur Möglichkeit unreflektierter Moral Ein potentieller Einwand gegen die Trennung von Handeln und moralischem Handeln könnte die Frage sein, wie mit affektgesteuerten, (in dem Moment) unreflektierten Handlungen derjenigen umzugehen sei, die ›klassischerweise‹ als moralische Akteur_innen aufgefasst werden, nämlich zur Reflexion befähigte Menschen: Sind diese Handlungen dann ebenfalls keine moralischen Handlungen? Wäre es dann keine moralische Handlung, ein Kind aus einem Tiere zutrifft. Für Positionen, die diese Einschätzung nicht teilen, sei u. a. auf die Beiträge von Markus Kurth, Dominik Ohrem und Sven Wirth in diesem Band verwiesen. 8 | Es wäre folglich falsch, daraus zu folgern, dass eine gesellschaftliche Schlechterstellung nichtmenschlicher Tiere dadurch zu rechtfertigen sei. Die nichtmenschlichen Tiere, die auf Grund ihrer kognitiven Fähigkeiten am ehesten zu Reflexionsfähigkeit in der Lage sein könnten, sind andere Primaten und Cetaceen (Wale und Delfine). Ergeben empirische Belege, dass diese zur Reflexion befähigt sind, sind sie m. E. ebenso moralisch Handelnde wie zur Reflexion befähigte Menschen. Dies ist einerseits noch umstritten, andererseits würde es nur einen sehr geringen Teil der nichtmenschlichen Tiere betreffen. Daher betone ich nicht an jeder Stelle, an der ich davon ausgehe, dass die meisten nichtmenschlichen Tiere nicht über ihre Handlungen reflektieren können, dass es möglich ist, dass einige wenige dies doch können – denke das aber stets mit. 9 | Definiert als »the ability to perceive and feel the emotion of another« (Bekoff/ Pierce 2009: 87).

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brennenden Haus zu retten, wenn man sich keine Zeit nimmt, vorher darüber zu reflektieren? Auch diese Frage führt zu komplexen philosophischen Debatten und eine Reaktion darauf kann hier nur angerissen werden. Dem Einwand ist entgegen zu bringen, dass es Sinn ergibt, von ›verkörperter Moral‹ auszugehen.10 Bestimmte Handlungen werden von moralischen Akteur_innen ausgeführt, ohne jedes Mal erneut darüber zu reflektieren, da eine Reflexion über das Themengebiet der Handlung in der Vergangenheit stattgefunden hat. Diese vergangene Reflexion führt dazu, in den entsprechenden Situationen so und nicht anders zu handeln. Die Handlung spiegelt die von der_dem Handelnden vertretenen moralischen Normen wider, sie ist als moralisch gut oder schlecht bewertbar und stellt folglich eine (un)moralische Handlung dar, auch wenn im Moment des Vollzugs der Handlung oder unmittelbar davor keine Reflexion darüber stattgefunden hat. Zur Rolle der Freude in der Moral Ein weiterer zu kritisierender Punkt an Wild Justice ist die Ansicht von Bekoff und Pierce (2009: 126), Freude und Vergnügen würden eine Schlüsselrolle in der Moral spielen. In diesem Beitrag wird nicht die Auffassung vertreten, ein moralisches Leben und ein gutes Leben stünden konträr zueinander, im Gegenteil, ich denke, dass gerade ein moralisches Leben ein gutes Leben darstellt (zum Zusammenhang von Moral und gutem Leben vgl. Horn 2002). Dass Freude und Vergnügen eine Schlüsselrolle in der Moral spielen, gilt es dennoch zu hinterfragen, da Moral besonders dort zentral ist, wo es bei Handlungen nicht mehr um eigene Vorteile (wie auch Freude und Vergnügen) geht; wo man moralisch handelt, auch wenn dadurch nicht unmittelbar Glück für einen selbst entsteht.11 Es ist folglich DeWaal zuzustimmen: »To get to morality, you need more than just the emotions… You need to be able to look at a situation, and make a judgment about that situation even though it doesn’t affect you yourself. « (DeWaal 2007, Herv. im Org.)

Beispielhafte kritische Analyse: Die Herangehensweise der Autor_innen an das Problem der Prädation Als letzter Aspekt der kritischen Auseinandersetzung mit Wild Justice sei auf den Umgang von Bekoff und Pierce mit Prädator_innen eingegangen. Ich halte es für wichtig, dass eine Position befriedigende Antworten auf die Frage 10 | Dank an Thomas Potthast für mündliche Anregungen zu diesem Punkt. 11 | So gesteht z. B. auch Bruce Waller (1997: 348) zu, dass rationale Reflexion dafür sorgt, die Moral nicht aufzugeben, auch wenn keine Sympathien mehr gegenüber dem anderen Individuum bestehen, obwohl er davor die Auffassung, Bedingung für Moral sei Reflexionsfähigkeit, stark kritisiert (Waller 1997: 346).

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geben kann, wie es zu bewerten ist, wenn eine Löwin eine Gazelle zu Nahrungszwecken tötet. Wird für die Moralbefähigung nichtmenschlicher Tiere argumentiert, muss aus Konsistenz-Gründen eine stichhaltige Begründung aufgeführt werden, warum a) die Löwin unmoralisch handelt 12 oder b) die Löwin zwar prinzipiell zu moralischem Handeln befähigt ist, diese Tötung aber kein moralisch falsches Handeln darstellt. Bekoff und Pierce argumentieren wie oben aufgeführt, dass die Löwin nicht moralisch falsch handelt, da sie gegen keine soziale Norm verstößt, weil Löwen und Gazellen keine soziale Gemeinschaft bilden. Diese Argumentation halte ich für problematisch. Zum einen wird auch hier soziale Norm mit moralischer Norm gleichgesetzt und zum anderen stellt sich mir die Frage, warum Löwen und Gazellen keine Gemeinschaft darstellen sollen, wenn sie das gleiche Habitat bewohnen. Hierauf geben Bekoff und Pierce keine explizite Antwort. Implizit kann eine problematische Überhöhung des Art-Begriffes dahinter stecken.13 Die enorme Bedeutung, die Bekoff und Pierce hiermit den Unterschieden zwischen den einzelnen Spezies beimessen, ist erklärungsbedürftig. Zudem ließe sich daraus, wie oben bereits gezeigt, folgern, dass der menschliche Umgang mit anderen Arten auch nicht in die Sphäre der Moral fällt. Diese Folgerung ist weder von Bekoff und Pierce intendiert (s. o), noch wäre sie m. E. haltbar. Der Umgang von Bekoff und Pierce mit der Fragestellung der Prädation scheint zu unausgereift. Weshalb sollte das Töten eines Elches durch Wölfe amoralisch sein, der Hund im zu Beginn des Beitrages aufgeführten Beispiel dagegen moralisch handeln? Wieso stellen Hund und Kaninchen Teil einer moralischen Gemeinschaft dar, Elch und Wölfe dagegen nicht? Einige der hier aufgeführten Kritikpunkte hängen damit zusammen, dass philosophische Begriffe in einer zu wenig differenzierten Art und Weise verwendet werden oder die philosophischen Komponenten, die hinter der Frage nach Moralbefähigung stecken, ausgeklammert werden. Diesen Vorwurf kann man Rowlands nicht machen, dessen genuin philosophischer Ansatz im Folgenden besprochen wird.

N ichtmenschliche Tiere

als mor alische

S ubjek te

»Can animals be moral?«: Die Position von Mark Rowlands Wie auch Bekoff und Pierce sieht Rowlands seine Argumentation als eine Einladung an, über Moral neu und anders nachzudenken. Anders als Bekoff 12 | Vertreter_innen dieser Position sind z. B. Jeff McMahan (2010) und David Pearce (2009), deren Argumentation jedoch einer kritischen Prüfung kaum standhält. 13 | Zur Kritik am Fokussieren auf Arten anstatt auf Individuen vgl. Aitken 2004.

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und Pierce arbeitet er hierfür allerdings einen philosophischen Ansatz aus, da empirische Forschungsergebnisse aus z. B. der Ethologie ungeeignet seien, um die moralphilosophischen Annahmen Kants und Aristoteles’ zu ›überwinden‹. Dies ist jedoch notwendig, um nichtmenschliche Tiere als moralbefähigt ansehen zu können, da eine Anhäufung empirischer Belege für auftretende Empathie, Kooperation etc. bei nichtmenschlichen Tieren nicht dazu beiträgt, den in zahlreichen Moraltheorien angenommenen engen Zusammenhang von Moralfähigkeit und Reflexionsfähigkeit kritisch zu prüfen. Die Position von Rowlands wird im Folgenden zunächst dargestellt. Eine Diskussion dazu folgt daran anschließend. Zentral für Rowlands’ Ansatz ist die Einführung einer dritten Kategorie, die er vornimmt, um dafür argumentieren zu können, dass auch bestimmte nichtmenschliche Tiere moralisch handeln. Dies ist seines Erachtens zentral für einen anderen, respektvolle(re)n Umgang der Menschen mit nichtmenschlichen Tieren. Er unterscheidet nicht nur zwischen moral agents und moral patients, sondern führt die zusätzliche Kategorie moral subjects ein. Moral agents und moral patients versteht er sinngemäß entsprechend den in der Einleitung genannten Definitionen. Moral subjects definiert er wie folgt: »X is a moral subject if and only if X is, at least sometimes, motivated to act by moral reasons.« (Rowlands 2012: 89, Herv. im Org.) Moralische Akteur_innen handeln (un)moralisch und können für diese Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden, müssen für sie Verantwortung übernehmen. Moral subjects dagegen können für ihre Handlungen moralisch motiviert sein und Handeln in diesem Sinn (un)moralisch. Sie können für ihre Handlungen jedoch nicht verantwortlich gemacht werden. Um moral subject und moral agent im Sinne der von Rowlands aufgeführten Definition unterscheiden zu können, müssen überzeugende Argumente entwickelt werden, um moralische Motivation ohne moralische Verantwortung zu denken. Dafür ist nach Rowlands (2012: 122; 2013: 20) ein anderes Verständnis von Normativität 14 notwendig, als das, Normativität an Kontrolle zu binden. (Moralische) Normativität sollte nicht an Kontrolle geknüpft sein, die wiederum an die Fähigkeit zur kritischen Reflexion über die eigenen Motivationen gebunden ist. Den Ansatz, der überwunden werden soll, nennt Rowlands SCNM-Schema: »Scrutiny is required for control, control for normativity, and normativity for morality.« (2012: 242). Er entwirft dagegen einen Ansatz von (moralischer) Normativität ohne Kontrolle und argumentiert, dass nichtmenschliche Tiere moralische Subjekte im Sinne seiner Definition sind. Ihre Handlungen können moralisch motiviert sein, sie dürfen dafür jedoch nicht

14 | Der Bezug zur Normativität ist wichtig, denn: »moral motivations are precisely things that make normative claims on their subjects« (Rowlands 2013: 20).

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zur Verantwortung gezogen werden, da sie keinen Einfluss auf den Mechanismus haben, der ihre moralische Motivation generiert (s. u.). Rowlands vertritt dabei eine objektiv-konsequentialistische (an den tatsächlichen oder wahrscheinlichen Folgen der Handlung orientierte), externalistische15 Position: »Such an account will assume a fairly strong sense of ethical objectivity, according to which, very roughly, situations contain features that make them good or bad, independent of the subjective status (in particular, evaluations) of the agent. The evaluations of a motivation will then be a function of whether it systematically (as opposed to accidentally) promotes good- or bad-making features of situations. The normative status of a motivation is therefore explained in terms of its relation to external factors rather than the subject’s control over it.« (Rowlands 2013: 21, Herv. L. B.)

Sein Angang, für ein Konzept von Normativität ohne Bezug zu Kontrolle zu argumentieren, beruht darauf, Normativität stattdessen an die Idee eines normativen Einfühlungsvermögens zu knüpfen. Dieses baut auf einem angemessenen, zuverlässigen Mechanismus auf, auf systematischer (nicht zufälliger) Sensibilität im Hinblick auf die moralisch guten Merkmale (»morally salient features«) einer Situation. Es ist also ein Mechanismus von Nöten, der die Wahrnehmung einer Situation bzw. die Wahrnehmung der moralisch guten Merkmale einer Situation mit den angemessenen emotionalen Reaktionen verknüpft und der dies zuverlässig in allen entsprechenden Situationen tut. Diesen Mechanismus nennt Rowlands moral module16 (Rowlands 2012: u. a. 146). Tritt also ein entsprechender externer Umstand auf, generiert das moral module die bestimmte Emotion, die dann als Motivation dient und zur Handlung führt. Sowohl Motivation als auch Handlung sind moralisch, da sie von einem moralischen Mechanismus hervorgerufen werden. Normativ sind sie laut Rowlands zum einen, wenn sie auf dem zuverlässigen moral module basieren und zum anderen, wenn das Einfühlungsvermögen von einer_m idealen Betrachter_in, die_der 15 | Einer externalistischen Position gemäß ist der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein der Existenz moralischer Gründe und der Existenz von Motiven für moralisches Handeln kontingent und nicht notwendig (Scarano 2002). Zudem muss ein externes Motiv hinzukommen, damit es zur Ausführung der moralischen Handlung kommt. Für den Internalismus besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen moralischen Gründen und moralischen Motiven. Die Debatte hierüber ist zentral in der Kontroverse um moralische Motivation. 16 | Rowlands (2012: 146) betont, dass dieses module keinem entspricht, das klassischerweise in den Kognitionswissenschaften diskutiert wird und dass es ihm hier darum geht, einen Namen für diesen Mechanismus aufzuführen, nicht um reale psychologische Modelle.

Nichtmenschliche Tiere als moralisch Handelnde?

›im Besitz‹ einer richtigen Moraltheorie ist (soweit das überhaupt jemals jemand sein kann), als (in)korrekt und (un)angemessen bewertet werden kann (Rowlands 2013: 22-23). Zentral ist außerdem, dass die Vorgänge, die in dem moral module eines moralischen Subjekts ablaufen, kognitiv unzugänglich sind. Sie können entsprechend gar nicht rational bewertet werden. Diese Befähigung sieht Rowlands aber auch nicht als Bedingung dafür, dass durch das moral module moralische Motivationen generiert werden. Bei moralischen Akteur_innen dagegen besteht Zugang zu den Vorgängen ihres moral modules, sie können die Vorgänge bewerten.17 Zusammenfassend lassen sich nach Rowlands (2012: 230) drei Bedingungen dafür darstellen, dass jemand ein moral subject sein kann: »X is a moral subject if X possesses (1) a sensitivity to the good- or bad-making features of situations, where (2) this sensitivity can be normatively assessed, and (3) is grounded in the operations of a reliable mechanism (a ›moral module‹).«

Für Rowlands ist eine moralische Handlung also gegeben, wenn entsprechende, vom moral module generierte und daher normative, Emotionen in bestimmten Situationen auftreten und als moralische Motivation für die Handlung dienen. Diese Abläufe des moral modules sind dem moralischen Subjekt jedoch unzugänglich. Die Handlung ist daher diejenige eines moral subjects, nicht eines moral agents, denn ein moral agent könnte die Handlung und die aus ihr folgenden Konsequenzen verstehen und evaluieren. Das stellt für Rowlands die Bedingung dafür dar, moralische_r Akteur_in zu sein und verantwortlich gemacht werden zu können. Verantwortung für die moralische Handlung muss und kann vom moral subject nicht übernommen werden. Moralische Subjekte sind sowohl Menschen mit geringen kognitiven Fähigkeiten als auch die nichtmenschlichen Tiere, die die entsprechenden Emotionen empfinden (können). Ähnlich wie bei Bekoff und Pierce spielen Emotionen also auch in Rowlands’ Ansatz zur Moralbefähigung nichtmenschlicher Tiere eine zentrale Rolle. Nach Rowlands gibt es also Individuen, die bewusst (un)moralisch handeln können und über die Motivation, die ihrem (un)moralischen Handeln zugrunde liegt, reflektieren können (moral agents). Auf Grund der Reflexionsfähigkeit sind sie für ihre Handlungen verantwortlich. Zudem gibt es Individuen, die 17 | Zu beachten ist jedoch, dass Rowlands auch bezüglich moralischer Akteur_innen die Bedeutung von Kontrolle im Hinblick auf Normativität kritisiert. Er vertritt einen situationist account, also die Auffassung, dass auch diese nicht immer die Kontrolle über ihre Evaluationen haben, sondern dass die Evaluation variiert, je nach Situation, in der sich die_der moralische Akteur_in befindet. Diese Situationen sind nicht immer von den Akteur_innen zu kontrollieren.

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auch moralisch handeln können, dies jedoch aus einer moralischen Motivation heraus tun, die sie nicht reflektieren können und auf die sie keinen Einfluss haben (moral subjects). Diese ist durch das Vorhandensein eines moralischen Mechanismus gewissermaßen einfach gegeben. Der moralische Mechanismus baut v. a. auf Empathie auf. Da sie nicht reflektieren können, ob ihre Beurteilungsweise moralisch (un)angemessen ist, können sie für ihre (un)moralischen Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Individuen, die nicht moralisch handeln können, da sie ihre Handlungen weder reflektieren können, noch fähig sind, Empathie zu empfinden und daher über keinen moralischen Mechanismus verfügen, aber dennoch Teil der Moralgemeinschaft sind, sind moral patients. Abschließend sei auf die Position von Rowlands zur Frage der Prädation eingegangen. Hierzu verhält er sich nicht. Es bleibt offen, ob die Löwin, die eine Gazelle tötet, seines Erachtens als moralisches Subjekt moralisch falsch handelt, dafür aber keine Verantwortung übernehmen muss und kann, oder ob sie zwar ein moralisches Subjekt ist, in dem Fall der Tötung zu Überlebenszwecken aber nicht moralisch falsch handelt. Diese Frage ist eine wichtige, da sich etliche der nichtmenschlichen Tiere, die nach Rowlands als moralische Subjekte gesehen werden können, (rein) karnivor ernähren, wie z. B. Großkatzen, Wölfe und Orcas.18 Hier lässt er eine Leerstelle, die zu füllen ein Forschungsdesiderat darstellt. Weitere Kritikpunkte werden im Folgenden ausgeführt.

Die Mystik des moral modules : Kritische Reflexion des Ansatzes von Rowlands Rowlands Ansatz ist der erste detailliert ausgearbeitete Ansatz zur Thematik der Moralbefähigung nichtmenschlicher Tiere, der der normativen Komponente der Frage nach Moral gerecht wird. Er ist der erste, der eine philosophische Begründung erarbeitet, um für die Überwindung der Annahmen zu Moral von Kant und Aristoteles zu argumentieren, anstatt die Auseinandersetzung mit tierlicher Moral auf ethologische Forschungsergebnisse zu reduzieren. Diese Überwindung ist notwendig, will man dafür argumentieren, dass nichtmenschliche Tiere moralisch handeln können (s. o.). Da Rowlands dabei kontrovers diskutierte, komplexe Fragestellungen der (Moral-)Philosophie behandelt, hinterlässt sein Ansatz an einigen Stellen natürlich offene Fragen.

18 | Zur Frage danach, wie Menschen mit der Tötung nichtmenschlicher Tiere durch Prädator_innen umgehen sollten, vgl. ausführlich Bossert 2015.

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Die Unklarheit des moral modules So stellt sich die Frage, wie weit sein Konzept von Normativität tatsächlich trägt. Ist das Einfühlungsvermögen, welches Rowlands als normatives bezeichnet, wirklich ein normatives Phänomen? Es ist fraglich, ob Rowlands Argumentation hierfür ausreicht. Diese ist sehr stark an seine Einführung des so genannten moral modules geknüpft, was seine Begründung m. E. schwer greifbar macht. Es bleibt unklar, was dieses moral module in der Realität genau darstellt bzw. um was für einen Mechanismus es sich handelt, der bei u. a. nichtmenschlichen Tieren ein normatives Handeln generiert, ohne dass Reflexionsfähigkeit über dieses Handeln von Bedeutung wäre. So sehr Rowlands die Mystik kritisiert, die sich seiner Meinung nach am Festhalten an Metakognition spiegelt (Rowlands 2011: 537; 2012: 178ff.), so sehr kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das moral module auch gewissermaßen etwas Metaphysisches darstellt, womit man sich eines weiteren Erklärungsbedarfes ›entledigen‹ kann. Kontrolle Die Überzeugungskraft von Rowlands Argumentation für ein Verständnis von Normativität ohne Kontrolle ist davon abhängig, ob man einen situationist account (vgl. Fußnote 16) für einleuchtend hält. So argumentiert Rowlands, dass auch moralische Akteur_innen keine Kontrolle über die normativen Evaluationen ihrer Motivationen haben, da ihre Evaluation stark davon abhängt, unter welchen Bedingungen sie selbst leben – etwas, worüber sie keine Kontrolle hätten. Auch wenn es sich schwer leugnen lässt, dass die Lebensbedingungen, unter denen Menschen leben, sich auf ihre grundlegenden Haltungen auswirken, so ist die Debatte darum, wie viel Kontrolle ein Mensch über diese Bedingungen und ihre_seine Motivationen hat oder nicht hat, kontroverser, als Rowlands sie darstellt. Verantwortung Hiermit zusammenhängend ist Rowlands zentrale Verwendung des Begriffes Verantwortung, den er streitbar anwendet. Die relevante Differenz zwischen moral subjects und moral agents ist die, dass moral agents für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können, moral subjects hingegen nicht. Inwiefern können Handelnde jedoch zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie keine Kontrolle über die normative Evaluation der Motivationen haben, die ihren Handlungen zugrunde liegen, wie Rowlands es für moralische Akteur_innen (zumindest teilweise) postuliert? Sie können nach Rowlands die Motivation normativ bewerten, haben jedoch nicht immer die Kontrolle über die Art und Weise der Bewertung. Geht man mit Michael Pauen (2004) davon aus, dass ein Individuum nur dann zur Verantwortung gezogen werden kann,

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wenn es a) frei von Zwang handelt und b) die Handlung reflektieren kann, dann ist fraglich, ob a) wirklich zutrifft, wenn die_der Akteur_in keine Kontrolle über die normative Evaluation der der Handlung zu Grunde liegenden, moralischen Motivation hat. Unterliegt man nicht einem gewissen Zwang, wenn man keine Kontrolle über die Bewertung der eigenen Motivationen hat? Hier scheint ein weiterer Knackpunkt in der Theorie von Rowlands zu liegen. Die offenen Fragen, die Rowlands Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verantwortung hinterlässt, machen deutlich, dass hierzu eine weitere Vertiefung notwendig wäre. Weitere Aspekte, bei denen solch eine Vertiefung wünschenswert wäre, werden im Folgenden benannt.

A usblick Wie Rowlands vertrete ich die Auffassung, dass es Sinn ergibt, das Konzept moralischer Agency an Reflexionsfähigkeit und an die Übernahme (moralischer) Verantwortung für die eigenen Handlungen (wo diese möglich ist) zu knüpfen. Nach aktuellem Forschungsstand scheinen die meisten nichtmenschlichen Tiere die Fähigkeit nicht (oder in sehr geringem Maß) zu besitzen, ihre Handlungen bewusst und rational dahingehend zu bewerten, ob es moralisch richtig oder falsch war, in einer bestimmten Situation so und nicht anders zu handeln (für potentielle Ausnahmen vgl. Fußnote 7), wie auch zahlreiche Menschen diese Fähigkeit nicht besitzen. Zu bedenken ist hierbei, dass Rationalität und Reflexionsfähigkeit wie alle anderen Fähigkeiten nicht entweder ›ganz oder gar nicht‹ vorliegen, sondern graduell und in unterschiedlich starkem Maße ausgeprägt sind. Folglich ist es auch im Fall der Kategorie ›moral agent‹ nicht möglich, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dazugehörigen und nicht dazugehörigen Individuen. Bei Überlegungen zur Thematik der moralischen Befähigung ist es wichtig, zwischen Handlungsfähigkeit und moralischer Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Ich denke, dass nichtmenschliche Tiere Handlungen (als unterschieden von Verhalten) im allgemeinen Sinne ausführen können. Inwiefern sie Verantwortung für die Handlungen übernehmen sollten, die nicht in die Sphäre der Moral fallen, ist eine andere Fragestellung und wird hier ausgeklammert. Den Ansatz Rowlands’, eine dritte Kategorie einzuführen, wonach nichtmenschliche Tiere auch ohne oder mit sehr geringer Reflexionsfähigkeit auf Grund von moralischen Motivationen moralisch handeln können, für diese Handlungen aber keine (moralische) Verantwortung übernehmen können, finde ich interessant. Da die Position von Rowlands jedoch an einigen Punkten fragwürdige Annahmen enthält (s. o.) und (noch zu) unausgereift wirkt, überzeugt sie nicht vollständig. Neben den ausgeführten Kritikpunkten wäre es

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m. E. wichtig, sie in einer Art und Weise auszuarbeiten, dass sie mit anderen Ansätzen als einem externalistischen, objektiv konsequentialistischen Ansatz vereinbar ist. Unabhängig von den Kritikpunkten an den Ansätzen von Bekoff und Pierce und Rowlands, steckt hinter ihren Positionen jedoch – neben wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse – ein Anliegen, welches m. E. äußerst unterstützenswert ist: der Versuch, eine weitere Argumentation zu bieten, um ein anderes Mensch-nichtmenschliches Tier-Verhältnis voran zu bringen. Dies halte ich für extrem wichtig. Gleichzeitig frage ich mich aber, ob nicht ein Gedanke hinter dieser Argumentation steckt, der in eine falsche Richtung führen kann. Wie es Catharine MacKinnon ausdrückt, stellt sich die Frage »[…] why animals should have to be like people to be let alone by them, to be free of the predations and exploitations and atrocities people inflict on them, or to be protected from them.« (MacKinnon 2004: 267)

Warum müssen nichtmenschliche Tiere wie Menschen sein, um nicht mehr von diesen genutzt zu werden? Und darüber hinaus: wäre es nicht wünschenswert, eine Gesellschaft zu fördern, in der Moralbefähigung nicht relevant ist für eine gesellschaftliche Besserstellung? Neben nichtmenschlichen Tieren sind auch zahlreiche Menschen nicht oder nur in geringem Maße zu moralischem Handeln befähigt. Individuen sind mit unterschiedlichen Fähigkeiten ausgestattet. Die Diversität an Fähigkeiten sollte als Bereicherung aufgefasst werden anstatt als Grund, einige Individuen als höherwertig als andere anzusehen.19 So sind Menschen mit geringen kognitiven Fähigkeiten und nichtmenschliche Tiere zu empathischen Handlungen fähig, wie auch die zahlreichen empirischen Beispiele aus der Ethologie zeigen, die Bekoff und Pierce aufführen. So ist es wahrscheinlich, dass z. B. die Sterbebegleitung Kleiner Schwertwale für andere Kleine Schwertwale, die sie trotz dadurch erhöhter Strandungsgefahr auf sich nehmen (Bekoff/Pierce 2009: 102), auf Empathie gegenüber der_dem Sterbenden beruht. Und auch Jethro empfand vielleicht Empathie gegenüber dem Kaninchenbaby. Nach welchen Maßstäben wird nun bewertet, ob eine rational oder eine empathisch motivierte Handlung die ›höherwertige‹ Handlung darstellt? Das Unterfangen, dafür zu argumentieren, dass empathische Handlungen moralische Handlungen darstellen, baut meiner Vermutung nach auf dem Gedanken auf, dass moralische Handlungen (im 19 | Wie auf solch eine Gesellschaft hin zu arbeiten ist, sollte weiter und intensiver ausgearbeitet werden. Ein Entwurf aus der politischen Philosophie, der nichtmenschliche Tiere mit einbezieht, stellt Martha Nussbaums Die Grenzen der Gerechtigkeit (2010) dar. Für eine Auseinandersetzung mit der Erweiterung Nussbaums Fähigkeitenansatzes auf nichtmenschliche Tiere vgl. Bossert 2015: 50-73.

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Sinne von rationalen Handlungen) ›höherwertige‹ Handlungen darstellen als ›rein‹ empathische. Diese Bewertung muss jedoch nicht so ausfallen, sie ist keine, die a priori fest steht. Empathische Handlungen stellen äußerst wertvolle Handlungen dar und dass nichtmenschliche Tiere zu Empathie in der Lage sind, ist m. E. ein weiterer Grund, das bestehende Verhältnis zwischen Mensch und nichtmenschlichem Tier grundlegend zu ändern, unabhängig davon, ob man ihnen Moralbefähigung zuspricht oder nicht.

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»Laborratte« oder »worker« im Vivisektionslabor? Zur Kontroverse um Donna Haraways Konzeptionen von Agency und ihrer Kritik an Tierrechten Sven Wirth

Donna Haraways Kritik am Konzept der Tierrechte und ihre Konzeption von nichtmenschlichen Tieren in Vivisektionslaboren als »workers in labs« (Haraway 2008: 71) hat eine kontroverse Diskussion nach sich gezogen. So wurde ihr u. a. von Vertreter_innen der Human-Animal Studies eine Verharmlosung der Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere vorgeworfen. Neben der Auseinandersetzung um normative Fragen sind es auch theoretische Grundverständnisse von Konzepten wie Agency oder Freiheit, die zum Auseinanderklaffen der Positionen führen. Im vorliegenden Text werden ein distributives Agency-Modell (aus dem Kontext des New Materialism) und eine subjekttheoretische Agency-Vorstellung zur Debatte gebracht. Zusätzlich wird die Kontroverse als Impulsgeber für eine produktive und machtsensible Auseinandersetzung um gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse reinterpretiert. Für die Human-Animal Studies ergeben sich hieraus vielfältige Ansatzpunkte der Weiterentwicklung ihrer gesellschaftstheoretischen Analysen.

H inführung Ziel dieses Textes ist es, eine Debatte für die deutschsprachigen Human-Animal Studies zu erschließen, bzw. deren Stränge vorzustellen und kritisch zu bewerten, die im angloamerikanischen Kontext kontrovers geführt wird. Auf der einen Seite steht die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway – in ihrer Rolle als Anstoßgeberin für viele Ansätze des New Materialism – und auf der anderen Seite befinden sich Autor_innen aus den Reihen der Human-Animal Studies bzw. Critical Animal Studies. Einem stark distributiven Verständnis von Agency, indem diese in Netzwerken analysiert wird, steht ein Konzept von

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Agency entgegen, dass sich auf subjekttheoretische Ansätze oder deren marxistisch beeinflusste Modifikationen bezieht. Vor dem Hintergrund ihrer Neukonzeption von Subjekten und Objekten und ihren Analysen der Kategorien Agency, Arbeit und Freiheit argumentiert Haraway dafür, nichtmenschliche Tiere als handelnde, mit Freiheitsgraden ausgestattete Entitäten wahrzunehmen, und dies selbst in Kontexten, wie zum Beispiel Tierversuchslaboren. Exemplarisch ist hier ihre Konzeption von Ratten als »workers in labs« (Haraway 2008: 71) zu nennen. Darüber entbrannte eine Diskussion, in der ihr u. a. ein affirmativer Bezug auf die Ausbeutung von nichtmenschlichen Tieren vorgeworfen wurde. Haraways Kritiker_innen argumentieren aus einer Perspektive, die auf Herrschaftsverhältnisse fokussiert ist, unter denen nichtmenschliche Tiere leben müssen und in der die Individuen als gewaltvoll zu Objekten gemachte Entitäten verstanden werden. Im Hintergrund dieser konkreten Kontroverse um Tierbilder und um die Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen, welche als eine Kontroverse um politische und ethische Fragestellungen geführt wird, steht ergänzend ein Disput, der sich auf die abstrakteren Fragen nach Grundverständnissen von Kategorien wie Agency, Subjekt, Materialität oder Freiheit bezieht. Ein mit diesen Grundverständnissen zusammenhängender Punkt, der zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung beiträgt, ist Haraways Kritik an Tierrechten, die sie aus einer Kritik am humanistischen Rechtekonzept ableitet. Diese führt, speziell bei Vertreter_innen der Critical Animal Studies, zu einer Bestätigung ihrer Ablehnung von Haraways Projekt. Die Zurückweisung von Haraways Argumenten wird in dieser Debatte oftmals recht pauschal vollzogen und ihre ethischen und politischen Positionen werden vielfach ungetrennt von ihren erkenntnistheoretischen und analytischen Positionen verhandelt. Dabei fehlt es, meiner Ansicht nach, vielen ihrer Kritiker_innen an einer informierten Auseinandersetzung mit distributiven Agency-Ansätzen. Es gilt Haraways Projekt differenzierter zu untersuchen und dessen Potenzial für die Rekonfiguration der Analyse und Kritik von Mensch-Tier-Verhältnissen zu überprüfen. Zum besseren Verständnis der Kontroverse und der aufeinandertreffenden theoretischen Konzeptionen wird – im ersten Schritt dieses Textes – in das Denkgebäude Donna Haraways eingeführt. Hierfür werde ich neben dem kontrovers diskutierten Text When Species Meet, aus dem das Zitat mit den Ratten als »workers« entnommen ist, auch einen Blick auf Haraways frühere Werke werfen, um ihre Position im Kontext der Entwicklungsgeschichte ihrer Argumente besser darstellen zu können. Darauf folgend werde ich – zweitens – Beispiele fundamentaler Kritik an Haraway aufzeigen. Mein Hauptaugenmerk ist hierbei auf die Tierethikerin Zipporah Weisberg gerichtet. Im dritten Schritt werde ich mich mit den Potentialen beschäftigen, die die Argumentationen und theoretischen Standpunkte der beiden Seiten aus meiner Sicht für eine

»Laborratte« oder »worker« im Vivisektionslabor?

kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen haben. (Wie) können sie für die Theoriebildung der Human-Animal Studies fruchtbar gemacht werden? Wo lassen sich Leerstellen und Verengungen der Argumentationen ausmachen und wie kann an solchen Punkten weiter gedacht werden? Der Komplexität der Thematik und dem Stand der Diskussionen ist geschuldet, dass es mir in diesem Text nicht möglich sein kann, Antworten auf die tiefgreifenden Probleme der Theoretisierung von tierlicher Agency1 oder den Möglichkeiten einer Synthese der verschiedenen von mir verhandelten theoretischen Zugriffe zu geben. Vielmehr versucht dieser Beitrag, die richtigen Fragen zu stellen, um eine breitere Diskussion um diese bedeutsamen Ansätze in den Human-Animal Studies anzuregen und scheinbar unvereinbare Ansätze in eine – hoffentlich produktive – Auseinandersetzung zu bringen.

D onna H ar aways A nalysen Als roter Faden zieht sich durch Donna Haraways Werk eine fundamentale Kritik am Projekt des Humanismus. Dabei wird der – im Verlauf dieses Projekts radikalisierte – Subjekt/Objekt-Dualismus ebenso verworfen wie die starren Grenzziehungslinien zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren sowie zwischen Menschen und Maschinen. Haraways wissenschaftliche Arbeit ist zugleich eine politische Intervention gegen Herrschaftsstrukturen, die sie als in die humanistische Idee verwickelt analysiert: »The discursive tie between the colonized, the enslaved, the noncitizen, and the animal – all reduced to type, all Others to rational man, and all essential to his bright constitution – is at the heart of racism and flourishes, lethally, in the entrails of humanism.« 1 | In diesem Text wird mangels besserer Alternativen von ›tierlicher Agency‹ gesprochen. Dieser Terminus stellt zum einen eine problematische Verallgemeinerung dar, denn er suggeriert, dass es ein allgemeines tierliches Sein geben könnte. Aufgrund der vielfältigen Individuen und Gruppen, die unter dem problematischen Sammelbegriff ›das Tier‹ zusammengefasst werden, ist ein Bezug auf ein allgemeines tierliches Vermögen immer eine Verkürzung und berücksichtigt die unterschiedlichen Potentiale und Effekte der verschieden nichtmenschlichen Individuen absolut unzureichend. Zum anderen folgt die Theoretisierung von Agency als Vermögen eines konkreten ›Tieres‹ oder auch einer anderen Entität den Grundgedanken eines subjektzentrierten Agency-Modells, was weder der Komplexität der Kategorie Agency angemessen ist, noch vom Autor inhaltlich so geteilt wird (siehe zu dieser Problematik als Überblick auch Punkt 2 der Einleitung dieses Sammelbandes). Da ich dieses Dilemma nicht auflösen kann, bleibt einzig die Möglichkeit, auf die Probleme und Lücken der Konzepte hinzuweisen, die ich rein pragmatisch für meine Ausführungen verwende.

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(Haraway 2008: 18). Haraway weist immer wieder auf die wechselseitige Konstruktion eines omnipotenten und transzendenten Subjektes und eines verworfenen und abgewerteten Anderen hin. Erst durch die Konstruktion und den Ausschluss der Anderen kann sich der »Mensch/Mann« (Haraway 2006a: 99) als rational, sich selbst durchschauend, eben als Subjekt im humanistischen Verständnis produzieren. In ihren wissenschaftstheoretischen Arbeiten wie Situiertes Wissen (Haraway 1995b) fokussiert Haraway eine vorherrschende Praxis der Erkenntnisproduktion, die von erkennenden Subjekten auf der einen und Objekten der Erkenntnis auf der anderen Seite ausgeht. In Anlehnung an Arbeiten von Bruno Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie, kritisiert Haraway den Dualismus zwischen passivem Wissensobjekt und aktivem Wissenssubjekt. Sie führt diese Trennung auf einen Ansatz der humanistischen Subjektphilosophie zurück, »wobei das Wissensobjekt selbst nur noch Materie für die befruchtende Kraft und die Tat des Erkennenden ist. Dabei garantiert und erneuert das Objekt die Macht des Erkennenden, aber dem Objekt muß jeglicher Status als Agent bei der Wissensproduktion abgesprochen werden« (ebd.: 92 Herv. im Org.). Der »Falle einer aneignenden Herrschaftslogik« (ebd.: 93), die Haraway in dem damit korrespondierenden Kultur/Natur-Dualismus erkennt, setzt sie ein Wissenschaftsverständnis entgegen, dass von aktiven Wissensobjekten ausgeht und in dem Wissen immer situiert ist (ebd.: 91ff). Haraways Sichtweise auf Erkenntnisproduktion liegt ein Konzept von Agency zugrunde, dass die Welt als eine aktive Entität theoretisiert (ebd.: 94). Nicht nur Menschen sind damit aktive Wesenheiten, sondern auch andere Lebewesen sowie unbelebte Entitäten oder Strukturen wie die Sprache (ebd.: 96). »Akteure gibt es in vielen und wundervollen Formen. Darstellungen einer ›wirklichen‹ Welt hängen folglich nicht von einer Logik der ›Entdeckung‹ ab, sondern von einer machtgeladenen sozialen Beziehung der ›Konversation‹. Die Welt spricht weder selbst, noch verschwindet sie zu Gunsten eines Meister-Dekodierers. Die Kodierungen der Welt stehen nicht still, sie warten nicht etwa darauf, gelesen zu werden. Die Welt ist kein Rohmaterial der Humanisierung […].« (Ebd.: 93f)

Die Folge, die dieses Verständnis einer aktiven Welt für eine Erkenntnistheorie mit sich bringt, ist, das Haraway von »materiell-semiotischen Akteur[en]« (ebd.: 96) ausgeht. Diese Konzeption bezieht die generative Rolle der sprachlichen Produktion von Wissen mit ein, berücksichtigt aber auch die Materialität der Erkenntnis›objekte‹, ohne diese als die Erkenntnis determinierend oder als objektiv-faktisch in der Welt seiend zu definieren. Vor diesem Hintergrund sind auch Haraways spätere Texte, die sich schwerpunktmäßig mit Naturverhältnissen beschäftigen (z. B. Monströse Versprechen Haraway 2006b, Jenseitige Konversationen Haraway 2006a) zu verstehen. Ne-

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ben der aktiven Rolle der Wissens›objekte‹ in der Erkenntnisproduktion argumentiert Haraway auch auf einer ontologischen Ebene dafür, Agency weitaus distributiver zu denken und die Rolle der Materialitäten ernster zu nehmen. »Organismen sind biologische Verkörperungen; als natürlich-technische Wesen sind es keine je schon existierenden Pflanzen, Tiere, Einzeller usw., deren Grenzen bereits festgelegt sind und die nur auf die richtigen Instrumente zur korrekten Kategorisierung warten. Organismen gehen aus einem diskursiven Prozeß hervor. Die Biologie ist ein Diskurs, aber nicht die lebendige Welt selbst. Aber menschliche Wesen sind nicht die einzigen AkteurInnen, die an der Konstruktion von Wesenheiten irgendeines wissenschaftlichen Diskurses beteiligt sind; Maschinen […] und andere Partner […] sind an der Konstruktion naturwissenschaftlicher Objekte beteiligt.« (Haraway 2006b: 17, Herv. im Org.)

Es ist nicht nur die Erkenntnisproduktion, an der die ›Objekte‹ beteiligt sind, sondern auch die Lebensformen, Maschinen etc. selber werden in ihrer Materialität als aktive Entitäten und als Partner in den Konstruktionen der Welt begriffen. Dabei richtet Haraway immer den Blick auf die Prozesshaftigkeit bzw. das Werden der Entitäten und geht nicht von ursprünglich feststehenden Gegebenheiten aus. Wie andere Vertreter_innen des New Materialism argumentiert Haraway dafür, die Grenze der Vitalität zu verschieben: »Ich denke aber, wir müssen uns Lebensformen nicht-menschlicher Wesen – Maschinen wie auch Organismen – mit einer lebendigeren Begrifflichkeit zuwenden als der, die wir vom Baum des Darwinismus oder Marxismus abernten.« (Haraway 2006a: 101) Das, was landläufig als ›Natur‹ bezeichnet wird und in den Kontext von Ressourcen, Ursprüngen oder präexistenten Entitäten theoretisiert wird, konzeptualisiert Haraway entsprechend auch als etwas, was gemeinsam von Menschen und nichtmenschlichen Wesen hergestellt wurde und an dessen Konstruktion viele und verschiedenste Akteur_innen beteiligt sind (vgl. Haraway 2006b: 15). Folglich sind auch nichtmenschliche Tiere als Akteur_innen an diesen Konstruktionen beteiligt (vgl. ebd.: 189, EN 14). In Ihrem späten Werk fokussiert sich Haraway auf eine Auseinandersetzung mit der Kategorie Spezies, auch wenn verschiedene nichtmenschliche Spezies wie Hunde und nichtmenschliche Primat_innen schon etliche ihrer früheren Arbeiten bevölkerten, z. B. in Primatologie ist Politik mit anderen Mitteln (Haraway 1995a) oder im bereits erwähnten Jenseitige Konversationen. In ihrer aktuellen Monographie When Species Meet hält Haraway sowohl an ihrem anekdotischen Schreibstil als auch an ihren zentralen Argumentationsfiguren fest. Ihre Perspektive fokussiert sich noch stärker auf die Grenzziehungen, in denen ›der Mensch‹ als humanistische Kategorie hergestellt wird. Hierfür erzählt uns die Autorin u. a. Tiergeschichten von ›ihrer‹ Hündin Cayenne sowie von Ratten in Versuchslaboren oder von den sog. Crittercams welche z. B.

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Haien oder Wölf_innen auf den Rücken geschnallt werden. Wie Haraway an anderer Stelle bereits argumentiert (vgl. u. a. Haraway 2006a: 84ff), sind Geschichten ein mächtiges Werkzeug um in Diskurse zu intervenieren. Ihre Geschichten in When Species Meet thematisieren Fragen nach Agency und Freiheit, aber auch Debatten um Tierrechte oder die Frage nach dem Töten von nichtmenschlichen Individuen aus einer posthumanistischen Perspektive. Dabei streift sie viele aktuelle philosophische Debatten und Auseinandersetzungen sehr kontrovers. Zwei der von ihr thematisierten Punkte werde ich im Folgenden kurz nachzeichnen, da diese für die in diesem Beitrag thematisierte Kontroverse zentral sind. Ich werde nun Haraways Kritik an verschiedenen Tierrechtspositionen vorstellen und ihre Äußerungen zu tierlicher Agency herausarbeiten. Beide Punkte lassen sich nur im Zusammenhang ihrer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Subjekt/Objekt-Dualismus und dem Humanismus sinnvoll greifen und einordnen. Was schon in Jenseitige Konversationen angedeutet wurde (vgl. ebd.: 103), wird in ihrem aktuellen Werk weiter ausgeführt: eine kritische Positionierung Haraways gegenüber den Prämissen aber auch den Konklusionen bestimmter Argumente von Tierrechtler_innen. Die Kritik setzt dabei vielfach an dem Subjektkonzept an, welches die Vertreter_innen der Tierrechtspositionen laut Haraway zur Grundlage ihrer Argumentationen machen. »[S]ubject making across species is denied or forgotten in the humanist doctrine that holds only humans to be true subjects […].« (Haraway 2008: 66) In einer solchen Konfiguration werden die nichtmenschlichen Tiere laut Haraway in einer Abhängigkeit zu dem humanistischen Subjektkonzept definiert. Die Richtgröße, an der sich dabei orientiert wird, ist zwangsläufig das humanistische Subjekt und deswegen werden nichtmenschliche Tiere entweder als geringere Menschen oder als andersartige Naturwesen definiert (vgl. ebd.).2 Der Autorin zufolge müssen wir die humanistischen Kategorien vollständig hinter uns lassen und das Subjektkonzept dezentrieren, um Räume zu schaffen, in denen wir nichtmenschliche Tiere anders denken können, als es die mächtige Philosophietradition, in der wir leben, zulässt. Das Konzept von Rechten für nichtmenschliche Tiere bewertet Haraway aus demselben Grund als problematisch. Die Proklamation von Menschenrechten geschah historisch immer im Zusammenhang mit einem Ausschluss von bestimmten Gruppen. Erst durch politische Kämpfe konnten nicht-männliche oder nicht-weiße Menschen eine Inklusion in die vollständige Anwendung der Menschenrechte erringen. Nichtmenschliche Tiere hingegen, in ihrer Rolle als zentrale Abgrenzungsfolie gegenüber dem menschlichen Subjekt, werden in den politischen Kämpfen der Tierrechtsbewegung eben aufgrund der Beschaf2 | Zu diesem Argumentationsstrang Haraways vgl. auch Barbara Noskes Werk Die Entfremdung der Lebewesen (Noske 2008), auf das sich Haraway schon früh bezieht.

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fenheit des Rechtekonzeptes oftmals wegen ihrer Menschenähnlichkeit inkludiert3 und damit gleichzeitig auf diese zurechtgestutzt. Andere Spezies, die diese Ähnlichkeit nicht aufweisen werden somit wiederum zu ›ganz Anderen‹. ›Der Mensch‹ bleibt das Maß aller Dinge. Für die Autorin greift die Kritik, dass Tiere zu Objekten gemacht werden, zu kurz. »The animals in the labs […] are somebody as well as something, just as we humans are both subject and object all the time.« (Ebd.: 76) Diese Analyse gilt auch für Menschen, da diese beispielsweise in fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen ebenfalls nicht komplett frei sind, sondern durch die sie umgebenden Strukturen objektifiziert werden. Haraways Umgang mit dem Subjekt/Objekt-Dualismus unterscheidet sich an diesem Punkt also von dem der kritisierten Tierrechtler_innen. Sie verschiebt nicht einfach die Grenzen des Subjekt-Konzeptes und nimmt so (bestimmte) nichtmenschliche Tiere in dieses mit auf, sondern sie dezentriert das humanistische Subjekt, indem sie darlegt, dass weder Menschen noch nichtmenschliche Tiere eindeutig nur Subjekte oder nur Objekte sind. Mit dieser Argumentation verknüpft Haraway eine weitere Kritik an Argumenten der Tierrechtsbewegung. Die Autorin wendet sich der Frage des Tötens zu und nimmt Stellung zu Jacques Derridas Meditationen über das Levinas’sche Credo »Du sollst nicht töten«. Derrida zeigt auf, dass die Frage danach, was als ›Mord‹ bewertet wird oder welches Töten in einer Gesellschaft als ethisch korrekt angesehen wird, immer auch eine Frage der ontologischen Konstruktionen ist. Eben die Frage, wer aufgrund welcher Kriterien in eine moralische Gemeinschaft mit aufgenommen wird und wer nicht. Haraways problematisiert hieran, dass ihrer Ansicht nach die Frage, wer getötet werden darf und wer nicht, in die falsche Richtung gehe, da es kein Leben außerhalb des Tötens geben könne, denn in Ökosystemen würde das Leben und sich Reproduzieren immer auf dem Tod von anderen auf bauen (vgl. ebd.: 79). Die Alternative, die sie vorschlägt, baut auf anderen Prämissen auf: »[I]f we are to learn to stop exterminism and genocide, through either direct participation or indirect benefit and acquiescence, is the command ›Thou shalt not kill.‹ The problem is not figuring out to whom such a command applies so that ›other‹ killing can go on as usual and reach unprecedented historical proportions. The problem is to learn to live responsibly within the multiplicitous necessity and labor of killing, so as to be in the open, in quest of the capacity to respond in relentless historical, nonteleological, multispecies contingency. Perhaps the commandment should read, ›Thou shalt not make killable.« (Ebd.: 80)

3 | Siehe hier u. a. Kampagnen zur Erringung von Menschenrechten für die Großen Menschenaffen

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Haraway zeichnet ein Bild eines Hyper-Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisses, zusammenhängend mit einer, im höchsten Grade rationalisierten, industriellen Massentierhaltung und allgemeiner einem ebensolchen Tierindustriellen Komplex. Diesen Exterminismus verursache nicht das Töten, sondern es sei die Folge davon, Wesen als tötbar zu konstruieren (vgl. ebd.). Der Ausweg, den die Autorin hier vorschlägt, besteht darin, verantwortungsvoll zu töten. »Yes […] I will defend animal killing for reasons and in detailed material-semiotic conditions that I judge tolerable because of a greater good calculation.« (Ebd.: 87) Und die Kritik hieran schon mit einbeziehend, fügt sie hinzu: »And no, that is never enough. I refuse the choice of ›inviolable animal rights‹ versus ›human good is more important‹. Both of those proceed as if calculation solved the dilemma, and all I or we have to do is choose.« (Ebd.) Dabei ist diese Entscheidung laut Haraway niemals einfach, sondern die komplexen Verhältnisse, die hinter dieser stehen, erfordern es, Verantwortung für die eigenen, niemals unschuldigen, Praxen zu übernehmen, denn »[k]illing sentient animals is killing someone, not something« (ebd.: 106). 4 Haraways Perspektive oder Ausgangspunkt unterscheidet sich hier also enorm von dem vieler Tierrechtler_innen. An dieser Stelle verbindet sich eine dekonstruktivistische Position zu subjekttheoretischen Fragestellungen mit einer normativen Position zur Frage des Wertes des Lebens von (bestimmten) nichtmenschlichen Tieren. Es ist meiner Ansicht nach wichtig, hier eine analytische Trennung der verschiedenen Ebenen ihrer Argumentation zu vollziehen, auch wenn diese in ihren konkreten theoretischen Positionierungen stets miteinander verwoben sind. Eine solche Trennung ist aber sowohl für eine politische Bewertung als auch für eine kritische Weiterentwicklung der Ansätze notwendig. Ebenfalls als ›kein Etwas‹ theoretisiert Haraway beispielsweise Ratten und Mäuse in einem Vivisektionslabor, indem oder obwohl sie diese als »workers in labs« (ebd.: 71) beschreibt. Konkreter heißt es bei ihr: »[i]n the idiom of labor, animals are working subjects, not just worked objects« (ebd.: 80). Wenn wir dieses Argument, im Gegensatz zu vielen ihrer Kritiker_innen, für einen Moment wohlwollend betrachten, ist die Konsequenz dieser Konzeption, dass der klassische, den Mensch/Tier-Dualismus reproduzierende Arbeitsbegriff verworfen wird. In vielen Definitionen ist Arbeit aufgrund der damit verbundenen rationalen Leistungen etwas rein Menschliches (vgl. u. a. Marx 1968: 193ff und kritisch hierzu Rosen/Wirth 2013). Nichtmenschliche Tiere werden durch Haraways Neukonzeption von defizitären Wesen, die lediglich Operationen 4 | Haraways Konzept des make killable hat in den Reihen der Human-Animal Studies viel Aufmerksamkeit erregt. Neben ihren in diesem Text besprochenen Kritiker_innen wird von etlichen anderen Autor_innen auf das Konzept Bezug genommen, wenn auch selten besonders ausführlich. Siehe hierzu u. a. Weil (2012: 117ff) und MacCormack (2014: 27ff)

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verrichten können, zu Teilnehmenden an gesellschaftlichen Prozessen. Selbstverständlich stellt sich bei dieser Umschreibung des Begriffs die Frage, wie Arbeit genau rekonzeptionalisiert werden müsste, um das Konzept jenseits einer anthropozentrischen Definition neu einzuführen. Hier müsste u. a. diskutiert werden, wie viel Zwang in den Produktionsvorgängen enthalten sein darf, um noch mit dem Begriff Arbeit bezeichnet zu werden. Allerdings ist Arbeit in klassischen menschlichen Arbeitsverhältnissen ebenfalls nicht frei von Zwang zu denken, denn die Arbeiter_innen sind ja größtenteils frei von Produktionsmitteln und unterliegen der kapitalistischen Zwangslogik. Die Konzeption als »workers in labs« bedarf also – unabhängig davon ob sie erkenntnistheoretisch und politisch als sinnvoll erachtet wird – noch eine analytisch feingliedrigere Klärung. Eine weitere Folge von Haraways Konzeption ist, dass »[p]eople and animals in labs are both subjects and objects to each other in ongoing intra-action« (Haraway 2008: 71). Erneut wird hier der Subjekt/Objekt-Dualismus in Frage gestellt und durch das, von Karen Barad entliehene, Konzept der intra-action (Barad 2012: 100) auf den prozesshaften Charakter der Konstitutionen in den Abläufen der Erkenntnisproduktion in den Laboratorien hingewiesen. Um Mäuse, Ratten etc. als »workers« theoretisieren zu können, entfernt sich Haraway von einer Darstellung tierlicher Passivität und dem Fokus auf die Strukturen, die ihre Gefangenschaft manifestieren. Dies tut sie, indem sie Michel Foucaults Überlegungen zu Freiheitsgraden in Machtverhältnissen auf die Geschehnisse in den Vivisektionslaboratorien anwendet: »Lab animals are not ›unfree‹ in some abstract and transcendental sense. Indeed, they have many degrees of freedom in a more mundane sense, including the inability of experiments to work if animals and other organisms do not cooperate.« (Haraway 2008: 72f) Einer Perspektive, die auf die Objektifizierung und die herrschaftliche Durchdringung der tierlichen Körper gerichtet ist, stellt Haraway hier einen Ansatz entgegen, der die Agency im Kontext der Individuen ins Zentrum setzt. Es wird von einem sehr stark eingeschränkten aber stets vorhandenen Vermögen ausgegangen, durch das die nichtmenschliche Tiere die Abläufe beeinflussen. Durch den Zusatz von »and other organisms« macht Haraway deutlich, dass sie hier nicht von einem subjektzentrierten Agency-Modell ausgeht, indem die Mäuse, Ratten etc. aus ihrem Subjektstatus heraus handeln und so die Möglichkeit eines Fehlschlagens der Experimente verursachen. Ihre Aktivität und ihr agentialer Charakter ist vielmehr durch ein Netzwerk von Aktanten bedingt, in dem sowohl die sog. Versuchstiere als auch die Laborbedingungen, die menschlichen Experimentator_innen und die materiellen Gegebenheiten der verwendeten Geräte und Substanzen eine Rolle spielen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Haraways früheren Arbeiten, in denen sie dieses Agency-Verständnis als ein distributives und netzwerkförmiges erläutert hat (vgl. Haraway 2006b: 15ff). Die Einführung der Freiheitsgrade hilft ihr, die Individuen nicht als Versuchstiere ontologisiert und komplett objek-

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tifiziert betrachten zu können. Haraway weist selber darauf hin, dass diese Definition auf einer abstrakten Ebene angesiedelt ist. Und es geht ihr an dieser Stelle darum, ein Konzept für nichtmenschliche Tiere anzubieten, dass die Traditionslinien der humanistischen Subjektphilosophie verlässt.

