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German Pages 328 [322] Year 2014
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Tiere Bilder Ökonomien
Human-Animal Studies
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.)
Tiere Bilder Ökonomien Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Tiere Bilder Ökonomien Fähr tensuche und Streifzüge Chimaira Arbeitskreis | 7
Tier_Ökonomien? Über die Rolle der Kategorie ›Arbeit‹ in den Grenzziehungspraxen des Mensch-Tier-Dualismus Aiyana Rosen & Sven Wirth | 17
Die Verdinglichung der Tiere Klaus Petrus | 43
Von Bienen und Menschen Ulrike Kruse | 63
Produkte oder Produzenten? Tiere in der neolithischen Subsistenz Annett Dittrich | 87
Doing things with frogs Von der Er forschung von Froschgiften zu einer chemischen Ökologie Klaus Angerer | 113
›Experimental Life‹ Tier-Ökonomien im Alltag und in der Ethologie der Moderne Stephan Zandt | 137
»durch die vnuernünfftigen thier geschleyfft ...« Tiere in mittelalterlichen Rechtspraktiken und Schandritualen Ramona Sickert | 161
»... der Schlüssel zum Pogrom« Tier-Metaphern im Rassismus der europäischen Wissenschaften des 18., 19. und 20. Jahrhunder ts Christof Mackinger | 187
»Hitler war Vegetarier« Über die Zuschreibung menschenfeindlicher Tierliebe Andrea Heubach | 213
Konstruktionen tierlicher Sichtbarkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz Mona Mönnig | 241
»Anything can happen when an animal is your cameraman« Wie wir Tiere ansehen: Crittercams in der Gegenwar tskunst Jessica Ullrich | 267
Dinotasia, Dinotopia Animationen ungreifbarer Tierkörper im Kino des For tschritts Anna Zett | 295
Informationen zu den Autor_innen | 319
Tiere Bilder Ökonomien Fährtensuche und Streifzüge Chimaira Arbeitskreis
In den letzten Jahren ist in der gesellschaftlichen Debatte eine vermehrte und breite Aufmerksamkeit für das Thema ›Tiere‹ zu beobachten. Nicht zuletzt brachten Bücher wie Jonathan Safran Foers Tiere essen und Karen Duves Anständig essen den Durchbruch des Themas in den Feuilletons der deutschsprachigen Medien. Auch wenn schon seit Längerem, insbesondere im Feld der Ernährung, aber auch der Haltungsbedingungen und deren Folgen für ›Tiere‹ und Menschen, die Problematiken der Mensch-Tier-Verhältnisse offenkundig zu Tage treten: Neu an der Debatte ist jedoch eine inzwischen im Mainstream angekommene Aufmerksamkeit für die Seite der ›Tiere‹. Zwar werden ›Tiere‹ dadurch im öffentlichen Diskurs zunehmend präsent, jedoch wird die gesamtgesellschaftliche Dimension der Mensch-Tier-Verhältnisse selten diskutiert. Vielmehr werden lediglich Teilaspekte dieses komplexen Zusammenhangs beleuchtet. Wurden um die Jahrtausendwende in diesem Kontext insbesondere die Auswirkungen der Haltungs- und Produktionsbedingungen in der Agrar- und Lebensmittelindustrie auf die Konsumierenden und die globale Ökologie diskutiert, so werden heute vermehrt auch tierethische Perspektiven eingefordert. Doch nicht nur die Ökonomisierung der ›Tiere‹ selbst steht im Zentrum des Zusammenhangs zwischen Ökonomie und ›Tieren‹, wie er in den gegenwärtigen Diskussionen gezogen wird, auch die Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise auf die Umwelt und hierbei insbesondere auf bestimmte, als schützenswert eingestufte Spezies stehen in der Kritik. Gleichzeitig gibt es vermehrt eine Nachfrage nach und Angebote von alternativen, tierleidarmen Ess- und Lebensweisen. Bücherregale voller veganer und vegetarischer Kochbücher, ökologischer Ratgeberliteratur sowie die vermehrte Präsenz vegetarischer und veganer Produkte in Supermärkten und Restaurants, Drogerien und Bekleidungsketten, insbesondere in Großstädten, sprechen eine deutliche Sprache. Diese Antworten des Marktes auf eine vermeintlich bewusstere Konsument_innenschaft sind nur ein Aspekt der Verwobenheiten zwischen nichtmenschlichen Tieren und ökonomischem System.
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Dabei handelt es sich um eine eigene Art tierlicher Ökonomie – mit ›dem Tier‹ als einem bewusst abwesenden und zugleich doch sehr präsenten Signifikant. Aber nicht nur in der öffentlichen Debatte ist eine vermehrte Hinterfragung (zumindest von Teilbereichen) der Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse zu beobachten, auch im akademischen Bereich wurde diese Debatte in den letzten Jahren zunehmend aufgegriffen. Kam es im deutschsprachigen Raum seit der Jahrtausendwende zu ersten Etablierungsschritten der HumanAnimal Studies, befindet sich dieses Forschungsfeld seitdem stetig im Wachstum und differenziert sich weiter aus. So gründeten sich u.a. im Jahr 2009 das interdisziplinär angelegte Bündnis Mensch und Tier in München; im Jahr 2010 die Group for Society and Animals Studies (GSA) am Institut für Soziologie der Universität Hamburg; unser eigenes interdisziplinär arbeitendes Netzwerk Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies, welches vorrangig in Berlin tätig ist; ferner das Messerli Forschungsinstitut an der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Vetmeduni Vienna). An diesem Institut wird neben anderen Studiengängen auch ein interdisziplinäres Masterstudium »Mensch-Tier-Beziehung« angeboten. 2011 und 2012 entstanden mit der Gründung von Gruppierungen wie dem Nachwuchsforscher_innen-Netzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS) am Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Würzburg, in dem mittlerweile ca. 70 Promovierende und Post-Docs vernetzt sind, dem geschichtswissenschaftlichen Netzwerk Animals and History / Tiere und Geschichte sowie der Ländergruppe des MindingAnimals-Netzwerks Minding Animals Germany weitere Netzwerke und Gruppierungen im deutschsprachigen Raum. Dass es zurzeit im deutschsprachigen Raum auf universitärer Ebene zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnissen kommt, zeigt auch ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse verschiedener Universitäten, an denen im Jahr 2013 diverse Seminare aus den Human-Animal Studies angeboten wurden (u.a. an der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Bremen, der Universität Innsbruck und der Universität Hamburg). Zudem wird seit 2012 und insgesamt drei Jahre in Folge vom Nachwuchsforscher_innen-Netzwerk Cultural and Literary Animal Studies eine Summer School organisiert; weiterhin wurden seit 2005 erste Konferenzen zu Themen der Human-Animal Studies veranstaltet, wie zum Beispiel 2011 die Tagung zum Thema »Fleisch essen« an der Universität Hamburg. Bereits seit 2009 gibt es die Zeitschrift Tierethik, die einen dem Titel gemäßen Blick auf Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnisse wirft, während die seit 2012 erscheinende Fachzeitschrift Tierstudien bestrebt ist, das gesamte interdisziplinäre Feld der Human-Animal Studies zu beleuchten. Dabei ist das Konzept der Human-Animal Studies global gesehen durchaus kein neues Phänomen, sondern lässt sich v.a. auf Entwicklungen der 1980er
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Jahre im angloamerikanischen Raum zurückführen. 1987 erschien mit der Zeitschrift Anthrozoös: A Multidisziplinary Journal of the Interactions of People and Animals eine erste diesem Forschungsfeld zuzuordnende Zeitschrift. Es folgte die Etablierung von Forschungseinrichtungen und -zentren. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt auch im Kontext von Veröffentlichungen wie Peter Singers Animal Liberation (1975) und Tom Regans The Case of Animal Rights (1983) zu sehen, die zu einer verstärkten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung der gesellschaftlichen, insbesondere aber auch der rechtlichen Problematik des Status von nichtmenschlichen Tieren in der sogenannten westlichen Welt führten. Vergessen seien an dieser Stelle aber auch nicht ökofeministische Interventionen sowie die Bemühungen der Umweltanthropologie und Ethozoologie, die sich bereits früh mit Mensch-Tier-Verhältnissen in nichtwestlichen Gesellschaften beschäftigten. Heute sind die Human-Animal Studies ein breit gefächertes, interdisziplinäres Forschungsfeld, das die konkreten Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Individuen ebenso untersucht, wie die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung nichtmenschlicher Tiere und die Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse. Der Terminus Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse betont die grundlegende gesellschaftliche Konstitution von Mensch-Tier-Beziehungen, die gerade nicht ›naturgegeben‹ sind, sondern stets nur in Abhängigkeit von konkreten historisch gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen denkbar erscheinen. So hat sich gerade die abendländische Gesellschaft in ihren Diskursen und Praktiken zumeist in der steten Abgrenzung zum ›Tier‹ entwickelt. Diese epistemische Figur hat zu der tiefen Spaltung zwischen Menschen und ›Tieren‹ beigetragen, die wir in der heutigen Gesellschaft beobachten – mit fatalen Folgen für die objektifizierten, nichtmenschlichen Tiere. Die Dekonstruktion der Mensch-Tier-Grenze ist nur einer von vielen möglichen Schritten, welcher besonders im akademischen Feld vollzogen werden kann. Es geht in den Human-Animal Studies folglich nicht um eine separate Erforschung nichtmenschlicher Tiere und ihrer Alltagswelten und damit auch nicht um ihre direkte zoologische Erforschung, auch wenn die Erkenntnisse aus diesen Studien eine der Grundlagen für die Forschung der Human-Animal Studies darstellen. Vielmehr geht es um die Bedeutung von ›Tieren‹ in menschlichen Gesellschaften und deren vielfältige Verwicklungen in menschliche Angelegenheiten. Die Ausklammerung von nichtmenschlichen Tieren aus den Wissenschaften und die Ignoranz gegenüber ihrer Bedeutung ist zum großen Teil einer antropozentrischen Sichtweise geschuldet, der es mithilfe neuer Studien- und Forschungsprojekte entgegenzuwirken gilt. In diesem Kontext steht auch die momentan viel diskutierte Frage nach der Handlungsfähigkeit bzw. agency und dem Subjektstatus von ›Tieren‹. Ausgehend von sogenannten Nutz-, Arbeits- oder Labortieren wird nach dem Anteil nichtmenschlicher Tiere an der menschlich(-tierlich)en Geschichte
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sowie an bislang ebenso meist als rein menschlich wahrgenommenen Handlungen und Produktionen heute gefragt.
TIERE Ö KONOMIEN Bezieht sich also nicht nur die gesellschaftliche Debatte, sondern ebenso die wissenschaftliche Diskussion auf den für unsere gegenwärtigen Gesellschaften zentralen Punkt der Ökonomie, so wird im vorliegenden Sammelband eine Sondierung der möglichen Beziehungen zwischen ›Tieren‹ und Ökonomie versucht. Scheint bei ›Tieren‹ – bei einer rein oberflächlichen Betrachtung – klar zu sein, worüber man spricht, so sieht die Sache anders aus, wenn von Ökonomie oder besser noch im Plural von ›Ökonomien‹ die Rede ist, insbesondere wenn man von Tier-Ökonomien spricht. Anstatt den Begriff von Beginn an einzuengen und einen Definitionsversuch zu wagen, haben wir uns dafür entschieden, von der Offenheit dieser Begriffszusammensetzung auszugehen. Am Anfang des Sammelbandes stand damit die Frage, was Tier-Ökonomien im weitesten Sinne überhaupt bedeuten können. Bei dieser Frage und der Vielfältigkeit der damit verknüpften Assoziationen sollte es nicht darum gehen, die bestehenden Debatten zusammenzufassen oder gar eine umfassende Bestandsaufnahme zu leisten. Stattdessen ist es im Gegenteil unser Anliegen, das mögliche Feld von Tier-Ökonomien für eine breite Debatte zu öffnen. Die Offenheit dieser Frage bezüglich der möglichen Verhältnisse zwischen den Feldern der ›Tiere‹ und der Ökonomie(n) soll dabei durch die nachdrücklich gesetzte Lücke zwischen den beiden Begriffen betont werden. Denn was unter Tier-Ökonomien verstanden wird, ist maßgeblich davon abhängig, welche Bedeutung der Ökonomie, insbesondere aber den ›Tieren‹ zukommt.
TIERE B ILDER Die Frage nach den Vorstellungen von nichtmenschlichen Tieren bzw. den Bildern von ›Tieren‹, die sich gesellschaftlich ganz unterschiedlich darstellen, bildet in diesem Sinne den zweiten Dreh- und Angelpunkt unserer Fragestellung und damit des vorliegenden Sammelbandes. Dabei wird schnell deutlich, wie sehr unsere Vorstellungen von ›Tieren‹ – gerade in unserer mediendominierten Gesellschaft – von Bildern sowie gesellschaftlich und kulturell vermittelten Auffassungen abhängig sind. Von Filmen wie Planet der Affen bis zur preisgekrönten Dokumentation More than Honey, von den Skandalvideos und -bildern, die die Bedingungen in Anlagen der (Massen-)Tierhaltung dokumentieren, bis zur politischen Metaphorik lebt die Rede von ›Tieren‹ im gesellschaftlichen Kontext von und mit Bildern. Dass
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unser Verhältnis zu anderen ›Tieren‹ und das Leben mit diesen stark von Bildern geprägt ist, zeigt auch die vermehrte Auseinandersetzung mit ›Tieren‹ und die Problematisierung der genannten Zusammenhänge in der aktuellen Kunst. So finden etwa die Fragen nach ›Tieren‹ auch ihren Weg in immer mehr Ausstellungen, Kunstfestivals und Konferenzen, die in der Frage der ›Tiere‹ explizit den Dialog zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft suchen: Stellvertretend seien hier nur die letztjährige documenta (13) in Kassel und das Live Art Festival 2013 auf Kampnagel in Hamburg mit dem Titel »ZOO 3000: Occupy Species« genannt. Was sich hier andeutet, wird in den Beiträgen unseres Sammelbandes aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen beleuchtet: Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen den Feldern Ökonomie und Bilder in Bezug auf ›Tiere‹ ausmachen? Welche Bilder machen wir uns von ›Tieren‹? Welche Bilder vermitteln diese dabei möglicherweise selbst? Welche Rolle spielen Tierbilder bei der Ökonomisierung von ›Tieren‹? Und andersherum: Was für BildÖkonomien sind im Spiel, wenn es um ›Tiere‹ geht? Was heißt Ökonomie und welche Rolle spielen ›Tiere‹ darin? Dabei werden die Begriffe ›Tiere‹, Bilder und Ökonomien als offene Schnittstellen verstanden, an denen unterschiedliche Ansätze, Blickwinkel, Kontexte und Fragestellungen anschließen können. Ziel ist es nicht, diese Begriffe abschließend zu klären, sondern vielfältige Spuren zwischen ihnen und deren möglichen Zusammenhängen zu verfolgen. Nur so ist es möglich, den vielfältigen Ansätzen und Disziplinen im Feld der Human-Animal Studies Rechnung zu tragen, die von der Soziologie über Science and Technology Studies, Zooarchäologie und Kulturwissenschaft bis hin zur Kunst- und Bildwissenschaft reichen. Es geht nicht darum, fertig ausformulierte Wege aufzuzeigen, sondern vielmehr kritisch die Vielfalt dieses sich etablierenden Feldes zu sondieren. Die Debatte um Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse soll nicht vereinfacht werden, sondern gerade umgekehrt: Wenn es momentan einen wichtigen Beitrag der Human-Animal Studies im akademischen Feld gibt, dann den, die Debatten und Diskussionen zu differenzieren und einfache Antworten zu vermeiden; eher Gewissheiten zu dekonstruieren, als Positionen zu behaupten; eher kritisch zu intervenieren, als bestehende Verhältnisse zu bestätigen.
TIERE B ILDER Ö KONOMIEN Es lassen sich jedoch – trotz der Bemühungen um Differenzierung und Dekonstruktion – Fährten zwischen den Begriffsfeldern ›Tiere‹, ›Bilder‹ und ›Ökonomien‹ finden, denen man folgen kann und die durchaus gangbare Wege und Strategien zur Lösung der grundlegenden Probleme der Mensch-
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Tier-Verhältnisse anbieten. Wir möchten an dieser Stelle mögliche Streifzüge durch das hier eröffnete Feld skizzieren: In dem Beitrag Tier_Ökonomien? Über die Rolle der Kategorie ›Arbeit‹ in den Grenzziehungspraxen des Mensch/Tier-Dualismus befragen Aiyana Rosen und Sven Wirth zu Beginn ›Arbeit‹ als einen der zentralen Begriffe der modernen Ökonomie auf seine möglichen Ein- und Ausschlüsse von nichtmenschlichen Tieren. Mit der Betonung des großen Anteils der Aktivitäten nichtmenschlicher Individuen an der Herstellung von menschlicher Gesellschaft und Ökonomie diskutieren die beiden Autor_innen die frappierenden Grenzziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren in unterschiedlichen Arbeitsbegriffen. Ausgehend von kritischen feministischen Ansätzen, werden Möglichkeiten erörtert, alternative Arbeitskonzepte zu entwickeln, die nichtmenschliche Tiere als Akteur_innen innerhalb der Ökonomie einbeziehen. Dabei beziehen sie kritisch Stellung, wenn sie den immensen Anteil tierlicher Tätigkeiten an der Herstellung tierlicher und menschlicher Lebenswelten betonen. In Anschluss daran lassen sich auch die Texte von Ulrike Kruse, Klaus Angerer und Stephan Zandt lesen, die je auf ihre Weise den Einfluss spezifischer nichtmenschlicher Tiere auf tierlich-menschliche Ökonomien thematisieren. Den Gegenpol zu solchen in Rosens und Wirths Beitrag dargestellten akteurtheoretischen Konzepten, die nichtmenschliche Individuen in das Konzept der Arbeit einbeziehen, macht Klaus Petrus in seinem Beitrag Die Verdinglichung der Tiere deutlich. Er versucht, den Begriff der Verdinglichung anhand der gegenwärtigen Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse zu systematisieren und anschließend aus einer tierethischen Position heraus zu beleuchten. Mit den Merkmalen von Besitztum, Instrumentalisierbarkeit, Verletzbarkeit und Austauschbarkeit ausgestattet, werden insbesondere ›Nutztiere‹ weniger als Individuen, sondern vielmehr als »Exemplare einer bestimmten (Nutzungs-)Art« behandelt, wie es auch Mona Mönnig in ihrem Beitrag anhand der künstlerischen Arbeiten Wim Delvoyes aufzeigt. Dabei beschreibt Petrus den Akt der Verdinglichung als eine soziale Praxis, die nicht nur auf nichtmenschliche Tiere, sondern auch in Rückgriff auf die Verdinglichung derselben in Diskursen und Praktiken gegenüber Menschen angewendet wird. Dies ist eine Erkenntnis, die auch die Beiträge von Christof Mackinger, Andrea Heubach und Ramona Sickert in ganz unterschiedlichen Kontexten aufgreifen. Anstelle der von ihm untersuchten Praxis der Verdinglichung nichtmenschlicher Tiere schlägt Klaus Petrus eine Position vor, die einen Standpunkt der Empathie und der Subjektivierung gegenüber nichtmenschlichen Tieren einnimmt; eine Position, die auch in den von Jessica Ullrich besprochenen gegenwärtigen künstlerischen Arbeiten wiederkehrt. Annett Dittrich dekonstruiert in ihrem Beitrag Produkte oder Produzenten? Tiere in der neolithischen Subsistenz aus Sicht einer kritischen Archäozoologie
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die Erzählungen der Paläoanthropologie und -archäologie als Ursprungsmythos kapitalistischer Wirtschaftsweisen und damit der oben beschriebenen Arbeits- und Verdinglichungspraktiken und -vorstellungen. Dienen in der Archäologie immer wieder rezente Jäger- und Sammlergesellschaften als nichtmoderne Anhaltspunkte für mögliche prähistorische Gesellschaftsformen, so zeigen gerade die gegenwärtigen Erkenntnisse der Umweltanthropologie, dass hier mit ganz anderen als kapitalistischen Umgangsformen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren zu rechnen ist. Dittrich plädiert für komplexere Erzählungen, die als eine verwickelte Raum- und Verflechtungsgeschichte insbesondere eine Dekolonisierung der Vergangenheit zu leisten hätten. Ähnliche Beobachtungen über den Zusammenhang zwischen den Bildern von Prähistorie und den Mensch-Tier-Verhältnissen in kapitalistischen Gesellschaften finden sich bei Anna Zett. Auch der Beitrag von Ulrike Kruse impliziert eine komplexere Sichtweise auf Mensch-Tier-Ökonomien, als dies landläufig geschieht. In Von Bienen und Menschen betrachtet sie die miteinander verknüpften Ökonomien dieser beiden Spezies anhand der neuzeitlichen Ökonomik-Literatur. Dabei stellt sie heraus, dass der Status der Bienen nicht eindeutig auf den eines Wirtschaftssubjekts oder -objekts festzulegen ist. Zudem werden in der Ökonomik-Literatur menschliche Gesellschaft und Insektengesellschaft immer wieder spiegelbildlich aufeinander bezogen. So dienen die Bienen als moralisches Vorbild für die menschliche Gesellschaft; andersherum wird der Bienenstaat jedoch soziomorph anhand einer idealen menschlichen Gesellschaft beschrieben. Analoge Bezüge zwischen Menschen und ›Tieren‹ beschreibt Ramona Sickert in Bezug auf mittelalterliche Rechts- und Schandpraktiken. Anhand einer ganz anderen Mensch-Tier-Ökonomie kann Klaus Angerer in Doing things with frogs. Von der Erforschung von Froschgiften zu einer chemischen Ökologie den bereits bei Klaus Petrus geäußerten Verdacht bestätigen, dass die Frage der Verdinglichung von ›Arbeitstieren‹ sich unter anderem am Grad ihrer Individualisierbarkeit entscheidet. Anhand des aktuellen Forschungsprogramms des US-amerikanischen National Institutes of Health zur Erforschung von Alkaloiden aus südamerikanischen Pfeilgiftfröschen zeigt Angerer, dass in diesem Kontext Pfeilgiftfrösche, im Gegensatz zu früheren Methoden, als Bioprospektoren eingesetzt werden und damit einen gewissen Akteur-Status innerhalb der Forschung zugesprochen bekommen. Dies steht im Gegensatz zur Wahrnehmung und Behandlung von ›Labormäusen‹, an denen, als standardisierten ›Modelltieren‹, die Gifte getestet werden. Angerer bringt hier die von Hans-Jörg Rheinberger eingeführte Unterscheidung zwischen ›epistemischen‹ und ›technischen Dingen‹ in Anschlag. Stephan Zandt vertritt in seinem Beitrag ›Experimental Life‹. Tier-Ökonomien im Alltag und in der Ethologie der Moderne die These, dass das ethologische Interesse am Verhalten und den Möglichkeiten tierlicher Affekt-Ökonomien
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erst aus der Herauslösung der ›Tiere‹ aus einer alltäglichen Arbeitswelt resultiert. Am Beispiel der psychologischen Experimente rund um ein besonders schlaues Pferd um 1900, den ›Klugen Hans‹, sowie der ethologischen Alltagspraktiken bei Konrad Lorenz kann er zeigen, dass sich die Frage nach den Affekten und Vermögen von ›Tieren‹ erst stellt, wenn die ›Tiere‹ von einer alltäglichen und zielgerichteten Zurichtung im Sinne der Ökonomisierung freigestellt werden. Andererseits ergibt sich mit dem Ausscheiden der ›Tiere‹ aus dem alltäglichen Leben gleichfalls das Problem, auf das auch Klaus Petrus verweist: ›Nutztiere‹ werden zu reinen »Produktionsmaschinen […], die fast ausschließlich in einem ökonomischen Schema von Input […] und Output […] begriffen werden«. Zandts Artikel plädiert dagegen für eine ethisch-ökologische Perspektive im Umgang mit ›Tieren‹, wie sie auch bei Klaus Angerer und in ganz anderer Weise bei Jessica Ullrich anklingt. Jessica Ullrichs Beitrag »Anything can happen when an animal is your cameraman«. Wie wir Tiere ansehen: Crittercams in der Gegenwartskunst beschäftigt sich ebenso mit dem ethologischen Bestreben, ›Tiere‹ in ihrem alltäglichen Leben zu beobachten, hier jedoch mit Hilfe von Animal Borne Imaging Technology (ABIT) in der Gegenwartskunst. Sogenannte Crittercams, mit denen unterschiedlichste ›Tiere‹ ausgestattet werden, sollen einen ansonsten verborgenen Einblick in tierliches Leben ermöglichen. Anhand der Arbeiten von Nobushira Narumi, Jana Sterbak und Sam Easterson und der darin produzierten Tierbilder geht sie der Frage nach, inwiefern innerhalb dieser experimentellen Anordnung eines »Dispositivs der Kontrolle« der Blick der ›Tiere‹ selbst vorkommt und damit die ›Tiere‹ selbst Anteil haben an der Produktion von Kunst. So sehr das konkrete Leben der ›Tiere‹ auch von Bildern, Symbolen und Metaphern überlagert wird, Ullrich kann im einfühlenden Umgang mit den ›Tieren‹ und in den Lücken der Kunstwerke doch ein Potenzial für die Entwicklung neuer Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnisse erkennen. Einen ebenso kritischen Blick auf ›Tiere‹ im Kontext der Bildproduktion, wenn auch in ganz anderer Stoßrichtung, wirft Mona Mönnig in Konstruktionen tierlicher Sichtbarkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz. Aus Sicht einer Bildanthropologie versucht sie, das Verhältnis zwischen ›Tieren‹ und Tierbildern zu klären und zu systematisieren, indem sie das tierliche Leibsein als »Spur des Authentischen« begreift, dem sie mithilfe einer Dekonstruktion der »artifiziellen Vorstellungsbilder« näher kommen möchte. Insofern Mönnig selbst den Körper des ›Tieres‹ immer schon als einen Bildkörper begreift, macht sie darauf aufmerksam, dass jegliche Wahrnehmung von ›Tieren‹ bereits von Tierbildern durchzogen ist. Anhand ausgewählter Beiträge der Gegenwartskunst von Wim Delvoye, Jo Longhurst und Wesley Meuris versucht sie, die dort präsentierte Abwesenheit der ›Tiere‹ im Bild für eine Programmatik stark zu machen, die die ›Tiere‹ nicht der Gewalt der Bilder unterwirft.
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Indem der Blick auf die Abwesenheit der ›Tiere‹ gelenkt wird, wird in ihrer Abwesenheit an sie als authentische Lebewesen erinnert. Ganz andere ›Tiere‹, die wie keine anderen vollständig dem Spiel von Anund Abwesenheit und damit ihrem Bild unterworfen sind, sind Dinosaurier. Anna Zett verfolgt in ihrem Artikel Dinotasia, Dinotopia. Animationen ungreifbarer Tierkörper im Kino des Fortschritts die moderne Geschichte der utopischen Mensch-Tier-Begegnungen im Dinosaurier-Spielfilm und seine Verwicklungen in die Rolle des Kinos im Kapitalismus. In der utopischen Begegnung zwischen Menschen und Dinosauriern wird eine zentrale Ambivalenz des Kinos aufgerufen, die dieses eng an Mensch-Tier-Beziehungen koppelt: Insofern das Medium Film zu gleichen Teilen aus Fotografie und Animation besteht, oszilliert es immerwährend zwischen maschineller Tötung oder Stillstellung im Modus der Jagd und einer magisch-maschinellen (Wieder-)Belebung. Paradigmatisch dafür ist, so Zett, gerade der Dinosaurierfilm, der den Inbegriff der nicht mehr existenten und ausgestorbenen ›Tiere‹ mithilfe der Tricktechnik so darstellt, als wären sie doch wieder am Leben. Dabei bleiben die ›Tiere‹ jedoch, so sehr ihre Präsenz auch betont wird, entgegen der ›Tiere‹, die Jessica Ullrich anhand der Tierfilme der Crittercams bespricht, vollständig ungreif bar. Erst in dieser Ambivalenz zeigt sich das Potenzial dieser ›Tiere‹, wenn das Kino der Moderne mit ihnen unterschiedliche Strategien der – im Falle der Dinosaurier notwendig scheiternden – Natur-Bemächtigung inszeniert. Einen völlig anderen Blick auf die gesellschaftliche Funktion von Tierbildern wirft Christof Mackinger in »...der Schlüssel zum Pogrom.« Tier-Metaphern im Rassismus der europäischen Wissenschaften des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Mackinger geht anhand zentraler Texte des anthropologischen Diskurses den vielfältigen Verwendungen von Tierbildern im Sinne von rassifizierenden Zuschreibungen nach. Anhand der unterschiedlichsten Zuschreibungen lässt sich Mackinger zufolge zeigen, dass der Tierbegriff nicht notwendig von konkreten ›Tieren‹ spricht, sondern ein abstraktes »Tier-Konstrukt« meint; ein reines Reiz-Reaktionswesen, das nur auf seinen Körper reduziert wird, um es in möglichst große Distanz zum westlichen, weißen und männlichen Menschen zu bringen. Hier zeigt sich die von Mona Mönnig beschriebene Macht der Tierbilder in ihrer ganzen Tragweite. Dabei betont Mackinger jedoch, dass auch ein solches Konstrukt nicht unabhängig von konkreten Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen gedacht werden kann. Wie auch Ulrike Kruse in einem ganz anderen Kontext betont, sind die Beziehungen von Menschen und ›Tieren‹ stets aufeinander bezogen. Denn es sei, so Mackinger, gerade die strikte Grenze, die zwischen Menschen und ›Tieren‹ gezogen werde, die ein solches Konstrukt erst funktionieren lasse. Erst eine Änderung auch der konkreten Mensch-Tier-Verhältnisse und der damit verbundenen Tierbilder, würde rassifizierende Tierbilder ins Leere laufen lassen.
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Die gleiche kritische Stoßrichtung verfolgt Andrea Heubach in ihrem Aufsatz über Zuschreibungen gegenüber der vegetarisch-veganen Bewegung sowie der Tierschutz- und Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung. In »Hitler war Vegetarier«. Über die Zuschreibung menschenfeindlicher Tierliebe geht sie den vielfach im öffentlichen Diskurs geäußerten Mutmaßungen nach, der Einsatz für nichtmenschliche Tiere ginge inhärent mit einem Menschenhass einher. In diesen Äußerungen würden, so Heubach, gleichzeitig Vergleiche zwischen den Vorstellungen dieser zeitgenössischen sozialen Bewegungen mit den Tier- und Menschenbildern des Nationalsozialismus gezogen. Anhand historischer Belege kann sie zeigen, dass der im Nationalsozialismus propagierte Tierschutz vornehmlich zu Propagandazwecken diente. Darüber hinaus ließe sich kein direkter Zusammenhang zwischen dem propagierten Tierschutz und den nationalsozialistischen Gräueltaten nachweisen. Ganz im Gegenteil beruhten – und hier treffen sich Heubachs Einschätzungen mit denjenigen Christof Mackingers – die Degradierungen des Antisemitismus, die vielfach über Tierkonstrukte funktionieren, auf einer Abwertung von nichtmenschlichen Tieren. Untersuchen Mackinger und Heubach die Auswirkungen gesellschaftlicher Tierbilder auf soziale Ausschlussdiskurse und dementsprechende Menschenbilder, so invertiert Ramona Sickert in »durch die vnuernünfftigen thier geschleyfft ...« Tiere in mittelalterlichen Rechtspraktiken und Schandritualen noch einmal diese Perspektive. Anhand von mittelalterlichen Strafpraktiken im Zusammenhang mit nichtmenschlichen Tieren analysiert Sickert weitere direkte Auswirkungen solcher Tierbilder, wie sie Mackinger und Heubach beschreiben, auf konkrete menschlich-tierliche Interaktionen. In der gemeinsamen Bestrafung von Menschen und entsprechenden symbolisch bestimmten ›Tieren‹, wird ›das lebende Tier‹, wie Mona Mönnig es theoretisch fasst, auf ein reines Körperbild reduziert. Paradigmatisch wird dies etwa dann deutlich, wenn das mit dem Verbrechen verbundene ›Tier‹ durch eine Abbildung ersetzt wurde, wie das in manchen Prozessen der Fall war. Anhand der historischen Studie Sickerts wird deutlich, wie stark gesellschaftliche Zuschreibungen in Form von Tierbildern und deren implizite Ökonomie des Ausschlusses mit den konkreten (auch ökonomischen) Existenzbedingungen von ›Tieren‹ zusammenhängen. Hier schlägt der Artikel noch einmal einen Bogen zu den konkreten menschlich-tierlichen Ökonomien, die etwa Ulrike Kruse für die Bienenhaltung der Neuzeit beschreibt.
Tier_Ökonomien? Über die Rolle der Kategorie ›Arbeit‹ in den Grenzziehungspraxen des Mensch-Tier-Dualismus Aiyana Rosen & Sven Wirth
Was verstehen wir unter ›Arbeit‹? Betrachten wir – wie bereits Friedrich Engels Ende des 19. Jahrhunderts in Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (Engels 1962) – Arbeit als eine rein menschliche Kategorie? Oder erkennen wir die Beteiligung von nichtmenschlichen Individuen an der menschlichen Ökonomie als Arbeit an? Denn arbeiten diese nicht auch, wie es doch von sogenannten Drogenspürhunden, Hirtenhunden, Blindenhunden oder anderen service dogs landläufig angenommen wird? Diese werden zumindest als ›Arbeitstiere‹ bezeichnet und dementsprechend kategorisiert. Und was ist mit sogenannten Zugpferden oder Lasteneseln, was ist mit ›Tieren‹, die im Krieg eingesetzt wurden, Rindern, die die Felder durchpflügten, Elefanten, Kamelen und vielen anderen nichtmenschlichen Individuen, die alle zu Arbeitszwecken herangezogen wurden und immer noch werden? Und was ist mit den Tätigkeiten sogenannter Nutztiere? Ohne die Tätigkeiten all dieser Individuen wäre die menschliche Geschichte höchst anders verlaufen, was den Historiker Jason Hribal zu der Feststellung führt: »Who built America […]? Animals did.« (Hribal 2007: 105) Und auch jenseits menschlicher Einflussbereiche stellt sich die Frage, ob die Tätigkeiten, denen nichtmenschliche Tätigkeiten nachgehen, nicht als Arbeit kategorisiert werden sollten. ›Arbeit‹ ist folglich, bei näherer Betrachtung, eine sowohl erkenntnistheoretisch als auch politisch hoch brisante Kategorie. Denn ein wesentlicher Faktor dessen, was in hegemonialer Lesart Menschen von nichtmenschlichen Individuen unterscheidet, ist die Fähigkeit zur Schaffung ihrer eigenen Umwelt bzw. ihrer Lebensgrundlage durch Arbeit. Nichtmenschliche Tiere hingegen verrichten, aus dieser Perspektive, nur Operationen und sind so eins mit der sie umgebenden Natur. Sind also die genannten Tätigkeiten nichtmenschlicher Individuen eben doch keine Arbeit, weil die Tätigkeiten von ›Tieren‹ als
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den ›ganz Anderen‹ von kategorisch anderer Art sind und sich eben nicht nur graduell von menschlichen Tätigkeiten unterscheiden? Wir möchten diesen Fragen im folgenden Beitrag nachgehen, indem wir uns die Arbeitskonzepte von Theoretiker_innen anschauen, die diese Fragen auf höchst unterschiedliche Art und Weise beantwortet haben. Hierbei legen wir unser Augenmerk vor allem auf die Grenzziehungspraxen, die mit der Kategorisierung in ›Arbeit‹ und ›Nicht-Arbeit‹ einhergehen. Zunächst werden wir dafür die Kategorie Arbeit in ihrem historischen Wandel skizzieren. Durch den Fokus auf die Brüche soll ein Blick auf die Implikationen des Konzepts ermöglicht werden. Hierbei liegt unserer Analyse das Erkenntnisinteresse zugrunde, herauszuarbeiten, wie das jeweilige Arbeitskonzept mit den es flankierenden, hegemonialen gesellschaftlichen Strukturen und Dispositiven verknüpft ist. Dazu betrachten wir im zweiten Schritt die Arbeitsdefinitionen verschiedener Theoretiker_innen, bei denen ›Arbeit‹ explizit oder implizit mit der Verhandlung der Kategorie Spezies in Zusammenhang steht. Hierbei werden wir uns zum einen solche Konzepte anschauen, die anhand der Kategorie Arbeit eine abgründige Mensch-Tier-Grenze implementieren. Weiterhin untersuchen wir solche Konzeptionen von Arbeit, die mit einer Kritik am Androzentrismus oder Anthropozentrismus klassischer Arbeitskonzepte eine andere Perspektive einnehmen. Wir zeigen auf, wie ›Arbeit‹ verhandelt wurde, welche Grenzen diesem Konzept historisch gegeben wurden und wie dies in Zusammenhang mit Gesellschaftlichen Mensch_Tier-Verhältnissen steht. Die gewonnenen Erkenntnisse werden wir in einem vierten Schritt für unsere Bewertungen des Sachverhalts fruchtbar machen.