H ar aways K ritiker _ innen Donna Haraway ist eine jener Personen, deren Werk im Kontext der Human-Animal Studies relativ breit und sehr vielfältig und kontrovers diskutiert wurde. Dies liegt einerseits daran, dass sie eine der bekanntesten Vertreter_innen von Ansätzen ist, die sich explizit kritisch mit den Verhältnissen zu nichtmenschlichen Tieren befassen. Andererseits sind es auch ihre posthumanistischen und neomaterialistischen Theorien, die sie für viele Vertreter_innen aus dem Spektrum der Human-Animal Studies zu einer äußerst kontroversen Figur werden lassen. Gerade ihre kritische Intervention in andere politische Debatten und ihr feministisches Engagement machen sie dabei auch für Vertreter_innen der Critical Animal Studies zu einer wichtigen Bezugsgröße. Da ihre Konzepte jedoch selten an klassische Befreiungsansätze anschlussfähig sind, wird ihr Werk von Menschen mit einem Tierrechtshintergrund sehr kritisch bis vernichtend beurteilt. Zudem positioniert sich die Autorin zwar positiv zu innermenschlichen feministischen, antirassistischen und antikapitalistischen Kämpfen, Donna Haraway ist aber keine Tierrechtlerin, auch wenn viele Vertreter_innen solcher Positionen ihre Texte mit einer solchen Erwartung lesen und so zwangsläufig enttäuscht werden. Im folgenden Abschnitt werden nun einige Kritiker_innen vorgestellt. Nach einem kurzen Überblick über diese Positionen widme ich mich konkret der Arbeit von Zipporah Weisberg, da in ihrem Text The Broken Promises of Monsters viele Konfliktlinien deutlich werden und sie Gegenpositionen zu Haraways Argumenten einnimmt, an denen sich die weiteren theoretischen Implikationen der von mir untersuchten Kontroverse recht deutlich aufzeigen lassen. Wie bereits anfangs erwähnt, lässt sich diese Kontroverse nicht nur auf unterschiedliche normative (auf Tierrechte bezogene) Hintergründe der im Disput liegenden Autor_innen zurückführen, sondern es sind auch die theoretischen Grundverständnisse die hier fundamental auseinandergehen und – jedenfalls auf den ersten Blick – recht unvereinbar erscheinen. Genau dies gilt es zu überprüfen. Eine der bekanntesten Kritiker_innen ist die Feministin und Tierrechtlerin Carol J. Adams, welche für ihre Weiterentwicklung von ökofeministischen Ansätzen bekannt geworden ist. Neben dem Vorwurf des Euphemismus, der ihr zufolge in der Beschreibung von nichtmenschlichen Tieren in Versuchslabore als »workers« läge, greift Adams die Kategorien an, in welche Haraway

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nichtmenschliche Tiere einteilt. Haraway unterscheide zwischen sog. Nutztieren und Individuen die sie als »companion species« bezeichne. Dabei ontologisiere sie diese und schreibe ihnen ihren Status als Nutztiere (mit allen Konsequenzen) ein (vgl. Adams 2006: 126). Ebenfalls an ihren Konzeptionen bzw. an der Wortwahl, die Haraway für die Beschreibung dessen wählt, was andere als Tierausbeutung beschreiben würden, nimmt die Literaturwissenschaftlerin Carmen Dell’Aversano Anstoß. Sie wirft Haraway eine »offensive language« (Dell’Aversano 2010: 117) vor und stellt Haraways Projekt in When Species Meet recht grundsätzlich in Frage (vgl. ebd.: 116). Nicht ganz so negativ bewertet die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Eva Giraud Haraways Arbeit. Auf der einen Seite erkennt Giraud an, dass durch Haraways Engagement beispielsweise die Infragestellung der Mensch/Tier-Grenze in der akademischen Debatte verstärkt wurde (vgl. Giraud 2013: 107). Auf der anderen Seite verstärke Haraway die Konstruktionen, in denen nichtmenschliche Tiere objektifiziert werden »instead of unsettling metaphysical categories such as ›livestock‹, ›meat‹ and even ›animal‹« (ebd.: 113). Haraway hätte also auf der einen Seite ein Interesse an der Dekonstruktion der humanistischen Kategorien, schreibe diese aber selber weiter fort, indem sie Kategorien wie ›Fleisch‹ oder ›Nutztiere‹ affirmativ benutze. Zipporah Weisbergs abschließendes Urteil über When Species Meet fällt vernichtend aus. Viele ihrer Argumente kreisen um Haraways zentrale Konzepte wie Freiheit, Subjekt und Agency. Haraways Projekt, nichtmenschlichen Tieren in Versuchslaboren Agency und Freiheit zuzuschreiben, reproduziere und legitimiere den herrschenden Status quo: »By, in essence, providing ideological cover for such violent practices as animal experimentation, genetic engineering, dog breeding and training, killing animals for food and hunting, Haraway undermines what might otherwise be construed as an effort to overcome the speciesist ethos which characterizes humanist ideology and the normalization of brutality against animals that it fosters.« (Weisberg 2009: 23)

Weisberg spricht von einer totalen Form der Herrschaft und Gewalt in den Laboratorien (vgl. ebd.: 59). »While suggesting that other animals and humans are entangled, co-constituted and so on, Haraway in fact reinforces the anthropocentric logic of mastery over nonhuman others by naturalizing unequal instrumental relations between species« (ebd.: 28) und weiter, »that is, relations in which humans are the users and nonhumans are the used« (ebd.: 28, Herv. im Org.). Aus einer Tierrechtsperspektive macht Weisberg hier die Unterscheidung zwischen »the users« und »the used« auf, eben um auf das ungeheuerliche Ausmaß der Gewalt in den Mensch-Tier-Verhältnissen hinzuweisen. Aus dem gleichen Beweggrund erfolgt dann auch die Beschreibung der tierlichen

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Passivität in diesen Verhältnissen. Haraway schreibe den Insass_innen der Versuchslabore eine Agency zu, die ihnen aber in der Realität verwehrt bleibe (vgl. ebd.: 35). »In reality, animals in labs are not workers – not even alienated workers – but worked-on objects, slaves by any other name. To call them anything else is to gloss over the brutal reality of the total denial of their ability to act in any meaningful way – namely, as self-determining subjects.« (Ebd.: 37, Herv. im Org.) Der Ausdruck »act in any meaningful way« deutet schon auf die sehr verschiedenen Perspektiven hin, die Weisberg und Haraway hier einnehmen. Letztere spricht auf einer abstrakten Ebene von Agency und weniger von Wirkungsmacht, die über die punktuelle Beeinflussung der Experimente und deren Ergebnisse hinausgeht. Mäuse, Ratten etc. haben laut Haraway also Einfluss auf den konkreten Ablauf der Experimente, auch wenn sie nicht die Macht haben, aus dem Setting auszubrechen oder dieses zu sabotieren. Und genau hier setzt Weisbergs Kritik an. Da diese nicht als selbstbestimmte Subjekte handeln können, sei dies ein Zeichen dafür, dass ihre Agency brutal eingeschränkt werde und sie eher »slaves« als »alienated workers« seien. »The reader is left to wonder how rabbits or dogs whose heads are locked into holds, or monkeys exposed to nerve gas and given electroshocks, can not cooperate in the experiments.« (Ebd.: 35, Herv. im Org.) Auf Haraways Argument des stetigen reziproken Verhältnisses zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren in den Laboren, in dem beide gleichzeitig Subjekte und Objekte seien, antwortet Weisberg: »In what way could a burnt, bleeding, wounded, and terrorized laboratory (or factory farm) animal be ›responsible‹ to its abuser? While many animals exhibit the capacity for moral behavior, the mutual reciprocity Haraway sets up here within the framework of a laboratory is not only absurd, but it is also an affront to any meaningful attempt to abolish their oppression.« (Ebd.: 42f.)

Dazu, dass Haraway in einem solchen Kontext von Freiheitsgraden spricht, re­ sümiert Weisberg mit den Worten: »If there is a more perverse conception of freedom than this, however, it is hard to imagine.« (Weisberg 2009: 35) Weisberg bewertet die Sachverhalte aus einer politischen und an Tierrechtszielen orientierten Perspektive. Daraus folgt auch ihr Resümee: »However, it is a fatal ethical and political mistake to combine phenomenological conceptions of intersubjectivity, co-constitution, and so on with an affirmation of institutionalized violence against animals, as Haraway does.« (Ebd.: 60) Diese Situierung, die Weisberg einnimmt, ist nicht notwendigerweise ein Zeichen für schlechte Wissenschaft, wie auch ihre Kontrahentin prominent argumentiert hat (vgl. Haraway 1995b). Mit dem Hintergrund einer Tierrechtsposition wissenschaftlich über Mensch-Tier-Verhältnisse zu arbeiten, kann ein sehr produktives

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Unterfangen sein. Diese Situierung ist aber der Hintergrund für die weit auseinanderklaffenden Analysen und die entgegengesetzten Bewertungen der verschiedenen beschriebenen Situationen. Denn wir bewerten Situationen notwendigerweise anders, wenn wir ein konkretes politisches Interesse an der praktischen Veränderung dieser Situation haben oder wenn wir auf abstrakter Ebene bestimmte theoretische Fragen an die Situation stellen. Dass die Autorin Haraways Herangehensweise als inakzeptabel ansieht, sollte deutlich geworden sein. Etwas widersprüchlich macht sie dies aber noch einmal am Ende ihres Textes deutlich, indem sie Haraway auf der einen Seite als ein Beispiel für entpolitisierende Animal Studies bezeichnet (vgl. Weisberg 2009: 59) und ihr auf der anderen Seite unterstellt, dass sie sich vielfach auf der Seite der »victors in the sado-humanist project of domination« (ebd.: 60) befände. Damit gesteht sie ihr doch eine politische Position zu, aber eine antagonistische zu der von Weisberg selbst. Mit was für Konzepten wir es zu tun haben, wenn es um Politik, Freiheit oder Objekte geht, möchte ich im folgenden Kapitel diskutieren.

A uswertung

der

K ontroverse

und

P erspek tiven

Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung kommt Zipporah Weisbergs Kritik an Donna Haraway zum Teil recht brachial und teilweise relativ undifferenziert daher. Trotzdem bietet sie einige wichtige Ansatzpunkte, um Haraways Projekt kritisch hinterfragen zu können. Beginnen wir aber zunächst mit einer Auseinandersetzung mit Weisbergs Argumenten. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte der Autorinnen wurden ja bereits angesprochen. Haraway bewegt sich auf einer ontologisch-erkenntnistheoretischen Ebene, die aber immer wieder mit einer politische und ethische Fragestellungen thematisierenden Ebene verquickt ist. Der normative Ausgangspunkt der Autorin ist dabei eher eine allgemein feministische, linke, ökologisch interessierte Perspektive, aus der auch bestimmte tierschutzorientierte Impulse durchscheinen. Diese Tierschutzposition geht von einer grundsätzlichen Möglichkeit der Nutzung von nichtmenschlichen Tieren durch Menschen aus, was sich u. a. darin zeigt, dass Haraway ein grundsätzlich instrumentelles Verhältnis in Mensch-Tier-Verhältnissen nicht generell ablehnt (vgl. Haraway 2008: 74). Weisberg hingegen argumentiert primär von einer ethischen bzw. politischen und vor allem abolutionistischen Tierrechtsperspektive aus. Diese ist bei ihr mit einer grundlegenden Kritik an dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Projekt Haraways verbunden (vgl. Weisberg 2009: 60). Aus Weisbergs Perspektive, die von vornherein die Frage nach der Befreiung von nichtmenschlichen Tieren ins Zentrum setzt, ergibt sich naheliegender Wei-

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se eine vehemente Kritik an Haraway. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte führen zu einer starken Diskrepanz zwischen beiden Ansätzen. Die Elemente der Kritik Weisbergs, die sich nicht primär auf Haraways normative Konklusionen, also ihre Kritik an Tierrechten und Veganismus (vgl. u. a. Haraway 2008: 80) und ihre Akzeptanz der Nutzung von nichtmenschlichen Tieren beziehen, entstammen einer differierenden Perspektive auf den Humanismus. »[W]hile humanism has many problematic elements to it, it can also be reformulated to discourage rather than encourage speciesism and violence against animals.« (Weisberg 2009: 23, FN 4) Haraways posthumanistische Perspektive steht hier einer, durch marxistisch geprägte Argumentationsmuster ergänzten, neohumanistischen Perspektive entgegen. Hierzu ist ein Schema von Cary Wolfe interessant, in welchem zwischen 1) humanistischem Posthumanismus, 2) posthumanistischem Humanismus, 3) posthumanistischem Posthumanismus und 4) humanistischem Humanismus unterschieden wird (vgl. Wolfe 2011: 124ff). Als Vertreter von Position 1 werden u. a. Peter Singer und Tom Reagan genannt, welche die Mensch/Tier-Grenze infrage stellen, aber weiter an einem (humanistisch begründeten) Rechtemodell festhalten. Als Beispiel für Position 2 werden Richard Rorty und Slavoj Zizek angeführt: »›posthumanist humanism‹ would consist of being posthumanist in internal disciplinarity, but humanist in the continued external insistence on the ethical and, broadly speaking, ontological efficacy of the human/animal divide« (ebd.: 124). Letztere verwerfen viele Grundpositionen des Humanismus, halten aber an der Mensch/Tier-Grenze fest, »animals remain excluded« (ebd.). Donna Haraway wird in dieses Schema als posthumanistische Posthumanistin eingeordnet, da sie sowohl humanistische Konzepte wie das Rechtekonzept verwirft als auch vehement den Mensch/Tier-Dualismus in Frage stellt, indem sie beispielsweise argumentiert, dass es keine natürliche oder rationale Grenzlinie zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren gebe, sondern diese immer technisch hergestellt sei (vgl. Haraway 2008: 297). Zipporah Weisberg ließe sich als Vertreterin von Position 1 in dieses Schema einordnen. Auch sie verwendet (neo-)humanistische Argumente um Mensch-Tier-Verhältnisse, aber auch das Projekt von Haraway zu kritisieren. Diese schematische Einordnung ist selbstverständlich keine Methode, um die ethischen Positionen und normativen Grundlagen der Kontrahentinnen darzustellen. Sie bietet aber die Möglichkeit, ihre philosophischen und politischen Projekte analytisch zu unterteilen, um sie differenzierter betrachten zu können. Aus dieser Positionierung folgt auch, dass, wo Haraway von Freiheitsgraden spricht, Weisberg von einer »total domination and violence such as laboratories« (Weisberg 2009: 59) ausgeht. Dahinter zeigt sich ein humanistisch/ marxistisch beeinflusstes Freiheitskonzept. Sie beruft sich auf eine Idee, die Freiheit als Freiheit von Unterdrückung bestimmt. Ferner geht es ihr um eine

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Freiheit, sich nach den ›natürlichen Möglichkeiten‹ frei entfalten zu können (vgl. Weisberg 2009: 35, FN10). Neben der Problematik, die ein als Ursprung gedachter Naturbezug mit sich bringt (welche Einflüsse auf das Individuum dürfen ausgeübt werden, damit diese noch als natürlich zu gelten?), gibt es hier ein Problem mit dem implizierten Subjekt der Freiheit. Dieses humanistisch-marxistische Ideal ist eine transzendente Fiktion, denn Individuen werden immer in ihrer ›Freiheit‹ beeinflusst und es gibt keine reine oder ursprüngliche Freiheit, auch nicht in der Sphäre, die hier ›Natur‹ genannt wird. Und selbst innerhalb Weisbergs eigener Konzeption ist ein solches Konzept nur als Utopie denkbar, denn alle – menschliche und nichtmenschliche – Individuen leben unter patriarchalen, kapitalistischen, speziesistischen etc. Bedingungen, die allgegenwärtig ihre Freiheit einschränken. Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich ist es sinnvoll und notwendig, Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen zu thematisieren und zurückzuweisen. Aus meiner Sicht ist das Problematische dieser Freiheitskonzeption deren Totalität. Eine Totalität, in der sie die Mäuse, Ratten etc. in den Vivisektionslaboren als Objekte konstruiert und somit auf epistemischer Ebene die gleiche objektifizierende Setzung vollzieht, die im hegemonialen Mensch/Tier-Dualismus stattfindet. Es ist meiner Ansicht nach nicht sinnvoll, nichtmenschliche Tiere als Opfer oder Objekte zu konzeptualisieren, um auf das ungeheurere Ausmaß der Gewalt und Herrschaft hinzuweisen, das in den hegemonialen gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen an der Tagesordnung ist. Ich versuche mein Argument an einem Beispiel zu verdeutlichen: Aus den Kämpfen der feministischen und der antirassistischen Bewegungen konnten wir lernen, dass eine Beschreibung der von der Gewalt dieser Verhältnisse Betroffenen als ›Opfer‹ als eine Viktimisierung aufgefasst wurde. Betroffene Personen wehrten sich explizit dagegen, mit einer solchen Terminologie beschrieben und somit als passiv konstruiert zu werden. Der Vorwurf an diejenigen, die sich als Fürsprecher_innen engagierten und dadurch die Betroffenen repräsentieren wollten, war vielerorts, dass durch den Akt der Repräsentation, die Herrschaft reproduziert würde, da den Betroffenen ihre selbstständige Handlungsmacht genommen würde (vgl. Spivak 2008). Nun ist die Form der Herrschaft in Mensch-Tier-Verhältnissen mit den allermeisten innermenschlichen Herrschaftverhältnissen schwer zu vergleichen, da nichtmenschliche Tiere meistens direkter als Menschen als Objekte benutzt werden, um beispielsweise aus ihren Körpern ›Fleisch‹ zu machen. Und auch ein Repräsentationsverhältnis ist weniger zu vermeiden, da sich nichtmenschliche Tiere in den meisten Fällen nicht effektiv zur Wehr setzen können (zu Ausnahmen von dieser Regel siehe Wirth (2014) oder den Beitrag von Kurth in diesem Band). Aber trotzdem ist die Problematik eines Repräsentationsverhältnisses und einer Konstruktion von nichtmenschlichen Tieren als passive Objekte eine ähnliche. Nicht-

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menschliche Tiere besitzen trotzdem noch Handlungsmöglichkeiten, selbst im herrschaftsförmigen Tierindustriellen Komplex. Sie als passiv zu konstruieren oder sie zu viktimisieren, fügt ihnen epistemische Gewalt zu und hält sie im Subjekt/Objekt-Dualismus gefangen. Ihre Agency wird durch ein Herrschaftsverhältnis teilweise fundamental eingeschränkt, aber sie werden nicht zu ›Legemaschinen‹, ›Fleischproduzenten‹ oder ›Versuchstieren‹, selbst wenn sie stets als solche ontologisiert werden. Trotz der fast totalen Form von Gewalt, die ihnen angetan wird, bleiben sie Hennen, Kühe, Schweine, Äffinnen und Ratten. Obwohl die Individuen in den ›Legebatterien‹, ›Mastbetrieben‹ und ›Versuchslaboren‹ in ihren grundlegendsten Möglichkeiten beschnitten werden und sie auf ihr nacktes Leben reduziert werden, jenseits von jedem Recht, sind sie keine passiven Objekte. Sie können sich zwar kaum bewegen und ihre Körper werden durch Medikation, das Kürzen ihrer Schnäbel, künstliche Befruchtung oder durch Mast an dem, im erweiterten Verständnis, biopolitischen Interesse (vgl. Wirth 2011: 67) der ›tiernutzenden‹ Industrien ausgerichtet und die Herrschaft, die über sie ausgeübt wird, kann als nahezu total bezeichnet werden.5 Aber trotz dieser Herrschaft, die in dieser Art fast nur in der Sphäre der hegemonialen gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse zu finden ist, sind nichtmenschliche Individuen nicht bloße Objekte der Herrschaft, die auf sie ein- und durch sie hindurch wirkt. Eine solche Beschreibung würde sie, auf eine weitere Art und Weise, in ihrer gesellschaftlich konstruierten Form als passiv und als Negation des (Menschen-)Subjektes festschreiben. Es braucht keine transzendente Form der Freiheit, um Agency zu ›haben‹, wenn auch nicht Agency im Sinne autonomer humanistischer Subjekte. Ein weiterer Punkt von Weisbergs Argumentation, den ich mir genauer anschauen möchte, ist der Vorwurf an Haraway, dass sie ein Beispiel für entpolitisierte Animal Studies sei. Das Politikverständnis, das hier angelegt wird scheint mir unterkomplex. Sowohl Haraways theoretische Interventionen also auch ihre Positionierungen haben politische Elemente, auch wenn diese Weisberg inhaltlich nicht zusagen. Was ›das Politische‹ ist, ist wiederum eine Frage der Perspektive und der Positionierung. Politik hat vielfältige Dimensionen. Wenn Haraway schreibt, »[h]unting, killing, cooking, serving, and eating (or not) a pig is a very intimate personal and public act at every stage of the pro5 | Der Grad der herrschaftlichen Durchdringung der konkreten Mensch-Tier-Beziehungen variiert von Fall zu Fall. In der sogenannten ›Nutztierindustrie‹ tritt der Speziesismus meist am deutlichsten sichtbar zutage, abgesehen vielleicht von der sogenannten ›Schädlingsbekämpfung‹. Im ›Heimtiersektor‹ sind die konkreten Beziehungen verschiedenartiger (und damit differieren auch die Handlungsoptionen der verschiedenen tierlichen Individuen), auch wenn ›Tierliebe‹, von der in diesem Sektor oft gesprochen wird, nicht bedeutet, dass wir es nicht mit einem Herrschaftsverhältnis zu tun haben.

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cess, with major consequences for a community […]« (Haraway 2008: 298), dann werden die gesellschaftlichen Alltagspraxen hier sehr wohl politisch betrachtet. Darüber hinaus widerspricht Haraway damit einer weit verbreiteten Position, die die Frage des individuellen Konsums als Privatsache deklariert. Aber auch ihre Konzeption von Agency und ihre erkenntnistheoretischen und ontologischen Überlegungen reichen in die Sphäre des Politischen hinein. Neben den Auswirkungen der materiellen Bedingungen, unter denen die nichtmenschlichen Tiere in den Farmen und Labors leben müssen, sind es auch die epistemischen Strukturen, die nichtmenschliche Tiere objektifizieren. Wiederum eine immens politische Problematik. Diese komplexen Dimensionen des Politischen sollten nicht verkannt werden, indem ein Pauschalvorwurf der Entpolitisierung ausgesprochen wird. Ob Haraways Projekt allerdings für eine kritische und tiefgehende Analyse von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen ausreichend und angemessen ist, ist eine andere Frage. Kommen wir nun also zu meiner Kritik an Haraways Projekt. Positiv hervorzuheben ist, dass Donna Haraway sehr prominent eine Analyse des Mensch/Tier-Dualismus auf die akademische Tagesordnung setzt und diese Auseinandersetzung für ein über die Human-Animal Studies weit hinausgehendes Publikum erschlossen hat. Ihre radikale Kritik an den mächtigen humanistischen Setzungen bildet die Grundlage für viele kritische Überlegungen, die gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse zu hinterfragen. Auch ihre Kritik an bestimmten Tierrechtspositionen kann meiner Ansicht nach – auch für Tierrechtler_innen – recht erhellend sein und zu einer kritischen Hinterfragung und Weiterentwicklung der Argumente führen. Als ein weiterer positiver Punkt ist nicht zuletzt Haraways distributives Verständnis von Agency zu nennen. Dieses vermag es, Brüche in Konzeptionen eines omnipotenten menschlichen Subjektes und dessen objektifiziertem Anderen hervorzurufen. Auch wenn ich Haraways Positionen in keinem Fall als entpolitisierend bezeichnen würde, fallen in ihrer Gesellschaftsanalyse meiner Ansicht nach doch bestimmte Strukturen des Politischen heraus. Eine Beschäftigung mit Fragen nach Agency und Freiheit oder eine Auseinandersetzung mit mächtigen Epistemen ist immens politisch, dringend notwendig und überfällig für eine adäquate Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen. Aber diese Herangehensweise deckt nur eine bestimmte Ebene des Politischen ab. Wenn sie mehr sein will als eine punktuell begrenzte philosophische Diskussion und wenn sie eine weitergehende gesellschaftstheoretische Dimension anstrebt, dann müssen ihr weitere Perspektiven beiseite gestellt werden. Ein expliziter Fokus auf gesellschaftliche Verhältnisse, auf Asymmetrien und auf Herrschaftsstrukturen ist hier immens wichtig. Eine Nichtberücksichtigung der strukturellen

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Asymmetrien zeigt sich aber u. a. in Formulierungen wie »the hyperexploited laboring bodies of both chickens and humans are joined in a terrifying global industry by the early twenty-first century« (ebd.: 272). Verschiedene Grade von Ausbeutung können aus dieser Perspektive genau so wenig differenziert werden wie die Frage gestellt werden kann, ob manche Ausgebeutete auch gleichzeitig Ausbeuter_innen sind. Eine differenzierte Betrachtung von Positionierungen in Herrschaftverhältnissen wäre aber wünschenswert und gewinnbringend. Haraway kann aufgrund des Auf baus ihrer Argumentation aber Asymmetrien und Herrschaftsverhältnisse in den hegemonialen gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen nur unzureichend fassen. Sie ist zwar im innermenschlichen Bereich für solche Strukturen sensibel (und verquickt ihre Kritik an diesen mit ihren theoretischen Analysen), in der nichtmenschlichen Sphäre allerdings ist ihre Perspektive nicht darauf gerichtet, was wiederum Auswirkungen auf ihr theoretisches Instrumentarium hat. Das wäre solange kein Problem, wie sie den Gegenstandsbereich ihrer Theorien einfach auf ein spezielles akademisches Interesse begrenzen würde. Allerdings bewegt sich eine solche Theorieproduktion niemals in einem luftleeren Raum und die analytische Zuspitzung auf einen bestimmten Sachverhalt ist trotzdem eingebunden in eine bestimmte Rezeptionskultur und in eine politische Realität, auf die unmöglich nicht Bezug genommen werden kann. Wenn wir daran interessiert sind die gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse zu analysieren, wie es die Human-Animal Studies vielfach wollen, dann ist es notwendig, auch differenziert bestehende Macht- und Herrschaftverhältnisse mit in die Analysen einzubeziehen. Haraways theoretischer Fokus muss hier also durch eine Macht- und Herrschaftanalyse ergänzt werden, welche die alltäglichen und verschiedenartigen Machtverhältnisse in Überschneidung mit epistemischen, erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen bringt. Eine solche Weiterentwicklung wäre ein produktives Feld, dem sich die Human-Animal Studies widmen könnten. Selbstverständlich sind es auch immer wieder Haraways normative Setzungen, die für viele aus den Reihen der Critical und Human-Animal Studies zu einer Unzufriedenheit mit Haraways Projekt führen. Um beim Beispiel zu bleiben, ist ihre Konzeption des ›making killable‹ oftmals Stein des Anstoßes. Wenn Haraway argumentiert, dass Menschen lernen müssen, verantwortungsvoll zu töten (vgl. ebd.: 43), dann stellt sich an diesem Punkt die Frage, wie weit sie geht, wenn es um die Abkehr vom humanistisch-anthropozentrischen Projekt geht. Wer (verantwortungsvoll) getötet werden darf, ist immer verbunden mit der Frage nach einer (ethischen) Gemeinschaft, in die bestimmte Individuen und Gruppen ein- und andere ausgeschlossen werden. Verantwortungsvolles Töten wird von Haraway sicherlich nicht für alle Gruppen gleichermaßen als akzeptable Option bezeichnet. Haraway trifft eine solche Aussage im Kon-

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text ihrer Reflexionen über Vivisektionslabore. Welche Gründe werden dafür angeführt, dass Mäuse, Ratten etc. verantwortungsvoll getötet werden können und wie wird die Auswahl derer, auf die eine solche ethische Erlaubnis zutrifft, eingegrenzt und begründet? Donna Haraway gibt uns hierauf leider keine befriedigende Antwort. Ein weiteres Problem ist ihre ergänzende Behauptung, dass Töten im Leben bzw. in Ökosystemen eine umgängliche Notwendigkeit sei (s. o.). Durch dieses Argument wird der Kontext des Tötens ausgeblendet, der Akt des Tötens sogar quasi naturalisiert. Wer wen aus welchem Grund tötet oder töten kann, kann sich noch im Kontext einer Frage nach Verantwortlichkeiten diskutieren lassen. Aber wenn wir uns wiederum die Frage nach damit korrespondierenden Macht- und Herrschaftverhältnissen stellen, ist ›Verantwortung‹ eine individualisierende, gesellschafttheoretisch zu kurz gegriffene Kategorie. Wenn wir uns die Kontroverse zwischen Weisberg und Haraway abschießend nochmals unter der Agency-Perspektive anschauen, dann ist der Fokus der ersten Autorin komplett auf die Verhältnisse gerichtet, die die Agency der nichtmenschlichen Tiere einschränken bzw. komplett verhindern. Die zweite Autorin hingegen sieht aufgrund ihrer New Materialism-Perspektive Agency weniger in den Individuen, sondern in Netzwerken, in denen verschiedene Entitäten an den jeweiligen Prozessen beteiligt sind. Dafür werden die Verhältnisse, welche die Agency der Mäuse, Ratten etc. einschränken, von Haraway weniger beachtet. Beide Positionen treffen nur bestimmte Aspekte der Strukturen in den gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen. Den Human-Animal Studies fällt also die Aufgabe zu, eine macht- und herrschaftssensible und den Subjekt/Objekt-Dualismus reflektierende Theorie tierlicher Agency zu entwickeln.

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Leiblichkeit und tierliche Agency Die Handlungsfähigkeit von Tieren im Kontext von Leiblichkeitskonzepten Karsten Balgar Der phänomenologische Ansatz der Leiblichkeit fokussiert die Gebundenheit des Bewusstseins an den Körper. In diesem Text soll ausgelotet werden, inwiefern das Konzept geeignet ist, eine neue Perspektive auf die Handlungsfähigkeit von Menschen und nichtmenschlichen Tieren in sozialen Gefügen zu eröffnen. In diesem Kontext diskutiert der Artikel einerseits machttheoretische Ansätze zur Ergründung der Sozialität des Subjektes, andererseits existenzialistische Ansätze, die »Zwischenleiblichkeit« als Brücke zwischen Subjekten begreifen und somit neue Perspektiven jenseits der Mensch-Tier-Dichotomie eröffnen.

E inleitung Die moderne okzidentale Wahrnehmung der Natur ist bis heute durch ihre kategoriale Unterscheidung von menschlich-gesellschaftlichen Phänomenen – der Kultur – geprägt. Diese Differenz findet ihre Entsprechung in der epistemischen Gegenüberstellung von Körper und Verstand, von Materie und Geist, die gleichsam die Grenzlinie von Mensch und Tier markiert. Das Konzept der Leiblichkeit fokussiert aus phänomenologischer Perspektive die Gebundenheit des Bewusstseins an den Körper und eröffnet somit eine andere Perspektive auf diese Oppositionen, und – einhergehend – auch auf das Verhältnis von Mensch und nichtmenschlichem Tier. Es stellt gleichsam essenzialisierende Zuschreibungen des Körpers wie die Beliebigkeit der Konstruktion von Materialität und Körperlichkeit, in Frage. In diesem Kontext erscheint es nur folgerichtig, Leiblichkeit als ›Brücke‹ zwischen Menschen und anderen Tieren zu verstehen. Die in diesem Artikel vertretene These lautet, dass Tiere über eine jeweils spezifische Leiblichkeit verfügen, die sie in der Welt verortet und als Horizont der Existenz ihre Wahrnehmungen und Handlungen strukturiert. Es ist von einer sozialisierenden

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Wirkung der Existenz sowohl in menschlichen, tierlichen als auch interspezifischen sozialen Gefügen auszugehen. Einerseits impliziert diese Perspektive zwar eine Uneinholbarkeit des Anderen, in diesem Falle Individuen anderer Spezies, sie zeigt jedoch zugleich Möglichkeiten der Begegnung auf. Bisher wurde Leiblichkeit im Kontext der Human-Animal Studies vor allem im Kontext ethischer Aspekte durch die Möglichkeit des Mitfühlens und die Wahrnehmung der Verletzbarkeit des Tieres als des Anderen thematisiert. In diesem Artikel sollen dagegen die Konsequenzen des Konzeptes der Leiblichkeit für die Grenzen der Spezies, den Begriff der Handlungsmacht und die Möglichkeiten der Überschreitung der Grenzziehungen ausgelotet werden.

L eiblichkeit

und

S ubjek tivität

Im Anschluss an die Begründung des neuzeitlichen Denkens bei René Descartes formierte sich historisch in der okzidentalen Kultur das bis heute wirkungsmächtige Paradigma der Opposition von Geist und Materie (vgl. u. a. Chimaira Arbeitskreis 2011). Diese binäre Opposition fand ihren Ausdruck in weiteren Grenzziehungen, insbesondere dem Auseinanderfallen von Denken und Fühlen, von Individuum und Umwelt, von Subjekt und Objekt, die auch die Epoche der Moderne prägten und noch heute zentrale epistemische Formationen bilden. Der phänomenologische Ansatz der Leiblichkeit fokussiert hingegen die zentrale Bruchstelle dieser Differenzierung, indem die Gebundenheit des Bewusstseins an den Körper untersucht und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen deutlich gemacht werden. Das Konzept der Leiblichkeit wurde in der Philosophie insbesondere von Maurice Merleau-Ponty und Edmund Husserl, in der Soziologie von Alfred Schütz geprägt. Seitdem wurde es in den Sozialwissenschaften und später auch den Cultural Studies rezipiert, konnte sich jedoch nur bedingt als epistemologischer Ansatz durchsetzen. Maurice Merleau-Ponty stellt die Rolle des Leibes als den Ursprung des Weltverhältnisses des Menschen heraus. Geist und Materie werden als Teile einer Instanz begriffen, die weder im einen, noch im anderen aufgeht und beide transzendiert. Die Konsequenzen dieser erkenntnistheoretischen Neupositionierung zwischen Materialismus und Rationalismus sind gravierend. Leibliches Subjekt zu sein impliziert, dass wir als Menschen bereits vor der eigenen Subjektwerdung durch die Eigenschaften unseres Leibes auf die Welt hin ausgerichtet sind (Taylor 1986: 212). Die erfahrene Welt offenbart sich durch die Sinne, die Wahrnehmung und das Bewusstsein. Diese Strukturen sind jedem Einzelnen durch seinen Leib vorgängig; ein Teil unserer selbst steht außerhalb der eigenen oder der Reichweite der Kultur: »Mein Leib ist bereits eine andeutungsweise vorgezeichnete Richtung des Lebens und der Ort des noch

Leiblichkeit und tierliche Agency

nicht Bestimmten« (ebd.). Er ist der Rahmen der entstehenden Identität, sowohl Grenze und Tendenz des Lebens. Er wird »sich auf die Welt verstehend« übernommen (ebd.), er hat eine ihm zueigne Struktur und ist Träger immanenter Bedeutung. Ausrichtung und Disposition des Leibes haben Konsequenzen für uns als bewusste Subjekte. Die Struktur, die uns gegeben ist in unserem Dasein, in und mit unserem Leib, ist für uns als Subjekte konstitutiv. Der Leib begrenzt unsere Erfahrungen und die Wahrnehmung, er fungiert als Horizont, als Bedingung der Möglichkeit. Erst durch diese Einschränkung erlaubt der Leib Erkenntnis und Orientierung in der Welt. Aus den Eigenschaften unseres Leibes leitet sich auch die Beschaffenheit unserer Wahrnehmung ab: Sinnlichkeit ist der erste Zugang zur Welt, aus dem heraus dem entstehenden Bewusstsein erst Inhalte zur Verfügung gestellt werden. Da unser Leib auf die Welt hin geöffnet ist, ist die Wahrnehmung dem Denken und dem Bewusstsein vorgängig und voraus (Taylor 1986: 197). Das Wahrnehmbare stellt ein ›Feld‹ dar, das schon gegliedert und strukturiert ist in der Sinnlichkeit, bevor es in das Bewusstsein gelangt (Günzel/Windgätter 2005: 591). Diese Wahrnehmung ist die von leiblich handelnden Wesen (Taylor 1986: 197), wir erleben, erleiden und erfahren die Welt durch den Leib. Ihre Einwirkung auf uns als Leib ist unhintergehbar, dieser Umstand ist die Prämisse unserer Existenz, die Öffnung unserer selbst auf die Welt hin ist dem zufolge zwangsläufig (ebd.: 204). Durch den Leib ist der Mensch Teil der Welt, er ist Teil der Vorgänge, und wird damit zur Welt der Dinge für Andere: »Der sehende und berührende Leib ist wesentlich ein sichtbarer und berührbarer Leib« (ebd.). Dies führt zum Wechselwirkungsverhältnis von Leib und Körper als Leibkörper: Zum einen ist der Körper ein Objekt unter anderen in der Welt, zum anderen ist der Leib ein tätiges, weltschaffendes Subjekt. (Husserl 1973: 161f) Der menschliche Körper ist zugleich sinnlich wahrnehmbares Objekt der Welt und sinnstiftend aus seiner eigenen Verfasstheit heraus. Die leibhafte Form des Daseins des Menschen führt dazu, dass wir gezwungenermaßen mittels unseres Leibes als handelnde Subjekte in der Welt existieren, dass unsere Existenz unhintergehbar performativ ist. Die Formung des Leibes, die Ausrichtung auf die konkrete, umgebende Welt hin, erlernt der Leib erst im Laufe seiner Existenz, er erfährt eine »Habituation« (Kamper 2001: 81). Die Ausrichtung der Wahrnehmung innerhalb des Rahmens, den der Leib bietet, ist ein zentraler Ansatzpunkt menschlicher Vergesellschaftung, und damit auch gesellschaftlicher Macht- und Epistemstrukturen: Der Leib tritt als ›Möglichkeitswesen‹ in die Welt, er bringt die Fähigkeit und Disposition der sich entwickelnden Wahrnehmung mit, welche unrealisiert bleiben muss in ihrem Überfluss an Möglichkeiten. Sie differenziert sich erst nach und nach im Feld des Sozialen aus, ohne das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu verlassen (Bermes 2004: 76). Habituation ist Folge des Existierens, des In-der-Welt-Seins. In der Welt zu sein ist seinerseits nicht zu

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trennen von der gesellschaftlichen Existenz des Menschen. Erfahrungen setzen sich im Leib fest, sie formen den Leib, eröffnen und schließen Möglichkeiten des Seins und der Wahrnehmung. Zusammengefasst: »Die Genese von Sozialität und die Genese des Selbst sind untrennbar mit dem Körper verbunden« (Fischer 2003: 16). Die Ausprägung des Leibes ist somit zum Teil eine biologisch vorstrukturierte (keineswegs aber determinierte), zum Teil eine sozialisierte. Die jeweilige Ausgestaltung ist sowohl von individuellen wie von gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Daher sind die Leibempfindungen weder intraspeziestisch noch intrakulturell ›gleichgestimmt‹.

M acht

und

H andlungsfähigkeit

Der Begriff der Handlungsfähigkeit im Kontext von Leiblichkeit ist – aufgrund der phänomenologischen Verortung des Ansatzes – eher auf individueller Ebene zu fassen, als dass gesellschaftliche Machtstrukturen analysiert werden könnten. Metastrukturen lassen sich zwar aus der Summe subjektiver Weltverhältnisse und Handlungen ableiten, allerdings leisten andere Theorien an dieser Stelle mehr.1 Judith Butlers Theorie der Psychik der Macht, die gewissermaßen als Ontogenese, als Geschichte des individuellen Körpers auf dem Weg zur Handlungsfähigkeit, gelesen werden kann, verknüpft Individuum und Gesellschaft, und macht so Entstehung, Bedingung und Rahmung gesellschaftlicher Agency deutlich. Im Folgenden wird der Nexus aus Handlungsfähigkeit, Körper und Macht ausgehend von Butlers Arbeiten zu Identität und Psychik herausgestellt, um die Rolle des Körpers im Kontext der Handlungsfähigkeit zu untersuchen. »›Subjektivation‹ bezeichnet den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung.« (Butler 2001:8) Die »zwangsläufige Unterordnung« des Menschen ist Voraussetzung der Subjektbildung, sie ist bei Butler notwendige Bedingung der Existenz (ebd.: 13). Die Möglichkeit der sinnvollen Handlung, Handlungsfähigkeit oder Agency, wird somit erst durch die Unterwerfung in einem (menschlich-)gesellschaftlichen Spannungsfeld aus Zuschreibungen und kommunikativen Verknüpfungen möglich. Ein Ausbleiben der Anerkennung zieht sozialen Ausschluss in einem existentiellen Sinne nach sich. Ihr Begriff, der diesen Umstand beschreibt, der für die »Lebenstüchtigkeit« eines Subjektes steht, ist die »Intelligibilität« (Villa 2000: 141) dessen: seine kommunikative (soziale) Anschlussfähigkeit. Es sind nicht nur eventuelle Nichtanerkennung oder Scham, die als Konsequenzen drohen; es ist die nackte Existenz, die auf dem Spiel steht. 1 | Der Sozialkonstruktivismus Berger und Luckmanns (Berger/Luckmann 2000) wäre hier ebenfalls relevant, kann aber an dieser Stelle nicht elaboriert werden.

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Identität wird durch den performativen Vollzug und die Bestätigung einer (Selbst-)Zuschreibung, die in dem Fall als ein geschlechtliches Handeln und Stilisieren zu verstehen ist, hergestellt. Sie findet sich bei Butler nicht als eine substanzielle, sondern als eine vollzogene. Identität stiftet sich durch die Verinnerlichung von Normen, insbesondere in Form von Rollen. Dies ist die Bedingung für die Handlungsfähigkeit des Subjekts (Butler 2002: 302). Dieser Vollzug ist ein unmittelbar körperlicher und doch symbolischer: Körper sind als Ausgangsmaterial, als Projektionsflächen für Inskriptionen essentiell. Habituation und Verinnerlichung machen aus dem Leib einen sozialisierten. Judith Butler entwirft ein Bild des Körpers als einen spezifischen Aspekt der »Mikrophysik der Macht«, der als Scharnier von Diskurs und Subjekt selbst verstummt und dem Subjekt den Platz überlässt. Der Körper ist bei Judith Butler Zielscheibe der Wirkung der Macht: Anschließend an Michel Foucault betont sie den Aspekt der Disziplinierung und Unterwerfung des Körpers durch die »Seele«, diese »›gibt dem Gefangenen Dasein‹« (Butler 2001: 87). Der Körper kann sich erst materialisieren, insofern er von der Macht be- und eingeschrieben wird (Butler 2001: 88), insofern er zum Subjekt »sublimiert wird« (ebd.): »Das Subjekt erscheint auf Kosten des Körpers, eine Beziehung, die ihre Bedingung in der umgekehrten Beziehung zum Verschwinden des Körpers hat. Das Subjekt nimmt nicht nur tatsächlich den Platz des Körpers ein, sondern handelt auch als die Seele, die den Körper in Gefangenschaft einrahmt und formt« (ebd.).

Das Subjekt ist somit Verwahrung, Einrahmung, Unterordnung und Reglementierung des Körpers. Der Körper ist bei Butler ein dramatischer: Er ist nicht »bloß Materie«, sondern eine Möglichkeit, die sich jeweils vor dem konkreten historisch-kulturellen Hintergrund bereits bestehender Codes materialisiert (Butler 2002: 304). Das tut er kontinuierlich, nicht als mit sich selbst identische Materie, sondern als Verkörperung kultureller Muster. Der Körper ist hier nicht Natur, er wird erst in der Sozialisation konstruiert. Das Wesen des Körpers ist bei Butler dessen Formbarkeit. Nicht aber als ein passiver Empfänger, der mit kulturellen Codes ›beschrieben‹ wird; er sucht sich im Zuge der ermächtigenden Unterwerfung seinen eigenen konstruktiven Weg in die Identität hinein (ebd.:313). Damit wird der Körper zu einer »Art des Tuns, der Dramatisierung und der Reproduktion einer geschichtlichen Situation« (ebd.: 305). Während Butlers Ansatz die Handlungsfähigkeit von körperlichen menschlichen Subjekten beleuchtet, wird der Widerständigkeit des Leibes zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Auflösung des Körpers im Diskurs ist – wie

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im Kontext der Leiblichkeit evident geworden sein sollte – mehr als fraglich.2 Es ist zu vermuten, dass der Leib die »Grenzen des Sozialen« (Lindemann 2002) bildet: Der Leib ist eine Instanz, die sich im Prozess der Sozialisation mit kulturellen Mustern verwebt, er zeigt sich jedoch nicht bedingungslos formbar (Villa 2000: 191). Paula-Irene Villa hebt in diesem Kontext den relativ unzugänglichen Charakter des Leibes hervor und betont, dass der Leib nicht mit dem sozialen Körper gleichzusetzen ist (ebd.). Kulturelle Rollen sind sehr wohl ontologisch kontingent und historisch geformt, doch sie müssen von den Bedingungen der Leiblichkeit des Menschen ausgehen und dort ansetzen. Butler setzt die Diskursfähigkeit des Menschen voraus. Doch die Möglichkeit, einen Leib und Körper zu prägen, ist keineswegs selbstverständlich. In ihrer Beschreibung der diskursiven Formung des Körpers, die sie an die psychoanalytischen Modelle Sigmund Freuds und Jacques Lacans anlehnt, geht sie von anthropologischen Grundannahmen wie Sprachfähigkeit, Wahrnehmungsstrukturen etc. aus.3 Diese Annahmen weist sie jedoch keineswegs aus. Dem wohlbekannten Problem des Strukturalismus und noch des Poststrukturalismus, die Welt als Text und Diskurs verstehen zu wollen, vermag Butler nicht zu entgehen. Die bisherigen Ausführungen dienten dem Zweck, das Verhältnis von Körper und Subjekt zu reflektieren, und vor diesem Hintergrund die Erlangung von Handlungsfähigkeit in sozialen Strukturen zu thematisieren. Dem Ziel, die Bedeutung von Leiblichkeit für die Agency von (nichtmenschlichen) Tieren auszuarbeiten, sind wir allerdings kaum näher gekommen. Ihrem Gründungsparadigma folgend, hat sich die Soziologie – dies gilt für weitgehend alle ›großen‹ Gesellschaftstheorien des 20. Jahrhunderts – auf den Menschen beschränkt: Menschliche Leiblichkeit, menschliche Gesellschaft und menschliche Machtstrukturen sind Gegenstand und somit Horizont der Erkenntnis. Die Aufgabe, diese Theorien und ihre Leistungen in Bezug auf den Zusammenhang von Körperlichkeit und Subjekt, von Macht und Gesellschaft, auf nichtmenschliche Tiere zu erweitern, stellt sich als nicht unerhebliches Forschungsdesiderat dar. So ist die Leiblichkeit von Tieren bisher in soziologischer Literatur kaum thematisiert worden. Zunächst sollte an dieser Stelle die Frage nach der Differenz gestellt werden, die – zumindest implizit – maßgeblich auf der cartesianischen Trennung von Mensch und Tier basiert. Hier wird die These vertreten, 2 | Auch Butlers eigene Perspektive ist nicht völlig konstant, ihre Verwendung des Terminus Körper verändert sich sowohl im Laufe ihres Werkes als auch innerhalb einzelner Abhandlungen. 3 | Beispielsweise bilden der Wille zur Existenz, die Sprachfähigkeit, Wahrnehmung, Intelligenz und körperliche Bedingungen Voraussetzungen, um kulturelle Muster überhaupt realisieren zu können.

Leiblichkeit und tierliche Agency

dass es sich nicht um eine totale, sondern vielmehr um eine graduelle Differenz handelt. Somit wäre zu unterstellen, dass Tiere über eine jeweils spezifische Leiblichkeit verfügen, die sie in der Welt verortet und als Horizont der Existenz ihre Wahrnehmungen und Handlungen strukturiert. Auch hier kann von einer sozialisierenden Wirkung der Existenz und menschlicher, tierlicher und interspezifischer sozialer Gefüge ausgegangen werden, die jeweils an anderen spezifischen Modalitäten der Leiber der involvierten Individuen ansetzen. Während die Annahme der Existenz einer tierlichen Leiblichkeit evident erscheint, verhält es sich mit der Übertragung von Butlers Theorie der Psychik der Macht auf Tiere schwieriger. Inwiefern andere Spezies in gesellschaftlichen Feldern Macht durch Intelligibilität erlangen können, wurde in Ansätzen untersucht – die Ratte als ›Co-Worker‹ im Labor ist nur ein Beispiel für diesen Umstand (Haraway 2008). Auch Tiere können in einem Spannungsfeld, dessen Machtstrukturen größtenteils an menschlichen Kategorien orientiert sind, eine Form der Handlungsfähigkeit und somit einen bedingten Subjektstatus erlangen. Jedoch wurden der Faktor der Macht und die Bedingungen der Leiblichkeit beteiligter Lebewesen nur unzureichend reflektiert. Dies führt zu einer Absenz von ethischen Maßstäben, die sich sowohl an der Zurichtung der Leiblichkeit der Lebewesen als auch an der Struktur der Machtdistribution orientieren könnten.

B egegnung

durch

L eiblichkeit

Die (je) spezifische Leiblichkeit anderer Lebewesen ist für uns als Menschen uneinholbar und führt zu einem notwendigen Nichtverstehen zwischen Spezies. Dieses Nichtverstehen gilt allerdings auch für soziale Gefüge von Menschen: Die niemals deckungsgleiche Leiblichkeit von Individuen einer Spezies führt auch hier zu unterschiedlichen Horizonten und Bedingungen. Darüber hinaus bietet sie aber auch die Möglichkeit, jenseits sozialisierter Muster Verstehen zu ermöglichen. Dies betrifft nicht nur ethische Aspekte durch die Möglichkeit des Mitfühlens und die Wahrnehmung der Verletzbarkeit des Tieres als des Anderen, sondern auch die Möglichkeit des begrenzten Verstehens durch leibliche Parallelen. Zwischenleiblichkeit wird von Bernhard Waldenfels als Sphäre zwischen »Eigenleib« und »Fremdleib« beschrieben (vgl. Waldenfels 2000: 287). Damit lenkt Waldenfels die Aufmerksamkeit vom Subjekt und vom Individuum weg auf die notwendige intersubjektive Leiblichkeit sozialer Prozesse. Dieses Konzept lässt sich mit dem der Atmosphäre von Martin Heidegger und – darauf aufbauend – Gernot Böhme erweitern. Letzteres beinhaltet darüber hinaus, dass Begegnungen Stimmungen erzeugen können, die zwischen Subjektivitäten aufgrund ihrer leiblichen Konstituiertheit temporäre gemeinsame Wahr-

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nehmung und somit letztendlich bedingtes Verständnis schaffen: Subjekt und Objekt befinden sich in dieser Realität nicht in Opposition zueinander, sondern treten in ein Wechselverhältnis, in dem sie tendenziell ihre Subjektivität überschreiten. Atmosphären sind somit »weder Zustände des Subjekts noch Eigenschaften des Objekts« (Böhme 2001: 54). Gleichwohl werden sie durch die Subjektivität des Wahrnehmenden in ihrem Charakter mitbestimmt und im Zusammenspiel mit Eigenschaften der Objekte erzeugt. Sie sind also etwas zwischen Subjekt und Objekt, »sie sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst« (ebd.). Das atmosphärische Spüren impliziert in der Gegenwart der Wahrnehmung zweier Pole: Das »Ich« und »das Ding«, Subjekt und Objekt (ebd.: 74), die in einen gekoppelten Zustand eintreten. Somit ist dieser Zustand auch die Erfahrung einer »Ko-Präsenz« (ebd.). Atmosphären besitzen zwei Komponenten: Der spürende Leib als subjektiver Pol, und die Erzeugenden von Atmosphären, welche den Objektpol bilden (Böhme 2006: 123). In der Atmosphäre realisiert sich ein neuer, gemeinsamer Zustand von Subjekt und Objekt, ein »Kopplungszustand« (Böhme 2001: 56). In der Atmosphäre wird der Antagonismus von Subjekt und Objekt aufgehoben, sie ist ein relationales Ereignis. Der Leib tritt als Medium auf. Atmosphären als ergossene Stimmungen sind als solche räumlich ergossen; ihre Wahrnehmung ist eine leibliche (ebd.: 122f), pathische. Es lässt sich vermuten – und im Alltag beobachten –, dass diese Form der Atmosphären auch zwischen Spezies möglich ist. Die leibliche Interaktion zwischen Mensch und Tier wurde beispielsweise als »clever bodies«, als intelligente und intelligible Interaktion von Leibern untersucht. So etwa bei dem Pferd »Kluger Hans« und dem umgebenden Publikum: Das »Zählen« des Pferdes wurde keineswegs durch dessen Fähigkeit dazu, sondern vielmehr durch die Interpretation der Gesten des Publikums durch »Hans« als kollektive interspezifische soziale Handlung ermöglicht (Despret 2004: 112ff, vgl. auch Kurth 2013). Subjekt und Objekt lösen sich in einer performativen Situation, die sich durch leibliche Interaktion in Atmosphären ergibt, auf. Diese Situation schreibt gleichzeitig neue Subjektivität und Handlungsmacht zu und destabilisiert bestehende soziale Wirklichkeiten. Die Destabilisierung der Wiederholung, der iterativen Prozesse der Subjektivation, führen zu einer graduellen Veränderung der Subjektrolle des (individuellen) Pferdes und des umgebenden Publikums. Da dieser Bruch, diese Differenz zur Alltagserfahrung und dem Alltagsverständnis der umgebenden Menschen punktuell bleibt, vermag sie aber das Machtgefüge nicht langfristig zu verändern, da sie die Struktur der performativen Akte nicht dauerhaft verändert. Aus den gemachten Aussagen lassen sich Schlussfolgerungen für tierliche Agency ziehen: Tiere besitzen qua ihrer Leiblichkeit die Möglichkeit der Handlungsfähigkeit, die subjektiv und quasi-sozial ist. Mit – und gegen – Butler ist zu argumentieren, dass die Zurichtung des tierlichen Körpers, etwa bei

Leiblichkeit und tierliche Agency

sogenannten Nutztieren, im Spannungsfeld der menschlichen Gesellschaft durch iterative Handlungen zwar ausgerichtet wird und sie eine Form der Handlungsfähigkeit erhalten, diese aber nur sehr eingeschränkt auf die Leiblichkeit von nichtmenschlichen Tieren angepasst ist. Der hieraus erwachsende Subjektstatus verbleibt immer unzureichend, um die Möglichkeiten des individuellen Tieres ansatzweise einzuholen. Das gegenwärtige Machtgefälle in fast allen Mensch-Tier-Interaktionen beschränkt die Möglichkeit des Tieres, über die menschlich-sozial definierten funktionalen Zuschreibungen hinaus intelligibel zu handeln, und somit selbst mehr als nur marginale Macht zur Verschiebung des Gefüges zu erreichen. Das verwobene interspezifische soziale Gefüge, dass durch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse zwangsläufig einen Teil der menschlichen Gesellschaft bildet, wird gegenwärtig weitgehend durch eine ›rationalisierte‹, technisierte Ausbeutungsstrategie dominiert. Die Leiblichkeit vieler ›Nutz‹-Tiere wurde auf einen funktional zu befriedigenden Teil reduziert, der als Minimalschnittstelle das Verständnis des ›Nutz‹-Tieres als des Anderen performativ festschreibt. Anders verhält es sich bei ›Haus‹-Tieren, deren Ko-Präsenz, deren leibliche Gegenwart durchaus wahrgenommen wird und zu einem ›Mitsein‹, einem gemeinsamen atmosphärischen Spannungsraum zwischen Spezies führt, der Subjekte transzendiert und erneut werden lässt. Donna Haraway bezieht sich in diesen Fällen auf die Macht der Berührung, die Verantwortlichkeit und Nahbarkeit schafft (Haraway 2008: 36f). Die beständige Wiederholung und Evolution dieser Interaktion zwischen Individuen unterschiedlicher Spezies führt, wenn sie als dauerhaft vollzogene Handlung die soziale Realität und somit die Wirklichkeit der Individuen wird, zu einer anderen Form des Mitseins bzw. der gemeinsamen »Ko-Evolution« (Haraway 2003), das zunehmend Momente beider involvierter Partner umfassen kann. Eine iterative Reproduktion von Rollen ist somit nicht lediglich eine Reproduktion mit Abweichungen, sie birgt zugleich das Potenzial der Überschreitung, das Potenzial der Schaffung einer anderen, erweiterten und beschränkteren Realität zugleich. Die Uneinholbarkeit jeweiliger individueller tierlicher Wahrnehmung erschwert die Möglichkeit einer besseren Anpassung menschlicher gesellschaftlicher Strukturen an die Bedürfnisse von Tieren, da sie wenig offensichtlich erscheinen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Bedürfnisse sich nicht – graduell – in interspezifischen Begegnungen offenbaren können, und dies die Prozesse zwangsläufig formt. In welchem Ausmaß und unter welchem Primat das geschieht, ist hingegen eine Frage der Definition durch herrschende Machtstrukturen, nicht der grundsätzlichen Möglichkeit der Intelligibilität. Während diese Strukturen ein Mindestmaß an Widerständigkeit im Rahmen der Leiblichkeit nicht ignorieren können, bestimmen sie doch, inwieweit sich Individuen im sozialen Gefüge artikulieren und durchsetzen können. An die-

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ser Stelle lässt sich Haraways Formulierung des »becoming with animals« aufgreifen (Haraway 2008), die eben diesen Auf bau eines interspezifischen sozialen Gefüges beschreibt. Haraway interpretiert dies als »Überwindung des Anthropomorphismus durch das Lernen, wie man in einer post-menschlichen Umgebung lebt« (Beaulieu 2011: 80, Übersetzung K. B.). Was bleibt, ist eine Form der Transzendenz der Zuschreibungen in leiblicher Begegnung, die von vielen Menschen im Alltag – beispielsweise mit ihren sogenannten Haustieren – erfahren wird. Veränderungen können in diesem Kontext durch performative Wiederholungen der Handlung und damit einer Verschiebung der Diskurse erreicht werden. Dies jedoch verlangt eine grundsätzliche Nahbarkeit und Auseinandersetzung in wiederholten leiblichen Begegnungen.

J enseits

des

M enschseins

Die Idee der Überschreitung der Grenzen zwischen Spezies, die über die der Begegnung hinausgeht, ist mit dem Glücksversprechen der abendländischen Kultur tief verwoben: Bereits Sigmund Freud bezeichnet die Sublimation von Trieben gewissermaßen als einen nötigen ›Gewaltakt‹, um die nun anderweitig kanalisierte Libido als Triebfeder der Kultur nutzbar zu machen (Freud 1994). Das ›Animalische‹ in der Natur wurde – wie beispielsweise Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Auf klärung beschreiben (Horkheimer/Adorno 1997) – abgetrennt von den rationalen Momenten der Kultur. Damit wurde aber auch ein Teil des Menschen abgetrennt, der zunehmend gesellschaftlich durchdrungen und diszipliniert wurde. Ohne die rationalisierende Verschiebung gleiche – so Freud – der Mensch eher dem Tier, doch diese Bekämpfung des ›Anderen‹ im Inneren des Menschen, zu dessen Sinnbild die leibliche Erfahrung wurde, marginalisierte historisch tendenziell sowohl das leibliche wie auch das sinnliche Element des menschlichen Daseins. Die Entkopplung des animalischen vom rationalen Wesen des Menschen hinterlässt eine offene Stelle, in welcher die Ästhetik ihre Heimat findet: Hier ist die Überschreitung der Grenze zwischen Rationalität und Emotionalität nicht nur erlaubt, sondern zur Kunst erhoben. Giorgio Agamben schlägt demgegenüber einen anderen Weg vor, im Zuge dessen Ästhetik sich in der Alltagserfahrung auflösen würde: »Der Mensch war […] stets das Resultat einer Teilung und zugleich einer Gliederung des Animalischen und Humanen, wobei einer der beiden Begriffe jeweils auf dem Spiel stand. Die herrschende Maschine unserer Konzeption des Menschen abzuschalten, bedeutet also nicht, nach neuen, effizienten und authentischeren Verbindungen zu suchen, als vielmehr, die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel zu

Leiblichkeit und tierliche Agency setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tiers als auch des Menschen.« (Agamben 2003: 100)

Dementsprechend ist Glück als solches dem von Demarkationslinien durchzogenen Menschen vorbehalten, während dem menschlichen Tier die Zufriedenheit bleibt (ebd.). Ästhetik, so ließe sich unterstellen, trifft an diesem Punkt auf ihre Bestimmung: Sie verkörpert das Glück, das aus der Erfahrbarmachung des verdrängten, bekämpften ›Anderen‹ innerhalb des Menschen resultiert. Dieser Horizont ist es, den die Überschreitung der Grenzen der Spezies anrührt, diese zentrale Linie im Inneren dessen, was heute als menschliche Identität verstanden wird. Allerdings ist zu unterstellen, dass das »becoming with animals« niemals zu einem »becoming animals« werden kann, da dies aufgrund der Leiblichkeit nicht möglich ist. Vielmehr kann das Wesen dieses »becoming with« nur in einer Hybridität liegen, einem hybrid-interspezifischen dauerhaften sozialen Gefüge, das das Sein beider Seiten reflektiert und doch beide in seiner Gesamtheit transzendiert. Derart würde es nicht hybride Leiber, sondern hybride Subjekte erzeugen.

L iter atur Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beaulieu, Alain (2011): »The Status of Animality in Deleuze’s Thought«, in: Journal for Critical Animal Studies, Volume IX, Issue 1/2, 2011. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer. Böhme, Gernot (2001): Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Wilhelm Fink Verlag. Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre. München: Wilhelm Fink Verlag. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2002): »Performative Akte und Geschlechterkonstitution«, in: Wirth (Hg.): Performanz – Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.301-320. Bermes, Christian (2004): Maurice Merleau-Ponty. Hamburg: Junius. Chimaira Arbeitskreis (2011): »Eine Einführung in gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Human-Animal Studies«, in: Chimaria Arbeitskreis, Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld: Transkript, S.7-42.

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Despret, Vinciane (2004), »The Body we care for: Figures of Anthropo-zoo-genesis«, in: Akrich, M/Berg, M (Hg.): Body and Society. Special Issue on Bodies on Trial, Vol. 10 (2-3). London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage, S.111-134. Fischer, Wolfram (2003): »Körper und Zwischenleiblichkeit«, in: ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung (Themenheft Körperdiskurse), 1/2003. Freud, Sigmund (1994): Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer. Günzel, Stephan/Windgätter, Christof (2005): »Leib/Raum: Das Unbewusste bei Maurice Merleau-Ponty«, in: Buchholz/Gödde (Hg.): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen, Anschlüsse, Bd.2 Gießen, S.585-616. Haraway, Donna (2003): The Companion Species Manifesto. Chicago: Prickly Paradigm Press. Haraway, Donna (2008): When Species Meet. Minneapolis: University of Minnesota Press. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor Wiesengrund (1997): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Husserl, Edmund (1973): »Ding und Raum«, in: Claesges, Husserliana, Bd.16, Den Haag. Kamper, Dietmar (2001): »Körper«, in: Barck/Fontius/Schlensdedt/Steinwachs/Wolfzettel (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Band 5. Stuttgart/Weimar, S.426-450. Kurth, Markus (2013): Jenseits des Gestaltwandels. Agencements, Tier-Werden und affektive Transformationen. In: Tierstudien 4/2013, S. 115-126. Lindemann, Gesa (2002): Die Grenzen des Sozialen. München: Wilhelm Fink Verlag. Taylor, Charles (1986): »Leibliches Handeln«, in: Métraux/Waldenfels (Hg.): Leibhafte Vernunft. München: Wilhelm Fink Verlag. S.194-217. Villa, Paula-Irene (2000): Sexy Bodies. Opladen: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren als Ausdruck von und Herausforderung für problematische Konzeptionen tierlicher Agency Katharina Dornenzweig

Dieser Beitrag untersucht wissenschaftliche Versuche nichtmenschlichen Tieren menschliche Sprachen beizubringen (v. a. die Experimente von Fouts, Gardner, Miles, Patterson, Pepperberg, Premack, Rumbaugh, Savage-Rumbaugh und Terrace) und die darin sichtbar werdenden Mensch-Tier-Verhältnisse mit Hinblick auf die Frage nach tierlicher Agency. Ich vertrete hierbei die These, dass diese Experimente eine Wende zu einem hier begriff lich entwickelten ›neuen Anthropozentrismus‹ ebenso wie eine methodische wie moralische Herausforderung für wissenschaftliche Objektivität darstellen und zeige innerhalb dieser Experimente widerständige tierliche Praxis, die tierliche Transformation der vorgelegten sprachlichen Mittel und die Möglichkeit der Begegnung mit tierlichen Subjekten und Welten auf. Anhand dieser wird im Fazit diskutiert, ob und wie Agency im engen, anspruchsvollen Sinne bei tierlichen Individuen gedacht und begriff lich angemessen gefasst werden kann, ohne die Probleme eines traditionellen, anthropozentrischen Agency-Begriffes zu reproduzieren. »Daß ferner der Mensch in weit höherem Maße als die Bienen und alle anderen herdenweise lebenden Tiere ein politisches Lebewesen ist, liegt klar zutage. […] Der Mensch ist […] das einzige Lebewesen, das Sprache (lógos) besitzt […] dazu bestimmt, das Nützliche und Schädliche deutlich kundzutun, und also auch das Gerechte (díkaion) und Ungerechte (ádikon).« Aristoteles 1994: 47

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Katharina Dornenzweig »Washoe sorry.« Die Schimpansin Washoe (Terrace 1980: 12)

E inleitung Tiersprachexperimente sind für die Agency-Debatte gleich in mehrerer Hinsicht interessant. Vorläufer des modernen Agency-Begriffes – wie der anspruchsvollere und problematischere Freiheitsbegriff – wurden und werden oftmals implizit oder explizit mit dem logos verknüpft: Um frei zu sein, brauchte jemand Personenstatus, Intentionen und Bewusstsein, und diese seien ohne Sprache entweder nicht möglich, oder zumindest nicht nachweisbar (vgl. Pettit 2007). An den Grenzen der Sprache wurden so die Grenzen zwischen den freien Menschen auf der einen Seite und ›den Anderen‹, nämlich den unfreien restlichen Tieren auf der gegenüberliegenden Seite gezogen; man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Anthropologozentrismus (vgl. Chimaira 2011: 13). So erkannte eine breite Tradition bekannter Philosophen von Aristoteles, Thomas Hobbes, René Descartes und Immanuel Kant bis hin zu Martin Heidegger nichtmenschlichen Tieren ab, in ihren Artikulationen Sprachliches zu äußern, machte daran ihren unüberwindbaren Unterschied zum Menschen fest, und begründete damit ihre Unterdrückung (vgl. Chimaira 2011: 9 f.). Auch wenn man Agency spezifisch als politischen Begriff liest 1, verknüpft er sich schließlich wieder mit dem Konzept des logos: Wie oben im Leitzitat bereits angedeutet, fällt mit der mangelnden Befähigung zur Sprache laut Aristoteles beim nichtmenschlichen Tier die Befähigung, als politisches Wesen zu agieren. Auch zeitgenössische Philosophen (vgl. Pettit 2010: 256) postulieren einen Zusammenhang zwischen grammatischer Sprache einerseits und Intentionalität, bewusstem Abwägen aus der Meta-Perspektive und kollektiver Agency andererseits. Die Verknüpfung zwischen der sprachlichen Befähigung eines Individuums einerseits und der Tatsache, dass dessen politische Beteiligung als überhaupt möglich und darüber hinaus auch als wünschenswert angesehen wird andererseits, ist an anderer Stelle bereits fundiert hinterfragt worden 2 , hält 1 | Vgl. hierzu den Beitrag von Mieke Roscher in diesem Band. 2 | Dagegen, Rechte an kognitive Fähigkeiten zu knüpfen, argumentiert der Pathozentrismus bereits seit Jeremy Bentham mit dem bekannten Zitat »The question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?« (Bentham 1823: 236.). Eine ausführlichere moderne Darlegung dieses Argumentes, mit der so medial wirk-

Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren

sich im öffentlichen Diskurs aber hartnäckig. Um mit dieser Verknüpfung nichtmenschliche Tiere als (politische) Akteur_innen auszuschließen, werden dann noch zwei weitere, zumeist nicht explizierte Prämissen benötigt: 1.) Was nichtmenschliche Tiere unter sich an Artikulationen betreiben, ist keine Sprache; und 2.) ›richtige‹, d. h. hier mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit: menschliche Sprache können nichtmenschliche Tiere nicht erlernen. Dieser Beitrag wird das Augenmerk auf eine Kritik der zweite Prämisse legen, aber ich möchte zumindest darauf hinweisen, dass die erste Prämisse ebenfalls nicht mehr haltbar ist.3 Die zweite Prämisse anzugreifen ist insofern für uns interessanter, als die dafür benötigten Tiersprachexperimente mit Hinblick auf Agency und Mensch-Tier-Verhältnisse für diesen Band mehr zu bieten haben. Beispiel: Die Annahme, dass nichtmenschliche Tiere ›natürlich‹ nie menschliche Sprachen erlernen können schien intuitiv so offensichtlich, dass man jahrhundertelang gar nicht auf die Idee kam, dies nachzuprüfen – bei Papageien, die offenbar in der Lage sind, menschliche Laute nachzuahmen, ist etwa nahezu sprichwörtlich, dass sie ohne Verständnis sinnlos daherplappern; bei diesem festgefahrenen Tierbild scheint eine Widerlegung so unsinnig, dass das Unterfangen undenkbar wird. Umso ironischer ist es, dass gerade die Sprachexperimente mit Papageien von solch einem Erfolg gekrönt waren – es stellte sich heraus, dass Papageien laut addieren, Gegenstände in Form, Material und Farbe beschreiben und miteinander vergleichen konnten – und nicht nur Cracker wünschen oder ablehnen, sondern mehr als 150 unterschiedliche Gegenstände (vgl. Pepperberg 2012: 297). Es ist merkwürdig, dass sich das Tier-Mensch-Verhältnis so verschieben konnte, dass es zunächst denkmöglich sam gewordenen These, dass das Verhalten, Schimpansen Rechte vorzuenthalten, die wir intellektuell ebenbürtigen schwer behinderten Menschen niemals nehmen würden entweder innerlich widersprüchlich oder schlicht speziesistisch ist (Singer 2009: 16), findet sich in Peter Singers Animal Liberation (vgl. Singer 2009: 1-23). Der Frage, wie nichtmenschliche Akteur_innen trotz kognitiver und sprachlicher Barrieren erfolgreich und sinnvoll und dennoch nicht paternalistisch in den politischen Prozess eingebunden werdent können, haben sich Sue Donaldson und Will Kymlicka jüngst mit ihrem Band Zoopolis gewidmet. 3 | Kritikansätze sind hier nebst dem Transfer allgemeinerer soziolinguistischer Überlegungen zur normativen Disqualifizierung und Konstruktion von Minderwertigkeit der funktional eigentlich äquivalenten Sprachen oder Dialekte fremder Gruppen, wie sie etwa von William Labov bereits in den 1960ern vorgenommen wurde, auch analoge empirische Forschungen zu einzelnen Tiersprachen (z. B. zu individuellen und erlernten Namen, die Delphine tragen – vgl. King/Janik 2013) oder das Scheitern von Versuchen, die nachweisen sollten, dass Schimpansen ohne Menschensprachausbildung einander weniger Informationen vermitteln können als mit (vgl. Experimente von Menzel (1975), beispielweise in der Analyse von Breuer 1982: 98-104.)

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wurde, nichtmenschlichen Tieren menschliches Sprechen beizubringen, und schließlich sogar so naheliegend, dass es in den 60er und 70er Jahren nahezu zu einem Hype kam. Die Analyse dieser Tatsache und der damit einhergehenden Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Tierbild, in dem nichtmenschlichen Tiere – wie ich behaupten werde – als Halbmenschen gefasst werden, findet sich in Abschnitt II. Weiterhin ergeben sich Herausforderungen für das Mensch-Tier-Verhältnis, die für die Human-Animal Studies von Interesse sind, dadurch, ein nichtmenschliches Tier im Rahmen eines objektiven, wissenschaftlichen Experiments in ein menschliches Sprachsystem einzuführen. Die Paradoxien und methodischen sowie ethischen Probleme, die sich stellen, wenn nichtmenschliche Entitäten in einem objektifizierenden Rahmen mit sprachlichen Möglichkeiten zur Darstellung ihrer Subjektivität in Berührung gebracht werden, möchte ich anhand diverser Fallbeispiele herausarbeiten (siehe Abschnitt III). Und schließlich ist auch beachtlich, in welchem Maße in diesen Experimenten tierliche Agency in einem sehr konkreten und eigenen Sinn erlebbar wird; wie die tierlichen Akteur_innen, auch gerade mit den sprachlichen Mitteln, die ihnen an die Hand geliefert werden, aneignend und kreativ umgehen, Widerstand zeigen und die Experimente wieder und wieder verändern. In Abschnitt IV möchte ich zunächst ein Panorama dieses Widerstandes aufwerfen. In meinem Fazit werde ich dann die Frage stellen, in welchem Sinne und Ausmaß nichtmenschlichen Tieren in diesen Situationen Agency zugesprochen werden kann, und weiterhin ob und wie man sich anhand dieser Experimente einem Entwurf genuin tierlicher Agency nähern könnte. So soll ein begrifflicher und theoretischer Rahmen für die vorher geschilderten Interaktionen entwickelt werden.

Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren

Ü bersicht

über die hier diskutierten

E xperimente

Tabelle 1: Übersicht über die hier diskutierten Experimente Leitung des Forschungsprojekts

Dauer des Spezies der Projekts Proband_innen

Namen prominenter Proband_innen

Kommunikatives Medium

Allen & Bea- 1966-ff. trix Gardner/ Roger Fouts

Gemeiner Schimpanse

Washoe, Loulis

Gebärdensprache

David Premack

1967-87

Gemeiner Schimpanse

Sarah

Plastikchips

Duane Rumbaugh

1972-ff.

Gemeiner Schimpanse

Lana

Computergestütztes Keyboard

Francine Patterson

1972-ff.

Westlicher Flachlandgorilla

Koko, Michael

Gebärdensprache

Herbert Terrace

1973-77

Gemeiner Schimpanse

Nim Chimpsky

Gebärdensprache

Sue SavageRumbaugh

1975-ff.

Gemeiner Schimpanse & Bonobo

Kanzi Panbanisha

Computergestütztes Keyboard

Irene Pepperberg

1977-ff.

Graupapagei

Alex, Griffin

Vokalisierung

Lyn Miles

1978-86

Borneo-Sumatra-OrangUtan-Hybrid

Chantek

Gebärdensprache

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D er

neue A nthropozentrismus : die schlechteren M enschen

Tiere

sind

»Brainy Parrots Can Think Like Four-Year-Olds« Schlagzeile von Live Science (Pappas 2011)

In Chimaira (2011) sowie Kurth (2011) wurde ein initial von Horkheimer/ Adorno (1969: 262) diagnostiziertes Menschen- und Tierbild analysiert, in dem beide durch einen unüberwindbaren Abgrund getrennt werden, in dem der logos des Menschen der bloßen phone der Tiere gegenübersteht (vgl. Aristoteles 1994: 47) und folglich die Artikulationen der nichtmenschlichen Tiere, so komplex sie etwa im Falle von Singvögeln auch sein mögen, nicht als Rede, sondern lediglich als »Lärm« (Rancière 2002: 41) wahrgenommen werden. Ich möchte diese Perspektive hier als den ›alten Anthropozentrismus‹4 bezeichnen, innerhalb dessen ein sprechendes Tier so undenkbar ist, dass eine Aufnahme des Gespräches gar nicht erst eintritt. Die Welle der Tiersprachexperimente in den 1970ern markiert dagegen – so behaupte ich hier – die Wende in den vermeintlich progressiven ›neuen Antropozentrismus‹. In diesem wird die Welt immer noch vom Menschen aus begriffen, aber das Menschenbild selbst ist nicht mehr klar umrissen, es wird an den Rändern diffuser. Auch hier werden andere Tiere vom Menschen her (miss-)verstanden; sie sind nun allerdings nicht mehr Gegenpol, sondern bemitleidenswerte Halbwesen, und dienen auch in dieser Rolle noch als Kontrastfolie. Der neue Anthropozentrismus ist charakterisiert durch ein Fehlverständnis der im öffentlichen Diskurs heute sehr präsenten und dadurch oftmals vollkommen fehlrepräsentierten darwinschen Evolutionstheorie. In diesem Verständnis werden Menschen als von den anderen Tieren nicht mehr absolut, sondern nur noch graduell unterschieden begriffen (schließlich teilen sie ja, wie inzwischen Allgemeinbildung, nahezu all ihre DNA mit ihren ›nächsten Verwandten‹, den Menschenaffen – dass Menschen selbst zu den Menschenaffen zählen, wird dabei zumeist vergessen). Diese Unterschiede werden allerdings normativ aufgeladen. Der Mensch ist im neuen Anthropozentrismus so zwar Teil der Natur, jedoch der 4 | Der Begriff ›Anthropozentrismus‹ hat zwei Dimensionen; die erkenntnistheoretische (die Welt wird nach menschlichen Maßstäben und Werten beurteilt, von einer menschlichen Perspektive) und die moralische (der Mensch wird als wichtigste Entität im Universum gesehen, Interessen andere Lebewesen werden ihm untergeordnet) (vgl. Chimaira 2011: 20). Hier spreche ich v. a. von der ersten; die zweite schwingt jedoch immer mit, und wird gerade am Ende des Kapitels wichtiger werden.

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vollkommenste. Die anderen Tiere werden nicht verstanden als verwandte Wesen, die andere, aber an sich gleichberechtigte Pfade gegangen sind, sondern vom menschlichen Standpunkt aus als ›Vorfahren‹. Diese Vorfahren haben ihre evolutive Entwicklung hin zum Menschen unerklärlich abgebrochen, existieren weiter als lebendige Fossilien und können nun in Zoos als Anschauungsmaterial dafür dienen, wie die ›Vorläufer‹ des Menschen gestaltet waren (und kurioserweise immer noch gestaltet sind). Insofern andere Primaten nun also als Halbmenschen verstanden werden, ist es in diesem vermeintlich progressiven Tierverständnis plötzlich auch naheliegend, dass sie auch eine rudimentäre Halbsprache erlernen können: Es ist so dann möglich, menschliche Maßstäbe an Tiere anzulegen, und sie auf befriedigende Weise dabei schlechter abschneiden zu lassen. Dass nichtmenschliche Tiere hier nun als potentielle Sprecher_innen gesehen werden, ändert nichts am anthropozentrischen Schema. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass der primäre Ansatz ist, ›den Tieren‹ ›das Sprechen‹ beizubringen, anstatt deren Sprache zu erlernen; aktuell ist so der Stand, dass nichtmenschliche Tiere menschliche Sprachsysteme besser beherrschen als Menschen umgekehrt nichtmenschliche Sprachsysteme.5 Außerdem herrscht eine unverhüllte Instrumentalisierung für den Menschen vor – man bringt explizit nichtmenschlichen Tieren Sprachen oder Interaktionsweisen bei oder analysiert ihre eigenen, um die »Ursprünge der menschlichen Kommunikation« (Tomasello 2011) zu begreifen. Der menschliche Blick stand den Sprachexperimenten dabei ursprünglich so sehr im Weg, dass sie vollkommen scheiterten. Als Keith und Catherine Hayes versuchten, der Schimpansin Viki das Sprechen beizubringen, und diese nach langem und aufwendigem Training – wenn sie gleichzeitig mit ihren Händen ihren Mund manipulierte – mühsam und in einem kaum verständlichen Schimpansenakzent die Wörter ›mama‹, ›papa‹, ›up‹ und ›cup‹ herausbrachte, war das Fazit, dass Schimpansen die kognitiven Fähigkeiten zum Sprechen schlicht fehlten. Dabei war das Problem lediglich das allzu menschliche Medium: Schimpansen ist menschliche Lautbildung anatomisch gleich aus mehreren Gründen 5 | So können wir uns etwa erschließen, dass sich in der hier (vgl. Video_2) zu hörenden Sequenz zwei Delfine darüber verständigen, wie mit dem – menschlich codierten und von den Delfinen offenbar verstandenen – Befehl ›zeigt gemeinsam koordiniert ein neues Kunststück‹ umzugehen ist – denn kurz darauf führen sie exakt gleichzeitig exakt das gleiche neue Kunststück vor. Doch trotz diesem Wissen ist aktuell noch unklar, was die einzelnen Pfeiflaute bedeuten, und Entschlüsselungsversuche von natürlicher Delfinkommunikation – etwa in den Forschungen von Denise Herzing – kommen nur sehr schleppend voran. Umgekehrt gilt, dass der Papagei Alex nach Einschätzung von Pepperberg die Gespräche der Forscher_innen untereinander über ihn sehr wohl versteht (vgl. Pepperberg 2007).

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kaum möglich (vgl. Falk 1975). Die Interpretation des Schweigens oder der schwer verständlichen Laute der Schimpansens als Zeichen von mangelnder Intelligenz erinnert somit an den herablassenden Umgang mit gehörlosen Menschen oder Menschen mit Sprachproblemen, der sich noch in der englischen Phrase ›deaf and dumb‹ widerspiegelt, in der sich die Bedeutungen ›stumm‹ und ›intellektuell eingeschränkt‹ überlagern. Als Allen und Beatrix Gardner stattdessen versuchten, einer Schimpansin Gebärdensprache beizubringen, sah die Situation dementsprechend anders aus. Auch hier handelt es sich noch um ein menschliches und den Proband_innen damit vollkommen fremdes Sprachsystem (so ist das Wort für ›Affe‹ in Amerikanischer Zeichensprache etwa eine stereotype Geste des Kratzens unter den Armen mit beiden Händen, in der sich ein Affe keineswegs wiederfinden dürfte), aber die Sprachvermittlung gelang. Die diversen Experimente seitdem nutzen so weiterhin erfolgreich – mit Ausnahme der Papageienexperimente – keine Vokalisierung, sondern v. a. Zeichensprache, teils aber auch andere Kommunikationsformen wie Magnetsymbole an Tafeln oder ein Computerinterface. Mit all diesen Methoden war es möglich, bei Schimpansen, Gorillas, Bonobos und Orang-Utans einen beeindruckenden produktiven Wortschatz (teils deutlich mehr als 250 regelmäßig, angemessen und spontan produzierte Wörter bei einem Individuum) zu erlangen; das Verständnis der Tiere liegt offenbar um ein Vielfaches höher. Der anthropozentrische Maßstab bezieht sich hierbei allerdings nicht nur darauf, dass das Medium weiterhin ein menschliches bleibt, sondern auch darauf, wie Erfolge gemessen und quantifiziert werden. Dies entpuppt sich vor Allem auch als US-zentrischer Anthropologozentrismus: So ist es Nachweis für die Sprachbegabung und Intelligenz des Papageien Alex, dass er im Dezimalsystem zählen und rechnen, nach englischsprachigem Farbsystem kategorisieren, die Relationen ›same‹ und ›different‹ sowie ›bigger‹ und ›smaller‹ nutzen, und schließlich sogar die Frage, welche Farbe die größere Zahl habe, wenn ihm eine kleine rote Ziffer 6 und eine große grüne Ziffer 4 präsentiert wird, korrekt mit ›red!‹ beantworten kann; ihm wird so schließlich großzügig die Intelligenz eines vierjährigen menschlichen Kleinkindes attestiert (vgl. Pappas 2011). Diese unreflektiert fremden Maßstäbe – nach denen die ›Anderen‹ einerseits nach eigenem Maß fassbar und quantifizierbar, und gleichzeitig in einem beruhigenden Abstand nach unten gehalten werden – erinnern hier teils an die erfreute Erkenntnis, dass andere ›Völker‹ in euro-amerikanischen IQ-Tests überwiegend schlechter abschneiden als Europäer_innen oder Amerikaner_innen. Hier zeigt sich ein unkritisches Aufzwingen menschlicher Werte, das teils fast skurrile Auswüchse annimmt: Die Schimpansin Viki begegnet uns in Videos in einem Kleid; die Gorilladame Koko wird einerseits ausgeschimpft, wenn sie im Umgang mit anderen Gorillas typisches Rangverhalten zeigt und

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beißt und andererseits aufgefordert, sich zu schminken (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 66 f./32-34); zu Washoes Zwei-Wort-Kombinationen zählt »dirty monkey« (Terrace 1980: 12); von der Erziehung des Schimpansen Nim beschreibt Terrace »At breakfast, as well as other meals, Nim was expected to sit in a high chair, to eat with a spoon, and to wipe both his face and the high chair when finished.« (Terrace 1980: 50 f.), dem Orang-Utan Chantek wird sogar der Umgang mit Geld beigebracht, bis er schließlich Haushaltstätigkeiten gegen kleine Silberplättchen übernimmt, die er dann später bei McDonald’s für Snacks eintauschen darf (vgl. The Ape That Went To College, Minute 22-25). Das menschliche Verhalten, das von den Proband_innen erwartet wird, kontrastiert dabei scharf mit dem hohen Elektrozaun (vgl. The Ape That Went To College, Minute 28) um Chanteks ›Zuhause‹ und der Leine, die Koko außer Haus angelegt bekommt (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 12). Die dennoch durchweg präsente Anthropomorphisierung führt hier zu einer neuen und besonders gewaltsamen Form der Enttierlichung (vgl. Noske 2008: 40) – aber anders als in der Form der Objektifizierung im tierindustriellen Komplex, die Barbara Noske beschreibt, werden die nichtmenschlichen Tiere hier vermenschlicht, bis sie in ihrer eigenen Identität verstört und angegriffen werden. Besonders deutlich ist dies, wenn die Proband_innen nach vielen Jahren unter Menschen schließlich auf Artgenossen stoßen (typischerweise, wenn die Experimente beendet und die Proband_innen in Zoos oder klassische Tierversuchslaboratorien abgeschoben werden) und diese in mehreren Fällen nicht als Angehörige der eigenen Spezies erkennen. Beispielhaft ist hier die Reaktion von Washoe, die die anderen Schimpansen angeekelt als »black bugs« bezeichnete (und dabei wiederum den Ekel ihrer menschlichen Bezugspersonen vor ›Ungeziefer‹ spiegelte), und zutiefst schockiert war, als sie begriff, dass sie selbst zu diesen befremdlichen Wesen gehörte (vgl. Fouts/Fouts 1993: 28). Der Versuch, die Versuchstiere menschlich, aber nicht allzumenschlich zu sehen, führt oft zu paradoxem Verhalten und Sprechen auf Seiten der Forscher_innen und Medien. So scheint es fast, dass die Tiere in diesem teils skurril anmutenden Prozedere zwangsläufig verfehlt werden müssen. Dennoch ergeben sich in diesen Experimenten neue Zugänge zu tierlichen Individuen und tierlicher Agency: In ihrer Menschenähnlichkeit erfahren und verstehen wir die tierlichen Proband_innen auf neue Weise als handelnde Akteur_innen – und wenn sie sich der anthropomorphen Überformung widersetzen, zeigen sie darin Eigenes. Und so problematisch ein vermenschlichender Zugang zu den Tieren auch scheint, so sind die Alternativen, die uns in den Experimenten begegnen, in ihrer Objektifizierung auch aus moralischer wie wissenschaftlicher Perspektive kaum weniger problematisch. Von diesen Problemen handelt das nächste Kapitel.

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D as Par adoxon des antwortenden V ersuchsobjek ts : V om V erhandeln › harter F ak ten ‹ und der H er ausforderung für wissenschaftliche O bjek tivität und M e thodik »We are waiting to see how far they can respond like people, while treating them in a way in which people could not possibly be treated.« Midgley 1980: 230

Wer wissenschaftlich erforscht, ob nichtmenschliche Tiere wie Menschen sprechen können, und ernsthaft in Erwägung zieht, dass die Antwort ›teils ja‹ sein könnte, begibt sich in eine paradoxe und aus ethischer wie methodischer Sicht problematische Situation: Sofern das Experiment erfolgreich ist, wird es – moralisch, und wie wir sehen werden, auch praktisch – unmöglich. Denn hat man ein sprachfähiges Subjekt gefunden, so wird das bisherige einem Subjekt unwürdige Experiment fragwürdig; und nimmt man es als Subjekt ernst, entzieht es sich zudem als kontrolliert gehaltenes Forschungsobjekt; dies wird endgültig deutlich, wenn die Proband_innen nach Abschluss des Sprachexperiments wieder in Käfigen landen oder sogar für klassischere Tierversuche weitergereicht werden, und die erlernte Sprache nutzen, um dies anzuklagen.6 Das erfolgreiche Vermitteln einer Sprache erfordert gerade die genuine, soziale, gleichberechtigte Interaktion, die mit wissenschaftlicher Distanz nur schwer kombinierbar ist. So verdeutlichen der experimentelle Auf bau und die Interaktionen zwischen Forscher_innen und Proband_innen verschiedene problematische Mensch-Tier-Verhältnisse, und dubiose Tierbilder werden da-

6 | Nim Chimpsky bat in dem pharmakologischen Versuchslabor Mitarbeiter_innen, ihn zu umarmen (vgl. Project Nim, Minute 76), und der Versuch von Tierschützer_in­ nen, ihn vor Gericht herauszuklagen und dort als sprechenden Zeugen anzuhören führte schließlich dazu, dass das Versuchslabor ihn freigab. Der Orang-Utan Chantek endete nach Ende seiner Versuchsreihe zunächst jahrelang isoliert von anderen Lebewesen in einem 5x5m-Käfig in Yerkes und schließlich in einem Zoo. Chantek bat aus seiner Isolationshaft um einen »car ride out« (vgl. The Ape That Went To College, Minute 33). Nachdem die tierlichen Proband_innen also jahrelang Cookies und Eiscreme bekommen (vgl. Terrace 1980: 284 & 286), aufgefordert werden, mit Kinderspielzeug zu spielen (vgl. Terrace 1980: 53) und in ein menschliches (Sprach-)Verhalten gedrängt werden, ergibt sich schließlich doch wieder eine erschreckende Kontinuität zu klassischen Experimenten, wenn spätestens nach Projektende wieder Gitterstäbe und Spritzen auftauchen.

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rin sichtbar – und durch tierliches Verhalten immer wieder gebrochen. Diese Gedanken möchte ich an einigen praktischen Beispielen ausführen. Die naheliegendste Art, einem Schimpansenkind menschliche Sprache beizubringen (und somit auch die Weise, wie es bei dem ersten Experiment mit Washoe durchgeführt wurde), ist es, genauso wie bei einem menschlichen Kind vorzugehen – angesichts der Tatsache, dass wir uns auf Gebärdensprache konzentrieren wollen, wie mit einem gehörlosen Kind. In diesem Fall wächst das Schimpansenkind in einer menschlichen Familie auf, in Immersion in ein sprachliches Umfeld. In seiner Umgebung wird permanent in Zeichensprache gesprochen. Soziale Bezugspersonen, denen das Schimpansenkind vertraut und die ihm aufmerksam zuhören, sprechen dabei aktiv mit ihm – sie kommentieren, was sie gerade tun, sie zeigen Gegenstände und Bilder vor und formen die Hände des Kindes zu den dazugehörigen Zeichen, sie lassen es spielerisch lernen, sie beobachten das Kind und reagieren erfreut auf Brabbelgesten, versuchen sie zu deuten, auf sie zu antworten und ihnen entsprechend zu handeln. Das Kind erlebt, dass auf sein Sprechen mit Freude und Zuneigung reagiert wird, dass es ihm ermöglicht, sich selbst auszudrücken und seine Umwelt zu verändern, es wird als Subjekt, das etwas zu sagen hat, wahrgenommen und erfährt sein Sprechen in seiner Wirkmacht. Dies resultiert in einem Schimpansenkind, das Sprache eigenständig, alltäglich, kreativ und nicht nur instrumentell einsetzt – das nicht nur nach Bananen fragt, sondern erzählt, was es gerade sieht, und Wörter neu kombiniert. Dies ist jedoch aus wissenschaftlicher Sicht in vielerlei Hinsicht zutiefst problematisch. Die Wissenschaftler_innen, die eine innige Beziehung zum Versuchstier auf bauen, sind nicht mehr neutral; sie gleichen bald Eltern, die auch in den unsinnigsten Geräuschen ihrer Schützlinge sinnvolle Äußerungen erkennen und eine Bedeutung hineinlesen, die objektiv nicht gegeben scheint. Dies ist umso mehr der Fall, wenn sie die Proband_innen selbst Wörter erfinden lassen und Transferanwendungen zulassen, und Sprechen prinzipiell mit Freude aufnehmen, auch wenn die Sätze offenbare Fehler enthalten. All dies ähnelt natürlichem Sprachverhalten, ermöglicht den Proband_innen eine kreativere Nutzung der Sprache und führt so zu höherer Motivation und zu Proband_innen, die viel mehr sprechen – aber auch dazu, dass ihr Sprechen für außen stehende Wissenschaftler_innen kaum noch von sinnbefreiten Wortketten zu unterscheiden ist. Besonders deutlich ist dieses Problem bei der Forscherin Patterson, die in der Antwort des Gorillas Michael auf die Frage, was mit seiner Mutter geschehen sei - »Squash meat gorilla. Mouth tooth. Cry sharp-noise loud. Bad think-trouble look-face. Cut/neck lip (girl) hole.« die Aussage sieht, dass diese von Wilderern für Bushmeat umgebracht worden sei. Andererseits scheint dieses empathische Einlassen auf das Gegenüber und das Zuhören auch notwendig, um wirkliche Kommunikation zu ermöglichen:

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Auch Menschen beim initialen Spracherwerb werden schließlich anfangs ausschließlich von ihren wohlwollenden nächsten Bezugspersonen verstanden, und entwickeln erst so eine allgemein verständliche Sprache. Zudem verstehen auch sehr vielen Zuhörer_innen, die sich auf die tierlichen Sprecher_innen einlassen, Ähnliches, was wieder einen gewissen Grad an Objektivität herstellt. So sind die meisten Betrachter_innen dieses online frei verfügbaren Videos (Quellenverzeichnis: Video_3), in dem Koko auf die Nachricht vom Tod einer Katze, die bei ihr wohnte, reagiert, ungeachtet der kitschigen Begleitmusik sehr betroffen und einheitlich der festen Überzeugung, dass ihnen gerade ein Gorilla mitgeteilt hat, wie sehr sie der Tod eines geliebten Freundes erschüttert – auch wenn die geäußerte Zeichenkette schlicht notiert (»Bad – sad – bad; frown – cry – frown«) objektiv auch sehr viele andere Deutungen zulässt. Tatsächlich zu sehen, wie ein Gorilla, der eben noch aufmerksam in die Kamera schaute nun vorbei ins Leere blickt, dann immer schneller gestikuliert und sich schließlich Tränen ins Gesicht zeichnet scheint Menschen auf eine Weise zu berühren, die für sie ausschließt, gerade die bedeutungslos-mechanischen Bewegungen eines gefühlslosen Dinges betrachtet zu haben. Indem eben diese Ebene der Berührung zwischen zwei fühlenden Wesen aus der wissenschaftlichen Dokumentation entfernt wird, wird möglicherweise die Frage, ob die Proband_innen gerade erfolgreich kommuniziert haben unentscheidbar. Dadurch, dass die Wissenschaftler_innen frei und natürlich und v. a. direkt mit den Proband_innen interagieren, sind auch Tür und Tor geöffnet für unbeabsichtliche Beeinflussung und Hilfe (siehe ›Kluger-Hans-Effekt‹7). Evtl. raten Proband_innen etwa nur zaghaft Zeichen, schließen dann aus der Reaktion ihrer Gegenüber, ob es die richtigen waren, und machen sie dann deutlicher und wiederholt. Um dies auszuschließen, werden die Proband_innen nach ihrer alltagssprachlichen Sozialisierung teils in ein klassisches Testsetting über7 | Der kluge Hans war ein Pferd im frühen 20. Jahrhundert, dessen Halter der festen Auffassung war, dass das Tier rechnen und komplexe Fragen beantworten könne, die es in Hufschlägen kodiere. Eine genauere Untersuchung ergab jedoch, dass das Pferd nur Fragen korrekt beantworten konnte, deren Antwort die fragende Person ebenfalls kannte, und auch dies nur, wenn es die Person sehen konnte – allerdings unabhängig davon, welche Person fragte (und auch wenn die Person selbst sicher war, nichts ›vorzusagen‹). So kam man zum Schluss, dass die fragenden Personen ihr Wissen unbeabsichtigt mit dem Pferd teilten – Signale körperlicher Anspannung bedeuteten ein Warten bis zum richtigen Hufschlag, und schlugen dann um in Erleichterung, wenn er erreicht wurde, und so lernte das Pferd im Wesentlichen, so oft mit dem Huf auf den Boden zu schlagen, bis das Gegenüber damit glücklich war – dafür war keinerlei verbales Sprachverständnis notwendig (wenn auch offenbar schon ein signifikantes Maß an Empathie auf Seiten des Pferdes).

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führt, in dem plötzlich kein natürliches Gespräch stattfindet, sondern klausurartig Fragen gestellt werden; ihre Rückfragen werden nun ignoriert und ihr fröhliches Plappern wird plötzlich als störend empfunden. Dies resultiert oftmals in verstörten Tieren, die in den Tests ›versagen‹. Ist damit gezeigt, dass ihre vorherigen Aussagen Tricksereien waren und dass nichtmenschliche Tiere für die Fragen doch nicht die nötige Intelligenz besitzen? Mary Midgley schlägt eine andere Interpretation vor: »What [the test subjects] do here is by no means stupid, and they may well think of the unresponsive humans as stupid or mulish [...] When everything is geared to experimental purity, what is going on is bound to become unintelligable to the animal, which is expecting a normal personal approach, and has grounds for doing so, since it is in general treated with friendship. The fact that it is puzzled and flounders when this friendship suddenly gives way to something mysterious does not show stupidity – quite the opposite. A child would do the same.« (Midgley 1980: 230)

Doch verlässt man das Testzimmer wieder zugunsten des viel besser funktionierenden, komplexeren Sprechverhaltens draußen mutet den Erfolgen dort das Anrüchige des Anekdotischen an. So wird von Washoe erzählt, dass sie auf einem Spaziergang auf die Frage »what’s that?« als auf einen Schwan gedeutet wurde »water bird« gesagt haben soll. Doch hiervon gibt es keine Videoaufnahme; sie hat die Wortkette nicht reproduzierbar und eigenständig für die Bilder diverser Wasservögel genannt, und vor den Bildern nicht im Wasser lebender Vögel unterlassen – aus strikt wissenschaftlicher Sicht ist es somit eine süße Geschichte, die in ihrer Bedeutung unklar bleibt. Vielleicht hat Washoe schließlich nur sagen wollen ›Da ist Wasser. Und ach, da ist auch noch ein Vogel.‹ (vgl. Kritik von Terrace 1980: 13). Auch dass die Gorilladame Koko Vergangenes referenziert, Notlügen erfindet und sich selbst in Filmen identifiziert ist überwiegend aus solchen anekdotischen Erzählungen von Patterson bekannt. Um diese Probleme zu umgehen, wurde ein anderer Ansatz entwickelt, um nichtmenschlichen Tieren das Sprechen beizubringen. Pionier war hier David Premack mit seiner bekanntesten Probandin Sarah. Statt Zeichensprache wurde hier ein Sprachsystem aus Plastikchips benutzt, dessen Gebrauch für die nichtmenschlichen Tiere zwar viel weniger intuitiv war, aber die Interpretation und Dokumentation des Gesprochenen stark erleicherte. Auch die Methode ist hier eine ganz andere und erinnert eher an klassische Konditionierung: Sarah erhielt einen arbiträr gestalteten Plastikchip, der ab jetzt eine bestimmte Bedeutung haben sollte (etwa ein blaues Dreieck, das fortan für ›Apfel‹ stand), und erhielt einen Apfel, wenn sie den Chip auf das Sprachboard vor sich legte. Später erhielt sie dann mehrere Chips, und bekam den Apfel nur, wenn sie – wie ursprünglich gezeigt – gerade das blaue Dreieck für die Ablage aus-

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wählte. Bald darauf bekam sie den Apfel nur noch, wenn sie das blaue Dreieck mit einem Sanduhrsymbol kombinierte, das für ›give‹ stand, und auch dies nur, wenn sie die korrekte Reihenfolge einhielt. Schließlich bekam Sarah einen eigenen Chip um den Hals gehängt und musste eine Kopie davon dazulegen, um den Satz ›give apple Sarah‹ zu produzieren. Wählte sie am Ende des ›Satzes‹ einen anderen Chip aus, den ein anderes Schimpansenmädchen um den Hals trug, erhielt diese den Apfel; um diese frustrierende Erfahrung zu vermeiden, lernte Sarah also zügig, den richtigen Namen am Ende auszuwählen. Auf diese Weise wurden ihr Schritt für Schritt auch der Einsatz von Symbolplättchen beigebracht, die für abstraktere Konzepte, wie ›same‹, ›different‹, ›color-of‹ und ›name-of‹ stehen sollten. Dieses Prinzip wurde von Duane Rumbaugh noch verfeinert; nun kam statt Plastikchips ein Computerinterface zum Einsatz, was die Dokumentation noch weiter erleichterte und außerdem die Möglichkeit eröffnete, menschliche Beeinflussung gänzlich auszuschalten, da die Proband_innen ohne Menschen direkt mit dem Computer interagierten. Ansonsten blieb das Prinzip das gleiche: Die Probandin Lana bekam die erwünschten Belohnungen – angesichts der sozialen Isolation v. a., gestreichelt zu werden, oder aus dem Fenster zu schauen – nur, wenn sie die Regeln der fiktiven Sprache, die ihr beigebracht wurde, einhielt – z. B. den Forderungen, die sie in die Maschine eintippte (wie z. B. ›give window‹) die Worte ›machine please‹ voran stellte. So ließen sich in der Tat perfekt reproduzierbare Ergebnisse produzieren. Doch in vielen Punkten, die uns interessieren, gleicht das Verhalten von Sarah und Lana nicht dem Sprachverhalten, das wir gesucht haben; sie sprechen nicht in Abwesenheit von Aufforderung und Belohnung, ihre Antworten sind mechanisch und vorhersagbar. Es ist sogar zunächst vollkommen unklar, ob Lana überhaupt versteht, was sie sagt. Begreift sie etwa, was die Wörter ›machine‹ und ›please‹ heißen, über die Tatsache hinaus, dass man sie an den Satzanfang stellen muss, um die ersehnten Belohnungen zu erhalten? Ein Behaviorist_innen können hier darauf hinweisen, dass sich das Verhalten von Sarah und Lana problemlos und einfach als Konditionierung erklären lässt ohne die fragwürdige Zusatzannahme von Sprachverständnis, und dass uns das Sparsamkeitsprinzip8 folglich genau diese Erklärung gebietet. Dass die Proband_innen das genutzte Sprachsystem verstehen, bleibt also unbewiesen, und darf mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht angenommen werden, solange der Versuchsauf bau beim antrainierten Skript bleibt, das sie auch unverständig konditioniert herunterrattern könnten. Interessant ist also die Frage, was geschehen würde, wenn die Versuchsleiter_innen das Skript 8 | Auch ›Prinzip der Parsimonie‹ oder ›Ockhams Rasiermesser‹ genannt: Eine wissenschaftliche Daumenregel – gibt es zwei vollständige Erklärungen für ein Phänomen, und eine davon benötigt eine geringere Anzahl an Hypothesen, so ist diese vorzuziehen.