D AS K ONZEP T A RBEIT
IM GESCHICHTLICHEN
W ANDEL
Einführend soll hier aufgezeigt werden, dass sich das Konzept der Arbeit in dessen Definition und Bewertung im Laufe der Geschichte der europäischwestlichen Gesellschaften fundamental verändert hat und welche Konzepte und historischen Bedingungen damit verknüpft waren und sind. Unser Blick ist hierbei vorrangig auf die hegemonialen Konzeptionen von Arbeit gerichtet und nur dann auf das konkrete Handeln und Arbeiten von Individuen oder Gruppen, wenn dieses mit den Arbeitskonzeptionen in engem Zusammenhang steht. Daraus folgt, dass im ersten Teil dieses Textes eine anthropozentrische und androzentrische Perspektive auf ›Arbeit‹ wiedergegeben wird, eben deshalb, weil ›Arbeit‹ hegemonial auf die menschliche/männliche Sphäre begrenzt wurde. Diese Perspektive werden wir dann im weiteren Verlauf hinterfragen und dekonstruieren. Die Verschiebung in der Bedeutung von Arbeit wird u.a. durch einen Blick auf die etymologische Entwicklung des Wortes deutlich. In neueren etymologi-
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schen Wörterbüchern wird die Herkunft von ›Arbeit‹ auf ein untergegangenes germanisches Wort mit der Bedeutung »verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdingtes Kind sein« (Duden 1989) zurückgeführt. Allgemeiner gesprochen wurde ›Arbeit‹ seit der Antike und bis zur Zeit der Umdeutung des Konzeptes in der Neuzeit meist in den Kontext einer unwürdigen, mühseligen Tätigkeit gesetzt und mit schwerer körperlicher Anstrengung und Plage verbunden. Bis in die bürgerliche Moderne suchten sich folglich freie Bürger bzw. die herrschenden gesellschaftlichen Klassen von Arbeit abzugrenzen, die zu einem großen Teil von Sklav_innen verrichtet wurde. Von der griechischen Antike bis ins Mittelalter hinein war die Muße im Gegensatz zur Arbeit eine wichtige Tugend (vgl. Stapelfeldt 2004: 73ff.). Aristoteles unterscheidet in seiner Politik zwischen Ökonomik, der Kunst der Haushaltsverwaltung, und Chrematistik, der Geldorientierung (vgl. Aristoteles, Politik: Kap. 8-10). Letztere wurde als naturwidrig und verwerflich angesehen. Der Soziologe und Kritische Theoretiker Gerhard Stapelfeldt analysiert die Unterscheidung zwischen Ökonomik und Chrematistik in Zusammenhang mit dem antiken Geist-Körper-Dualismus: In der aristotelischen Unterscheidung ziele Chrematistik auf unbegrenzten Reichtum, auf eine durch den Geist nicht begrenzte Bedürfnisbefriedigung. Ökonomik hingegen intendiere eine, durch den Geist beherrschte, begrenzte Bedürfnisbefriedigung. Stapelfeldt argumentiert, dass durch die ganze Antike und das Mittelalter hindurch Geld und Handel als tugendlos, gottlos und triebbestimmt angesehen und dementsprechend verachtet wurden (vgl. Stapelfeldt 2004: 81ff.). Max Weber fasst die allgemeine Abneigung gegenüber der Geldwirtschaft in seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie wie folgt zusammen: »Das aber ist es eben, was dem präkapitalistischen Menschen so unfaßlich und rätselhaft, so schmutzig und verächtlich erscheint. Daß jemand zum Zweck seiner Lebensarbeit ausschließlich den Gedanken machen könne, dereinst mit hohem materiellen Gewicht an Geld und Gut belastet ins Grab zu sinken, scheint ihm nur als Produkt perverser Triebe […] erklärlich.« (Weber 1988: 55)
Die Rolle der Arbeit sollte sich im Laufe der ökonomischen und politischen Rationalisierungen, die die Neuzeit durchzogen, ändern. Die Weiterentwicklung von Produktivkräften und die Unmöglichkeit einer Subsistenzproduktion in den wachsenden Städten führte, neben weiteren Faktoren, zur Aufhebung des Gegensatzes von Ökonomie und Geldwirtschaft (vgl. Stapelfeldt 2004: 109). Arbeit wurde mehr und mehr als moralisches Prinzip verinnerlicht (vgl. Mikl-Horke 2000: 5). Auch in der Kirche setzte sich eine andere Position zur Arbeit durch, die in einem Ethos gipfelte, welcher in der Arbeit die Möglichkeit sah, die Seele von Bedürfnissen des sündigen Leibes freizuhalten und durch Arbeit eine Vereinigung mit Gott zu erlangen. Erst nachdem sich, zuerst in
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der italienischen Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert und später darüber hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse weiter veränderten und sich eine neue Form der Ökonomie durchsetzte, veränderte sich auch die Haltung zu Geld und Handel. In der bürgerlichen Ökonomie wurde die Entgegensetzung von Ökonomik und Chrematistik aufgehoben. Die Wirtschaft ging von der Hausökonomie (der unmittelbar persönlichen Form) auf die Welt-Ökonomie (der abstrakt-allgemeinen Form) über. Geld wurde vom reinen Zirkulationsmittel zu Kapital, welches akkumuliert wurde. Waren wurden zu abstrakt-allgemeinen Kategorien und somit zu potenziell unendlichem Reichtum. Im Zuge der Säkularisierung ging die Unendlichkeit von Gott auf das Geld und auf den Logos einer quantifizierbaren Welt über. Die Entwicklung von abstrakter Geldrechnung und Buchführung stehen im Kontext einer Mathematisierung der Welt und einer Herrschaft des Logos. Die Veränderungen und Innovationen beruhten auf einer völlig neuartigen Weltauffassung und einer neuen Vorstellung eines tugendhaften Lebens (vgl. Stapelfeldt 2004: 122ff.). Die Rationalität der kaufmännischen Lebensweise drückte sich in einer neuen Tugend aus: der Arbeit. »›Arbeit‹ erhielt eine neue, eigene veränderte biblische Bedeutung: weniger als Fluch Gottes, der auf den Unterdrückten lastete, sondern als gottesähnliche Schöpfungstätigkeit. […] Diese neue Bedeutung von Arbeit war revolutionär: Galt zuvor die Welt als göttliche Schöpfung, der die Menschen sich zu integrieren hatten, um ihre Würde (dignitas) zu erlangen, so schufen sich die Menschen – gottesebenbildlich – nun ihre eigene Welt und hatten darin ihre Würde […], daß sie die göttliche Welt aus sich produzierten.« (Stapelfeldt 2004: 113, Herv. im Org.)
Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte war Arbeit nicht nur eine Tätigkeit der Unterdrückten, sondern auch eine Tätigkeit der Herrschenden. Arbeit wurde zur schöpferischen Tätigkeit, die dem gottesebenbildlichen Menschen angemessen ist (vgl. Le Goff 1990: 11). Wo früher Arbeit nur notwendiges Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und Geld nur allgemeines Äquivalent war, wurde sie nun zum Selbstzweck. Die neue Ökonomie war nicht mehr nur am Gebrauchswert orientiert, sondern am Tauschwert. Durch die fortschreitende Berechnung und Beherrschung der Welt entstand, so Stapelfeldt, eine neue ökonomische Subjektivität, die die Auflösung der alten Einheit von Subjekt und Objekt sowie von Mensch und Natur bedingte (vgl. Stapelfeldt 2004: 128). Durch die stärkere Bedeutung, die das Individuum bekam und über die Vorstellung einer Verantwortung, die die Einzelnen für die ökonomischen Handlungen und Prozesse innehaben, verschob sich auch die Bedeutung von Arbeit radikal. Die Leistungen der Einzelnen, also die individuelle und rationale Arbeit der Individuen, waren es nun, die eine Grundlage des Reichtums bildeten.
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»Das Revolutionäre der Umstellung der Ökonomie auf Geldorientierung wird erst deutlich, wenn diese im Kontext der gesamten kulturellen Revolution verstanden wird: allgemein der Mathematisierung der Welt (Raum, Zeit), der Arbeits-Moral, des asketischen Protestantismus, der Objektivierung der Welt und der Subjektivierung-Individuierung des Menschen, der Herrschaft einer überindividuellen Rationalität. Durch diese Revolution wurde ein neuer, unerhörter Anspruch erhoben: der Mensch vermag theoretisch die Welt zu erkennen und praktisch die Welt vernünftig zu erschaffen – der Mensch wurde gottähnlich.« (Stapelfeldt 2004: 133, Herv. im Org.)
Im Liberalismus schließlich ging diese ökonomische Rationalität, die zuerst nur die Sphäre der betriebswirtschaftlichen Ebene erfasst hatte, auch auf andere gesellschaftliche Bereiche über.
›A RBEIT‹
UND
A NTHROPOLOGIE
BEI
K ARL M AR X
Vor dem Hintergrund dieser eben dargestellten Verschiebungen der Bedeutung von Arbeit möchten wir nun die Arbeitskonzeption von Karl Marx in den Blick nehmen. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es leider nicht möglich, die geschichtliche Kontinuität weiter zu verfolgen und etwa die Konzeptionen der Klassischen Nationalökonomie zu untersuchen. Konkret auf Marx beziehen wir uns deshalb, weil er besonders eindrücklich die Frage nach der Konzeption von Arbeit mit der Konstruktion einer spezifischen und historisch wirkmächtigen Mensch-Tier-Grenze verknüpfte. Marx verhandelt verstärkt anthropologische Thematiken in seiner Arbeitskonzeption. Für ihn gibt es einen besonderen Zusammenhang von Arbeit und Spezies, konkreter von erschaffender Arbeit und ›dem Menschen‹. Er geht zwar von einer Kontinuität zwischen ›Mensch und Tier‹ aus und betrachtet die Geschichte als Teil der Naturgeschichte (vgl. Marx 1968b: 544), grenzt aber dennoch ›den Menschen‹ kategorisch von allen anderen Tieren ab. Wenn Marx im ersten Band des Kapitals die Frage nach der Arbeit stellt, dann geht es ihm nicht um die »tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit« (Marx 1968a: 192), sondern um eine Form der Arbeit, die von ihm als vom Verstand gesteuert, geplant und schöpferisch konzeptioniert wird. »Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn dessel-
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ben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.« (Marx 1968a: 193)
Marx argumentiert weiter, dass es nicht bloß um eine Formveränderung der natürlichen Gegenstände gehe, sondern dass die menschlichen Arbeitenden in den Dingen, die sie herstellen, ihren eigenen Zweck verwirklichen (vgl. ebd.). Für Marx sind ›Tiere‹ »Arbeitsmittel« (Marx 1968a: 194) und schließlich »in ihren jetzigen Formen Produkte einer durch viele Generationen unter menschlicher Kontrolle vermittelst menschlicher Arbeit fortgesetzten Umwandlung.« (Marx 1968a: 196) Das eine wird bei Marx ein Produkt der Arbeit, das andere wird zum Subjekt der Arbeit. Der omnipotent erschaffende Mensch wird hiermit in dualistischer Manier dem als Objekt der Produktion gedachten ›Tier‹ entgegengestellt. Noch deutlicher wird die erschaffende Kraft ›des Menschen‹ daran, dass laut Marx nur durch das »Feuer der Arbeit « (Marx 1968a: 198) ein Gegenstand einen Sinn und Zweck erhalte. Das Resümee, das Marx hieraus zieht, ist dann nur noch folgerichtig und eine klare Manifestation des Mensch-Tier-Dualismus: »Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite.« (Marx 1968a: 198f.). Eine weitere wichtige Figur, die Marx mit der menschlichen Arbeit verbindet und die ebenfalls bis heute den hegemonialen Diskurs um Konzeptualisierungen einer Mensch-Tier-Grenze prägt, ist die des Bewusstseins. Hier führt Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten einen weiteren Grenzziehungspunkt zwischen Menschen und nichtmenschlichen Individuen ein. »Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit.« (Marx 1968b: 516, Herv. im Org.) Mehr noch, durch die bewusste Lebenstätigkeit ›des Menschen‹ unterscheide ›er‹ sich unmittelbar vom ›Tier‹. Erst durch sie wird der Mensch zum »Gattungswesen« (ebd.). In der Absetzung des Bewusstseins oder Logos vom Körper reproduziert Marx den schon in der Antike vorherrschenden Körper-Geist-Dualismus, der in der Neuzeit durch die Einflüsse des cartesianischen Denkens weiter radikalisiert wurde. Marx inthronisiert den Logos und ist so in einer gewissen Kontinuität zu den Konzepten der bürgerlichen Aufklärung zu lesen. Aber wo liegen nun für Marx die konkreten Unterschiede zwischen der menschlichen und der tierlichen Tätigkeit? »Zwar produziert auch das Tier. […] Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von demselben […]. Das Tier formiert nur nach
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dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß […].« (Marx 1968b: 517)
Die Produktion ›des Menschen‹ stellt ihn folglich bei Marx auf die Seite der Kultur im Kultur-Natur-Dualismus. Nur ›er‹ allein könne sie schaffen und verändern, könne sich ein Leben in einer von ›ihm‹ selbst geschaffenen Umwelt erschaffen. Nur Menschen produzierten indirekt ihr materielles Leben selbst (vgl. Marx 1969b: 21). Die Folge daraus ist, laut Marx, dass einzig und allein ›der Mensch‹ durch sein Handeln fähig sei, Geschichte hervorzubringen. Die Form, in der Marx hier das Potenzial der Arbeit hervorhebt, lässt sich mit den vorher angeführten Analysen von Stapelfeldt zusammenbringen. In der entstehenden liberalen Epoche wird qua ›Arbeit‹ eine transzendentale Subjekthaftigkeit a priori in ›den Menschen‹ implantiert. Menschen werden als erschaffende Wesen theoretisiert. Ihre Handlungsmacht, die der Form der Macht entspricht, die früher lediglich Gott zugesprochen wurde, tritt durch Arbeit in die Welt und verändert diese nach dem Zwecke ›des Menschen‹. Marx setzt auf der Vorstellung vom transzendentalen Subjekt an, auch wenn er sich selbst davon abgrenzt, indem er andernorts beispielsweise vom Menschen als »ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse« (Marx 1969a: 6) spricht. Durch die Konzeptionalisierung von Arbeit als dieser nahezu omnipotenten Kraft übernimmt Marx allerdings die bürgerlichen Subjektvorstellungen und bringt sie auf eine materialistische Basis. So wird nicht nur der Idealismus vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern auch die zentrale Figur bzw. das zentrale Konstrukt ›des Menschen‹. Marx’ wichtige materialistische Intervention, die in der Betonung der gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse als Einschränkung der Freiheit des Menschen besteht, darf nicht verkannt werden und stellt, unserer Ansicht nach, einen wichtigen Impuls für eine kritische Beschäftigung mit allen gesellschaftlichen Verhältnissen dar. Allerdings ist es zwar ein nicht völlig transzendentes Subjekt, das bei Marx arbeitet und die Welt erschafft bzw. verändert, aber es hat den Schatten einer autonomen Transzendenz und einer omnipotenten Gottesebenbildlichkeit – Implikationen, die kritisch zu hinterfragen sind. Damit gibt es, wie skizziert, bei der Frage, inwiefern sich Menschen von nichtmenschlichen Tieren unterscheiden, interessante Parallelen zwischen der Marx’schen und der klassisch bürgerlich humanistischen Analyse. Das arbeitende Subjekt hat – nicht nur bei Marx – definitiv göttliche Züge.
K RITIK
AN ANDROZENTRISCHEN
A RBEITSKONZEP TIONEN
Die Konzeptionierungen von Arbeit, wie sie sowohl von Marx selbst als auch von marxistischen wie bürgerlichen Ökonomen vertreten wurden und werden, zeigen eine Reihe von Ausblendungen auf, die von der frühen Frauen-
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forschung und der Frauenbewegung herausgearbeitet wurden. Wir möchten hier die feministische Kritik an diesen Arbeitskonzepten darlegen, da diese es vermochte, Ausblendungen des hegemonialen Konzeptes in postindustriellen Gesellschaften aufzuzeigen: Denn die Fokussierung auf Erwerbsarbeit klammert die eine Hälfte der von Menschen geleisteten und zur Reproduktion der Arbeitenden und der Gesellschaft notwendigen Tätigkeiten aus. Die Kritik zeigt zudem auf, dass der Arbeitsbegriff keine neutrale Begrifflichkeit darstellt, sondern in gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse eingebunden ist und nicht jenseits von diesen verstanden werden kann. Des Weiteren möchten wir in einem der folgenden Kapitel Möglichkeiten aufzeigen, eine auf die feministische Kritik auf bauende speziessensible Kritik an den hegemonialen Arbeitskonzepten zu entwickeln. Die feministische Kritik am »männlich geprägten Arbeitsbegriff[.]« (Becker-Schmidt 2008: 66) wurde in der Bundesrepublik (und wir beziehen uns hier lediglich auf die dort geführte Debatte) in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt. Damit kam sie zu Beginn der bundesdeutschen institutionalisierten Frauenforschung auf. Die Haus- und Fürsorgearbeit war bis dahin im öffentlichen Bewusstsein kaum beachtet und auch in ihrem ökonomischen Wert kaum wahrgenommen worden. Die aufkommende Frauenforschung zeigte die Zusammenhänge zwischen der Ausblendung und Abwertung der Hausund Fürsorgearbeit mit der allgemeinen Abwertung von ›weiblicher Arbeit‹ auf. Sie kritisierte beispielsweise die Marx’sche Arbeitskonzeption sowie die weitgehende Ausblendung der (keinen Mehrwert erzeugenden und damit vom Standpunkt des Produktionsprozesses aus betrachtet unproduktiven) Hausund Fürsorgearbeit in den Theorien Marx’ und Engels’ (vgl. Haug 2006: 93). Zu den bedeutendsten Ansätzen und Debatten der Zeit zählen das Theorem der doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 2008), die Debatte um Lohn für Hausarbeit (Dalla Costa/James 1971) sowie der Bielefelder Subsistenzansatz (Bennholdt-Thomsen/Mies/Werlhof 1992a), den wir aufgrund seines Potenzials für eine speziessensible Weiterentwicklung beispielhaft skizzieren möchten. Der Bielefelder Subsistenzansatz bezeichnet die Forschungsarbeiten von Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen, Claudia von Werlhof u.a. zu den Zusammenhängen von Arbeit, Kolonisierung, Geschlecht, Patriarchat und Kapitalismus. Zur Erklärung dieser Zusammenhänge entwickelte Maria Mies das Konzept der »Hausfrauisierung«. ›Die Hausfrau‹ begreifen Mies, Bennholdt-Thomsen und Werlhof »als Paradigma der Ausbeutung im Kapitalismus« (Bennholdt-Thomsen/Mies/Werlhof 1992a: 85) und stellen sich damit gegen marxistische Theorien, die den Lohnarbeiter an ebendieser Stelle verorten. Sie betrachten die »Hausfrauisierung« als einen bedeutenden Prozess, der zu einer Höherbewertung der Arbeit von ›Männern‹ geführt habe, während die Arbeitskraft von ›Frauen‹ und Kolonisierten abgewertet und als Natur-
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ressource betrachtet würde. Diese Abwertung der Arbeit von Individuen oder Gruppen bzw. die Nicht-Anerkennung ihrer Tätigkeiten als Arbeit (wie sie für die Haus- und Fürsorgearbeit und die Subsistenzproduktion konstatiert wurden) geht – einen positiv konnotierten Arbeitsbegriff voraussetzend – mit einer Abwertung der diese Tätigkeiten leistenden Individuen oder Gruppen einher. Der Bielefelder Ansatz weist jedoch essenzialistische Züge auf, zum Beispiel wenn die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mit den (körperlichen) Differenzen zwischen Frauen und Männern erklärt wird (vgl. Mies 1992: 169ff.) und dabei bestimmte gesellschaftliche Faktoren ausgeblendet werden. Neben Versuchen einer Aufwertung von Hausarbeit – als gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeit oder als in die Produktionsverhältnisse eingebundener produktiver Arbeit (vgl. Winker 2007: 17) – bemühten sich Teile der Frauenforschung und -bewegung darum, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung entgegenzuwirken. Ebenso wurden auch die mit dieser Arbeitsteilung in engem Zusammenhang stehenden Natürlichkeitsargumentationen und Geschlechterstereotypisierungen von den Frauenforscher_innen hinterfragt (vgl. Geissler 2012: 214). In diesem Kontext kam auch die Debatte um die »joint production« (Fenstermaker 2002: 110) von (Haus- und Fürsorge-)Arbeit und Geschlecht auf, die zunächst in den USA, später auch im deutschsprachigen Raum geführt wurde (vgl. Wetterer 2012: 44f.). Erkenntnisse, wie zum Beispiel, dass die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Arbeitstätigkeiten flexibel sind und geschichtlichen Veränderungen unterliegen, dass also nahezu jede Tätigkeit zur ›Männer-‹ oder ›Frauenarbeit‹ werden kann, führten zu einer Kritik an dem ebenfalls innerhalb der frühen Frauenforschung aufgekommenen Konzept weiblichen Arbeitsvermögens (Ostner 1978). Zudem führten die genannten Forschungsergebnisse zu der Auffassung, dass »Geschlecht […] nicht nur eine Ressource der arbeitsteiligen Strukturbildung und Statusdistribution [sei], sondern die Arbeitsteilung […] ihrerseits eine Ressource der Geschlechterkonstruktion« (Wetterer 2012: 45). Die eben dargestellte Kritik an androzentrischen Konzeptionalisierungen von Arbeit werden wir später wieder aufgreifen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, sie für eine Kritik am in diesen ebenfalls inhärenten Anthropozentrismus fruchtbar zu machen.
A NSÄTZE DER I NKLUSION VON NICHTMENSCHLICHEN I NDIVIDUEN IN DIE K ONZEP TIONALISIERUNGEN VON A RBEIT Neben den bereits vorgestellten Arbeitskonzepten, die eine Fassung der Tätigkeiten von ›Tieren‹ unter den Arbeitsbegriff konzeptuell ausschließen, gibt es auch Arbeitskonzepte, die ›Tiere‹ explizit mit eindenken. Bevor wir zwei von diesen Konzepten beispielhaft vorstellen, möchten wir jedoch zunächst auf
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die Unterschiede zwischen dem alltagssprachlichen Gebrauch des Terminus Arbeit und philosophischen oder ökonomischen Arbeitskonzepten hinweisen. Daran anschließend möchten wir einige allgemeine Überlegungen zu nichtmenschlichen Tieren und ihren Tätigkeiten sowie den im alltäglichen Gebrauch herangezogenen menschlichen Kategorisierungen dieser Verrichtungen voranstellen. Die Differenz zwischen alltäglichem Gebrauch und philosophisch-ökonomischem Konzept wird beispielsweise bei Marx deutlich, der – wie weiter oben bereits dargelegt – entgegen der alltagssprachlichen Bezeichnung von Bienen als arbeitenden Tieren lediglich menschliche Tätigkeiten als ›richtige Arbeit‹ definiert, auch wenn er bei nichtmenschlichen Tieren durchaus rudimentäre Formen von Arbeit zu erkennen meint (vgl. Marx 1968a: 193). Der anarchistische Ökonom Pierre-Joseph Proudhon Mitte des 19. Jahrhunderts grenzt sich noch weitaus stärker von dieser Alltagsdefinition der ›arbeitenden Tiere‹ ab: »[...] der Mensch allein arbeitet, weil allein er seine Arbeit begreift und mit Hilfe seines Bewusstseins seine Vernunft bildet. Die Tiere, die wir bildlich Arbeitende nennen, sind nur Maschinen unter der Hand eines der beiden gegensätzlichen Schöpfer, Gottes und des Menschen.« (Proudhon 2003: 428, zit.n. Voß 2010: 36) Nichtmenschliche Tiere vollbringen verschiedene Formen von Tätigkeiten, bei denen sich jeweils die Frage stellt, ob sie als Arbeit gedacht werden oder nicht und was die Implikationen eines solchen Ein- oder Ausschlusses sind. Zu nennen sind hier zum einen Tätigkeiten innerhalb der eigenen (zum Teil hoch komplexen) Kooperationsformen nichtmenschlicher Tiere, zu denen zum Beispiel Nestbau, Nahrungsmittelbeschaffung, Aufzucht des Nachwuchses oder auch Pilzzucht und Domestizierung anderer Spezies zählen1. Zum anderen sind hier Tätigkeiten zu nennen, die von nichtmenschlichen Tieren innerhalb menschlicher Gesellschaften für Menschen durchgeführt werden. Diese Tätigkeiten weisen wiederum Unterschiede zueinander auf, anhand derer eine alltagssprachliche Grenze zwischen ›Arbeit‹ und ›Nicht-Arbeit‹ gezogen wird. ›Arbeit‹ ist hier all jenes, was sogenannte Arbeitstiere leisten, deren Sinne, Ausdauer, Intelligenz, körperliche Kraft und/oder Beweglichkeit für Menschen nutzbar gemacht werden. Bei sogenannten Nutztieren, wie ›Milchkühen‹, ›Legehennen‹ oder ›Laborratten‹, die nach hegemonialem Verständnis keine Arbeit verrichten, werden hingegen die Körper der ›Tiere‹ an sich bzw. Teile oder Produkte ihrer Körper (Eier, Milch, Wolle etc.) als Produkte verwertet und verkonsumiert (zur Definition von ›Nutztieren‹ vgl. TierSchNutztV 2012: Abschnitt 1, §2, Punkt 1). Jedoch geht auch die Benennung als ›Arbeitstiere‹ keinesfalls zwangsläufig mit einer Anerkennung der hiermit beschriebenen nichtmenschlichen Individuen als Arbeitende und ihrer Tätigkeiten als 1 | Pilzzucht und Domestizierung anderer Spezies finden sich z.B. bei verschiedenen Ameisenarten (vgl. hierzu Falvey 1988: 8; Lochmann 2008: 162).
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Arbeit einher. Dies wird u.a. bei Marx deutlich, der ›Arbeitstiere‹ weniger als Arbeitende, sondern eher als »Arbeitsmittel« und als »Produkte« menschlicher Arbeit begreift (vgl. Marx 1968a: 193ff.). Doch es lassen sich noch weitere Tendenzen aufzeigen, die mit der menschlichen Kategorisierung nichtmenschlicher Individuen in ›Nutztiere‹ und ›Arbeitstiere‹ in Zusammenhang stehen: Zum einen werden ›Arbeitstiere‹ durch menschliches Eingreifen (Ausbildung, Belohnungen, Zwangsmittel) dazu gebracht, aktiv etwas für Menschen zu tun. Dadurch werden sie als aktiver wahrgenommen als sogenannte Nutztiere, deren Tätigkeiten nach dem hegemonialen Arbeitsbegriff zum einen nicht als Arbeit verstanden werden und denen zum anderen nach hegemonialem Verständnis eine Passivität zugeschrieben wird. Hier werden Parallelen zur feministischen Diskussion um Produktion und Reproduktion und damit einhergehenden Arbeitskonzepten erkennbar. ›Arbeitstiere‹ übernehmen Aufgaben, die menschlichen Lohnarbeitsverhältnissen näher sind als dies bei den Tätigkeiten sogenannter Nutztiere der Fall ist. So kommen auch Katja Wilkeneit und Bärbel Schulz im Anschluss an eine empirische Untersuchung zu Hunden in der Erwerbsarbeit der Dienstleistungsgesellschaft zu dem Schluss, dass die Arbeit von Hunden »hinsichtlich der Bedingungen und Merkmale der menschlichen Arbeit durchaus vergleichbar [ist]« (Wilkeneit/Schulz 2013: 161). Laut Sue Donaldson und Will Kymlicka, den Autor_innen der 2011 erschienenen Monografie Zoopolis, wird die Kategorisierung in ›Nutztiere‹ und ›Arbeitstiere‹ daran festgemacht, dass im Fall der ›Nutztiere‹ »humans benefit from using animals engaged in doing what they do naturally [whereas] [a] different form of use involves training animals to perform various kinds of work for humans« (Donaldson/Kymlicka 2011: 13). Nach dieser Kategorisierung müssten allerdings auch nichtmenschliche Tiere, die zu Unterhaltungszwecken im Sport oder in Zirkussen2 genutzt werden, als ›Arbeitstiere‹ betrachtet werden, was selten der Fall ist. Die Unterscheidung verdeutlicht jedoch einmal mehr die enge Verbindung zwischen dem Natur-Kultur-Dualismus und der Konzeptionierung von Arbeit.
Die feministische Kritik weiterdenken … Kommen wir noch einmal auf die bereits dargelegte feministische Kritik am Arbeitsbegriff zurück. Was bedeutet – neben dem Aufzeigen von Ausblendungen und der Verdeutlichung einer Einbindung des Begriffs in gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse – die feministische Kritik am männlich geprägten Arbeitskonzept für eine speziessensible Betrachtung des Konzeptes, wie wir
2 | Zur Rolle von ›Tieren‹ und Mensch_Tier-Verhältnissen im Zirkus vgl. Rosen 2012.
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sie in diesem Beitrag vornehmen möchten? Und was bedeutet die Kritik für die Grenze, die zwischen ›dem Menschen‹ und ›dem Tier‹ gezogen wird? Interessant ist zunächst, dass die Vertreter_innen der feministischen Kritik die gesamtgesellschaftliche Arbeit mit einbeziehen möchten (vgl. Aulenbacher/Wetterer 2012a: 7), jedoch die von nichtmenschlichen Tieren geleistete Arbeit durch das Fortbestehen eines Fokus auf menschliche Arbeit nach wie vor nicht berücksichtigen. Dabei werden, wie bereits erläutert, die Tätigkeiten von sogenannten Arbeitstieren in menschlichen Gesellschaften (sowie die Tätigkeiten gesamter Spezies) ähnlich wie unbezahlte Haus- und Fürsorgearbeit alltagssprachlich oft als Arbeit beschrieben, ohne dass sie in hegemoniale ökonomische oder philosophische Konzepte als eine solche einbezogen würden. Auch lassen sich bei den genannten tierlichen Tätigkeiten – ebenso wie auch im Bereich des Reproduktiven – Parallelen zwischen menschlichen Tätigkeiten und jenen nichtmenschlicher Individuen ziehen. Der Fokus lag jedoch in klassischen philosophischen Konzepten auf der Herstellung anthropologischer Differenz – eine Traditionslinie, die im Feminismus beibehalten wurde. Anstatt also Parallelen zu Tätigkeiten von ›Tieren‹ anzuerkennen und sich lediglich gegen die damit verbundene Abwertung der Tätigkeiten zu richten, wurde gerade ein Ziehen solcher Parallelen zwischen den Tätigkeiten von Menschen und nichtmenschlichen Tieren von feministischen Wissenschaftlerinnen kritisiert. Ziel der feministischen Wissenschaft war es folglich, die Grenze zwischen ›Arbeit‹ und ›Nicht-Arbeit‹ zu verschieben: Alle menschlichen Tätigkeiten neben der Erwerbsarbeit, die gesellschaftlich notwendig oder bedeutsam sind (z.B. zur Reproduktion der Lohnarbeitenden) sollten nun als ›Arbeit‹ anerkannt werden. Allerdings wurden all jene Tätigkeiten, die von nichtmenschlichen Individuen geleistet werden, weiterhin ausgeklammert. Damit kam es zu einer Aufrechterhaltung und zum Teil sogar zu einer Verschärfung der Grenzziehung zu ›Tieren‹ anhand der Kategorie Arbeit. Dabei wurden ›Tiere‹ nun als Repräsentant_innen der ›Natur‹ verstanden, von denen Frauen abgegrenzt werden sollten. So möchten beispielsweise Bennholdt-Thomsen und Mies die Aktivitäten von Frauen beim Gebären und Nähren von Kindern als Arbeit verstanden wissen (vgl. Bennholdt-Thomsen 1992: 201f., Mies 1992: 165ff.): »Es ist eines der größten Hindernisse für die Frauenemanzipation, daß diese Aktivitäten als rein biologische Funktionen interpretiert werden, vergleichbar denen von anderen Säugetieren und daher außerhalb eigener, bewußter Steuerung. Diese Gleichsetzung der Produktivität des weiblichen Körpers mit animalischer Fruchtbarkeit ist jedoch ein Resultat patriarchalischer Arbeitsteilung, nicht aber ihre Voraussetzung.« (Mies 1992: 170, Herv. im Org.)
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An Mies’ wichtigem Einwand gegen die gängige Ausblendung des Gebärens und Nährens von Kindern aus Arbeitskonzepten ist zu problematisieren, dass sie in dem Versuch, Frauen aus der Zuordnung zur Sphäre der Natur zu befreien, den Fokus auf die Unterschiede zwischen menschlichen und nichtmenschlichen reproduktiven Tätigkeiten legt, anstatt Gemeinsamkeiten anzuerkennen. So versucht sie die Aufwertung weiblicher reproduktiver Tätigkeiten durch die Abgrenzung von tierlichen zu erreichen, die weiterhin (als Nicht-Arbeit) abgewertet werden. Sie versteht Arbeit folglich als eine rein menschliche Kategorie, die weniger mit den vollbrachten Tätigkeiten als mit dem (bewussten) geistigen Zustand – den sie nichtmenschlichen Individuen abspricht –, unter dem sie vollbracht werden, in Zusammenhang steht. Hier lassen sich Parallelen zu anderen Arbeitskonzepten ziehen, wie z.B. zum Marx’schen Arbeitskonzept, in dessen Abgrenzung bzw. Erweiterung Mies ihre Definition von Arbeit entwickelt. Wie lässt sich die feministische Kritik jedoch weiterdenken, wenn sie für eine kritische Analyse der Mensch_Tier-Verhältnisse produktiv gemacht werden soll? Zunächst einmal lässt sich die feministische Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff und seinen gesellschaftlichen Implikationen für eine Beschäftigung mit Mensch_Tier-Verhältnissen und den Tätigkeiten von ›Tieren‹ heranziehen. So werden innerhalb der Logik des Natur-Kultur-Dualismus selbstredend nicht nur Frauen sowie Haus- und Fürsorgearbeit auf der Seite der Natur angesiedelt und damit abgewertet, sondern ebenso nichtmenschliche Tiere und deren Tätigkeiten. Zudem wird auch der tierliche Beitrag zur menschlichen Ökonomie in heutigen Gesellschaften als Naturressource angesehen; die tierliche Arbeit und die tierlichen Individuen werden sich dementsprechend angeeignet. Bei einer Analyse dieser Naturalisierungs- und Aneignungsprozesse ließe sich ebenfalls an die Forschung von Vertreterinnen des Bielefelder Subsistenzansatzes anknüpfen. Sowohl ein Großteil der hegemonial als Arbeit bezeichneten Tätigkeiten von nichtmenschlichen Tieren in menschlichen Gesellschaften als auch weitere Formen der Ausbeutung tierlichen Lebens, z.B. innerhalb der ›Nutztierhaltung‹, können damit als nicht anerkannte, nicht bezahlte und nicht honorierte Grundlage menschlicher Ökonomien betrachtet werden. Der Mehrwert, der durch sie entsteht, wird nicht ihnen zugemessen, sondern dem vermeintlich einzig aktiven Teil in diesen Prozessen: ›dem Menschen‹ und der menschlichen Ökonomie. Es kommt zu einer Unsichtbarmachung der ›Tiere‹ als aktiv Beteiligte. Dies lässt sich etwa am Beitrag der Arbeit von Pferden an der Urbanisierung und Industrialisierung verdeutlichen (vgl. McShane/Tarr 2010; Hribal 2007) oder an dem, was sogenannte Nutztiere in menschlichen Gesellschaften leisten. Weiterhin lassen sich auch in der Ausbeutung von ›Nutztieren‹ in »tierindustriellen Komplexen« (Noske 2008: 55ff.) Merkmale erkennen, die diese als
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beispielhaft für kapitalistische Ausbeutung erkennbar werden lassen. Denn diese sind wie die Lohnarbeiter_innen in die kapitalistische Ökonomie eingebettet und an der Erwirtschaftung von Mehrwert direkt beteiligt, ihnen wird jedoch im Gegensatz zu diesen nicht einmal ›freie Zeit‹ in Form von Feierabend, Wochenende, Urlaub oder Rente gewährt. Es handelt sich also um Ausbeutung und »Produktion rund um die Uhr« (Noske 2008: 48f.). Ferner sind die ›Tiere‹ nicht nur 24 Stunden am Tag in die menschliche Ökonomie eingebunden, auch werden ihre Körper über biopolitische Maßnahmen (vgl. Wirth 2012: 66ff.) den ökonomischen Erfordernissen angepasst. Diese körperlichen Veränderungen werden meist durch Züchtungen oder durch menschliche Eingriffe in den tierlichen Körper nach der Geburt, z.B. durch das Stutzen der Flügel oder das vollständige Entfernen von Körperteilen wie Schwänzen oder Hoden, sichergestellt sowie mittlerweile auch vermehrt durch technische oder gentechnische Eingriffe. Ebenso wird ihre Fortpflanzung vollständig von Menschen kontrolliert und den ökonomischen Anforderungen unterworfen. Letztendlich wird auch noch nach ihrem Tod aus ihren Körpern Profit gezogen. Die Körper der ›Nutztiere‹ in den bestehenden »tierindustriellen Komplexen« werden also so weit, so vollständig und so total wie es im Rahmen der derzeitigen Möglichkeiten liegt, der kapitalistischen Ökonomie unterworfen. Angelehnt an die seit den 1970er Jahren innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung geführte Diskussion um die »joint production of labor and gender« lässt sich zudem die Frage aufwerfen, ob nicht das, was als ›das Tier‹ gedacht wird, auch durch die Art und Weise der Einbindung nichtmenschlicher Individuen in die menschliche Ökonomie hergestellt wird. Denn ähnlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die bestimmte a priori vorausgesetzte Eigenschaften oder Fähigkeiten von Frauen und Männern erst produziert bzw. verstärkt, trägt die Art der Einbindung von ›Tieren‹ in die menschliche Ökonomie auch zur Verstärkung und damit vermeintlich zur Bestätigung der a priori vorausgesetzten Eigenschaften von ›Tieren‹ (z.B. Abhängigkeit, Passivität) bei.
›Tiere‹, agency 3 und Klasse bei Jason Hribal Der Historiker Jason Hribal wendet die Methode bzw. Analyseform der Geschichte von unten an, um der aktiven Rolle nichtmenschlicher Individuen in 3 | In neueren Debatten um Handlungsfähigkeit oder Handlungsmacht von nichtmenschlichen Tieren wird oftmals der Begriff agency zur Bezeichnung von Handlungspotenzial verwendet (vgl. u.a. Mc Farland/Hediger 2009; Weil 2012: 53ff.). Agency impliziert die Fähigkeit, Entscheidungen treffen zu können, die sowohl Menschen als auch nichtmenschliche Tiere innehaben. Hierbei ist sowohl bei Menschen als auch bei nichtmenschlichen Tieren von einem Konglomerat an Einflüssen und Faktoren auszugehen, das Entscheidungen bedingt. Der Fokus auf die agency nichtmenschlicher In-
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der menschlichen Geschichte sowie den Auswirkungen von Prozessen der menschlichen Geschichte auf das Leben von ›Tieren‹ nachgehen zu können. Diese Methode beinhaltet ein Einnehmen der Perspektive der geschichtlich unter- bzw. nicht repräsentierten Gruppe – hier also die der nichtmenschlichen Tiere. Zudem legt die Methode einen Fokus auf die Faktoren agency und Klasse (vgl. Hribal 2007: 102). Hribal betont folglich in seinen Arbeiten die Aktivität nichtmenschlicher Tiere, die in ihrer Arbeit, aber auch in ihrem Widerstand zu finden ist, sowie die Bedeutung der Kategorie Klasse für die Geschichte nichtmenschlicher Individuen in menschlichen Gesellschaften. Hribal begreift in die menschliche Ökonomie eingebundene nichtmenschliche Individuen als Arbeiter_innen. Dieses Verständnis ist ebenfalls durch seine Methode vermittelt. Denn die passive Rolle, die ›Tieren‹ oftmals zugesprochen wird, wenn sie als Besitztümer verhandelt werden, entspringt nicht den nichtmenschlichen Individuen selbst: »Animals do not ›naturally‹ become private property […]. Rather, there is an active history here – one of expropriation, exploitation, and resistance. […] [W]hen we consider this situation from the sheep’s, cow’s, horse’s or pig’s perspective, they are not living commodities or ›the means of production‹.« (Hribal 2003: 436, Herv. im Org.)
Er begreift die in die Ökonomie eingebundenen nichtmenschlichen Individuen folglich als aktive Wesen innerhalb der sich dort vollziehenden Prozesse und somit als Arbeitende und – in die kapitalistische Ökonomie eingebundene – Produzierende: »[…] Chickens produced the egg industry. Pigs and cattle produced the flesh industry. This was the labor of reproduction […].« (Hribal 2007: 105) Den aktiven Beitrag von ›Tieren‹ innerhalb der miteinander verwobenen Geschichte von Menschen und anderen Tieren beschreibt Hribal auch, wenn er z.B. die Geschichte der Industrialisierung erzählt, dabei aber Pferde als aktiv Handelnde mit berücksichtigt (vgl. Hribal 2007) oder wenn er eine Geschichte des Widerstandes von ›Tieren‹ nachzeichnet (vgl. Hribal 2011). Durch seinen Fokus auf widerständige Handlungen nichtmenschlicher Tiere erkennt er beispielsweise, dass alle von dem Anthropologen James C. Scott als »weapons of the weak« (Scott 1987, zit.n. Hribal 2007: 103) bezeichneten Handlungen auch von nichtmenschlichen Tieren bereits genutzt wurden, um sich
dividuen ermöglicht auf der einen Seite die Anerkennung nichtmenschlicher Handlungen und Handlungsmacht. Mit der Betonung der Kontinuität zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren können auf der anderen Seite als rein menschlich gedachte Attribute, wie die autonome, von diversen Einflüssen freie Handlungsfähigkeit ›des Menschen‹, in Frage gestellt werden.
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gegen menschliche Gefangenhaltung, Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr zu setzen: »Donkeys have ignored commands. Mules have dragged their hooves. Oxen have refused to work. Horses have broken equipment. Chickens have pecked people’s hands. Cows have kicked farmers’ teeth out. Pigs have escaped their pens. Dogs have pilfered extra food. Sheep have jumped over fences. Furthermore, each of these acts of resistance has been fully recognized by the farmer, owner, driver, supervisor, or manager as just that: acts of resistance.« (Hribal 2007: 103, Herv. im Org.)
Der von Hribal eingenommene Blickwinkel eröffnet ihm Horizonte des Weiterdenkens und bietet ihm Möglichkeiten, die hegemoniale Geschichtsschreibung auf ihre Ausblendungen hin zu hinterfragen. Allerdings lässt sich der Versuch, die Perspektive der jeweiligen nichtmenschlichen Individuen einzunehmen, welcher für Hribals Ansatz fundamental ist, selbstredend nie vollständig durchführen, da wir die Situation eines anderen (sei es ein menschliches, sei es ein nichtmenschliches Wesen) nie ganz erfassen können. Bei ›Tieren‹ fehlt zudem noch eine gemeinsame Sprache und die Verschriftlichung, die das Vorhaben zusätzlich erschweren. Letzteres ist allerdings auch bei subalternen Gruppen eine sicher nicht ganz einfache Aufgabe, der sich (Geschichts-)Wissenschaftler_innen stellen müssen. Den Versuch gar nicht erst zu unternehmen, kann jedoch nicht die Antwort sein. Ebenso wenig darf die oftmals anzutreffende Vorgehensweise, jeden Versuch eines Einfühlens in nichtmenschliche Individuen als Anthropomorphismus abzutun, getrennt von den menschlichen Vorteilen und Privilegien betrachtet werden, die durch eine rein naturalistische Sichtweise auf ›Tiere‹ sichergestellt werden können. Eine Unterscheidung in »naiven« und »reflektierten Anthropomorphismus«, wie sie der Literaturwissenschaftler Bernd Hüppauf in seiner Monographie zur Kulturgeschichte ›des Frosches‹ vornimmt (vgl. Hüppauf 2011: 27), erweist sich als die geeignetere Herangehensweise um zwischen sentimentaler, unreflektierter Übertragung menschlicher Sicht- und Lebensweisen und einem kritisch-reflektierenden Einfühlen in nichtmenschliche Individuen zu unterscheiden. Neben seinem Fokus auf agency kommt Hribal dem Schwerpukt auf die Kategorie ›Klasse‹ u.a. dadurch nach, dass er in die menschliche Ökonomie eingebundene nichtmenschliche Tiere als »members of the working-class« (Hribal 2006) theoretisiert. Dieser Einbezug von Nichtmenschlichem in eine bislang als rein menschlich definierte Gruppe ist mit dem Einnehmen einer intersektionellen Perspektive eng verbunden, die die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen und anderen Tieren als miteinander verwoben erkennt. So beleuchtet Hribal auch die Zusammenhänge zwischen dem Entstehen der Arbeiterklasse und dem Aufkommen der Tierrechtsbewegung (vgl.
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Hribal 2003: 452). Hribal identifiziert folglich Überschneidungen zwischen emanzipatorischen menschlichen sozialen Kämpfen und der Tierrechtsbewegung, wie sie auch von anderen Autor_innen empirisch belegt werden (vgl. Roscher 2009, Brucker 2010, Rosen 2011). Seine Erkenntnisse bezieht Hribal auch auf gegenwärtige Gesellschaften und zeigt hier am Beispiel von service dogs die Konsequenzen auf, die es hat, dass nichtmenschliche Individuen auch heute meist nicht als Arbeitende anerkannt werden. So merkt er an: »These dogs may work, but they are not considered to be workers.« (Hribal 2006) Er kritisiert hier die fehlende Anerkennung (sowohl ideeller als auch materieller Art, u.a. in Form von Zugeständnissen wie arbeitsfreien Zeiten) für die Arbeit dieser ›Tiere‹ (vgl. Hribal 2006). Was auch immer von dieser Form der ›Anerkennung‹ von tierlicher Arbeit zu halten ist, Hribals intersektionelle Perspektive, die aus seinem Anliegen, nichtmenschliche Tiere als Teil der Arbeiterklasse zu begreifen, zumindest implizit hervorgeht, erweist sich in Bezug auf in die kapitalistische Produktion eingebundene nichtmenschliche Tiere als produktiv. Denn ähnlich wie sich bei Arbeiterinnen zumindest die in Klassenverhältnissen und Geschlechterverhältnissen inhärenten Diskriminierungen miteinander verbinden – die Patricia Hill Collins u.a. zusammen mit der Kategorie race als »interlocking systems of oppression« (Collins 1989; Tisdell 1993 u.a.) beschrieben haben –, kommt es bei nichtmenschlichen Tieren, die in die Ökonomien menschlicher Gesellschaften eingebunden sind, zu Überkreuzungen (intersections) der in Klassenverhältnissen und Mensch-Tier-Verhältnissen inhärenten Diskriminierungen. Geschlechterverhältnisse stellen auch hier eine weitere Kategorie dar, die mit den anderen Kategorien zusammen eine neue Form der Unterdrückung bilden können. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die reproduktiven Fähigkeiten weiblicher ›Tiere‹ für den Menschen nutzbar gemacht werden. Ein weiteres Beispiel für eine Relevanz der Kategorie Geschlecht ist die Praxis des ›Sexens‹, bei der männliche Küken direkt nach der Geburt getötet werden, da sie aufgrund ihres Geschlechts für die eierproduzierende Industrie keinen Wert haben und, so die Agrarwissenschaftlerin und Tierschutzexpertin Sabine Petermann, »eine ökonomisch sinnvolle Mast der männlichen Leger [...] nicht möglich [ist]« (Petermann 2006: 55). Für eine eingehendere Analyse des Zusammenwirkens von Diskriminierungen in Mensch-Tier-Verhältnissen sollte auf Erkenntnisse aus der Intersektionalitätsforschung zurückgegriffen werden, die in ersten Ansätzen bereits auf die Einbeziehung von Mensch-TierVerhältnissen hin erweitert wurde (vgl. hierzu Gamerschlag 2011).
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Donna Haraways speziesübergreifende Konzeption von Arbeit Eine Verschiebung in den Definitionen von Arbeit und damit verbunden auch eine Kritik an hegemonialen Denkweisen von klassischen dualistischen Strukturen nimmt auch die feministische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway vor. Ihre Intervention in anthropozentrische und androzentrische Verhältnisse und ihre direkte Kritik an den klassischen Dualismen wie Mensch/Tier, Kultur/Natur, Subjekt/Objekt etc. verbinden sich zu einem wissenschaftlichen und politischen Projekt, das die »maskulinistische Struktur der Menschheitsgeschichte« (Haraway 2006b: 100) zu dekonstruieren sucht. Dabei hält Haraway, wie sie mehrfach konstatiert, eine blasphemische Treue zur marxistischen Kritik, die aber stets beinhaltet, sich »Lebensformen nicht-menschlicher Wesen – Maschinen wie auch Organismen – mit einer lebendigeren Begrifflichkeit zu[zu]wenden als der, die wir vom Baum des Darwinismus oder Marxismus abernten« (Haraway 2006b: 101). Der toten Form, die nach Marx alle Dinge haben, die nicht vom »Feuer der Arbeit« erfasst wurden, stellt Haraway, in Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie, eine Welt von aktiven Entitäten entgegen, die die Welt als Akteur_innen und/oder Aktanten bevölkern (vgl. Haraway 2006a/b). Haraway stellt die Konstruktion der einzig aktiven Subjekte auf der einen und der passiven Objekte auf der anderen Seiten radikal in Frage. Dabei bringt sie die Objektifizierung von nichtmenschlichen Individuen oder von dem, was landläufig als ›Natur‹ bezeichnet wird, mit dem Prozess der transzendenten Selbst-Subjektivierung ›des Menschen‹ analytisch zusammen. Denn nach Haraway ist die restlose Vergegenständlichung der ›Natur‹ erst mit der Autonomisierung des menschlichen Subjektes vervollständigt (vgl. Haraway 2006b: 105). Bleiben wir bei der Frage nach den Implikationen der hegemonialen Subjektphilosophie und bei ihrem Zusammenhang mit der Kategorie Arbeit. Haraway bezeichnet das Phantasma, dass nur ›wir‹ Menschen die Akteur_innen auf dieser Welt seien, dass ›wir‹ alles in der Welt erschaffen und alles, was ›wir‹ nicht sind, lediglich Ressource sei, als Produktionsparadigma. Dieses Paradigma steht für Haraway in Zusammenhang mit dem Humanismus: »Dieses Produktionsparadigma handelt vom Menschen als Werkzeugmacher und -benutzer, dessen höchste technische Produktion er selbst darstellt […]. Zugang zu dieser wundersamen Technologie verschafft sich der Mensch, indem er in die Sprache, das Licht, das Gesetz eingeht und dabei das Subjekt konstituiert […]. [N]ach dem heiligen Ebenbild gemodelt, liegt seine Belohnung darin, daß er aus sich selbst sich gebahr; darin, eine Kopie zu sein, die ihren Zweck in sich selbst trägt. Das ist der Mythos der aufklärerischen Transzendenz.« (Haraway 2006a: 16)
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An anderer Stelle ergänzt sie blumig: »Der Mensch/Mann erschafft sich selbst in kosmischer Onanie« (Haraway 2006a: 99). Was ist nun der genaue Zusammenhang mit der Frage der Arbeit, insbesondere mit einer speziessensiblen Betrachtung derselben? Haraway versucht, in ihren Texten speziesübergreifend die Frage von Subjekt und Objekt und die Dekonstruktion dieses Dualismus radikal anders zu denken, als dies klassisch versucht wurde. Eine Folge dessen ist, dass beispielsweise Prozesse wie die Domestikation von nichtmenschlichen Individuen als asymmetrische, aber bilaterale Beziehung gedacht wird (vgl. Haraway 2006b: 104) und eben auch, dass sogar in so gewaltförmigen Gefügen wie in Vivisektionslaboren nichtmenschliche Tiere als »workers in labs« (Haraway 2008: 71) theoretisiert werden. Dieses radikale Umdenken von agency eröffnet Fluchtlinien aus klassischen dualistischen Strukturen und reißt ›den Menschen‹ vom Thron der Geschichte. Menschen und nichtmenschliche Tiere müssen – Haraway zufolge – nicht als etwas komplett Verschiedenes, also nicht als Subjekte und Objekte bzw. nicht als Arbeiter_innen und Produktionsmittel etc. gedacht werden. Vielmehr spricht Haraway von einer gemeinsamen Evolution und gemeinsamen Vorgängen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren – »[t]elling a story of co-habitation, co-evolution, and embodied cross-species sociality« (Haraway 2003: 4) – und versucht damit den Subjekt-Objekt-Dualismus zu unterminieren. In diesem Zusammenhang benennt sie nichtmenschliche Tiere als vollständige Partner_innen und spricht von »companion species« (Haraway 2003). Sogar in Versuchslaboren haben nichtmenschliche Individuen, laut Haraway, in einem gewissen Grad Freiheiten: »Lab animals are not ›unfree‹ in some abstract and transcendental sense. Indeed, they have many degrees of freedom in a more mundane sense, including the inability of experiments to work if animals and other organisms do not cooperate.« (Haraway 2008: 72f.) Diese Form der Zuschreibung von Freiheitsgraden und die Theoretisierung der ›Versuchstiere‹ als Arbeiter_innen hat vielfach Kritik hervorgerufen – nicht nur aus Richtung der klassischen (anthropozentrischen) Subjektphilosophie. Haraway wird aufgrund der eben skizzierten Argumentationen von Vertreter_innen der Human-Animal Studies oder der Tierrechtsbewegung scharf angegriffen. So weist beispielsweise Zipporah Weisberg das Argument, dass selbst ›Tiere‹ in Versuchslaboren agency haben, zurück und macht Haraway den Vorwurf, dass sie über ihre Konzeptionen von agency, Arbeit und Freiheit die Herrschaft über nichtmenschliche Individuen reproduziere und legitimiere (vgl. Weisberg 2009: 23): »In reality, animals in labs are not workers – not even alienated workers – but worked-on objects, slaves by any other name« (Weisberg 2009: 37). So sehr Weisbergs Analyse in einem bestimmten Punkt korrekt ist und sie einen wichtigen Hinweis auf die kaum greif bare Größe der Herrschaft über nichtmenschliche Individuen aufzeigt, so problematisch und verstrickt in weiteren Herrschaftslogiken ist sie auf der an-
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deren Seite. Denn selbst in den gewaltförmigsten Umgebungen ist es unserer Ansicht nach wichtig, ›Tiere‹ nicht als rein passive Objekte zu theoretisieren. Gleichzeitig muss aber berücksichtigt werden, dass sie dort als solche behandelt und verstanden werden. Gewinnbringend an Haraways Konzeption ist, dass durch diese der klassische, den Mensch-Tier-Dualismus reproduzierende, Arbeitsbegriff verworfen wird. Allerdings wäre zu diskutieren, wie ›Arbeit‹ genau rekonzeptionalisiert werden müsste, um das Konzept einerseits aus der anthropozentrischen Definition zu befreien und andererseits zu bestimmen, wie viel Zwang in den Produktionsvorgängen enthalten sein darf, um die Tätigkeiten dort noch mit dem Begriff Arbeit bezeichnen zu können. Selbstverständlich ist auch Arbeit in klassischen menschlichen Arbeitsverhältnissen nicht ohne Zwang, denn die Arbeiter_innen besitzen meist keine Produktionsmittel und unterliegen der kapitalistischen Zwangslogik. Allerdings müssen selbstverständlich auch die gravierenden Unterschiede zwischen Individuen in Versuchslaboren und Arbeiter_innen in der Analyse und Kritik berücksichtigt werden. Dazu ist es sicherlich auch nötig, Haraway einer antispeziesistischen Relektüre zu unterziehen.
Z UR D EKONSTRUK TION
EINER
G RENZ ZIEHUNGSK ATEGORIE
In der allgemeinen Debatte über Gesellschaftliche Mensch_Tier-Verhältnisse ist die Kategorie Arbeit zurzeit eine nur wenig diskutierte. Dies hat unseres Erachtens verschiedene Gründe. Zum einen sind nichtmenschliche Individuen in postindustriellen Gesellschaften nicht mehr direkt bzw. in viel geringerem Maße als früher in die Produktion von Gütern, in den Transport oder als sogenannte Arbeitstiere in die Landwirtschaft eingebunden. Stattdessen werden ihre Körper in einem beinahe unvorstellbaren Ausmaß zu Rohstofflieferanten und Versuchsobjekten degradiert und sie als solche ontologisiert. Zum anderen haben sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die politische Theoriebildung verstärkt den neuen Kämpfen »gegen die Unterwerfung der Subjektivität« (Foucault 2005: 246) gewidmet – mit der Folge, dass Arbeit als Kategorie, die in Zusammenhang mit einer Kritik an Ungleichheitsverhältnissen steht, oftmals in den Hintergrund geraten ist. Unserer Ansicht nach ist die Beschäftigung mit dem Konzept Arbeit für die Human-Animal Studies und, allgemeiner, für eine kritische Befragung der Gesellschaftlichen Mensch_Tier-Verhältnisse jedoch von Bedeutung, denn eine wesentliche Figur bei der diskursiven Herstellung des universell handlungsfähigen und arbeitenden Menschen ist die Abgrenzung zum sich nur instinktiv verhaltenden, lediglich Operationen verrichtenden ›Tier‹. Die Definition von Arbeit diente historisch u.a. als eine anthropologische Zuschreibungs-
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und Abgrenzungspraxis, in der nicht nur eine gesellschaftliche Funktionsweise bestimmt wurde, sondern gleichzeitig eine hegemoniale Menschlichkeit und Männlichkeit von ihrem jeweils ›Anderen‹ abgegrenzt wurde. Es ist immer die Frage von Zuschreibungspraxen und diskursiven Konstellationen, was als Arbeit verstanden wird. Die Kategorie ist mit anderen Kategorien verknüpft und erhält ihre Bedeutung erst aus den diskursiven und materiellen Knotenpunkten des Machtnetzes, in denen sie sich bewegt. Verhandelt werden in den Arbeitskonzeptionen unter anderem Debatten um agency/Handlungsfähigkeit, Subjekt(-ivität) und anthropologische Differenz. Wie wir in diesem Beitrag gezeigt haben, spielt die Kategorie Arbeit historisch eine wichtige Rolle in den Grenzziehungspraxen des Mensch-Tier-Dualismus und bei der Konstruktion ›des Tieres‹ als dem ›ganz Anderen‹. Um die Bedeutung der Kategorie Arbeit in diesen Praxen und Prozessen aufzuzeigen, haben wir einige Theoretiker_innen vorgestellt, die diese Kategorie auf sehr verschiedene Weisen in ihren analytischen Korpus einbeziehen und ihr eine höchst unterschiedliche Rolle im Mensch-Tier-Dualismus zuweisen. So beziehen von den vorgestellten Theoretiker_innen weder Karl Marx noch die feministischen Theoretikerinnen die Tätigkeiten nichtmenschlicher Individuen in ihre Arbeitskonzeptionen mit ein. Vielmehr errichteten diese anhand des Arbeitsbegriffs eine starre Mensch-Tier-Grenze bzw. bauten diese weiter aus. Sie folgten damit einer Traditionslinie, in der sich die Menschen über die Konstruktion einer tierlichen Unfähigkeit zur Arbeit als universelle und handelnde Arbeitssubjekte generierten, die ihre Umwelt gestalten und verändern können und die somit, wie Marx es ausdrückt, als Einzige in einer selbstgeschaffenen Umwelt leben. Diese Figuration steht mit einem SubjektObjekt-Dualismus in Zusammenhang, in dem die Menschen (durch Arbeit) zu den einzigen gottesebenbildlichen Subjekten des Lebens und der Erde werden, die diese durch ihre Arbeit gestalten und sich somit aus der Sphäre der ›Natur‹ erheben. Zur Kontrastierung von Positionen, die an solche Traditionslinien anschließen, haben wir im letzten Abschnitt die Positionen der Theoretiker_ innen Hribal und Haraway vorgestellt, die nichtmenschliche Individuen als aktiv Handelnde in ihre Arbeitskonzeptionen einbeziehen. Der Fokus beider Autor_innen liegt allerdings auf Tätigkeiten nichtmenschlicher Tiere, die in menschliche Ökonomien oder andere Bereiche menschlicher Gesellschaften eingebunden sind und beziehen sich, zumindest nicht explizit, auf Tätigkeiten nichtmenschlicher Tiere, die außerhalb von menschlichen Gesellschaften stattfinden. Es ging uns in diesem Text nicht (primär) darum, positiv zu bestimmen, ob und in welcher Form nichtmenschliche Tiere arbeiten und auch nicht darum, die Konzeption der Arbeit schlicht und einfach auf die Tätigkeiten dieser Individuen auszuweiten. Vielmehr ging es uns darum, Konzepte und diskursive Zusammenhänge auf ihre Ausschlüsse und Konstruktionen hin
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zu befragen und machtsensibel eine Analytik der über ›Arbeit‹ verhandelten Grenzziehungspraxen zu entwerfen4 . Allerdings ist es auch strategisch wichtig, bestimmte positive (aber nicht essenzialistische) Aussagen über nichtmenschliche Individuen zu treffen, um sie aus der Negativität des Nicht-Arbeitenden bzw. aus ihrer Festschreibung als Antithese ›des Menschen‹ im dualistischen Gegensatzpaar Mensch/Tier herauszureißen. Unseres Erachtens eröffnet die folgende Position Möglichkeiten einer geeigneten Herangehensweise an das Problem: »Perhaps no animal – even a human one – has a pure agency, but many animals seem to have a kind of agency.« (McFarland/Hediger 2009a: 15) Diese Aussage lässt sich auch auf die Kategorie Arbeit anwenden. Verschiedene Tiere, menschliche und nichtmenschliche, arbeiten, aber nicht in Form des gottesebenbildlichen Erschaffens oder des transzendenten Leben Einhauchens, sondern indem sie, gemeinsam mit anderen an der Herstellung ihrer Lebensrealität und ihrer Umgebung beteiligt sind. In einer konkreteren Betrachtung lässt sich aufzeigen – und muss in Zukunft verstärkt von den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen aufgezeigt werden –, dass das Handeln und die Tätigkeiten von ›Tieren‹ und ihren Kooperationsformen nicht nur die menschliche Geschichte bedeutend beeinflusst haben, sondern dass ›Tiere‹ auch das mit konstruieren, was als ›Natur‹ gilt. Sie produzieren die Welten, in denen sie leben, teilweise völlig unbeeinflusst von der menschlichen Sphäre, und sie sind maßgeblich an der Herstellung der Welt beteiligt, in der ›wir‹ leben. Nichtmenschliche Tiere haben die Gesellschaften, in denen sie leben oder leben müssen, durch ihre Anwesenheit, ihre Handlungen, ihre Arbeit und durch ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten beeinflusst. Sie als passive Objekte oder Wesen zu konstruieren oder Arbeit als rein menschliches Phänomen zu theoretisieren, fügt ihnen (epistemische) Gewalt zu.
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Die Verdinglichung der Tiere Klaus Petrus »Any oppression helps to support other forms of domination.« (Spiegel 1996: 30)
E INLEITUNG Mit dem Essay von Georg Lukács über das Bewusstsein des Proletariats von 1923 wurde die »Verdinglichung« zu einem Leitmotiv der Sozialwissenschaften (vgl. Lukács 1968) – wenigstens vorübergehend. Denn Jahrzehnte danach geriet der Begriff, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Horkheimer/Adorno 2004: Kap. 1), erneut in Vergessenheit. Erst jetzt gibt es wieder einige Versuche aus der Sozial- und Moralphilosophie, mittels »Verdinglichung« (oder verwandter Konzepte wie »Entfremdung« und »Instrumentalisierung«) besonders krasse Formen der Verzweckung von Lebewesen zu erfassen (z.B. Nussbaum 1999; Honneth 2005; Jaeggi 2005; Schaber 2010). Hauptsächlich geht es in diesen Analysen um die Verdinglichung der Menschen. Von Tieren ist da kaum die Rede.1 Dabei gibt es nicht bloß an der Oberfläche offensichtliche Übereinstimmungen in der Art, wie Menschen und Tiere gleichermaßen als Dinge betrachtet und dementsprechend behandelt werden (vgl. Spiegel 1996; Jacoby 1994; Patterson 2002). Auch was die Mechanismen der Verdinglichung von Menschen und anderen Tieren angeht, bestehen unübersehbare Parallelen (vgl. Noske 2008; Nibert 2002). Das sagen vor allem Autor_innen, die der linken Tradition verpflichtet sind und wie Marx im »Warenfetischismus« die konsequenteste Ausprägung einer Ideologie sehen, die allein darauf aus ist, Individuen zu entfremden und zu ökonomisch verfügbaren Ressourcen zu machen. Entsprechend umfassend fällt die Analyse der Verdinglichung aus: »Wer es ernst meint mit der Beseitigung, der Überwindung der Verdinglichung der
1 | Ich verwende im Nachfolgenden anstelle des (sachlich korrekten) Begriffs ›nichtmenschliche Tiere‹ auch die Ausdrücke ›Tiere‹ oder ›andere Tiere‹.
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Tiere, darf sich mit dem Kapitalismus nicht versöhnen; er muss ihn unnachgiebig bekämpfen« (Witt-Stahl 2004: 13). Demgegenüber ist das Ziel dieses Aufsatzes ein vergleichsweise bescheidenes: Es geht zunächst darum, zu klären, was es eigentlich bedeutet, Tiere zu verdinglichen. Sodann werde ich auf die gesellschaftlichen Mechanismen eingehen, welche die Verdinglichung der Tiere ermöglichen, begünstigen sowie am Laufen halten und damit als eine komplexe, soziale Praxis ausweisen. Schließlich möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit es sich bei der Verdinglichung um ein Unrecht handelt und wie ihm allenfalls zu begegnen ist.
W AS
HEISST :
»TIERE
VERDINGLICHEN «?
Bevor ich versuche, einige Merkmale der Verdinglichung nichtmenschlicher Tiere zu benennen, drei eher allgemeine Bemerkungen. Erstens werde ich bei der Analyse von »X wird von Y verdinglicht« davon ausgehen, dass es Entitäten (mitsamt ihren biologischen Fähigkeiten, erworbenen Kompetenzen etc.) sind, die von einer bestimmten Instanz verdinglicht werden. Es geht mir also weder um »unpersönliche« Beziehungen noch um Formen der »Selbstverdinglichung« (beides sind zweifelsohne interessante Aspekte der Verdinglichung; dazu vgl. Honneth 2005: 78ff.). Konkret handelt es sich bei X um Lebewesen, und zwar um nichtmenschliche Tiere (meine Analyse sollte allerdings auch auf menschliche Tiere anwendbar sein). Damit sei an das eigentlich triviale Faktum erinnert, dass nur solche Entitäten verdinglicht werden können, die nicht schon Dinge sind bzw. die nicht bloß jene Merkmale aufweisen, die typischerweise ›normale‹ Gegenstände besitzen (dazu unten mehr). Vielmehr wird ein Nicht-Ding von der verdinglichenden Instanz wie ein Ding betrachtet und auch so behandelt. Zweitens setze ich voraus, dass die verdinglichende Instanz Y (in einem epistemisch relevanten Sinne) weiß, dass X kein Ding ist. Y schreibt X also bewusst und willentlich Eigenschaften zu, die typischerweise nur Gegenstände haben. Mit anderen Worten handelt es sich bei der Zuschreibung »X ist ein Ding« oder »X gilt als Ding« nicht um einen kognitiven Irrtum, der sich beheben lässt, indem Y zur Einsicht kommt oder darüber informiert wird, dass es sich bei X gar nicht um ein Ding handelt. Schließlich habe ich in diesem Aufsatz nur solche Formen der Verdinglichung vor Augen, die auf eine Nutzung von X abzielen (ob es noch andere gibt, scheint mir unklar). Entsprechend besteht ein – wenn nicht der – Grund für die Verdinglichung von X darin, dass dies Y zum Vorteil gereicht und umgekehrt, wie wir noch sehen werden, allermeist zum Schaden von X ist. Und damit zum ersten von vier Merkmalen, die für eine Verdinglichung nichtmenschlicher Tiere typisch sind:
Die Verdinglichung der Tiere
Besitztum X gehört Y, wobei dieses Besitzverhältnis im Falle nichtmenschlicher Tiere normalerweise durch ein Recht von Y auf Eigentum an X garantiert ist. Das trifft auch auf Länder zu, in denen Tiere vor dem Gesetz keine Sachen mehr sind. Für sie gelten nach wie vor die Normen des beweglichen Eigentums. Und das bedeutet, dass die Eigentümer_innen in den Schranken der Rechtsordnung weiterhin nach Belieben über ihre Tiere verfügen können und sie z.B. verkaufen, verschenken oder verpachten dürfen. Das hat Konsequenzen. So spricht einiges dafür, dass Tiere in Güterabwägungen auch deswegen meistens auf der Verliererseite stehen, weil sie unser Eigentum sind (vgl. dazu Francione 1995; Kelch 1998). Auf der einen Seite sind da nämlich die Interessen der Menschen, die durch gesetzlich verankerte Rechtsansprüche geschützt sind, wozu eben auch das Recht auf Eigentum an Tieren gehört. Und auf der anderen Seite stehen die Interessen eben dieser Tiere, die durch keine nennenswerten gesetzlich verankerten Rechtsansprüche geschützt werden – und zwar auch deswegen, weil sie bloß Eigentum der Menschen sind, um deren Interessen es primär geht (vgl. Francione 2004). Mit anderen Worten werden in derlei Güterabwägungen kategorial verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen, mit dem Resultat, dass die Interessen des menschlichen Eigentums grundsätzlich immer den Interessen der Eigentümer_innen geopfert werden dürfen Instrumentalisierbarkeit X wird von Y als Mittel oder Instrument für seine Zwecke eingespannt. Dabei gibt es unterschiedliche Grade der Instrumentalisierung. Eine besonders ausgeprägte Form besteht bekanntlich darin, dass X von Y in erster Linie oder bloß als Mittel zum Zweck gebraucht wird (sie wird von Jurist_innen mitunter auch »übermäßige Instrumentalisierung« genannt). Häufig hat dies zur Folge, dass X vollständig in den Dienst von Y gestellt und in der Ausübung seiner Freiheiten massiv eingeschränkt wird (vgl. Binder 2011: 40). Typische Verwendungszwecke, die wir an Tiere herantragen und die sie für uns zu erfüllen haben, sind: Ernährung, Bekleidung, Forschung, Unterhaltung und Gesellschaft. Dementsprechend werden Tiere z.B. in (landwirtschaftliche) ›Nutztiere‹, ›Pelztiere‹, ›Versuchstiere‹, ›Zirkustiere‹ oder ›Haustiere‹ unterteilt (siehe unten, Abschnitt »Kategorisieren«). Verletzbarkeit X wird von Y als etwas betrachtet bzw. behandelt, dessen physische und psychische Unversehrtheit nicht berücksichtigt werden muss (vgl. Nussbaum 1999: 102f.). Bei Gegenständen, die z.B. zersägt, zerbrochen oder zerschnitten werden, kann freilich nur in einem übertragenen Sinne von »Verletzbarkeit« oder »Unversehrtheit« die Rede sein. Geht es dagegen um Tiere, steht deren Integrität auf dem Spiel (vgl. Schmidt 2014). Das ist z.B. immer dann der Fall,
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wenn man sie den Produktionsprozessen anpasst und ihnen zum Zwecke der effizienteren Nutzung die Hörner wegbrennt, die Flügel stutzt, die Schwänze kupiert oder die Schnäbel und Krallen kürzt – und natürlich auch dann, wenn sie im Kontext der jeweiligen Nutzungsform getötet werden. Dabei mag es durchaus Situationen geben, in denen die Unversehrtheit von X respektiert wird. Doch steht dies nicht im Widerspruch zum eben Gesagten. Denn zumeist liegt der Grund dafür schlicht darin, dass Y z.B. auf die körperliche Leistung von X angewiesen und die Integrität von X für Y somit von Nutzen ist. Austauschbarkeit X wird von Y als etwas betrachtet bzw. behandelt, das ausgewechselt werden kann, und zwar entweder durch eine Entität desselben Typs oder durch eine Entität eines anderes Typs, die (für Y) dieselbe Funktion erfüllt wie X. Ein Beispiel für ersteres sind ›Milchkühe‹, die durch andere ›Milchkühe‹ ersetzt werden, ein Beispiel für letzteres sind ›Masthühner‹, die durch ›Mastputen‹ ausgetauscht werden. Wie bei der Verletzbarkeit gilt auch im Fall der Austauschbarkeit, dass es Situationen geben mag, in denen ein Tier nicht zu ersetzen ist. Doch auch jetzt liegt das in der Regel daran, dass dessen ›Einzigartigkeit‹ für Y von Vorteil ist, wie z.B. bei gewissen Tierversuchen. Soweit ein Vorschlag, wie sich die »Verdinglichung« von Lebewesen (seien es menschliche oder nichtmenschliche Tiere) umschreiben lässt: »X wird von Y verdinglicht« heißt in etwa: 1. X gehört Y 2. X wird von Y instrumentalisiert 3. X wird von Y als etwas behandelt, das verletzt werden darf 4. X wird von Y als etwas behandelt, das ausgetauscht werden darf Die Analyse wirft eine Reihe weiterer Fragen auf, von denen ich drei kurz ansprechen möchte: In welchem Verhältnis stehen die Bedingungen 1) bis 4) zueinander? Anders als vielleicht zu erwarten wäre, sind sie weitgehend unabhängig voneinander (vgl. Nussbaum 1999: 106). Beispielsweise impliziert 1) keine der anderen Bedingungen, wie das Phänomen der ›Haustiere‹ zeigt. Auch scheint 2), wie oben angedeutet, weder 3) noch 4) zu implizieren. Schließlich impliziert 4) nicht 3), denn es gibt viele Nutzungskontexte, in denen man, wie ebenfalls erwähnt, auf die Unversehrtheit von X angewiesen ist (hingegen sind Dinge, die verletzt werden dürfen, vermutlich eo ipso solche, die auch als austauschbar betrachtet werden, was bedeuten würde, dass 3) möglicherweise 4) impliziert).