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verlassen und sich ungewohnt verhalten würden. Hier ein Beispiel für genau so eine Interaktion: »Tim had entered the anteroom with a bowl of monkey chow. Lana had asked that it be loaded into the machine; however, the conditions of the tests required for Tim not to comply, to load cabbage for vending instead, and to declare that chow (which she had requested) was in the machine. [...] Lana: ? You (Tim) put chow in machine. (5 times) Tim: (lying) Chow in machine. (In response to each of the 5 requests.) Lana: ? Chow in machine. Tim: (still lying) Yes. Lana: No chow in machine. (which was true) Tim: ? What in machine. (repeat once) Lana: Cabbage in machine. (which was true) Tim: Yes cabbage in machine. Lana: ? You move cabbage out-of machine. Tim: Yes. (whereupon he removed the cabbage and put in the monkey chow.) Lana: Please machine give piece of chow. (Repeatedly until all was obtained.)« (Rumbaugh/Gill 1976: 575)

Hier hat es in der Tat den Anschein, dass Lana versteht, was gesprochen wird. Doch die Kritiker_innen hören dennoch nicht auf zu wiederholen, dass auf Seiten der Schimpansen keinerlei Verständnis nachgewiesen sei: »In each case of purported sentence comprehension on the part of Washoe, Sarah and Lana, it seems possible that simpler strategies enabled the chimpanzee to solve the problem at hand without understanding all the symbols of the instruction or the relationships between those symbols that an English-speaking observer would normally infer.« (Terrace 1980: 19); auch wenn die Erklärungen, wie dann diese Gespräche dennoch zustande kommen, schließlich so komplex werden, dass sie das so hochgehaltene Sparsamkeitsprinzip verletzen. Nimmt man die Einwände dagegen zusammen, dass in einer dieser beiden Herangehensweisen tierliches Sprachverständnis nachweisbar wird, stellt man fest, dass die Anforderungen so widersprüchlich sind, dass die tierlichen Individuen in diesem Rahmen kein Sprachverhalten attestiert bekommen, ganz unabhängig davon, was sie tun. Reproduzieren sie in einem Laborsetting verlässlich die vorher festgelegten richtigen Antworten auf Fragen, gelten sie als konditioniert und somit unverständig; weichen sie davon ab, sind ihre Antworten falsch, und sie sind somit ebenso unverständig; und dies obwohl gerade an anscheinenden Fehlern – aus Langeweile oder Protest, als Manipulationsversuch, als Ausdruck interessanter Missverständnisse oder eines anderen Weltbildes – tierliche Agency und tierliches Sprachvermögen so deutlich

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werden (siehe hierzu Abschnitt IV). Unsere Forderung nach reproduzierbarem individuell-originellem Verhalten scheint nahezu paradox: Ein antwortendes Subjekt, das pünktlich für die Messung von sich aus frei spricht, lässt sich offenbar nicht ohne Weiteres herstellen. Und so wird in diesen Experimenten besonders deutlich, dass hier nicht harte Fakten objektiv beobachtet und neutral beschrieben und schließlich behutsam interpretiert werden, sondern unsere Fragestellungen und Rahmen bestimmte Subjekte und Handlungen überhaupt erst ermöglichen – oder unmöglich machen. In der Deutung der so hergestellen ›Fakten‹ sind schließlich nahezu konträre Narrative möglich, und die Sprachfähigkeiten der nichtmenschlichen Tiere werden erbittert verhandelt. Dies möchte ich anhand der Kontroverse um die Versuche von Herbert Terrace an Nim Chimpsky illustrieren. Ein Blick auf Wortschatzlisten oder die Dokumentation kreativer, spontaner Äußerungen lässt zunächst die Deutung zu, dass Nim Chimpsky im Vergleich zu anderen Proband_innen wie etwa Washoe eine deutlich geringere Sprachkompetenz erworben hat. Kritiker_innen führen dies u. a. darauf zurück, dass Nim im Gegensatz zu Washoe von häufig wechselnden Bezugspersonen (Terrace selbst spricht in diesem Rahmen von 60 verschiedenen Lehren, vgl. Terrace 1980: ix) mit unterschiedlichen Unterrichtskonzepten in einem sozial kalten und anderer Hinsicht9 ungeeigneten Versuchszimmer trainiert wurde, und dabei keine stabilen, vertrauensvollen Beziehungen zu den Forscher_innen auf bauen konnte. Dafür spricht etwa das oftmals ängstliche, abhängige und gestörte Sozialverhalten von Nim, die Tatsache, dass er seine Sprachkenntnisse oftmals viel freier, häufiger und kreativer außerhalb des Testzimmers und mit Personen, die nicht direkt zum Forschungsteam gehörten, einsetzte, und der mit der Zeit immer aggressivere Umgang mit Menschen, der oftmals Krankenhausbesuche notwendig machte und schließlich in einem tödlichen Angriff auf einen Hund resultierte. Der Umgang mit diesem Verhalten, den Terrace selbst beschreibt, dokumentiert wiederum interne Streitereien und 9 | Terrace selbst beschreibt dieses wie folgt: »Nim’s nursery school contained nothing familiar. The rooms were small and without windows or furniture. The walls, which were made of concrete cinder blocks, were completely bare. [...] The slightest noise caused him to hoot and leap into the arms of his teacher. At times Nim was so scared that he tried to hide unter his teacher’s skirt. Unfortunately, sounds across the classroom were quite plentiful and hard to control. Behind one wall was the rat room of the psychology department’s vivarium. The rats often sqealed when they were taken out of their cages. Almost every day, the rats’ high-pitched sqeals evoked momentary panic in Nim. He would stare in the direction of the sound as though trying to figure out what could have produced it, or he would rock back and forth on the floor. When he stopped rocking, he would frequently have lost interest in what he was doing before he started.« (Terrace 1980: 50)

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kontroverse Methoden, die möglicherweise ebenfalls zu Problemen beim Spracherwerb beigetragen haben könnten: »Rational discussions of these issues at our meetings were few and far between. [...] One of the teachers, who had apparently been institutionalized some years back, equated my suggestion of using a cattle prod [ein Elektroschocker, der industriell v. a. zum Treiben von Stieren eingesetzt wird] with electric shock therapy. After many discussions, I persuaded the group to adopt an eclectic policy. Intentional biting, scratching, hitting, breaking, and so on were considered to be unacceptable behavior that had to be punished accordingly. All teachers were asked to confront Nim and provide some kind of punishment for such actions. Those teachers who wanted to join Carol in using the time-out box were free to do so on an experimental basis. Other teachers were encouraged to punish Nim in the manner with which they felt most comfortable.« (vgl. Terrace: 59f.)

Terrace selbst dagegen argumentierte, dass seine Forschungen die einzigen seien, die mit wissenschaftlicher Methodik einen objektiven, unverschleierten Blick auf die Sprachfähigkeiten von Schimpansen werfen würden – und dass die im Vergleich eher kümmerlichen Ergebnisse von Nim kein Scheitern in seinem Lehrkonzept dokumentieren würden, sondern die Unfähigkeit von Schimpansen, Sprache zu lernen, und die Unfähigkeit der Forscher_innen in anderen Studien, dies einzusehen. Er wandelte damit ein vorgeblich misslungenes Experiment in einen Triumph um und erhielt erhebliche und langanhaltende mediale Aufmerksamkeit. Dafür war es notwendig, sogar die eher geringen Sprachfähigkeiten von Nim als Täuschung zu entlarven. Zwar beherrschte Nim auch laut Terrace bereits 125 Wörter (vgl. ebd.: 290), bevor das offizielle Experiment abgebrochen wurde (und es gibt zumindest anekdotische Hinweise darauf, dass Nim danach noch weitere Wörter erlernt hat, u. a. ›stone‹) und es kam auch laut Terrace zu solchen gesprächsartigen Interaktionen: »Nim: ›Bird there.‹ Laura Petitto: ›Who there?‹ Nim: ›Bird.› (pause; looks in her direction) ›Bug, flower there.‹ Laura Petitto: ›Yes, many things see.‹ Nim: (rolls over on ground) ›You tickle me.‹ Laura Petitto: ›Where?‹ Nim: ›Here.‹ (pointing to leg) Laura Petitto: (after tickling) ›Now you tickle me.‹ Nim: (tickles [Laura Petitto] [...]) ›Me tickle Laura.‹« (Terrace 1980: 3)

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Terrace erklärte jedoch, für Sprache sei die korrekte Anwendung von einzelnen Wörtern nicht hinreichend, sondern Grammatik notwendig, sodass bei einer willkürlichen Wortreihenfolge noch nicht von Sprache zu sprechen sei. Problematisch an diesem Einwand war, dass Terrace selbst bereits dokumentiert und nachgewiesen hatte, dass eine Analyse von 20.000 Äußerungen von Nim deutliche Präferenzen in der Wortreihenfolge und damit grammatikalische Sensibilität demonstrierte (vgl. Terrace 2011). So zog sich Terrace schließlich auf die Aussage zurück, dass die Angemessenheit von Nims Antworten – ebenso wie die von Washoe und anderen Proband_innen – durchweg darauf zurückzuführen sei, dass die Forscher_innen die erwünschten Zeichen vorher unabsichtlich andeuten würden: Die Experimente seien schlicht eine moderne Wiederholung des vorhin bereits erwähnten klugen Hans (vgl. Terrace 2011). Den Eindruck, dass unabsichtliche Hilfestellungen durch die Wissenschaftler_innen erklären könnten, dass Nim sein Vokabular von 125 Zeichen angemessen und in der richtigen Reihenfolge einsetzte, teilen viele der Personen, die mit Nim interagierten (wie Chris O’Sullivan and Carey Yeager) nicht, und ihm ist auch von kritischer Rezensent_innen mit starken Gegenargumenten widersprochen worden.10 Doch dies ändert nichts daran, dass die Sprachfähigkeiten von nichtmenschlichen Tieren wie Nim bis heute kontrovers diskursiv verhandelt werden, und sich Terrace in diesem Rahmen weiterhin als Verkünder einer unbequemen Wahrheit profilieren kann, der von seiner wissenschaftlichen Redlichkeit gezwungen wurde, die Sprachbefähigung von nichtmenschlichen Tieren als große Täuschung zu entlarven. Dies wurde und wird medial begeistert aufgenommen, und überschattete bald die zahlenmäßig klar überlegenen Forschungsprojekte, die beanspruchten, Sprachbegabung bei nichtmenschlichen Tieren nachgewiesen zu haben, sodass diesen anderen Forschungen die Finanzierung, die Publikationsmöglichkeiten und der wissenschaftliche Respekt entzogen wurden, was – in Kombination mit dem Tod

10 | Singer (2011) weist beispielsweise darauf hin, dass spätere Experimente solche Beeinflussung als alleinige Erklärung methodisch vollkommen ausschließen durch 1) das räumliche Trennen von Proband_in und Leiter_in und die Interaktion durch Elektronik (etwa in den Experimenten von Savage-Rumbaugh an Kanzi), 2) das Beantworten von Fragen, deren Antwort den anwesenden Forscher_innen unbekannt waren, sowie 3) die Observation, dass die nichtmenschlichen Sprecher_innen die Sprachen auch in Abwesenheit von Menschen untereinander nutzten und sich gegenseitig beibrachten (u. A. Washoe Loulie). Auch ausführliche Analysen von gefilmten Interaktionen zwischen Bonobos und Menschen, etwa die Analysen von Janni Pedersen und William Fields von Wiederholungen in Unterhaltungen zwischen Savage-Rumbaugh und Panbanisha, kommen zum Schluss, dass Panbanisha eine kompetente Gesprächspartnerin ist (vgl. Pedersen/Fields 2009).

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einiger prominenter Proband_innen – mit dazu beitrug, dass seit diesem Zeitpunkt kaum neue Projekte aufgetaucht sind, viele der alten Projekte eingestellt wurden, und die noch laufenden kaum noch in prestigeträchtigen Zeitschriften publizieren können. Dies hat wiederum viele Wissenschaftler_innen, u. a. Penny Patterson offenbar dazu bewegt, sich für Finanzierung und Publikation an Pop-Medien zu wenden und ihre Probandin Koko öffentlichkeitswirksam im Gespräch mit Hollywoodstars auf youtube, in Marketingartikeln wie z. B. Kinderbüchern mit Titeln wie »Koko-love!« und auf Privatsendern zu platzieren. Dadurch wird einerseits der Vorwurf des Sensationalismus noch bedrohlicher, andererseits aber auch der Diskurs über die tierlichen Sprachakte in den öffentlichen Raum gezogen. Das gesellschaftliche Verhandeln der Bedeutung und Interpretation der Sprache der nichtmenschlichen Tiere tritt hier klar zutage.

V on W iderstand , Tr ansformation und B egegnung : W enn tierliche A gency greifbar wird »[S]uddenly there breaks forth evidence that yonder also, minute by minute, life is being lived: somewhere behind those eyes, behind those gestures [...] another private world shows through.« Merleau-Ponty 1968: 10 f.

Im letzten Kapitel wurde bereits thematisiert, dass der Schimpanse Nim gegen die Forscher_innen ein vermehrt aggressives Verhalten zeigte, das von diesen auch schlussendlich nie unter Kontrolle gebracht wurde. Solche Verhaltensweisen – Beißen, Lärmen, Ausbruchsversuche – sind jedoch bereits aus konventionelleren Experimenten bekannt. Somit möchte ich mich im Folgenden auf die ungewöhnlicheren Formen des Widerstandes konzentrieren, die im besonderen Rahmen der Tiersprachexperimente begegnen. Diese reichen weit über die naheliegende Möglichkeit hinaus, direkten Protest gegen die Experimente auszudrücken; insofern die Proband_innen schnell lernen, dass bloße Beschwerden ohnehin nicht zum Abbruch des Experimentes führen, sondern als kindliches Meckern abgetan werden11, entwickeln sie bald überraschende 11 | Schon Bishop (2009: 211) bemerkt, dass die neurologisch typischen, in ihren Leistungen (über-)durchschnittlichen, erwachsenen tierlichen Proband_innen überraschend häufig explizit und implizit mit behinderten und unausgewachsenen Menschen verglichen werden. Mit dieser Verkindlichung und Verniedlichung verbindet sich ein

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und eigentümliche Wege, die ihnen an die Hand gegebenen neuen Mittel zu vereinnahmen und damit ihren Handlungspielraum auf eigentümliche Weise zu erweitern. So ist Nim beispielsweise dafür bekannt, dass er mehrfach in Experimenten in Zeichensprache erklärte, dringend auf Toilette zu müssen, was zu einem sofortigen Abbruch führte, um das Versuchszimmer vor Schmutz ganzes beschwichtigendes Narrativ, um den widerständigen und allzu menschlichen Handlungen der tierlichen Proband_innen das Verstörende und Fordernde zu nehmen. Entwaffnend wirkt hier v. a. Humor: So ist es eine bekannte lustige Anekdote, dass Koko, nachdem sie ein Waschbecken aus der Wand gerissen hatte, auf die Frage, wer dies gewesen sei, mit Bezug auf das kleine Kätzchen, das bei ihr wohnte gesagt haben soll »Cat did it.« (vgl. Bundrant 2013 – man beachte den amüsierten, ins-Lächerliche-ziehenden und gleichzeitig beruhigend abgrenzende Ton im ganzen Artikel). Über das Amüsement darüber, wie süß und durchschaubar Koko hier lügt wird nicht bemerkt, dass der Gorilla offenbar wütend und aggressiv genug wurde, um ein Waschbecken aus der Wand zu reißen. In der Dokumentation Koko: A Talking Gorilla finden sich ähnliche Momente: Nachdem Koko mit Patterson ein Bilderbuch über Zootiere in Käfigen betrachtet, will sie eine Pause haben und sich hinlegen; dann signalisiert sie »cry« (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 49); später wird sie immer aggressiver, man sieht sie schließlich Buchrücken und Pappkarton zerreißen und mit Papier um sich werfen (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 52-54). Von Patterson wird dies nicht als Kritik oder widerständiges Verhalten, sondern als sinnloser kindlicher Wutanfall dargestellt, für den sich Koko entschuldigen muss. Falls Koko sich nicht wieder benimmt, droht Patterson »spankings« an (Koko: A Talking Gorilla, Minute 53) eine euphemistische und damit gewaltverschleiernde Formulierung für körperliche Züchtigung durch Schläge auf das Gesäß, die überwiegend aus der Gewalt gegen Kinder bekannt ist. Patterson erklärt hierzu »There are days when Koko is cranky« (in etwa: mies gelaunt, schräg drauf, knatschig) (Koko: A Talking Gorilla, Minute 55). Auch Irene Pepperberg geht mit dem Papageien Alex oft um wie mit einem quengelnden Kind statt wie mit einem autonomen Wesen, welches sich dem Experiment verweigert – dies lässt sich etwa im online verfügbaren Video_1 (siehe Quellenverzeichnis) sehr gut beobachten. Im gleichen Video zeigt sich auch ein weiteres beschwichtigendes Narrativ, das in der popkulturellen Aufbereitung der Experimente sehr präsent ist: das der Ausnahmefälle, die sprichwörtlich die Regel bestätigen. Der Papagei Alex wird hier als der »Einstein« unter den Papageien bezeichnet – anscheinend soll ein solches Sprachlevel für ›normale‹ Papageien so unerreichbar sein wie das Entwickeln der Relativitätstheorie für Durchschnittsbürger_innen. Dies steht in starkem Kontrast dazu, dass Alex von Pepperberg zufällig in einem durchschnittlichen Tierladen für das Experiment ausgewählt wurde und vorher keinerlei besondere Begabung zeigte; und dass Pepperberg, die nach dem Tod von Alex mit anderen Papageien arbeitete, zuletzt als Zwischenstand angab: »younger birds are acquiring similar competence.« (Pepperberg 2012: 297) was schwerlich zu dem Wunderkindnarrativ passt.

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zu bewahren. Danach stellte sich heraus, dass der Schimpanse keineswegs auf Toilette musste, sondern die Sprache, die ihm beigebracht worden war, lügend und manipulativ genutzt und damit weiteres Spracherlernen torpediert hatte (vgl. Terrace 1980: 278/Project Nim, Minute 43). An anderen Stellen wiederum vergessen die Proband_innen die erlernten Sprachkenntnisse plötzlich in opportunen Momenten. So beschreibt Breuer (vgl. 1982: 103) eine Experimentreihe der Rumbaughs (vgl. Savage-Rumbaugh et al. 1978), in der auffällig ist, dass ein Schimpanse, der durchaus in der Lage ist, selbst um Schokolade zu bitten, wenn er andersherum um Schokolade gebeten wird häufig eine Vokabelschwäche entwickelt und ›versehentlich‹ andere, weniger attraktive Nahrungsmittel herüberreicht. Hier und auch an anderen Stellen scheinen die nichtmenschlichen Tiere nicht das Sprechen oder die Interaktion mit den Wissenschaftler_innen prinzipiell zu verweigern, sondern nur bestimmte Experimente, die sie langweilen und die sie folglich stören. Sie verändern so den experimentellen Auf bau, bis er auf eine Weise verläuft, die ihrem Willen eher entspricht. Insbesondere der Papagei Alex ist für viele solche Veränderungen verantwortlich. Pepperberg beschreibt etwa, dass sie Experimente, in denen Alex unter Beweis stellen konnte, dass er Gegenstände zählen, sich die Anzahlen merken und sie zur Anzahl späterer vorgezeigter Gegenstandsansammlungen im Kopf addieren konnte nur entwickelte, weil Alex, als Pepperberg mit anderen Papageien das Zählen von Klicks einübte, von alleine damit begann, die aktuelle Gesamtzahl aller bisher getätigten Klicks laut und störend in den Raum hinein zu rufen (vgl. Callaway 2012). In einem weiteren faszinierenden Dialog demonstrierte Alex, dass er das Konzept ›keine‹ ohne Unterricht erlernt hatte und in Experimenten benutzen wollte.12 So zeigen sich die Versuchstiere oft kreativ und transformativ; auch hier erleben wir die nichtmenschlichen Tiere in ihrer Agency, aber auf eine konstruktive Art und Weise – statt sich bloß gegen die Experimente zu wehren, nutzen sie diesen experimentellen Rahmen, um sich auszudrücken und ihre 12 | Nach zehn problemlos erfolgreich absolvierten Durchgängen in einem Fragespiel zu Anzahl und Farbe von Holzblöcken gab er auf die Frage, welche Farbe an Holzblöcken auf dem Tablett vor ihm drei Mal vorhanden war, anstelle der korrekten Farbe starrsinnig drei mal die unsinnige Antwort »five«. Schließlich gab die Forscherin auf und fragte zurück, welche Farbe fünf Mal vorläge (so oft war keine Farbe vertreten) und Alex antwortete sofort das neue Wort, dass er offenbar durch Zuhören bei den Gesprächen der Forscher_innen erlernt hatte: »None.« Pepperberg war davon sehr beeindruckt, und gibt selbst zu, hier von ihrem Versuchstier manipuliert worden zu sein: »Note, too, that Alex not only had provided a correct, novel response, but had also manipulated the trainer into asking the questions he apparently wished to answer.« (Pepperberg 2012: 308)

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Umgebung zu verändern. Besonders herauszustellen sind dabei die unzähligen Wortneuschöpfungen. So bezeichnete Washoe Tabak als »pipe food« (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 1), Alex nannte einen Apfel – er kannte an Obstwörtern zu diesem Zeitpunkt »banana« und »cherry« – eine »banerry« (vgl. Wise 2002: 107) und Koko nannte eine alte, trocken gewordene Backware »cookie rock« (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 11). Mangels des Wortes ›ring‹ sprach Koko von einer »finger bracelet« (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 11) und dachte sich außerdem kreative Eigennamen für die nichtmenschlichen Tiere in ihrer Umgebung aus: einen grellroten Papageien mit großem Schnabel, bezeichnete sie als ›devil tooth‹, das flauschige runde Kätzchen ohne Schwanz, das sie lange begleitete, rief sie ›all ball‹ (vgl. Video_3). Schließlich tragen die Proband_innen die erlernte Sprache gänzlich in ihre eigene Sphäre: Koko sprach täglich mit dem Gorilla Michael und brabbelte mit ihren Puppen (vgl. Koko: A Talking Gorilla, Minute 26 & 68), Washoe brachte ihrem Adoptivsohn Loulis die Zeichensprache sogar bei (vgl. Fouts/Fouts/Van Cantfort 1989: 281f.). In ihrem individuellen und originellen Sprachverhalten werden uns die Proband_innen so als einzigartige Charaktere zugänglich, die ihre eigenen Wikipedia-Artikel besitzen, und sie werden medial immer präsenter und damit wirkmächtiger. Mit ihren Aussagen gefüllte Bücher und Filme bis hin zu eigenen youtube-Channels dringen in den Diskurs über nichtmenschliche Tiere, die dadurch beginnen, für sich selbst zu sprechen; mit Koko etwa konnte bereits 1998 bei einer Aktion direkt über einen Internetchat kommuniziert werden. Dass dies eine politische Dimension hat, wird spätestens deutlich, wenn man die Argumentation Pattersons für Rechte für nichtmenschliche Menschenaffen unter Verweis auf Koko betrachtet. Und schließlich kann es – wenn man sich auf diese Interaktion einlässt – in diesen Experimenten auf neue Weise zu Gesprächen und Begegnungen mit den Proband_innen kommen. Am eindrucksvollsten sind hier teils Dialoge, in denen auf Wortebene sehr wenig passiert, wie in dieser Episode mit Washoe, in der sie auf die Nachricht reagierte, dass eine der Forscherinnen eine Fehlgeburt gehabt hatte: »People who should be there for her [Washoe] and aren’t are often given the cold shoulder - her way of informing them that she’s miffed at them. Washoe greeted Kat [die Betreuungsperson, die eine Fehlgeburt hatte, und deswegen auf der Arbeit gefehlt hatte, Anm. K. D.] in just this way when she finally returned to work with the chimps. Kat made her apologies to Washoe, then decided to tell her the truth, signing ›My baby died.‹. Washoe stared at her, then looked down. She finally peered into Kat’s eyes again and carefully signed ›cry‹, touching her cheek and drawing her finger down the path a tear would make on a human (Chimpanzees don’t shed tears). Kat later remar-

Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren ked that one sign told her more about Washoe and her mental capabilities than all her longer, grammatically perfect sentences.« (Donovan/Anderson 2006: 190)

Washoe muss hier in einer fremden Sprache eine Geste machen, die für eine Reaktion steht, die ihrem Körper anatomisch nicht möglich ist, um zu kommunizieren, dass sie die Trauer ihrer Pflegerin teilt. Und doch kommt man nicht umhin, in dieser Geste Nähe und eine Ähnlichkeit im Leiden und Erleben zu sehen: Washoe hatte selbst zwei Kinder verloren. Auch an anderer Stelle zeigte sich Washoe überraschend empathisch; so merkte sie, wenn Student_innen, die neu zum Arbeiten mit ihr eingeteilt waren, in Zeichensprache noch nicht sicher waren, und begann, im Gespräch mit ihnen langsamer und deutlicher zu gestikulieren, damit sie folgen konnten.

F a zit : D ie sich zeigende A gency in Tierspr ache xperimenten »Tiere [sind] keine defizitären Menschen, sie gehören einer anderen Welt an und die Zugehörigkeit zu dieser anderen Welt sollte nicht entzaubert und auf unsere Größe reduziert, sondern für das, was sie ist, respektiert werden.« Noske 2008: 21

Ich habe beschrieben, wie wir in diesen Sprachexperimenten auf problematische Weise nach menschlichen Maßstäben unterlegene Vorstufen unserer eigenen Leistungen in den tierlichen Individuen suchten – und wie wir stattdessen auf Tierliches stießen, das unsere Maßstäbe grundlegend in Frage stellte, indem es gleichwertiges und doch grundlegend anderes darlegte. Ich habe beschrieben, wie sich vermeintliche Versuchsobjekte als nicht kontrollierbar entpuppen und wie sich das Verhältnis zwischen Forscher_innen und tierlichen Proband_innen hierdurch auf überraschende Weise verschiebt. Ich habe von widerständigen Tieren geschrieben, aber auch von Tieren, die die dargebotenen Mittel ergreifen und für ihre Zwecke verändern und schließlich auch von Tieren, die in einen Dialog mit uns treten und uns so als Subjekte begegnen. Mein Titel macht bereits deutlich, dass ich behaupte, dass diese Experimente ein Ausdruck problematischer und fremder Konzeptionen tierlicher Agency sind, und dass dennoch – in überraschenden Momenten, und oft genau dann, wenn die Experimente vorgeblich scheitern – schließlich tatsächlich

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tierliche Agency sichtbar wird. Und ich glaube, man kann dieses Panorama an Einzelschicksalen kaum betrachten und v. a. diese Videoaufnahmen nicht ansehen, ohne den Eindruck zu gewinnen, dass einem hier tatsächlich etwas begegnet, das neu und besonders ist und Aufmerksamkeit und Diskussion verdient. Aber wie genau dieses ›etwas‹ begrifflich zu fassen ist, was dieser Begriff ›Agency‹, der hier ständig fällt, wirklich meint, habe ich bis jetzt noch nicht verdeutlicht. Diese begriffliche Vagheit ist in vergleichbaren Texten gang und gäbe (vgl. McFarlands/Hediger 2009: 1-15), wohl auch, weil es deutlich einfacher ist, den diffusen Eindruck herzustellen, dass es hier tierliche Agency gibt, als dies präzise zu definieren. Anthropozentrische Begriffe scheinen ungeeignet, andere sind als Mensch jedoch schwer bis unmöglich zu entwickeln. Weder der klassische Agency-Begriff noch modernere Fassungen scheinen auf nichtmenschliche Tiere ausgelegt, und der positive Entwurf eines Begriffes speziell für die große, nicht homogene Gruppe nichtmenschlicher Tiere ist schwer. Dieser Text kann hier keine Lösung bieten; ich möchte aber zumindest das Problem etwas herausarbeiten, indem ich die eben so kurz formulierten Thesen etwas genauer erkläre. Zunächst: Welche vorhandenen Konzepte von Agency haben wir bereits zur Verfügung, die sich vielleicht nutzen lassen? In diesem Band werden eine große Anzahl historisch vorgeschlagener Möglichkeiten diskutiert, das Konzept Agency mit Sinn zu füllen. Sie lassen sich dabei grob vereinfacht zwischen zwei Polen fassen:13 1. Agency im früheren (evtl. etwa schon bei Edward P. Thompson [1975]) und damit stärkeren/engeren Sinne (spezifisch ›Handlungsmacht‹), als etwas, das traditionell nur Menschen zugeschrieben wurde, und historisch oft mit Begriffen wie Willen, Freiheit und Subjekt (vgl. Duncan 2010: 20) sowie Intentionalität und rationellem Entscheidungsvermögen (vgl. Shaw 2013: 148) verbunden wurde. 2. Agency im späteren, schwächeren/weiteren Sinne (auch ›Wirkungsmacht‹ enthaltend), in dem die oben genannten Begriffe und damit verbundenen Dichotomien (Subjekt vs. Objekt, Agent vs. Patient) problematisiert und hinterfragt werden, was eine Zuschreibung zu einem deutlich weiteren Bezugsrahmen ermöglicht – so wie dies etwa in Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie geschieht. In diesem Rahmen kommen dann sehr weite Definitionen wie diese zum Tragen: »an agent or actor is minimally someone without whom things, especially a particular doing, might have been significantly different« (Shaw 2013: 148). Damit sind Akteur_innen (bzw. nun 13 | Eine ausführlichere Einführung in die Genese des Agency-Begriffes und seine verschiedenen Deutungsweisen findet sich in diesem Band im Beitrag Mieke Roschers; eine erster Überblick findet sich auch in der Einleitung dieses Bandes.

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›Aktanten‹) nun nicht ausschließlich Menschen, sondern beispielsweise nichtmenschliche Entitäten (eingeschlossen der sogenannten ›niederen‹ Tieren und Pflanzen), bis hin zu Unbelebtem (etwa Werkzeuge oder Waffen, die einen Handlungsverlauf etwa durch ihr defekt sein verändern). Wie lässt sich das tierliche Verhalten, welches in meinem Beitrag diskutiert wird, auf dieser Skala einordnen? Dass Agency im schwachen Sinne, die man ja auch Stöcken und Steinen zuschreibt, ebenfalls den nichtmenschlichen Proband_innen dieser Experimente zugestanden werden muss, ist offensichtlich; wer eine Tierleiche als widerständig empfindet, weil sie sich nur schwer vollautomatisiert für den menschlichen Verzehr zerlegen lässt, wird zweifelsohne bei einem tierlichen Individuum, welches Wissenschaftler_innen anlügt und dadurch das Experiment unterbricht, ebenfalls Widerstand erkennen. Dieser Agency-Begriff ist gewiß erfüllt; doch ist fraglich, ob damit begrifflich das getroffen wird, was uns in diesen Experimenten begegnet. Es ist schwer, sich des Eindruckes zu erwehren, dass es einen signifikanten Unterschied macht, ob der Widerstand durch lebende, fühlende, denkende Akteur_innen durchgeführt wird, oder eben durch einen unbelebten Aktanten, und dass ein Begriff, der beides gleichermaßen umfasst, eine wertvolle Differenz verloren hat. Zwischen dem Baum, dessen Wurzeln die Straße auf brechen und so zufällig einen Autounfall verursachen, und dem Schimpansen Nim, der aus seinem Käfig ausbricht und das erste Wesen tötet, das sich ihm entgegen stellt, scheint intuitiv eine wichtige Differenz zu bestehen, die sich nicht an den – oftmals ähnlich gravierenden – Auswirkungen auf die Außen- oder Mitwelt fixieren lässt, sondern eher an naheliegenden, gleichzeitig aber sehr problematischen Zuschreibungen und Spekulationen über die inneren Zustände der Akteur_innen (Stichwort ›Intentionalität‹). Anders ausgedrückt: Die Art und Weise, in der der Papagei Alex die Experimente manipuliert, fühlt sich zutiefst nach Absicht an. In den von mir wiedergegebenen Experimenten gibt es so immer wieder Momente und Interaktionen, in denen das vermeintliche Versuchsobjekt überraschend als Gegenüber auf blitzt; ein interagierendes Gegenüber, wenn Nim mit Laura im Garten spielt, ein mitfühlendes Gegenüber, wenn Washoe die Trauer der Forscherin teilt, die ihr Kind verloren hat, ein verstörendes und forderndes Gegenüber, wenn Lana sich wünscht, in ihrem Versuchslabor von einem anderen Lebewesen berührt zu werden. Wenn Chantek, der sich selbst als »orang-utan person« beschrieb aus seiner jahrelangen Isolationshaft die Forscherin Lyn Miles, die ihm das Sprechen beigebracht hat, anspricht und sagt »mother Lyn get the car go home« (vgl. The Ape That Went To College, Minute 1 & 35), dann sehe ich darin einen Spiegel der Situationen, die uns beim Menschen dazu bringen, von Freiheitsdrang zu sprechen, und für diese Freiheit leidenschaftlich zu kämpfen.

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Es gibt trotzdem gute Gründe, das Konzept von Agency im klassischen starken bzw. engen Sinne prinzipiell in Frage zu stellen. Es stellt sich die Frage, wie dieses Konzept mit dem physikalischen Determinismus kompatibel ist. Es ergibt sich angesichts sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zu sozialen und wirtschaftlichen Zwängen geradezu ein Paradoxon: »Die Annahme einer sozialen Bestimmtheit von individueller Handlungsfähigkeit ist ebenso unhintergehbar wie die Annahme einer sozial nicht determinierten Selbstbestimmungsfähigkeit« (Scherr 2012: 100). Es stellt sich die Frage, welchen Gehalt ein Freiheitsbegriff noch haben kann in einer Welt, die von teils absolut anmutenden Machtgefällen geprägt ist, und die Konzeption von Agency als einem Vermögen, bei dem der Aspekt der Situation und des Netzwerkes außer Acht gelassen wird. Bei Versuchstieren kann das Betonen ihrer Handlungsfreiheit nahezu zynische Züge annehmen (siehe die Kritik an Donna Haraway durch Zipporah Weisberg (2009), vgl. dazu auch den Beitrag von Sven Wirth in diesem Band). Aufgemachte Dichotomien, wie der Subjekt-Objekt- oder agent-patient-Dualismus sind bei näherem Blick ebenso problematisch, wie Begriffe wie Freiheit, Intentionalität und Wille sich als kryptisch und leer erweisen können. All diese Probleme werden durch die Anwendung auf nichtmenschliche Tiere keinesfalls gelöst. Allerdings scheinen sie sich auch nicht in einem qualitativ anderen Sinne zu stellen als beim Menschen. Es ist meine These, dass Agency im starken, anthropozentrischen, klassischen Sinne bei den nichtmenschlichen Akteur_innen, die uns in den genannten Experimenten begegnet sind, im gleichen Sinne plausibel oder unplausibel ist wie bei Menschen, Agency hier gleichermaßen steht und fällt. Und des Weiteren, dass es insgesamt – unabhängig davon, welchen Ansatz man wählt, um Agency zu charakterisieren – unmöglich ist, den Begriff kohärent so zu fassen, dass er inhaltlich einerseits allen Menschen prinzipiell zugesprochen werden kann, und andererseits den Proband_innen dieser Experimente durchweg nicht. Dass man den anthropozentrischen Agency-Begriff erfolgreich auf diese nichtmenschlichen Tiere anwenden kann, bedeutet jedoch nicht, dass man sie damit getroffen hat. Es ist ein Grunderleben in diesen Experimenten, dass die Agency der nichtmenschlichen Proband_innen gerade in ihren offenbarsten Formen oft etwas Fremdes hat: Wir erleben sie dann am deutlichsten als Gegenüber, wenn sie sich unserer Überformung widersetzen, etwa wenn wir andere Maßstäbe und Kategorien, andere Ziele, andere Methoden, eine andere Moral, andere Konzepte, eine ganz andere Welt erleben. Die Agentenschaft des nichtmenschlichen Tiers ist dann am greif barsten, wenn es nicht nur unsere menschlichen Aufforderungen reproduziert, sondern sie transformiert, sich zu eigen macht, Neues schafft, wenn die Antworten überraschen und verwirren. Andererseits spiegelt diese Fremdheit wiederum etwas uns Menschen

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sehr Bekanntes: denn auch menschliche Agentenschaft ist dann am greif barsten, wenn unser Gegenüber einen eigenen Umgang mit unseren Aufforderungen zeigt; manchmal ähneln menschlichen Agent_innen einander nur in ihrer Abneigung dagegen, alle das gleiche zu tun. Versucht man, all dies zu beschreiben, fällt man immer wieder in zwei Fallen: einerseits droht die Möglichkeit, das tierliche Verhalten menschlich zu entfremden und anthropomorph zu verklären. Doch ist man bemüht, dem ausweichen, ist es allzu leicht, das Andere und Fremde im Tier mystisch zu vernebeln14 und sich der Illusion des Zugriffs auf eine eigentliche, genuin tierliche Agency jenseits menschlicher Konstruktion hinzugeben, die sich letztendlich ebenfalls wieder als menschliche Projektion erweisen muss. Ein Begriff von der Agency nichtmenschlicher Tiere entpuppt sich bereits im Kern als negativ und vom Menschen bestimmt: nichtmenschliche Tiere sind keineswegs eine homogene Gruppe, in der Schnecken, Wale und Schimpansen auf eine Weise zusammengehalten werden, die nicht logischerweise auch Menschen enthalten müsste. Möglicherweise braucht es hier eine Vielfalt an Begriffen, oder einen flexiblen Begriff mit vielen Aspekten. Ohne zu wissen, wie solche Begriffe aussehen sollten, bin ich mir jedoch in einem Punkt sicher: über die Handlungen dieser Tiere sollten wir sprechen.

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Ausbruch aus dem Schlachthof Momente der Irritation in der industriellen Tierproduktion durch tierliche Agency Markus Kurth Geschichten von Ausbrüchen aus Schlachthöfen werden selten Gegenstand theoretischer Betrachtungen. Dabei, so die These, kann gerade die Analyse derartiger Momente der Irritation viel über das Mensch-Nutztier-Verhältnis und die Struktur des Schlachthofs aussagen, insbesondere im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedingungen tierlicher Agency. Entlang der latourschen Praxeologie, Foucaults Biopolitik und der Analytik des Werdens sowie anhand von empirischen Beispielen wird das vielschichtige Verhältnis von Macht, Technik, Performanz und Subjektivität ergründet, welches sich im Ausbruch artikuliert.

E inleitung Die Funktion von Schlachthöfen ist es, lebende Körper in tote Waren zu transformieren. Kaum ein Schlachttier entkommt dieser Maschinerie. Dennoch ist das fliehende Tier als Geschichte auffällig virulent. So beginnt der Politologe Timothy Pachirat (2011: 1) seine Ethnografie über die Funktionsweise eines Schlachthofs, in dem alle zwölf Sekunden ein Rind getötet wird, mit einer Anekdote über den Ausbruch von mehreren Kühen aus eben diesem. Sinnbildlich endet der Fluchtversuch für die letzte dieser Kühe vor den Zäunen eines weiteren Schlachthofes. Eine ähnliche Anekdote erzählt der Journalist Jonathan Safran Foer (2010: 175) zur Einleitung seines Besuchs in einem unabhängigen Schlachthof. Die Kuh in seiner Erzählung durchschwimmt bei ihrer Flucht sogar einen Fluss. Mögen derartige Geschichten als Medienereignisse an vielen Orten präsent sein, dienen sie in der Regel nicht als Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen.1 1 | Eine gewichtige Ausnahme bilden sicherlich die Arbeiten des Historikers Jason C. Hribal (2007; 2008).

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Dabei können diese Ausbrüche viel über die Struktur des Schlachthofes selbst verraten. Der Schlachthof ist ein Ort von Gewalt, Technik, Macht und einer tierlichen Individualität, die nicht über eine numerische Unterscheidbarkeit hinausgeht. Eine Subjektivität verstanden als eigene Identität (vgl. Donaldson/ Kymlicka 2014: 10f.) im Sinne einer namentlichen und biografischen Differenz zu anderen Individuen soll darin nicht vorkommen: Im Takt der mechanisierten Tierhaltung sollen die Abweichungen von der Routine des immer gleichen Ablaufs, die Individualität und Vielfalt tierlicher Regungen, zum Verschwinden gebracht werden. Die Vielfalt des Lebendigen bildet entsprechend das Außen des Prozesses als das »Virtuelle, die ko-kreative und ko-operative Potenzialität, das Werden der Vielfalt« (Lazzarato 2007: 257, Herv. im Org., vgl. Deleuze 1987: 120ff.). Dieses Außen muss stets aufs Neue eingeschlossen und integriert werden, um die Reproduktion der Schlachtroutine zu gewährleisten. Wenn das Tier ausbricht und das Außen in die Ordnung einbricht, als Sichtbarkeit tierlicher Agency, stellt es – und sei es nur für einen Moment – die Reproduktion des Schlachtens infrage. Modelle, welche die Fehlfunktionen, Irritationen und Brüche der Schlachtanordnung mit einbeziehen, ermöglichen Zugriffe, die über Konzepte wie Verdinglichung (Petrus 2013), Entfremdung (Noske 2008) und Herrschaft (Mütherich 2015) hinausgehen. In diesen Konzepten wird den zu schlachtenden Tieren zwar Leiden zugesprochen, aber keine Möglichkeit widerständiger Agency. Für einen theoretischen Zugriff auf tierliche Agency gilt es zunächst eine Alternative zu bestehenden anthropozentrischen Handlungsbegriffen in der Sozialtheorie zu finden. Hilfreich wird hier der praxeologische Blick auf die Performanz heterogener Entitäten in soziotechnischen Netzwerken sein, wie er u. a. von Bruno Latour in der Actor-Network Theory entwickelt wurde. Gewalt und Macht im Schlachthof und ihre Verbindung zur Subjektivität hingegen werden mit Konzepten im Anschluss an Michel Foucault theoretisiert. Der Moment der Transformation, welcher im Ausbruch sowie der Flucht liegt und tierliche Individualität jenseits der ökonomischen Vernutzung aufscheinen lässt, bedarf eigener Mittel der Analyse. Mit einer »Analytik des Werdens« (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 202) und einer Stärkung der Anekdote als Ressource relevanten Wissens soll hier eine entsprechende Perspektive entfaltet werden. Die Herausforderung wird sein, weder in subjektivistische Anthropomorphismen zu verfallen, noch die Ausbrüche zu bloßer Wirkungsmacht in einem Netzwerk zu reduzieren, wie sie auch unbelebten Dingen zukommt. An den Beispielen der Ausbrüche der Kühe Bavaria, Wilma und Yvonne wird zu diskutieren sein, inwiefern Geschichten der Flucht eine Theorie der so genannten Nutztiere2 und die Debatte um tierliche Agency bereichern können. 2 | Der Begriff Nutztier wird hier in seiner engen Bedeutung für nichtmenschliche Tiere, die von Menschen aus wirtschaftlichen Zwecken im Kontext agrarindustrieller

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R outinen und I rritationen – H andeln im S piegel der P r a xistheorien Ein soziologisches Nachdenken über tierliche Agency stellt sich zunächst gegen die humanistischanthropozentrische Fachtradition, in der nur Menschen handeln.3 Anschließend an die Definition von Max Weber: »›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden« (Weber 1980: 1), wurden und werden nichtmenschliche Tiere und andere nichtmenschliche Entitäten in der Soziologie lange Zeit ausgeblendet. 4 Interaktionen finden zwischen Menschen statt, zentral für das Handeln wird der subjektive Sinn, d. h. die Intention der Handelnden, gesetzt. Stephan Moebius grenzt derartige soziologische Handlungstheorien zum Einen von naturalistischen Theorien ab, die sich nicht für den subjektiven Sinn des Handelns interessieren und zum Anderen von textualistischen Theorien, welche die Sinnhaftigkeit auf den Ebenen von Zeichen, Text, Kommunikation und Diskurs verorten, d. h. oberhalb der Körper und Subjekte (vgl. Moebius 2008: 58f.). Die drei klassischen Stränge der Handlungstheorien gruppieren sich demnach jeweils um einen der Pole der Dichotomie von Struktur und Handeln, ohne jedoch dem subjektivitätstheoretischen Paradox genügend Rechnung zu tragen, das Albert Scherr wie folgt formuliert: »Die Annahme einer sozialen Bestimmtheit von individueller Handlungsfähigkeit ist ebenso unhintergehbar wie die Annahme einer sozial nicht determinierten Selbstbestimmungsfähigkeit.« (2012: 100) So lässt sich Handeln zum Ersten nicht auf ein interessengeleitetes Kosten-Nutzen-Handeln reduzieren, wie in den RatioMensch-Tier-Verhältnisse gehalten werden, verwendet. Problematisch hieran ist die Essentialisierung des Prozesses der Nutzbarmachung (dabei kann diese in Art und Intensität kulturell vermittelt sehr verschieden ausfallen) sowie die Ausrichtung an einem einseitigen menschlichen Nutzenkalkül. Dieses wird noch deutlicher am ebenfalls verwendeten Begriff des Schlachttieres. Weiterhin nivelliert der Begriff sehr verschiedene Nutzungspraktiken oder verdeckt ihren Nutzungsaspekt (vgl. den ›Gebrauch‹ von Versuchs- und Heimtieren und ihre jeweiligen Ökonomien). 3 | Disziplinhistorisch gibt es gute Gründe für den soziologischen Anthropozentrismus: das grundbegriffliche Erbe der philosophischen Traditionen, der Kampf gegen die Verdinglichung menschlicher Beziehungen (Marx), aber auch die Markierung nicht-sozialer Umwelt, um eine thematische Nische für eine Gesellschaftswissenschaft zu schaffen (in Opposition zur Biologie – und Soziobiologie) (vgl. Laux 2011: 278). 4 | Weber selbst äußert allerdings die Ahnung, dass auch nichtmenschliche Tiere sich »nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewußt sinnhaft und erfahrungsorientiert« (Weber 1980: 7) verhalten.

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nal Choice-Theorien unterstellt (»homo oeconomicus«). Auch kann Handeln zum Zweiten nicht einfach von sozialen Normen und Werten sowie Rollenerwartungen abgeleitet werden, wie etwa in den Theorien von Talcott Parsons und Émile Durkheim (»homo sociologicus«). Gleichfalls können zum Dritten auch mentalistische Ansätze (von Claude Lévi-Strauss bis Alfred Schütz) den Gegensatz von Struktur und Handeln nicht befriedigend lösen, indem sie universelle Gesetze oder mental-intentionale Akte im geistigen Inneren des Subjekts verorten (vgl. Moebius 2008: 59f.). Handeln und Struktur zu vermitteln, ohne auf den subjektiven Sinn zurückgreifen zu müssen, gelang erst mit einem vierten Komplex von Handlungstheorien – den praxeologischen Handlungstheorien und ihrem Praxisbegriff. Diese Ansätze5 teilen die Ablehnung der individualistischen Konnotation des Handelns und siedeln folglich »die kognitiv-symbolischen Ordnungen, die kulturellen Codes und Strukturen der Gesellschaft nicht auf der mentalen Ebene, sondern auf der Ebene sozialer Praktiken an« (Moebius 2008: 60f.). Soziale Praktiken sind als kollektiv, repetitiv, geschichtlich, kontingent und körperlich zu charakterisieren. Zudem »betonen die Praxistheorien den Prozeßcharakter von sozialen und symbolischen Strukturen; diese existieren nur aufgrund der (prekären) Routinisiertheit und Wiederholbarkeit sozialer Praktiken.« (Ebd.: 71f.) Dabei stellt es weniger einen Widerspruch als zwei Seiten der gleichen Medaille dar, ob theoretisch eher die reproduktiven (»Routinen«) oder die dynamisch-ereignishaften Momente (»Irritationen«) und der kulturelle Wandel beleuchtet werden (Reckwitz 2004: 48). Aus der Perspektive einer solchen prozessorientierten Soziologie wird deutlich, dass jede noch so stabil erscheinende Differenz, jede noch so strikte Ordnung, nur vorläufig sein kann und abhängig ist von der Fortführung der routinisierten Handlungspraktiken. Umgekehrt gibt eine Irritation der Routinen noch keine Richtung der Transformation vor, sondern ist zunächst nur eine nicht vorgesehene Überschreitung: »Irritationen von Routinen – so könnte man formulieren – treten immer auf, aber die Form der Praktiken gibt vor, wie mit ihnen umzugehen ist, ob sie als Störfaktor oder als willkommener Veränderungsanlass zu interpretieren sind.« (Ebd.: 49f.) Mit dem Praxisbegriff wird weniger die Absicht als die Wirkung von Handeln in den Fokus der Analyse gestellt. Dies trägt in sich die Möglichkeit, Handeln und Praxis unabhängig von menschlicher Intention, Intersubjektivität und Interaktion zu denken. In der Tat fügt Andreas Reckwitz (2008: 145f.) der Liste der Praxistheorien mit der Actor-Network-Theory (ANT) eine Theorie hinzu, die sich von den vorgenannten über ihren Bruch mit dem anth5 | Moebius zählt etwa Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Hans Joas und Harold Garfinkel, aber auch poststrukturalistische Autor_innen wie Jacques Derrida und Judith Butler zur Praxeologie (vgl. Moebius 2008: 60ff.).

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ropozentrischen Horizont durch die Untersuchung der sozialen Bedeutung von Objekten abgrenzt. Latour radikalisiert das praxeologische Argument der Nicht-Linearität von Intention und Wirkung: »Aufgrund der Kluft zwischen Intention und Performanz ist das Handeln auch für den ›Urheber‹ etwas Unberechenbares, Überraschendes und Ereignishaftes, das sich in der Regel erst nachträglich begründen lässt« (Latour 2002: 345). Die bisherige Soziologie vernachlässigte die Seite jenseits der Kluft, d. h. die Performanz, derart, dass sie die Wirkungsmacht aller nichtmenschlichen Entitäten, die an einer Handlung beteiligt sind, als ›stumme Objekte‹ ignoriert und die Handlung gänzlich dem intentionalen Subjekt zuschlägt. Für Latour hingegen ist »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur« (Latour 2007: 123, Herv. im Org.). Vorhersehbar ist der Einwand, dass Latours Theorie die Unterschiede zwischen ganz verschiedenen Formen von Agency einebnet. Wird ihm vorgeworfen es zu verunmöglichen, »etwa zwischen mechanischer Wirksamkeit, intelligentem Verhalten und intentionalem Handeln zu unterscheiden« (Lindemann 2009: 117), weil Handeln und Wirken gleichgesetzt werden, so ist dem entgegen zu halten, dass die Soziologie mit ihrer starken Betonung menschlicher Intentionalität ebenfalls kein adäquates Instrumentarium bereitstellt, die Komplexität von Handeln und die verschiedenen Effekte zu erfassen. Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, Agency auch jenseits der Intentionalität in den Blick zu bekommen, ohne die Rolle der Intentionalität für Agency zu negieren – also Agency mit Intentionalität zu denken, aber nicht auf diese zu reduzieren. Dafür sollen im nächsten Schritt Potenzial und Grenzen der ANT für die vorliegende Problematik ausgelotet werden.

D ie ihr

technischen A rtefak te des S chl achthofs und in die S ozialtheorie

E inbezug

»Niemand hat je reine Techniken gesehen – und niemand je reine Menschen« gilt laut Latour (1993: 21) für alle Kontexte menschlichen Lebens. Die Bedeutung der Reproduktion und Härtung sozialer Ordnung mittels Artefakten sei charakteristisch für menschliche Gesellschaften. Entsprechend hart geht er mit einer Soziologie ins Gericht, die ihre Handlungstheorie methodologisch allein auf Menschen ausrichtet. Diese sei besser »für das Studium der Paviane [...] als für das der Menschen« (Latour 2007: 121) geeignet, da die Paviane in ihren Gesellschaften Routinen und Strukturen ohne Artefakte immer wieder aufs Neue aushandeln. Der Anthropozentrismus der Soziologie verstellte ihr lange den Blick auf die Beteiligung nichtmenschlicher Entitäten an der Konstruktion sozialer Ordnung. Insbesondere der Einfluss von technischen Apparaten wurde systematisch vernachlässigt. Latour bietet mit seiner Unter-

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scheidung von Zwischenglied, Aktant und Akteur ein Instrumentarium an, um einerseits soziale Prozesse en détail beschreibbar zu machen, andererseits aber auch den gesellschaftlichen Stellenwert zu bestimmen, der den verschiedenen Elementen zugeschrieben wird. Die meisten Entitäten weisen in ihren Netzwerken eine gewisse Wirkungsmacht auf. Deshalb sind die ›stummen Objekte‹ ohne diese Kapazitäten – nun in der ANT als Zwischenglieder bezeichnet – als »[...] verlässliche Medien und Passagepunkte, die genau das ausführen, was man von ihnen verlangt […] die absolute Ausnahme. Ein passives und getreues Zwischenglied ist nämlich nur um den Preis sorgfältiger Konstruktion und aufwendiger ›Programmierung‹ zu haben (also z. B. folgsame Gefängnisinsassen, gesetzestreue Bürger, lernwillige Schüler, zuverlässige Computer, gesunde und funktionstüchtige Körper, gehorsame Hunde, etc.).« (Laux 2011: 291f.)

In dieser neuen theoretischen Anordnung werden ehemalige nichtmenschliche Objekte nun als Aktanten zum Bestandteil eines Handlungsablaufs. Deren Performanz kann sie im Zuge etwa von wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen zu benennbaren und anerkannten Akteuren erheben: So wirken die an der Pasteurisierung beteiligten Milchsäurebakterien zwar schon lange als Aktanten, aber erst seit ihrer Entdeckung durch Louis Pasteur sind sie auch als benennbare Akteure am Prozess der Gärung beteiligt (vgl. Latour 1988). In der industriellen Tierproduktion sind die Tiere zweifelsfrei mehr als Zwischenglieder, aber ihre aktive Rolle an der Produktion von ›Fleisch‹, Eiern und Milch wird durch objektifizierende Konzepte wie Ausbeutung, Unterdrückung und Verdinglichung negiert. In Ergänzung zu diesen zweifelsfrei notwendigen Konzepten, bedarf es einer nicht-essentialistischen, nicht-objektifizierenden Sichtweise, welche auch die tierlichen Bewegungen erfasst. Andernfalls setzt sich in der Theorie das Bemühen der Tierindustrien fort, nichtmenschliche Tiere in technische Artefakte und Zwischenglieder zu verwandeln.6 In einem ersten Schritt kann die technisierte Umgebung des Schlachthofes mit Latour als ko-konstruierter Hybrid von menschlichen und tierlichen Aktanten sowie technischen Artefakten verstanden werden, in dessen Prozessen Möglichkeiten von Instabilität, Konflikt und Widerstand enthalten sind (vgl. Novek 2005: 236). Eine Stärke der ANT liegt darin, offenzulegen, welche Konsequenzen die Delegation von Tätigkeiten an technische Artefakte mit sich bringt. Empirisch lässt sich gerade an deren Fehlfunktionen darstellen, wie unzulänglich ein Begriff des Handelns ist, der Intentionalität ins Zentrum 6 | Hier besteht eine interessante Parallele zwischen dem Wunschdenken der kompletten Mechanisierung auf Seiten der Tierindustrien und der Zuschreibung der vermeintlich bereits bestehenden Totalität selbiger durch ihre Kritiker_innen.