Die Verdinglichung der Tiere
Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um sinnvoll von »Verdinglichung« zu reden? Das ist eine ausgesprochen schwierige Frage. Hält man sich ›normale‹ Gegenstände wie einen Kugelschreiber, ein Trinkglas oder einen Computer vor Augen, scheinen alle der oben genannten Bedingungen 1) bis 4) erfüllt zu sein. Allerdings gibt es selbst unter den Sachen speziellere Dinge. Sie besitzen einen gewissen Wert und dürfen daher weder beschädigt noch ersetzt werden (Kunstwerke sind wohl von dieser Art, aber auch manche Erbstücke oder Geschenke). Dennoch sind es Dinge – und nicht Lebewesen oder gar Personen. Während Gebrauchsgüter wie ›Nutztiere‹ so gesehen den ›normalen‹ Dingen ähneln, wären ›Haustiere‹ vielleicht eher mit ›kostbaren‹ Dingen zu vergleichen. Jedenfalls weisen Beobachtungen wie diese darauf hin, dass es sich bei der »Verdinglichung« letztlich um einen unscharfen Clusterbegriff handelt, der unterschiedliche Merkmale umfasst und dessen korrekte Verwendung in manchen Fällen das Vorhandensein aller oben genannten Bedingungen erfordert, in anderen dagegen nur gewisse von ihnen erfüllt sein müssen, um sinnvoll von einer »Verdinglichung« von Tieren zu sprechen (vgl. Nussbaum 1999: 104). Was bedeutet es für ein Lebewesen, verdinglicht zu werden? Trifft die obige Analyse zu, werden X durch die Verdinglichung Merkmale zugeschrieben, die normalerweise Dinge besitzen. Das ist allerdings nur eine Seite der Geschichte. Die andere besteht darin, dass X dadurch Eigenschaften abgesprochen werden, die typischerweise Lebewesen mit einem – wie Arthur Schopenhauer sich ausdrückte – »Wohl und Wehe« haben. Dazu gehören die nachfolgenden Charakteristika: 5. X besitzt Eigenwert Damit ist, grob gesagt, gemeint, dass X für sich genommen wertvoll ist, also unabhängig davon, ob X für Y einen (z.B. ökonomischen) Wert hat. 6. X besitzt Autonomie Dieses Merkmal schließt mit ein, dass X ein Interesse an einer möglichst freien, selbstbestimmten Ausübung arttypischer oder natürlicher Verhaltensweisen (wie Fortpflanzungs-, Sozial-, Bewegungs- oder Nahrungsverhalten) hat (siehe unten, Abschnitt »Exkurs«). 7. X besitzt Integrität Dieses Merkmal schließt mit ein, dass X ein Interesse an seiner physischen wie psychischen Unversehrtheit hat. 8. X besitzt Individualität
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Damit wiederum ist gemeint, dass X ein Individuum mit einer Biografie ist und damit ein Wesen, für das es einen Unterschied macht, ob sein Wohlergehen gefördert oder aber beeinträchtigt wird (siehe unten, Abschnitt »Exkurs«). Wie gesagt: Eigenwert, Autonomie, Integrität und Individualität gehören zu den Merkmalen, die Wesen mit einem Wohlergehen ausmachen und die ihnen im Zuge der Verdinglichung gerade abgestritten werden. Vergleicht man sie mit den Eigenschaften, die ihnen dadurch zugeschrieben werden – Besitztum, Instrumentalisierbarkeit, Verletzbarkeit und Austauschbarkeit –, fällt sofort auf: sie sind nur schwerlich miteinander zu vereinbaren. So steht die Tatsache, dass X jemandem gehört, in einem krassen Widerspruch zur Annahme, X habe Eigenwert. Immerhin ist jemandes Eigentum gerade dadurch charakterisiert, dass es bloß jenen Wert besitzt, den es für seine Eigentümer_innen hat; Eigentum hat instrumentellen, nicht aber intrinsischen Wert. Zudem wird einem Wesen, das (übermäßig) instrumentalisiert wird, jegliche Autonomie abgestritten. Offenkundig ist ebenfalls, dass ein Wesen, welches als etwas behandelt wird, das verletzt werden darf, keines ist, auf dessen Integrität man zu achten hätte. Und schließlich werden Lebewesen, die telquel ersetzt werden können, nicht als Individuen behandelt, sondern bestenfalls als ›Exemplare‹ einer bestimmten (Nutzungs-)Art. Als solche haben sie in der Regel keine Namen, sondern tragen Nummern. Tatsächlich steht gerade in der industriellen Nutztierhaltung die Austauschbarkeit der Tiere in einem engen Zusammenhang damit, dass sie zunehmend anonymisiert und auch unsichtbar werden. Sie geraten aus unserem Blick, werden weggesperrt und existieren nur noch als abstrakte, namenlose Menge (Cole/Morgan 2009; Petrus 2013a). Treffen diese Beobachtungen zu, geht mit der Verdinglichung der Tiere also immer zweierlei einher: Zum einen werden der verdinglichten Instanz Eigenschaften zugeschrieben, die für Dinge typisch sind, und zum anderen werden dieser Instanz Charakteristika abgesprochen, die normalerweise Lebewesen haben. Dabei scheinen sich diese Merkmale auszuschließen. Obschon ich nicht den Anspruch erhebe, dass das Phänomen der Verdinglichung nichtmenschlicher Tiere damit abschließend charakterisiert ist, denke ich doch, dass diese Analyse den folgenden Schluss zulässt: Die Verdinglichung eines Lebewesens führt immer auch dazu, dass dessen Wohlergehen beeinträchtigt oder gar negiert wird.
E XKURS : D AS W OHL
DER
TIERE
Soeben war in einem eher abstrakten Sinne von Lebewesen mit einem »Wohl und Wehe« die Rede. Das soll in diesem Exkurs nun ein wenig präzisiert werden. Der Ausdruck »Wohlergehen« (well-being) gehört – auf nichtmenschliche Tiere angewendet – zu den zentralen Konzepten der Tierethik, des Tierschutz-
Die Verdinglichung der Tiere
rechts sowie der (Nutztier-)Ethologie (vgl. Schmidt 2011). Häufig wird der Begriff negativ umschrieben als Absenz von Leiden, Schmerzen oder Schäden, wobei diese Formen der Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens freilich näher zu bestimmen sind (vgl. Hirt et al. 2007: 78ff.). Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass sich das Wohl eines Lebewesens auf sämtliche Aspekte seines Daseins erstreckt und nebst anderem ein arttypisches bzw. natürliches Sexual- und Fortpflanzungsverhalten, Sozialverhalten, Bewegungsverhalten und Nahrungsverhalten umfasst (vgl. Borell 2009). In all diesen Bereichen kann das Wohl von Tieren, die für menschliche Zwecke verdinglicht werden, beeinträchtigt werden (siehe unten am Beispiel der ›Milchkühe‹). Umgekehrt gelten nebst dem erwähnten arttypischen Verhalten auch die Gesundheit sowie das Gedeihen der individuellen Befähigungen und Bedürfnisse als Indikatoren für tierliches Wohlergehen (vgl. Sandøe/Christiansen 2008: 38ff.; zum Gedeihen bzw. animal flourishing vgl. Nussbaum 2004: 315). In diesem Zusammenhang sind nun zwei Unterscheidungen von Bedeutung. Erstens lässt sich zwischen den Vorbedingungen und den unverzichtbaren Bestandteilen von Wohlergehen differenzieren (vgl. Wolf 2012: 88f.). Zu den Vorbedingungen gehört beispielsweise, dass ein Wesen X überhaupt am Leben ist, dass dessen Organismus funktioniert oder dass X über die notwendigen materiellen Güter verfügt (wie z.B. Nahrung oder Behausung). Zu den Grundbestandteilen tierlichen Wohlergehens gehört unter anderem die Fähigkeit von X, Lust zu erfahren (oder Leiden, Schmerzen, Ängste oder Stress zu meiden), sowie die Möglichkeit für X, sein arttypisches Verhaltensrepertoire frei auszuüben. Zweitens kann zwischen subjektivem und objektivem Wohlergehen unterschieden werden (vgl. Webster 2005). Bei der objektiven Seite des Wohlergehens liegt der Akzent auf dem biologischen Funktionieren oder artspezifischen Gedeihen im oben erwähnten Sinne. Dabei kann es für X durchaus einen Unterschied machen, ob wir durch unser Tun (oder Unterlassen) dessen Leben so beeinflussen, dass sich X schlechter oder gar nicht (mehr) entwickeln kann (vgl. Broom 1991). Bei der subjektiven Komponente des Wohlergehens spielt es darüber hinaus eine Rolle, dass unser Tun (oder Unterlassen) für X nicht bloß einen Unterschied machen kann, sondern dass dieser Unterschied von X auch bewusst als solcher erlebt wird, so z.B. als Lust- oder Schmerzerfahrung (vgl. Duncan 1993). Wie unschwer zu erkennen, setzt subjektives Wohlergehen also voraus, dass X ein empfindungsfähiges Wesen ist. Dass hier (darüber hinaus) von einem »objektiven Wohl« die Rede ist, soll daran erinnern, dass ein empfindungsfähiges Wesen in der Gesamtheit zu berücksichtigen ist, wenn sein Wohlergehen zur Debatte steht – eine Sichtweise, die im Pathozentrismus, wo es primär um die Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit geht, buchstäblich zu kurz kommt (vgl. Petrus 2010a).
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Soweit einige Bemerkungen zum Tierwohl. Inwieweit es beeinträchtigt oder negiert wird, wenn Tiere verdinglicht werden, ist (nach Klärung der zentralen Begrifflichkeiten) eine weitgehend empirische Frage. Die verfügbaren Daten, namentlich aus der Nutztierhaltung, legen den Schluss nahe, dass dem in aller Regel so ist. So wird – um bloß ein Beispiel zu nennen (vgl. dazu TIF 2009) – hierzulande inzwischen die Mehrzahl aller ›Milchkühe‹ ab Geschlechtsreife durchschnittlich einmal pro Jahr künstlich befruchtet, was eine erhebliche Beeinträchtigung des arttypischen Sexual- und Fortpflanzungsverhaltens darstellt. Desgleichen wird das natürliche Sozialverhalten dieser Tiere de facto unterbunden, indem ihnen bereits kurz nach der Geburt ihre Kälber weggenommen werden. Infolge der kontinuierlichen Leistungssteigerung wird auch das Nahrungsverhalten der Kühe gezielt manipuliert. So benötigen ›Hochleistungskühe‹ heutzutage große Mengen an Kraftfutter. Dabei handelt es sich zwar um eine energiereichere, jedoch nicht wiederkäuergerechte Nahrung mit einem vergleichsweise geringen Rohfaseranteil. Weil der Vormagen der Kühe darauf spezialisiert ist, rohfaserhaltige Nahrung wie Heu oder Gras zu spalten, droht beim Kraftfutter die Gefahr einer lebensbedrohenden Übersäuerung des Pansen. Schließlich wird auch das arttypische Bewegungsverhalten der Kühe massiv beeinträchtigt. Unter (semi-)natürlichen Bedingungen würden sie bis zu neun Kilometer am Tag (grasend) zurücklegen. Dagegen leben in unseren Breitengraden die meisten Kühe immer noch in sogenannten Anbindeställen. Selbst in der Schweiz, die sich bekanntlich rühmt, eines der schärfsten Tierschutzgesetze der Welt zu haben, ist es nach wie vor erlaubt, Kühe an 275 Tagen im Jahr anzuketten. Tatsächlich sind dort 65 Prozent aller ›Milchkühe‹ in Anbindehaltung (vgl. Huber 2013: 41). Dass es sich hierbei um erhebliche Beeinträchtigungen des (sowohl subjektiven wie objektiven) Wohlergehens handelt, zeigt auch die Liste der Erkrankungen, an denen ›Nutztiere‹ leiden (vgl. Frey 2004; Hörning 2008). So gibt es für die Schweiz Studien, denen zufolge fast jede dritte Kuh wegen mangelnder Fruchtbarkeit geschlachtet werden wird, jede fünfte wegen Euterentzündungen (Mastitis) und ebenso viele wegen Klauen- und Gliedmaßenproblemen (vgl. Huber 2013: 42) – alles Erkrankungen, die in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit den widernatürlich hohen Milchleistungen stehen, die den Kühen abverlangt werden. Der prekäre Gesundheitszustand der Tiere ist gerade auch angesichts der Tatsache bedenklich, dass deren ›Nutzungsdauer‹ laufend verkürzt wird. So leben in der Schweiz Kühe im Schnitt noch 6,5 Jahre, in Deutschland und den USA sind es vier Jahre. Dabei können Rinder durchaus 20 Jahre alt werden.
Die Verdinglichung der Tiere
V ERDINGLICHUNG
ALS SOZIALE
P R A XIS
»Humans tend to disperse, eliminate, or exploit a group they perceive to be unlike themselves (an outgroup or the ›other‹) when it is in their economic interests to do so.« (Nibert 2002: 13)
Im Wesentlichen besteht die »Verdinglichung« darin, dass einem Lebewesen Merkmale zugeschrieben werden, die es gar nicht hat, und dass ihm im Gegenzug Eigenschaften abgeschrieben werden, die es eigentlich besitzt – und zwar von einer, wie ich sie genannt habe, verdinglichenden Instanz. Um wen es sich dabei handelt, blieb bisher offen. Naheliegenderweise sind es Menschen, die andere Lebewesen verdinglichen. Das trifft zu, ist aber insofern zu relativieren, als die Verdinglichung Teil eines Gesellschaftssystems ist, das seinerseits ein Ensemble an Einstellungen, Gewohnheiten und Handlungsweisen im Umgang z.B. mit ›dem Tier‹ umfasst. Mit anderen Worten lässt sich die Verdinglichung nicht angemessen beschreiben, wenn man sie einzig und allein als (Fehl-)Verhalten einzelner Personen begreift. Vielmehr handelt es sich dabei um eine soziale Praxis, die auf ganz bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen basiert, welche die Verdinglichung überhaupt erst ermöglichen, begünstigen und aufrechterhalten. In diesem Abschnitt möchte ich auf vier solcher Mechanismen näher eingehen.
Kategorisieren Die Verdinglichung von Lebewesen beruht maßgeblich auf einem kategorialen Unterschied zwischen der verdinglichenden und der verdinglichten Instanz. Diese Differenz kommt im Mensch-Tier-Dualismus zum Ausdruck, der sich eines reichlich allgemeinen Begriffs von ›dem Tier‹ bedient (vgl. Mütherich 2005: 8ff.; in einem ähnlichen Sinne ist freilich auch ›der Mensch‹ eine Art Phantom). Biologisch hat dieser Terminus keine sonderliche Erklärungskraft, steht er doch für Millionen unterschiedlicher Arten und Gattungen; allenfalls erlaubt er eine Abgrenzung gegenüber Pflanzen und Pilzen. Im Sinne einer sozialen Kategorie dient ›das Tier‹ jedoch der Konstruktion des ›Anderen‹ und fungiert als Sammelbecken für allerhand reale wie insbesondere auch fiktive Unterschiede zwischen uns und ihnen. In die Rubrik des Fiktiven gehören bekanntlich Zuschreibungen der Art: ›das Tier‹ ist »dumpf«, »triebhaft«, »grausam« und »bestialisch«, oder auch: Kühe sind »dumm«, Ziegen »blöd« und Schweine »dreckig« (vgl. Mütherich 2003: 19). Wie diffamierend diese Redeweisen sind, wird oft erst dann so richtig deutlich, wenn sie dazu benutzt werden, um andere Menschen zu verunglimpfen und zu »dehumanisieren« (Patterson 2002: Kap. 2; Yates 2004). So wurden Afrikaner_innen im Kolo-
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nialismus als »hässliche« und »stinkende Affen« bezeichnet und die indigene amerikanische Bevölkerung als »Bestien« oder »Raubtiere«; Menschen aus China galten im Zweiten Weltkrieg als »Schweine«, Japaner_innen als »Kakerlaken« und auch die Juden und Jüdinnen waren in den Worten des Propagandaministers Joseph Goebbels »keine Menschen, sondern Tiere«, genauer: »Parasiten« und »Ungeziefer«. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Differenzen zwischen Menschen und anderen Tieren von uns als absolut gesetzt werden. Entsprechend wird geleugnet, dass es nichtmenschliche Tiere geben mag, welche die für uns angeblich typischen, ja einzigartigen Attribute ebenfalls besitzen. Auch wird darüber hinweg gesehen, dass es womöglich Mitglieder der Spezies Homo sapiens gibt, welche über die besagten Charakteristika nicht verfügen. In Wahrheit erweist sich die jahrhundertelange Suche nach einer »anthropologischen Differenz« zwischen uns und ihnen aber zunehmend als aussichtslos: Von der simplen Zugehörigkeit zu der je eigenen Gattung einmal abgesehen, konnte bis dahin kein natürliches Merkmal ausfindig gemacht werden, das alle und nur menschliche Tiere besitzen. Und doch wird nach wie vor auf exklusiv menschliche oder zumindest menschenähnliche Merkmale beharrt, mehr noch: Diese Eigenschaften werden so gewertet, dass sie der verdinglichenden Instanz partout zum Vorteil, der verdinglichten Instanz aber zum Schaden gereichen (für einen ähnlichen Gedankengang vgl. Memmi 1992: 164f.). So hatte man lange Zeit behauptet, dass Menschen moralisch gesehen mehr zählen als Tiere, weil nur sie Gottes Ebenbild seien oder eine unsterbliche Seele hätten. Auch heute noch gibt es Philosoph_innen, die der Ansicht sind, nur menschliches Leben habe einen Wert, den es zu respektieren gelte – und zwar deswegen, weil allein wir Menschen in der Lage seien, auf bestimmte Weise über uns selbst zu reflektieren (vgl. dazu Rippe 2008: Kap. 13). Der vermeintlich kategoriale Unterschied zwischen ›dem Menschen‹ und ›dem Tier‹ mitsamt seiner abwertenden Komponente zeigt sich, wie das schon Schopenhauer bemerkt hatte (vgl. Schopenhauer 1988: 597), einmal mehr der Sprache: das Tier ›frisst‹, ›wirft‹, ›verreckt‹ oder ›verendet‹, wir Menschen dagegen essen, gebären und sterben.
Funktionalisieren Für eine Verdinglichung von Lebewesen ist es maßgeblich, dass sie in der jeweiligen menschlichen Gesellschaft den Status von Ressourcen zugewiesen bekommen. Als solche müssen sie ganz bestimmte Funktionen ausüben, und zwar je nach Verwendungszweck, der an sie herangetragen wird. Diese Zwecke sind mannigfaltig und haben sich kulturhistorisch unterschiedlich herausgebildet. Ein bekanntes Beispiel sind Ernährungstabus und damit die Unterteilung in »essbare« und »nicht-essbare« Tiere (vgl. Harris 1988: Kap.
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9; Eder 1988; Fiddes 1993: Kap. 9; andere Gruppierungen sind »nützlich« und »schädlich« oder »zahm« und »wild«). So gelten Hunde in Vietnam und Korea als Delikatesse und werden entsprechend aufwändig zubereitet. Bei Menschen aus Europa erweckt dies immer wieder Abscheu und Widerwillen. Solchen – wie es dann heißt – »barbarischen« Gepflogenheiten stellt die westliche Nutztierhaltung die Raffinesse der industriellen Zucht, Mast und Schlachtung von Tieren gegenüber, die sich in ihren Empfindungen und Bedürfnissen in nichts von Hunden und anderen ›Haustieren‹ unterscheiden. Dass hierzulande umgekehrt Tiere im Akkord herangezüchtet, ausgebeutet und getötet werden, die beispielsweise in Indien als heilig gelten, scheint den Menschen nicht bewusst zu sein (vgl. Petrus 2010b). Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Ausprägungen der Funktionalisierung die Überzeugung, Tiere seien für uns da. Dass sie geradezu als nutzbare und nützliche Ressourcen ontologisiert werden, spiegelt sich nicht bloß in von uns geschaffenen Funktionskategorien wie ›Schlachtvieh‹, ›Pelztiere‹ oder ›Haustiere‹. Die Selbstverständlichkeit, Tiere als Ressourcen zu behandeln, zeigt sich auch in einer Art Stigmatisierung, die sich Brandmale, Ohrmarken, Beringungen, Tätowierungen oder Implantationen bedient, um alles zu markieren, was im »Dienste des Menschen« steht (vgl. Rogausch 2010: 85). Ohne Zweifel ist die treibende Kraft hinter der Funktionalisierung das ökonomische Interesse der Menschen an den Tieren. Im Falle von ›Nutztieren‹ ist dies offensichtlich. Sie gelten als Produktionsmaschinen und Wirtschaftsgüter, die fast ausschließlich in einem ökonomischen Schema von Input (›Futter‹) und Output (z.B. Fleisch, Milch, Eier) begriffen werden. Entsprechend werden diese Tiere einseitig unter dem Aspekt ihrer Leistung betrachtet oder ihres Gewichts, das bereits zu Lebzeiten in ›Schlachteinheiten‹ berechnet wird. Dass der Kapitalismus diese »komplette Neutralisierung der tierlichen Subjekte« (Mütherich 2009: 81) maßgeblich begünstigt, steht außer Frage (vgl. Noske 2008: 43ff.; Nibert 2002: Kap. 3) und veranlasst einige Autor_innen zur These, die Verdinglichung der Tiere könne von einer Kritik am Kapitalismus nicht isoliert gedacht werden (vgl. Witt-Stahl 2004: 13). Auf den ersten Blick scheint dies im Falle von ›Haustieren‹ anders zu sein. Im Gegensatz zu ›Nutztieren‹ werden sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen gehalten, sondern, wie es heißt, »ausschließlich aus emotionalen Gründen« (Goetschel/Bolliger 2003: 84; in der Frühen Neuzeit wurden sie ›Lusttiere‹ genannt, die zum »bloßen Ergötzen« da waren, vgl. Nowosadtko 1998: 256). Doch wird damit übersehen, dass die sogenannte Heimtierhaltung in vielen Teilen der Welt inzwischen einen ausgesprochen lukrativen Wirtschaftszweig ausmacht, an dem nicht bloß Züchter_innen, Tierärzt_innen und -therapeut_innen verdienen, sondern auch die Tierfutter- und Pharmaindustrie. So erzielen Großkonzerne wie Nestlé, Masterfoods oder Iams allein mit industriell angefertigtem ›Tierfutter‹ Jahresumsätze in Milliardenhöhe (vgl. Grimm
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2009: 80ff.) – was eigentlich nicht weiter erstaunen dürfte, wenn man bedenkt, dass z.B. in Deutschland in jedem dritten Haushalt ein sogenanntes Haustier lebt.
Kontrollieren Um »andere« Tiere zu verdinglichen, braucht es die Möglichkeit, aber insbesondere auch die Macht, sie im eben erläuterten Sinne funktional zu nutzen. Diese Macht äußert sich in der Dominanz und Kontrolle des Menschen über die Tiere, genauer: über deren Verhaltensweisen, die auf eine Weise manipuliert oder dem Produktionsprozess angepasst werden, dass sie dem Menschen Vorteile verschaffen. So beruhte der ›Erfolg‹ der Domestikation nicht zuletzt auf der Tatsache, dass Hirtenvölker lernten, den Bewegungsdrang, das Nahrungs- und Sozialverhalten sowie insbesondere die Sexualität von (Herden-) Tieren gezielt zu beeinflussen und beispielsweise mittels Kastration, Brandzeichen, Fesseln, Peitschen oder Ochsenziemern möglichst vollständig zu kontrollieren (vgl. Patterson 2002: 17f.). An dieser von Manipulation und Kontrolle geprägten Beziehung des Menschen zu den Tieren hat sich bis heute kaum etwas geändert. Allenfalls wurden seit der Industrialisierung die Kontrollmechanismen verfeinert und perfektioniert (vgl. dazu Giedion 1994: 238ff.). Das betrifft im Bereich der Nutztierhaltung die Entwicklung neuer Gerätschaften, das inzwischen mehrheitlich automatisierte Stallmanagement in Massentierhaltungen oder die rasanten Entwicklungen in der Hochleistungszucht oder dem Animal Enhancement (vgl. Ferrari 2012). Heutzutage liegt die Macht, Tiere zu funktionalisieren, mehrheitlich in den Händen der Behörden, politischer Entscheidungsträger_innen und freilich der Tierindustrie selber. Auf diese Weise wird die damit einhergehende Gewalt an Tieren zunehmend institutionalisiert. Dazu gehört auch, dass dieses Machtverhältnis in vielen Ländern gesetzlich legitimiert wird, und zwar durch ein eigenes Tierschutzgesetz. Weil die Funktionalisierung der »anderen« Tiere immer auch mit einem Nutzungsanspruch des Menschen verknüpft ist (siehe oben, Abschnitt »Funktionalisieren«), sind einige Kritiker_innen der Ansicht, das Tierschutzgesetz laufe Gefahr, nicht den Schutz der Tiere zu garantieren, sondern zu einer »Definition zulässiger Tiernutzungszwecke« zu verkommen (vgl. Luy 2007: 201). Das gilt nicht bloß, wie vielleicht zu erwarten wäre, für den sogenannten anthropozentrischen Tierschutz, demzufolge die Pflichten, welche Menschen gegenüber Tieren haben, bloß indirekter Art sind, d.h. nicht den Tieren selber gelten, sondern anderen Menschen geschuldet sind. Auch der ethische Tierschutz, der angeblich das »Tier um seiner selbst willen« ins Zentrum rückt, hält unzweideutig am Primat des menschlichen Nutzungsanspruchs fest. So ist gemäß Schweizer Tierschutzgesetz nicht bloß für das Wohlergehen der Tiere zu sorgen, sondern auch deren Würde zu achten – al-
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lerdings nur, wie es wörtlich heißt, »soweit es der Verwendungszweck zulässt« (Schweizer Tierschutzgesetz, Art. 4 lit. a TSchG).
Konditionieren Schließlich bedarf es einer Art Konditionierung, welche die bisherigen Mechanismen etabliert und am Laufen hält. Viele, die sich kritisch mit den Mensch/ Tier-Beziehungen auseinandersetzen, sind der Meinung, diese Konditionierung bestehe in der Implementierung des Speziesismus. So sieht der australische Tierethiker Peter Singer im Speziesismus bekanntlich »ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies« (Singer 1996: 35). Dabei kann diese Art der Diskriminierung unterschiedliche Formen annehmen (vgl. Rachels 1990): Während der radikale Speziesismus alle tierlichen Interessen zugunsten der Interessen der Menschen opfert – und zwar einerlei, wie nichtig diese auch sein mögen –, gewichtet der moderate Speziesismus menschliche Interessen nur dann höher als diejenigen der Tiere, wenn es sich um sogenannte vitale Interessen handelt. Zudem gibt es Formen des unqualifizierten Speziesismus, der einzig und allein die Spezieszugehörigkeit für moralisch bedeutsam hält, wohingegen der qualifizierte Speziesismus die biologische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies mit zusätzlichen, für den (›normalen‹) Menschen typischen Merkmalen koppelt wie Sprachvermögen, Intelligenz oder Selbstbewusstsein. Wie auch immer man die Erklärungskraft solcher Unterscheidungen einschätzt, viele der traditionellen Tierethiker_innen sind überzeugt, der Speziesismus – im Sinne eines individuellen, persönlichen Vorurteils – lasse sich mit einem gewissen Maß an Moralphilosophie und damit auf vorwiegend rationalem Wege ›kurieren‹; so beispielsweise, indem man an die Anerkennung des Prinzips der gleichen Berücksichtigung der Interessen appelliert (vgl. Singer 1996), an die Durchlässigkeit von Speziesgrenzen erinnert (vgl. Pluhar 1995) oder dafür wirbt, dass Wesen, die »Eigenwert« besitzen, gleichermaßen zu respektieren sind (vgl. Regan 1983). Diesem eher individualistischen Verständnis von Speziesismus als eine persönliche Voreingenommenheit steht die Auffassung gegenüber, es handle sich hier primär um eine Ideologie, die sich historisch langsam herausentwickelt hat und inzwischen tief in unserer Gesellschaft verankert ist (vgl. Nibert 2002: Kap. 6). Dabei wird immer wieder auf die für das westliche Weltbild angeblich typische Idee einer hierarchischen und zugleich zweckgerichteten Naturordnung verwiesen, der zufolge alles Dumpfe, Trieb- und Instinkthafte – also ›das Tier‹ – ausschließlich zum Nutzen des Vernünftigen – also ›des Menschen‹ – existiert (vgl. Thomas 1983; Steiner 2005). Für Birgit Mütherich ist es insbesondere das jüdisch-christliche Weltbild, das die kategoriale Trennung zwischen
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dem »Eigenen« und dem »Anderen« oder »Fremden« als Herrschaftsinstrument gegen nichtmenschliche Tiere eingesetzt habe. Dabei hätten Postulate wie die Gottesebenbildlichkeit (imago dei) oder die biblische Aufforderung, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, eine besondere Rolle gespielt (vgl. Mütherich 2003: 11ff.). Tatsächlich spricht einiges dafür, dass solche Deutungsmuster zu einer reichlich stereotypen – und auch abwertenden – Wahrnehmung von Mitgliedern anderer Spezies führen. Um diese Muster aufrechtzuerhalten, ist es freilich vonnöten, die speziesistische Ideologie als natürlich, notwendig und auch normal darzustellen. Von daher ist jeder Vergleich zwischen uns und ›dem Tier‹ bereits anrüchig oder gar beleidigend. Vor diesem auch kulturhistorischen Hintergrund liegt es nahe, dass der Speziesismus nicht einfach nur ein individuelles Vorurteil darstellt, das sich mit einer ordentlichen Portion an akademischer Ethik aus der Welt schaffen lässt. Vielmehr haben wir es mit einem kulturspezifischen Deutungs- und Handlungsmuster zu tun, das auf eine gesellschaftliche Legitimation der Abwertung und Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere zielt (vgl. Mütherich 2009: 81f.). Zu diesem Ausbeutungssystem, das mittlerweile einen hohen Grad an Institutionalisierung erreicht hat, gehört zweifelsohne auch die Verdinglichung der Tiere mitsamt den dazugehörigen Praktiken wie die Erzeugung, Tötung, Verarbeitung oder Vernichtung von jährlich Milliarden von Individuen aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens. Es scheint mir wichtig zu betonen, dass Kategorisierung, Funktionalisierung, Kontrolle und Konditionierung keine zusätzlichen Merkmale der Verdinglichung nichtmenschlicher Tiere darstellen. Dennoch meine ich, dieses Phänomen wäre nicht angemessen beschrieben, wenn man die eben genannten Komponenten außer Acht ließe. Denn es handelt sich hierbei um Mechanismen, welche die Verdinglichung von Lebewesen überhaupt erst ermöglichen, sodann begünstigen und insbesondere am Laufen erhalten. Und es sind diese Mechanismen, welche die Verdinglichung der Tiere als soziale Praxis ausweisen und nicht einfach nur als menschliches Verhalten, das gegen gewisse moralphilosophische Prinzipien verstößt (vgl. Honneth 2005: 15). Insofern ist es, wie schon angedeutet, nicht zutreffend, die verdinglichende Instanz Y mit einzelnen Menschen gleichzusetzen. Angemessener wäre die Rede von einem verdinglichenden System, das u.a. aus einem Konglomerat bestimmter Einstellungen und Gewohnheiten besteht und in das Menschen hinein sozialisiert werden.
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»Der Schrecken besteht darin, dass die Mörder sich weigerten, sich in ihre Opfer hineinzuversetzen.« (Elizabeth Costello in Coetzee 2003: 33)
Die Verdinglichung der Tiere ist weniger ein moralisches Fehlverhalten einzelner Personen als vielmehr eine kulturspezifische, soziale Praxis. Das heißt aber nicht, dass sie keine normativen Implikationen aufweist. Schon Lukács war der Ansicht, die Verdinglichung verstoße gegen eine »bessere« Form menschlichen Zusammenlebens (vgl. Lukács 1968). Das trifft, wie ich meine, auch auf die Verdinglichung der Tiere im Speziellen zu. Auch diese soziale Praxis verstößt gegen eine »bessere« Form des Umgangs mit Tieren, und zwar gegen eine, die auf Solidarität beruht. Diese Solidarität erwächst, vereinfachend gesagt, aus dem Mitgefühl, das – wie schon Horkheimer hervorgehoben hat (vgl. Horkheimer 1933: 136) – offenbar eine wichtige Triebfeder sozialen Handelns ist. Es basiert auf der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und Anteil an deren Leben zu nehmen. Voraussetzung für eine solche Empathie ist allerdings die Bereitschaft, tradierte, längst verfestigte Sichtweisen aufzubrechen, was in diesem konkreten Fall bedeutet, dass Tiere (wieder) in ihrer Gesamtheit gesehen werden müssen, und zwar als leibliche Subjekte mit einem eigenen »Wohl und Wehe«. Genau das ist aber nicht der Fall, wenn sie verdinglicht werden. Die Verdinglichung von Tieren zielt nämlich darauf ab, dass ihnen Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie notgedrungen zu Objekten machen, sie also »desubjektivieren« (Petrus 2013a). Dabei kann diese Desubjektivierung sehr unterschiedliche Formen annehmen. Im Bereich der ›Verwandlung‹ von Tieren in Nahrungsmittel werden sie beispielsweise zum Verschwinden gebracht bzw. in Objekte transformiert, indem sie ›ausgenommen‹, zerstückelt und steril zu einem Stück Fleisch verpackt werden, das dann unter gänzlich anderen Gesichtspunkten betrachtet wird – so etwa hinsichtlich des Nährwerts oder Geschmacks – als jenes Tier, dessen Abwesenheit dieses Stück Fleisch markiert (vgl. Adams 1990). Je besser es gelingt, aus den Lebewesen hinter diesen Nahrungsmitteln Objekte zu machen, umso größer ist die kognitive wie emotionale Apathie gegenüber diesen Wesen. Falls Solidarität mit den Tieren zumindest auf einer individuellen Ebene auf Mitgefühl und Empathie basiert, gilt es, entsprechend diese teilnahmslose Haltung aufzugeben und zu erkennen, dass es ein Unrecht darstellt, Tiere nicht als die zu nehmen, die sie eigentlich sind, nämlich: empfindsame Wesen, für die es einen entscheidenden Unterschied macht, ob sie in ihrem Wohlergehen gefördert oder aber beeinträchtigt werden.
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Solidarität mit Tieren hat aber auch politische Dimensionen. Entscheidend ist hier die Einsicht, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Privilegierung bestimmter sozialer Einheiten (wie Gesellschaften, Klassen, Subkulturen, Personen) und der mit der Verdinglichung einhergehenden Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens (siehe oben, Abschnitt »Verdinglichung als soziale Praxis«). Konkret besteht dieses Privileg darin, dass es für die betreffenden sozialen Einheiten keinen vernünftigen Grund gibt, Tiere zu verdinglichen; dies zu tun, ist schlicht nicht notwendig. Ohne Zweifel gehen die Ansichten darüber, was hier »notwendig« oder »unnötig« bedeutet, im Detail auseinander (z.B. Hirt et al. 2007: 83ff.). In diesem dürfte aber Einigkeit bestehen: Wirklich unvermeidbar und damit notwendig ist eine Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens nur dann, wenn es nicht anders geht, wenn also keine Alternativen verfügbar sind. Bezogen auf Beeinträchtigungen des Tierwohls, die auf eine Verdinglichung zurückzuführen sind, ginge es demnach um die Frage, ob sich die an Tiere herangetragenen Verwendungszwecke – Ernährung, Bekleidung, Forschung, Unterhaltung und Gesellschaft – auch auf andere Weise, also alternativ, realisieren lassen. Am Beispiel der Ernährung gesagt: Ist eine soziale Einheit nicht darauf angewiesen, zum Zwecke der Nahrungsaufnahme tierliche Produkte zu konsumieren bzw. sind für sie vegane Alternativen verfügbar, ist der Konsum solcher Nahrungsmittel für diese soziale Einheit ein Privileg, auf das zu verzichten ein Akt der Solidarität mit den Tieren darstellt. Das bedeutet keineswegs, dass die Verdinglichung von Lebewesen in jedem Fall – also ausnahmslos – »unnötig« ist. Geht es ums eigene Überleben und sind keine Alternativen verfügbar, kann es unvermeidbar sein, Tiere im Sinne der hier dargelegten Analyse für seine Zwecke einzuspannen (das würde allerdings auch für menschliche Tiere gelten). Überhaupt hängt hier einiges davon ab, was es genau heißt, dass Alternativen verfügbar sind (vgl. Petrus 2013b). Beispielsweise reicht es nicht aus, dass sie tatsächlich vorhanden sind. Denn es könnte ja sein, dass eine bestimmte soziale Einheit – sagen wir: eine Personengruppe – gar keine Kenntnis von diesen Alternativen hat, weil ihr die erforderlichen Informationen fehlen und weil sie ihr vorenthalten werden. Auch könnte es sein, dass diese Personengruppe zu den besagten Alternativen (obschon sie von ihnen weiß) keinen Zugang hat. Oder es könnte sein, dass diese Alternativen für sie nicht »sicher« genug sind, und zwar in dem Sinne, dass sie die Gesundheit dieser Menschen gefährden, sie finanziell in Bedrängnis bringen oder sozial isolieren. Die Frage der Verfügbarkeit von Alternativen lässt sich demnach nicht absolut – also ein für allemal und für alle zugleich – beantworten. Vielmehr sind Alternativen immer nur unter bestimmten Bedingungen verfügbar, und zwar für eine gewisse soziale Einheit Y. Sind für Y Alternativen verfügbar – wie das in Wohlstandsländern größtenteils der Fall ist – und wird X von Y dennoch verdinglicht, verstößt dies gegen eine »bessere« Form der menschlichen Praxis. Denn eine solche
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Verdinglichung ist ein Privileg, für das es keine Rechtfertigung gibt. Dass auf diese Weise das Wohlergehen der Tiere völlig »unnötig« beeinträchtigt wird, ist ein weiteres Unrecht, das wir ihnen antun. Das eben Gesagte gilt für den Fall, dass Tiere verdinglicht werden, obschon es Alternativen gibt. Was aber, wenn dem nicht so ist? Wer beispielsweise trägt die Verantwortung dafür, die Bedingungen so zu verändern, dass für Y Alternativen verfügbar werden? (Vgl. dazu Petrus 2013b) Der Vorschlag, es sollten sich alle daran beteiligen, die an der Verdinglichung der Tiere partizipieren oder sie legitimieren, mag aus Sicht einer »idealen« Moraltheorie vielleicht begründet sein. Er sieht allerdings über die Tatsache hinweg, dass z.B. Politik, Staat und Gesetz integrale Bestandteile eines Mechanismus darstellen, der die Verdinglichung der Tiere maßgeblich am Laufen hält (siehe oben, Abschnitt »Kontrollieren«). Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt liegt es vermutlich in den Händen engagierter Menschen, Aktivist_innen, Gruppierungen und NGOs, an die Solidarität der Gesellschaft mit allen Tieren zu appellieren, indem sie mit Kampagnen das System der Verdinglichung herausfordern, immer wieder über Alternativen informieren und so die Verdinglichung der Tiere als »unnötiges« Privileg und politisches Unrecht anprangern.
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Von Bienen und Menschen Ulrike Kruse
Bienen und Menschen werden von Aristoteles (384-322 v.chr.Z) als zoon politikon, staatenbildende Geschöpfe, bezeichnet.1 Bis in das 18. Jahrhundert wurde davon ausgehend das Verhalten der Bienen und jenes der Menschen als Parabel zur moralischen Unterweisung der Menschen gleichgesetzt. So werde der Bienenstaat von einem weisen und gerechten Herrscher geführt, der stabilisierend nach innen und wehrhaft nach außen das Gemeinwesen schütze, was ihm die Untertanen mit Gehorsam und fleißiger Arbeit für das Gemeinwesen dankten. Diesem Beispiel folgend solle auch der Menschenstaat durch einen gerechten Herrscher regiert werden und sollten die Untertanen ebenso fleißig und gehorsam gegenüber ihrem Herrscher sein. (Kruse 2013: 140-144) Gleichzeitig werden Menschen und Bienen auch je als ein zoon oikonomikon betrachtet: Beide bauen Häuser, »arbeiten voller Fleiß am ›gemeinsamen Werk‹« (Johach 2007: 223) und legen Vorräte an, die sie vor Dieben und Schmarotzern verteidigen. Es scheint, als verhielten sich Menschen und Bienen untereinander nach ähnlichen sittlichen und ökonomischen (im frühneuzeitlichen Sinne haushälterischen) Regeln. Dieser »Vergleich auf der Basis der Unvergleichbarkeit« (Johach 2007: 233) dient der sittlich-moralischen und ökonomischen Unterweisung der Leser_innen, bessere Menschen zu werden und ein besseres Leben zu führen. Die fleißige und altruistische Biene ist das Vorbild, um in soziomorpher Übertragung »Werktätigkeit und Sozialordnung als intentionale Leitbilder« (Topitsch 1958: 280f.) zu etablieren. Soziomorph bezeichnet nach Ernst Topitsch eine auf soziale Strukturen zielende Übertragung: »Einzelne Phänomene, ihre Zusammenhänge und schließlich das ganze Universum erscheinen als Vorgänge, Objekte und Produkte künstlerisch-handwerklicher Tätigkeit oder als soziale Strukturen und Sinnzusammenhänge wie Familie, Sippe und Staat, 1 | Aristoteles über Menschen: Politik, I, 2, 53 a (S. 35) [verwend. Ausg.: Aristoteles 1959]; Aristoteles über Bienen: Tierkunde, I, 1, 478b/488° (S. 51f.) [verwend. Ausg.: Aristoteles 1957].
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wie Brauch, Sitte und Recht, wie Lohn, Rache und Strafe. Die [erste] Gruppe von Analogien kann man als technomorph bezeichnen, wenn man den antiken Sinn von Techne als Kunstfertigkeit und nicht den modernen der Maschinentechnik zugrunde legt, die zweite als soziomorph.« (Topitsch 1958: 19)
Daneben sollen die Leser_innen auch zu erfolgreichem ökonomischen Handeln angeleitet werden. Das Mittel der Wahl dafür war in der Frühen Neuzeit die Ökonomik-Literatur, in der die Bienenkunde einen festen Platz hatte. Als Topos diente die Biene darin sowohl der Vermittlung von Orientierungswissen (warum tut man das, was man tut, so, wie man es tut – anhand zugeschriebener Verhaltensweisen von Bienen?) als auch der Vermittlung von Weltwissen (wie entstehen Honig und Wachs, wie ist der Lebenszyklus einer Biene, welche Nahrung benötigt sie?) und vor allem der Vermittlung von Regelwissen (wie werden Bienen gehalten, wie lassen sich Bienenprodukte gewinnbringend vermarkten?). Am Beispiel der Ökonomik-Literatur wird in diesem Beitrag gezeigt werden, wie die Bienen ambivalent als Subjekt und Objekt des Wirtschaftens beschrieben – oder zumindest als solche interpretiert werden können. Der Fokus liegt auf dem ökonomischen Mensch-Tier-Verhältnis in der Frühen Neuzeit. Zu jener Zeit war die Biene einerseits ein für sich selbst wirtschaftendes Subjekt, das Honig und Wachs produziert und sich vermehrt. Andererseits war es ein Objekt des Wirtschaftens des Menschen, denn dieser verwendet die Bienenprodukte und die Bienen zum eigenen Nutzen. Dabei stand außer Frage, dass der Mensch diese Produkte verwenden dürfe, weil sie zu seinem Nutzen von Gott geschaffen wurden, gegründet auf die Idee von der Fürsorge Gottes für seine Geschöpfe (conservatio dei2) und von der Vorstellung von der gottgegebenen Herrschaft des Menschen über die Erde (dominium terrae3). Besonderes Augenmerk liegt denn auch auf der Fürsorge des Imkers für seine Bienen, die im Gegenzug – so heißt es in den Quellen – durch besondere Treue auf sittlicher Ebene und durch fleißige Hingabe der Bienenprodukte auf ökonomischer Ebene belohnt werde.
2 | Conservatio dei wird in Genesis 1,29f. beschrieben: »Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben.« 3 | Die Vorstellung vom dominium terrae kommt wie in Genesis 1,28 zum Ausdruck: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.«
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Es geht darum zu zeigen, inwieweit Bienen verdinglicht werden und ob und wie sich die Sicht auf die Bienen im Laufe der Zeit verändert, angefangen im frühen 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit einem Ausblick ins frühe 20. Jahrhundert. Zur Beantwortung dieser Fragen werden zunächst die Quellen vorgestellt und die Begriffe »Subjekt« und »Objekt« geklärt. Dann folgt ein kurzer Abriss über historische Bienennutzung, an den sich eine kleine Einführung in Bienenbiologie und naturkundliches Wissen über Bienen in der Frühen Neuzeit anschließt. Im weiteren Verlauf wird gezeigt, wie die Biene als Subjekt und Objekt des Wirtschaftens in den Quellen begriffen wird. Ein Exkurs ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert deutet moderne Bienen-Betrachtungen an.
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In der Ökonomikliteratur geht es um Ackerbau, Vorratshaltung und Schädlingsbekämpfung, Viehhaltung, Fischzucht und Bienenhaltung, Holznutzung und Jagd, Gartenbau, Kräuter- und Arzneikunde. Dazu kommen Ökonomie/ Haushaltung mit Personalfragen und technischen Anforderungen sowie diverse hauswirtschaftliche Belange und moralisches Verhalten gegenüber der Familie und den Hausangestellten. Das Genre blühte besonders reich und rein vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und richtete sich an den häufig im Titel angesprochenen Hausvater als patriarchales Oberhaupt eines Hauses, eines Gutes, einer Familie. Jener Hausvater war für die Bewohner_innen des Hauses verantwortlich, so wie sie ihm dafür Gehorsam schuldeten. Ökonomiken boten einerseits »dem Leser normativ, pragmatisch und handlungsanleitend einen Orientierungsrahmen in Bezug auf seine eigene adlige Lebenswelt« (Schmidt-Voges 2008: 405), andererseits darf das Idealische an der Beschreibung dieser Lebenswelt nicht übersehen werden (vgl. Ehlert 1991: 166). In den Werken wurde beschrieben, wie es sein sollte; ob es wirklich so war, steht auf einem anderen Blatt. Der Name »Ökonomik« besteht aus zwei Teilen: Der erste ist griechisch oikos: Haus. Der »Oikos« ist der »autoritär geleitete Großhaushalt eines Fürsten, Grundherrn, Patriziers« (Weber 1980: 230). Der zweite Wortteil ist nomos: Gesetz, Regel – ursprünglich: Wohnstätte, Weideplatz. Oikonomia verbindet also die räumlichen Elemente Haus und Wohnung mit den ökonomischen Elementen Besitz, Haushalt, Verwaltung und Wirtschaft sowie sozialen Elementen wie Familie, Gefolgschaft, Verwandtschaft und Regeln bezogen auf (politische) Herrschaftsverhältnisse (vgl. Derks 1996: 226f.). Diese Elemente werden zu einer wohl eingerichteten Wohnstätte – dem »Ganzen Haus« – verknüpft (Brunner 1966; Troßbach 1993).
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Interessant in Bezug auf die Bienen ist das Konzept des patriarchal geführten »Ganzen Hauses« für die Übertragung von Bieneneigenschaften und Sozialverhalten der Bienen auf menschliche Gemeinschaften. Die Weisel – heute werden sie als Bienenköniginnen bezeichnet, doch in der frühen Neuzeit galten sie gemeinhin als männlich – werden als Hausväter im Bienenstock angesehen, Imker als Bienenväter und Hausväter. Der Gehorsam der Bienen gegenüber Weisel und Imker wird mit ihrer Liebe zu ihrem umsichtigen und fürsorglichen Oberhaupt erklärt. Als Quellen dienen Ökonomiken aus dem 17. und 18. Jahrhundert: zunächst der 1611 vom brandenburgischen evangelischen Theologen Johann Coler veröffentlichte Nützliche Bericht von den Bienen, der als Appendix zur sechsbändigen Oeconomia ruralis et domestica oder Hausbuch (1593-1606) erschien. Colers Werke wurden bis in das 18. Jahrhundert gedruckt und zitiert, wobei sie vielfach verändert und erweitert wurden. Das zweite Werk ist die Georgica Curiosa, oder Adeliches Land- und Feldleben (1682) des österreichisch-schlesischen Adligen Wolf Helmhardt von Hohberg (1612-1688), die reich ausgestattet für den begüterten Adligen geschrieben war. Dieses gelehrte Werk wurde erfolgreich mehrfach aufgelegt (verwendet wird die zweite Auflage von 1695), genau wie der postum 1702 erschienene Oeconomus prudens et legalis oder Allgemeiner Klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter (1705 [1702]) des pfälzischen evangelischen Theologen Franz Philipp Florin (1649-1699). Mit der letzten Quelle vom Ende des 18. Jahrhunderts, dem fünf bändigen Hausvater in systematischer Ordnung (1783-1786) des brandenburgischen evangelischen Theologen Christian Friedrich Germershausen (1725-1810), stirbt das Genre.4 Germershausen forderte volksaufklärerisch die Gutsbesitzer und Landpfarrer als Wissensmultiplikatoren dazu auf, der ›ungebildeten‹ Landbevölkerung neue landwirtschaftliche Techniken bekannt zu machen.
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Ohne auf die umfangreiche Diskussion zum Thema einzugehen, haben Subjekte folgende Eigenschaften: Sie sind sich selbst bewusst – in der Diktion der Quellen haben sie »Seele und Verstand«.5 Sie handeln selbstbestimmt, 4 | Es etablieren sich mit den sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitenden Zeitschriften kleine Textformen, die spezialisiert über Einzelthemen sprechen statt in enzyklopädischer und kompilativer Weise möglichst viele Aspekte des Lebens auf dem Lande abdecken zu wollen. 5 | Eine subjektive Seelen- und Verstandeszuschreibung bei Tieren ist in der Vormoderne besonders selten, da in der christlichen Religion Tiere weder eine unsterbliche Seele haben können, noch als mit Geisteskräften begabt gedacht werden. Sie sind
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zweck- und zielgerichtet und nach eigenem freien Willen. Sie existieren ohne Fremdzweck, nur sich selbst verpflichtet; damit sind sie sich selbst genug, also autonom. Darüber hinaus sind sie Partner_innen anderer Subjekte, also intersubjektiv, und stehen den Objekten gegenüber, d.h., sie sind von ihnen getrennt. Sie (aktiv) können sich (passiv) selbst betrachten (Selbstreflexion) und werden (passiv) durch andere Subjekte betrachtet. Sie sind (aktiv) diejenigen, die andere Subjekte betrachten, und diejenigen, die Objekte nicht nur betrachten, sondern auch benutzen. Objekte sind passive Gegenstände der Betrachtung und Benutzung durch Subjekte. Sie existieren zweckgebunden, denn »der Gegenstand ist als Etwas bestimmt immer nur soweit […] er zu Etwas bestimmt ist« (Cassirer 1985: 64, Herv. i.O.). Objekte sind sachdienlich (Cassirer 1985: 89), ihre Betrachtung und Benutzung sind interessengeleitet, z.B. aus finanziellem Interesse, Besitzinteresse, Nutzungsinteresse oder Interesse an Wissen. Der Mensch hat vor allem ein Nutzungsinteresse an der Biene. Insofern ist sie für ihn ein Wirtschaftsobjekt. Die von ihr angelegten Vorräte für Zeiten mit geringem Nahrungsangebot werden durch den Menschen genutzt, ohne dass die Biene dies je beabsichtigt hätte. Das macht die Biene zu einem Produktionsmittel. Dabei geschieht die Honigproduktion mit Vorratshaltung nicht aus äußeren, sondern aus inneren, d.h. natürlichen Gründen: Bienen benötigen Energie aus Nahrung (Honig), zur Brutpflege und zur Aufrechterhaltung des Lebens im Bienenstock. Sie produzieren primär für den Eigenbedarf und konsumieren die eigenen Produkte, bilden eine in sich geschlossene, nach außen abgegrenzte und organisiert handelnde Wirtschaftseinheit, also ein Wirtschaftssubjekt (betriebswirtschaftliche Definition in Schierenbeck/Wöhle 2012: 23): Eine begrenzte Anzahl Bienen produziert eine messbare Menge Honig und Wachs innerhalb eines ausgeklügelten arbeitsteiligen Systems.
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DURCH DIE Z EIT : NATURKUNDLICH , ME TAPHORISCH UND ÖKONOMISCH Bienenprodukte nutzen die Menschen seit mindestens 12.000 Jahren, wie eine Felszeichnung mit der Darstellung von Honigsammlern in Cuevas des la Araña in der spanischen Provinz Valencia zeigt (vgl. Crane/Pager 2001: 19-22). Nachweise für Bienenhaltung in Anatolien und auf Kreta stammen aus dem 5. Jahrtausend (v.chr.Z) (Bloch [u.a.] 2010: 11.243; Crane 1983). Aus etwa dieser beseelt nur insofern sie lebendig sind. Beseelt ist abgeleitet von hebr. § næfæš, Kehle/Lebendigkeit, lat. spiritus vitae. Mit dieser Lebendigkeit begabt Gott die Tiere (Gen 7,15).
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Zeit stammen auch Darstellungen vom Balkan und dem Gebiet der Ukraine (Crane 1999: 40). Die Ägypter betrieben spätestens vor 4.000 Jahren Imkerei in ihren Tempeln, z.B. um Honig und Wachs als Rohstoffe für Mumifizierungen zur Verfügung zu haben. Bei den Hethitern gab es Imkerei mindestens seit dem 17. Jahrhundert (v.chr.Z) (vgl. Lerner 1984: 32; Crane/Graham 1985: 23-41), wie Gesetze zeigen, die den Diebstahl von Bienenvölkern unter Strafe stellten. Es wird davon ausgegangen, dass auch in Israel6 seit dem 10. Jahrhundert (v.chr.Z) Bienenprodukte gewonnen wurden (vgl. Bloch [u.a.] 2010: 11.240). Auf der Apenninen-Halbinsel und im antiken Griechenland war Imkerei selbstverständlicher Bestandteil der Landwirtschaft (vgl. Lerner 1984: 4873). Auch für Nordwest-, Mittel- und Osteuropa kann von einer sehr frühen Nutzung von Bienenprodukten ausgegangen werden (vgl. Lerner 1984: 87), wie Beigaben aus frühmittelalterlichen Gräbern in Westeuropa und überlieferte Rechtsnormen zeigen (vgl. Lerner 1984: 90; Crane 1999: 227f.). Im Mittelalter wurde auf Honigprodukte aus Imkerei der Zehnte erhoben, für die gewerbliche Wald- und Heidezeidlerei bestand eine Abgabenpflicht auf Einnahmen aus Honigprodukten an die Landesherren. Honighandel zwischen Ost- und Nordwesteuropa sowie dem Mittelmeerraum, Byzanz und Zentralasien ist seit dem 10. Jahrhundert belegt (vgl. Lerner 1984: 84f., 132-137) – ganz zu schweigen von der Imkerei und Honigsammlung in anderen Teilen der Welt.7 Bienen sind also schon sehr lange und in nahezu allen Teilen der Welt Wirtschaftsobjekte. So wie Honig allezeit in aller Munde war, flogen Bienen zu allen Zeiten durch die Literatur von Hesiod über Aristoteles bis zu den römischen Landwirtschaftsautoren, um bei den Kirchenvätern genauso aufzutauchen wie in naturkundlichen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.8 In dem von Karl dem Großen initiierten Capitulare de villis (um 800) z.B. war Imkerei Bestandteil der Haushaltung (Ress 1794: 34).9 Johann Coler nennt am Anfang des 17. Jahrhunderts allein 17 antike, mittelalterliche und (mehr oder minder) zeitgenössische Autoren, die über Bienen schreiben: Aristoteles, Virgilius, Plinius, 6 | Allerdings verliert die Bibel kein Wort über Bienenhaltung. Stattdessen lässt sich z.B. Psalter 81,17 »Honig aus dem Felsen« als Honig von Wildbienen deuten. 7 | Sehr ausführlich beschreibt Crane (1999: 483-538) die Nutzung von Honig und Wachs. Sogar zu militärischen Zwecken sollten Bienen eingesetzt werden (Crane 1999: 539-544). 8 | Vgl. Olbertz 2008 über Bienen-Metaphorik und Nicolaye 2008 über naturkundliches Wissen über die Bienen in der Antike, allgemein Peil 1983 und Johach 2007. 9 | Imkerei wird in § 17 erwähnt: »Quantascunque villas unusquisque in ministerio habuerit, tantos habent deputatos homines, qui apes ad opus nostrum provideant.« [Auf jedem Landgut, so viele deren jeder Amtmann unter sich hat, soll er gewisse Bienenwärter zu unserm Nutzen bestellen. Übersetzung J.H. Ress], Bienenprodukte in § 34: Honig = »mel«, Met = »medum«, Wachs = »cera« (Gareis 1895: 43f.).
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Columella, Varro, Petrus de Crenscentiis, Constantinus (Africanus), Palladius, Dioscorides, Matthiolus, Conradus Heresbach, Thomas Brabantinus, Basilius, Ambrosius, Florentinus und Nicolaus Jacobi (vgl. Coler 1611: 1f). Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts verwiesen oft auf den Nützlichen Bericht von den Bienen von Coler. Dazu kommen Werke zeitgenössischer Autoren, die nicht auf Deutsch oder Latein veröffentlicht wurden, sowie Gartenbücher, die ebenfalls über Bienen sprechen. Über die Biene wurde in frühneuzeitlicher ÖkonomikLiteratur immer wieder auf die gleiche Weise gesprochen, bei ihr wurde stets auf die gleiche Vorläuferliteratur zurückgegriffen und sie wurde besonders oft metaphorisch zur Welterklärung verwendet. Gleichzeitig wurde zeitgenössische Fach- und Sachliteratur über Bienen herangezogen. Anhand dieses Referenznetzes, das Raum und Zeit überspannt und den Diskurs über Bienen abbildet, lassen sich Veränderungen im ökonomischen Denken über die Bienen diachron ablesen, genauso wie das in der Vormoderne gängige Naturbild: Zum einen galt die Natur als Vorbild für die Menschen, hier in Form des Bienengleichnisses, zum anderen war sie nützlich als Lieferant von Rohstoffen. Zum Dritten musste sie gelenkt werden, z.B. bei der Trennung von Bienenvölkern oder der Auslese der besten Weisel. Viertens schien die Natur als Schöpfung Gottes undurchschaubar (wie bei der Frage, woher der Honig stamme), aber mit den richtigen Mitteln beherrschbar, weil Gott dem Menschen die Herrschaft über die Erde (dominium terrae) gegeben hat. Die Bienen waren als Thema in der Landwirtschaftsliteratur besonders beliebt – einerseits um metaphorisch ein Beispiel zu liefern für moralisch gutes Handeln, andererseits als Objekt, das sowohl ökonomisch unter dem Aspekt des Nutzens betrachtet wurde, als auch als Objekte naturkundlicher Forschung.
Bienen-Naturkunde Bienen leben in Völkern von etwa 20.000 Individuen im Winter und bis zu 50.000 im Sommer (vgl. Tautz 2010: 13). Von einer einzigen Königin, die fünf bis sechs Jahre leben kann, werden pro Jahr mehrere Hundert Drohnen erzeugt; das sind männliche Bienen, die der Fortpflanzung dienen und einen Sommer überleben. Außerdem legt die Königin zigtausende Eier, aus denen weibliche Arbeitsbienen schlüpfen, die ihre wenigen Wochen Lebenszeit mit verschiedenen Aufgaben ausfüllen. Ihre Fähigkeit zum Farbsehen (blau, gelb, ultraviolett) in Kombination mit ihrem Geruchssinn erleichtert ihnen das Auffinden von Blüten als Nahrungsquellen (vgl. Tautz 2010: 73-86). Sie haben hohe Kommunikationsfähigkeiten (komplexe »Bienentänze«) und ein phänomenales räumliches Gedächtnis (vgl. Tautz 2010: 88-111). Die Nahrung der Bienen besteht aus Honig und Blütennektar, den sie wiederum zu Honig verarbeiten, indem sie ihn mit ihrem enzymreichen Speichel
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vermischen und so haltbar machen. Sie produzieren pro Volk etwa 300 Kilogramm Honig pro Jahr, von denen Imker_innen 15 bis 20 Kilogramm ernten können, ohne das Volk zu schädigen, wie der Deutsche Imkerbund auf seiner Internetseite schreibt. Das Wachs für ihre Waben produzieren die Bienen aus Drüsensekreten. Sie benötigen zum Bau eines mittelgroßen Bienenstocks etwa 1,2 Kilogramm Wachs (vgl. Tautz 2010: 159). Die meisten Erkenntnisse über Bienen stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. In der Frühen Neuzeit dagegen gab es relativ wenig gesichertes naturkundliches Wissen über sie. Trotzdem wurde erfolgreich Bienenhaltung betrieben. Sind also biologische Erkenntnisse über die Krankheiten der Bienen, den Ablauf der Begattung, über Kommunikation, Nahrung, Lebenszyklus und Vorgänge im Stock unwichtig für die Bienenhaltung? Ganz so einfach ist es nicht. Bereits seit der Antike wurde die Biene als Insekt untersucht und beschrieben – als Referenz für die Frühe Neuzeit kann die Tierkunde von Aristoteles10 gelten. Viele dieser Beschreibungen gehören aus heutiger Sicht in das Reich der Mythen und Legenden, zum Beispiel die Namensgebung: Eine Etymologie leitet den lateinischen Namen apis vom ägyptischen Wort Apis für Stier ab, weil man glaubte, Bienen entstünden aus Stierkadavern.11 Diese scheinbare Vermehrung ohne Zeugungsakt brachte den Bienen den Ruf besonderer Tugendhaftigkeit ein. Bezüglich der Bienennahrung gab es die Vorstellung, der Honig falle als gottgegebener Tau wie Manna vom Himmel. Das wurde allerdings auch von manchen bezweifelt: Johann Coler schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts, die Bienen saugten einen »süssen/ subtilen/ lautern/ reinen/ und gar gesunden safft aus den Blumen/ nemlich den Honig« (Coler 1611: 3) – obwohl er gern die Idee von der Gottesgabe verfolgte, weil er auf diese Weise dem Honig besondere Kräfte zuschreiben konnte. So sei Honig ein »edler Safft des Himlischen Tawes/ das edelste ding/ das die edelste Tugend hat« (Coler 1611: 91). Auch Hohberg bezweifelte, dass Honig als Tau vom Himmel falle, und verwendet ein Argument aus der Beobachtung des Verhaltens der Bienen: Sie sammelten Honig sowohl wenn Tau gefallen sei, als auch wenn es trocken sei, obwohl dann gar 10 | An folgenden Stellen spricht Aristoteles in der Tierkunde über Bienen: die Biene als zoon politikon = staatenbildend wie der Mensch: I, 1, 478b/488a (S. 51f.); Gestalt: IV, 7 (S. 170ff.); Entstehung: V, 21 (S. 227f.); Arten: V, 22 (S. 228-232); Verhalten: IX, 40 (S. 420-433) [verwend. Ausg.: Aristoteles 1957]. 11 | Vgl. z.B. Ovid: »Siehest du nicht, wie jeglicher Leib, den erweichende Wärme / Auflöst oder die Zeit, in kleines Getier sich verwandelt? / Geh und geschlachteten Stier von erlesener Güte verscharre: / Wie die Erfahrung lehrt, gehn blumenbenaschende Bienen / Bald aus dem Aase hervor, die emsig nach Sitte des Zeugers / Schaffen im Feld und fördern das Werk und sich mühen in Hoffnung.« (Ovid o.J.: Metamorphosen 15, 361-67 [S. 147].)
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kein Honig zu finden sein dürfte. Außerdem habe der Honig die Eigenschaften der Blumen, von denen er stamme, »daher man in Sardinia bitters Hönig findet/ wegen des Wermuths/ der häuffig darinnen wächset« (Hohberg 1695: 459). Neben zweifelhaften Geschichten war ebenfalls mindestens seit Aristoteles sehr viel gut Beobachtetes über Bienen bekannt. So wurden ihre Gestalt und Farbe, aber auch Abweichungen von der festgesetzten Norm genau beschrieben. Farbveränderungen galten als Anzeichen für Faulheit und damit als Ausschlusskriterium bei der Zucht (vgl. Coler 1611: 47), denn nur eine fleißige und produktive Biene galt als gute Biene. Anerkannt war auch, dass Bienen ein Larvenstadium durchlaufen: »Die Altbienen brüten ein weisses Würmlein aus/ das junerhalb viertzig tagen eine biene wird«, wie Coler (1611: 43) beschreibt. Die Frage, woher die »Würmlein« in den Waben kämen, wurde verschieden beantwortet. Es herrschte die Ansicht vor, die Larven würden als unbelebte Materie in den Stock getragen und dort in lebende Materie umgewandelt. Sie würden »im Frühling aus den Blumen und Kräutern gesogen/ […] in ihre Hütlein eingelegt/ und hernach von ihnen [den Bienen, U.K.] ausgebrutet«, gab Hohberg (1695: 415) eine strittige Ansicht wieder. Für ihn selbst und später für Florin war dagegen geschlechtliche Vermehrung wahrscheinlich (vgl. Hohberg 1695: 415f.; Florin 1705: 1147), denn auch für die Bienen gelte das Bibelwort: »Seid fruchtbar und mehret euch!« (Gen 1,28), welches nur in der geschlechtlichen Vermehrung als der natürlichen Ordnung entsprechend erfüllt werde. Deshalb gestehen sie den Bienen Schamhaftigkeit zu und glauben, sie vollzögen die Paarung an geschützten Orten. Damit im Zusammenhang steht die Unkenntnis über das Geschlecht der Weisel. Charles Butler (1560-1647) beschrieb in The feminine monarchie or a treatise concerning bees (1609) die Weisel als weiblich; Jan Swammerdam (16371680) wies am Ende des 17. Jahrhunderts das weibliche Geschlecht der Weisel experimentell nach. Er verwarf die Bienenstaatsmetapher und nannte die Arterhaltung die einzige Motivation der Bienen (Swammerdam 1752: 159). Doch weder Butlers noch Swammerdams Argumente wurden in der Sachliteratur aufgegriffen. Noch 1740 problematisierte Friedrich Christian Lesser (16921754) in der Insecto-Theologia (1740) die Weiblichkeit der Weisel. Er sicherte die Übertragbarkeit des Bienenstaatsmodells, indem er auf Königinnen wie Christina von Schweden und deren kluge Staatsführung verwies (vgl. Lesser 1740: 227f.). Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die weibliche Weisel anerkannt (z.B. Schirach 1770, »Biene« in Krünitz 1774: 169f.), dann allerdings so gründlich, dass die Bienenstaatsmetapher nicht mehr verwendet wurde. Deutlich bekannter waren anatomische Besonderheiten der Biene wie die Honigblase, in die die Biene den Nektar aus den Blüten einsaugt und aus der sie ihn im Stock wieder erbricht. Coler (1611: 3) beschreibt, sie brächten Honig
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»im Leibe in einem sonderlichen bläßlein in die Stöcke/ damit erfüllen sie die Löcher des Wachses«. Hohberg verknüpfte die Größe der Honigblase mit der Leistungsfähigkeit der Bienen beim Nektarsammeln: »Wann man eine Biene voneinander zerreißet/ so wird man in der Mitte ein Bläslein finden/ darinnen das Honig ist/ etliche als ein Erbse/ etliche als ein Hirsekorn/ darnach viel oder wenig Nutzung zu finden ist.« (Hohberg 1695: 416) Er leitete daraus Regelwissen ab: Je größer die Honigblase, desto mehr Honig kann eine Biene produzieren. Daraus lässt sich eine Regel für die Bienenzucht entwickeln: Verwende nur Bienenvölker zur Vermehrung, deren Individuen besonders große Honigblasen haben.
Abbildung 1: Bienentafel: Sehr frühe mikroskopisch genaue Abbildungen der Anatomie der Bienen mit Beschreibung Ebenso waren der Orientierungssinn und das »Gedächtnis« der Bienen bekannt, weshalb Bienenstöcke im Sommer nicht an andere Orte gebracht werden sollten. Die Bienen flögen zum ursprünglichen Standort zurück und müssten dort »in Ermanglung ihrer Speis/ und des Obdachs/ verschmachten« (Florin 1705: 1136) – ein empfindlicher Verlust auf mehreren Ebenen: Erstens
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könne der Imker sein Besitzrecht am Bienenvolk nicht beweisen, weshalb er das Volk verliere und damit das Geld, das er für das Volk ausgegeben habe. Rechtlich gehörten die geschwärmten Bienen nämlich demjenigen, der sie auf seinem eigenen Grund einfangen konnte. Das Nachsehen hatte der ursprüngliche Besitzer, der sie teuer bezahlt hatte. Zweitens entgingen ihm die Einnahmen aus der Honig- und Wachsproduktion dieses Schwarms. Deshalb wurde auch ausführlich das Schwärmen der Bienen beschrieben und erklärt, wie der Imker seine Völker auf seinem eigenen Grund und Boden halten könne. Rechtlich gehörten die geschwärmten Bienen nämlich demjenigen, der sie auf seinem eigenen Grund einfangen konnte. Das Nachsehen hatte der ursprüngliche Besitzer, der sie teuer bezahlt hatte. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Lorscher Bienensegen aus dem 9. Jahrhundert. In einem lateinischen Codex aus dem Kloster Lorsch findet sich auf dem unteren Rand der Seite 58r seitenverkehrt ein althochdeutscher, besser gesagt: rheinfränkischer Text, der dazu diente, die Bienen beim Schwärmen auf dem eigenen Grund und Boden zu halten. Er lautet [originaler Zeilenfluss]: »kirst imbi ist huzce nu fliuc du uihu minaz hera frido frono inmunt godes gesunt heim Zicommone sizi sizi bina inbot dir sce maria hurolob nihabe du Ziholze ni fluc du noh dumur nin drinnes noh dumirninnt uuin nest sizi uilu stillo vuirki godes uuillon.« (Lorscher Bienensegen 9. Jh.)
Übersetzt heißt er ungefähr: »Christ, der Bienenschwarm ist hinaus[geflogen], nun flieg du, mein Vieh, heran. Im Frieden Gottes [inmunt godes] und gesund komm heim. Sitz, sitz, Biene, gebietet dir die heilige Maria. Urlaub hast du nie, ins Holz fliege nie, noch sollst du mir entrinnen, noch flüchten. Sitz ganz still, erfülle Gottes Wille.« [Übersetzung U.K.]
Das Problem, dass Bienenschwärme ›ihr‹ Gebiet verlassen, wurde also so ernst genommen, dass sogar Beschwörungsformeln erdacht und niedergeschrieben wurden. Die Biene, die als Produktionsmittel und damit als Wirtschaftsobjekt von Interesse war, wurde dabei als Subjekt angesprochen, weil ihr subjektive Eigenschaften, z.B. Verständigkeit, zugebilligt wurden, wie sich gleich zeigen wird. Naturkundliches Wissen über Bienen war also keinesfalls unwichtig für die Bienenhaltung, wenn auch Unwissenheit über Vermehrungsstrategien oder das Geschlecht der Weisel in der Frühen Neuzeit bei der Imkerei nicht ins Gewicht fielen. Wichtig waren vor allem naturkundliche Erkenntnisse über
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die Bedürfnisse von Bienen, um sie und mit ihnen ihre Imker vor Schaden zu bewahren. Wichtig war auch, dass sich die Bienen vermehrten, denn Bienenvölker waren genauso eine Handelsware wie Honig und Wachs.
Bienen-Wirtschaftskunde Bei der Beschreibung der Bedürfnisse der Bienen wurde bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am wenigsten deren biologische Verfasstheit herangezogen. Als besonders wichtig galten stattdessen ihr Sozialverhalten und sich daraus ergebende Neigungen und Eigenschaften wie Zorn, Fleiß oder Reinlichkeit. Die Biene war sozusagen eine Persönlichkeit, ein Subjekt, das zur Mitarbeit an der Produktion überzeugt werden musste. Denn als Subjekt des ökonomischen Handelns produziert die Biene zunächst für sich selbst: Sie baut aus Wachs ihre Waben – in der Diktion der Hausväter ihr »Haus« – und benötigt Honig als Nahrung, von dem sie Vorräte anlegt, die in nektarfreien Zeiten das Volk ernähren müssen. Deshalb wurden den Bienen in der Frühen Neuzeit in soziomorpher Übertragung haushälterische Fähigkeiten und planvolles, vorbedachtes Handeln zugeschrieben. Die Staatenbildung und das Sozialverhalten der Biene dienten als Gesellschaftsmetapher. In einem dialektischen Verhältnis galt einerseits der Bienenstaat als Vorbild für die menschliche Gesellschaft, andererseits wurde die Konstruktion vom Staat auf die Bienen übertragen. Sie diente als Vorbild für den Hausvater, der sein Haus genauso gut bestellen sollte, wie es die Bienen scheinbar tun: »Diese edle Creatur der lieben Bienichen/ soll ein jeder frommer Haußwirth haben/ nicht allein/ daß sie uns mit ihrem lieblichen Honig viel dienen in Speisen/ Trencken/ Arzneien/ sondern auch wegen ihrer grossen Geschicklichkeit/ und wohlbestellten Regiment/ daß sie uns in vielen Sachen gute Exempel und instruction geben/ wie wir uns im gemeinen Bürgerlichen leben/ unnd in unserer Haußnarung verhalten sollen: wenn wir nur ihrem exempel/ thun und wesen recht nachdencken wollen.« (Coler 1611: 51)
Soziomorpher Analogie folgt die Beschreibung der Bienen als »Bürger in einer Stadt« (Coler 1611: 2), die arbeitsteilig geregelten Tätigkeiten nachgehen, wie Wasser holen, Waben bauen oder als Soldaten den Stock bewachen (vgl. Coler 1611: 3). Die Bienenstöcke seien wie Städte, deren »Gassen also beederseits mit aneinander benachbarten und angräntzenden Häusern versehen/ […] so sauber und reinlich erhalten« sind (Hohberg 1695: 414), denn es sei »kein Thier der Unreinigkeit so feind/ als dieses« (Florin 1705: 1143). Ihnen werden subjektive Eigenschaften wie Fleiß und Sparsamkeit zugesprochen: »Bey denen Bienen weiß ein jedes/ so zu sagen/ ihre besondere Pflicht. […] Sie sind fleissig in der Arbeit und sparsam im Erworbenen« (Florin 1705: 1141). Ihre Be-
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hausungen seien beispielhaft für das Wirken der Hausfrau im Haus, wo die »emsigen Hausmütter/ ihre Speiß-Gewölbe/ und Vorraths-Kammer darneben haben und anfüllen können« (Hohberg 1695: 414) – eine Interpretation, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Akzeptanz der weiblichen Weisel erleichterte. Ihre ganze Gesellschaft sei so eingerichtet wie die menschliche: »Und wie ein jedes Königreich ihre Könige und Unterthanen/ Räthe und Beamten/ Handwerksleute und Bauren/ Officire und Soldaten/ gesetzte Statuten/ und Ordnungen habe […]; Also findet sich dieses alles bey den Bienlein/ die in ihren Bienstöcken gleichsam ihre Wohnstätte und ausgezeigten Häuser/ ihr Proviant/ und Königliche Burg halten; ihre Handwerksleute/ die diß alles bereiten/ ihre Soldaten/ die für das Vatterland fechten […]/ ihre Bauren/ die Speis und Tranck hinein verschaffen/ ihre Räthe/ die dem König beystehen/ ihre Fourier/ Wächter/ Köche/ Hausknechte und Tagwercker/ ihre gewissen Statuten und Ordnungen.« (Hohberg 1695: 417)
Die Weisel seien »ihre von Gott verordnete Obrigkeit« (Coler 1611: 51), die als gute Könige ihre Untertanen nach innen und außen schützten. Diesen Schutz und die weise Staatsführung dankten die Bienen – wie die Menschen es sollten – ihren Königen durch Gehorsam. Sie »schaffen ihm auch durch ihre trewe und fleissige arbeit notdürfftigen tribut unnd unterhalt« (Coler 1611: 51) und seien ihm ergeben: »Diesen haben die Bienen in grosser acht/ bauen ihm ein sonderlich Wonung und Schlos/ hoch empor/ darinnen er allein sitze und seyn/ als ein König/ den haben sie lieb und werth/ und bleiben todt oder lebendig bei ihm.« (Coler 1611: 47) Sie trauerten um ihren Weisel, wenn er sterbe, säßen »mit grosser trawrigkeit bey ihrem verstorbenen König […] und arbeiten gar nichts/ sondern sterben vielmehr« (Coler 1611: 48). Hohberg überträgt menschliche gesellschaftliche Strategien zur Herrschaftslegitimation auf den Bienenstaat: »Bey den Bienen aber mag man wol sagen/ daß es ein angebornes Erb-Königreich sey/ dann der König wird nicht erwählt/ sondern gebohren/ er reisst die Herrschaft weder durch List/ noch durch Verrätherei oder Gewalt zu sich/ sondern die Natur hat ihn/ von seiner Geburt an/ zu einen König erkohren/ er bringet Scepter und Kron mit sich auf die Welt/ und allen seinen untergebenen Bienlein ist von Natur die Ehrerbietung und der Gehorsam gegen ihrem Oberhaupt so fest eingepflantzet/ daß sie weiter keiner Huldigung bedörffen.« (Hohberg 1695: 419)
Deshalb symbolisiere das einheitlich handelnde Bienenvolk die Monarchie: »Es ist kein Stock oder Schwarm […]/ der nicht seinen eigenen Weisel und König habe/ den alle Bienen mir solchem Ernst und Eifer/ ehren und lieben/ daß sie/ als gehorsame Unterthanen/ ihm/ wohin der sich begibt/ folgen/ Tribut/ Nahrung und
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Unterhalt abstatten/ ihn bewahren/ begleiten und beschützen/ auch in aller Gefahr/ als treue Leib-Trabanten/ in ihre Mitte nehmen/ und treulich anhangen.« (Hohberg 1695: 417)
Bei den Bienen treffen sich – ganz wohleingerichteter Staat – die positivsten Eigenschaften der Untertanen wie des Königs: »In Summe/ sie haben alle weltliche politische Tugenden/ die Vorsichtigkeit das Gewitter zu prognostizieren/ und sich dafür zu hüten; die Weisheit/ sich der Gelegenheit zu gebrauchen; den Fleiß/ ihre Wirthschafft und Vorraths-Kammer aufs beste zu versehen; die Einträchtigkeit/ nach ihres Königs Willen den Frieden zu erhalten; und die Tapferkeit/ sich auf Anführung ihres Printzen/ den Feinden zu widersetzen.« (Hohberg 1695: 418)
Ihre Tugenden seien die bevorzugten Tugenden in einem idealen Staat: vorausschauendes und weises Handeln, Fleiß, Eintracht nach innen und Wehrhaftigkeit nach außen. Nicht zu unterschätzen sei vor allem ihre Wehrhaftigkeit im Zorn: »Die Bienen sind ein zum Zorn bald aufzureizendes liebes Thierlein/ und wer sich nicht wohl fürsiehet/ wann er nah zu ihnen will/ der wird die Wirkung am Leib entsetzlich fühlen/ wann er sie böse macht.« (Florin 1705: 1151) Aber diese kleinen, etwas unberechenbaren Subjekte waren nun einmal Produktionsmittel. Es war Konsens, dass dem von Gott als Herr über die Natur eingesetzten Menschen die Nutzung der Bienenprodukte zustehe, denn er halte die Bienen »um dieses Nutzens willen: Daher ist auch diesem erlaubt/ und wann er anderst der Biene Arbeit genießen will/ nöthig/ sich gegen ihre durchdringend und brennenden Stacheln zu verwahren/ auch sie sonsten nach seinem Willen zu bändigen.« (Florin 1705: 1151) Nun kann der Imker den Bienen zwar mit Gewalt ihre Vorräte nehmen, dies führt aber mittelfristig zu hohen Verlusten an Bienenvölkern und damit an Honig und Wachs. Deshalb sollten die Bienen als selbstbestimmte Subjekte dazu gebracht werden, ihre Produkte ihrem Imker freiwillig hinzugeben. Milde und Gerechtigkeit des Königs wurden explizit als Ursache der Liebe seiner Untertanen herausgestellt. Der Imker sollte sich ein Beispiel am Bienenkönig nehmen und die Völker genauso umsichtig und sorgfältig überwachen und pflegen, so wie es der Bienenkönig im Stock täte. Ob der Hausvater selbst oder angestellten Spezialisten Imker sein sollten, wurde kontrovers diskutiert, weil der Biene besondere Treue zu ihrem Imker nachgesagt wurde. Angeblich liebte sie ihn so sehr, dass sie stürbe, wenn er stürbe. Imker und Weisel wurden gleichgesetzt in ihrer Funktion als paternales Oberhaupt des Bienenvolkes und »Bienenväter« genannt: So, wie die Bienen ihren Weisel liebten und bei seinem Tod um ihn trauerten, so liebten sie ihren
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Imker und würden seinen Tod betrauern. Wie sie nach dem Tod ihres Weisels kopflos und ohne Führung seien und ohne Anweisungen keine Arbeiten mehr durchführten, so ginge es ihnen auch beim Tod ihres Imkers. Übertragen illustriert diese Vorstellung die Position des Bienenvaters als Hausvater, dessen umsichtiger Führung Haus und Gut dringend bedürfen. Die Bewohner dieses »Ganzen Hauses« sollten sich ein Beispiel nehmen am Fleiß und der Strebsamkeit der Bienen, die »mit so unverdrossenem und stets wirckendem Fleiß in ihrer Arbeit geübet/ die Aemter mit so tüchtigen Subjecten versehen/ mit so artlicher Geradigkeit verrichtet/ mit so löblicher Ordnung anbefohlen und geschlichtet/ und das gemeine Wesen so treulich betrachtet/ aller eigene Nutzen/ Vortheilhaftigkeit und Untreu aber vermieden bleibe« (Hohberg 1695: 415).