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stellt.7 Der Spezifität des Lebenden wird Latours Ansatz jedoch nicht gerecht. Der Fokus auf technische Artefakte dominiert das Verständnis des Nichtmenschlichen. Mensch-Tier-Beziehungen und nichtmenschliche Tiere werden kaum theoriebildend berücksichtigt, dabei sind gerade sie in ihrer Lebendigkeit wie grundsätzlichen Hybridität und Andersweltlichkeit der interessanteste Grenzfall des Mensch-Nichtmensch-Dualismus. Um die Akteursposition der nichtmenschlichen Tiere in diesem Gefüge besser greifen zu können, bedarf es einer schärferen Skizzierung ihrer Einbindung in die Machtverhältnisse. Dazu gibt es in den Human-Animal Studies einige vielversprechende Analysen der Tierhaltung im Anschluss an das Werk von Michel Foucault (vgl. Taylor 2013).

D ie E ntstehung des S chl achthofs von M acht und W iderstand

als

O rt

Historisch parallel zur sich industrialisierenden Produktion von Tierkörpern ist auch die Beendigung dieser tierlichen Leben durch wachsende Mechanisierung zu kennzeichnen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ordnete Napoleon Bonaparte die Auslagerung des Schlachtens vor die Stadtmauern von Paris und damit verbunden den Bau von öffentlichen Schlachthäusern an. Als Teil seiner Geschichte der Mechanisierung schildert Sigfried Giedion die Architektur und wenig mechanisierte Arbeitsweise des 1867 eröffneten Zentralschlachthauses La Villette als »merkwürdige Symbiose von Zentralisation und Handwerk« (Giedion 1982: 240) und grenzt es von der aufkommenden US-amerikanischen Praxis ab: »[I]n diesen Einzelheiten liegt wahrscheinlich ein Nachklang der tief eingewurzelten Erfahrung, daß jedes Tier nur unter großen Mühen und Opfern herangezogen werden kann und besondere Sorgfalt braucht. Die großen Ebenen jenseits des Mississippi, auf deren freien Grasflächen die Viehherden, vom Pferderücken aus gelenkt, fast ohne Pflege aufwuchsen und sich vermehrten, stehen in innerem Zusammenhang mit der Bandproduktion, ebenso wie der bäuerliche Kleinbetrieb, in dem jedes Tier seinen Namen hat und jeder Kuh beim Kalben beigestanden werden muß, mit der handwerklichen Durchführung des Schlachtens.« (Ebd.)

7 | Selbst ein technisch ausgeklügeltes Bolzenschussgerät erweist sich nicht als getreues Zwischenglied. Es ist auch mit diesem Apparat als Teil des ›humanen Tötens‹ nicht möglich, Rinder zuverlässig betäubt zu töten – 2010 löste die Zahl von 200.000 unsachgemäß betäubten Rindern pro Jahr in Deutschland eine mediale Diskussion aus (vgl. Troeger 2010, vgl. auch zum Prozess des Schlachtens Pachirat 2011: 61).

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Jutta Buchner kritisiert dieses »romantisierte Bild, das Giedion von Schlachthausverhältnissen in Europa entwirft« (1996: 87), pf lichtet ihm aber bei, dass der Grad der Rationalisierung und Mechanisierung den Umgang mit den Schlachttieren bedingen. Und dieser wird in der Folge zunehmend nach dem Vorbild der disassembly line der Union Stock Yards von Chicago organisiert. Während die Mechanisierung in anderen industriellen Bereichen zur Vollautomatik heranreift, ist in der Massenschlachtung dieses Problem ungelöst geblieben: »Wie bewältigt man die unberechenbaren Zufälligkeiten, die die Natur hervorbringt, mit mechanischen Vorrichtungen?« (Giedion 1982: 262) Während dieses Dilemma ab dem Zerlegen dahingehend lösbar ist, dass die Schlachthofmitarbeiter_innen mit jedem ihrer Handgriffe selbst wie eine Maschine funktionieren, ist der Vorgang des Tötens nicht standardisierbar. Bereits ihre materielle Beschaffenheit verleiht den Tieren eine Widerständigkeit, die sich der kompletten Mechanisierung widersetzt: Widerständigkeit, die aus der Feingliedrigkeit ihrer Körper resultiert (vgl. ebd). Für Chloë Taylor (2013: 549) lässt sich ein solcher Widerstand mit dem foucaultschen Widerstandsbegriff beschreiben. Widerstand wird hier weniger als intentionaler Widerstand gegen Normen verstanden, sondern als etwas, das Körper tun – eine Unberechenbarkeit, die aus Lücken oder Widersprüchen der Macht, aus Fehlern in der Anwendung resultiert. Dieser körperlich verstandene Widerstand führt in der Praxis so gut wie nie zu einem Entkommen aus den Institutionen der Macht, stört jedoch die Vorstellung der uneingeschränkten Verfügungsgewalt über die Tiere. Joel Novek etwa plädiert im Angesicht von pathologischem Verhalten wie Stereotypie und Schwanzbeißen in der Schweine-Intensivhaltung dafür, dass genau dies als Zeichen tierlichen Widerstands zu bewerten sei: Tiere sind eben keine Automaten, sondern fühlende Wesen (vgl. Novek 2005: 229). Da Macht bei Foucault als produktiv, zirkulierend und fließend, relational und aktiv, nicht aber über Macht besitzende bzw. machtlose Individuen oder Gruppen konzeptualisiert wird, bedarf es dieser theoretischen Möglichkeit des Widerstandes, um ein Machtverhältnis anzunehmen. Ihr Gegenstück wäre ein Gewalt- oder Herrschaftsverhältnis, in dem diese Möglichkeit fehlt. Die Foucault-Rezipient_innen der Human-Animal Studies diskutieren kontrovers, inwieweit nichtmenschlichen Tieren dieser Widerstand zugesprochen werden kann und sie als foucaultsche Subjekte gelten können (vgl. etwa Thierman 2010: 98; Wirth 2011). Für die Aufzucht und Haltung finden sich Konzepte, welche die Lebensbedingungen der Schlachttiere mit foucaultschen Machtformen analysieren und etwa aufzeigen wie die Disziplinarmacht die »gelehrigen Körper« (Foucault 1977: 173), also nutzbringende Individuen, hervorbringt (vgl. u. a. Coppin 2003, Holloway 2007, Cole 2011). Der Schlachthof hingegen wird als Ort der Gewalt, d. h. als Gegenstück zur Macht, gedacht: Als Endpunkt eines gelehrigen Körpers, der in einen toten Körper transformiert wird (Thier-

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man 2010: 103). Im Folgenden wird anhand von Noveks Konzept der »Industriedisziplin« (2005: 223f., 234) zu diskutieren sein, ob Foucaults Machtbegriffe auch das Verständnis des Ausbruchs erweitern können.

Tierindustriedisziplin

und

B iopolitik

Die Produktion gelehriger Körper mittels Disziplinierungstechniken unterscheidet sich in der industriellen Tierproduktion stark von anderen Bereichen der Mensch-Tier-Verhältnisse. Kein zu dressierendes oder domestizierendes Individuum steht im Vordergrund. Stattdessen identifiziert Novek hier die Industriedisziplin als federführende Variante der Disziplinarmacht. Wie in den Fabriken, Krankenhäusern und Gefängnissen der Industriegesellschaften, werden ihm zufolge auch in den Tierfabriken den Subjekten der Industriedisziplin die Kontrolle über ihre Geschwindigkeit und Produktivität entrissen. Stattdessen wird ihnen der Takt über technische Apparate (wie zeitgesteuerte Fütterungen, automatische Klimatisierung und künstliche Tag-/Nachtwechsel), und räumliche Begrenzungen (wie Käfige und Buchten) vorgegeben. Als prägend für die Industriedisziplin führt Novek (2005: 233) zudem Foucaults Konzept der Biopolitik ein: Als Technik, Körper zu manipulieren und sie in produktive und gelehrige Subjekte zu verwandeln. Einerseits leuchtet die Verwendung des Begriffs in Bezug auf die Perspektive ein, wenn betrachtet wird, wie weitreichend tierliche Körper mittels genetischer Modifikation, d. h. Züchtung, manipuliert werden, um ihre Produktivität zu steigern und die gewünschten Eigenschaften zu erhalten, z. B. als Masthühner oder Legehühner. 8 Andererseits liegt gerade in dieser Funktionsweise der entscheidende Unterschied zu innermenschlichen gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen. Disziplinartechniken wie die panoptische Überwachung und Aufzeichnung lassen sich zwar auch in der Tierhaltung identifizieren, verschwinden jedoch unter dem massiven und direkten Zugriff auf die Körper. Es stellt sich die Frage, ob eine sinnvolle Verwendung des Begriffs der Biopolitik möglich ist, wenn die Disziplinierungstechniken derart invasiv und objektifizierend sind. Taylor relativiert diesen Einwand dahingehend, dass (wenn auch in anderem Umfang) auch in medizinischen und psychiatrischen Kontexten mit invasiven Eingriffen Körper normalisiert werden (z. B. geschlechtsanpassende Operationen an intersexuellen Kindern) und diese der souveränen Macht ausgeliefert sind (vgl. Taylor 2013: 545). Diesem Argument folgend, wird in der Tierhaltung stärker 8 | Im Angesicht von Hybridzüchtungen verliert die Kategorie Spezies stark an Bedeutung. Zu diskutieren wäre, ob die direkte genetische Modifikation von Versuchstieren eine neue Stufe der Biomacht oder nur eine technologische Radikalisierung der bestehenden Nutztierzüchtung darstellt (vgl. Anthes 2014).

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noch als in anderen gesellschaftlichen Bereichen deutlich, dass die biopolitischen Techniken der Biomacht nicht etwa die souveräne Macht ablösen, sondern sich komplementär zu ihr verhalten (vgl. Twine 2010: 85). Die souveräne Macht wird unter den Bedingungen der Biomacht fortgeführt. Dabei trifft die souveräne Macht als repressive Verfügungsgewalt, die »sterben machen und leben lassen kann« (Foucault 1999: 277) auf eine produktive Macht, welche sehr weitreichend im »Bereich der bewussten Kalküle« (Foucault 1983: 169f.) Leben erschafft und formt. Auch wenn die Begriffe strapaziert werden, helfen sie aufzuzeigen, dass es sich nicht um eine reine Herrschaftssituation handelt. Cole argumentiert in Bezug auf die (Tier-)Industriedisziplin: »While the dystopia of the perfectly docile meat-machine remains the telos of ›factory farm‹ discipline (the achievement of which would constitute a state of domination in Foucault’s terms), the very existence of the panoply of disciplinary techniques demonstrates that perfect docility is a long way from being achieved.« (Cole 2011: 88)

In der Tat ist der Telos, das Ziel der Tierindustriedisziplin darauf ausgerichtet die tierliche Individualität ontologisch auf eine Ressource, eine Maschine, ein Objekt zu reduzieren, die es möglichst vorteilhaft auszuschöpfen gilt (vgl. Thierman 2010: 96). Die nichtmenschlichen Tiere werden als Einzelne spezifiziert anhand ihrer konkreten (re-)produktiven Leistung sowie ihrer ›Gesundheit‹ und sind zugleich geschichtslose, austauschbare Vertreter_innen spezies- bzw. zuchtlinientypischer Anforderungen, etwa als milchgebende, ›fleisch‹ansetzende oder eierlegende Produktionseinheit (vgl. Cole 2011: 86). Letztendlich zielt dieser tierindustrielle ›Subjektivierungsprozess‹ auf die doppelte Auslöschung der Subjektivität der Schlachttiere: Zum Einen wird es in der Routine des Schlachtens keine Geschichte ihrer Eigenschaften geben, keinen Namen, der mit einem Individuum verbunden wäre, keine Identität und Beziehung. Zum Anderen besteht die konkrete Auslöschung in Form der Schlachtung bereits vor der Geburt des Tieres als Plan, den es zu vollenden gilt. Die hierzu nötigen Techniken der Disziplinarmacht sind als Integration (Generierung möglichst ähnlicher Eigenschaften der Schlachttiere) und Differenzierung (möglichst scharfe Abgrenzung von menschlicher Subjektivität) zu beschreiben (vgl. Deleuze 1987: 106ff.). Aber allein die Existenz der Disziplinartechniken weist darauf hin, dass der Telos noch nicht verwirklicht ist, weist auf widerständige Praktiken und eine nicht vollständig auslöschbare Subjektivität hin. Zusammenfassend lassen sich die Transformationen in der Tierhaltung als eine grundlegende Verschiebung beschreiben. Giedions Anspielung auf das in Europa »tiefverwurzelte[...] Gefühl, daß jedes Tier individuell behandelt sein will« (Giedion 1982: 242), offenbart einen historischen Bruch. Mit der Auto-

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matisierung der Tierhaltung und der Einrichtung des Schlachthofs als einem Prozess mit arbeitsteiligen Abläufen, sollen sich auch die letzten Spuren einer tierlichen Subjektivität verlieren. Effizienz wird nicht über Disziplinierungen auf der Verhaltensebene, nicht über ›Programmierung‹ und Gehorsam angestrengt, vielmehr werden die Körper der Tiere direkt biopolitisch manipuliert. Die Mensch-Nutztier-Beziehung wird durch Nutztier-Technik-Beziehungen großteils abgelöst. Ihre prägenden Erfahrungen machen die Nutztiere in der Interaktion mit Maschinen (vgl. Holloway 2007). Die Distanz zwischen Menschen und Nutztieren wächst direkt in der Produktion, aber auch die Distanz zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft wird durch räumliche Separierung und Mechanisierung vertieft. Die Tiere werden an unzugänglichen Orten eingehegt von Apparaten, Automaten und räumlichen Begrenzungen. Diese härten zwar den Prozess der Schlachtung und Effizienz sowie Kontrolle können gesteigert werden, aber die automatisierte Routine produziert neue Anfälligkeiten. Versagen die Apparate, versagt die gesamte Routine – von der defekten Belüftung von Mastställen, die zum tausendfachen Tod führt, bis hin zur Flucht eines Tieres durch eine Lücke im Prozess. Entgegen der Aussage, dass der Schlachthof nur als Gewaltverhältnis zu denken ist, zeigt sich gerade am Ausbruch, dass bis kurz vor der Schlachtung noch Räume des Widerstands entstehen können. Dieser Moment des Ausbruchs ist nur denkbar als ein Ereignis, das in dieser Art historisch spezifisch aus Macht, Distanz, Technik und Subjektivität emergiert. Hierfür bedarf es einer eigenen Theoretisierung.

J enseits der V erdinglichung : Z ur Theorisierung des A usbruchs Ein Blick in die Medien bestätigt den Eindruck, dass diese seltenen Momente von ausbrechenden und flüchtenden Tieren wiederkehren – und ähnliche Reflexe in Form und Inhalt auslösen. Theoretisch ist die Untersuchung derartiger Ereignisse jedoch schwer zu fassen, markieren sie doch einen der zentralen blinden Flecke von Sozialtheorie. In der Frage gesellschaftlicher Transformation glichen sich lange Zeit die prägenden gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze in ihrem Fokus auf die Reproduktion dualistischer Ordnungen: »Es gibt nur eine einzige mögliche Welt.« (Lazzarato 2007: 259). Dabei spiegeln sich auch die Prämissen der Schlachtroutine in den Gesellschaftstheorien und Nutztierwissenschaften wider. So werden hier wie dort zwar Leidens- und Empfindungsfähigkeit der Schlachttiere als Eigenschaften verhandelt, die in der Tierhaltung zu berücksichtigen sind, aber die grundlegende Differenzierung, wonach die Tiere einander ähnlich genug und den Menschen unähnlich genug sind, um schlachtbar zu sein, bleibt unangetastet. Der Blick auf

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die Institutionen der Tierhaltung verliert den Sinn für die vielfältigen Bewegungen der Tiere, fokussiert das Sein als Nutz- und Schlachttier und nicht das mögliche Werden. Bewegungen, die der Institution zuwiderlaufen oder gar die aufgestellte Mensch-Tier-Dichotomie überschreiten, bleiben so unerkannt. Allgemein sind Prozesse des Werdens und unvorhersehbarer Interaktionen in den Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnissen nur selten Thema in den Wissenschaften (vgl. Kurth 2013). In vielen gesellschaftlichen Bereichen ist mittlerweile ein Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft zu beobachten, in der das Außen und das Werden im offenen Raum moduliert statt im geschlossenen Raum diszipliniert werden (vgl. Lazzarato 2007; Deleuze 1993). Im Schlachthof hingegen darf die Lebendigkeit der Schlachttiere nicht die Kontinuität des Schlachtens verhindern. Der Sieg der Reproduktion des Tötens über die Differenz der Unterbrechung dieser Kontinuität wird noch immer durch strikte Disziplinierung des Außens und des Werdens erlangt – insbesondere über räumliche Anordnungen und technische Hilfsmittel, die Widerstände verunmöglichen sollen. Der Ausbruch als empirisches Beispiel für ein hereinbrechendes Außen stellt diese Reproduktion des Tötens infrage und mit ihr die Annahmen über gänzlich passive Tiere in einem reinen Gewaltverhältnis. Die Untersuchung dieser Ausbrüche kann angeleitet werden vom forschungsprogrammatischen Vorschlag der »Analytik des Werdens« (Pieper/ Panagiotidis/Tsianos 2011: 202) zur Untersuchung produktiver Subjektivierungsprozesse: »Es gilt eine neue Forschungsprogrammatik zu formulieren um das Produktive, Mobile, Überschüssige und Exzessive im Herzen der Biopolitik und im Vakuum von Kontrolle, Regulierung und (Selbst-)Regierung auszuloten.« (Pieper/Atzert/Karakayalı/Tsianos 2011: 18) Über Foucaults Analyse der vorgezeichneten Verhältnisse und Produktionsregime hinausgehend, richtet sich der Blick auf: »[…] Momente des Emergenten und der Transformation des Gegenwärtigen, die sich in den Mikropraktiken sozialer Akteur_innen und in den beweglichen Gefügen von sozialen Akteur_innen und nicht-humanen Aktanten im Verhandeln und Durchqueren gegebener Bedingungen und Ordnungen beständig neu konstituieren. Es sind jene Momente einer exzessiven produktiven Soziabilität, die Aspekte eines Überschusses bilden, der nicht in Strukturen vorgezeichneter Bedingungen aufgeht, sondern diese übersteigt in den beständigen Bewegungen der Deterritorialisierung eigener Existenzbedingungen. Es handelt sich hier um die Perspektive, die auf die Momente eines Aufbruchs verweist, in denen sich die Körper und Subjektivitäten immer wieder neu als singuläre Subjektivitäten erzeugen oder in denen widersätzliche, ›unwahrnehmbare‹ Politiken und Kämpfe entstehen, die gegenwärtige Bedingungen und Regime beharrlich durchqueren und umarbeiten.« (Ebd.)

Ausbruch aus dem Schlachthof

Diese Analyse ist für das Problem dahingehend wertvoll, dass ihr ein Perspektivwechsel weg von der Routine hin zur Irritation gelingt. Der Fokus auf die Momente des Emergenten, die Mikropraktiken und die Deterritorialisierung besitzt das Potenzial, die blinden Flecken der Ordnung zu erhellen. Wie kann dieser Überschuss aber aussehen? Anders als bei den von Marianne Pieper et al. untersuchten Rassismen und Rassifizierungsprozessen, ist in den gesellschaftlichen Mensch-Schlachttierverhältnissen keinerlei Subjektivität für die als Schlachttier Markierten vorgesehen (vgl. Cole 2011: 85).9 Die Apparate gestalten das Leben und den Tod – von der fabrikmäßigen Entstehung bis zur fabrikmäßigen Beendigung des Lebens. Wie bereits geschildert, finden sich dennoch Subjektivitäten, die nicht vollständig in die ökonomische Ordnung integriert werden können und damit ein Anknüpfungspunkt, um die Perspektive der Analytik des Werdens auch auf Mensch-Nutztier-Verhältnisse zu übertragen. Denn auch in den Widerstandspraktiken und insbesondere in den Fluchten und Ausbrüchen findet sich »›überschüssiges‹ Potential« (Pieper/ Panagiotidis/Tsianos 2011: 202), welches eine »Verabsolutierung der viktimologische[n] Perspektive auf Subjektivierungsprozesse durchkreuzt« (ebd.), ohne dass dabei theoretisch auf »Autonomie und Eigensinnigkeit intentionaler Subjektivität« (ebd.) zurückgegriffen werden muss. Deutlich wird auch, dass die »Erfahrungen des Erleidens und des Ausgeliefertseins an Herrschaftspraxen und Gewaltverhältnisse« (ebd.) die routinisierte Struktur des Prozesses bilden und die wenigen und seltenen Momente der Irritation dagegen kaum ins Gewicht fallen. Trotz allem manifestiert sich in der Praxis des Ausbruchs eine widersätzliche Kraft, eine Subjektivität, welche über die vorgegebenen Existenzbedingungen hinausgeht. Diese mit einer Analytik des Werdens zu untersuchen, verspricht ein vertieftes Verständnis von den Grenzziehungen und Potenzialitäten und ermöglicht es jenseits des Paternalismus der Viktimisierung eine Form der Agency zu markieren, die zu oft innerhalb des Produktionsregimes unsichtbar bleibt und doch Teil von ihr ist. Stellen Ausbrüche die Institution auch nicht ultimativ in Frage, so legen sie Spuren der Verunsicherung, ob die industriedisziplinarischen Beschränkungen wirklich Tierlichkeit zur Maschinenhaftigkeit beschneiden können. Im Folgenden soll dieser Verunsicherung am Beispiel dreier Kühe nachgegangen werden.

9 | Damit ist keineswegs gesagt, dass es keine historisch konkreten, je nach Tierhaltungsform und Art der Apparaturen verschiedene, Nutztiersubjektivitäten gibt (vgl. Holloway 2007).

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B avaria ,

die › wild ge wordene ‹

K uh

In den Lokalteilen von Zeitungen ist des Öfteren von entlaufenen, ausgebrochenen oder geflohenen Tieren zu lesen. Insbesondere die Fluchten von Rindern scheinen medienrelevant, möglicherweise Größe, Gewicht und dem daraus resultierendem Gefährdungsgrad geschuldet. Meist werden diese Vorkommnisse als kuriose Meldung deklariert, Hauptfokus liegt auf der Beeinträchtigung des gewohnten Ablaufs auf der Straße oder den Gleisanlagen und eventuellen Verletzten. Drei dieser Fälle sind die Fluchten der Kühe Bavaria, Wilma und Yvonne. All diese Geschichten spielen in Bayern, dem Bundesland, in dem 2014 mit 3.200.000 ein Viertel aller Rinder in Deutschland gehalten wurden (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). Als sich 2014 der »Sommer der Kuh« (taz 2014) langsam seinem Ende neigte und Kühe, die Wandernde (teils tödlich) attackieren oder in Häusern randalieren, aus den Meldungen verschwinden, wird am 02.09. Constanze Spitzweck, Sprecherin des Polizeipräsidiums München, zu Protokoll geben: »In München haben wir so etwas noch nie erlebt.« (Donaukurier 2014) An diesem Morgen werden kurz vor 7 Uhr am Münchner Schlachthof Rinder angeliefert. Eine zu große Lücke auf einer Rampe ist nicht mit Gittern gesichert wie in anderen Schlachthöfen. Eine Kuh gelangt durch die Lücke zunächst auf das Schlachthofgelände, durch ein weiteres offenes Tor schließlich auf die Straße. Sie wird Teil eines neuen Netzwerkes, des städtischen Gefüges aus Straßen, Häusern, Autos, Passant_innen, Vorfahrtsregeln etc. Ihre Position in diesem Stadtraum ist nicht mehr die einer verdinglichten Materiallieferantin, mit dem Betreten der Straße wird sie zur aktiven Gefährderin. Ihr wuchtiger, in Bewegung befindlicher Körper, sprengt die Ordnung des Stadtraumes und fordert die regulierenden Kräfte heraus. Ihr Weg führt sie auf den Vorplatz einer nahegelegenen Moschee. Hier wäre sie beinahe eingesperrt worden, entkommt jedoch mit einem Sprung über den Zaun. Im morgendlichen Berufsverkehr umrundet sie die zentrale Theresienwiese, auf der bereits die Zelte für das nahende Oktoberfest aufgebaut sind. Mittlerweile ist die Polizei alarmiert, kann jedoch nicht verhindern, dass ein Zusammentreffen von Kuh und Joggerin für letztere mit schweren Verletzungen endet. In ihrem Lauf wird weiterhin ein Polizeiauto demoliert. Auf der Theresienwiese schließlich »schossen die Polizisten zuerst mit ihren Dienstwaffen so auf die Kuh, dass sie nicht mehr angriffsfähig war« (Donaukurier 2014) und dann wurde sie mit zwei Gewehrschüssen »zu Füßen der Bavaria-Statue« (ebd.) getötet. Diese Statue wird ihr auch ihren Namen geben: die Kuh Bavaria (vgl. Bayerischer Rundfunk 2014). Bavaria, wie den meisten anderen, zur Schlachtung vorgesehenen, entflohenen Tieren, ist es nicht beschieden, vom Ausbruch zu profitieren. Mit dem Wechsel vom Schlachtareal in den öffentlichen Stadtraum, verschiebt sich ihr

Ausbruch aus dem Schlachthof

Status vom Schlachttier zur Bedrohung. Als »wildgeworden« und »aggressiv« beschreibt sie der Polizeibericht (Bayerische Polizei 2014). Tatsächlich ist sie im Wortsinne wild geworden, sie verließ das Areal, in denen die Praktiken und Normen der Schlachtordnung gelten. Während nun die Polizei den öffentlichen Raum zu befrieden und die gestörte öffentliche Ordnung wiederherzustellen versucht, ist Bavaria eine Grenzgängerin auf verbotenem Terrain. Wie Wildtiere, die in die Stadt ›eindringen‹, wird Bavaria zum ›Problem‹, das gelöst werden muss. Ihres 550-Kilogramm-Körpers und der ihr zugeschriebenen Aggressivität wegen, seien weder Betäubung noch Einfangen möglich. Es bleibt die Tötung. Doch: »Die Fahrt zum Metzger blieb der Milchkuh damit erspart. Sie landet nicht mehr in der Fleischtheke sondern in einer Tierkörperbeseitigungsanlage« (Donaukurier 2014). Mit ihrer Tötung wird die menschliche Verfügungsgewalt stabilisiert, nicht reproduziert wird der eigentliche Zweck ihrer Tötung: die Verwertung ihres toten Körpers. Ihre Flucht brachte sie nicht nur räumlich aus dem Schlachthof heraus, sie brach auch aus dessen Verwertungslogik aus. Ein Ende mit Symbolcharakter, der seinen Ausdruck in niedergelegten Blumen an der Bavaria-Statue nebst einer beigefügten Notiz fand: »Hier starb heute die Kuh Bavaria. Sie wollte leben und entfloh dem Schlachthof. Hier starb sie im Kugelhagel! Möge sie fortan unser Symbol für ein Streben nach Freiheit sein.« (Bayerischer Rundfunk 2014) Der naheliegende Fehler wäre nun, die gezeigten Affekte und Agency in die Kuh zu verlegen. Stattdessen können diese widersätzlichen Praktiken sozial nur ausgehend von der Ordnung verstanden werden: Die Konstruktion der Körper, die Einhegungen durch Disziplinar- und Bio-Macht, die materielle Anordnung der Haltungs- und Schlachtstätten. Und dennoch, aller Vorsicht vor Intentionalismen zum Trotz, wird es beim besten Willen am Beispiel des Ausbruchs nicht gelingen, das Ideologem des stillschweigenden ›Einverständnisses‹ zu bedienen, nach welchem eine Kuh sich bereitwillig schlachten lässt im Austausch für ein erfülltes, symbiotisches Leben unter dem menschlichen Schutz der Einhegung.10 Ein wuchtiger Körper setzt sich in Bewegung, sprengt die Ordnung, indem er die Schlachthofanordnung und die Maschinerie durchbricht und drängt ins Sichtbare als ein Lebewesen, welches im Verborgenen bleiben soll. Bavaria überwindet die Distanz zwischen Gesellschaft und Nutztierproduktion, ihre Flucht wird zum Medienereignis. Dass ihr aktive Affekte zugesprochen werden (›Aggression‹), sie gar einen Namen bekommt, kann auf eine beginnende Markierung als Individuum hindeuten. Dies steht in offenem

10 | Diese Ansicht besitzt vielfältige mythologische Wurzeln und ist noch heute, unter radikal veränderten Bedingungen, wirkmächtig, wie Foer schildert (2010: 119f., 237). Dass gerade in den Mensch-Nutztier-Verhältnissen selten tatsächlich tierliche Artikulationen von Belang sind, ist offenkundig (vgl. Kurth 2011).

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Widerspruch zu den unmarkierten Schlachttieren, von denen ein Bild größtmöglicher Homogenität und abweichungsfreier ›Rohware‹ gezeichnet wird. Daran anschließend, ist der Fall der Kuh Wilma von Interesse. Es wird berichtet, dass sie während der Melkung ausschlug und aus diesem Grund zum Schlachthof verbracht wurde. Aus dem Schlachthof in Pfarrkirchen bei Passau brach sie jedoch ebenfalls aus und wurde, nachdem sie von einem Jäger betäubt und eingefangen wurde, an einen Gnadenhof verkauft (vgl. PNP 2015). Ein ökonomistisches Narrativ greift zu kurz, um die Schlachtung der jungen renitenten Milchkuh zu erklären, die noch einige Jahre hätte von Nutzen sein können. Was auch immer die Absichten hinter der vorzeitigen Schlachtung gewesen sein mögen, eine symbolische Dimension besitzt die Geschichte spätestens seit dem Ausbruch aus dem Schlachthof. Eine Kuh bekommt eine soziale Identität: einen Charakter, eine Geschichte und einen Namen – »Wilma, wie das Tier mittlerweile genannt wird« (ebd., Herv. M. K.). Mit der Überschreitung des Schicksals Schlachttier, kann sich eine Subjektposition für ehemalige Schlachttiere als begnadigtes Tier eröffnen. Das Schlachttier hat Charakter bewiesen, Wilma wird als individuell anerkannt. Sie wird verkauft und lebt vor allem dank ihrer – medial vermittelten – vermeintlichen Verschiedenheit gegenüber den weiteren Schlachttieren, die sich in der Praxis des Ausbruchs manifestierte. Einerseits lenkt der Ausbruch die Aufmerksamkeit auf die mögliche Individualität der Schlachttiere, andererseits wird über die Einfassung des Ausbruchs in das Narrativ der Ausnahme, der besonderen Kuh, auch die begnadigte Kuh symbolisch wieder eingefangen. Gerade wenn sie medial als Heldin tituliert wird, verweist dies auf die Millionen anderer Kühe, die von ihr abgegrenzt werden. Einen solchen Doppelcharakter zeigt auch die ungleich populärere Geschichte der Kuh Yvonne. Diese flüchtet 2011 von einer Weide und versteckt sich im Wald. In der Medienberichterstattung galt sie allgemein als »die Kuh, die ein Reh sein will«.11 Sie blieb lang genug unauffindbar, bis eine Einigung über ihren Verbleib erzielt war. Eingefangen und auf einen Gnadenhof verbracht, tritt auch sie in ein neues Netzwerk ein. Als Gnadenhoftier bleibt sie Besitz, aber unter neuen Voraussetzungen. Ihre Subjektivität wird anerkannt, eine entsprechende Rechts- und Subjektposition sichert ihr das Lebensrecht. Ihr Name (einer Spenderin des Gnadenhofs entliehen) und ihre Geschichte sorgen dafür, dass sie als Gnadenhoftier jene menschlichen Interaktionen kennenlernen wird, die den Schlachttieren verwehrt bleiben. Das Ereignis des Ausbruchs, die Schwebe des Werdens, wird in ein neues Sein überführt.

11 | Yvonne hat in der deutschsprachigen Wikipedia sogar einen Eintrag in der Kategorie »Individuelles Rind« (den sie sich hauptsächlich mit besonders leistungsstarken Zuchtbullen und begnadigten Stieren aus Stierkämpfen teilt).

Ausbruch aus dem Schlachthof

G eschichten der F lucht der Theoriebildung

als

R essourcen

Für die Reproduktion der Disziplinarmacht der Schlachthofordnung, in der Positionen und Abläufe als fixiert gelten, ist der Überschuss des Ausbruchs, diese exzessive produktive Soziabilität, problematisch. Es wird deutlich, wie begrenzt der Zuschnitt der Affekte und Interaktionen ist, wie mögliche Subjektivitäten unsichtbar gemacht und hinter hohen Mauern versteckt werden. In der Situation des Ausbruchs, ebenso wie in anderen Situationen, in denen die Tiere die Räume der Einhegung überschreiten, scheint auf, was verdrängt werden soll: die Manifestation widerständiger Agency und mit ihr Spuren von Individualität. Wohin jeweils die Flucht führt, ist recht überschaubar. Das Einfangen und Rückführen in die Schlachthofordnung ist eine Möglichkeit. Die zweite Möglichkeit ist die Tötung durch Jäger_innen oder Polizei. Die dritte Möglichkeit ist der Verkauf an einen Gnaden- oder Lebenshof. Systematisch betrachtet, stellt jeder Ausbruch zunächst Zuschreibung und Anspruch an das Tier als das zu Schlachtende infrage. Ohne bereits die Folgen eines solchen Ausbruchs abschätzen zu können, kann zumindest der Moment des Ausbruchs als Moment der Transdifferenz verstanden werden. Transdifferenz »bezeichnet Situationen, in denen die überkommenen Differenzkonstruktionen auf der Basis einer binären Ordnungslogik gleichsam ins Schwimmen geraten und in ihrer Gültigkeit temporär suspendiert werden, ohne dass sie damit endgültig dekonstruiert würden.« (Lösch 2005: 27) Eine derartige Praxis weist in diesem spezifischen Moment über das routinierte Sein hinaus und ermöglicht eine Perspektive der Befreiung, des Bruchs mit der Schlachtanordnung und der Sprengung kategorialer Zuschreibungen. Diese Momente der Transdifferenz verschwinden allerdings meist so schnell wie sie erschienen sind. Das flüchtende Tier wird eingefangen oder der Schlachtpraxis des endlosen Bandes des Lebenden ins Tote wird schlicht ein anderes entindividualisiertes Schlachttier zugeführt (vgl. Roscher 2011: 137). Durch die vermeintlich fehlende Sprache sind die meisten Instrumente der Sozialforschung im Bereich der Mensch-Tier-Verhältnisse unbrauchbar. Die Ausbrüche sind systematischer Wissenschaft nur schwer zugänglich und bewegen sich wie eingangs bereits geschildert eher im Bereich der Anekdote. Um dennoch Subjektivitäten nachzuspüren, bedarf es einer empathischen Ethnographie bzw. Ethologie. Wie die Ethnographie in Teilen der Soziologie unter dem Vorwurf des unwissenschaftlichen Subjektivismus abgelehnt wird, gibt es auch Positionen in der Philosophie, die eine Tierethnographie im Sinne einer Ethologie als anthropomorphisierend ablehnen. Joëlle Proust etwa schreibt, dass eine Theorie des Geistes bei Tieren nichts weiter als eine Samm-

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lung widerlegter »Anekdoten« darstellt und verwirft die Ethologie als Disziplin des Anekdotensammelns (Proust 2005: 242, vgl. ebd. 236). Die ›wissenschaftlicheren‹ Alternative wären die Versuchsauf bauten der Labore und Gehege. Doch wie sollen diese die Verhältnisse und Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren nachbilden, wie sollen sie ergründen, welche Verhältnisse und Anordnungen potenzielle Fähigkeiten abschneiden und wie Biologie und soziale Ordnung zusammenhängen? Geschichten aus der sozialen Realität, wie die von Bavaria, Wilma und Yvonne, beinhalten mehr als ihnen oft zugestanden wird. Der Ethologe Marc Bekoff betont, dass Anekdoten wichtige Lücken in unserem Wissen über nichtmenschliche Tiere schließen können: »Anecdotes and stories drive much of science and, of course, are not enough on their own, but to claim that they are not a useful heuristic flies in the face of how hard science and soft science are conducted.« (2006: 89) Von ähnlicher Relevanz sieht Donna Haraway diese Geschichten als lokale, geschichtliche Wissensformen gegenüber dem abstrakten wissenschaftlichen Wissen (vgl. Haraway/Despret 2011: 95). In derartigen Geschichten geht es ihr zufolge nicht »um die Enthüllung von Geheimnissen, die Helden sich aneignen, während sie leuchtende Objekte […] verfolgen«, sondern darum, »unerwartete Partner und irreduzible Einzelheiten« (Haraway 1995: 84) in brüchigen, reformulierten Geschichten ohne Anfang und Ende zu versammeln. Bavaria ist keine Heldin, aber der Mehrwert ihrer Geschichte liegt darin, dass sie die vorgegebenen Bahnen des Denkens über Beziehungen zwischen Menschen und (Schlacht-)Tieren durchkreuzen kann: »We also live with each other in the flesh in ways not exhausted by our ideologies. Stories are much bigger than ideologies. In that is our hope.« (Haraway 2003: 17) In ihrer Komplexität und Bewegung an vielfältigen Grenzen entlang und über sie hinweg können die Geschichten auch vervielfältigend wirken und das Außen der Disziplinar- und Biomacht markieren. In ihrer Unabgeschlossenheit kennen die Geschichten keine präexistenten Partner_innen, sondern beschreiben vielmehr Beziehungen im Werden, welche die Entitäten an allen Enden der Beziehung transformieren. Sie verweisen darüber hinaus auf die Möglichkeit und empirische Relevanz anderer Machtformen, welche die Subjektivitäten der nichtmenschlichen Tiere adäquater einzufangen vermögen. Während die Geschichten von Yvonne und Wilma in einer Analytik des Werdens mit ihren geglückten Ausbrüchen andere Mensch-Tier-Interaktionen und neue Subjektivitäten ins Spiel bringt, taugt die Geschichte von Bavaria eher im Rahmen einer Geschichte von unten tierlichen Widerstands – in der die Kuh nicht als Objekt, sondern als widerständiges Wesen auftaucht (vgl. Hribal 2007: 102). Geschichten der Transdifferenz einzubeziehen, heißt in beiden Fällen mit dem tierlichem Objektstatus zu brechen. Wie das Wissen über nichtmensch-

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liche Tiere auf den hinteren Seiten der Zeitungen zirkuliert, zirkuliert ihre Lebendigkeit in Anekdoten, Erzählungen und Geschichten und geht in die Alltagskultur ein. Eine Theorie der Schlachthöfe zu entwerfen, in der die Tiere in ihrer Vielfalt hinter den sie behandelnden Mechanismen verschwinden, wird deren potenzieller Agency nicht gerecht. Hribal konstatiert jedoch diese Sicht für einen Großteil der Human-Animal Studies-Literatur: »Agency is discussed as a theory, but it is not applied in practice. The agents (i. e. the animals themselves) dissipate into a vacant, theoretical category. This is a view from above. History from below is not a theory.« (Hribal 2007: 102) Sozialtheoretisch sind Analysen der Geschichte(n) von unten, der Berücksichtigung von Mikropraktiken im Rahmen einer Analyse des Werdens, einzufordern. Nicht nur auf dem Feld der Debatte um Agency stellen sie Interventionen gegen die zweite, diesmal theoretische, Verdinglichung der Tiere dar.

S chlussfolgerungen Die Kuh aus der Eingangsgeschichte von Pachirat, wurde wie die Kuh Bavaria von der Polizei in die Enge getrieben und erschossen. Die Kuh aus der Geschichte von Foer wird trotz Schwimmeinlage eingefangen und geschlachtet. Wilma und Yvonne hingegen finden eine anerkannte Subjektposition als Gnadenhoftiere. Ungeachtet des konkreten Ausgangs und der auseinanderklaffenden Schicksale, wird das Außen erneut in die Tierindustriedisziplin integriert. Entweder über die Bekräftigung des Verfügungsanspruchs des Tötens – trotz Flucht – oder über die Überführung der Kuh in ein geschütztes Sein via Zubilligung eines Ausnahmestatus als Gnadenhoftier. Der Status der Schlachttiers, dessen Schicksal bestimmt ist, schließt weiterhin eine Individualisierung aus. Der Schlachthof bleibt eine Anordnung, die ganz verschiedene Entitäten (unfreiwillig) zusammenbringt. Diese Praxis wird durch Apparaturen gehärtet: Die Gatter bei der Anlieferung, das Bolzenschussgerät, das Fließband, sie alle sind Teil des Schlachtprozesses und sollen die ununterbrochene Reproduktion des Prozesses absichern. Auf die Nutztiere wirkt die Bio-Macht als Formung ihrer Körper durch Züchtung und Eingriffe ein. Sozialtheoretisch liefern Latour und Foucault jedoch nur Hinweise auf die Disziplinierung, die Maschinen, die Reproduktion – was fehlt ist die genuin tierliche Performanz, das Werden, die Lücke. Eine Analytik des Werdens erkennt diesen blinden Fleck, die Irritation und Überschüsse, die durch die Überschreitung der Ordnung entstehen. Ausbrüche lassen sich als Momente der Transdifferenz beschreiben, welche etwa die Grenzen von Schlachttier, Wildtier und Gnadenhoftier unterlaufen und die über ihre Sichtbarkeit die Distanz zwischen Gesellschaft und Nutztierproduktion überwinden. Sie sind jedoch nicht als Er-

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folgsgeschichten zu lesen, sondern als Praktiken ausgehend von der Schlachthofroutine. Sie können einzelnen Tieren das Leben retten und produzieren einen symbolischen Gehalt, der Teil einer Transformation von Praktiken der Tiernutzung sein kann. Die Geschichten oder Anekdoten der Ausbrüche können theoretisch die Sinne dafür schärfen, dass auch in Tierhaltungssystemen Freiheitsgrade vorherrschen und destabilisierbare Routinen statt hermetische Automatismen am Werk sind. Die orts- und zeitunabhängigen Wiederholungen legen nahe, dass es sich um eine Praxis handelt, die nicht gänzlich zufällig auftritt. Zudem zeigt sich, dass auch diese Anekdoten keineswegs folgenlos sind. Bavarias Geschichte wird lokal in Erinnerung bleiben. Die Lücke aber, durch die sie flüchten konnte, wird nun wohl verschlossen sein. Wilma und Yvonne ermöglicht das Eingehen in eine Gnadenhofordnung neue, ganz andere Existenzen. Was die Diskussion von Agency anbelangt, konnte gezeigt werden, dass die strikten Begrenzungen der Disziplinarmacht relationale Praktiken sind, die von widersätzlichen Praktiken attackiert werden. Anders als in den Medien, die hinter jeder Bewegung der Flucht Motive und Intentionen sehen, genügt es im praxeologischen Paradigma zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Praktiken existieren: Eine Agency jenseits der Schlachtung, die ohne eine bestimmte Form von Subjektivität nicht denkbar ist. Diese Subjektivität ist geformt von den Erfahrungen des Fluchttiers mit der eigenen Körperlichkeit sowie den fehlenden menschlichen und zahlreichen technischen Interaktionen in der Nutztierhaltung. Ein solches Bild der Zurichtung widerspricht fundamental dem bereits erwähnten Mythos der Wahlmöglichkeit für Schlachttiere. Die Verantwortung für die Routine ist über die Mensch-Tier-Grenze geschieden, der Ablauf bleibt geprägt von Zwang, Gewalt und Tod. Und doch bleibt fraglich, ob das Denken in Widersprüchen und dessen Ignoranz gegenüber dem sich Entziehenden und den Fluchtlinien, die soziale Realität wirklich hinreichend beschreibt. Die Schlachtung setzt jeder Potentialität ein Ende. Das Auftreten von Ausbrüchen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten aber lässt den Schluss zu, dass auch diese Praxis fester Teil des Systems ist: Dass sich überall dort, wo die Tiere geschlachtet werden, Situationen der Flucht ereignen können. Die Wahrnehmung und theoretische Berücksichtigung selbiger ist bereits ein Zeichen sich transformierender Verhältnisse.

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Autonomie bei Hunden Die Fähigkeit, das eigene Handeln durch selbst gesetzte Zwecke Regeln zu unterwerfen, macht nichtmenschliche Tiere im Kant’schen Sinne zu Zwecken an sich Martin Balluch

Fühlt sich ein Hund an der Kette in seinem Selbstverständnis als gefangenes Wesen oder ist die Kette lediglich eine Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit, die er erst dann bemerkt, wenn er das Kettenende erreicht? Der erstere Fall setzt voraus, dass Hunde ein Interesse an Autonomie an sich haben. Im engen Zusammenleben mit einem Hund in der Wildnis, wenn er nicht mehr von seinem menschlichen Begleiter abhängig ist, zeigt sich, dass er ein freies Wesen ist, das nicht nur vernünftige Entscheidungen (z. B. bzgl. des besten Weges) trifft, sondern sich auch selbst Zwecke setzt und sich so an eigene Regeln bindet. Diese Einsicht wird durch neurobiologische, physiologische und wissenschaftstheoretische Überlegungen untermauert.

E inleitung Der klassische Tierschutzgedanke zielt auf einen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren ab, der deren Leid möglichst vermeidet. Dadurch sind aber der Besitz und die Nutzung nichtmenschlicher Tiere durch Menschen nicht ausgeschlossen, solange diese durch paternalistisch-freundliche Humanität geprägt sind. Hintergrund ist die Vorstellung, dass Tiere zwar unter Hunger, Schmerzen, Isolation, dem Blockieren ihrer Bewegungen o. Ä. leiden und vor diesem Leiden bewahrt werden sollten, aber – sind diese Probleme erst entfernt oder zumindest stark gemildert – kein darüber hinaus gehendes Interesse an Freiheit haben, das geachtet werden müsste. Der Unterschied lässt sich gut am Beispiel des Kettenhundes verdeutlichen. Der klassische Tierschutz sieht erst dort ein Problem an der Kettenhaltung, wo diese den Hund am Ausleben seiner Affekte hindert, wo er also von der Kette aktiv zurückgehalten wird. Doch ist es wahr, dass Hunde kein Bewusstsein davon hätten, an der Kette zu liegen

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und sich dadurch eingeschränkt zu fühlen, selbst wenn sie deren Ende gar nicht spüren? Grundrechte schützen Menschen davor, Besitz anderer zu sein und als bloßes Mittel für deren Zwecke zu dienen. Grundrechte versprechen Schutz der Freiheit des Menschen in allen Bereichen, z. B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit, und damit im Zusammenhang den Schutz des menschlichen Lebens. Nirgends in den Menschenrechten ist von der bloßen Minimierung von Leiden die Rede. Ein Mensch an der Kette hat seine Freiheit verloren, das ist daran das ethische Problem – unabhängig davon, ob der Mensch vorhatte, sich gerade von der Stelle zu rühren oder nicht. Ein Hund, so die gängige Folklore, hätte gar keine Freiheit in einem ähnlichen Sinn, die er durch die Kette verlieren könnte: Bei Hunden würde es ausreichen, die Kette so lang zu machen, dass sie in der Praxis nicht bemerkt wird. Der Begriff Agency bezeichnet die Fähigkeit zu intentionalem, d. h. zielgerichtetem Handeln. Autonomie dagegen bedeutet, zusätzlich noch das Handlungsziel selbst frei auswählen zu können. Ein Hund mit Autonomie würde diese verlieren, wenn er an der Kette liegt, bevor er noch an ihr Ende gelangt. Die Kette würde ihm die Möglichkeit nehmen, seine Ziele selbst zu bestimmen und seine Lebensgestaltung zu übernehmen. Unabhängig von hedonistischen Leidensabwägungen in Abhängigkeit von der Kettenlänge stellt die Kette das Ende seiner Freiheit an sich dar. Autonomie bei Hunden sei doch lachhaft, meinte der Obmann eines Canidenvereins in der Diskussion über die Erziehungsmethoden eines Cesar Millan anlässlich dessen Vortragstournee im Jahr 2014. Zwei Ideologien stießen bei diesem Konflikt aufeinander. Einerseits die biologistische, dass Hunde ständig danach streben würden, »Alphatier im Rudel« zu sein und deshalb mit aller Macht dominiert werden müssten. Das liege eben in ihren Genen, Hunde als Biomaschinen mit fixem Verhaltensprogramm. Also sollten sie immer als Letzter essen oder durch eine Tür gehen, niemals erhöht sitzen und ständig auf Befehl stehen, sitzen, liegen und sogar koten. Dem entgegen positioniert sich die gewaltfreie Hundeerziehung, die mit Konditionierung mittels positiver Verstärkung arbeitet. Der Hund wird behavioristisch als Reiz-Reaktionsmaschine aufgefasst, deren Verhalten von Grund auf durch den Menschen zu formen ist. Ein für ›die Besitzer_innen‹ aufdringliches oder negatives Verhalten wird ignoriert, wie z.B. Bellen, jede kleinste in den Augen der Menschen angenehme oder positive Reaktion wird sofort mit Leckerlis verstärkt. Das Resultat ist ein durch Gehirnwäsche an das menschliche Umfeld angepasster Hund. Beide Ideologien, die biologistische und die behavioristische, gestehen dem Hund keine Autonomie zu. Zwar sei er leidensfähig und habe Gefühle, aber sein Verhaltensrepertoire wäre durch angeborene oder ankonditionierte Affekte vollständig bestimmt. Die Persönlichkeit des Hundes reduziert sich

Autonomie bei Hunden

in diesem Bild auf sein genetisches Make-up, oft als Rassemerkmal interpretiert, seine angelernten Reizreaktionen oder eine Mischung daraus. Dass der Hund eigene Entscheidungen treffen könnte, dass er ein Selbst-Bewusstsein und einen freien Willen hätte, jedenfalls im Sinne der Freiheit des Menschen, sich über Affekte manchmal bewusst hinwegsetzen zu können, sei undenkbar. Ja, in paternalistischer Überhöhung der eigenen Position sieht man sich auch moralisch im Recht und meint, eben besser zu verstehen als er selbst, was gut für den Hund wäre, ihn also sozusagen zu seinem Glück zwingen zu müssen. Der Hund könne schließlich nichts für das, was er so tut. Er sei grundsätzlich unschuldig. Ihm normatives Verhalten zuzubilligen wäre nur ein Ablegen der eigenen Verantwortung. Doch mit dieser fast schon nett und verständnisvoll klingenden Formulierung wird der Hund – und werden mit ihm alle anderen nichtmenschlichen Tiere – aus der Sphäre der Träger_innen subjektiver Rechte bzw. rechtetragenden Subjekte ausgeschlossen. Wesen werden in unserer Gesellschaft nur als Du ernstgenommen und moralisch voll berücksichtigt, wenn sie eigenständige Entscheidungen treffen können. Für Immanuel Kant (1785) ist Freiheit die zentrale ethische Größe und zwar die Freiheit, sich selbst Pflichten auferlegen zu können. Das freie Wesen entscheidet sich für einen Zweck, z. B. im Garten Gemüse anzupflanzen, und bindet sich dadurch selbst, ggf. auch entgegen den eigenen Affekten gewisse Handlungen durchzuführen, also im Beispiel das Gemüse im Garten zu gießen, selbst wenn man gerade keine Lust dazu hat. Autonomie wird hier zur Fähigkeit, sich in diesem Sinn Gesetze zu geben, sie wird im Zivilrecht implizit zur definierenden Größe für den Status als Person. Nichtmenschliche Tiere könnten das nicht und wären daher lediglich Mittel für menschliche Zwecke. Darauf basiert die Feststellung im Zivilrecht, dass nichtmenschliche Tiere nur Sachen seien oder zumindest nur wie Sachen zu behandeln wären. Diese Praxis wird von kantianisch argumentierenden Philosoph_innen bis heute verteidigt. In einer Vorlesung über Tierethik an der Veterinäruniversität Wien z. B. stellte die Vortragende fest, dass nichtmenschliche Tiere aus ihren Affekten nicht ausbrechen könnten und daher zurecht als Sachen qualifiziert würden, wenn auch als fühlende Sachen, auf die daher eine gewisse Rücksicht zu nehmen sei. Unreflektiert wird diese Sicht gebetsmühlenartig wiederholt: in der Tierwelt gäbe es keine Liebe oder Freundschaft, sondern nur das Sich-Durchsetzen-Müssen. Den Begriff ›Kultur‹ müsse man für Menschen reservieren und die sprachliche Trennung in ›essen‹ und ›fressen‹ aufrecht erhalten, weil das eine eben von einem selbstbestimmten Wesen stamme, das andere aber fremdbestimmt sei, durch Affekte nämlich, die von nichtmenschlichen Tieren nicht kontrolliert werden könnten. Eine Enzyklopädie für Religion und Ethik aus dem Jahr 1906 führt dazu aus: »Die Zivilisation und die Bildung haben die Einsicht einer großen Kluft

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zwischen dem Menschen und den niederen Tieren mit sich gebracht. […] In den niedrigen Formen von Kultur, die entweder bei Rassen, die sich als Ganzes unter dem Niveau der europäischen Rasse befinden, oder in den unkultivierten Teilen der zivilisierten Gesellschaft, wird die Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren nicht richtig bzw. überhaupt nicht anerkannt. […] Der Wilde […] gesteht dem Tier wesentlich komplexere Gedanken und Gefühle und ein viel größeres Wissen und eine viel größere Macht zu, als es tatsächlich besitzt« (Zit.n. Masson/McCarthy 1994: 41). Es ist also der Schritt aus der Wildnis in die Zivilisation, letztlich der Schritt in die Aufklärung (vgl. Balluch 2005: 126), der den Menschen die nichtmenschlichen Tiere mit anderen Augen sehen lässt. Wenn uns der Schritt in die Zivilisation die nichtmenschlichen Tiere als minderwertig erscheinen ließ, könnte dann vielleicht der Besuch in der Wildnis, wo eine Begegnung auf Augenhöhe möglich wird, helfen, die eigene Überheblichkeit abzulegen und gleichberechtigte Beziehungen mit Individuen anderer Spezies zu erfahren? Die Naturwissenschaft hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel an Fakten über Bewusstsein, Kognition und Verhalten nichtmenschlicher Tiere zusammengetragen. Im Weiteren sollen diese Ergebnisse vorgestellt und zur Interpretation einer engen Hund-Mensch-Beziehung in der Wildnis verwendet werden. Dabei zeigt sich, dass Hunde durchaus autonomiefähig sind. Diese Einsicht führt zuletzt dazu, dass Kants Argument für die Dichotomie zwischen Person und Sache, wie sie unserem Zivilrecht zugrunde liegt, dergestalt abgeändert werden muss, dass auch Hunde (und andere Tiere) Träger_innen von Grundrechten werden.

B e wusstsein Der Ausgangspunkt für die Klärung der Frage nach der Autonomiefähigkeit von nichtmenschlichen Tieren und insbesondere Hunden liegt in einer Untersuchung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Kant sah in der Rationalität des Menschen die Möglichkeit, sich über Affekte, also über genetisch fixierte Instinkthandlungen und angelernte Reizreaktionen, hinwegsetzen zu können. René Descartes unterzog nichtmenschliche Tiere aus denselben Gründen seinem Sprach- und Handlungstest (vgl. Descartes 1637/1988: Kapitel 5). Da in seinen Augen selbst der dümmste Mensch sprechen könne, nichtmenschliche Tiere aber nicht, sei bewiesen, dass diese nicht intentional handlungsfähig wären. Selbst heute findet man dieselben Vorbehalte bei verschiedenen Autor_innen (vgl. Bermudez 2003). Um intentional zu handeln, müsse man einen Wunsch mit einer Überzeugung über die Umwelt, wie dieser Wunsch erfüllt werden könnte, kombinieren. Eine Überzeugung sei aber im Wesentlichen ein Satz:

Autonomie bei Hunden

etwas ist auf eine Weise. Wer keine Sprache habe, der sei also auch zu keinen Überzeugungen und daher zu keinem intentionalen Handeln fähig. Descartes’ Handlungstest besteht in der Beobachtung, dass nichtmenschliche Tiere zwar in manchen Dingen geschickter und scheinbar klüger als Menschen seien, aber in anderen wiederum offensichtlich völlig dumm. Da aber nach Descartes’ Ansicht Vernunft entweder gar nicht oder vollständig vorhanden ist, müsse es für diese scheinbar intelligenten Handlungen andere Erklärungen geben – und nichtmenschliche Tiere hätten in Wahrheit überhaupt keine Vernunft. Stattdessen seien sie lediglich Spielbälle ihrer Antriebe und Affekte und damit nur Automaten. Es mache aber keinen Sinn, dass die Geschehnisse, die einem Automat widerfahren, von einem subjektiven Erleben durch den Automaten begleitet sind, wenn der Automat sowieso in seinen Handlungen festgelegt ist und aus diesem subjektiven Erleben keine Konsequenzen ziehen kann. Deshalb war für Descartes klar, dass nichtmenschliche Tiere kein subjektives Erleben, also keine Gefühle, haben könnten. Der Schmerzensschrei eines Hundes, den Descartes ohne Betäubung in einem Tierversuch an ein Brett nagelte und aufschnitt, erklärte er rein mechanisch, wie das Quietschen eines nicht geölten Uhrwerks. Diese Fähigkeit, subjektive Erlebnisse haben zu können, die Descartes den nichtmenschlichen Tieren abspricht, nenne ich hier Bewusstsein. Es ist das, was verschwindet, wenn wir uns in Tiefschlaf oder Narkose befinden. Es ist das subjektive Erlebnis, wenn wir etwas wahrnehmen (sehen, hören, riechen etc.) oder empfinden (Hunger, Durst, Lust, Freude, Angst, Verzweiflung usw.). Abseits metaphysischer Annahmen wird das Bewusstsein als ein physikalischer Zustand eines physikalischen Systems von den Neurowissenschaften erforscht. Und diese Forschung hat mittlerweile ein eindeutiges Ergebnis gebracht. Am 7. Juli 2012 wurde die Francis Crick Memorial Conference in Cambridge in England veranstaltet. Die Anwesenden waren führende Wissenschaftler_innen im Bereich der kognitiven und computergestützten Neurowissenschaften, Neuropharmakologie, Neurophysiologie und Neuroanatomie. Bis auf einen haben sie alle ihr Wissen über Bewusstsein aus ihrer praktischen Arbeit im Labor und nicht aus Freilandbeobachtungen von Tieren erhalten, also zu einem großen Teil aus Tierversuchen. Und trotzdem erklärten sie feierlich an die Öffentlichkeit gewandt, dass nach allen Kriterien der Naturwissenschaft nun die Existenz von Bewusstsein bei Tieren als bewiesen gelten muss: »Convergent evidence indicates that non-human animals have the neuroanatomical, neurochemical, and neurophysiological substrates of conscious states along with the capacity to exhibit intentional behaviors. Consequently, the weight of evidence indicates that humans are not unique in possessing the neurological substrates that generate consciousness. Nonhuman animals, including all mammals and birds, and

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Mar tin Balluch many other creatures, including octopuses, also possess these neurological substrates.« (fcmconference 2012)

Es gilt also nun als anerkannter Stand des Wissens, dass zumindest alle Wirbeltiere und Oktopusse ein Bewusstsein haben. Das Nervensystem mit seiner zentralen Verrechnungsstelle im Rückenmark und dem Stammhirn verarbeitet Meldungen aus dem gesamten Körper. Es leitet unmittelbare und unbewusste Reaktionen auf Reize im Millisekundenbereich ein, um eine Homöostase zu ermöglichen. Dieses Nervensystem wird nun im Gehirn, wie z. B. der Schaltplan des Schienennetzes eines Landes, abstrakt abgebildet, d. h. in erster Ordnung dargestellt. Dadurch werden Informationen über den gesamten Körper zusammen verarbeitet und Reaktionen zentral gesteuert. Man nennt diesen Schaltplan das Protoselbst. Dieses ermöglicht die Homöostase auf einem höheren Niveau, ebenfalls noch ohne bewusste Steuerung. Der Neurobiologe Antonio Damasio (vgl. Damasio 2000) fasst hierbei Bewusstsein als die Fähigkeit, die Interaktion eines mentalen Objekts mit dieser Darstellung erster Ordnung des Nervensystems, also dem Protoselbst, nonverbal zu kommentieren. Mit anderen Worten: Bewusstsein in seiner elementarsten Form geht mit dem subjektiven Verstehen eines Vorgangs im eigenen Körper einher. Die Urform des Bewusstseins ist dann z. B. der bewusst erlebte Zahnschmerz. Dieser Schmerz kann so stark werden, dass er jede andere Wahrnehmung ausschaltet. Das Wesen mit Bewusstsein hat dann einfach nur das rohe Erleben, selbst Zahnschmerzen zu haben. In diesem Sinne versteht es, ein Wesen zu sein, das Zahnschmerzen hat. Verstehen basiert hier also nicht auf dem, was klassisch mit Rationalität bezeichnet wird, vielmehr handelt es sich um eine Intelligenz im weiteren Sinne. Dabei umfasst der Begriff Verstehen nicht zwingend das Erkennen von Ursachen oder möglichen Folgen, sondern zunächst einmal einfach das Erkennen des Umstandes der Existenz dieser Schmerzen. Bewusstsein geht in diesem Bild über bloße Genetik – die unmittelbare Homöostasereaktion des Nervensystems – und Konditionierung – das automatisiert angelernte Reizreaktionsverhalten des Protoselbst – hinaus. Das Subjekt wird sich eines Umstandes bewusst, sodass daraus eine Handlung abgeleitet werden kann, die dann bewusst gesetzt wird. Diese bewusste Entscheidung basiert auf Verstehen. Bewusstsein ist evolutionär entstanden. Da bewusste Handlungen einen viel größeren Energieaufwand benötigen und viel langsamer ablaufen, als unbewusste, kann die bewusste Empfindung kein Epiphänomen sein, das automatisierte Handlungen einfach begleitet. Bewusstsein muss also eine Auswirkung auf die Handlungen des Lebewesens mit Bewusstsein haben, d. h. die bewusste Entscheidung für ein Handlungsziel statt einem anderen wird möglich. Hier beginnt die Autonomie (vgl. Balluch 2005: 88).

Autonomie bei Hunden

Der österreichische Logiker und Mathematiker Kurt Gödel bewies 1930 sein Unvollständigkeitstheorem. Damals versuchte man, die Mathematik derart zu formalisieren, dass man letztlich ein vollständiges System ihrer Voraussetzungen oder Axiome finden könne, das dann mit den formalen Regeln der Logik sozusagen ohne darüber hinausgehende Annahmen jedes mathematische Theorem liefert. Heute würde man sagen: das Ziel war, die gesamte Mathematik programmierbar zu machen, sodass ein Computer jedes existierende wahre Theorem beweisen kann. Wäre das gelungen, hätten die Mathematiker_innen ihre Hände in den Schoß legen und die Arbeit einem einzigen Computerprogramm, das die gesamte Mathematik vollständig beschreibt, überlassen können. Doch mit seinem Unvollständigkeitstheorem bewies Gödel, dass das nicht möglich ist. Für jedes formale System oder Computerprogramm lassen sich mathematische Theoreme finden, die wahr sind, die aber nicht von diesem formalen System oder Computerprogramm bewiesen werden können. Daher kann das Bewusstsein grundsätzlich nicht durch ein Computerprogramm simuliert werden. Nehmen wir an, mein Bewusstsein sei durch ein Computerprogramm simulierbar. Dann müsste jedes von mir als wahr erkannte mathematische Theorem von diesem Programm bewiesen werden können. Nach Gödels Unvollständigkeitssatz ist das aber nicht möglich, es gibt immer ein weiteres mathematisches Theorem, das ich als wahr erkennen kann, das aber von diesem Programm nicht erfasst wird und damit beweisbar ist (vgl. Penrose 1994). Eine fix verschaltete Genetik, die über das Nervensystem das Verhalten komplett kontrolliert, entspricht einem klassischen Computerprogramm. Lernen durch Konditionierung, die das Verhalten durch positive und negative Verstärkung als Reaktionen auf Reize bestimmt, ist durch ein lernfähiges Computerprogramm simulierbar (vgl. Balluch 2005: 50f.). Gödels Unvollständigkeitssatz beweist uns nun, dass das bewusste Verstehen und die daraus abgeleiteten, bewusst gesetzten Handlungen über beides grundsätzlich hinausgehen. Bewusstsein ist mehr als ein Computerprogramm, auch ein lernfähiges, und kann auch nicht dadurch vollständig simuliert werden. Descartes hatte Recht: subjektive Gefühle haben keinen (evolutionären) Sinn, wenn sie nicht von der Fähigkeit begleitet werden, daraus Schlüsse zu ziehen und eigenständig Handlungen zu setzen. Seine Schlussfolgerung war nur falsch. Nichtmenschliche Tiere haben deswegen keine subjektiven Gefühle, sondern, im Gegenteil, nichtmenschliche Tiere können deswegen (in einem gewissen Ausmaß) bewusste Entscheidungen fällen und Handlungen setzen. Der Irrtum bei Descartes und, wie wir sehen werden, bei Kant liegt in der falschen Annahme, Vernunft und Rationalität gäbe es nur ganz oder gar nicht. Weder bei Menschen noch bei anderen Tieren trifft das zu. Die Fähigkeit, bewusst zu handeln, also die Autonomie, kann auch sehr eingeschränkt sein und unter-

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scheidet sich bei den verschiedenen Tieren inklusive den Menschen nur graduell.

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Liefern die bisherigen, grundsätzlichen Überlegungen zu Bewusstsein schon einen ersten Anhaltspunkt für das Auftreten von Autonomie bei nichtmenschlichen Tieren, so führt die Neurobiologie von Hunden noch weit darüber hinaus. Das Gehirn als Sitz des Bewusstseins ist bei Hunden genauso strukturiert wie bei Menschen. Grob vereinfacht: Es gibt einen Hirnstamm, ein Mittelhirn und einen Hypothalamus, die die über das Zentralnervensystem fix verschaltenen Programme und Handlungsanweisungen liefern, wie beim Menschen auch. Es gibt das Kleinhirn, das die durch Konditionierung angelernten Reizreaktionen ermöglicht – ähnlich wie beim Menschen, und in einer ähnlichen Proportion zum Resthirn. Beides, angeborene Handlungsantriebe und angelernte Reizreaktionen, zeigen sich im Bewusstsein durch den bewusst erlebten Impuls, etwas Bestimmtes tun zu wollen. Dazu gibt es die Basalganglien und das limbische System, mit denen die Gefühle bewusst werden. Über den Thalamus öffnet sich das Tor zum Bewusstsein und, alles überlagernd und wesentlich größer als alle anderen Hirnteile, bildet das Endhirn mit dem Neocortex die Basis zur bewussten Entscheidung. Beim Menschen dient dieser Hirnteil zur bewussten Reflexion und Hemmung von Instinkten, Reizreaktionen und anderen Affekten.1 Wozu sonst könnte er dann wohl auch beim Hund so groß ausgebildet sein? Die Hirnmasse eines 30 kg schweren Hundes ist ca. 140 g und damit etwa ein Zehntel der Hirnmasse beim Menschen; allerdings korreliert Hirnmasse stärker mit Körpergewicht als mit Intelligenz (so sind auch die Gehirne von weiblichen Menschen im Schnitt aufgrund ihres durchschnittlich kleineren Körpergewichts im gleichen Maße kleiner als die von männlichen, ohne dass Auswirkungen auf die Intelligenz messbar sind). Gregory Berns (2013) zeigt zahlreiche Bilder von Magnetresonanzscans von Hundehirnen, die tatsächlich eine große Ähnlichkeit zu jenen von Menschen aufweisen. Er spricht davon, dass das Hundehirn wie ein verkleinertes Menschenhirn wirke, aber etwas weniger stark gefalten sei und relativ gesehen einen kleineren Frontallappen habe (vgl. Berns 2013: 154). Berns konnte auch die Existenz von Spiegelneuronen bei Hunden nachweisen. Dieses Neuronensystem ist bereits seit 1992 bekannt und wird seit diesem Zeitpunkt als relevant für diverse höhere kognitive Fähigkeiten angesehen, die 1 | Angesichts des Ziels und Umfangs dieses Beitrags habe ich hier stark vereinfacht: Die Zuordnung einzelner Gehirnareale zu bestimmten Funktionen ist bei weitem nicht so trivial, wie sie hier dargestellt wird.

Autonomie bei Hunden

indirekt mit einem Verständnis von Intentionalität verknüpft werden können. Mittlerweile wurde es auch bei Vögeln gefunden, woraus Henri Julius et al. (2014) schließen, dass es evolutionär älter als die Vogel-Säugetier-Trennung von vor 230 Millionen Jahren sein muss. Etwa ein Drittel der Spiegelneuronen sind für physische Bewegungen zuständig und zwei Drittel für deren Interpretation. Die Spiegelneuronen für Handlungen feuern z.B. beim Hund, wenn er selbst seine rechte Vorderpfote bewegt oder wenn er sieht, dass ein Mensch seine rechte Hand bewegt. Diese Neuronenaktivität ermöglicht es so dem Hund, Bewegungen als Handlungen eines anderen Subjekts zu verstehen, anstatt sie lediglich als Reizauslöser wahrzunehmen. Mit seinem Neocortex kann der Hund so zwischen zufälligen Ereignissen einerseits und Aktionen eines intentional handelnden Subjekts andererseits unterscheiden. Die Spiegelneuronen für die Interpretation von Handlungen gehen sogar noch einen Schritt weiter, sie feuern, wenn im Gegenüber ein Gefühlszustand erkannt wird, wie z. B. Angst, Freude, Schmerzen, Überraschung, Traurigkeit oder Ärger (vgl. Waal 2013, Warren et al. 2006). Dadurch wird es dem Hund unter Umständen möglich, eine Handlung zu erkennen und gleichzeitig ihren Sinn zu verstehen, wie z. B. sowohl den Handlungsablauf als auch den Zweck des Steinwurfs eines Menschen. Spiegelneuronen sind die Voraussetzung, um durch Imitation lernen zu können. Sie sind aber auch dafür verantwortlich, dass Lachen oder Gähnen ansteckend wird. Letzteres ist auch für Hunde nachgewiesen, nämlich dass Hunde zu gähnen beginnen, wenn Menschen vor ihnen gähnen (vgl. Balluch 2014). Spiegelneuronen bilden die Basis für Empathie und Mitgefühl, also die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Naturwissenschaftlich ist nun nachgewiesen, dass diese Fähigkeit evolutionär bereits sehr alt ist. Berns (2014) gelang es, Hunde dazu zu bringen, völlig gelassen und freiwillig einen Magnetresonanzscanner zu betreten und von ihrem Gehirn über eine längere Zeitperiode hinweg Schichtaufnahmen machen zu lassen. Dabei fand er grundsätzlich sehr ähnliche neuronale Prozesse wie bei Menschen. Zeigte man den Hunden eine Handlung, feuerten ihre Spiegelneuronen, um diese zu interpretieren. Hielt man ihnen die Gerüche anderer Hunde und Menschen vor, reagierten sie sehr differenziert. Bei Gerüchen von Menschen und Hunden, die sie mochten, wurden über die Gehirnströme im Nucleus caudatus positive Gefühle und Assoziationen sichtbar. Dabei feuerten auch jene Hirnareale, die beim Menschen die Erinnerung bewerkstelligen. Berns schließt daraus, dass Hunde ein episodisches Gedächtnis haben und mentale Bilder reproduzieren können. Am meisten arbeiteten das Gehirn und insbesondere der Neocortex an Gerüchen von anderen Hunden, die die jeweiligen Tiere im Scanner nicht kannten. Hier sollten offenbar möglichst viele Informationen herausgeholt und verarbeitet werden. Mit Abstand am wenigsten Reaktion zeigte das Gehirn auf den eigenen Geruch, der eben nicht viel Neues

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bietet. Ein Beweis, im Übrigen, dass Hunde sich selbst zumindest an ihrem Geruch erkennen. Bei der Selbsterkennung im Spiegel schließt man auf das Vorhandensein von Selbstbewusstsein. Warum nicht auch bei der Selbsterkennung am Geruch? Kurt Kotrschal sprach in seinem Beitrag »Überbewertete Artgrenzen: Warum Menschen mit anderen Tieren soziale Beziehungen eingehen können« auf der Human-Animal-Studies-Konferenz im Februar 2014 in Innsbruck davon, dass nichtmenschliche Tiere mit den Menschen die ›soziale Werkzeugkiste‹ für Struktur, Mechanismen und Funktion sozialer Beziehungen teilen. Das umfasse das Verständnis für soziale Regeln, den Umgang mit Konflikt und Versöhnung, das Trösten, die aktive und passive soziale Unterstützung und die Rhythmizität und Musterbildung in dyadischen Verhältnissen. Für echte zwischenartliche Beziehungen zwischen Mensch und Hund seien auch soziale Kognition, Individualerkennung, episodisches Gedächtnis, Perspektivenübernahme des Anderen, das Wissen um Beziehungen zu Dritten, ein Zeitkonzept und eine gewisse Fähigkeit zur Planung gegeben. Julius et al. (2014) identifizieren fünf Persönlichkeitsdimensionen: emotionale Stabilität, Extro-/Introversion, Offenheit gegenüber Neuem, soziale Verträglichkeit und Verlässlichkeit. Dass Hunde und Menschen diese gleiche Variabilität der Persönlichkeit zeigen sowie ein gemeinsames Stresssystem (sowohl das sympathiko-adrenergene System für die rasche Alarmbereitschaft als auch das Zwischenhirn-Hypophysensystem für die langsamere aber anhaltende Reaktion) und gleichartige Prinzipien der Individualentwicklung haben ermöglicht die Kommunikation untereinander und das gemeinsame Sozialisieren. Mittels Spiegelneuronen lässt sich die Stimmung übertragen und dadurch das Verhalten zu einer Gemeinschaft synchronisieren. »Menschen können also mit Tieren in ›echte‹ Sozialbeziehungen und Partnerschaften treten, weil wir artübergreifend gleichartige soziale Mechanismen in Gehirn und Physiologie teilen und weil die Sozialsysteme aller Arten unter ähnlichen Selektionsdrucken evolvierten. Daher ist es letztlich auch kein Wunder, dass Menschen und ihre Kumpantiere eine kompatible und oft symmetrische, soziale Kommunikation und ähnliche soziale Bedürfnisse teilen.« (Julius et al. 2014: 48). Psychologisch werden vier Bindungstypen unter Menschen angegeben: die sichere, die unsicher-ambivalente, die unsicher-vermeidende und die desorganisierte Bindung. Alle diese Typen mit ihren Charakteristiken finden sich auch in der Mensch-Hund-Beziehung. Bei der desorganisierten Bindung bricht das Vertrauensverhältnis durch Misshandlung und Ängstigung, der Mensch versucht den Hund völlig zu kontrollieren. Die unsicher-vermeidende Bindung entsteht durch distanzierte Fürsorge, wie z. B. wenn der Hund als ›Arbeitstier‹ (Wachhund) oder ›Prestigeobjekt‹ angesehen wird. Die unsicher-ambivalente Bindung ist durch ein Überbehüten und eine zu große physische Nähe ohne ausreichend emotionale Zuwendung verursacht, wenn der Hund nicht

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als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen wird. Die sichere Bindung schließlich basiert auf gegenseitigem Vertrauen und einer flexiblen Fürsorge, die dem Hund auch seine Freiheit lässt, selbständig Erfahrungen zu sammeln und Probleme zu lösen. Durch die Sicherheit, bei unlösbaren Schwierigkeiten von seinem menschlichen Partner Hilfe zu bekommen, entwickelt der Hund Selbstvertrauen und eine Autonomie, die ihm die echte gegenseitige Beziehung ermöglicht, in der auch er im Gegenzug dem Menschen Fürsorge und soziale Unterstützung bieten kann. Hund und Mensch sind sich dann gegenseitig Quelle für Trost, suchen bei Stress die Nähe zueinander, erleben die körperliche Berührung positiv und leiden unter einer Trennung. Zentral ist dabei die Ausschüttung des Hormons Oxytocin, sowohl beim Menschen als auch beim Hund, die sich durch eine sichere Bindung ergibt und die einen auf lange Zeit erhöhten Oxytocinspiegel mit sich bringt. Damit verbunden ist eine größere Stressresistenz, eine bessere soziale Kompetenz, erhöhte Feinfühligkeit und Empathie für die Gemütszustände anderer, weniger Angst, mehr Vertrauen und Ruhe, weniger Anfälligkeit für Depression und eine höhere Schmerzschwelle. Es ist dieser Effekt des Oxytocins, der Menschen mit einer Beziehung zu einem Hund nachweislich eine bessere Gesundheit und ein längeres Leben ermöglicht, sofern diese Beziehung sicher ist und auf Beidseitigkeit beruht (vgl. Julius et al. 2014). Oxytocin gilt als das Glücks- und Bindungshormon, es spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung des Fürsorgeverhaltens und wird insbesondere bei der Geburt im Körper der Mütter von Säugetieren ausgeschüttet. Es gibt dieses Hormon oder entsprechende Analoga aber bei allen Wirbeltieren, als Isotocin bei den Fischen und Mesotocin bei den Vögeln. Die Produktion und der Transport von Oxytocin bzw. seinen Entsprechungen sind überall gleich und daher evolutionär schon über 400 Millionen Jahre alt (vgl. Julius et al. 2014). Trösten sich Hund und Mensch gegenseitig oder vermitteln sie sich ihre Zuneigung u. a. durch Körperkontakt, dann steigt der Oxytocinlevel an. Das ist der physiologische Beweis dafür, dass Hunde und Menschen echte Beziehungen eingehen können, die auf Gegenseitigkeit beruhen. In einer Studie wurde gezeigt, dass die Einnahme einer Dosis von Oxytocin auf Hunde und Menschen dieselbe Wirkung hat (vgl. Sciencemag 2014). Bei soviel neuronaler und physiologischer Ähnlichkeit zwischen Hund und Mensch verwundert es nicht, dass auch lange für spezifisch menschlich gehaltene Gefühle bei Hunden zunehmend nachgewiesen werden. Bei Versuchen von Frederike Range an der Universität Wien wurden Hunde dazu aufgefordert, ihre Pfoten zu geben und taten dies mit großer Ausdauer, ohne dafür belohnt zu werden. Als aber neben ihnen ein anderer Hund für das Pfotegeben mit einem Leckerli belohnt wurde, stellten sie sehr rasch die Zusammenarbeit ein und beschwerten sich oder zeigten sich desinteressiert und legten sich auf

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den Boden. Die Autor_innen gehen davon aus, dass die Hunde einen Begriff von Fairness haben und sich einfach ungerecht behandelt fühlten. Ob dabei auch das Gefühl des Neids eine Rolle spielte, ließen sie offen (vgl. Range et al. 2008). Im Dokumentarfilm Die Pizza-Hunde (2008) von Günther Bloch über ein Hunderudel, das in der Nähe von Pisa in Italien selbstständig lebt, ist ein besonders faszinierendes Geschehen festgehalten. Eine Hündin versorgt einen jungen Welpen, der plötzlich stirbt. Die Hündin wärmt daraufhin ihr totes Kind weiterhin und schläft noch drei Tage daran gekuschelt. Dann verscharrt sie es im Boden und legt Zweige und Blätter darüber. Anschließend sieht man das gesamte Rudel um diese Stelle stehen, in der das tote Kind begraben ist, und laut gemeinsam heulen und bellen. Schließlich verschwindet das Rudel gemeinsam und kommt nicht mehr zurück. Haben Hunde also auch einen Begriff vom Tod?

E rfahrungen

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Soweit die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Bewusstsein und Kognition bei Hunden. Doch wie zeigt sich ihre Autonomie im täglichen Leben? Wenn Hunde mit uns Menschen in der Zivilisation zusammen sind, gewinnen wir oft den Eindruck, sie seien hilflos und abhängig und bräuchten ständig unsere Hilfe. Um ein vertrauenswürdiges Psychogramm ihres Bewusstseins zu erstellen, ist es also notwendig, ihnen auf Augenhöhe in der Wildnis zu begegnen (vgl. Balluch 2014). Mensch und Hund können unter solchen Bedingungen eine symbiotisch enge Beziehung der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe eingehen. Gefördert wird diese Symbiose noch durch den Umstand, dass ein Hund und ein Mensch in langjähriger physischer Nähe ein ähnliches Biom entwickeln, also jene individuelle Flora von Mikroben, die sich überall an und im Körper befindet. 90 % der Zellen in uns sind nicht wirklich wir selbst, sondern Kleinstlebewesen, die einen eigenen Mikrokosmos von Trillionen von Bakterien bilden. Leben nun Hund und Mensch eng zusammen, dann stimmen sich die jeweiligen Mikrobenwelten aufeinander ab. Oft bedeutet das eine positive Bereicherung, das Immunsystem wird gestärkt. Aber nicht nur Krankheitsanfälligkeit und Gesundheit, sondern auch Verhalten und Psyche werden durch das Biom mitbestimmt sowie die Fähigkeit, gewisse Nahrung verdauen und gewisse körperlichen Belastungen überstehen zu können (vgl. Kotrschal 2012: 193). In Balluch (2014: 60f.) ist eine lange Liste von Kommunikationsformen angegeben, wie sich ein Hund einem Menschen bewusst verständlich machen kann. Er ist bei weitem nicht auf eine unbewusste Signalwirkung z. B. durch

Autonomie bei Hunden

Schwanzwedeln beschränkt. Zu zweit in der Wildnis, Hund und Mensch, hört auch beim Menschen das verbale Denken auf. Die Verständigung ist emotional und körpersprachlich. Trotzdem, oder gerade deswegen, lassen sich zahlreiche Probleme gemeinsam meistern, wie z. B. das Auffinden von Wasser, das Entgehen von Gefahren wie Angriffe durch andere Tiere oder die Entscheidung über die Richtung des Weiterweges. Der Hund lernt vom Menschen durch Imitation z. B. den Verzehr von Wildbeeren kennen und macht dann umgekehrt den Menschen darauf aufmerksam, wo sich welche befinden. Auf diese Weise werden auch die sozialen Regeln des Zusammenlebens gemeinsam festgelegt. Das beginnt bei der gerechten Aufteilung der vorhandenen Nahrung und reicht bis zum Arrangement, dass sich der Hund zwar in Kot oder Aas wälzen kann, sich aber, bevor er den gemeinsamen Schlafplatz betritt, putzen lassen muss. Dass der Hund diese Regeln als solche versteht, wird spätestens dann klar, wenn er sie bewusst bricht, sollte er sich ungerecht behandelt fühlen. Dann geht er z. B. sehr bewusst verschmutzt und ohne zu fragen auf den Schlafplatz und demonstriert mit seiner trotzigen Haltung, dass es sich um einen Protest handelt. Ein Konflikt im Zusammenleben kann auch mit den Mitteln des passiven Widerstands ausgetragen werden, wenn der Hund z. B. jedes Weitergehen verweigert und sich vollkommen schlaff zu Boden sinken lässt. Dabei kann es durchaus zu einer bewusst eingesetzten emotionalen Kälte in der Beziehung kommen, die sich letztlich in einem neuen Kompromiss und einer Versöhnung auflöst. Ein Hund hat eine sehr hohe emotionale Intelligenz und ist im Allgemeinen viel mehr daran interessiert, wie sich seine menschlichen Bezugspersonen fühlen, als daran, wie sie handeln. Trösten und die aktive Hilfe in Not sind letztlich Derivate dieser Fähigkeit. Ein sehr gutes Beispiel der gemeinsam aufeinander abgestimmten Entwicklung von Regeln des Zusammenlebens unter der Voraussetzung der Fairness ist das Spiel. Auch erwachsene Hunde spielen gerne. Das kann ein Kampf sein, ein Test der Reaktionsschnelligkeit, Nachlaufen, ein Fangenspiel oder ein Kraftmessen durch Ziehen an einem Stock oder Seil. Dass es sich um ein Spiel handelt, wird dabei zunächst überdeutlich durch Körperposen und ein Spielgesicht kommuniziert. Während des Spiels werden diese Botschaften regelmäßig wiederholt, insbesondere wenn das Spiel mit viel Engagement geführt wird, womit das Spiel von einem wirklichen Kampf abgegrenzt wird. So werden auch Gegenstände wie Stöcke, die ein Hund an sich gerissen hat, immer wieder zurückgegeben, um das Spiel wieder beginnen zu lassen, was betont, dass es dem Hund nicht wirklich darum geht, den Stock zu bekommen, sondern darum, um mit ihm zu spielen. Zu den Regeln solcher Spiele gehört jedenfalls, dass nicht immer nur einer der beiden Kontrahenten gewinnen darf. Man muss sich daher durchaus auch einmal schwächer oder langsamer stellen, als man ist, um den Spielfluss aufrecht zu erhalten. Ebenso ist eine eherne Regel des

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Spiels, dass beide voll bei der Sache sein müssen. Ist das nicht der Fall, weil z. B. der Mensch dabei telefoniert oder mit anderen Menschen plaudert, verliert der Hund schnell sein Interesse. Der Hund kann nämlich deutlich unterscheiden, was die Absicht eines Menschen war, also z. B. ob er ihn absichtlich oder unabsichtlich verletzt hat. Diese Fähigkeit der Einschätzung seiner Partner_innen zeigt der Hund auch, wenn er um etwas bittet, aber dann zu unterscheiden in der Lage ist, ob der Mensch ihm die Bitte nicht erfüllen will oder aus physikalischen Gründen nicht erfüllen kann. Hunde sind diesbezüglich Realisten_innen, d. h. sie interpretieren ihr Umfeld auf der Basis des physikalisch Möglichen und sind sehr überrascht, wenn etwas passiert, was sie für physikalisch unmöglich gehalten hatten. Ein Beispiel dafür ist die Überraschung, die ein Hund zeigt, wenn man ihm Zaubertricks vorführt, die durch geschickte Manipulation eine irreale Unmöglichkeit vortäuschen. Der Hundeverhaltensforscher Adam Miklosi hat anhand von Labortests festgestellt, dass Hunde sehr gut einschätzen können, was Menschen wahrnehmen können und was nicht, und dass sie sich entsprechend verhalten bzw. auch mit dem Menschen kommunizieren (vgl. Miklosi, zit. n. Kitchenham 2014: 100). Man kann also bei Hunden von Vernunft sprechen, weil sie ihre Umgebung auf diese Weise richtig einschätzen und den Umständen entsprechend verhalten. Hunde mit großer Erfahrung in der Wildnis werden kein unvernünftiges Risiko eingehen, wissen genau, wenn sie z.B. an die Grenzen ihrer Kletterfähigkeiten kommen, und konzentrieren sich sehr lange bei einem gefährlichen Schritt im felsigen Steilgelände. In der Literatur werden verschiedene Grade von Ich-Bewusstsein diskutiert (vgl. DeGrazia 2009). Alle genannten Bedingungen werden von Hunden erfüllt (vgl. Balluch 2014: 50f). Hunde haben z. B. Humor, wenn sie gezielt Menschen erschrecken oder ihnen einen Stock wie als Angebot hinlegen, nur um ihn in letzter Sekunde, wenn der Mensch sich danach bückt, wegzunehmen und damit triumphierend davon zu laufen. Hunde erkennen, wenn ihre Bezugspersonen in Not sind, helfen, wenn möglich, und trösten sie aktiv. Sie wissen sehr genau, wann sie an einer Leine gehalten werden und reagieren dann ganz anders, als ohne Leine. Und sie verstehen die Reflexionseigenschaft eines Spiegels und zeigen, wenn sie ihr Spiegelbild kennen, keine Reaktionen als würden sie einen fremden Hund sehen. Allerdings reagieren sie nicht erstaunt, wenn sie heimlich einen Farbklecks ins Gesicht bekamen und das im Spiegelbild sehen müssen. Hunde entfalten erst so richtig ihre eigenständige Persönlichkeit und ihre Fähigkeit, selbstständig Probleme zu lösen, wenn man ihnen im Zusammenleben genügend Freiheit bietet. Miklosi von der Universität Budapest erklärt:

Autonomie bei Hunden »Hunde, die ständig von ihren Menschen kontrolliert werden, haben größere Schwierigkeiten damit, eigenständig Lösungen für Probleme zu finden. […] Das Problem ist, dass vielen Hunden nicht erlaubt wird, ihre Welt zu erleben, deshalb nehmen sie ihre Umgebung viel fragmentierter wahr. Sie verstehen dann vielleicht viel von dem, was in einem Agility-Parcours von ihnen verlangt wird, aber würden ohne ihren Menschen vor jedes Auto laufen. Wir haben in unseren Studien immer wieder beobachten können, dass Hunde, die nicht ständig unter Kontrolle des Menschen stehen, sehr viel besser darin sind, Probleme eigenständig zu lösen. Menschen neigen dazu, alles im Leben eines Hundes organisieren und kontrollieren zu wollen – wir gehen in Situationen und der Hund achtet nur auf uns, wir erlauben ihm genau, was er tun darf. So lernt er, immer leise zu sein und nur zu tun, was Menschen ihm gestatten. Hunde, die im ländlichen Bereich leben oder von Menschen erzogen werden, die ihnen mehr Freiheiten lassen, gewinnen einen anderen Blick auf die Umwelt. Sie agieren autonomer, machen viele Erfahrungen – und lernen dadurch verschiedene Strategien zu entwickeln, um Ziele zu erreichen.« (Miklosi, zit. n. Kitchenham 2014: 102)

In Balluch 2014 wird aus dem dort beschriebenen Verhältnis von Hund und Mensch geschlossen, dass der Hund die Beziehung zu seinem menschlichen Freund als höchste Priorität betrachtet. Er unternimmt nichts, was diese Beziehung ernsthaft gefährden könnte und bezähmt seine Affekte, wenn das die Beziehungsqualität fördert. Dabei handelt er definitiv nicht aus Angst vor Strafe, weil dies auch der Fall ist, wenn im Zusammenleben der beiden Strafe – über die spürbare Unzufriedenheit oder daraus resultierende Distanzierung des Menschen hinaus – nicht existiert. Der Erhalt der Beziehung ist also ein Zweck, der die Handlungen des Hundes bestimmt. Er unterwirft sich damit seinen eigenen Regeln, ähnlich wie er sich den selbst erdachten Spielregeln und den gemeinsam erarbeiteten sozialen Regeln des Zusammenlebens freiwillig unterordnet. »Ich halte [dem Hund] Kuksi ein Stück Tofu hin und in seiner Begeisterung beißt er mich versehentlich. Trotzdem sein limbisches System eine Befriedigung seiner Lust auf Tofu erfährt und sein Kleinhirn daraufhin die Reaktion abspeichert, auf den Reiz ein Stück Tofu zu sehen, sofort hin zu schnappen, sagt ihm sein Neocortex, dass er mich dabei verletzt hat. Mit Hilfe seiner Spiegelneuronen kann er meinen Schmerz mitfühlen und der von mir geäußerte Schmerzlaut wird für ihn verständlich. Und ganz unabhängig von seinen Affekten hat er sich die Regel gegeben, mir nicht wehtun zu wollen. Und deshalb überwindet er sowohl den Affekt, den ihm sein Instinkt zu diktieren versucht, als auch jene Reizreaktion, die ihm sein Kleinhirn suggeriert, und entscheidet sich bewusst, beim nächsten Stück Tofu sehr vorsichtig zu sein. Er hat sich den Zweck gesetzt, unsere Beziehung wichtiger zu nehmen, als die kurze, hedo-

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Mar tin Balluch nistische Lustbefriedigung, die ihm der Tofu bietet, und entsprechend gehandelt. Das ist Autonomie.« (Balluch 2014: 154)

Der Behaviorismus geht davon aus, dass jede Handlung eines Wesens – und Mitte des 20. Jahrhunderts zählte man die Menschen da auch noch dazu – in Form von »wenn, dann«-Sätzen als Reizreaktionsmuster erklärbar sei. Man würde kein Bewusstsein zur Erklärung des Verhaltens benötigen, ja, beim Vater des Behaviorismus, Burrhus F. Skinner, war Bewusstsein sogar ein Phänomen, das grundsätzlich außerhalb jeder naturwissenschaftlichen Beschreibbarkeit liege. Doch mit obigem Hintergrund aus Neurobiologie, Mathematik, Biologie und Verhaltensforschung wird klar, dass die Erklärungsmuster bei Balluch (2014) für das Verhalten seines Hundefreundes dem Prinzip der Parsimonie genügen. D. h. um dieses komplexe Hundeverhalten, allein z. B. das Verhalten im Straßenverkehr, durch lauter ›wenn, dann‹-Regeln und die bloße positive oder negative Verstärkung zufälliger Reizreaktionen zu erklären, müssten diese so komplex sein, dass ein Verweis auf das Bewusstsein die einfachere und damit zu bevorzugende Erklärung darstellt. Doch haben wir damit ein Beispiel von der großen Variabilität bewusster Entscheidungen, Denkmuster und Zwecksetzungen beim Hund, so ist gezeigt, dass Hunde grundsätzlich autonomiefähig sind. Wir müssen uns daher nun die Frage stellen, wie sich das auf unser momentan gültiges Zivilrecht, das das Mensch-Tier-Verhältnis in der Gesellschaft regelt bzw. auf die Tierethik auswirkt.

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Immanuel Kant ist der einflussreichste Moralphilosoph im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Seine Bedeutung geht auf den Umstand zurück, dass er den Anspruch erhebt – und dieser Anspruch wird im Allgemeinen anerkannt –, dass seine Ethik ohne metaphysische Annahmen oder willkürliche Werte, wie z. B. bei Regans Tierethik, auskommt. Seine Voraussetzung ist lediglich die universale, menschenunabhängige Rationalität. Er kann dadurch für seinen kategorischen Imperativ Allgemeingültigkeit beanspruchen. Dieser Ansatz war richtungsweisend für die Trennung von Kirche und Staat, die das gesamte Projekt der Aufklärung durchzieht. Auf Kants Thesen basiert daher das Zivilrecht, das heute noch Gültigkeit hat. Seine Metaphysik der Sitten hat nichtmenschliche Tiere zu Sachen degradiert, die lediglich als Mittel zu menschlichen Zwecken einen Wert haben. Doch Kant war mit nichtmenschlichen Tieren nicht vertraut. Er verließ Königsberg in Ostpreußen kaum je und wagte sich schon gar nicht in die Wildnis. Die heutigen Erkenntnisse in der Neurobiologie und der Verhaltensforschung ändern die Grundannahmen

Autonomie bei Hunden

Kants komplett. Weder sind Menschen vollständig vernunftfähig, noch nichtmenschliche Tiere überhaupt nicht, sondern beide sind graduell mehr oder weniger in der Lage vernünftig zu handeln, sich selbst Zwecke zu setzen und ihre Affekte zu kontrollieren. Kants Ausgangspunkt war es, eine rationale Ethik zu schaffen, die grundsätzlich ohne metaphysische Annahmen und willkürliche Werte auskommt. Daher kann man sich nur an den Werten orientieren, die durch Wesen, die sich selbst Zwecke setzen können, in die Welt kommen. Anzunehmen, es gäbe übergeordnete, vielleicht göttliche Werte, die sich in mystischen Botschaften oder heiligen Büchern offenbaren, wäre ein Exkurs in die Metaphysik, den Kant aber berechtigter Weise nicht gehen will. Zwar glaubt er schon daran, dass es den christlichen Gott gibt, doch meint er, rational über diesen nichts wissen zu können und fordert, eine allgemeingültige, rationale Ethik dürfe aus dieser Quelle keine Werte beziehen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle bereits, dass die subjektiven Werte der verschiedenen Lebewesen nicht zwingend mit dem Wert, ihr Leid zu minimieren und ihre Lust zu maximieren, übereinstimmen müssen. Die selbstgesetzten Zwecke können eben gerade dazu führen, dass man die momentane Lust überwinden und sogar Leid auf sich nehmen will, um seinen Zweck zu erfüllen. Folgt man Kants Ethik, ist der Schutz der individuellen Freiheit und der Autonomie die wesentliche Maxime, Leidvermeidung oder Leidminimierung, wie im klassischen Tierschutz, sind kein Thema. Ein jedes Lebewesen, das sich selbst Zwecke setzen kann, schafft damit seinen eigenen Wertekosmos bzw. sein eigenes Bezugssystem, das grundsätzlich nicht mit dem Wertekosmos anderer Wesen abwägbar ist. Wesen, die sich selbst Zwecke setzen können, werden dadurch singulär und einzigartig. Mit ihrem Tod geht etwas unwiederbringlich verloren. Derartige Wesen sind daher nicht bloß austauschbare Gefäße hedonistischer Lust und Leid. Für Kant ist ein Zweck jedes Ziel, das als Handlungsantrieb dient. Zwecke hängen daher nicht mit Bewusstsein zusammen. Blumen, die ihre Blätter nach der Sonne drehen, tun dies zum Zweck der Fotosynthese. Der Herzschlag verfolgt den Zweck, die Organe mit Blut zu versorgen. Und die Spinne baut ihr Netz zu dem Zweck, Fliegen für ihre Ernährung zu fangen. Das sind aber alles unbewusste Zwecke, die den jeweiligen Wesen durch ihre genetische Programmierung oder durch ihre Konditionierung aufoktroyiert wurden. Die Wesen haben sich diese Zwecke nicht bewusst ausgesucht, sie wurden nicht auf Basis einer freien Entscheidung selbst gewählt. Kantianer_innen gehen nun davon aus, dass alle nichtmenschlichen Tiere – auch jene mit Bewusstsein – lediglich solche aufoktroyierten Zwecke verfolgen. Diese Zwecke können nämlich durchaus auch z. B. als Hunger, Durst, Angst oder Lust ins Bewusstsein dringen und als Affekte aufscheinen. Kanti-

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aner_innen meinen nun, alle nichtmenschlichen Tiere seien Spielbälle dieser Art von Zwecken, indem sie auf ihre Affekte reagieren müssen und diese nicht beherrschen können. In diesem Sinn seien nichtmenschliche Tiere Sachen, nämlich fühlende Biomaschinen. Auch tierschutzaffine Kantianer_innen, wie Christine Korsgaard, teilen grundsätzlich diese Ansicht. Auch für Korsgaard sind nichtmenschliche Tiere nicht in der Lage, sich selbst Zwecke zu setzen. Dabei können nichtmenschliche Tiere durchaus Intelligenz haben. Doch diese ist als Hilfestellung des Gehirns definiert, um die vorgegebenen Zwecke nach Möglichkeit zu erreichen. Ein Intelligenztest misst diese Kapazität und (künstlich) intelligent können dann auch lernfähige Computerprogramme sein. Insofern haben Kantianer_innen keine philosophischen Probleme damit, dass es Intelligenztests gibt, in denen nichtmenschliche Tiere Menschen regelmäßig schlagen. Für Kant ist die Vernunft die einzig mögliche Quelle für selbstgewählte Zwecke. Sie sei insofern entweder vollständig oder gar nicht vorhanden. Nur die Vernunft ermöglicht Freiheit von Instinkt und Konditionierung und durch die Bindung an eigene Zwecke auch Autonomie, die hier als Eigengesetzgebung verstanden wird. Für Kant sind nun nichtmenschliche Tiere mangels Freiheit und Autonomie lediglich Sachen und keine Personen. Nur letztere zeichnen sich eben durch die Fähigkeit aus, frei zu entscheiden. Da nichtmenschliche Tiere aber Schmerzen fühlen können, würden Menschen seelisch verrohen, wenn sie nichtmenschliche Tiere quälen. Die Folge ist die Forderung nach Leidensminimierung für nichtmenschliche Tiere, der Beginn des klassischen Tierschutzes. Aber nichtmenschliche Tiere seien als Sachen Eigentum des Menschen und für ihn lediglich Mittel zu seinen Zwecken. Der klassische Tierschutz plädiert daher für eine ›humane Nutzung‹ nichtmenschlicher Tiere. Doch die normative Selbstbestimmung beginnt dort, wo ein Lebewesen sein eigenes Verhalten zumindest in gewissem Ausmaß bewusst selbst gestalten und kontrollieren kann. Wie wir gesehen haben, ist aber genau das die zentrale Funktion von Bewusstsein. Dort, wo Bewusstsein auftritt, beginnt die Fähigkeit gewisse Zwecke zu verwerfen und andere zu verfolgen. Mit anderen Worten: es wird bewertet, jedes Wesen mit Bewusstsein hat sein eigenes Wertesystem. Mit dem Bewusstsein kamen also erstmals selbstgewählte Zwecke und damit subjektive Werte in die Welt. Vernunft und ethische Handlungsfähigkeit entstehen also kontinuierlich, sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch, und sind nicht entweder vollständig da oder gar nicht, sondern treten immer graduell auf. Hunde haben, wie wir gesehen haben, die Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen und daher ein eigenes Wertesystem zu schaffen, z. B. die Beziehung zu einem Menschen als höchsten Wert zu sehen.

Autonomie bei Hunden

Mangels übergeordneter Werte sind alle von einem Lebewesen selbstgewählten Zwecke zunächst ideal gut und müssten von allen Wesen, die darüber ausreichend rational reflektieren können, anerkannt und respektiert werden, sofern sie nicht mit den Zwecken anderer Lebewesen in Konflikt geraten. Das gibt allen Lebewesen, die zu einer Autonomie fähig sind, ihre maximale Freiheit. Kant spricht in diesem Zusammenhang vom Reich der Zwecke, in dem alle Vernunftwesen partizipieren. Folglich partizipieren auch alle Wesen mit Bewusstsein, d. h. auch Hunde, in diesem Reich der Zwecke. Da aber die selbstgewählten Zwecke verschiedener Lebewesen einander widersprechen können, müssen diese Konflikte aufgelöst werden. Mit dem Universalisierbarkeitsanspruch der Rationalität leitet Kant dazu seinen kategorischen Imperativ her, der im wesentlichen alle Lebewesen, die ausreichend reflektieren können, um diesen Gedanken nachzuvollziehen, dazu verpflichtet, nur solche Zwecke zu wählen, die jene anderer nur insoweit einschränken, als diese wiederum ihrerseits die Freiheit anderer, Zwecke frei zu wählen, einschränken. Und genau an dieser Stelle erkennen wir, warum bei Kant die Gruppe jener Lebewesen, die sich selbst Zwecke setzen können, und jener Lebewesen, die sich mit dem kategorischen Imperativ selbst binden, identisch ist. Er ging ja davon aus, dass Vernunft entweder ganz oder gar nicht vorhanden ist. Deshalb kann in seiner Vorstellung jedes Wesen, das sich selbst Zwecke setzt, auch den kategorischen Imperativ verstehen. Ja, Kant ging davon aus, dass Vernunftwesen auf anderen Sternen, wenn sie denn existieren, daran zu erkennen sind, dass sie ebenfalls den kategorischen Imperativ entdeckt haben. Er ist nämlich denknotwendig, eine logisch zwingende Folgerung, ähnlich einer mathematischen Wahrheit. Doch wenn wir erkennen, dass sich Vernunft graduell entwickelt, dann ist offensichtlich, dass es Wesen geben kann, die sich zwar selbst Zwecke wählen können, die aber den kategorischen Imperativ nicht verstehen und damit nicht zu befolgen in der Lage sind (vgl. Balluch 2014). Die Zwecke dieser Wesen sind aber genauso vom kategorischen Imperativ umfasst, d. h. sie müssen von all jenen respektiert werden, die den kategorischen Imperativ verstehen können und damit ausreichend ethisch eigenverantwortlich sind, um derartige Pflichten zu übernehmen. Nichtmenschliche Tiere wie Hunde sind Lebewesen, die sich bewusst eigene Zwecke wählen und dadurch selbst binden können, diese aber nicht als allgemeines Gesetz sehen, das von allen vernünftigen Wesen befolgt werden muss. Beispiele für diese selbst gewählte Bindung wurden oben erwähnt, darunter fallen Regeln für das gemeinsame Spiel, Regeln des Zusammenlebens und die Unterordnung unter den höchsten Wert, den Erhalt der Beziehung zu einem geliebten Wesen. Nach Korsgaard (2012) kann man hier von einem passiven Anspruch dieser Zwecke sprechen. Bei Kant fehlt die Differenzierung in Zwecke mit dem Anspruch, von allen verfolgt zu werden (aktiv) und in Zwecke mit dem Anspruch, von allen als gleich-

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wertig anerkannt zu werden (passiv). Sie entspricht der Trennung in Subjekte der Moral (aktiv) und Objekte der Moral (passiv), wie sie schon Leonard Nelson (1932) im Rahmen von Kants Ethik postuliert hat. Hunde sind also Objekte der Moral. Aber im Rahmen ihrer normativen Selbstbestimmung werden sie zu limitierten Subjekten der Moral. Sie sind nicht voll verantwortlich und insofern bleiben für sie Rechte und Pflichten nicht symmetrisch. Beispiele dieser Art finden sich auch in der menschlichen Gesellschaft. Als z. B. ein Buttersäureattentäter Anschläge gegen Tierschutzaktivist_innen durchführte und dabei gefasst wurde, entschied ein Gericht, dass er zu wenig Einsicht in die Schuldhaftigkeit seines Verhaltens hatte und daher nicht straffähig sei. Er konnte sich also frei in der Gesellschaft bewegen, heiraten und Kinder bekommen, einer Lohnarbeit nachgehen und seine Familie versorgen und auch eine Wohnung mieten, er war aber nicht ausreichend reflektiert, um voll verantwortlich für seine Handlungen zu sein. Doch dafür ist in Kants Ethik Platz, weil sie grundsätzlich nicht auf Reziprozität beruht. Subjekte der Moral sind rational verpflichtet, andere zu respektieren, auch wenn sie von diesen selbst nicht respektiert werden. Dadurch erhalten wir einen neuen kategorischen Imperativ: Behandle alle Wesen mit Bewusstsein so, dass sie niemals bloß als Mittel zum Zweck, sondern immer auch als Zweck an sich respektiert werden! Lebewesen mit Bewusstsein, wie Hunde, sind also nicht bloß Mittel zum Zweck für andere, d. h. nicht einfach deren Objekte, sondern als voll gleichwertig zu respektierende Subjekte mit einem eigenen Wertesystem, eigenen Zwecken und einer eigenen Lebensgestaltung. Ihre Zwecke und Werte sind soweit zu respektieren, wie die daraus folgenden Handlungen nicht die Zwecke und Werte anderer Wesen mit Bewusstsein unzulässig einschränken. Diese ethische Position unterscheidet sich grundlegend von allen bisher erarbeiteten Versionen von Tierethik, auch den deontologischen. Bei Regan z. B. wird allen Wesen, die er völlig willkürlich als ›Subjekte des Lebens‹ definiert, wiederum willkürlich ein inhärenter Wert zugeordnet. Stimme ich dieser metaphysischen Voraussetzung nicht zu, ist Regans Tierethik für mich bereits irrelevant. Hier aber wird aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, dass Hunde und andere Tiere autonomiefähig sind, mit Kants metaphysikunabhängiger Argumentation ein ethischer Imperativ abgeleitet, der kategorisch für alle Wesen gilt, die sich Vernunft und Rationalität verschrieben haben. Und diese Position ist ungleich stärker.