Ihr Altruismus ist sprichwörtlich: »Sic vos, non vobis mellificatis Apes« – »So macht ihr nicht für euch selbst den Honig, ihr Bienen« (Hohberg 1695: 414), zitiert Hohberg einen Satz Vergils [zugeschr.], denn für sorgfältige Pflege überließen sie dem Imker mit Freuden ihren Honig: »Die Bienen pflegen uns das kleine Oertlein/ darauf sie stehen/ die geringe Herberge/ die wir ihnen vergönnen/ den wenigen Fleiß/ den wir darauf wenden/ mit so reichem Wucher und überschüssiger Verzinsung abzuzahlen/ daß sie wohl mehr als dreifachen Zehenden darfür reichen.« (Ebd.) Die Liebe der Bienen soll sich der Imker erwerben, indem er ihren Bienenfleiß belohnt: Er soll für Nahrung und Frischwasser sorgen, sie vor kalten Winden und Störungen schützen und vor Schaden durch Fraßschädlingen bewahren. Dann liefern sie ihm bereitwillig die begehrten Güter. Bienen produzieren also zwar für sich selbst, sind aber nicht die einzigen Nutznießer. Sie waren und sind als Objekt des Wirtschaftens für ihre Imker ein Produktionsmittel zur Herstellung von Honig, Wachs sowie Bienenvölkern.12 Wer in der Frühen Neuzeit Imkerei betreiben wollte, konnte entweder durch Glück einen Schwarm einfangen oder musste Bienenvölker käuflich erwerben (vgl. Florin 1705: 1136). Es wurden umfangreiche Regeln aufgestellt, wo und wann Bienen gekauft werden sollten, z.B. im Frühling, damit sie »den Flug in ihrem Quartier desto gewisser lernen« (ebd.), weil sie sonst zu ihrem alten Standort zurückflögen. Besonderen Wert legten die Autoren auf die Kriterien, nach denen zu kaufende Bienenvölker ausgewählt werden sollten, wie 12 | Seit der Entdeckung der Bestäubungsleistung der Bienen (Sprengel 1793) Ende des 18. Jahrhunderts (anerkannt wurde es erst etwa 1830) zählt auch diese zur ökonomischen Bedeutung, sind die Bienen doch für landwirtschaftliche Erträge mitverantwortlich.
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ihre Lebhaftigkeit und ihr Fleiß, aber auch das Alter der Völker und der Zustand der Stöcke (vgl. ebd.). Diese Eigenschaften, auf die der Käufer achten sollte, wurden nicht nur aus biologischen Beobachtungen abgeleitet, sondern auch aus soziomorphen Interpretationen. So galt die Treue der Bienen zu ihrem Imker z.B. als Argument, keine Bienenvölker zu kaufen, wenn gerade deren Imker gestorben sei, denn sie wären unproduktiv und würden ebenfalls bald vor Trauer sterben (vgl. Coler 1611: 25). Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat die metaphorische Aufladung der Biene als zoon oikonomikon und zoon politikon und damit als Subjekt des Wirtschaftens und des moralischen Zusammenlebens in einem soziomorph interpretierbaren »Staat« hinter eine stärkere Objektivierung sowohl als Produktionsmittel als auch als naturwissenschaftliches Beobachtungsobjekt zurück. So begründete Germershausen bestimmte Maßnahmen bei der Bienenhaltung nicht mehr mit soziomorph übertragenden Verhaltensinterpretationen, sondern mit der »Natur«, sprich: den biologisch begründbaren Bedürfnissen der Bienen. »Bienenkünsteleyen« wie besonders schöne »Bienenhäuser« und »Bienenobservatorien« sind seine Sache nicht (vgl. Germershausen 1786: 512). Er sah Bienenhaltung vor allem als ökonomisch wertvollen Zweig der Landwirtschaft und propagierte einfache Bienenwirtschaft, in der Größe an die vorhandenen Bienenweiden angepasst. Damit thematisierte er als Erster (und letzter, da mit ihm das Genre stirbt) in der Hausväterliteratur die Endlichkeit natürlicher Ressourcen. War bis dahin die Fruchtbarkeit der Natur gottgegeben unendlich (vgl. Kruse 2013: 189f.), so konnte sie nun aufgebraucht werden: »Die nicht große Menge der Feld- und Wiesenblumen muß ferner gar nicht so angesehen werden, als ob sie unerschöpflich sey. […] Wer Beobachter seyn will, bemerke sich z.B. des Frühjahrs in seinem Blumengarten eine einfache Hyazinthe oder Primel, die des Morgens vor seinen Augen von einer Biene besuchet worden. Kommen nach der ersten Biene auf solche Blume andere nachgeflogen, so werden sie schnell wieder abfliegen, zum Beweise, daß die Blume von der ersten Biene bereits erschöpfet worden.« (Germershausen 1786: 513f.)
Germershausen generiert mit diesem Beispiel neues Orientierungswissen: Die Natur ist nicht unerschöpflich, obwohl sie von Gott wohl eingerichtet dem Menschen zum Nutzen übergeben wurde. Das heißt, der Mensch muss seine Bienenhaltung an die natürlichen Gegebenheiten anpassen, die Menge der Bienenvölker beschränken, Felder als Bienenweiden anlegen und Bienen als »Wanderbienen« (Germershausen 1786: 517) je nach Jahreszeit und Nahrungsangebot in ein anderes Gebiet versetzen. Den Nutzen dieser Maßnahmen verdeutlicht Germershausen anhand von Zahlen über mögliche Produktionsmengen bei Wachs und Honig:
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»In schlechten Jahren […] hat man von 30 Körben weiter nichts, als etwa 20 Pfund Wachs. In mittelmäßigen Jahren, und deren sind immer 2 und 3 gegen ein schlechtes, giebt es von 30 Körben schon mehr Wachs, noch einige gute Schwärme, und zu 30 bis 80 Kannen Ausbeute an Honig. Eben diese 30 Körbe können einen halben Zentner Wachs in guten Jahren haben. Die guten Schwärme kommen eben so hoch, als der alte Stamm gewesen ist, und man kann dazu etlichen 100 Kannen Honigvorrath anlangen.« (Germershausen 1786: 539f.)
Auf heutige Maße umgerechnet bedeutet das, dass Imker in schlechten Jahren 9,34 Kilogramm Wachs ernten konnten, in guten Jahren 25,7 Kilogramm.13 Da die Bienen etwa 1,2 Kilogramm Wachs im Stock verbauen, konnten Imker in guten Jahren also etwa zwei Drittel (0,8 Kilogramm) des Wachses pro Stock entnehmen. 30 Kannen Honig (in einem schlechten Jahr) entsprechen 540 Kilogramm Honig (1 Kanne — 18 kg), was in guten Jahren bei 80 Kannen Honig von 30 Bienenkörben 1440 Kilogramm Honig ergibt.14 Diese Zahlen legen nahe, dass die Imkerei sowohl die Eigenversorgung als auch handelbare Überschüsse an Rohstoffen und Bienenvölkern sicherte. Die Kenntnis praktikabler und probater Regeln über die Bienenhaltung war vor diesem Hintergrund für Landwirte unerlässlich. Eine Besonderheit ist die Wald- und Heidezeidlerei, die in »Neumark, Pommern, Preussen, Litthauen, Curland, Liefland, Polen, in dem Lüneburgischen, Zellischen, und andern mehr nordlich und nordostlich gelegenen Ländern« (»Biene« 1774: 418f.) betrieben wurde. Das Recht auf Honigsammeln wurde konzessionell an professionelle Zeidler, das sind Honigsammler, vergeben (vgl. Schirach 1774; Lühn-Irriger 1999: Kap. V.2). Bei dieser Form der Bienennutzung, die als Gewerbe vom Landwirtschaftsbetrieb unabhängig war, interessierte die soziomorphe Übertragung des Bienenverhaltens nicht. Die wilden Bienen in Wald und Heide waren als Produktionsmittel Objekt des Wirtschaftens, denn es ging ausschließlich um die ökonomische Nutzung der Bienenprodukte. Die Faszination, die die Bienen auf Imker und Naturforscher gleichermaßen ausübte, ließ den Strom an naturkundlichen und ökonomischen Schriften über Bienen nicht versiegen. 1869 veröffentlichte der Imker Johannes Mehring einen Ratgeber über Imkerei, dem er Überlegungen vorausschickte, die im 20. Jahrhundert in die Betrachtung der Bienen als Superorganismus mündeten. Er beschrieb das Bienenvolk als »Einwesen«, als »Bien«, und meinte, 13 | Das Berlinische Pfund entspricht etwa 467 Gramm, ein Zentner waren 110 Pfund. 14 | Die Berechnung für schlechte Jahre, also eine Kanne Honig pro Bienenkorb, stimmt mit den Durchschnittswerten überein, die heute für die Honigausbeute pro Stock angesetzt werden, nämlich 15-20 kg. Die für gute Jahre genannten etwa 2½ Kannen pro Korb (über 30 kg) erscheinen vor diesem Hintergrund hochgegriffen.
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dass »wir uns unter einem ›Bienenschwarm‹ nicht eine Heerde zusammengeflogener Einzelwesen vorstellen dürften, sondern daß wir es hier mit einem tief in einandergreifenden thierischen Organismus zu tun haben« (Mehring [1869]: 15). Dieses »Einwesen« handele seiner Ansicht nach subjektiv selbsterhaltend und sei objektiv ein nutzbares Werkzeug für die Produktion. Diese Dualität der Biene als Subjekt und Objekt zugleich in Mehrings Werk erklärt sich aus dessen Anspruch: Es ist keine rein naturwissenschaftliche Bienenkunde, sondern ein Ratgeber für Imker. Deshalb finden sich darin nach den Ausführungen über den »Bien« sehr ausführliche Beschreibungen darüber, was ein Imker zur Bienenzucht benötige und wie er seine Bienenwirtschaft rationell und profitabel betreiben könne. Mit Der Bien und seine Zucht (1901) trat Ferdinand Gerstung (1860-1925), der Gründer des Deutschen Reichsvereins für Bienenzucht, in seine Fußstapfen. Die Ambivalenz, mit der Mehring die Bienen betrachtet, zeigt sich ähnlich in der Anziehungskraft, die Bienen bis heute auf Naturwissenschaftler_innen und Imker_innen gleichermaßen ausüben. Die intensive Beschäftigung mit diesem Insekt seitens der Biologie ermöglichte einerseits die korrekte Beschreibung einiger bisher rätselhafter Vorgänge im Bienenstock, wie die Temperaturregulation (vgl. Tautz 2010: 205-211) oder die Kommunikation der Bienen (vgl. Tautz 2010: 92-111; Frisch 1965). Ebenso erst kurze Zeit erklärbar, wenn auch bereits in den Ökonomiken problematisiert, ist das Raumgedächtnis der Bienen (vgl. Tautz 2010: 72-92). Auf der anderen Seite wurden die Bienen weiterhin zur soziomorphen Übertragung verwendet, z.B. von jenem thüringischen Bienenforscher Ferdinand Gerstung in seiner kurzen Schrift Der Sozialismus im Bienenstaat (1919). Er sah bei den staatenbildenden Insekten wie den Bienen Ähnlichkeiten zum »menschlichen Volksleben« und meinte, dort seien »soziale Ordnungen verwirklicht«, weshalb der Bienenstaat »scharf und klar als verkörperter Sozialismus in Erscheinung trete« (Gerstung 1919: 4) – nicht als Monarchie, sondern als Demokratie. Allerdings wollte Gerstung keine zeitgenössischen politischen Forderungen bezüglich der Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen auf den Bienenstaat übertragen. Sein Anliegen war wertkonservativ: Allgemeines Pflichtbewusstsein zum Nutzen aller war für ihn die wichtigste Eigenschaft der Mitglieder einer Gemeinschaft: »Nicht das ›Was‹ ein Glied tut, ist die Entscheidungsfrage, sondern das ›Wie‹, ob es von dem gleichen Pflichtgefühl getragen und bestimmt ist, etwas zum Besten zu leisten!« (Gerstung 1919: 30) Dies sollte ausgehend vom Vorbild »Bien« in der menschlichen Gesellschaft gelebt werden: »Mehr neidloses, gegenseitiges Vertrauen, mehr Pflichtgefühl für das Wohlergehen des ganzen Volkes, mehr gegenseitige Gleichschätzung und Anerkennung der Leistungen aller ohne Unterschied, das ist das Ziel, welches der sozial-demokratische Zukunftsstaat anstreben muß.« (Gerstung 1919: 31) Wieder wurden subjektive Eigenschaften
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der Biene als Vorbild genommen für ein anzustrebendes Verhalten menschlicher Subjekte in der Gesellschaft.
D AS DIALEK TISCHE V ERHÄLTNIS VON SUBJEK TIVER Z USCHREIBUNG UND OBJEK TIVER V ERDINGLICHUNG DER B IENEN DURCH DEN M ENSCHEN AUFGRUND VON N UTZUNGSINTERESSEN Die fleißige und altruistische Biene ist durch die Zeit ein leuchtendes Vorbild für den Menschen, gleichzeitig ökonomisch nützlich in ihrem Werk und ein Beweis für die Fürsorge Gottes für seine Geschöpfe: »Unter allen Thieren sey die Biene das klügste und kunstreichste/ und habe schier eine Seele und einen Verstand wie ein Mensch/ und ihr Werck sey ein Göttlich werck/ und dem Menschen sehr nützlich.« (Coler 1611: 53) Bienen sind als Subjekte beseelt und verständig und arbeiten weniger für als vielmehr mit dem Imker am göttlichen Werk. Der Imker schuldet Gott und den Bienen Dank für ihre Gaben: »Daraus wir absonderlich des grossen Weltschöpffers gütige Vorsorg erkennen und preisen sollen/ daß er aus so kleinen und unachtbaren Thierlein dennoch dem Menschen so grosse und danckwürdige Wolthaten erweisen/ und so vortreffliche Vorspiel und Meisterstücke vorstellen kann.« (Hohberg 1695: 414) Dieses und anderes Orientierungswissen wird den Leser_innen anhand der Bienen z.B. mittels der Bienenstaatsmetapher nahegebracht, wo ein weiser König in einem monarchisch geführten Staat die arbeitsteilige Beschäftigung seiner ihm unbedingt gehorchenden Untertanen überwacht. Darüber hinaus werden Eigenschaften der Bienen wie ihr Fleiß und ihre Klugheit soziomorph übertragen. Diese Metaphern dienen in den Ökonomiken nicht der politischen Kritik, sondern es werden kanonisierte Narrative weitererzählt; Ökonomiken wiederholen Gemeinplätze. Anders ist es in Texten, die nicht dem Ratgeber-Genre angehören: Mandevilles Bienenfabel (Mandeville 1714), in der die positiven Eigenschaften der Bienen pejorativ umgedeutet werden, ist genauso auf politische Aussagen gerichtet wie Gerstungs Der Sozialismus im Bienenstaat, der vom monarchischen Modell Abstand nimmt. Die Beispiele machen deutlich, wie ergiebig das Leben der Bienen als Projektionsfläche für soziomorphe Übertragungen ist, unabhängig vom naturkundlichen Vorwissen. Die beobachteten Handlungen der Bienen werden gleichnishaft für die Handlungen der Menschen verwendet. Das Verhalten der Biene wird genauso soziomorph übertragen, wie der gesamte Bienenstaat eine soziomorphe Übertragung ist. Das ist wiederum eine metaphorische Beschreibung dessen, was Bienen in einem Bienenstock tun: Sie bauen Waben, versorgen die Brut und die Weisel, sammeln Nektar, stellen Wachs und Honig her, regulieren die Temperatur, sammeln Wasser, beschützen den Stock usw.
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Die Betrachtung der Biene als Subjekt und Objekt des Wirtschaftens sowie als Objekt der naturkundlichen Betrachtung hängen zusammen: Naturkundliche Fragen, die auf die Vervielfachung von Weltwissen abzielen, werden vor dem Hintergrund des ökonomischen Nutzens gestellt und generieren im Zusammenhang mit ökonomischen Fragen Regelwissen. Metaphorische Beschreibungen, die Orientierungswissen transportieren, nehmen Naturkunde auf und übertragen sie genauso, wie sich umgekehrt die Naturkunde auf Metaphern stützt. Es ist dabei nicht entscheidbar, ob die Biene als Gegenstand der Betrachtung Anlass zur Welterklärung und Wissensvermittlung ist oder andererseits bekannte Welterklärungsmuster zur Erklärung des Gegenstandes dienen. Beides steht in einem dialektischen Verhältnis. Ganz unabhängig von den tatsächlichen Kenntnissen über die genauen Abläufe in einem Bienenstock und ebenso unabhängig von metaphorischen Beschreibungen dienten und dienen Bienen als Wirtschaftsobjekte der Produktion von Überschüssen, d.h., sie sind ein Produktionsmittel mit hohem ökonomischen Nutzen, weil sie – so die Quellen – wenig Pflege benötigten, aber großen Ertrag brächten. Sie waren und sind als Objekt des Wirtschaftens ein verdinglichtes Produktionsmittel und als Objekt der Betrachtung ein Faszinosum für Naturwissenschaftler. Ein Subjekt ist die Biene insofern, als sie für sich selbst wirtschaftet und ihr subjektive Eigenschaften zugesprochen werden, wie planender Verstand, zielgerichtetes Handeln und sogar eine »Seele«.
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Produkte oder Produzenten? Tiere in der neolithischen Subsistenz Annett Dittrich
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eingesetzt haben soll und die Beziehungen zu Tieren vollkommen neu gedacht wurden. In der Rhetorik des 19. Jahrhunderts waren es ja ›Wilde‹ selbst, nämlich ›wilde‹ Menschen, welche jene zivilisatorische Leistung initiierten, in deren Verlauf sie und ihre Umwelt sich grundlegend ändern sollten (vgl. Galton 1863). Geblieben ist die Betonung von Novität. Dennoch ist kaum zu bezweifeln, dass bereits in den Jahrtausenden davor Tiere im Zentrum menschlichen Interesses gestanden haben und Zähmungen (zum Beispiel des Hundes) oder die Begleitung von Herden (zum Beispiel von Rentieren) alltäglich gewesen sind. Viele heutige Fragestellungen drehen sich um den exakten Ablauf der Vorgänge, an deren Ende morphologische Veränderungen in südwestasiatischen Tierspezies wie Schafen, Ziegen, Rindern und Schweinen stehen, die ab 9500/8500 v.chr.Z. biologisch domestizierte Varianten aufweisen (vgl. Zeder 2011). Die Aufzählung dieser Herdentiere ruft bereits ein gewisses Sozialverhalten auf (Mutter-Kind-Bindung, Individualisierbarkeit anhand von Größe und Gesichtsmerkmalen, Gruppenverhalten), das dem von Menschen nicht unähnlich ist. Der Frage der Domestikation wird einerseits anhand der biologischen Klassifikation (liegt vor, wenn eine morphologische Veränderung eingetreten ist) und andererseits über eine zunehmend soziologische Sichtweise (als soziale Praxis) nachgegangen. Letztere lässt die einfache Unterscheidung in ›domestizierte‹ und ›wilde‹ Spezies nicht mehr gelten und betont ein Kontinuum in den verschiedenen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In diesem Beitrag soll zwei Fragen nachgegangen werden: Zum einen, ob das moderne Ökonomieverständnis für die Repräsentation prähistorischer Mensch-Tier-Gemeinschaften relevant ist, mit dem Augenmerk darauf, welche Rolle Tiere darin einnehmen. Die zweite Frage beschäftigt sich mit dem Einfluss, den die Human-Animal Studies auf die Archäologie/Archäozoologie ausüben und welche Perspektiven sich darüber eröffnen lassen.
M ATERIELLE Z UGRIFFE AUF PR ÄHISTORISCHE M ENSCH -TIER -V ERHÄLTNISSE Die Archäologie, die als modernes Projekt einer säkularisierten, rationalen Weltsicht und Welterklärung folgt (vgl. Eggert 2008), stand schon immer vor der Herausforderung, nicht nur einen Zugang zu weit zurückliegenden Zeiträumen, sondern auch einen Umgang mit den ›Anderen‹ – Menschen wie Nichtmenschen – zu eröffnen. Diese finden sich in zahlreichen, dem archäologischen Diskurs entspringenden Repräsentationen wieder, ohne dass bislang die ungleichen Machtverhältnisse dieses Gefüges methodisch hinterfragt wurden. Reflektionen über solche Machtverhältnisse sind bisher ausschließlich postkolonialen Geschichtsdiskursen zu entnehmen, die sich – wenngleich
Produkte oder Produzenten?
nicht unbedingt mit historischen Mensch-Tier-Verhältnissen – mit kolonialisierenden Praktiken (vgl. Spivak 2007) und westlichen Mythologisierungen wie dem Orientalismus als Ursprungsmythos (vgl. Young 1990) auseinandersetzen. Archäologische Fundkategorien, die ich hier in Repräsentationen (zum Beispiel Felsbilder, Wandmalereien) und in Deposite (zum Beispiel Tierknochenreste) unterscheide, wären in einer postkolonialen Sicht beispielsweise nicht nur als materielle Relikte, sondern als überlieferte Äußerungen vergangener Mensch-Tier-Gemeinschaften zu deuten. So besteht die Möglichkeit, Repräsentationen und teils auch Deposite ähnlich einer Sprache strukturell zu verstehen. Analog zu Gebärden, Sprache oder Handschrift sind diesen oftmals lediglich fragmentarische oder angedeutete Informationen zu entnehmen. Deposite dürfen allerdings nicht mit Repräsentationen verwechselt werden, sondern bilden als Bodenrelikte eher bio-geologische Konglomerate, die, neben anderen Ursachen, häufig durch Tierakteur_innen wie Hunde, Mikroorganismen oder Mäuse stark verändert worden sind. Es gibt in der Archäologie/ Archäozoologie dennoch die Tendenz, aufgrund der Beschäftigung mit Tierhinterlassenschaften aus Depositen, den Beitrag von Tieren in vergangenen Gemeinschaften ausschließlich über materielle und vor allem tote, reliktische Formen zu rekonstruieren. Dieser ›Röntgenblick‹ wirkt bis in archäologische Museumslandschaften nach, in denen uns Tiere nur als Skelette begegnen. Für einen historischen Zugang bedarf es zudem der Einbeziehung von immaterieller kultureller Überlieferung. Die Archäozoologin Juliet Clutton-Brock hat dafür richtungsweisend eine von vielen Definitionen für Kultur, nämlich die als Vermittlung von Lebensweisen durch Elterngenerationen, auf Tiere ausgeweitet (vgl. Clutton-Brock 1994). Kulturelle Überlieferungen historischer Mensch-Tier-Beziehungen sind in verschiedenen Formen überall präsent; auch in solchen performativen Erscheinungen, in denen sie sich sogar weitgehend der formalisierten Erfassung durch Archäologie und Historie entziehen können (vgl. Eitler/Möhring 2008; Roscher 2011). Für Analogien zur Prähistorie sind vormoderne oder amoderne Lebensweisen von größtem Interesse; die Ethnografie kennt dafür zahlreiche Beispiele (vgl. Evans-Pritchard 1940; Descola 2011, Fijn 2011). Allerdings ist es nicht ausreichend, den ethnografischen Vergleich mit ›lebenden‹ Mensch-Tier-Gemeinschaften heranzuziehen, vielmehr besteht ein Kontinuum zwischen vergangenen und lebendigen Praktiken, deren Trennung in vorgeschichtlich, geschichtlich oder modern oftmals willkürlich und mit zunehmender zeitlicher Tiefe sogar in abwertender Form vollzogen wird. Obwohl die Archäologie einen originären dinglichen Zugang zur Vergangenheit beansprucht, findet dieser innerhalb eines gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Rahmens statt, in dem materiellen Fundstücken bereits vorab Formen, Inhalte, Orte und Bedeutungen zugeschrieben sind. In der Frage
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der Domestikation dienen Tierknochenstatistiken oft lediglich der Illustration von zwar stets zeitgemäß reformulierten, dennoch aber bis in das 18. und 19. Jahrhundert zurückreichenden Auffassungen. Der ursprüngliche Fokus auf domestizierte Herdentiere als ›Arbeitsmittel‹ (vgl. Marx 1962 [1867]: 194) hat sich dabei – angesichts des Anstiegs des Fleischkonsums und des rückläufigen Einsatzes von ›Zug-‹ und ›Arbeitstieren‹ sicher nicht zufällig – heute auf die Fleischgewinnung als ursprüngliche Motivation zu deren ›Zähmung‹ verschoben. Hier lässt sich bereits die eher untergeordnete Rolle stofflich-materieller Realitäten in den Diskursen erahnen, mit denen die Archäologie ihr Bild der Vergangenheit entwirft und reproduziert. Ein besonders kritischer Punkt bleibt, dass das Tierbild – neben anderen kontroversen Konstrukten wie Gender oder Ethnie – stets außerhalb von erhobenen Funden und Statistiken erschaffen wird, was die Originärität der archäologisch generierten Daten für Sozialanalysen in Frage stellt.
A RCHÄOZOOLOGIE : D IESSEITS
VON
K ALORIEN
UND
P ROTEINEN
Das angloamerikanische Äquivalent Anthropology bringt terminologisch wie programmatisch den vorherrschenden Anthropozentrismus der Disziplin auf den Punkt, obwohl die Feldarchäologie seit Anbeginn stets auch mit Hinterlassenschaften nichtmenschlicher Wesen, wie Knochen, Zähnen, Dung, Holzkohle oder Pflanzensamen, konfrontiert gewesen ist. Diese werden erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts als regelhaft zu untersuchende Bestandteile des archäologischen Fundgutes akzeptiert. Die Archäozoologie beinhaltet seither überwiegend die Identifikation und Quantifikation einzelner Tierspezies, die, soweit den ›Nutztieren‹ zugerechnet, vordergründig in ihrem Beitrag zur menschlichen Ernährung bewertet werden. Denn in der prähistorischen Forschung bilden Tiere und ihre materiellen Überreste keine eigene soziale, wesenhafte Kategorie: Sie werden entweder der Naturgeschichte (Paläontologie) zugerechnet oder über die Archäologie in die menschliche Ökonomiegeschichte verwiesen. Da Archäolog_innen Tierknochenfunde und damit die Tierkompetenz regelmäßig an Archäozoolog_innen transferieren, kommt der Archäozoologie gewissermaßen die Reinigung im Sinne von Bruno Latour (vgl. Latour 2008), nämlich die Zuweisung der identifizierten Tierspezies zur Sphäre der Natur oder der Kultur, zu. Zwar existiert kein direkter Zusammenhang zwischen Schnittspuren an Tierknochenfunden und der Ökonomiegeschichte, dennoch wurde versucht, diesen positivistisch zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang wird menschliche Ökonomie ausschließlich modern definiert, etwa durch hohen Fleischkonsum, der effiziente Tiertötung und maximierte Fleischerträge bedingt. In den Bereich der Ökonomie zähle demnach die archäozoologische Al-
Produkte oder Produzenten?
ters- und Geschlechtsbestimmung der zum Schlachten bestimmten Tiere (vgl. Uerpmann 1973: 307). Falle das Schlachtalter hoch aus, so müssten die Tiere zuvor Produzent_innen von Milch und Wolle, ›Arbeitstiere‹ oder gar »Gegenstände von sozialer oder kultischer Bedeutung« (Uerpmann 1973: 316, Übers. d. A.) gewesen sein. Die Definition von tierlichen ›Sekundärprodukten‹ wie Milch, Wolle oder auch Zugkraft basiert auf der vielfach geäußerten Annahme, dass das zu gewinnende Primärprodukt naturgemäß Fleisch darstellte (vgl. Russell 2012: 348). Der Fleischgehalt lasse sich je nach Muskelwuchs pro Körperteil, das heißt idealerweise über im Knochenmaterial identifizierbare Partien, in mehrere Kategorien einteilen (vgl. Uerpmann 1973). Tierknochendeposite wurden in diesem Fall jedoch unzulässig als Repräsentationen, nämlich von vorgeschichtlichen menschlichen Essgewohnheiten, gelesen. Aus dieser Perspektive werden die Eigenschaften von Tieren, die zu ihrer Domestikation geführt haben sollen, stets in ähnlicher Form zusammengefasst: Schmackhaftigkeit, hoher Fleischgehalt, ausreichend große Nachkommenschaft pro Jahr, eingeschränkte Lebhaftigkeit, ökologische und nahrungsbezogene Toleranz (vgl. Hodder 2012: 78). Die Frage scheint berechtigt, ob wir damit eher die Wunschvorstellungen konventioneller moderner Fleischproduzenten_innen oder tatsächlich die Parameter einer prämodernen symbolischen Kosmologie, in der Tiere Personen sind, vor uns haben. Fraglich ist dies auch im Konzept der low level food production (vgl. hierzu Smith 2001), in dem es gleichfalls nur um eine moderne ernährungswissenschaftliche Seite, nämlich die Aufnahme von Kalorien, geht. Bildeten domestizierte Tiere auf den untersuchten Fundplätzen in Nordamerika und Mexiko lediglich einen Anteil von 30 bis 50 Prozent der Kalorienaufnahme, so sei von einer ›Nahrungsproduktion auf niedrigem Niveau‹ zu sprechen (vgl. Smith 2001: 27). Das Konzept von Kalorien und Proteinen als Bausteine der menschlichen Ernährung existiert allerdings erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir erfahren nichts darüber, wie sich in den zur Verfügung stehenden, stark fragmentierten Knochen- und Pflanzenresten ›domestizierte‹ sicher von ›wilden‹ Spezies unterscheiden ließen. Wir erfahren gleichfalls nichts darüber, wie diese Kategorien in den untersuchten Gesellschaften überhaupt definiert wurden und auf welcher Grundlage sämtliche Spezies ausschließlich in (tote) Kalorien umzuwandeln sind und nicht etwa in companion species, arbeitende Tiere, heilige Wesen, Vorfahren oder Heilpflanzen. Insgesamt ist dieses Vorgehen als eine Unterwerfung der Vergangenheit unter retrospektive, funktionalistische Maßstäbe zu betrachten. Zweifellos werden Daten bereits vorab interpretiert. So wie die Interaktion zwischen Mensch und Tier auf die Handlung Töten reduziert wird, ist Tiertod in dieser Sicht nur durch die Handlung Schlachten vorstellbar. Ein ›natürlicher Tod‹, ein durch andere Tiere verursachter Tod oder ein aus dem Alltag herausgehobener Opfer- und Ritualtod scheinen nicht zu existieren, obwohl hier
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ebenfalls die typischen Schnitt- und Verbissspuren auftreten können. Es ist dabei nicht unerheblich wie Knochendeposite definiert werden. Abfallhaufen, Haushaltsbereiche oder Herdstellen umschreiben sämtlich anthropogene Kontexte (vgl. O’Connor 1996: 7); eine sinnvolle Untersuchung eines nicht durch Menschen beeinflussten Knochendeposits ist in dieser Sicht undenkbar: »Die einzige Bedingung ist, dass das Material das Resultat menschlicher Aktivität sein muss, nicht zum Beispiel das Werk von Raubtieren oder gar einfach die Überreste toter Tiere.« (Uerpmann 1973: 307, Übers. d. A.)
TIERE
ALS › KULTURELLE
A RTEFAK TE ‹?
Über den Beitrag zur Ernährung hinaus wird Tieren und ihren Hinterlassenschaften durch die Archäozoologie aber noch eine Rolle als Beweis für die Errungenschaften der menschlichen Kulturgeschichte zugestanden. Tiere gelten hier als »kulturelle Artefakte« (Uerpmann 1973; Smith 2001), die sich durch Menschen in jedweden ökologischen Raum verbringen lassen, offenbar ohne Teil dessen zu werden, diesen oder sich selbst zu verändern. Hier zeigt sich als deutliches Defizit, dass bisher nie reine Tiergemeinschaften des Holozäns im Interesse der Forschung standen. Bezüglich der Domestikationshistorie sieht sich die Archäozoologie vor die Aufgabe gestellt, anhand von Knochenresten zwischen ›wilden‹ und ›domestizierten‹ Tierindividuen zu quantifizieren, woran der zeitliche Status der untersuchten Gesellschaft zwischen den beiden Extremen ›Jagd‹ und ›Tierhaltung‹ abgelesen werden soll. Morphologisch erfolgt die Zuordnung von domestizierten Tieren häufig über die Diminution, das heißt die Verkleinerung gegenüber Wildformen, obwohl diese Methode nicht eindeutig ist (vgl. Uerpmann 1973; Russell 2012). Über diese auf Größenmessungen basierenden Kriterien werden demnach stets bestimmte Tiere in Überlegungen einbezogen, andere zugleich ausgeschlossen. Immer wieder wird jedoch darauf verwiesen, dass Daten nicht den Thesen entsprechen und hohe Anteile ›wilder‹ Tiere angesichts des erreichten ›kulturellen Fortschritts‹ der menschlichen Gesellschaft als erklärungsbedürftig erscheinen. Da die auf Knochenvermessungen gegründeten Untersuchungen stark an rassenkundliche Studien an Menschen erinnern und häufig nach wie vor mit Fragen zur geografischen Herkunft (von Menschen) verbunden sind, werden Tiere hier zusätzlich zu Substituten von gesellschaftlich tabuisierten Themen. Dies gilt in weit größerem Maße für paläogenetische Studien zu Ursprüngen und zur Ausbreitung von Tierrassen.
Produkte oder Produzenten?
V OM
UNIVERSALHISTORISCHEN DER DOMESTIZIERTEN T IERE
U RSPRUNG
Im Ursprungsmythos des modernen Kapitalismus geschieht die ›Überwindung‹ ökonomischer Systeme durch aktive Loslösung vom Althergebrachten im Zuge von Revolutionen (vgl. Latour 2008), ein Begriff, der sich auffälligerweise in der »Neolithischen Revolution« des marxistischen Archäologen Vere Gordon Childe wiederfindet: »Die erste Revolution, welche die menschliche Ökonomie verändert hat, brachte dem Menschen die Kontrolle über seine eigene Nahrungsversorgung.« (Childe 1936: 66, Übers. d. A.) Doch welche Rolle wird Tieren in diesem Geschehen zugedacht? Karl Marx schrieb hierzu: »Neben bearbeitetem Stein, Holz, Knochen und Muscheln spielt im Anfang der Menschengeschichte das gezähmte, also selbst schon durch Arbeit veränderte, gezüchtete Tier die Hauptrolle als Arbeitsmittel […].« (Marx 1962 [1867]: 194) Weiter heißt es: »Tiere und Pflanzen, die man als Naturprodukte zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht der Arbeit vom vorigen Jahr, sondern, in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch viele Generationen unter menschlicher Kontrolle, vermittelst menschlicher Arbeit, fortgesetzten Umwandlung.« (Marx 1962 [1867]: 196) ›Nutztiere‹ werden demnach der Sphäre der menschlichen Kultur zugerechnet; der vollständigen Kontrolle der Menschen ausgesetzt. Marx sah in ihnen nichts Anderes als Arbeitsmittel, Rohmaterial und Produkte, jedoch mit wechselhafter Rollenverteilung: »Dasselbe Produkt mag in demselben Arbeitsprozeß als Arbeitsmittel und Rohmaterial dienen. Bei der Viehmast z.B., wo das Vieh, das bearbeitete Rohmaterial, zugleich Mittel der Düngerbereitung ist.« (Marx 1962 [1867]: 197) Wir finden hier die moderne Vorstellung, dass Tiere während ihres Lebens Arbeitsmittel und uneingelöstes Rohmaterial, nach dem Tod nur noch Rohmaterial darstellen, ohne dass auf die wesensverneinende Verdinglichung, die Versklavung mittels repressiver Kategorisierungen und die Rolle der Tötung als schaffender, weil einlösender und damit unvermeidbarer Teil des Produktionsprozesses in dieser Konstruktion genauer eingegangen wird. Es wäre keinesfalls abwegig erschienen, Tieren den Status als Arbeiter_innen zuzuerkennen und, im weiteren Marx’schen Sinne, als Vertreter_innen einer unterprivilegierten Klasse anzuerkennen. Der Status der Tiere hatte jedoch in Marx’ Überlegungen weniger mit deren historischer Rolle zu tun als mit sozialen Verhältnissen im Zuge der Industrialisierung, im Einzelnen der Aufhebung der Leibeigenschaft von Menschen und der notwendig werdenden Aufwertung der durch Landflucht und sinkendes Prestige gezeichneten Landwirtschaft. Es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden, inwieweit diese Sichtweise die gesellschaftlichen Verhältnisse lediglich abbildete oder geradezu neu konstituierte.
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Marx bezog sich in starkem Maße auf Aufsätze von Anne Robert Jacques Turgot und Adam Smith, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts fast gleichzeitig Stufentheorien einer historischen Wirtschaftsentwicklung aufstellten, die sie jeweils in den frühesten Epochen der Menschheitsgeschichte beginnen ließen. Keine dieser spekulativ-universalhistorisch verfassten Arbeiten bildete eine geschichtswissenschaftlichen Anforderungen auch nur im Geringsten genügende Studie, noch ging es deren Verfassern darum, auf eigene Erfahrungen als Akteure in Mensch-Tier-Produktionsgemeinschaften zu verweisen. Es handelt sich um Mythologisierungen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts in Konkurrenz zur biblischen Schöpfungsgeschichte traten. Nach Turgot haben sich Menschen von Beginn an auf die Jagd verlegen müssen, da aber die Zahl der Tiere und deren Kapazität, Menschen mit Nahrung zu versorgen, begrenzt seien, hätten sich die Menschengruppen bald weit zerstreut. »So zogen sie ziellos umher, wo immer sie die Jagd hinführte.« (Turgot 1973: 66, Übers. d. A.) Wir erfahren nicht, weshalb das nun folgende Ereignis eintritt: »Es gibt Tiere, die es selbst zulassen, von den Menschen unterworfen zu werden, wie Rinder, Schafe und Pferde, und Menschen es für vorteilhafter befinden, sie gemeinsam in Herden zu versammeln als den umherziehenden Tieren nachzujagen.« (ebd., Übers. d. A.) Im Übrigen glaubte Turgot, dass der Ackerbau erst nach der Zähmung der Tiere und nur mithilfe ihrer Arbeit und ihres Düngers entstanden sein könne (vgl. Turgot 1973.: 68f.). Tiere bedürfen demnach lediglich einer effektiven Führung und Einschränkung ihrer Bewegungen, um Menschenaktivitäten sinnvoll an einen Ort zu binden (Sesshaftigkeit). Die Natur erscheint zudem als unvollkommene Entität, die nach menschlichen Maßstäben umgeformt werden müsse. Adam Smiths in den Lectures on Jurisprudence vorgetragene Version liest sich ähnlich: Weil natürliche Früchte und ›wilde‹ Tiere nicht genügten, kommen die Menschen »schließlich dazu, einige der wilden Tiere so zu zähmen, dass sie diese immer zur Hand haben. Im Laufe der Zeit genügt auch das nicht mehr, und als sie sahen, wie die Erde natürlich und von selbst viele Früchte produziert, dachten sie daran, den Boden so zu bebauen, dass er noch mehr davon produziert« (Smith, zit.n. Bachinger/Matis 2009: 203). Der Domestikation von Tieren, die dieser Handlung passiv gegenüberstehen, wird überraschenderweise keine nachhaltige ökonomische Rolle zugeschrieben. Die Natur erscheint lediglich als Behältnis, dem beliebige Elemente entnommen und in die Kultur überführt werden können. Im Übrigen spielen beide Autoren auf Erfahrungen des Mangels an, der in Negation zeitgenössischer sozialer Missstände auf die Unvollkommenheit und die gefühlte Unzuverlässigkeit der Natur zurückgeführt wird und der die Vorstellungen der Moderne noch auf lange Sicht prägen sollte. Tatsächlich tritt in der Landwirtschaft der Mangel noch immer als rhetorisches Argument auf.
Produkte oder Produzenten?
Die Passivität der am Geschehen beteiligten Tiere erinnert stark an den im 1. Jahrhundert v.chr.Z. entstandenen Passus Überleben der stärkeren und nützlicheren Tiere von Lukrez (vgl. Luk. De rer. nat. 5). Darin wird resümiert, dass in ferner Vergangenheit viele missgebildete Tiergattungen wohl dem Aussterben preisgegeben worden sein müssen. Dagegen sind andere »auch uns Menschen durch ihren Nutzen empfohlen, und so bleiben sie leben, da wir sie hegen und pflegen« (Luk. De rer. nat. 5: 194). Einige der ›wilden‹ Tiere, wie Löwe, Fuchs und Hirsch, hätten den Menschen jeweils durch ihre Kraft, Schnelligkeit und List entkommen können, »aber der wachsame Hund mit dem Herzen von goldener Treue und das gesamte Geschlecht, das stammt aus dem Samen des Lastviehs, ferner die wolligen Schafe und hörnergeschmückten Geschlechter sind in dem menschlichen Schutze […] alle verblieben.« (ebd.) Diese Tiere müssen sich nicht selbst um Nahrung bemühen, denn sie wird ihnen von den Menschen als »Lohn für nützliche Dienste« (Luk. De rer. nat. 5: 194) gegeben. Es lässt sich erahnen, welch enormen Einfluss diese Zeilen nicht nur auf die spätere Evolutionstheorie, sondern auch auf die universalistische Geschichtsschreibung ausübten. Bei Childe sind es Futter, Schutz und vorausschauendes Handeln, wodurch Menschen Tiere schließlich an sich gebunden hätten (vgl. Childe 1936: 66). Dennoch sollte nicht überlesen werden, dass Lukrez nicht nur von dem ›Lohn‹ spricht, der den Tieren zukommt, sondern auch von dem Anvertrautsein göttlicher Gaben durch die Erde – personifiziert als Mutter und Göttin – denn, so heißt es weiter, »sie gab selbst uns das trauliche Vieh und das labende Futter.« (Luk. De rer. nat. 5: 194) Diese Gabe impliziert zugleich antike Ethik mit allen daraus resultierenden Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, einschließlich von Institutionen wie Ritual und Opfer. Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass in der säkularisierten, universalistischen Geschichtsschreibung kulturelle Überlieferungen um religiöse als auch ethische Motivationen im Sinne von althergebrachten Mensch-Natur- und Mensch-Tier-Kontrakten bereinigt und funktionalistisch reformuliert worden sind. Die archäologische Diskussion ist trotz des vermeintlich unvoreingenommenen materiellen Zugriffs vielfach noch von universalhistorischen Formulierungen geprägt, in denen Mensch-Tier-Verhältnisse lediglich als Metaphern der menschlichen Kontrolle und Dominanz über die Natur bemüht werden. Diese dienen dann im Kern eigentlich häufig nur der retrospektiven Zuschreibung von Prestige für vorrangig männlich genderisierte Aktivitäten, darunter Jagd, Fleischproduktion und Schlachtung. Marshall Sahlins wies zwar 1974 in seinem viel beachteten Buch Stone Age Economics darauf hin, dass vormoderne Gesellschaften sich nicht, wie weit bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein angenommen, in einem beständigen Kampf um Nahrung befinden, sondern über reichlich Zeit und Muße verfügen. Er prägte hierfür den Begriff »ursprüngliche Überflussgesellschaft« (original affluent society). Bezeichnenderweise vernachlässigte er bei den zugrunde gelegten Berech-
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nungen der durchschnittlichen ›Arbeitszeit‹ (zu der er zum Beispiel das Jagen rechnete) jedoch die Kalkulation der Zeit der Nahrungszubereitung, wie die Anthropologin Nurrit Bird-David später zeigte (vgl. Bird-David 1992). Genauso wenig erschienen Tiere hierbei als Akteur_innen. Der reale Haushalt, auf dem diese Jagd- und Tierhaltungsökonomien fußten, war so bereits systematisch aus den Betrachtungen verdrängt worden.
»W IR FÜT TERN SIE , UND SIE FÜT TERN UNS « — H ERDENTIERE Z WISCHEN H AUSHALT, P RODUK TION
UND
A RBEIT
Ökonomie bzw. Oikonomie (von ᚫɈɋɊᚶȽ, altgr. »Verwaltung des Hauses«) bildet als Begriff aus der häuslich-familiären Sphäre (ᚬɈɑ, altgr. »Haus, Wohnung, Besitz, Hausgemeinschaft, Familie«) ursprünglich eine soziale Institution. Er erscheint in den moralisch-ethisch geprägten oikonomischen Schriften (u. a. Xenophon, Aristoteles), in denen die eheliche Beziehung und der landwirtschaftliche Hausstand aus der Sicht des Hausherrn (oikonomos) als Ideale einer guten Lebensführung proklamiert werden. Zum Großteil widmen sie sich daher dessen patriarchal-idealisierter Rolle gegenüber Frauen, Sklav_innen, Kindern und Tieren in einem von Angesicht zu Angesicht verhandelten Beziehungsgeflecht. Die Position von Tieren bleibt hierbei ambivalent: Einerseits dienen sie in Aristoteles’ Lehre immer wieder zur Illustration ›naturgemäßen‹ Handelns, andererseits ist ihr Schicksal mit dem von Sklav_ innen zum Zwecke ihrer ›naturgegebenen‹ Ausbeutung verknüpft, denn beide helfen mit ihren Körpern bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Mitteln (vgl. Unholtz 2010: 67). Ohne diese Zusammenarbeit (synergeia) verschiedener Lebewesen, die wie die Fürsorge, Mäßigung, Eintracht und Klugheit zu den gepriesenen Tugenden gehört, funktioniert die Oikonomie jedoch nicht (vgl. Unholtz 2010). In dieser bilden ferner die Verehrung von Gottheiten und die Beachtung von Vorzeichen Rückversicherungen, die explizit Natur und Kosmos verpflichtet sind. Der moderne Terminus Ökonomie ist für die Betrachtung prähistorischer Mensch-Tier-Verhältnisse insgesamt eher kritisch zu sehen und mindestens auf die älteste überlieferte Bedeutung von Ökonomie* als Haushalts- beziehungsweise selbst erhaltende Subsistenzwirtschaft zurückzuführen. In diesem Rahmen findet die Produktion und Reproduktion des kleinsten sozialen Systems statt, bestehend aus Face-to-face-Beziehungen, die in eine übergeordnete Kosmologie eingebettet sind. Auch der Begriff Produktion, und vor allem Nahrungsmittelproduktion, erscheint in der Übertragung der neuzeitlichen Bedeutung auf die Vorgeschichte als problematisch. Philippe Descola weist uns darauf hin, dass in der Vorstellung von Produktion bereits eine Subjekt-Objekt-Beziehung einge-
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schrieben ist. So bildet sie lediglich einen abgeschwächten »Ausdruck jenes Handlungsschemas, das auf zwei interdependenten Prämissen beruht: auf der Vorherrschaft eines intentionalen individualisierten Agens als Ursache der Heraufkunft aller Lebewesen und Dinge und auf dem radikalen Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem, was er produziert« (Descola 2011: 471). Noch 1861 unterschied Pierer’s Lexikon die sinnliche, das heißt materielle Produktion in »Arbeit, welche auf Gewinnung der von der Natur hervorgebrachten Stoffe u. Dinge verwendet wird (Urproduction)« und in Arbeit, die auf die Transformation von Stoffen und intensiven Handel ausgerichtet ist. Dies könnte als eine Unterscheidung in die Arbeit mit und von nichtmenschlichen Lebewesen und in die Transformation von toten oder als leblos angesehenen Materialien gelesen werden. Der Begriff Gewinnung impliziert zudem, dass die Stoffe von dem genommen werden, was die ›Natur‹ hervorbringt. Folglich bildeten in der physiokratischen Form der landwirtschaftlichen Produktion Menschen nicht die einzigen Akteur_innen. Die vormoderne Produktion* wäre demnach im anthropologischen Sinne mit dem Ausgangspunkt zu definieren, dass die als Ahne/Ahnin, Gottheit oder Elternteil personifizierte Natur (giving environment) ihre Gaben erst nach Gegenleistungen in reziproker Form bereithält (vgl. BirdDavid 1992; Ingold 2000: 43). Mit den Worten einer mongolischen Tierhirtin ausgedrückt: »Wir füttern sie, und sie füttern uns.« (Fijn 2011: 201, Übers. d. A.) Im Verhältnis zur Natur wäre die Rolle der Menschen dann nicht primär die von Produzent_innen, sondern die von Assistent_innen (vgl. Ingold 2000: 43, 86), wobei Tieren sowohl die von Co-Assistent_innen, etwa beim Ziehen des Pflugs in der Bodenbearbeitung, als auch die andere Rolle zukäme, zum Beispiel als Produzent_innen von Wärme in einem Wohnstallhaus. Auch der Begriff Produkt impliziert zugleich den Schöpfungsgedanken als eine autorisierte Urheberschaft, dennoch lassen sich daraus unterschiedliche Konzeptionen ableiten. Im Hinduismus bedeutet die Heiligkeit von Kühen unter anderem, dass die Panchgavya – die fünf ›segensreichen‹ Produkte Milch, Joghurt (curd), Ghee, Urin und Dung – ausschließlich Stoffe umfassen, die von lebenden Kühen stammen (vgl. Dhama et al. 2005). Die Transformation und Verwertung von toten Kuhkörpern ist nur durch Menschen anderer Religion zugelassen. In der westlich-modernen Sicht gilt die Einlösung von Ressourcen durch das Schlachten von Tieren dagegen sogar als Teil des Produktionsvorgangs, wodurch Gewaltpraktiken als sanktioniert, als maximierund vervielfältigbar erscheinen. Lebende und tote Tierstoffe werden in den folgenden Produktionsschritten bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt und das zugrunde liegende Faktum des Tötens verklärt. Ebenfalls schwierig zu definieren bleibt für die Vorgeschichte der Terminus Arbeit. Nach Adelung bezeichnet der Begriff Arbeit »so wohl die angestrengte Anwendung der Leibes- und Seelenkräfte, als auch den Gegenstand dieser Anwendung« (Adelung 1793: 418). Arbeit benennt hier also auch das Ergebnis
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einer – von anderen – als sinnvoll erachteten Tätigkeit. Die ostafrikanischen Nuer bezeichneten keine einzige ihrer Aktivitäten rund um die Rinderhaltung in den Termini von Arbeit (vgl. Evans-Pritchard 1940). Gerade aber Lohnarbeit ist im Kolonialisierungsprozess als Mittel zur Kontrolle der Zeit und Interessen vormoderner Mensch-Tier-Gemeinschaften benutzt worden, zum Beispiel über den Zwang, nach dem Verlust von Herdentieren durch die Rinderpest um 1890 in Afrika in Arbeitsverhältnisse einzutreten (vgl. Phoofolo 1993). Insofern bleibt es eine zweifelhafte Aussage, ob Menschen sich tatsächlich im Laufe der Zeit immer tiefer in die Tierdomestikation verstrickt haben, sodass ihre Arbeit immer mehr wurde (vgl. Hodder 2012; Sahlins 1974). Denn dies könnte so verstanden werden, dass ihre Tätigkeit mit dem Augenmaß der Moderne, die nur eine Pfeilrichtung durch die Zeit zu sich selbst kennt, immer sinnvoller geworden wäre. Es ist also in Umkehr zur Definition von Produktion* zu fragen, ob lediglich ein großer Aufwand an Arbeit oder allgemeiner Beschäftigung mit Tieren deren Status als Produkte oder das Vorliegen eines Produktionsprozesses rechtfertigt. Zwar können Tiere Produkte vielfältiger immaterieller Konstellationen darstellen, sind aber wohl weder als Ganzes noch als Teil Produkte menschlicher Arbeit. In gleichem Maße wäre die Auffassung von arbeitenden Tieren zugleich als eine Wertung zu verstehen, ob deren Alltag zum Zwecke der Menschen sinnhaft verläuft oder nicht. Auch gehören Produkte in dieser Beziehung allein den Arbeitgebenden. Andererseits sind heute mit Arbeitenden bestimmte Rechte verknüpft, welche zwar die Widersprüchlichkeit dieser asymmetrischen Beziehung nicht aufheben, deren Verlauf jedoch überwachen.
D OMESTIK ATION : D IE
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Für fast jede Betrachtung des Neolithikums wird die enge Koexistenz mit bestimmten Tierspezies in Mensch-Tier-Gemeinschaften als grundlegend angesehen. Die Vielfalt der Mensch-Tier-Verhältnisse hat jedoch abseits der durch Menschen dominierten Unterwerfungs- und Nutzungsgeschichte kaum einen nachhaltigen Niederschlag im archäologischen Diskurs gefunden. Dennoch haben die Human-Animal Studies über eine Hintertür, die sich nicht so einfach wieder schließen lässt, Einzug in die Altertumswissenschaften gehalten (vgl. Roscher 2011). Im Einzelnen geht es um den Begriff Domestikation, dessen Eindeutigkeit stark ins Wanken geraten ist. Bemerkenswerterweise kamen die Einwände aus dem Umfeld von Archäozoolog_innen wie Juliet Clutton-Brock oder auf Zooarchäologie spezialisierten Anthropolog_innen wie Terry O’Connor und vor allem von Nerissa Russell, denen die bisherige biologistische Definition, nämlich das Eintreten morphologisch-genetischer Veränderung an Tieren als Nachweis der Domestikation, nicht mehr ausreichend erschien (vgl. Clutton-Brock 2012; O’Connor 1997; Russell 2002, 2007, 2012). Denn dieser
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Zeitpunkt der im Skelettmaterial sicht- und messbaren Veränderungen tritt, sofern überhaupt, erst spät in veränderten Mensch-Tier-Beziehungen auf. Jener Sachverhalt aber, über den die Archäologie fortgesetzt diskutiert und ihr – der Archäozoologie – entsprechende dingliche Beweise abfordert, nämlich Domestikation als Bindung an die häusliche, humansoziale Sphäre, sei eine rein soziale Praxis. Folglich müsse diese über soziologische, etwa ethnografische Methoden untersucht werden, denn eine zeitliche Kongruenz zwischen sozialen Praktiken und biologischer Immanenz ist vor der Etablierung der modernen Genetik nicht als gegeben anzusehen. O’Connor führt Beispiele an, in denen trotz enger Mensch-Tier-Koexistenz keine biologische Domestikation, das heißt keine morphogenetische Veränderung, erfolgt ist, etwa bei Hausspatzen, Ratten oder auch Elefanten. Dennoch seien deren Bindung an häusliche Sphären oder deren Arbeitsleistungen als soziale Realitäten nicht zu leugnen. Andere Spezies wiederum, wie das europäische Wildschwein, stammen von verwilderten ehemaligen Haustieren ab (vgl. O’Connor 1997). Es stellt sich die Frage, weshalb morphogenetische Veränderungen in den wissenschaftlichen Diskursen überhaupt eine so große Rolle spielen. Marilyn Strathern und Philippe Descola haben mit ihren Arbeiten gezeigt, dass in verschiedenen vormodernen Gesellschaften die Dichotomie wild:domestiziert nicht existiert (vgl. Strathern 1980; Descola 2011). Folglich kann keine intentionelle Überführung von Tieren von dem einen in den anderen Zustand erfolgt sein. Die Anthropologin Nerissa Russell betont: »Wir sollten nicht einfach fragen, ob Tiere domestiziert sind, sondern die konkreten Praktiken der Domestikation untersuchen« (Russell 2002: 293, Übers. d. A.). Da kulturelle, behaviorale und morphologische Veränderungen offensichtlich nicht parallel verlaufen, erscheint Russell eine kausale Kopplung entsprechender Phänomene nicht mehr sinnvoll. Eine Abstufung nach biologischem Domestikationsgrad, etwa über Größe, Aussehen etc., erschiene folglich unsinnig, wenn die sozialen Praktiken stärker in den Fokus gerückt würden, mit denen langfristig Kategorien von Domestiziertheit und Wildheit geschaffen werden. Letztere war beispielsweise in der Antike nicht auf Tiere beschränkt, sondern bezog sich – erkennbar an Temperament und heftigen Reaktionen wie etwa das Fluchtverhalten gegenüber ›zivilisierten‹ Menschen – auch auf die so genannten ›wilden‹ Menschen (vgl. Russell 2002). Während der zunächst noch konventionellen Bearbeitung der Tierreste aus der neolithischen Siedlung Çatalhöyük ist Russell mit ihrer Betrachtung von Domestikation so weit in die soziale Sphäre vorgedrungen, dass sie schließlich eine Soziale Zooarchäologie vorschlägt (vgl. Russell 2012). In dieser soll zwar die Perspektive der Anthropologie auf Menschen nicht aufgegeben werden, doch sollen vorschnelle funktionalistische Zuschreibungen durch einen stärker reflektierten sozialen Kontext, der das Spektrum der prähistorischen Mensch-Tier-Beziehungen bedeutend erweitert, ersetzt werden (vgl. Russell
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2012: 5, 400). Die kulturalistische Forderung, Gesellschaften über ihre eigenen Kategorien zu repräsentieren, wird damit auf Mensch-Tier-Gemeinschaften ausgedehnt. Bezeichnenderweise haben Russells Aufsätze keine Aufnahme in archäologische oder sozial-historische Publikationen über Çatalhöyük gefunden, sondern erschienen in einschlägigen Tierrechtsmagazinen und Konferenzbänden (vgl. Russell 2002, 2007). Eine Definition von Domestikation gestaltet sich bemerkenswert schwierig. Die Zoologie kann Domestizierte nicht abschließend einordnen: Bilden sie gegenüber der ›Wildform‹ eine eigene Spezies oder nicht? Welche sind im Knochenmaterial die untrüglichen Merkmale, um das eine oder andere sicher auszuschließen? Der vorherrschende materialistische Gebrauch erfordert eine solche Dichotomie von wild:domestiziert im Sinne von Natur:Kultur, obwohl eine solch strikte Trennung nicht aus der Beobachtung des Verhaltens und der Praktiken der beteiligten Akteur_innen hervorgeht (vgl. Russell 2002). Ein signifikanter Unterschied besteht zwischen dem Zähmen eines tierlichen Individuums als singulärem, sozialem Ereignis und der Domestikation, welche die Biologie einer gesamten Population von ›Haus-‹ oder ›Nutztieren‹, einhergehend mit morphologischen und behavioralen Veränderungen, betrifft (ebd.). Für Letzteres sieht die Anthropologin Natasha Fijn als Schlüsselkonzept gleichfalls das Zähmen, das über alltägliche Praktiken wie Aufteilung und Zusammenführung von Herdenstrukturen, den direkten körperlichen Kontakt (zum Beispiel beim Melken) oder das Kastrieren männlicher Tiere wiederholt wird (vgl. Fijn 2011: 129). Als Gründe für langfristige biologische Veränderungen werden aus zoologischer Sicht die Kontrolle der Partnerwahl und der Bewegungen genannt, welche auf eine Abschirmung von der Wildpopulation abzielen (vgl. Russell 2002: 287). Hierin manifestiert sich eine tief verankerte Sicht von Domestikation als Kontrolle über das ›Wilde‹ oder ›Zügellose‹, das die Kategorie ›domestiziert‹ im modernen Verständnis zusätzlich zu etwas macht, das »nicht öffentlich, nicht männlich und nicht wild oder außer Kontrolle ist« (Russell 2007: 32, Übers. d. A.). In der Vergangenheit beinhaltete das Konzept der Domestikation daher stets Gefangenschaft als Grundbedingung, wobei dies wohl eher auf die westliche Stallhaltung als auf vormoderne Mensch-Tier-Gemeinschaften zutrifft, wo Tiere sich trotz der Kontrolle durch Hirt_innen relativ frei in ›natürlichen‹ Umgebungen bewegen und im Alltagsgeschehen stets präsent sind (vgl. Fijn 2011: 140). Es wäre sicher aufschlussreich, die situationsbedingte Abwägung einzelner Praktiken der räumlichen Einschränkung (zum Beispiel durch Anbinden) gegenüber denen des Zähmens (zum Beispiel Anrufen mit Namen) stärker in die Betrachtung einfließen zu lassen. Folgt man dem auf Tiere ausgedehnten Kulturbegriff von Clutton-Brock, könnte der Domestikationsvorgang aber auch als ein Durchtrennen des sozialen Bandes zwischen Tiergenerationen bezeichnet werden, indem Menschen
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die kulturelle Rolle von Tiereltern oder Führungstieren übernehmen (vgl. Clutton-Brock 1994). Allerdings weist diese Vorstellung den Tieren erneut eine passive Rolle zu (vgl. Russell 2002: 288). Als ein historischer Prozess haben die wiederholte Verflechtung von Mensch-Tier-Genealogien, die Ortsveränderung und die Einbindung von Tieren in rituelle Praktiken erst die temporale Überlagerung von Einzelereignissen und damit die Vertiefung des Domestikationsphänomens geschaffen. Noch wenig Interesse finden in diesem Gefüge bislang die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Tierspezies. Als Beispiel sei angeführt, dass neolithische Rinder enger mit Ziegen, Schafen und Menschen zusammenlebten, als mit den biologisch verwandten Wildrindern und Büffeln, die in der Folge vollständig aus ihren Lebensräumen verdrängt wurden. Andererseits wird die Ausbreitung von Hausrindern in Afrika bis heute durch Tiere, nämlich der Tsetse-Fliegen und der durch sie übertragenen Tropanosomiasis, aufgehalten. Die immer tiefere Verstrickung in die im Zeitlauf neu aufgeworfenen Widersprüche und deren Lösungsversuche formt am Ende das, was als Domestikationshistorie zu bezeichnen wäre (vgl. Eitler/Möhring 2008). Damit werden momentan zwar ausschließlich, aber längst nicht alle historischen Mensch-Tier-Beziehungen erfasst.
C OMMITMENT
STAT T
F LEISCH
Häufig werden die Gründe für biologische Veränderungen der Tierkörper außerhalb der Sphäre der Natur, nämlich in der menschlichen Kultur gesucht. Die Archäologie fokussiert hier zweifellos auf die menschliche Seite der Domestikation (vgl. Russell 2007: 31), wobei die Frage im Raum steht, innerhalb welcher Parameter die andere Seite überhaupt zu fassen wäre. Ein wichtiges Konzept bildet nach Timothy Ingold die ›soziale Inkorporation‹ von domestizierten Tieren in die Gesellschaft: »Dies lokalisiert den Schlüssel zu den Veränderungen durch Tierdomestikation nicht etwa in den Körpern der Tiere, nicht einmal in den Mensch-Tier-Beziehungen, sondern in der sozialen Definition von Tieren als eine Ressource. Es handelt sich um einen Wandel in den humansozialen Beziehungen.« (Vgl. Russell 2002: 291, Übers. d. A.) Die Umwandlung von Tieren in Besitz sieht Russell dabei als besonders folgenreich. Übersteige die Wertzuschreibung den der reinen Fleischressourcen, gäbe es gute Gründe, Tiere als lebenden Besitz zu akkumulieren, der durch Tötung eigentlich nur dezimiert wird (vgl. Russell 2012: 297ff.). Da jedoch genau hier die Schnittstelle zur Objektifizierung von Tieren in der modernen Ökonomie liegt, ist die Gefahr einer retrospektiven Projektion solcher Vorstellungen besonders hoch. Vielmehr müsste gefragt werden, mittels welcher Praktiken die Wesenszuschreibung eigentlich soweit unterschritten wird, um bereits noch vor dem Tod nur von Fleisch zu sprechen.
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In einer Ökonomie des Gebens erfolgt die Verteilung von Dingen statt über einen Markt eher über Feste und Rituale (vgl. Mauss 1990). In einigen vormodernen Gemeinschaften ist die Tötung von Tieren nur zu derartigen Anlässen zulässig, an denen neben anderen Naturstoffen Fleisch mit möglichst vielen geteilt und gemeinsam konsumiert wird. Auf die gemeinschaftliche Bedingtheit dieser Praxis, einschließlich der emotionalen Zwangslage für die ehemaligen Tierbesitzer_innen oder Tiervertrauten, ist bereits vielfach hingewiesen worden (vgl. Russell 2012: 358ff.). Mit dem Konzept von Besitz werden sicher nicht alle Beziehungen erfasst. So ist der Besitz von Rindern bei den ostafrikanischen Nuer nicht individuell oder statisch, sondern unterliegt aufgrund von Verbindlichkeiten wie Schulden, Strafen, anstehenden Opferhandlungen, Festen und Mitgiftszahlungen oder auch aufgrund von Diebstahl, Krankheiten und der Dezimierung durch Raubtiere beständigen äußeren Einflüssen und Forderungen (vgl. Evans-Pritchard 1940: 20, 91, 165). Dies steckt bereits in der mythologischen Überlieferung: Danach war den Nuer durch Gott zuerst ein Kalb, den Dinka eine Kuh gegeben worden, was einen immerwährenden gegenseitigen Diebstahl auslöste (vgl. Evans-Pritchard 1940: 125). Jener Vorstellung, nach der die Erdgöttin den Menschen die zutraulichen Tiere zur Pflege zusammen mit deren Futter gab, sind wir bereits bei Lukrez begegnet. Im Alten Testament ruht auf den Herden ebenso wie auf dem bewohnten Land der Segen Gottes; die Pflicht der Bauern bestand darin, den Segen und damit die Ordnung der Schöpfung zu erhalten (vgl. Douglas 1985: 74). Hier ließe sich der materialistischen Argumentation von der primären Notwendigkeit von Tieren als ›Ressource‹ am ehesten eine tiefe Verwurzelung der Domestikation in der Religion, als ein Kontrakt in einer gemeinsam erfahrbaren Welt, gegenüberstellen (so tendenziell auch Hahn 1896; Cauvin 2000). Treffender wäre für eine solche Mensch-Tier-Beziehung der Begriff des commitment nach Barbara Bender im Sinne von Verpflichtung und Engagement, dem letztlich die Akteur_innen auf beiden Seiten unterliegen (vgl. Bender 1978). Denn wie Francis Galton bemerkte, gehören der unterdrückte Fluchtreflex, die Zeugung, Geburt und Aufzucht in Menschennähe sowie die Toleranz gegenüber Menschen, deren Gerüchen, Geräuschen und manipulierten Umgebungen zu den Wagnissen, die seitens der Herdentiere eingegangen worden sind (vgl. Galton 1863).
S PEZIESÜBERGREIFENDE V ERWANDTSCHAF TEN Ein interessanter Aspekt ist die Betrachtung von Domestikation unter dem Aspekt von Verwandtschaftsbeziehungen, im Besonderen die Ausdehnung des Verwandtschaftsbegriffs auf andere Spezies (vgl. Russell 2007: 33). Verwandtschaftsbeziehungen werden häufig als einseitig abhängig von deren biologischer Komponente gesehen. Dass aber auch die biologische Komponente kons-
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truiert ist, haben Donna Haraway und Marilyn Strathern gezeigt, auf deren Arbeiten sich Russell explizit bezieht (vgl. Russell 2007). Es handelt sich demnach um ein dichtes Geflecht aus Blutsverwandtschaft und sozialen Bezügen (Heirat, Adoption, Patenschaft), die eine Reihe anderer denkbarer Verknüpfungen zulassen. Verwandtschaftsregeln strukturieren eine Gesellschaft, indem sie Bezüge ordnen, Tabus und Vorschriften definieren. Wo Tiere in Familien integriert werden, sind Herdenstrukturen, Aufenthaltsorte und Partnerwahl sowohl nach familiären als auch nach kosmologischen Mustern organisiert (vgl. Russell 2007: 41). So ließe sich das gesellschaftliche Inzestverbot auf das Speisetabu für eng im Haushalt lebende Tiere (engl. pets) im Gegensatz zu Tieren im weiteren Umfeld des Haushalts übertragen. Für letztere richten sich zahlreiche Speise- und Opfervorschriften aber ebenfalls nach verwandtschaftssozialen Kategorien wie Alter, Geschlecht und Zeugungsfähigkeit, während die Tötung in Rituale und Verklärungsakte eingebunden ist. Archäologisch lassen sich dem Speisetabu unterworfene Tiere über Tierbestattungen nachweisen. Für die Ausdehnung von Machtbeziehungen wird Verwandtschaft als ein aktivierender Mechanismus angesehen: Da menschliche Dominanz auf ungleichen Verhältnissen zwischen Menschen in einem Haushalt basiere (vgl. Ingold 1994), habe die Ausdehnung von Verwandtschaftskategorien auf Tiere die Dominanz über Herdentiere erst denkbar gemacht (vgl. Russell 2007: 37). Es sollte dabei aber nicht übersehen werden, dass umgekehrt humansoziales Verhalten auf der Basis von tiersozialem Verhalten konstruiert ist, was etwa Hierarchien, Genderrollen oder Wanderungsbewegungen einschließt. Auch Fijn möchte Herdenhaltung keineswegs als anthropomorphisierende Praktik verstanden wissen, da zum Beispiel die Kommunikation mit Herdentieren über spezifische Laute und eine eigene Körpersprache stattfindet, die aus einem Miteinander erwachsen sind. Hierunter fällt auch die umfassende Kenntnis und Behandlung spezifischer Tierkrankheiten, die Teil vieler Mensch-Tier-Beziehungen ist (vgl. Fijn 2011: 123). Unter den biologischen Ähnlichkeiten spielt die Milchgabe als Wesensmerkmal der Tierklasse der Mammalia eine besondere Rolle, da sie speziesübergreifende Interaktionen erlaubt. Das Motiv der Tiermutter-Menschenkind-Beziehung findet sich mehrfach in Mythologie und Religion wieder. Genannt seien Krishna, der von der heiligen Kuh Gaumata gesäugt wird, Zeus, der die Milch der Ziege Amaltheia empfängt oder Romulus und Remus, die von einer Wölfin gesäugt werden. Kinder der ostafrikanischen Nuer werden von ihren Müttern angeleitet, Milch direkt aus den Ziegeneutern zu trinken (vgl. Evans-Pritchard 1940: 38). Später gehen sie über genderisierte Aktivitäten lebenslange Beziehungen zu Kühen oder Ochsen ein, deren Namen sie übernehmen (vgl. Evans-Pritchard 1940: 18). Einerseits sind demnach Lebensläufe von Menschen und Tieren direkt miteinander verwoben, andererseits wird in
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vielen Mensch-Tier-Gemeinschaften die Genealogie von Tieren anhand von deren physischen und wesenhaften Merkmalen über zahlreiche Generationen hinweg erinnert und tradiert (vgl. Evans-Pritchard 1940; Fijn 2011). Das Verwandtschaftskonzept kontrastiert offenbar stark mit dem modernen, ökonomisierten Tierbild, denn, wie Timothy Ingold betont: »[I]n unserem sozialen Umfeld – zum Beispiel im Bereich verwandtschaftlicher Beziehungen – zwingt uns nichts, uns zwischen der Ausbeutung einer Person zum persönlichen Vorteil oder der Vermeidung jeglichen direkten Kontakts zu entscheiden. In der Beziehung zu Tieren jedoch bildet dies genau jene Entscheidung, die uns mit der konventionellen Dichotomie zwischen Wildheit und Domestikation aufgenötigt wird.« (Ingold 1994: 11f., Übers. d. A.)
Da solchermaßen ein Band zwischen Natur und Gesellschaft geknüpft wird, wäre Domestikation – analog zur Verwandtschaft – in der Grauzone zwischen Natur und Kultur zu verorten (vgl. Russell 2007: 34). Dies erklärt letztlich auch, warum in dem Konzept der Ökonomie* freie wie unfreie Menschen und Tiere in sehr unterschiedlichen Machtverhältnissen in einem einzigen Haushalt vereint sein können. Die Grenzen verlaufen hier nicht so sehr entlang biologischer Spezies, sondern entlang von Gender, Altersstufen und konstruierten Verwandtschaftsverhältnissen.