Autonomie bei Hunden

Tierbefreiung Wenn wir Hunde nicht auf bloße Mittel zu menschlichen Zwecken reduzieren wollen, dann können sie nach dem Zivilrecht nicht mehr als Sachen gelten, sondern müssen als Personen respektiert werden. Kants Trennung in Vernunftwesen als Personen und alles andere als Sachen führt nach obiger Argumentation dazu, dass Hunde unter die Personen fallen müssen. Darin liegt der eigentliche Sinn des Begriffs »Tierbefreiung«, nämlich nichtmenschlichen Tieren ihre Freiheit und Autonomie zu geben. Als Personen sind Hunde Träger_innen von subjektiven Rechten – hier kann man sich wörtlich an die Ableitung bei Kant halten. Sie können niemandes Eigentum mehr sein. Für Hunde als domestizierte Tiere bedeutet das nicht, sie einfach sich selbst zu überlassen. Sie sollten weiterhin im menschlichen Familienverband leben können (vgl. Donaldson/Kymlicka 2013). Allerdings müssen ihnen Bürgerrechte zuerkannt werden, die ihnen nicht nur den Freiraum geben, in der so entstehenden Multi-Spezies-Gesellschaft zu existieren, sondern die ihnen auch die gleichberechtigte Einbeziehung in die Gestaltung der Gesellschaft garantieren und zusätzlich die Möglichkeit geben, sich für ihre Bedürfnisse politisch zu engagieren, genauso, wie sie das in den persönlichen Beziehungen tun (vgl. Balluch 2014). Für Hunde bedeutet Tierbefreiung demnach konkret, dass ihnen ein Aufwachsen ohne Dominanz und ohne Gehirnwäsche mittels Konditionierung, sondern unter freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht wird. Zugangsbeschränkungen und Leinenzwang darf es nur in sehr gut begründeten Ausnahmefällen geben. Das bedarf eines gehörigen Maßes an Toleranz, die zu entwickeln sein wird. Hunde sollen sich autonom so weitgehend wie möglich in der Gesellschaft ihr eigenes Leben gestalten können. Dadurch wird die Gesellschaft zu einer Multi-Spezies Gesellschaft, die nicht mehr Menschen in den Mittelpunkt stellt. Tierarten sind, wie schon Darwin erkannt hat, biologisch nicht real existent, sie sind rein anthropozentrische Erklärungsmuster, um die Kategorisierung des Tierreichs zu erleichtern. Eine genuine Multi-Spezies-Gesellschaft sollte diese künstliche Grenze der Arten überwinden.

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Autonom handelnde Individuen, Kooperationspartner_innen, Natur- oder Kulturwesen? Der Beitrag von Führhunden zur Herstellung von Agency in Mensch-Tier-Triaden Natalie Geese Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie Agency innerhalb eines Führgespanns (der Verknüpfung aus Führhund und blindem Menschen) hervorgebracht wird und welche Funktionen der Führhund innerhalb dieses Prozesses übernimmt. Im Rahmen dieses Beitrags sollen vier Funktionen diskutiert werden: Führhunde als Helfer_innen, Führhunde als Belästigung/Gefahrenquelle, Führhunde als Behinderungssymbol und Führhunde als soziale Katalysator_innen. Die These meines Beitrags lautet, dass Agency – hier verstanden als die Fähigkeit die Welt zu transformieren – innerhalb eines Führgespanns nur durch ko-operatives Verhalten verwirklicht werden kann. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass die Ausübung von Agency durch den Führhund in einigen Situationen an kulturelle Werte geknüpft ist.

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einem anthropozentrischen zu einem rel ationalen und offenen A gency -V erständnis In den Diskussionen der vergangenen 30 Jahre, die sich mit menschlichem Handeln und dem Zusammenhang zwischen Handeln und Strukturen beschäftigten, wurde Agency zu einem zentralen Bestandteil (vgl. Raithelhuber 2013: 4). Geprägt ist das Konstrukt Agency jedoch vor allem durch den in westlichen Gesellschaften vorherrschenden Anthropozentrismus, wonach Menschen in der Hierarchie der Entitäten an der Spitze stehen (vgl. Knoth 2008: 172). Die Kriterien, die festlegen sollen, unter welchen Bedingungen man von Agency sprechen kann, spiegeln in klassischen soziologischen Theorien oftmals die in der Moderne von Menschen hervorgebrachten Vorstellungen eines reflexiven, transzendenten, mit freiem Willen ausgestatteten, individualisier-

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ten menschlichen Handlungssubjekts wider (vgl. Belliger/Krieger 2006: 22). Dieses besitze die Macht, nichtmenschliche Tiere und nichtlebendige Entitäten zu benutzen und den eigenen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten. Aus diesen Überlegungen folgt die in der Soziologie häufig anzutreffende, theorieübergreifend vertretene Auffassung, dass nichtmenschlichen Tieren und nichtlebendigen Entitäten ihre Bedeutungen in einer Gesellschaft durch Menschen zugewiesen würden (vgl. Law 2006: 213). Aber nicht nur die Kontrolle über andere Entitäten, sondern auch die Selbstkontrolle machen laut dieser Auffassung den modernen erfolgreichen Menschen aus (vgl. Goffman 2010: 54). Die von Cornelia Helfferich vorgenommene Agency-Definition verweist ebenfalls implizit darauf, dass Agency an Kontrolle geknüpft ist. Für sie ist Agency »ein Grundbestandteil aller Konzepte, die erforschen oder erklären, wer oder was über welche Art von Handlungsmächtigkeit verfügt oder diese zugeschrieben bekommt bzw. als welchen und wessen Einwirkungen geschuldet etwas zu erklären ist« (Helfferich 2012: 10). Handeln ist nach Auffassung der Vertreter_innen klassischer Handlungstheorien kontrolliertes Verhalten. Während Verhalten für Alfred Schütz jene Bewegungen des Körpers umfassen, die nicht bewusst von einer Entität geplant und vollzogen werden, so versteht er unter Handeln von einem Individuum gesteuerte, vorentworfene Erfahrungsabläufe (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 450f.). Ein Eingriff in die Umwelt und eine dadurch möglicherweise bewirkte Veränderung wird hiernach als zielgerichtet, bewusst vollzogen und beabsichtigt angesehen. Dies setzt Rationalität voraus – eine Eigenschaft, die in klassischen soziologischen Theorien exklusiv dem Menschen zugesprochen wird. Rationalität wird in der Soziologie teils als Kriterium herangezogen, um den höheren Stellenwert des Menschen gegenüber dem Tier zu begründen, welches angeblich nur durch seinen Instinkt geleitet wird (vgl. Mead 2005: 64). An dieser Stelle möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass das Handeln von Menschen oft auch unbewusst (z. B. routinisiert) abläuft, sich der menschliche Organismus der eigenen Kontrolle entziehen kann und sich Tiere und andere nichtmenschliche Entitäten menschlichen Einwirkungen widersetzen können. Ferner geht aus dem o. g. Zitat von Helfferich hervor, dass mit Agency das Interesse verbunden ist, Handlungen einer einzelnen Entität zuzuschreiben. Dem ist jedoch entgegenzusetzen, dass Menschen oft nicht eigenständig Handeln, sondern Allianzen mit anderen Entitäten wie z. B. Hunden bilden, um die Grenzen des eigenen Leibs überwinden und Ziele erreichen zu können. Ein bestimmtes Handeln wird daher oft erst durch eine bestimmte Allianz ermöglicht. Deshalb plädiere ich in Anknüpfung an Eberhard Raithelhuber für ein relationales Agency-Verständnis, wonach Agency nicht in einer individuellen Entität verortet, sondern als eine Eigenschaft begriffen wird, die sich auf mehrere – auch nichtmenschliche – Entitäten verteilen kann (vgl. Raithel-

Der Beitrag von Führhunden zur Herstellung von Agency in Mensch-Tier-Triaden

huber 2013: 9). Dementsprechend offen ist auch Raithelhubers Agency-Definition. Diese besagt, dass es sich bei Agency um die Fähigkeit handelt, die Welt zu transformieren (vgl. Raithelhuber 2013: 8) – ganz gleich, ob die Fähigkeit in einer individuellen Entität oder einem Kollektiv angesiedelt ist. Betonen möchte ich außerdem, dass Agency immer abhängig von der je spezifischen Situation ist, in der Entitäten zufällig oder geplant aufeinander treffen und in deren Rahmen Agency interaktiv hergestellt wird, worauf ich im folgenden Kapitel noch näher eingehen werde. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die situationsspezifischen Identitäten und Relationierungen von Entitäten im Rahmen konkreter Interaktionen festgelegt werden, an denen menschliche, tier­liche und nichtlebendige Entitäten beteiligt sein können. Auf die Tatsache, dass auch nichtmenschliche Entitäten an Transformationsprozessen beteiligt sein können, wiesen u. a. die Vertreter_innen der Akteur-Netzwerk-Theorie hin. Außerdem verdeutlichten sie, dass nichtmenschliche Entitäten nicht beliebig durch Menschen formbar sind, was dem menschlichen Handeln Grenzen setzt. Entwickelt wurde die Akteur-Netzwerk-Theorie Mitte der 1980er Jahre vor allem von den französischen Soziologen Michel Callon und Bruno Latour. Mit ihren theoretischen Überlegungen verfolgten sie das Ziel, dass die Wirklichkeit nicht länger entweder als durch natürliche/technische Faktoren determiniert betrachtet oder als Resultat gesellschaftlicher Einflüsse angesehen wird. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Wirklichkeit ein Ergebnis der Interaktion zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten ist (vgl. Schulz-Schaeffer 2000: 187). Im Rahmen dieses Beitrags kann eine Interaktion als »der wechselseitige Einfluß« (Goffman 2010: 18), der zwischen Entitäten während ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit stattfindet, verstanden werden. Ob es zu Wechselwirkungen zwischen Entitäten kommt, ist weder abhängig davon, ob ein nichtmenschliches Tier von einem Menschen als Interaktionspartner_in anerkannt wird, noch, ob die Entitäten die gleiche Sprache sprechen. Denn nichtmenschliche Tiere können sich auch gegen den Willen der Menschen in eine Interaktion einbringen und Wechselwirkungen können auch dann entstehen, wenn sich in einer Situation Anwesende nicht offiziell als Teilnehmende einer Interaktion bestätigt haben. Sollten ausgesendete Signale einer Entität bei Adressat_innen auch nicht die gewünschte Wirkung erzielen, so haben sie doch irgendeine Wirkung. Ferner muss ein Verhalten nicht geplant sein, um eine Situation zu beeinflussen. Aus diesen Überlegungen folgt, dass ich das Phänomen Agency nicht untersuchen möchte, indem ich einen vorab festgelegten Kriterienkatalog auf em­pirisches Material anwende, um herauszufinden, welche Entitäten dort aufgrund dieser Kriterien als Agent_innen eingestuft werden können. Vielmehr geht es darum, Agency neu zu entdecken. Es stellen sich u. a. folgende Fragen:

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Wie wird Agency hergestellt? Welche Merkmale weist Agency auf? Wo wird Agency lokalisiert? Wie wird die Effektivität von Agency bestimmt? Mein Beitrag möchte diesen Fragen im Zusammenhang mit der Nutzung von Hunden als Mobilitätsassistenz durch blinde Menschen nachgehen und rekonstruieren, welchen Beitrag die als Führhunde bezeichneten Tiere zur situationsbezogenen Agency leisten. Die Relationalität von Agency tritt in diesem Fall – so meine These – besonders deutlich in Erscheinung, da es sich bei der Verknüpfung von blindem Menschen und Führhund um die Verbindung zweier Entitäten handelt, denen in bestimmten Kontexten als einzelne Entitäten nur eingeschränkt Agency zugeschrieben wird. Während viele Mensch-Tier-Beziehungen wie z. B. diejenige zu Meerschweinchen ausschließlich im privaten Bereich stattfinden (vgl. Pollack 2008: 108), ist der Arbeitsplatz von blindem Menschen und Führhund der öffentliche Raum. Dadurch wird diese Beziehung komplexer als andere Mensch-Tier-Beziehungen, da in sie zwangsläufig noch weitere Entitäten eingebunden sind. Im Folgenden möchte ich zunächst auf die Komplexität der Mensch-Führhund-Beziehung eingehen und die Faktoren benennen, die auf sie einwirken können, um im Anschluss daran ausgewählte Funktionen eines Führhundes bei der Herstellung von Agency aufzuzeigen. Ich beziehe mich dabei auf vorliegende empirische Studien, Richtlinien, Stellungnahmen, Gesetzestexte und Erkenntnisse, die ich im Rahmen meiner Feld-Mitgliedschaft als Halterin eines Führhundes sammeln konnte.

D as F ührhund -M ensch -E nsemble – eine V erknüpfung innerhalb triadischer S truk turen Die Verknüpfung aus Führhund und blindem Menschen, die als Führgespann bezeichnet wird, ist jene Verbindung, die Erving Goffman der Kategorie Ensemble zuordnen würde. Hierunter versteht er einen Zusammenschluss von Entitäten, die durch kooperatives Handeln gemeinsame Ziele erreichen möchten (vgl. Goffman 2010: 79). Die Angehörigen eines Ensembles stehen in einem besonderen Vertrauensverhältnis zueinander (vgl. Goffman 2010: 117). Im Rahmen ihrer Kooperation können sie unter Umständen Fähigkeiten besitzen, die die einzelnen Komponenten nicht aufweisen, was John Law als »emergentes Phänomen« (Law 2006: 218) bezeichnet. Die interaktive Herstellung von Agency ist von einigen Faktoren abhängig, die, wenn man sie isoliert betrachtet, jeweils sowohl das Potenzial haben, Agency zu ermöglichen als auch Agency zu begrenzen. Mustafa Emirbayer und Ann Mische schlagen eine Systematik dieser Faktoren vor, indem sie sie auf einer Zeitachse anordnen (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 964). Die Gegenwart wird z. B. durch die materielle Konstitution der Entitäten bestimmt. Die

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Körper von Führhund und blindem Menschen und ihr aktueller Standort legen fest, was sich in ihrer »Welt in Reichweite« (Schütz/Luckmann 2003: 75) befindet – welche Informationen sie aus ihrer Umwelt wahrnehmen können. Außerdem wird hierdurch der Umfang ihrer »Wirkzone« (Schütz/Luckmann 2003: 77) abgeleitet – der Bereich, auf welchen sie physisch einwirken können – sowie entschieden, zu welchen Einwirkungen sie aufgrund ihrer Beschaffenheit überhaupt fähig sind. Die räumliche Umgebung und ihre Begrenzung, z. B. durch Wände, beeinflusst ebenfalls die Welt in Reichweite und die Wirkzone. Da die Mobilität des Führgespanns – also der Transport der eigenen Körper von A nach B – selten in einer Umgebung stattfindet, in der nicht noch andere Entitäten anwesend sind, müssen auch diese Entitäten berücksichtigt werden. Daher reicht in diesem Zusammenhang die Dyade als Grundkonstellation nicht aus. Durch triadische Strukturen entstehen neue Konstellationen, die nur mithilfe dyadischer Strukturen nicht erklärbar sind. Erst ab der Vierer-Konstellation wiederholen sich laut Joachim Fischer dyadische und triadische Konstellationen (vgl. Fischer 2010: 131). So ermöglicht erst die Triade den Ausschluss einer Entität aus der Interaktion zwischen den beiden anderen Entitäten. Möchte ein Ensemble als Dyade bestehen, muss es Strategien entwickeln, um Dritte auszuschließen. Die Vergangenheit kann z. B. mittels »Interaktionsordnung« (Goffman 2001: 51) in die aktuelle Situation eingreifen. Bei einer Interaktionsordnung handelt es sich um einen normativen Konsensus über für eine Situation angemessene Verhaltensregeln (vgl. Goffman 2001: 63) – auch bezogen auf den Umgang mit anderen Menschen, nichtmenschlichen Tieren und nichtlebendigen Entitäten. Hierdurch kann Agency einerseits begrenzt werden, andererseits entstehen so Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer Entitäten, wodurch diese berechen- und beeinflussbar werden. Bei der Präsentation eines Verhaltens, das nicht in das entsprechende Ordnungsschema passt, können Verhaltensregeln aber unter Umständen auch zum Problem werden. Eine Interaktionsordnung kann in einer konkreten Situation bestätigt oder modifiziert werden. Bei (Führ-)Hunden handelt es sich nicht um ahistorische Entitäten, sondern um »Kulturwesen« (Pollack 2008: 48). Sie sind Teil der menschlichen Geschichte und gelten als Spiegel der jeweiligen Gesellschaften (vgl. Pollack 2008: 110), indem Menschen ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreiben, ihre Zucht durch menschliche Wünsche geprägt ist und sie bestimmte Identitäten ihrer Halter_innen symbolisieren. Des Weiteren haben die (Führ-) Hunde mit ihren spezifischen Fähigkeiten immer wieder als »Naturwesen« in die menschliche Geschichte eingegriffen und den Menschen sowie seine Einstellungen zu Hunden z. B. durch ihre Unterstützung bei der Jagd, aber auch durch Beißattacken geformt. Die historisch bedingten Identitäten von (Führ-)

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Hunden beeinflussen die gegenwärtigen Einstellungen von Menschen gegenüber (Führ-)Hunden. Menschen (und vermutlich auch einige nichtmenschliche Tiere) haben die Möglichkeit, Zukunftsszenarien zu entwerfen, Wünsche und Ängste bezogen auf die Zukunft zu äußern und diese bewusst oder unbewusst in ihr gegenwärtiges Verhalten zu integrieren (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 971). Ihr aktuelles Handeln kann durch in der Zukunft liegende Handlungsziele motiviert sein (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 465). All diese Aspekte können mögliche Faktoren sein, die Agency beeinflussen.

D ie F unk tionen von F ührhunden der V erwirklichung von A gency

bei

Führhunde als Helfer_innen – übersetzende, Befehle ausführende und mit intelligenter Widerspenstigkeit ausgestattete Entitäten »With the guide dog I have confidence. She is my eyes.« (Hauser/Wakkary/ Neustaedter 2014: 298) Auf diese Aussage bezüglich der Funktion von Führhunden stießen Sabrina Hauser und Kolleg_innen in Interviews mit Führhundhalter_innen, die sie im Rahmen ihrer Studie zur Interaktion zwischen Führhunden und ihren blinden Menschen führten. Doch wie werden Führhunde zu ›Augen‹ ihrer Halter_innen? Dies geschieht, indem die Hunde visuelle Informationen aus der Umwelt in eine Sprache übersetzen, die auch für menschliche Entitäten mit einer nicht-optischen Wahrnehmung zugänglich sind. Diese vom Führhund vermittelten Informationen sind für blinde Menschen eine wichtige Voraussetzung, um Entscheidungen treffen zu können, die zur Verwirklichung der eigenen Agency dienen. Die Sprache des Führhundes besteht primär aus Bewegungen (vgl. ebd.). So wird das Stehenbleiben etwa zum Anzeichen für sich auf dem Weg befindende Stufen (vgl. Deutscher Blindenverband 1989: 11). Die Veränderungen in den Bewegungen ihres Führhundes nehmen die blinden Halter_innen mittels eines Führgeschirrs wahr, durch das sie während der Führarbeit mit ihrem Hund verbunden sind (vgl. Hauser/Wakkary/Neustaedter 2014: 298). Diese Interaktionsordnung erlernen Führhunde während ihrer Ausbildung. Die Halter_innen werden mit dem Umgang mit dem Führgeschirr und den Zeichen des Hundes in der Einarbeitung mit ihrem zukünftigen Hund vertraut gemacht, welche von den Trainer_innen der Ausbildungsstätte des jeweiligen Hundes durchgeführt wird. Voraussetzung eines erfolgreichen Übersetzungsprozesses von für Menschen wichtigen visuellen Informationen in nicht-optisch wahrnehmbare

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Zeichen durch den Hund ist, dass diese Informationen auch für den Hund relevant sind, damit er ihnen überhaupt Aufmerksamkeit schenkt. Dies ist bei einem Hund, der noch nicht durch den Menschen geformt wurde, aber keineswegs der Fall.1 So stellen herabhängende Äste für ihn keine Gefahr dar, da er problemlos unter ihnen hindurch passt, während der blinde Mensch sich daran verletzen kann. Auch kennt ein Hund zunächst die Funktion einer Ampel nicht. Er wird diese daher in der Regel als bedeutungslos ansehen und ihr folglich keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Erst wenn man die Ampel mit einer Entität verknüpft, die für den Hund eine Bedeutung hat, wie z. B. ein Stück Futter, wird der Hund dieser zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken. Die Identitäten konkret anwesender Dritter – ob menschlich, tierlich oder nichtlebendig – werden im Führgespann bezogen auf dessen Mobilitätserfordernisse bestimmt.2 So gelten die meisten dieser Entitäten als »stehende oder bewegliche Hindernisse« (Deutscher Blindenverband 1989: 10). Entitäten, die von blinden Menschen im Rahmen ihrer Fortbewegung als Instrumente genutzt werden, wie z. B. Ampeln, müssen den Halter_innen vom Führhund nach erfolgter Anweisung durch den Menschen angezeigt werden. Generell erhalten Führhundhalter_innen durch ihren Hund weniger Informationen über ihre Umwelt als sehende Menschen durch ihre Augen, was von den Teilnehmenden an den Interviews der Studie von Hauser und Kolleg_innen bedauert wird (vgl. Hauser/Wakkary/Neustaedter 2014: 298). Ferner bekommen sie weniger taktile Informationen als Nutzer_innen von Blindenlangstöcken. Während die Nutzer_innen von Langstöcken Hindernisse mit dem Langstock zunächst berühren müssen, um dann das Umgehen dieser Hindernisse selber zu planen und auszuführen, wird dem Führhund diesbezüglich Entscheidungsautonomie eingeräumt. Er initiiert die Umgehung von Hindernissen eigenständig, ohne die blinden Halter_innen zunächst auf deren Existenz aufmerksam zu machen, sodass diese Entitäten für die blinden Halter_innen weitestgehend unsichtbar bleiben. Durch das Ausweichmanöver können sie ihre Existenz zwar erahnen, bekommen aber keine weiteren taktilen Informationen über die konkrete Konstitution dieser Entitäten. Die den Führhunden zugestandene Entscheidungsautonomie geht so weit, dass von ihnen sogar widerspenstiges Verhalten erwartet wird, was sich dadurch äußert, dass sie sich weigern, eine Anweisung ihrer Halter_innen zu befolgen. Dies wird als intel1 | Die Erkenntnis, dass die Konstruktion der Wirklichkeit durch die sie erfahrende Entität erfolgt, geht in der Biologie auf Jakob von Uexküll zurück. Überlegungen hierzu finden sich u. a. in seinem Werk Theoretische Biologie aus dem Jahr 1928. 2 | Dieses Phänomen konnte auch von Carolin Länger im Rahmen ihrer Untersuchung der Schulung von blinden Menschen in Orientierung und Mobilität mit dem Langstock beobachtet werden (vgl. Länger 2002: 186).

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ligente Gehorsamsverweigerung bezeichnet. »Falls die Situation es erfordert, ein Hindernis nicht auf der Fahrbahn zu umgehen, sollte der Hund in der Lage sein, durch Verweigerung der Umgehung (intelligente Gehorsamsverweigerung) zu signalisieren, daß ein Aufsuchen der anderen Straßenseite vorteilhafter ist.« (Deutscher Blindenverband 1989: 11) Welche der von Führhunden gezeigten Verhaltensweisen als intelligent eingestuft werden sollten, wird aus der Perspektive der Halter_innen allerdings anhand des Kriteriums entschieden, wie vorteilhaft die Verhaltensweisen für die Erreichung der eigenen Handlungsziele sind. Würde ein Führhund es beispielsweise vorziehen, eine Verbindung mit einem Stück Kuchen einzugehen, das eine menschliche Entität auf der anderen Straßenseite in der Hand hält, und deshalb das Weitergehen verweigern, bis die Straßenseite gewechselt wird, so würde dieses Verhalten von den Halter_innen nicht als ›intelligente Gehorsamsverweigerung‹ angesehen. Wenngleich das Verhalten für den Hund als erfolgreich verwirklichte Agency gelten kann, so betrifft diese Form von Agency nur ein Mitglied des Führgespanns. Das Ziel der Zusammenarbeit im Führhund-Mensch-Ensemble besteht aber darin, dass beide Partner_innen aus der Verbindung profitieren. Der blinde Mensch erreicht sein Handlungsziel und der Führhund erhält für sein Handeln eine Belohnung (in Abhängigkeit von den Vorlieben des jeweiligen Hundeindividuums z. B. ein Stück Futter, ein gemeinsames Spiel mit seinem Menschen oder Streicheleinheiten). Es muss auch festgehalten werden, dass die als intelligente Gehorsamsverweigerung bezeichnete Entscheidungsautonomie eines Führhundes in der Regel ein gelerntes Verhalten darstellt. Er hat gelernt, dass von ihm in bestimmten Situationen ein bestimmtes Verhalten erwartet wird, indem das Zeigen dieses Verhaltens in der Vergangenheit für ihn angenehme Konsequenzen hatte. So zeigt er dieses Verhalten nun freiwillig, um eine für ihn angenehme Situation herbeizuführen. Die von Führhunden ausgeübte Agency ist an kooperatives Handeln innerhalb des Führgespanns geknüpft und kann sich nur im Zusammenwirken mit den blinden Interaktionspartner_innen entfalten. So konnten Szima Naderi und Kolleg_innen während ihren Beobachtungen des Interaktionsverhaltens in britischen und ungarischen Führgespannen feststellen, dass manche Handlungen vom Führhund, andere wiederum vom blinden Menschen initiiert werden und dass die Rolle des Initiators_der Initiatorin während der Führarbeit sehr oft wechselt (vgl. Naderi et al. 2001: 71). Eine vom Führhund initiierte Bewegung führt nur dann zum Erfolg, wenn sie von dem blinden Menschen kopiert wird – er sich dieser anpasst (vgl. Naderi et al. 2001: 79). Der blinde Mensch muss Entscheidungen seines Führhundes also akzeptieren ohne sie zu kontrollieren und muss seinem Führhund somit vertrauen. Außerdem besitzen beide Interaktionsteilnehmende unterschiedliches, für die Situationsbewältigung relevantes Wissen, das zusammengefügt werden muss (vgl. ebd.). Während der Führhund mehr Informationen über die Umwelt besitzt, kennt

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der blinde Mensch das Ziel und weiß den Weg dorthin. Er muss seinem Führhund mittels verbaler Anweisungen Richtungswechsel mitteilen. Erst durch diese unterstützenden Anweisungen des blinden Menschen kann der Führhund zum Agenten_zur Agentin werden.

Führhunde als Belästigung oder Gefahrenquelle In einer ethnografischen Studie in Israel Ende der 1980er Jahre fanden Shlomo und Hilda Deshen heraus, dass die in diesem Kulturraum generell vorherrschenden negativen Einstellungen gegenüber Hunden im Allgemeinen auch Probleme bezogen auf die Haltung von Führhunden mit sich bringen (vgl. Deshen/Deshen 1989: 96). So wurde u. a. der schlechte Geruch von Hunden beklagt. Aufgrund dieser Tatsache befürchteten blinde Menschen, dass durch ihre Nutzung von Führhunden zwischenmenschliche Beziehungen zerstört werden könnten, da andere Menschen die Anwesenheit von Hunden ablehnten (vgl. Deshen/Deshen 1989: 97). Aus diesem Grund entschieden sich viele blinde Menschen, die an der Studie teilnahmen, gegen die Haltung eines Führhundes und folglich auch gegen eine verbesserte Mobilität. Somit hat der (Führ-)Hund hier Agency im Sinne von Wirkungsmacht, da er die Fähigkeit besitzt, allein aufgrund seiner Anwesenheit Konf likte in zwischenmenschlichen Beziehungen hervorzurufen. Allerdings basiert Agency hier nicht auf einem geplanten oder ungeplanten Verhalten eines konkreten (Führ-)Hundes. Vielmehr entwickelt sich die Agency von (Führ-)Hunden in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund bestimmter kultureller Werte und ist ein Produkt der durch Menschen vorgenommenen Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften zur Kategorie Hund. Der (Führ-)Hund als solcher übernimmt dabei eine passive Rolle. Die in diesem Beispiel anzutreffende menschliche Beziehung zu Hunden kann als Beziehung zu einem Kollektiv charakterisiert werden. Es geht nicht um ein konkretes Hundeindividuum, sondern um die anonyme Kategorie Hund, in welche der Führhund eingeordnet wird. Durch die kulturell bedingte Verhinderung der Verbindung von Führhund und blindem Menschen entsteht für den blinden Menschen eine eingeschränkte Agency bezüglich seiner Mobilität, was er aber akzeptiert, um seine zwischenmenschlichen Beziehungen nicht zu gefährden. Mit der Zivilisation des Menschen entstand in sogenannten ›westlichen‹ Gesellschaften wie Deutschland eine bestimmte Vorstellung in Bezug auf Sauberkeit. So wird Hundekot auf den Straßen als Belästigung empfunden (vgl. Pollack 2008: 99). Auch Hunde an sich werden zu unsauberen Wesen und zu Überträger_innen von Krankheiten erklärt, wodurch sie zu einem Hygienerisiko und somit zur Gefahrenquelle werden. Auch hier ist Agency – verstanden als Fähigkeit die Welt etwa durch das Schaffen von Konfliktpotential zu transformieren – keine Folge einer geplanten Handlung eines individuellen Hun-

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des. Stattdessen resultiert Agency hier aus der Zuschreibung von negativen Eigenschaften zum Hund, die vom Menschen vorgenommen wurde. Um diese unerwünschte Form kulturell bedingter hundlicher Agency kontrollieren zu können, hat sich der Mensch exklusiv menschliche Territorien geschaffen, zu denen Hunde keinen Zutritt haben, wie z. B. Lebensmittelgeschäfte: »Lebensmittelunternehmer müssen grundsätzlich vermeiden, dass Haustiere Zugang zu Räumen haben, in denen Lebensmittel zubereitet, behandelt oder gelagert werden« (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2014). Auch wenn das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Hunden, die behinderten Menschen assistieren, den Zugang zu Lebensmittelgeschäften in einer Stellungnahme gestattet, wird hierdurch gleichzeitig die anthropozentrische Perspektive bestätigt. Dies geschieht, indem man Assistenzhunde zum »Sonderfall« (ebd.) erklärt.3 Dieses Beispiel stützt die von Esther Knoth aufgestellte These, dass Menschen oft eine bestimmte Tierart, eine bestimmte Tierrasse oder ein bestimmtes tierliches Individuum bevorzugen, während sie gegenüber allen anderen nichtmenschlichen Tieren eine gleichgültige oder ablehnende Haltung einnehmen. Hierdurch wird der Anthropozentrismus aufrecht erhalten (vgl. Knoth 2008: 177). So wird in dem vorliegenden Beispiel eine bestimmte Gruppe von Hunden – Assistenzhunde – von der Kategorie der Haustiere abgegrenzt, denen allein der Zutritt zu exklusiv menschlichen Bereichen gewährt wird, während alle anderen Tiere von diesen Bereichen weiterhin ausgeschlossen bleiben. Gerechtfertigt wird diese Entscheidung damit, dass bei Assistenzhunden menschliche Kontrollmaßnahmen zur Abschirmung von Lebensmitteln gegenüber möglichen Einflüssen durch die betreffenden Hunde besonders gut greifen würden, da es sich bei Assistenzhunden um sehr disziplinierte Hunde handle, die keinen Kontakt mit Lebensmitteln anstrebten (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2014). Es wird also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, dass lebendige Tiere die für den menschlichen Verzehr dargebotenen Lebensmittel verunreinigen könnten, sondern es werden Strategien entwickelt, um den Kontakt dieser beiden Gruppen von Entitäten zu verhindern. Die Agency des Menschen ermöglicht es also, die Agency des Hundes in seinem Sinne zu kontrollieren. Ferner findet in diesem Beispiel eine Abwägung zwischen den entstehenden Kosten und dem Nutzen statt, den Assistenzhunde für den Menschen haben (vgl. ebd.). Schließlich wird die Entscheidung getroffen, dass der Nutzen der Hunde für

3 | Neben dem Führen blinder Menschen können Assistenzhunde u. a. auch noch folgende Aufgaben übernehmen: das Aufheben heruntergefallener Gegenstände und das Öffnen von Türen für körperbehinderte Menschen, das Hinweisen von hörbehinderten Halter_innen auf akustische Signale, das Warnen ihrer Halter_innen vor einem herannahenden epileptischen Anfall.

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menschliche Agency größer ist als der Schaden, der dem Menschen durch die hundliche Agency zugefügt werden könnte.

Führhunde als Behinderungssymbol Wenn es darum geht, Einblicke in den Erfahrungsablauf anderer Lebewesen – ihre Wahrnehmung, ihren Wissensvorrat, ihre derzeitigen Emotionen und ihr Denken – zu erhalten, stoßen Menschen an ihre körperlichen Grenzen. Sie können nicht direkt in das Bewusstsein anderer Lebewesen eindringen (vgl. Schütz 2004: 328). Ihnen bleibt nur der indirekte Weg, durch das Verhalten und das äußere Erscheinungsbild anderer Lebewesen auch etwas über deren Inneres zu erfahren, weshalb Interaktionsteilnehmende immer zur »Quelle verkörperter Informationen« (Goffman 2009: 31) werden. Bei Blindheit handelt es sich um ein Phänomen, das unter Umständen nicht durch den Körper eines blinden Menschen vermittelt wird. Deshalb soll diese Funktion u. a. vom Führhund übernommen werden, was in der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr geregelt wird. Hier heißt es: »Wesentlich sehbehinderte Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, die Begleitung durch einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen nach Satz 1 kenntlich machen« (Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr 2010: § 2 Abs. 2). Somit wird der Führhund – allerdings nur in Verbindung mit dem weißen Führgeschirr – zu einem Anzeichen für Blindheit. Unter einem Anzeichen versteht Alfred Schütz einen Gegenstand oder Sachverhalt, der auf den Bestand eines anderen Gegenstandes oder Sachverhalts hinweist (vgl. Schütz 2004: 248). Einerseits wird es anderen Interaktionsteilnehmenden durch die Visualisierung der Blindheit des blinden Menschen mittels des weißen Führgeschirrs und dem in ihm steckenden Hund ermöglicht, ihr Handeln auf die nicht-optische Wahrnehmung ihres Gegenübers einzustellen. 4 Andererseits gibt sie aber Anlass für ein ambivalentes Verhältnis zur Mobilitätsassistenz Führhund. Obwohl Führhunde ihren Halter_innen mehr Agency in Bezug auf ihre Mobilität verleihen, sie also befähigen sollen, werden sie gleichzeitig zum Symbol für eingeschränkte Agency in Bezug auf ihre Mobilität und damit zum Behinderungssymbol. Dies macht Führhunde zu einem Differenzmerkmal, da die Aufmerksamkeit von anderen anwesenden Entitäten durch den Führ-

4 | Dies allerdings auch nur bedingt, da die Visualisierung von Blindheit keinen Einblick in die Komplexität der nicht-optischen Wahrnehmung geben kann (vgl. Länger 2002: 46f.). Diese kann man nicht einfach als nicht-sehen-können beschreiben. Vielmehr muss man sie als komplexes Zusammenspiel zwischen akustischen, olfaktorischen, gustatorischen und taktilen Eindrücken begreifen.

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hund gezielt auf das vermeintliche, im Individuum verortete Defizit gelenkt werden soll. Auch in diesem Fall basiert die Agency von Führhunden, welche in der Vermittlung eines Identitätsmerkmals ihrer Halter_innen liegt, wieder auf menschlichen Zuschreibungen. Führhunde werden in diesem Zusammenhang nicht als eigenständige Lebewesen wahrgenommen, sondern als eine Erweiterung der menschlichen Identität. Sie treten nicht primär als Bestandteil des Kollektivs Hund mit all seinen vielfältigen Eigenschaften in Erscheinung, sondern als eindimensionale Entität, die durch ihre Verknüpfung mit einem blinden Menschen eine ganz bestimmte Eigenschaft erhält. Dadurch wird die Entität Führhund zum Symbol für Blindheit.

Führhunde als soziale Katalysator_innen Zahlreiche empirische Studien belegen, dass nichtmenschliche Tiere einen positiven Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen ausüben, indem sie helfen, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Deshalb werden nichtmenschliche Tiere auch häufig als »soziale Katalysatoren« (Pollack 2008: 46) bezeichnet. »Als Aufmerksamkeitsstimuli und begehrenswerte Objekte wecken Tiere das Interesse von Fremden«, so Ulrike Pollack (2008: 59). Für Jörg Bergmann gelten Haustiere als »kommunikative Ressource« (Bergmann 1988: 305). So können sie den thematischen Gegenstand menschlicher Interaktionen bilden und als narrative Ressource eine Quelle für Geschichten über das Tier darstellen (vgl. Bergmann 1988: 307). Seit den 1980er Jahren wurden auch vermehrt empirische Studien bezogen auf den Einfluss von Assistenzhunden auf soziale Interaktionen zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen durchgeführt. An dieser Stelle möchte ich exemplarisch die Ergebnisse einer Studie von Amanda Shyne und Kolleg_innen aus dem Jahr 2012 skizzieren. Im Rahmen dieser Studie wird erstmals nicht nur danach gefragt, ob ein Unterschied in der Art und Häufigkeit von sozialen Interaktionen zwischen nicht-behinderten und behinderten Menschen besteht, wenn der behinderte Mensch von einem Hund begleitet wird, sondern auch danach, ob es einen Unterschied macht, wenn die Begleitung ein Familien- oder ein Assistenzhund ist (vgl. Shyne et al. 2012: 16). Zu diesem Zweck wurden die Reaktionen von Passant_innen auf Personen im Rollstuhl ohne Hund, auf Personen im Rollstuhl mit einem Familienhund und auf Personen im Rollstuhl mit einem Familienhund, der aber mittels einer entsprechenden Kenndecke als Assistenzhund gekennzeichnet war, beobachtet. Die Forscher_innen fanden heraus, dass von den nicht-behinderten Menschen mehr Interaktionen initiiert wurden, wenn die behinderten Menschen mit Familien- oder Assistenzhund unterwegs waren, als wenn sie keinen Hund an ihrer Seite hatten (vgl. Shyne et al. 2012: 19).

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In verbalen Interaktionen wurde der Hund zumeist zum Thema – es wurden Fragen zum Hund gestellt oder Kommentare geäußert, die sich auf den Hund bezogen (vgl. ebd.). Die Häufigkeit der von nicht-behinderten Menschen initiierten Interaktionen war in Gegenwart des Assistenzhundes ein wenig geringer, als in Gegenwart des Familienhundes. Dies wird von den Forscher_innen damit begründet, dass man die Annäherung an einen gerade arbeitenden Hund häufiger vermeidet als die Annäherung an einen gerade nicht-arbeitenden Hund (vgl. ebd.). Eine weitere mögliche Erklärung wäre, dass die Kennzeichnung den Hund von anderen Hunden abgrenzt und so seine Differenz ebenso wie die Differenz des Halters_der Halterin unterstreicht, wodurch soziale Interaktionen mit dem behinderten Menschen vermieden werden. Lorraine Whitmarsh stellt in ihrer Studie, in der sie sich mit den Vor- und Nachteilen von Führhunden für ihre Halter_innen beschäftigt, auch Fragen zu dem Einfluss von Führhunden auf zwischenmenschliche Beziehungen. Sie führte u. a. Telefoninterviews mit 404 Führhundhalter_innen (vgl. Whitmarsh 2005: 32). Nur für wenige der Teilnehmenden (3 Prozent) war die Entscheidung für einen Führhund durch soziale Gründe motiviert (vgl. Whitmarsh 2005: 34). Dennoch berichteten 21 Prozent, dass andere Menschen ihnen gegenüber freundlicher sind, seit sie einen Führhund an ihrer Seite haben (vgl. Whitmarsh 2005: 36). Ein geringer Teil der Befragten empfindet die durch den Führhund bei Dritten hervorgerufene Aufmerksamkeit aber auch als störend (vgl. Whitmarsh 2005: 37). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass (Führ-)Hunde als Agent_innen zwischenmenschliche Beziehungen transformieren können. In der Soziologie geht man aber häufig davon aus, dass die Agency von Hunden auch hier wieder maßgeblich durch den Menschen kontrolliert und produziert werde. Als narrative Ressource wird ein Hund mehr durch menschliche Vorstellungen geformt als durch ein konkretes Handeln des Hundes. Außerdem kann ein Hund nur deshalb so gut seine Funktion in menschlichen Interaktionen erfüllen, weil er von der menschlichen Interaktionsordnung ausgeschlossen wird. Während man bei Anwesenheit menschlicher Dritter nicht über diese sprechen darf, hat diese Regel bei Hunden keine Gültigkeit. Laut Bergmann sind es die Menschen, die entscheiden, ob sie einem Haustier in einer Interaktion Aufmerksamkeit schenken oder nicht – unabhängig vom gezeigten Verhalten des Tieres (vgl. Bergmann 1988: 304). Somit würde der Hund zu dem, was Goffman als »Unperson« (Goffman 2010: 138) bezeichnet. Dies bedeutet, dass man eine anwesende Entität als nicht anwesend ansieht und es nicht als notwendig erachtet, vor ihr einen bestimmten Eindruck zu erwecken. Hiernach bestünde also die menschlich genutzte Agency des Hundes gerade darin, dass der Hund keine eigenständige Agency besitzt und daher der Mensch entscheiden kann, welche Art Agent_in er aus ihm macht. Ich möchte der hier

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dargestellten Auffassung von Bergmann jedoch widersprechen. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen ein Hund dem Menschen, ausgelöst durch das Verhalten des Hundes, als »thematische Relevanz« (Schütz/Luckmann 2003: 258) auferlegt wird: Man denke hier etwa an Ereignisse, bei denen Menschen durch Hunde verletzt werden. Somit kann auch ein konkretes Hundeindividuum Agency zeigen. Ob eine eigenständig vom Führhund vorgenommene Kontaktaufnahme mit einem Fremden gleichzeitig für den blinden Menschen agencyfördernd oder –hemmend ist, hängt von dessen Handlungszielen ab. Möchte er schnell und ungestört von A nach B kommen, kann das Verhalten des Führhundes die Agency des blinden Menschen einschränken. Sucht er aber einen_eine Ansprechpartner_in, um z. B. nach dem Weg zu fragen, kann das Verhalten des Führhundes auch für den blinden Menschen mehr Agency bedeuten.

F a zit Im vorliegenden Beitrag bin ich davon ausgegangen, dass man die Verwirklichung von Agency erst dann nachvollziehen kann, wenn das Konzept als ein Konstrukt verstanden wird, das im Rahmen von Interaktionen innerhalb triadischer Strukturen durch die situationsspezifische Relationierung von Entitäten hervorgebracht wird. Zudem ist es nicht sinnvoll, das Phänomen Agency anhand eines vorab definierten Kriterienkatalogs zu untersuchen, der festlegt, wer ein Agent_eine Agentin sein darf, da hierdurch viele Formen von Agency im Verborgenen bleiben würden. So lag der Fokus der Soziologie bislang viel zu sehr auf einem menschlichen Agency-Verständnis, wodurch die Wechselwirkungen zwischen menschlichen, tierlichen und nichtlebendigen Entitäten nicht erklärt werden konnten. Daher spreche ich mich für eine offenere Herangehensweise an das Phänomen Agency aus, die den Herstellungsprozess von Agency in den Mittelpunkt der Forschung rückt. Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes bin ich der Frage nachgegangen, welchen Beitrag Führhunde zur situationsbezogenen Agency leisten. So können sie beispielsweise als Helfer_innen, als Erweiterung der menschlichen Identität, als soziale Katalysator_innen, aber unter Umständen auch als Belästigung oder Gefahrenquelle in Erscheinung treten. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Agency des Führgespanns oft nur durch kooperatives Handeln der beiden Interaktionspartner_innen entstehen kann, indem diese ihre unterschiedlichen Wissensvorräte zusammenfügen und es zulassen, dass der_die jeweils andere Interaktionspartner_in im Führgespann je nach Situation die Rolle der Entscheidungen treffenden Entität übernimmt. Ferner kann Agency im Führgespann nur dadurch hervorgerufen werden, dass innerhalb

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des Führgespanns eine Sprache verwendet wird, die der physischen Konstitution der beiden Entitäten und der hierdurch festgelegten Verständigungsmöglichkeiten gerecht wird. Das Ziel der Zusammenarbeit zwischen blindem Menschen und Führhund soll darin bestehen, dass beide Partner_innen aus der Verbindung profitieren. So erreicht der blinde Mensch das Handlungsziel an einen bestimmten Ort zu gelangen und der Führhund bekommt eine für ihn attraktive Belohnung. Des Weiteren erhält der Führhund nur durch seine Verknüpfung mit dem blinden Menschen die Bedeutung des Anzeichens für Blindheit. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, warum ein Führhund eine bestimmte Form von Agency nur aufgrund des Bestehens triadischer Konstellationen erhält. Als Mobilitätsassistenz wird er ausschließlich im öffentlichen Raum genutzt, sodass davon auszugehen ist, dass während seiner Arbeit Dritte anwesend sind. Aufgrund der Anwesenheit eines_einer Dritten wird es überhaupt erst erforderlich, den Führhund zum Anzeichen für Blindheit werden zu lassen. Wäre keine dritte Entität anwesend, so gäbe es auch niemanden, dem die Blindheit angezeigt werden müsste. In der Dreier-Konstellation blinder Mensch, sehender Mensch und Führhund kann eine spezifische zwischenmenschliche Beziehung und Hund-Mensch-Beziehung aufgebaut werden, die von allen Teilnehmenden initiiert werden kann. Ob diese Beziehung für die Involvierten zum Auslöser von Agency wird, muss vor dem Hintergrund der jeweiligen Handlungsziele bestimmt werden. Oft wird hundliche Agency erst durch menschliche Kultur und Regelsysteme hervorgerufen. Rechtliche Rahmenbedingungen machen den Führhund zu einem Behinderungssymbol und die menschliche Interaktionsordnung legt fest, dass ein mit einem Hund verknüpfter Mensch anderen Menschen für eine Interaktion zur Verfügung steht. Indem man Führhunde vom Kollektiv Haustier abgrenzt und nur ihnen den Zutritt zu exklusiv menschlichen Territorien gewährt, stellt man sicher, dass die Grenze zwischen Mensch und Tier aufrecht erhalten wird. Allerdings muss abschließend darauf hingewiesen werden, dass dieser Beitrag den Führhund nur während seiner Dienstzeit betrachtet, die sich aber nur über wenige Stunden eines Tages erstreckt. Legt man den Fokus z. B. auf das Spiel zwischen Halter_in und (Führ-)Hund, so wird man auf weitere Formen von Agency im Mensch-Hund-Team stoßen.

L iter atur Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.) (2006): Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript.

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Der Beitrag von Führhunden zur Herstellung von Agency in Mensch-Tier-Triaden

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Jedes Tier ist eine Künstlerin Jessica Ullrich Im Rahmen der traditionellen Ästhetik werden nichtmenschliche Tiere überwiegend als kunstlose Wesen der Natur zugerechnet. Dennoch erleben Tiere und ihre Produkte seit den 1970er Jahren in der Kunst eine Konjunktur und werden gerade in jüngerer Zeit von Künstler_innnen als ästhetische Akteur_innen ernst genommen. Der Text geht der Frage nach, ob man in manchen Fällen von tierlicher Autorschaft oder Ko-Autorschaft sprechen kann. Im Fokus stehen ausgewählte Fallbeispiele, in denen nichtmenschliche Tiere in menschliche künstlerische Praxis einbezogen werden, dort eine eigene Handlungsmacht entfalten und Kunstwerke (mit-)erschaffen.

»Only with Homo sapiens do we see true art. « Eugene Hirschfeld (2008)

Tierspuren Nichtmenschliche Tiere dienen in der Kunst nicht nur als Motiv, sie sind auch oft unbemerkt Inspirationsquelle für kreative Produktion. Sie stimulieren Schriftsteller_innen, Maler_innen oder Musiker_innen in ihrem Schaffensprozess. Sir Walter Scott konnte beispielsweise nur mit einem seiner Hunde zu seinen Füßen schreiben; Picasso malte eine Zeit lang am liebsten, wenn seine Ziege ihm dabei zusah, Mozart bezog wichtige Kompositionseinfälle von seinen geliebten Staren und Richard Wagner verließ sich auf seinen Spaniel Peps als musikalischen Berater. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Haustiere nicht einfach durch ihre bloße Anwesenheit so wirkmächtig für ›ihre‹ Menschen wurden, sondern dass ihre spezifische Art und Weise zu agieren für die mit ihnen lebenden Menschen bedeutungsvoll wurde. Man kann sie als Akteur_innen in einem Netzwerk von sozialen Beziehungen verstehen, die zur Genese von herausragenden Beispielen menschlicher Kunst führten. Doch kann man deshalb von ihnen als Ko-Autor_innen dieser Meisterwerke sprechen? Wohl kaum. Doch wie sieht es mit nichtmenschlichen Tieren aus,

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die durch ihre Handlungen indexikalisch mit Kunstwerken verbunden sind und maßgeblich für deren sinnlich erfahrbare Ausgestaltung verantwortlich sind? Vom japanischen Künstler Katsuhika Hokusai (1760-1849) wird erzählt, er habe einmal ein Bild für den Shogun produziert, indem er einen breiten blauen Strich auf einen Papierbogen gezeichnet habe und dann einen Hahn darüber scheuchte, dessen Füße er in rote Tinte getaucht hatte. Hokusai titulierte das Bild als »Tatsuta-Fluss mit Herbstlaub«. Und tatsächlich lesen menschliche Betrachter_innen nicht nur die blaue Linie als Fluss, sondern sehen sofort Ahornblätter in den roten Krallenspuren. Hokusais phantasievolles Verfahren war ohne Zweifel innovativ, doch er überlässt dabei nichts dem Tier: Er ist und bleibt der alleinige Autor seines Bildes, die Füße des Hahns sind seine Technik, der kalkulierte Zufall seine Methode, die Spuren vergegenständlichen sich nur im Kopf eines menschlichen Publikums zur lesbaren Motivik. Die beliebte Anekdote illustriert die Genialität des menschlichen Meisters, nicht die Handlungsmacht des tierlichen Werkzeugs. Auf ähnliche Weise benutzt heute Steven Kutcher, ein gefragter Insektendompteur für Hollywoodfilme wie Arachnophobia, Käfer als lebende Pinsel. Auch er taucht deren Füße in Farbe und schickt sie dann über die Leinwand. Die Bewegungen bzw. die Laufrichtung der Käfer beeinflusst er dabei teilweise mit Lichtquellen. Kutcher betont, dass die Farben harmlos seien und die Tiere nicht beeinträchtigten, denn: »I have to take good care of them. After all, they are artists!« (Thomas 2007) Kutcher deutet Hokusais Strategie um und erweitert sie hin zu einer größeren Wertschätzung der Handlungsmacht der nichtmenschlichen Tiere, indem er sie explizit als Künstler_innen bezeichnet. Er deutet in die entstehenden Bilder keine gegenständliche Motivik mehr hinein, sondern akzeptiert sie als Spuren tierlicher Aktivität. Dennoch geht es dabei vor allem um den visuellen Effekt, den der Künstler durch die Instrumentalisierung tierlicher Mobilität erzeugen will. In beiden Fällen sind die Tierspuren bewegliche Strukturen und indexikalische Zeichen für die leibliche Präsenz ihrer Urheber_innen, unabhängig davon, ob sie mit Bedeutung aufgeladen werden. Mit einem differierenden Bewusstsein für die Rolle der beteiligten nichtmenschlichen Tiere arbeiten beide Künstler mit deren Fähigkeit, sich selbsttätig gerichtet zu bewegen und im Raum zu orientieren und setzen damit eine bestimmte Handlungsmacht voraus. Die hinterlassenen Spuren zeugen von einer sich ästhetisch manifestierenden Wirkmacht dieser tierlichen Aktivität. Inwiefern Agency von nichtmenschlichen Tieren, verstanden als eine unauflösbare Kombination von

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Handlungs- und Wirkmacht, auch kreative Gesten sein können, soll in diesem Beitrag diskutiert werden.1

Tierliche A gency

und

A utorschaft

Macht die Agency eines nichtmenschlichen Tieres es zu einem Autor oder zu einem Ko-Autor von Kunst? Im Rahmen der traditionellen Ästhetik werden nichtmenschliche Tiere jedenfalls überwiegend als kunstlose Wesen der Natur zugerechnet. Die Fähigkeit zur Kunstproduktion scheint gar als eines der wenigen noch verbleibenden Distinktionsmerkmale von Menschen und anderen Tieren zu gelten. Der Begriff von Kunst wird in Aushandlungsprozessen konstituiert, die sich auf die anthropologische Differenz stützen (vgl. Leeb 2007). Wenn man Kunst als Gattungsmerkmal des Menschen definiert, schließt man damit alle kreativen Äußerungen nichtmenschlicher Wesen aus und negiert automatisch jede Möglichkeit ästhetischer Praktiken von nichtmenschlichen Tieren. Ob etwas als Kunst definiert wird, lässt sich allerdings nicht von den Gegenständen selbst ableiten, sondern nur vom Diskurs, in den sie eingebettet sind. Immer schon hat sich die Kunstgeschichtsschreibung ihre Objekte selbst geschaffen. Schon an den Bestrebungen, die gestalterischen Produkte von sogenannten Naturvölkern, Kindern oder psychisch Kranken in die Kunstgeschichte zu inkludieren, zeigt sich, dass die Zuweisungen von Kunst oder Nichtkunst immer an die Ausübung von Deutungsmacht gekoppelt ist. Denn ohnehin muss man erst eine eindeutige Tier-Mensch-Grenze definieren, um auf sinnvolle Weise danach fragen zu können, ob auch andere Tiere Kunst schaffen können, oder ob nur Menschen dazu fähig sind – und schon diese Definition ist in Zeiten des animal turns fragwürdig geworden. So sucht dann auch die evolutionäre Ästhetik die Ontologie der Kunst in der Biologie und geht davon aus, dass menschliche Kunst aus Tieräußerungen entstanden ist: etwa die Musik aus Vogelgesang, die Architektur aus Tierbauten oder der Tanz aus der Balz (vgl. u. a. Menninghaus 2011). Auch der derzeit wieder verstärkt geführte Diskurs um Kultur bei nichtmenschlichen Tieren nimmt diese als ästhetische Subjekte ernst. Ein autonomer Kulturbegriff, wie er etwa von einigen Primatolog_innen, evolutionären Psycholog_innen, Neurowissenschaftler_innen, aber auch Philosoph_innen vertreten wird, lässt die Möglichkeit einer animalischen Ästhetik ausdrücklich zu (vgl. u. a. Imanshi 2002; De Waal 2001; Welsch 2004). Diese Idee ist natürlich nicht neu: Vielfältige historische Bezugspunkte sowohl in der Philosophie wie in den Natur1 | In der Kunstgeschichte wird Agency meist als Wirkmacht übersetzt, wobei es vor allem um die affektive Wirkmacht von Artefakten geht. Vgl. u. a. die Studien aus dem Hamburger Warburg Haus »Art and Agency/Kunst und Wirkmacht«.

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wissenschaften existieren spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert. Johann Gottfried Herder identifizierte beispielsweise 1784 bei Tieren einen angeborenen Kunsttrieb sowie Kunstfähigkeit und knüpft beides an deren mechanische Geschicklichkeit und sinnliche Empfänglichkeit (vgl. Herder 2002: 101). Und auch Charles Darwin bescheinigte bekanntlich nichtmenschlichen Tieren einen Schönheitssinn (vgl. Darwin 1871). Im 19. Jahrhundert galt der sogenannte Schmucktrieb als triebbiologische Grundlage von Kreativität und Kunst. Wilhelm Paulcke etwa konstatierte, dass »Formensinn, Schönheitsempfinden, ästhetische Veranlagung« schon bei Tieren festzustellen seien, vor allem im »Bewußtsein eigener Schönheit und Urteil über fremde Schönheit« (Paulcke 1923: 3). Und im 20. Jahrhundert vergleicht dann Gilles Deleuze das tierliche Markieren eines Territoriums, sei es durch Stehen, Sitzen, Singen, oder das Verfärben eines Tieres mit der Geburt der Kunst: Solche Ausdrucksphänomene seien den Grundzügen der Kunst, Farbe, Linie und Lied, verwandt bzw. gingen ihnen voraus (Deleuze 2003). Freilich ohne direkt an solche Theorien anzuknüpfen, erfahren nichtmenschliche Tiere und ihre Produkte seit den 1970er Jahren in der bildenden Kunst zunehmende Aufmerksamkeit. Im Zeitalter des Posthumanismus und im Gefolge der Human-Animal Studies gerät die Grundunterscheidung zwischen Menschen und anderen Tieren mehr und mehr ins Wanken, so dass nach der zögerlichen Akzeptanz einer Kultur der Tiere nun auch eine Kunst der Tiere vorstellbar wird. Entgegen der tradierten These, dass nichtmenschliche Tiere lediglich Projektionsflächen menschlicher ästhetischer Erfahrungen sind, werden in Ausnahmefällen Tiere als ästhetische Akteur_innen ernst genommen. So widmete etwa die SAW Gallery in Ottawa 2009 mit Animal House: Works of Art Made by Animals eine Ausstellung den Kunstäußerungen von nichtmenschlichen Tieren, darunter Malereien von Elefanten und Schimpansen sowie Kratzbilder von Hunden und Schildkröten. Und auch der Kunsthistoriker Giovanni Aloi konstatiert in seinem aktuellen Buch: »If we consider creativity as the universal originator of art then we find that animals are surely capable of that, at times in ways that border the understanding of the creative in humans.« (Aloi 2011: XVIII) Die deutsche Künstlerin Rosemarie Trockel etwa interpretiert das natürliche Verhalten von nichtmenschlichen Tieren als Kunstschaffen. Eine ihrer Installationen, in denen sich Motten durch einen mit Kaschmir umwickelten Kubus hindurchfraßen, präsentiert sie die Motte als Akteurin, die etwas Neues schafft, indem sie alte Strukturen zerstört. Die immer schon vorhandene transformative Energie, die Trockel aus tierlichem Tun begrifflich herauspräpariert, will sie sicherlich auch auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen wissen. So versah sie 1990 die Repräsentation einer webenden Spinne im Glas mit dem Satz »Jedes Tier ist eine Künstlerin«. Der ironische Bezug auf Joseph

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Beuys’ »Jeder Mensch ist ein Künstler« liegt auf der Hand.2 Bekanntlich erfährt der Kunstbegriff spätestens seit Beuys ständig Ausweitungen und öffnet sich zur Anerkennung von Aleatorik im Schaffensprozess oder zum ästhetischen Wert der Praktiken und Dinge des Alltags. Für Trockel spielt bei ihrem Statement jedoch sicherlich neben dem Wechsel von Mensch zu Tier der implizierte Geschlechterwechsel eine große Rolle. Trockels Arbeiten und Äußerungen sind vor allem als provozierender Angriff auf herkömmliche Vorstellungen von Kunst gedacht und wollen den tradierten Autor- bzw. Werkbegriff hinterfragen. Sie wenden sich gegen den Mythos, dass Kunst Inspiration und menschlichen (männlichen) Genius voraussetze und als dessen kontrollierter Selbstausdruck gelesen werden muss. Ihre tierinvolvierenden Arbeiten ref lektieren so das überkommene Konzept des autonomen, schöpferischen, über sein Werk herrschenden Autors als geistigem Urheber und intentionalem Zentrum von Kunst und schlagen eine neue Lesart vor: das weibliche Tier als Autorin. Wenn man tradierte Autorschaftsvorstellungen aufgibt, z. B. zugunsten einer universalen Intertextualität, lässt sich auch die Idee einer »tierlichen Autorschaft« leichter zulassen. Denn bezeichnenderweise wird immer wieder die angeblich mangelnde Intention als Indiz dafür genannt, dass es sich bei tierlicher Produktion nicht um Kunst handeln könne. Ein Beharren auf »Intention« als maßgeblichem Kriterium für Künstlerschaft ist aber kaum noch zeitgemäß. Spätestens seit dem »Tod des Autors« in der sogenannten Postmoderne (vgl. Barthes 2000), organisieren sich Künstler_innen zunehmend in Netzwerken multipler Autorschaft und überlassen es hauptsächlich dem Werk selbst, Bedeutung in der Rezeption zu generieren. Und die Ausweitung des Akteursbegriffs auf nichtmenschliche Entitäten durch Bruno Latour (2007) hat neben nichtmenschlichen Tieren auch Dinge als potentielle Autor_innen legitimiert. Dies hat u. a. den Boden bereitet für die Konzeption der documenta 13 im Jahr 2012, bei der die kulturelle Produktion nicht nur von nichtmenschlichen Tieren, sondern auch von Pflanzen als Kunst präsentiert wurde. Doch man muss nicht einmal auf die Akteur-Netzwerk-Theorie zurückgreifen, um nichtmenschliche Tiere als Wesen mit Agency anzusehen: Agency kann einerseits unbeeinflusst von denjenigen metaphysischen Konzepten des freien Willens ausgeübt werden, die behaupten, dass Entscheidungen gänzlich undeterminiert getroffen werden. Andererseits muss Agency auch von naturgesetzlichen Prozessen unterschieden werden, denen unbelebte Dinge physikalisch unterliegen. Versteht man unter diesen Prämissen Agency schlicht als die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen in der Welt umzusetzen, besitzen Tiere zweifellos Agency. Dabei ist es unerheblich, ob sich tierliche Agency, die sich in Kunstwerken äußert, als Handlungs- oder Wirk2 | Diese Vorstellung äußerte Beuys erstmals 1967, danach wurde sie sprichwörtlich für seine kunstpolitischen Aktivitäten. Vgl. Zumdick 2002: 12.

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macht manifestiert bzw. ob sie reflektiertes, intentionales oder unbewusstes Tun bezeichnet. Es ist lediglich relevant, dass nichtmenschliche Tiere in einer Art und Weise handeln, die nicht nur aleatorisch ist, und dass das Produkt ihrer Handlung ästhetisch wahrnehmbar ist. Zur Untersuchung vergleichbarer Phänomene beim Menschen greift die Kunstgeschichte methodisch auf Produktions- und Rezeptionsästhetik zurück. Beide Analyseinstrumente können ohne die pseudosakrale Vorstellung des übermächtigen Autors auskommen, aber nicht ohne den Gedanken, dass Akteur_innen miteinander in sozialen Netzwerken interagieren.

»R udel ästhe tik« Im Folgenden wird daher von Kunst als einer zutiefst sozialen Aktivität ausgegangen, die notwendig von einer relationalen Ästhetik geprägt ist. So definiert Alfred Gell Kunst als eine Mobilisierung ästhetischer Prinzipien innerhalb sozialer Interaktion (Gell 1998: 4). Und auch Eduardo de la Fuente betont den sozialen Charaker von Kunst: »Art is a social construct and its production and consumption are thoroughly social in character« (De la Fuente 2007: 423). Exemplarisch für eine relationale Ästhetik können Kollaborationen mit Hunden in der Kunst stehen, für die Susan McHugh gar den Begriff »Rudelästhetik«(McHugh 2001) geprägt hat.3 Dieser kann auch nutzbar gemacht werden für die aktuellere Kollaboration der Künstlerin Julie Andreyev mit ihren Hunden Tom und Sugi. Andreyev setzt die Agency ihrer Kumpantiere bewusst ein und versteht sie als gleichberechtigte Mitarbeiter_innen, die nicht nur für die Entwicklung von Ideen, sondern auch für die formal-ästhetische Ausgestaltung ihrer Videos, Performances und Soundinstallationen mitverantwortlich sind: »The dogs participate directly in the research and content creation of the work by suggesting ideas for projects and by determining the material for production.« (Andreyev 2014a) Dabei erkennt sie die Persönlichkeit ihrer Hunde an und wahrt deren Individualität. So versucht sie beispielsweise mit audiovisuellen Mitteln die sinnlich überwältigenden – in ihrer Deutung fast psychedelischen – Erlebnisse ihres Hundes Tom zu simulieren, wenn er seinen Kopf beim Autofahren aus dem Fenster streckt oder Bälle apportiert. Sie möchte die Begeisterung, die sie in bestimmten alltäglichen Situationen bei ihren Hunden beobachten kann, in eine auch für Menschen rezipierbare Form bringen: »The objective of the project is to depict the nonhumans’ subjective experience, thereby proposing an account 3 | McHugh beschrieb so die spezifische Qualität von William Wegmans Videos der späten 1960er und frühen 1970er Jahren, die ihn in Interaktion mit dem Weimaraner Man Ray zeigten.

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of canine agency and mind.« (Andreyev 2014a) Um kanide Agency darstellbar und erfahrbar zu machen, ist sie auf die Mithilfe der Hunde angewiesen und nimmt sie bei den unterschiedlichsten selbstgewählten Aktivitäten auf, teilweise trägt sie dafür sogar Motion Capture-Anzüge. Für die seit 2011 entwickelte audiovisuelle Interspezies-Performance Scratch Theremin nutzt Andreyev ein Theremin, ein berührungslos spielbares Musikinstrument, das mittels der elektrischen Kapazität von Körpern elektromagnetische Felder und somit Töne erzeugt. Die Oberfläche des Theremin ist ein Teppich, auf dem Tom kratzen und graben kann. Das macht er offenbar ausgiebig und gern und vokalisiert gelegentlich dazu. Diese Sounds werden zunächst von Andreyev im Studio aufgenommen und dann bei Performances eingespielt. Andreyev begleitet dann Toms Stimme und Kratz-Rhythmen mit live bespieltem Theremin. Um zu einer gelungenen Improvisation zu kommen, muss Andreyev dem von Tom hervorgerufenen elektroakustischen Sounds sehr genau lauschen und adäquat darauf reagieren. Sie schenkt also ihre ganze Aufmerksamkeit kaniden Lautäußerungen, die normalerweise nicht als ästhetischer Ausdruck verstanden werden, und macht daraus einen akustisch attraktiven Soundscape, der suggeriert, dass auch die Geräusche des Hundes kreative Gestaltungen darstellen. Für die Hunde mag dies eine bedeutungslose Zuschreibung sein, die die menschliche Künstlerin aus ihrer superioren Position heraus trifft, um selbstreferentielle, ganz und gar innerkünstlerische Zwecke zu verfolgen. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass in bestimmten gestalterischen (von Andreyev initiierten) Interaktionen nur Hund und Mensch gemeinsam einen handlungsfähigen Agenten bilden und nur gemeinsam ein gelungenes Kunstwerk schaffen. Parallel zu ihrer audiovisuellen Arbeit führt Andreyev einen Blog (2014b), in dem sie vorgeblich telepathisch übermittelte Lektionen von Tom oder Sugi postet wie etwa: »Dogs are creative!« Die Art und Weise, wie sie hier für den Hund spricht, kann auf ihr Publikum esoterisch, paternalistisch oder lächerlich wirken. Dennoch ist Andreyev um synästhetische Einfühlung bemüht, die sich aus der teilnehmenden Beobachtung in einem Interspezieshaushalt ergibt. So vermeidet sie die Zuschreibung quasi-menschlicher ästhetischer Präferenzen oder kreativer Kapazitäten und verbalisiert lediglich auf empathische Weise heterophänomenologische Observationen. Auch wenn man Tom und Sugi nicht notwendigerweise selbst als Künstler_innen betrachten muss, beweist ihre werkkonstituierende Rolle doch ihre Agency sowohl im Sinne einer Wirk- wie auch einer Handlungsmacht.

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P roduk tive Z erstörung Die individuelle Bindung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen ist auch die Basis der künstlerischen Forschung bzw. der kollaborativen Praxis des Künstlerduos Hörner/Antflinger (Ute Hörner und Mathias Antlfinger) mit den beiden Graupapageien Clara und Karl. So überlassen Hörner/Antlfinger für die seit 2013 entstehende Arbeit CMUK (weekly) den Vögeln ein Print-Wochenmagazin zur Überarbeitung. Durch die Intervention der Vögel entstehen Biss- und Kratzspuren, Risse und Löcher in den Seiten, die unerwartete Durch- und Einblicke in das zerfetzte Heft erlauben und überraschende neue Bezüge zwischen Texten und Bildern auf unterschiedlichen Seiten herstellen. Vom formalen und kognitiven Reiz, sowie von den kunsthistorischen Referenzpunkten zur Decollage wissen die Vögel sicherlich nichts. Dennoch ist das Überlassen der Zeitung, nachdem die menschlichen Familienmitglieder sie gelesen haben, sicherlich ein auch von den Vögeln geschätztes Ritual in diesem Interspezies-Haushalt. Das Benagen, Knabbern und Scharren ist für sie eine lustvolle Tätigkeit, die vermutlich nicht nur biologische Funktionen hat, sondern auch eine spielerische, zweckfreie Komponente. Die Papageien können sich entscheiden, ob sie die Zeitschrift übernehmen und wie sie sie nutzen wollen. Hörner/Antlfinger entdecken im animalischen Schaffen eine ästhetische oder zumindest ästhetisch nutzbare Qualität, die andere gar nicht erst bemerken würden. Ob die Papageien selbst die sinnlich erlebbaren Qualitäten der fertigen Papierreliefs, seien sie visueller, haptischer oder olfaktorischer Art, interessieren, bleibt ungeklärt. Tatsächlich wird nichtmenschlichen Tieren häufig Kunstfähigkeit mit dem Argument abgesprochen, ihnen mangele es an Rezeptionsfähigkeit. Dabei wird übersehen, dass mittlerweile neben einer Vielzahl von Anekdoten beispielsweise aus der Primatologie, auch wissenschaftliche Studien existieren, die die ästhetischen Präferenzen von verschiedenen Tierspezies, darunter auch Vögeln, untersucht haben. Nichtmenschlichen Tieren jegliche Form von Geschmack abzusprechen, ist also eine reine Behauptung. Die Rahmenbedingungen des auf menschlicher Verabredung beruhenden Ausstellungsbetriebs und Kunstmarkts können sie aber wohl tatsächlich nicht durchschauen. Deshalb bleibt es Hörner/Antflingers künstlerischer Intervention überlassen, in welcher Form sie CMUK (week­ ly) dem Ausstellungsbetrieb übergeben. Dadurch, dass Hörner/Antlfinger mit den Papageien leben, kennen sie deren Bedürfnisse und Interessen und können gezielt darauf eingehen. Sie bemühen sich um einen respektvollen, kollegialen Umgang mit ihren gefiederten Mitbewohner_innen und greifen in deren Produktionsprozess nicht ein. So teilt sich das menschliche Duo beispielsweise seit 2014 auch seinen Atelierplatz paritätisch mit den Papageien: Sie haben für das gerade begonnene Work in progress Studio destructiones einen diagonal in der Mitte geteilten Arbeitstisch konstruiert, der sowohl Raum

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für humanes wie für avianes Produzieren lässt und an dem alle vier Individuen ständigen Kontakt mit- und untereinander halten können. Die beiden Paare führen in dieser so vorbereitenden Umgebung nicht einfach parallele, sondern miteinander verwobene Leben. Hörner/Antlfinger bezeichnen ihr Projekt dann auch treffend als Interspezies-Kollaboration (Hörner/Antlfinger 2014). Als kollaborativ sehen auch Olly & Suzi (Olly Williams und Suzi Winstanley) ihre Praxis. Das britische Künstler_innenpaar arbeitet ebenfalls mit der wertschöpfenden Destruktionsmacht von nichtmenschlichen Tieren. Olly & Suzi, die vor allem durch die Schriften ihres Exegeten Steve Baker berühmt geworden sind, malen seit 1993 wilde Tiere in ihrem natürlichen Habitat (Baker 2000: 130ff). Zu den verewigten Tieren zählen u. a. Eisbären, Anakondas, Krokodile, Haie oder Sibirische Tiger, bereist haben Olly & Suzi in den letzten beiden Jahrzehnten u. a. den Nordpol, die Galapagosinseln, Sibirien, das Amazonasgebiet und Zentralafrika. Vor Ort spüren sie ihre Motive mithilfe einheimischer Guides auf und versuchen dann, ihre Modelle dazu zu bringen, die eilig hingeworfenen Skizzen zu markieren. Dabei ist es für Olly & Suzi von besonderer Bedeutung, dass es sich bei ihren Motiven um seltene oder vom Aussterben bedrohte Spezies handelt (Olly & Suzi 2003). Deren indexikalische Spuren fungieren dann nicht nur als Authentizitätsbeweis, sondern erlangen auch die Qualität der Rarität. Einerseits ist die Arbeit darauf angelegt, durch künstlerische Dokumentation ein Bewusstsein für die Gefährdung der Tiere zu schaffen und andererseits eine Signatur der letzten ihrer Art für die Nachwelt zu erhalten. Dadurch vermischt sich die Rolle des Künstlers_der Künstlerin mit der des_der belehrenden Erziehers_Erzieherin und ökologischen Mahners_Mahnerin. Olly & Suzi geht es dabei nach eigenen Worten nicht nur um einen direkten und intimen Kontakt mit dem »Wilden«, sondern auch um eine gleichberechtigte Interaktion mit ihren tierlichen Modellen. 4 Diesem Anspruch steht die Eingangsaussage auf ihrer Website »The wild is our studio« entgegen, die eher von einem hybriden Eroberungswahn zeugt. Tatsächlich jagt das Paar die Tiere im wahrsten Sinne des Wortes bis ans Ende der Welt, eignet sich die Bilder quasi wie Trophäen an und nutzt dann meist Köder, um die Tiere anzulocken und zu einer arteigenen Kommentierung der erbeuteten Bilder zu bewegen. Die gelungenen Zeichnungen weisen meist Pfotenabdrücke oder Bissspuren auf. Die Spuren der Wildtiere auf den Blättern in direkter Nachbarschaft zu den naiv-realistischen Porträts – also ein plakatives und zuweilen fast unerträglich romantisiertes Spannungsverhältnis von Wildnis und Zivilisation – gemahnt an die Grenzen menschlichen Einflusses und an die Beschränkungen künstlerischer Repräsentation. So entlarvt das Projekt 4 | So heißt es als Eingangsstatement auf ihrer Website: »Our art-making process is concerned with a collaborative, mutual response to nature at its most primitive and wild.« (Olly & Suzi o. J.)

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vor allem, dass Menschen, die andere Tiere meist durch ihre Medialisierung bzw. Bildwerdung verstehen wollen, und dass Künstler_innen kaum jemals wirklich in Kontakt mit animalischer Kreativität kommen. Auch bei Olly & Suzi werden die Einzelwesen zu Repräsentant_innen einer essentialistischen Vorstellung vom »Wilden«, ohne dass tatsächlich etwas über deren ästhetische Kapazitäten ausgesagt würde. Dennoch machen die zerstörten Bildwerke anschaulich, dass die involvierten Wildtiere in der Lage sind, trotz aller Instrumentalisierung ihren Widerstand gegen Vereinnahmung zu artikulieren. So kann es – und auch das ist in der Konzeption des Projekts angelegt – schon einmal geschehen, dass ein Nashorn ein ganzes Bild auffrisst oder ein Leopard es auf Nimmerwiedersehen verschleppt.

Tierliches G estalten Doch nichtmenschliche Tiere drücken ihre Agency nicht nur durch das Hinterlassen von Körperspuren oder durch Destruktion aus, sondern auch durch Konstruktion. Der Deutsche Björn Braun verlässt sich für seine skulpturalen Objekte auf die Mitwirkung von nichtmenschlichen Tieren, die er einfach das tun lässt, was sie ohnehin tun würden. Ihm geht es in seiner künstlerischen Praxis vor allem um Umformungsprozesse von vorgefundenen Objekten, die dadurch auch eine konzeptuelle Transformation erfahren. In einer Werkserie mit Vogelnestern von 2009 stattet er seine beiden Zebrafinkenmännchen mit unterschiedlichen natürlichen und synthetischen Materialien wie etwa bunten Plastikfäden oder Garn aus, mit denen sie dann ihre Schlafnester bauen. Durch das zur Verfügung gestellte Material beeinflusst Braun das Aussehen der fertigen Nester, kann die Konstruktionsweise aber weder steuern noch vorhersehen. Um gelungene Skulpturen präsentieren zu können, muss er sich also auf die Fähigkeiten seiner gefiederten Baumeister verlassen. Braun verändert durch seine Intervention weder das natürliche Verhalten der Zebrafinken, noch die entstehende Form und Funktion ihrer Nester. Lediglich die materielle Zusammensetzung und damit auch die Farbigkeit und Haptik unterscheidet die Kunstobjekte von Naturnestern. Zebrafinken sind Vögel, die besonders gerne für ethologische Studien herangezogen werden, vermutlich weil sie relativ unproblematisch zu halten sind, sich leicht vermehren und, zumindest wenn es um Untersuchungen des Gesangs geht, im Vergleich zu anderen Vögeln relativ wenig Variationen im Ausdrucksverhalten zeigen. Braun rehabilitiert sie jedoch von der Vorstellung des leicht zu deutenden Versuchsobjekts, indem er gerade die Abweichung von der Norm ausstellt.

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Brauns Arbeit hat vielfältige Bezüge zu anderen bemerkenswerten Leistungen von Vögeln. So spielt sie wohl auf die Adaptionsfähigkeit von gefiederten Kulturfolgern an, die z. B. technisches Klangmaterial wie Kettensägen oder Handyklingeln in ihre Gesänge einbauen. Aber vor allem ruft er eines der meist diskutierten Beispiele tierlicher Kunstfertigkeit auf: Immer wenn ästhetische Ausdrucksfähigkeit bei nichtmenschlichen Tieren gezeigt werden soll, wird beinahe reflexartig auf die Aktivitäten des Laubenvogels in Neuguinea verwiesen: Dessen aufwändige Laubengänge werden von ihren Produzenten mit sorgfältig arrangierten bunten Gegenständen wie Beeren, Blumen, Schneckenhäusern und irisierenden Flügeln von Käfern dekoriert. Es existieren unzählige Beobachtungen davon, wie das bauende Männchen ständig neue Gegenstände zur Ausschmückung herbeischleppt, sie anordnet, aus der Distanz das Aussehen prüft und dann Umgestaltungen fortführt (Endler 2012: 281-283). Es ersetzt dabei verwelkte Blumen durch frische, bedient sich auch Zivilisationsmülls, die es mit Blüten kombiniert. Von Region zu Region sind Farbe und Arrangement der Lauben unterschiedlich, was auf kulturell vermittelte Stile schließen lässt. Das Laubenvogelweibchen wählt nach Güte der Laube sein Männchen aus. Bereits um 1900 wurden solche Balzlauben oder »Vergnügungsnester« (Rennie 1847) als Beispiele von Tierkunst betrachtet. Karl Woermann etwa inkludiert in seinem dreibändigen Weltkunst-Kompendium Die Geschichte der Kunst aller Völker und Zeiten von 1900 sechs Bildtafeln zur »Kunst der Tiere«, die u. a. Webervogelnester und Biberbauten zeigen. Im Text diskutiert Woermann dann, ob nichtmenschliche Tiere einen »wirklichen Kunsttrieb« besitzen und zu künstlerischem Schaffen und Genießen fähig sind. Und noch 80 Jahre später zeigt der Kunsthistoriker Ernst Gombrich in seinem einflussreichen Buch Ornament und Kunst ein kunstvoll dekoriertes Vogelnest (Gombrich 1982). Es bleibt zu bedenken, dass Menschen die ästhetischen Qualitäten von Vogelarchitektur, zumindest was die Farbkomposition angeht, vermutlich gar nicht erfassen können. Im Vergleich zu den meisten Vögeln und Insekten verfügen Menschen über ein sehr eingeschränktes Farbensehen und können den Farbreichtum der Bauten gar nicht wahrnehmen. Es mag also sein, dass die von Björn Braun als Skulpturen präsentierten Zebrafinkennester gestalterische Dimensionen haben, die weder der Künstler noch das menschliche Publikum würdigen können. Zumindest was die Farbanalyse angeht, mag für Elefantenmalerei das Gegenteil gelten. Die Dickhäuter nämlich haben ein relativ primitives Farbensehen, wenn man sie mit Menschen vergleicht. Dennoch werden sie in den verschiedensten Kontexten immer wieder gerne als abstrakte Maler_innen eingesetzt. So hat das in New York lebende russische Künstlerpaar Vitaly Komar und Alexander Melamid seit Mitte der 1990er Jahre gefangenen Elefanten das

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Malen beigebracht und die entstandenen Bilder dann als Kunstwerke verkauft. Da Elefanten auch ohne Anweisung zuweilen mit Stöcken Linien auf den Boden zeichnen, machten sie sich im Training diese Vorliebe zunutze, eröffneten 1998 ihre erste Elefanten-Kunstakademie in Lampang und gründeten das Asian Elephant Art & Conservation Project, ihr eigenes Elefantenschutzprojekt. Es folgten die Etablierung weiterer Elefantenmalschulen und diverse Ausstellungen in großen Museen sowie die Versteigerung von Elefantenkunst für hohe Summen bei renommierten Auktionshäusern. Später trainierten Melamid und Komar nur noch Mahouts, die dann wiederum ihre Tiere unterrichten. Komar sieht die entstandenen Werke durchaus zwiespältig, romantisiert sie zugleich: »Ich liebe Elefanten und ihre Kunst. Aber die Schönheit der Natur ist außerhalb der Geschichte. Das ist also keine Kunstschönheit. [...] Die Malerei meiner Elefanten ist vergleichbar der Architektur von Bibern oder Termiten[...].« (Wünschmann 2003) Interessant an dieser Aussage ist auch die Vereinnahmung der Tiere als »meine Elefanten«. Durch den Einbezug in den Kunstkontext erfahren sie einerseits einen gewissen Schutz, gehen aber gewissermaßen ins Eigentum der menschlichen Künstler über oder werden zumindest unter deren Urheberrecht subsumiert. Dennoch ist ein Elefant, wenn man ihm einen Pinsel in den Rüssel gibt, nicht einfach nur Werkzeug des menschlichen Künstlers. Offenbar entwickeln die Elefanten mit der Zeit ihre jeweils eigene Technik. So werden die Elefantenmaler mit kompletten Lebensläufen und besonderen Stilmerkmalen vorgestellt. Mia Fineman, eine Kuratorin des Metropolitan Museum of Art, unterstützt Komar und Melamid bei der Identifizierung verschiedener regionaler Schulen im kunsthistorischen Jargon (Komar/Melamid 2000: 76ff.). Besonders bewundert wird neben der sensiblen Strichführung, die vermutlich oft aus stereotypem Weben der Tiere resultiert und daher einen individuellen Rhythmus und individuell wiedererkennbare gleichmäßige Struktur aufweist, die wahlweise ausgewogene oder dramatische Farbigkeit der Blätter. Aber gerade hier stößt eine kunsthistorische Analyse an ihre Grenzen: Elefanten besitzen im Gegensatz zu Menschen ein anderes, eingeschränktes Farbensehen, da ihre Retina einen Farbrezeptor weniger aufweist. Abgesehen von fragwürdigen kunsthistorischen Einordnungen, existieren aber auch Berichte von nachvollziehbareren individuellen Vorlieben der Elefanten: Manche haben angeblich Spaß an der Tätigkeit, andere sind dabei schnell gelangweilt und trödeln, wieder andere wollen schnell fertig werden und sich dann neuen Dingen zuwenden. Die nichtmenschlichen Tiere entwickeln durchaus eigene Ideen, Handlungsmuster und Widerständigkeiten. Allein diese Beobachtungen spiegeln die Agency der Tiere. Andererseits idealisieren Komar und Melamid aber auch den Zustand geistiger Leere, den sie den Tieren zuschreiben: »And in a way to be senile is to be like an elephant, or any other animal, totally mindless. And in a way may-

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be it’s the best way to produce art.« (Bukowski 2000) Mit dieser Bemerkung sprechen sie den Elefanten wieder ab, was sie ihnen eigentlich zuschreiben wollen und beanspruchen in paternalistischer Weise die Deutungshoheit über Prozesse, die ein Stück weit unbeeinflusst von ihnen ablaufen. So inszenieren sich letztendlich doch wieder die Auftraggeber und Manager des Projekts Komar und Melamid als die Autoren der entstandenen Werke. Sie sind die geistigen Urheber, kontextualisieren die Malereien und legen Interpretationsansätze nahe – einer davon mag sein, dass Kunst und der Kunstmarkt generell Scharlatanerie ist. Denn sicherlich werfen Komar und Melamid mit ihrem Projekt und den damit angestoßenen Diskursen Fragen nach dem tradierten Kunstverständnis auf, und Provokation ist sehr wohl beabsichtigt. Doch was als ein satirischer Kommentar zum Kunstmarkt begann, hat sich längst zu einer einträglichen gemeinnützigen Unternehmung entwickelt. Komar prophezeite dementsprechend im Jahr 2000: »If this goes as planned it will change art forever.« (Bukowski 2000) Dies könnte sich schon bewahrheitet haben: Die Vermarktung zeichnender, musizierender oder bauender nichtmenschlicher Tiere wird sich vermutlich noch weiter ausweiten: Schon heute haben weltweit Zoos pfeifende Orang-Utans oder malende Seelöwen als Fundraising-Instrument entdeckt. Man muss sich die Beziehung des auftraggebenden Menschen und der ausführenden anderen Tiere nicht nur als einseitige Machtstruktur denken. Die Instrumentalisierung der anderen Tiere muss nicht per se als Ausnutzung oder Ausbeutung verstanden werden. Will Kymlicka etwa ist der Meinung, dass diejenigen Tiere, die mit Menschen zusammenleben und von diesen versorgt werden, Freude daran haben könnten, wenn man sie arbeiten ließe, und nicht nur als bedürftige Schutzbefohlene behandelte (Kymlicka/Donaldson 2015). Genauso wie Menschen Befriedigung aus moderater, ungefährlicher Arbeit ziehen, könnten Tiere in menschlicher Obhut dies womöglich auch tun und dann Nutznießer_innen des kommerziellen Erfolgs werden (im Projekt von Komar und Melamid wird nicht nur Futter und medizinische Versorgung für die Elefanten durch die Einnahmen bestritten, sondern auch ein Artenschutzprojekt finanziert). Allerdings haben andere Tiere im Gegensatz zu menschlichen Arbeiter_innen selten Mitspracherecht bei der Auswahl einer sich auch für sie lohnenden Tätigkeit. Die Abrichtung zum Malen könnte strukturell ähnlich gelagert sein, wie die Praxis, Tiere Zirkustricks vorführen zu lassen. Eine aktuelle Studie über Elefantenmalen in Zoos kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass Malen als Strategie des enrichments versagt (vgl. English/ Kaplan/Rogers 2014). Auch kann man es durchaus zynisch finden, dass nichtmenschliche Tiere dazu gebracht werden, ausgerechnet für diejenigen Einrichtungen Geld zu verdienen, die sie gefangen halten. Malende nichtmenschliche Affen sind geläufiger als malende Elefanten, zumindest hat ihre Darstellung in der Kunstgeschichte eine lange Tradition.

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Affen wurden und werden häufig beim Malen dargestellt, um die Überlegenheit humanen Kunstschaffens zu untermauern. Doch auch Experimente mit Affenmalerei außerhalb des Kunstbereichs sind weit verbreitet: So hat beispielsweise bereits 1913 Nadeszhda Ladygina-Koths im Moskauer Zoo Malexperimente mit Schimpansen durchgeführt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung, Geschichte und Analyse von Affenkunst setzte dann allerdings erst 1962 mit The Biology of Art des Zoologen, Verhaltensforschers und Künstlers Desmond Morris ein. Morris verstand sein Buch als Beitrag zur Suche nach den Ursprüngen der Kunst und bot damit eine Alternative zum klassizistischen Kunstbegriff und akademischen Naturalismus seiner Zeit. Er beschrieb seine eigenen Erfahrungen mit dem Schimpansen Congo, den er zum Maler- und Medienstar sowie zum Forschungsgegenstand auf baute. Im Alter zwischen zwei und vier Jahren produzierte Congo fast 400 Zeichnungen und Gemälde. Morris kategorisierte in seinem Buch eine Reihe kompositioneller sowie kalligraphischer Merkmale von Affenmalerei und stellte individuelle Zeichenstile fest, wobei er sich bei seinen Analysen auf ein für Kinderzeichnungen verwendetes Entwicklungsschema stützte. Laut Morris bemühte sich Congo um symmetrische Darstellungen, rhythmische Variationen und auffällige Farbkontraste, bevorzugte fächerartige Linien und blieb dabei stets innerhalb der Grenzen des Blattes. Er beschreibt, dass Congo dazu tendierte, einmal gemalte Formen wieder mit neuen Pinselstrichen zu überdecken und so quasi auszuradieren. Diese Praxis führte dazu, dass ihm – genauso wie in der Folge vielen anderen Affen auch – seine Bilder weggenommen wurden, wenn sie ein bestimmtes Stadium der Attraktivität erreicht hatten. Mit diesem bevormundenden Eingriff wird dem Urheber der Bilder jede Verfügungsmacht über die eigene Produktion abgesprochen und ein zutiefst anthropozentrisches Werturteil gefällt: Das Bild ist dann vollendet, wenn ein Mensch dies festlegt. Dass gerade das Übermalen und mehrfache Überlagern von Formen Ausdruck des eigentlichen Gestaltungswillen und damit der Agency der Affen ausmachen könnte, wird nicht in Erwägung gezogen. Morris schloss aus Congos bereitwilliger Mitarbeit, dass künstlerische Tätigkeit selbstbelohnend wirke und einem starken Trieb folge. Congo wurde durch vielzählige Ausstellungen weltberühmt, Künstler wie Picasso und Dali erwarben begeistert seine Werke, die formale Nähe zu abstrakt-gestischer Malerei, die gerade in Mode war, wurde bewundert. Trotz der Anerkennung durch Künstler_innen und Kunstmarkt erscheint es doch geradezu zynisch, dass nun nichtmenschliche Affen nicht nur selbst in Zoos als Schauobjekte vorgeführt wurden, sondern dass quasi als Zweitverwertung ihrer Gefangenschaft auch noch ihre Produktionen in neue Ausstellungen überführt wurden. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die meiste Affenmalerei aus restriktiven Laborsituationen und ausschließlich von Tieren in Gefangenschaft stammt. Die Art von Gestaltung ist insofern eine

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menschliche Erfindung, als dass die nichtmenschlichen Affen mit menschlichen Malmitteln ausgerüstet und mit menschlichen Methoden trainiert werden, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Dennoch kommt Morris zu dem Schluss: »Both man and the ape have an inherent need to express themselves aesthetically.« (Morris 1962: 151) Während Morris in seinem Buch die Ähnlichkeiten zwischen Menschenund Affenkunst betonte, fokussierte der belgische Kunstphilosoph Thierry Lenain dreißig Jahre später eher die Unterschiede. Er publizierte 1990 La peinture des singes: Histoire et esthetique, das mit dem irreführenden Titel Monkey Painting (1997) übersetzt wurde. Während Morris noch von ästhetischer Ordnung und kompositorischem Gleichgewicht ausging, beschrieb Lenain Affenkunst als Form visueller Destruktion: Der malende Affe versuche die leere Fläche zu zerstören und zu zerstückeln. Er schlägt vor, dass die Affen gegen die Leere des Blattes anmalen, also einer Art horror vacui unterliegen. Eine ganz neue Lesart der Zeichnungen von Affen bietet Juliet MacDonald an, die sich vor allem der Schimpansin Alpha widmet. Sie legt nach einer sensiblen Analyse der Lebensumstände Alphas nahe, dass deren durchkreuzende Linien und das heftige Übermalen von Strukturen und Formen als Widerstand gegen die einengenden und ausbeuterischen Verhältnisse, in denen sie leben muss, verstanden werden könnten (MacDonald 2014). Einigen kann man sich wohl darauf, dass Bilder malender Affen Dokumente von motorischer Koordinationsfähigkeit, Gestalterkennung und Lust am Spiel sind – unbelastet von kunsthistorischem Vorwissen, aber immer Ausdruck der Agency ihrer Urheber_innen. Auch wenn die wissenschaftlichen Experimente mit Affenkunst bestens in die Zeit des action paintings passten, wurden sie von Künstler_innen für die eigene Praxis erst in den 1970er und 1980er Jahren aufgegriffen: Lucien Tessarolo, ein französischer Maler, arbeitete beispielsweise 1987 in einem Privatzoo gemeinsam mit der Schimpansin Kunda und signierte die Leinwand mit seinem Schriftzug, während sie ihren Handabdruck hinterließ. Es wird kolportiert, dass Kunda von Tessarolo eingebrachte figurative Elemente oft ablehnte und übermalte oder aber erst dann weiterarbeitete, nachdem er selbst abstrakte Markierungen hinzugefügt hatte. Weiterhin wird berichtet, Kunda habe ein ausgeprägtes Gefühl für Gleichgewicht und Vollständigkeit sowie eine Vorliebe für regelmäßige Muster gehabt (De Waal 2001: 173). Bekannter als Tessarolos Kunstproduktion sind die etwas früher entstandenen sogenannten parallelen Malaktionen des Österreichers Arnulf Rainer von 1979, bei denen er Seite an Seite mit verschiedenen Schimpansen malte (u. a. Lady und Jimmy). Seine Aktivität will er als künstlerische Praxis verstanden wissen, da ihn »die Affenmalerei selbst und nicht die dazu versuchten Kulturtheorien« interessierten (Heymer 1991: 7). Während malende Affen oft als

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Kritik am Akademismus und am sklavischen Nachahmen antiker Vorbilder galten, versuchte Rainer, die Tätigkeit der Schimpansen durch Imitation für seine eigene Kunst produktiv zu machen. Das Potenzial einer einfühlenden, empathischen Nachahmung, die aus einem Interesse für die Affen selbst zu generieren wäre, schöpft er aber nicht aus. Sie spielen in seinen Aktionen lediglich die Rolle, die er ihnen zuweist, um das »Geheimnis ihrer Kunst« zu lüften und das »Rätsel künstlerischer Souveränität zu entschleiern« (Rainer 2010: 183). Dabei wählt er gerade Affen als nachahmenswerte Meister aus, weil ihn »ihr souveränes Wesen […] beeindruckt« (ebd.). Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Rainer Spontanität generieren will, indem er versucht, wie ein trainierter Affe zu malen. Für ihn ist die parallele Malaktion eine Art Wettkampf, bei dem er den Affen insofern einen Vorsprung lässt, als dass er sie das Bildthema bzw. -motiv bestimmen lässt und sich dann nachträglich in ihre Malgestik »einfühlt«. Auch räumt er ein, dass er den Ehrgeiz hatte, »durch eine intensivere Formulierung deutlicher, zugespitzter zu malen und sie so zu übertreffen« (Rainer 1991: 48), was ihm aber nicht immer gelang. Er charakterisiert seine Werke als »bewusst imitative Bildnerei, entstanden aus naiver Sinnlichkeit und krankhaften Konkurrenzdenken« (ebd.). Und tatsächlich sind vor allem Menschen Meister_innen der Imitation bzw. des »Nachäffens«, wodurch bekanntlich die Weitergabe von Traditionen und damit die Entwicklung von Kultur erst möglich wurde. Doch Rainer malte nicht nur mit Affen, sondern verwendete in seiner nachfolgenden Serie Nachmalungen auch Gemälde von Schimpansen als Rohmaterial, um eigene Paraphrasen darauf zu entwickeln. Dabei dreht er die Vorbilder, übermalt Strukturen oder deutet sie figürlich um. Während er die Pinselmalereien vor allem als Fundus für Gesten und Formen nutzt, bleibt er bei den Fingermalereien der Affen näher am jeweiligen Vorbild. Die kunsthistorische Rezeption solcher Arbeiten tendiert immer dazu, den menschlichen Produzenten und dessen Motivation, Technik, Geschichte zu untersuchen, und nicht die Agency des Affen. Dessen Produktion wird als naturgegeben vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt. So wirken laut Kay Hemer Rainers Paraphrasen »temperamentvoller, ungestümer und schneller als seine Vorbilder« (Heymer 1991: 9), was die Wirkmacht der Affen zugunsten der Schöpfungskraft des menschlichen Malers herabsetzt. Tatsächlich ähneln sich Vorbild und Nachbild im direkten Vergleich sehr und man könnte genauso gut die Produktionen der Affen höher schätzen: Im Gegensatz zu Rainer, der das Setting erdacht und konstruiert hat, und der nicht nur zutiefst menschliche Kulturtechniken, sondern sogar die Mittel seiner ureigensten Profession anwendet, agieren die Schimpansen unter für sie unnatürlichen Bedingungen in einem völlig artifiziellen Umfeld, in dem sie eigentlich nur verlieren können. Dass ihre Gestaltung dennoch für menschliche Rezipient_innen ästhetisch

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ansprechend und vorbildhaft sein kann, zeugt von ihrer enormen Anpassungsund Lernfähigkeit, ihren großen motorischen Fähigkeiten und ihrer sozialen Intelligenz im Umgang mit Nichtaffen. Es könnte aber sein, dass dressierte Wildtiere in Gefangenschaft – und weder nichtmenschliche Affen noch Elefanten gelten als domestizierbar – weniger zugängliche Erkenntnisse über die kreative Agency von nichtmenschlichen Tieren liefern als companion animals, die in künstlerischen Partnerschaften mit Menschen leben. In relationalen Kunstwerken, die das kreative Gestalten von tierlichen und menschlichen Partner_innen in gleicher Weise zulassen wie wertschätzen, kann womöglich die Handlungsmacht der anderen Tiere auch für ein menschliches Publikum leichter sichtbar gemacht werden. Diese Sichtbarkeit kann dann hoffentlich dazu beitragen, dass diesen – und in Übertragung auch anderen – nichtmenschlichen, sinnlichen, kognitiven, emotionalen und kreativen Individuen in (tier-)ethischen Debatten eine andere Bewertung zukommt.

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als andere

K unst

Nichtmenschliche Tiere werden leicht als willige Kollaborateure anthropomorphisiert, selbst wenn sie lediglich trainiert, dressiert und manipuliert werden. Die anderen Tiere in der Kunst sind daher gefährdet, zu bloßen Extensionen menschlicher Agency zu werden, wodurch der Einbezug von Tieren in kreative Prozesse lediglich eine weitere Form ihrer Ausbeutung bedeuten würde. Das muss jedoch nicht so sein. Viele in Kunstwerke involvierte nichtmenschliche Tiere stellen zumindest ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zur Schau. Auch wenn das Machtgefälle zwischen den interagierenden Parteien oft unangetastet bleibt, sind nichtmenschliche Tiere im Kunstkontext nicht notwendigerweise handlungsunfähig. Häufig besteht ihre Agency gerade in Akten des Widerstands oder der Zerstörung; beides kann durchaus kreative und produktive Momente haben. Oft ermöglicht animalische Agency nicht nur ein Kunstwerk, sondern begrenzt es auch. Wenn die nichtmenschlichen Tiere sich weigern, zu partizipieren, gibt es kein oder doch zumindest ein ganz anderes Kunstwerk. Dadurch wird nicht nur das Kunstobjekt transformiert, sondern häufig auch der beteiligte Mensch in einer Interspezies-Kollaboration neu situiert und seine Rolle im Schaffensprozess dezentriert: Der Mensch wird dann Bestandteil des Werks (und der Welt) des anderen Tieres.5 5 | Hier war die Rede von tierlichem Gestalten innerhalb der Menschenkunst. Diese scheint besonders gut zu gelingen, wenn die beteiligten Menschen mit den anderen Tieren persönliche Bindungen eingehen, also wenig überraschend vor allem mit denjenigen Tieren, denen Menschen sich aus unterschiedlichen Gründen sehr nah fühlen

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Wenn es um die Beurteilung der Kunstwürdigkeit tierlicher Produktion im Rahmen von Interspezieswerken geht, muss wohl unterschieden werden, ob der Intention der geistigen Urheber_innen oder der ästhetischen Erfahrung Vorrang eingeräumt wird. Denn selbstverständlich ist es möglich, die ästhetische Gestaltungsfähigkeit von nichtmenschlichen Tieren ähnlich wie ein Kunstwerk mit Genuss zu rezipieren, als Ausdruck einer jeweils spezifischen Handlungsmacht anzuerkennen und sie für ihre Virtuosität und den dahinterstehenden, fremden Geist zu bewundern. Wenn Kunst als Gattungsmerkmal des Menschen gedacht wird, schließt es nichtmenschliche Tiere per definitionem als Kunstproduzent_innen aus. Vielleicht muss man die Gestaltungen von nichtmenschlichen Tieren auch gar nicht als Kunst bezeichnen, weil dieser Begriff eine zutiefst anthropozentrische, wenn nicht gar eurozentrische Konstruktion ist und für tierliche Akteur_ innen keine Bedeutung hat. Doch da die Festlegung dessen, wer oder was als Kunstwerk oder Künstler_in gilt, immer schon vorläufig und veränderlich war, gibt es andererseits keinen zwingenden Grund, nicht doch von Tierkunst zu sprechen. Eine Gegenstandserweiterung der Kunstgeschichte auf Tierproduktionen würde bedeuten, dass liebgewordene ästhetische Kategorien, Wertesysteme und Glaubenssätze über Kunst, Künstlertum und Autor_innenschaft aufgegeben werden müssten. Dann gäbe es »keine Kunst der ›Anderen‹ mehr, sondern nur noch andere Kunst«.6 Eine Auseinandersetzung mit Tierkunst eröffnet die Möglichkeit für eine relationale Kunst, in der die Begegnung und der Austausch zwischen Individuen unterschiedlicher Spezies als produktiver und kreativer Wert anerkannt wird. Hierin liegt eine Chance: Gegenwartskünstler_innen könnten eine Vorreiterrolle beim Ausprobieren der Vorstellung von tierlicher Kunstproduktion übernehmen und die Akzeptanz von tierlicher Agency auch in anderen Bereichen vorantreiben. Eine zunehmende Sichtbarkeit von Tierkunst und damit die manifestierte kreative Agency von nichtmenschlichen Tieren könnte auch im Sinne der tierlichen Produzent_innen als politisches Instrument eingesetzt werden und die Vorstellung eines hierarchisch gedachten menschlichen Exzeptionalismus weiter unterminieren. Für die ethische Bewertung von nichtmenschlichen Tieren kann es einen großen Unterschied machen, wenn sie nicht mehr als instinktgetriebene, ›weltarme‹ Wesen wahrgenommen werden, oder mit denen sie eine lange Koevolution verbindet: Affen, Papageien und Hunden. Auch andere Spezies kommen für gemeinschaftliche Kunstproduktionen in Frage. Natürlich sind wilde Tiere außerhalb des menschlichen Einflussbereichs mindestens ebenso kreativ. Ihre Agency ist für Menschen nur weniger zugänglich und muss anders kontextualisiert werden. 6 | Hier greife ich eine Formulierung von Susanne Leeb auf, die sie für die Kunst außereuropäischer Völker wählt (Leeb 2007: 283).

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sondern als kreative Individuen mit Gestaltungswillen, die lustvoll ästhetische Gebilde schaffen. Tierkunst kann tierlicher Agency eine unübersehbare Gestalt geben, sodass sie sich nicht länger leugnen lässt. Damit besitzt sie Potenzial, das menschliche Überlegenheitsphantasma zu relativieren.

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Informationen zu den Autor_innen

Karsten Balgar studierte Soziologie an der Freien Universität in Berlin und Visuelle Kommunikation an der HFF Göteborg. Seine wissenschaftlichen Interessenfelder sind Wissens-, Kultur- und Stadtsoziologie. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität und dem IRS Erkner tätig. Martin Balluch studierte Mathematik, Physik und Astronomie und war 12 Jahre lang an den Universitäten von Wien, Heidelberg und Cambridge als Universitätsassistent tätig. 2005 schloss er ein Philosophiestudium mit dem Doktorat ab. Seit 1985 engagiert er sich im Tierschutz und ist seit 2002 Obmann des österreichischen Vereins Gegen Tierfabriken. Nach 105 Tagen U-Haft wegen sei­ner Tierschutzaktivität im Jahr 2008 wurde er in einem 14-monatigen Gerichtsprozess 2011 freigesprochen. 2012 erhielt er den internationalen Myschkin-Ethikpreis in Paris für advokatorischen Humanismus. Leonie Bossert, Dipl.-Landschaftsökologin, Studium in Greifswald und Ko­ penhagen. 2013 bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Philosophie und Ethik der Umwelt, Universität Kiel. Seit 2013 Mitglied der Nachwuchsforschungsgruppe »Wissenschaftsethik der Forschung für Nachhaltige Entwicklung« am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Universität Tübingen. Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema Tierethik und Nachhaltigkeit. Mitglied des Chimaira AK für Human-Animal Studies. Natalie Geese studierte Soziologie, Politik- und Medienwissenschaft an der Universität Siegen. Von 2011 bis 2013 arbeitete sie in einem Forschungsprojekt an der Universität Siegen zum Thema behinderte Menschen im Bevölkerungsschutz. Seit 2014 ist sie Doktorandin im Bereich »Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies« an der Universität zu Köln. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Bedeutung der Mobilitätsassistenzen blinder Menschen in sozialen Interaktionen.

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Tiere Bilder Ökonomien

Katharina Dornenzweig fokussiert sich auf die kritische Vermittlung von Philosophie und den empirischen Wissenschaften. Hierfür bringt sie etwa kantische Konzepte einerseits und Erkenntnisse aus der Neurobiologie andererseits produktiv miteinander in Verbindung. Sie ist Mitglied des Chimaira-AK für Human-Animal Studies. Markus Kurth studierte Sozialwissenschaften und Europäische Ethnologie an der HU Berlin und Soziologie an der Universität Hamburg. Er ist Gründungsmitglied von Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies und Mitherausgeber der Sammelbände Human-Animal Studies (2011) und Tiere Bilder Ökonomien (2013). Dominik Ohrem ist Lehrbeauftragter der Anglo-Amerikanischen Abteilung des Historischen Instituts der Universität zu Köln und Promotionsstipendiat. Neben der Arbeit an seiner Dissertation zu Mensch-Tier-Beziehungen im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts arbeitet er derzeit an der Herausgabe verschiedener Sammelbände zu Tieren und Animalität in der amerikanischen Geschichte, Kreatürlichkeit als Konzept der transdisziplinären Tierstudien und zur Bedeutung von Intimität in Bezug auf Mensch-Tier-Beziehungen. Mieke Roscher ist Juniorprofessorin für die Geschichte von Mensch-Tier-Beziehungen an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Großbritanniens, die britische Kolonialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Tiergeschichte und Human-Animal Studies. Sie hat zahlreiche Zeitschriftenaufsätze und Buchkapitel zur Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung und zur Schreibung von Tiergeschichte veröffentlicht. 2009 erschien ihr Buch Ein Königreich für Tiere. Jessica Ullrich studierte Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Germanistik sowie Kultur- und Medienmanagement. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin sowie Kuratorin für Bildung und Vermittlung am Kunstpalais Erlangen. Derzeit unterrichtet sie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Human-Animal Studies. Zur Tier-Menschbeziehung in der Kunst hat sie international publiziert, Ausstellungen kuratiert und Konferenzen organisiert. Sie ist Repräsentantin von Minding Animals Germany und Herausgeberin von Tierstudien. Sven Wirth (M.A.) studierte Soziologie, Philosophie und Gender Studies in Hamburg und Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kritik der Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse, Agency- und Widerstandstheorien, feministische Wissenschaftskritik und poststrukturalistische politische

Informationen zu den Autor_innen

Philosophie. Er ist Gründungsmitglied von Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies. Kontakt: www.chimaira-ak.org E-Mail:
 [email protected] Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies
 Postfach 44 03 42
 12003 Berlin

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Human-Animal Studies Annette Bühler-Dietrich, Michael Weingarten (Hg.) Topos Tier Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses Dezember 2015, 252 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2860-9

Reingard Spannring, Reinhard Heuberger, Gabriela Kompatscher, Andreas Oberprantacher, Karin Schachinger, Alejandro Boucabeille (Hg.) Tiere – Texte – Transformationen Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies November 2015, 390 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2873-9

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen Oktober 2015, 482 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2232-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Human-Animal Studies Nastasja Klothmann Gefühlswelten im Zoo Eine Emotionsgeschichte 1900-1945 Juni 2015, 430 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3022-0

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Tiere Bilder Ökonomien Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies 2013, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2557-8

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2

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