TIERWESEN
ODER
N AHRUNG
AUS
S EELEN
Die Rolle von Tieren in der Domestikation berührt auch die Frage nach der Wesenhaftigkeit und Handlungsfähigkeit von Tieren. Im Neolithikum begegnen wir vormodernen Konzeptionen, die Elemente des Animismus und Totemismus aufweisen. Diese beiden viel diskutierten Weltsichten heben lediglich bestimmte, als Gegenstücke der Moderne interessierende, Mensch-UmweltVerknüpfungen hervor, die aber jeweils in ganz bestimmte kosmologische Rahmenbedingungen eingebettet sind. Im Konzept des Animismus werden den Interioritäten, etwa denen von Tieren, typische Personeneigenschaften wie besondere Fähigkeiten, Moral oder Kultur zugeschrieben (vgl. Bird-David 1999; Descola 2011). Die Handlungsfähigkeit gilt dabei als unbezweifelt, während Sprache in dieser Konzeption untergeordnet erscheint. Die äußere Wesensform wird häufig lediglich als Hülle, auch als Umhang oder Gefäß wahrgenommen und ist maßgeblich für die äußerliche Unterscheidung, zum Beispiel über Federn, Fell oder Schuppen (vgl. Descola 2011: 197ff.). Farbzeichnungen, Gesichtsmerkmale, Horn- und Schwanzformen von Tieren bedingen deren wahrgenommene Persönlichkeit, induzieren Namensgebungen und möglicherweise auch zu erweisende Ehr-
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erbietungen, etwa bei heiligen Tieren. Die Kommunikation mit Herdentieren erfolgt vor allem auf physischer Ebene in Form einer Körpersprache, verbunden mit Tierlaute imitierenden Geräuschen (vgl. Fijn 2011: 39). Ebenso werden über den menschlichen Körperschmuck, der im Neolithikum sehr häufig aus Tierstoffen besteht, bereits eine ganze Reihe an nonverbalen Informationen ausgesendet (vgl. Geßner 2005). Diese als Medium fungierenden Tierstoffe sind oftmals mit magischer Bedeutung aufgeladen, wie zum Beispiel Zähne, Sekrete, Trophäen etc. Generell bildeten Knochen eben niemals nur ›funktionale‹ Speisereste oder zu bearbeitende Rohstoffe, sondern wurden häufig respektvoll in Höhlen, Erdspalten oder auf Bäumen platziert, da die Regeneration von Tieren vielfach über die Zurückgabe der Knochen vorgestellt wurde (vgl. Descola 2011: 38). Obwohl die Archäologie häufig mit materiellen Tierhinterlassenschaften konfrontiert ist, bilden solchermaßen Leben und Tod transzendierende Objekte wie Tierknochendeposite, Schmuck, Trophäen oder Reliquien eher marginale Forschungsthemen. Der Totemismus liefert hingegen ein Klassifikationsschema, in dem über herausgehobene Eigenschaften von bestimmten Lebewesen oder unbelebten Dingen die Unterscheidung humansozialer Gruppen, etwa von Clans, aufrecht erhalten und verwaltet wird (vgl. Lévi-Strauss 1968; Descola 2011). Da die Taxonomie durch den Einschluss bestimmter Merkmale den Ausschluss anderer bedingt, werden darüber regelmäßig Gegensätze und Ordnungskriterien geschaffen. Dazu zählen etwa auch die Speisevorschriften im Alten Testament, die Tiere nach den Lebenssphären Erde, Firmament und Wasser und deren Fortbewegungsart und -mitteln ordnen (vgl. Douglas 1985). Obwohl bekannt ist, dass nur bestimmte Tierspezies mit Domestikationspraktiken in der Form korrespondieren, dass sie äußerliche Anzeichen von Domestikation ausbilden, rechtfertigt nichts deren retrospektive Zusammenfassung aufgrund dieser biologistischen Kriterien. Bislang wurden daher die symbolischen Kategorien nicht stärker hinterfragt, die Tiere miteinander verbinden oder voneinander trennen. So sind es bei den Herdentieren vorwiegend gehörnte Tierspezies, die Manipulationen erfahren haben. Das bedeutet, dass neben Rindern, Schafen und Ziegen plötzlich auch Rotwild, Damwild, Rentiere, Wildrind, Antilopen und Gazellen zu Beteiligten des Domestikationsgeschehens werden. Ihre materiellen Überreste werden auf den neolithischen Siedlungsplätzen ebenso vorgefunden. Auf einigen Mittelmeerinseln ist das Vorkommen von Damwild (Zypern) und Wildrind (Kreta) nur durch eine Überführung auf Booten vom Festland aus, das heißt als Folge eines engen Mensch-Tier-Verhältnisses, erklärbar (vgl. Russell 2012: 273ff.). Doch aufgrund fehlender oder bislang übersehener morphogenetischer Veränderungen wurden diese Spezies bisher nicht in den Reigen ›domestizierter‹ beziehungsweise in Rituale und Praktiken eingebundener Tiere aufgenommen. Diese Tiere werden von uns gemeinhin in die Sphäre des ›Wilden‹ verwiesen, obwohl diese
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Zuweisung heute paradoxerweise mit bestimmten Praktiken aufrechterhalten wird, wie zum Beispiel in Naturparks, Wildtiergehegen, Zoos. Insofern ist auch für die Vorgeschichte die Ausdehnung des ›domestizierten‹ Raums auf heilige Haine oder Wildgärten denkbar. Im ägyptischen Alten Reich wurde hingegen gefangenen ›wilden‹ Tieren vor der Opferung teilweise zwangsweise Nahrung zugeführt, was als letzte Gabe und Rückversicherung gegen Tiergeister, im Weiteren als spezielle Mastpraktik und damit als symbolische Domestikation anzusehen ist (vgl. Fitzenreiter 2010). In ähnlicher Form galt das prähistorische Interesse Tieren mit prägnanten Zähnen wie Wildschweinen, Elefanten oder Nilpferden, die in der Mythologie eine besondere Rolle spielen. Unterkiefer, Zähne und aus Zähnen beziehungsweise Elfenbein gefertigte Gegenstände werden in vielen Fällen in rituellen Depositen aufgefunden. In Çatalhöyük bestand dagegen sehr wahrscheinlich ein Jagdtabu gegenüber Tieren mit ausgeprägten Krallen wie Leoparden, Bären, Wildkatzen und Geiern (vgl. Russell 2012: 41ff.). Nahrung und Nahrungsaufnahme müssen gleichwohl als fester Bestandteil der Kosmologie gesehen werden. Philippe Descola weist uns auf die verbreitete Vorstellung hin, dass Eigenschaften anderer Wesen mit dem Verzehr aufgenommen werden und dass »dank dem Fangen, dem Austausch und dem Verzehr des Fleisches die Lebenskraft, die Energie, die Fruchtbarkeit ständig zwischen den Organismen zirkulieren« (Descola 2011: 204). Menschen sind hierbei nicht Endstation, sondern geben ihre Stoffe der ›Natur‹, zum Beispiel über die Erdbestattung oder gar den evozierten Tierfraß, zurück. Der Verzehr von Fleisch kann insofern als Teil einer nicht auf ein Individuum oder eine Hülle beschränkten Persönlichkeitsvorstellung betrachtet werden (vgl. Bird-David 1992, 1999), was neben der Vielzahl an, in dieser Form nicht für Pflanzen existierenden, Speisetabus auf Einschränkungen im Fleischverzehr deutet. Descola zitiert in diesem Zusammenhang die Befürchtung eines Schamanen folgendermaßen: »Die größte Gefahr für das Dasein besteht darin, daß die Nahrung der Menschen ganz und gar aus Seelen gemacht ist.« (Descola 2011: 204)
Z USAMMENFASSUNG Tiere in vormodernen Mensch-Tier-Gemeinschaften agieren als lebendige, verschiedene Altersstadien und Gender durchlaufende Mitlebewesen, die – ob als signifikant Andere (Gottheiten) oder als Ähnliche (Verwandte) – durch ihr performatives Dasein, zum Beispiel Milchgeben, Dungerzeugung, Zugkraft, Bewegung, Krankheitssymptome, Signalisieren von Vorzeichen, Brunft, Zeugung, Geburt, Wärme, Geräusche, Gerüche oder die Fähigkeit zur Regeneration ständig präsent und an gesellschaftlichen Entscheidungen beteiligt sind,
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häufig auch saisonale oder kosmologische Zyklen bestimmen. Es muss sogar infrage gestellt werden, ob die ursprüngliche reine Menschengesellschaft nicht vielmehr ein nachträgliches Konstrukt ist und wir uns gegenwärtig nicht eher in einem verstärkten Prozess der Entdomestikation, der Entfernung von ›Nutztieren‹ aus dem humansozialen Raum und deren Zuführung in Grenzräume befinden. Wenn heute die Handlungsfähigkeit von Tieren in einer modernen Subjekt-Objekt-Beziehung wieder zur Debatte steht, haben wir es in dem betrachteten Zeitraum mit anderen Vorzeichen zu tun: Die Handlungsfähigkeit von Tieren war ein Teil von Lebensrealitäten, die sich gegenwärtig über ModellOntologien wie Animismus und Totemismus umschreiben lassen. Als Personen konnten Tiere lange übernatürliche Handlungsmacht erlangen, aufgrund der die Entscheidungsmacht von Menschen über Tiere nicht bis in die letzte Instanz denkbar war. Es überwiegen daher in der kulturellen Überlieferung eindeutig Beziehungen, die zu lebenden Tieren oder Tiergeistern geknüpft wurden und die der Gegenseitigkeit eines commitment (Verpflichtung) unterliegen. Füttern, Pflegen, Hüten, Weiden, Heilung von Krankheiten und vieles mehr sind die durch Menschen zu erbringenden Gegenleistungen. Der neolithische Produktionsprozess drehte sich demnach nicht um die Maximierung von Proteinen oder Kalorien, sondern um Konzepte der Essbarkeit – strukturiert durch Tabus und Totems –, um Konzepte von Gender, Prestige und Performanz, die sich weder auf eines dieser Konzepte noch auf den technologischen und ökologischen Kontext reduzieren lassen (vgl. Russell 2012: 173). Sogenannte Nutztiere bildeten darin am ehesten Produzent_innen, nicht etwa von Fleisch, Häuten oder Milch, sondern von Grundeinheiten einer Mensch-Tier-Gemeinschaft, die in erster Linie durch Haushaltsökonomien umrahmt waren. Die Ausdehnung des Verwandtschaftsbezugs auf Tiere wirkte rekursiv auf die Inkorporation und Idealisierung tiersozialer Verhaltensmuster zurück. Dies ist strikt von den Praktiken der Verwertung toter Tierstoffe zu trennen, die gleichfalls in kosmologische Strukturalisierungen eingebunden sind und die Tötung von Herdentieren als vorzeitige Einlösung oft nur in ritualisierter, das heißt in vorab gesellschaftlich-religiös rückversicherter Form, zulässt. Zumindest ist eine Sicht, in der Tiere nur als Fleischressource auftreten, eine unzulässige Verkürzung, die in der an Tierwesen reichhaltigen kulturellen Überlieferung keinen Rückhalt findet. In modern geprägte Begrifflichkeiten wie Produktion und Domestikation sind bereits Subjekt-Objekt-Beziehungen eingeschrieben, die im vormodernen Kontext deplatziert wirken (vgl. Descola 2011: 472). Dies bedarf eines zweifachen Diskurses, erstens zur Dekolonialisierung der Vergangenheit, von Menschen wie Tieren, durch die Moderne, die unter die Subjektivierungs-/Objektivierungs- sowie unter die Wissenschaftsgeschichte fällt (vgl. Eitler/Möhring
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2008), und zweitens zur Offenlegung spezifischer vormoderner Mensch-TierVerhältnisse durch diesen Filter hindurch, was einer Raum- und Verflechtungsgeschichte (vgl. ebd.) entspricht. Es mag längst überfällig erscheinen, die sogenannten Nutztiere nicht mehr, wie Marx es formuliert hat, in persönlichkeitsverneinender Weise als ›Arbeitsmittel‹, ›Rohstoffe‹ oder ›Produkte‹ zu bezeichnen, die einem zeitlichen Umfeld entstammt, in der Tiere als Metaphern der Emanzipation der westlichen Gesellschaft über die Natur missbraucht wurden, um von den sozialen Missständen und dem sinkenden Prestige der Landwirtschaft abzulenken. Die Nahrungsmittelproduktion wäre mit Bruno Latour ein klassisches hybrides System, an dem Tiere, Pflanzen, Bakterien, Pilze, Menschen, Geräte, aber auch Böden, Klima und Wasser beteiligt sind. Menschen treten eher untergeordnet als Produzent_innen denn als Assistent_innen auf, da für alle Lebewesen gilt, dass Nahrung immer zuerst anderen Entitäten entnommen wird. Dieses Nehmen ist entscheidend, denn in den anthropogenen Kulturen ist es mit festen Regeln zu Gegengaben und Sanktionen gegenüber Verstößen verbunden (vgl. Mauss 1990). Da diese Regeln schon existieren, muss der Beteiligungskreis für Akteur_innen entsprechend größer ausfallen. Wenn hier eine moderne Klassifikation für arbeitende Tiere gewählt werden soll, dann ist es wohl die der Produzent_innen, mit all den daraus resultierenden Verbindlichkeiten, die teils in irgendeiner Form immer schon bestanden, zum Beispiel über Fütterung und Pflege, oder die es gesellschaftlich noch durchzusetzen gilt.
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Doing things with frogs Von der Erforschung von Froschgiften zu einer chemischen Ökologie Klaus Angerer Vor dem Hintergrund euphorischer Presseberichte über einen neuen Wirkstoff für Schmerzmittel, den das Pharmaunternehmen Abbott Laboratories inspiriert durch das Gift eines Frosches aus Ecuador entwickelt hatte (siehe z.B. AP 1998), besang der Liedermacher Paul Simon (2000) in dem Song Señorita With A Necklace Of Tears wenig später eben diesen Frosch mit den folgenden Worten: »[...] Nothing but good news There is a frog in South America Whose venom is a cure For all the suffering That mankind must endure More powerful than morphine And soothing as the rain A frog in South America Has the antidote for pain That’s the way it’s always been And that’s the way I like it […]«
Nun ist das Gift des Frosches Epipedobates anthonyi tatsächlich stärker als Morphin, wenngleich es sich bei dem in den Presseberichten vorgestellten Wirkstoff ABT-594 um ein synthetisch hergestelltes Derivat des Froschgiftes handelte. Zudem war der Wirkstoff damals erst in Zellkulturen sowie in vivo an Ratten getestet worden, mithin weit von jeder Zulassung oder Markteinführung entfernt – das besungene Leid der Menschheit hatte folglich noch lange kein Ende gefunden. Der in dem Lied zum Ausdruck kommende Hype um, den durch ein Froschgift inspirierten Wirkstoff dürfte insofern mindestens ebenso viel mit dem Reiz von Bildwelten bunter tropischer Giftfrösche zu tun
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haben wie mit der Hoffnung auf neue Schmerzmittel; schließlich scheint es kaum vorstellbar, dass einem aus Bakterien, Pilzen oder komplett synthetischen Vorläufern – also üblicheren Quellen der pharmazeutischen Forschung – abgeleiteten Wirkstoff ebenfalls ein Lied gewidmet würde. Um der Faszination durch farbenfrohe Frösche, deren giftige Sekretionen und die Erkundung entfernter tropischer Regionen auf die Spur zu kommen, soll hier ein Forschungsprogramm der US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) vorgestellt werden, das in den 1960er-Jahren mit der Erforschung von Alkaloiden1 aus südamerikanischen Pfeilgiftfröschen begann und sich mittlerweile auf Hunderte von Substanzen aus Amphibien, Insekten und Vögeln ausgeweitet hat. Im Zuge dessen hat es Veränderungen durchlaufen, die dazu geführt haben, ökologische Zusammenhänge und individuelle Variationen der giftigen Sekretionen von Fröschen stärker zu berücksichtigen, und teils neuartige Praktiken im Umgang mit Fröschen mit sich gebracht haben. Eines der bekanntesten Alkaloide, das in diesem Rahmen gewonnen wurde und Paul Simons Song zugrunde liegt, ist das stark toxische Epibatidin, das Mitte der 1970er-Jahre an den NIH aus dem Hautdrüsensekret des in Ecuador und im Norden Perus endemischen Giftfrosches E. anthonyi isoliert wurde. Heutzutage spielt Epibatidin eine wichtige Rolle u.a. in der Erforschung neuartiger Wirkstoffe für Schmerzmittel, insbesondere deshalb, weil es stärker als Morphin wirkt, aber nicht an Rezeptoren für Opiate bindet und so deren Nebenwirkungen zu umgehen verspricht; es wurden bereits Patente auf Epibatidin und daraus abgeleitete Substanzen erteilt, wenn auch derzeit keiner dieser Wirkstoffe zugelassen ist keine daraus entwickelte Medikamente auf dem Markt sind.2 Dieser Fall einer Bioprospektion tropischer Giftfrösche – als Bioprospektion wird die Erkundung potenziell nützlicher biologischer Materialien in der pharmazeutischen, biotechnologischen oder kosmetischen Forschung bezeichnet – wurde seit dem Hype um ABT-594 häufig als Paradebeispiel für sogenannte Biopiraterie, also die unrechtmäßige oder illegitime Aneignung, Patentierung oder Verwertung biologischer Materialien, angeführt (siehe z.B. Saavedra 1999). Allerdings lässt sich den beteiligten Wissenschaftler_innen wohl kein Fehlverhalten vorwerfen, das sie zu Biopirat_innen machen würde 1 | Alkaloide sind eine Klasse von in der pharmazeutischen Forschung häufig genutzten, bioaktiven Substanzen aus dem Sekundärstoffwechsel von Pflanzen, Tieren oder Pilzen, die meist giftig sind oder eine anderweitige Wirkung auf tierliche Organismen haben; zu den Alkaloiden gehören z.B. Nikotin, Kokain und Morphin. 2 | Auch die Entwicklung des Wirkstoffs ABT-594 als Schmerzmittel wurde aufgrund gastrointestinaler Nebenwirkungen nach zwei Serien klinischer Studien abgebrochen; die Forschung an von Epibatidin abgeleiteten Wirkstoffen für diverse Indikationen wird aber u.a. von Abbott weiter verfolgt (siehe z.B. Zhu et al. 2011).
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(vgl. Angerer 2011: 360f.). Über die Frage der Rechtmäßigkeit des Zugangs zu den Froschhäuten und der Verwertung der so gewonnenen Substanzen hinaus sind die Details der Erforschung von Giftfröschen und ihren Sekreten bislang jedoch wenig untersucht worden. Was indes zunächst als Geschichte einer doppelten Ausbeutung – einerseits durch vermeintliche Biopiraterie, andererseits durch die Nutzung der Sekretionen zahlreicher Frösche, die dafür oft noch im Feld gehäutet wurden – erscheint, wird unklarer, je genauer man hinsieht: Denn wenngleich die Frösche auf der ersten Blick nichts als Rohmaterial der pharmazeutischen Forschung zu sein scheinen, sind sie bei genauerer Betrachtung in vielerlei Hinsicht in den Verlauf der Ereignisse eingebunden, und zwar keineswegs nur als Rohmaterial wissenschaftlichen und ökonomischen Handelns. Da die meisten Giftfrösche ihre Toxine nicht selbst produzieren, sondern sie aus ihrer Nahrung aufnehmen, sind sie nämlich unverzichtbare Vermittler bei der Suche nach neuen Alkaloiden – gewissermaßen sind sie die eigentlichen Bioprospektoren, da sie fähig sind, Beutespezies auszumachen, die entsprechende Giftstoffe produzieren, diese aufzunehmen und selbst als Gift abzusondern, in erster Linie als Schutz vor Fressfeinden und Parasiten. Inzwischen werden über Untersuchungen des Beuteverhaltens der Frösche auch die eigentlichen Produzenten der Alkaloide in zunehmendem Maße zugänglich, vor allem bestimmte Insekten. Über die Erkundung von Froschgiften hinaus erscheint so eine komplexe, stark von Umweltbedingungen vor Ort abhängige chemische Ökologie, die Hunderte von Alkaloiden umfasst, die zahlreiche Spezies – Frösche, Insekten und sogar Vögel – miteinander teilen. Doing things with frogs kann somit zweierlei bedeuten: Einerseits die Nutzung von Fröschen als Rohmaterial von Forschung und Entwicklung, andererseits jedoch eine Art gemeinsames Handeln mit Fröschen durch deren keineswegs triviale Einbindung als Vermittlungsinstanzen in Forschungsprozessen.
D IE E RFORSCHUNG
VON F ROSCHALK ALOIDEN AN DEN UND DARÜBER HINAUS — EINE KURZE C HRONOLOGIE
NIH
Der seit 1958 im Laboratory of Chemistry des zu den NIH gehörigen National Institute of Arthritis and Metabolic Diseases (NIAMD) tätige Chemiker und Pharmakologe John Daly war zu Beginn seiner Lauf bahn noch nicht an amphibischen Giftstoffen interessiert gewesen. Zu Beginn der 1960er-Jahre gab ihm jedoch Bernhard Witkop, der Chef seiner Arbeitsgruppe, den Auftrag, in Kolumbien Froschhäute von Phyllobates aurotaenia zu sammeln, einer Spezies, aus der er zuvor das hochgiftige Alkaloid Batrachotoxin isoliert hatte (vgl. Gillis 2002; Fitch/Bewley 2010: 299). Wenige Jahre später klärte die Gruppe um Daly dann die molekulare Struktur dieses Alkaloids auf und charakterisierte es chemisch; die viel beachteten diesbezüglichen Veröffentlichungen (siehe
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z.B. Daly et al. 1965; Tokuyama/Daly 1969) bildeten den Auftakt eines umfangreichen, zunächst vor allem chemischen und pharmakologischen Forschungsprogramms zu Amphibienalkaloiden. Infolge eines zufälligen Kontakts erfuhren Dalys Untersuchungen indes bald eine interdisziplinäre Ausrichtung, die wahrscheinlich für ihren weiteren Fortgang nach der ersten Sammlung in Kolumbien entscheidend war: Der Herpetologe Charles Myers – damals als Doktorand in Panama und später Kurator am American Museum of Natural History in New York – hatte einen Bericht über Dalys Arbeiten mit kolumbianischen Giftfröschen gelesen und schlug diesem vor, gemeinsam zu erforschen, ob ein Zusammenhang zwischen der Färbung, dem Verhalten und der Toxizität des panamaischen Frosches Dendrobates pumilio bestünde. Da die Analyse der in Kolumbien gesammelten Froschhäute nahelegt hatte, dass in anderen Spezies der Familie der Baumsteiger- bzw. Pfeilgiftfrösche (Dendrobatidae) ebenfalls unbekannte Alkaloide zu entdecken waren, stimmte Daly diesem Vorschlag umgehend zu. Obgleich sich die Hypothese einer Korrelation von Färbung und Toxizität der Frösche nicht als zutreffend herausstellte, sollte die Zusammenarbeit zwischen dem Taxonomen Myers und dem Chemiker und Pharmakologen Daly bis zu dessen Tod im Jahre 2008 andauern und prägend werden für das Froschalkaloidprogramm der NIH, das sich letztlich auf über 60 Spezies von Giftfröschen erstreckte und Sammlungen in zehn tropischen und subtropischen Ländern im Laufe mehrerer Jahrzehnte umfasste (vgl. Daly 1998: 165; Daly et al. 2000: 131; Gillis 2002). Von den Hunderten von Alkaloiden, die dabei erschlossen und klassifiziert wurden, soll im Folgenden vor allem Epibatidin im Vordergrund stehen. 1974 sammelten Daly und Myers im südwestlichen Ecuador etwa 1800 Häute des winzigen Pfeilgiftfroschs E. anthonyi, der wie die meisten in der Frühphase dieses Forschungsprogramms untersuchten Frösche auch zur Familie der Dendrobatidae gehört. Zurück im Labor testete Daly routinemäßig die Effekte von Extrakten der gesammelten Froschhäute in vivo durch subkutane Injektionen in Mäuse und war verblüfft, als er dabei auf einen Effekt stieß, den er noch nie zuvor zu sehen bekommen hatte (vgl. Williams/Martin Garraffo/Spande 2009: 214)3: Die Mäuse bogen ihren Schwanz s-förmig über den 3 | Subkutane Injektionen in Mäuse waren damals ein Routineverfahren, um die Bioaktivität von Substanzen zu überprüfen. Heutzutage werden Extrakte oder reine Verbindungen jedoch kaum noch auf gut Glück in Mäuse injiziert, wie ein vom Verfasser interviewter Naturstoffforscher betont – nicht nur, weil Tierversuche strikter als früher reguliert seien, sondern auch, weil dies zu viel von den zu testenden Substanzen verbrauche. Daher werden Verbindungen normalerweise zunächst in vitro an Zellkulturen überprüft, bevor sie ggf. in vivo an Mäusen getestet werden. Zwei von Dalys Kollegen betonen anlässlich eines von ihnen zitierten Eintrags in dessen Labortagebuch ebenfalls, dass dies früher ein übliches Testverfahren war, in diesem Fall zur Untersuchung
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Rücken nach vorn, eine Reaktion, die als »Straubsches Schwanzphänomen« bekannt und typisch für Opiate ist (Müller 1996: 86). Dalys Labortagebuch gibt das beobachtete Verhalten der Mäuse wie folgt wieder: »agitation, labored breathing, pronounced S-T [Straub tail reaction], running convulsions, 3 min on side twitching, still pronounced S-T, rolling convulsions, arching back, extends hind feet […] cannot locomote, still rights itself readily« (zit.n. Williams/ Martin Garraffo/Spande 2009: 207). Eine solche Reaktion war niemals zuvor bei einem Froschalkaloid beobachtet wurden, was umgehend großes Interesse an der hierfür verantwortlichen Substanz weckte, zumal der Extrakt in hot plate tests mit Mäusen starke analgetische (d.h. schmerzstillende) Eigenschaften aufwies.4 Tatsächlich stellte sich Epibatidin später in diesen Testverfahren als 200-mal so stark wie Morphin heraus (vgl. ebd.), eine der in Fachartikeln, Presseberichten sowie auch Paul Simons Song am häufigsten hervorgehobenen Eigenschaften dieses Alkaloids. Nachdem die Extrakte der ersten Sammlung im Zuge der Untersuchung ihrer Eigenschaften bald verbraucht waren, machten sich Daly und Myers 1976 erneut nach Ecuador auf, in der Hoffnung, in dem Gift von E. anthonyi eine neues hochaktives Opiat zu entdecken. Dort angekommen, fanden sie allerdings an einem ihrer vorherigen Sammlungsorte keine Frösche vor, während die in einer nahegelegenen Bananenplantage gewonnenen Häute, wie sich anschließend herausstellte, keinerlei Alkaloide enthielten. In einem etwas höher gelegenen Feuchtgebiet gab es jedoch reichlich Frösche, so dass sie 750 Häute sammeln konnten, die etwa 60 mg eines Alkaloidgemisches ergaben, aus dem schließlich 500 μg an relativ reinem sogenanntem Straub-tail alkaloid isoliert werden konnten (vgl. Daly et al. 2000: 132). 1978 zeigte Daly dann, dass der Opiat-Antagonist Naloxon die Effekte des Alkaloids überraschenderweise nicht unterdrückte – die Substanz konnte demnach kein opioides Alkaloid sein. Die Forscher_innen bemerkten also erst zu diesem Zeitpunkt, was sie in dem Froschgift tatsächlich gefunden hatten: ein nicht-opioides Analgetikum, dessen schmerzstillende Effekte viel stärker als die von Morphin waren (vgl. Williams/Martin Garraffo/Spande 2009: 207). Das Potenzial des Froschalkaloids, Schmerz zu bekämpfen und zugleich die Nebenwirkungen von Opiaten, vor allem das Abhängigkeitsrisiko, zu vermeiden, lag auf der Hand. Noch war es freilich nicht möglich, den Wirkmechanismus der Substanz zu bestimmen, da der Effekte von Batrachotoxin: »Daly’s notebook records a typical bio-assay following the subcutaneous injection used earlier in mice: From 2μg of pure BTX: ›short rapid movement, almost hopping around. Body in spasm, gasping for breath, convulsions, dead in one minute‹« (Martin Garraffo/Spande 2009: 197). 4 | In hot plate tests werden Versuchstiere auf einer erhitzten Oberfläche platziert, um ihre Schmerzreaktion messen und so z.B. die Effektivität von verabreichten Analgetika bewerten zu können.
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die damaligen Instrumente nicht empfindlich genug waren, um mit der verfügbaren winzigen Probe die molekulare Struktur des Alkaloids zu aufzuklären. Daly und Myers blieb nichts anderes übrig, als erneut nach Ecuador aufzubrechen, um dort Froschhäute zu sammeln; bei ihren weiteren Sammeltouren fanden sie jedoch nur Tiere, die so gut wie keine Alkaloide enthielten, während im Labor aufgezogene Frösche komplett frei von Toxinen waren. Nachdem die Familie der Dendrobatidae zudem 1987 unter den Schutz der Convention on International Trade in Endangered Species (CITES, auch bekannt als ›Washingtoner Artenschutzabkommen‹) gestellt worden war, waren weitere umfangreiche Wildsammlungen nur noch in Ausnahmefällen möglich. Ohne zusätzliche alkaloidhaltige Froschhäute war mit den verfügbaren Instrumenten jedoch keine Strukturaufklärung machbar – der vorhandene Rest des Alkaloids war mithin ebenso vielversprechend wie unersetzbar und vorerst nicht weiter nutzbar (vgl. Daly et al. 2000: 132). Erst zu Beginn der 1990er-Jahre änderten sich die technologischen Rahmenbedingungen und erlaubten eine weitere Erforschung der schon 1976 gewonnenen Probe: Dank eines neuartigen Verfahrens zur Detektion des Kernspins von Atomen hatte sich nämlich die Empfindlichkeit von Kernspinresonanzspektrometern – dem wichtigsten Instrument für die Strukturaufklärung – um ein Vielfaches erhöht, so dass die molekulare Struktur des seit Jahren bei -5°C eingelagerten Alkaloids auch ohne weitere Froschhäute relativ zügig bestimmt werden konnte (vgl. Williams/Martin Garraffo/Spande 2009: 210). Bald darauf veröffentlichten Daly und seine Kolleg_innen die Struktur des Alkaloids, das nun nach dem Namen der Froschspezies, aus der es extrahiert worden war, ›Epibatidin‹ genannt wurde (Spande et al. 1992). Die Veröffentlichung übte einen raschen und weitreichenden Einfluss in der Fachliteratur aus, mit mehr als 300 innerhalb von 10 Jahren über Epibatidin publizierten Artikeln und einer dem Alkaloid gewidmeten Sonderausgabe der Zeitschrift Medicinal Chemistry Research (vgl. Dukat/Glennon 2003: 365). Die öffentliche Aufmerksamkeit für Epibatidin außerhalb fachwissenschaftlicher Kreise nahm ferner stark zu, nachdem das Alkaloid in einem Bericht in Science popularisiert worden war als »a possible first step toward producing a long-sought drug: a powerful nonsedating, nonopioid painkiller« (Bradley 1993: 1117). Wenig später wurden mehrere Synthesewege zur Herstellung von Epibatidin publiziert (vgl. ebd.) und der Wirkmechanismus des Alkaloids als nikotinischer Agonist wurde identifiziert (vgl. Badio/Daly 1994). Damit waren auch die Voraussetzungen gegeben, um das pharmazeutische Potenzial von Epibatidin erkunden zu können. Da sich indes bald herausstellte, dass das unmodifizierte Froschalkaloid zu toxisch für ein Schmerzmittel war und eine geringe therapeutische Breite aufwies (d.h. Nebenwirkungen traten schon bei einer Dosis auf, die sehr nahe an der therapeutisch wirksamen Dosis lag), gab es offenbar keine Versuche, Epibatidin selbst als Wirkstoff
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zu entwickeln (vgl. Bannon et al. 1998: 77). Stattdessen konzentrierte sich die Forschung auf Epibatidinderivate, also mehr oder weniger stark abgewandelte Varianten des Moleküls, die wie Epibatidin an nikotinische Acetylcholinrezeptoren binden und auf dieselbe Weise wirken. Abbott wiederum hatte schon in den Jahren zuvor an Substanzen geforscht, die an eben diese Klasse von Rezeptoren binden, ohne dabei freilich große Fortschritte gemacht zu haben (vgl. Arneric/Holladay/Williams 2007: 1094). Mit dem Wissen um den Wirkmechanismus von Epibatidin war das Unternehmen nun aber in der Lage, eine Substanzbibliothek von über 500 Verbindungen (eine übliche Größe für eine von einem neuen Wirkstoff abgeleitete Bibliothek, die in weiteren Schritten noch stark anwachsen kann) herzustellen, die auf eine nicht im Detail bekannt gegebene Art und Weise von Epibatidin inspiriert waren. Aus dem Screening dieser Bibliothek ging der Wirkstoff ABT-594 als aussichtsreichster Kandidat für klinische Studien hervor, nachdem er in Zellkulturen und an Ratten dieselbe Wirksamkeit wie Epibatidin gezeigt hatte, ohne jedoch ebenso heftige Nebenwirkungen zu verursachen (vgl. Williams/Martin Garraffo/Spande 2009: 211). Der in Science publizierte Artikel zu ABT-594 (vgl. Bannon et al. 1998) erregte großes Aufsehen, wobei nicht nur in Paul Simons Lied, sondern auch in Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Artikeln häufig Bezug auf den Ursprung von Epibatidin in einem kleinen bunten Frosch genommen wurde, obgleich Abbott ausschließlich an synthetisch hergestellten Derivaten des Froschgifts gearbeitet hatte; laut Daly seien sogar Fernsehteams zu dem Unternehmen aufgebrochen, um dort die mysteriösen Amphibien zu filmen, und enttäuscht abgezogen, als sie dort keine Giftfrösche vorfanden und nicht einmal jemanden trafen, der diese außer auf Fotos jemals gesehen hatte (vgl. Daly et al. 2000: 134). Tatsächlich hatte Abbott das pharmakologische Profil von Epibatidin ausführlich in vitro und in vivo erforscht und das Wissen um die Eigenschaften, die Struktur und den Wirkmechanismus des Alkaloids als Inspiration für die Gestaltung synthetischer Substanzbibliotheken genutzt. Die Herkunft von Epibatidin aus einem Froschgift war dabei für die pharmazeutische Forschung und Entwicklung im engeren Sinne kaum relevant, zugleich aber umso bedeutsamer für die öffentliche Wahrnehmung des zunächst so vielversprechenden »Painkiller based on frog poison«, wie ein euphorischer Zeitungsbericht titelte (AP 1998).5 5 | Ebenfalls entscheidend war die Herkunft des Alkaloids für die Vorwürfe der Biopiraterie, die im Gefolge des Hypes um ABT-594 gegen Dalys Gruppe und Abbott erhoben wurden. Viele dieser Vorwürfe gingen von einer engen Verbindung zwischen ABT-594 und den mehr als 20 Jahre zuvor gesammelten Fröschen aus und machten kaum einen Unterschied zwischen den Froschhautextrakten, den aus diesen isolierten Alkaloiden und den dadurch inspirierten synthetischen Derivaten (siehe z.B. Saavedra 1999). Dies geschah vor dem Hintergrund der hitzigen Kontroversen um den Zugang
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Soweit handelt es sich bei dieser Chronologie des Froschalkaloidprogramms der Gruppe um Daly um eine Geschichte relativ konventioneller chemischer und pharmakologischer Forschung an Alkaloiden, die allerdings aus höchst unüblichen Rohmaterialien extrahiert wurden, nämlich aus Froschtoxinen, also Biomaterialien, die niemals zuvor systematisch zur Gewinnung von Wirkstoffen erschlossen worden waren, ganz im Gegensatz zu Pflanzen und Mikroorganismen, die schon seit Langem als wichtige Quellen von Naturstoffen dienen. Dass nach dem Hype um einen neuen Wirkstoff langjährige Verzögerungen sowie unerwünschte Nebenwirkungen in klinischen Studien auftraten und die Erfolgsaussichten für ABT-594 und andere Epibatidinderivate bis heute völlig unklar sind, ist keineswegs ungewöhnlich – business as usual, das nicht per se etwas mit Froschalkaloiden und deren Spezifika zu tun hat.6 Zwar verknüpften Myers und Daly im Rahmen ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit schon früh pharmakologische und chemische Fragestellungen mit solchen aus Ökologie, Taxonomie und Toxikologie und gingen insofern auf unkonventionelle Weise vor, doch blieb den Fröschen hierbei zunächst vor allem die Rolle als Rohmaterial zur Gewinnung von Alkaloiden. Um die Verschiebungen zu verdeutlichen, infolge derer die Frösche im Laufe der Zeit vermehrt eine Vermittlerrolle innerhalb komplexer chemischer Ökologien einnahmen, sollen nun einige Praktiken im Umgang mit Fröschen eingehender betrachtet werden.
I NTER AK TIONEN MIT F RÖSCHEN IM F ELD — A USWÄHLEN , S AMMELN , H ÄUTEN UND E X TR AHIEREN Da die Forscher_innen zwar über taxonomische Kenntnisse, oftmals jedoch nur über ungefähres Vorwissen bezüglich des möglichen Alkaloidgehalts bestimmter Froschspezies verfügten (zumal längst nicht alle zu den Dendrobatidae gehörenden Frösche nennenswerte Mengen an Alkaloiden absondern, obgleich die gesamte Familie gemeinhin als dart poison frogs bekannt ist), blieb ihnen im Feld häufig nichts anderes übrig, als die zu sammelnden Exemplare zu biologischen Materialien und die gerechte Verteilung der daraus resultierenden Einkünfte, die auf den Abschluss der Konvention über biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) auf dem sogenannten ›Erdgipfel‹ 1992 in Rio de Janeiro folgten. Rein rechtlich gesehen lässt sich aber weder den NIH-Forscher_innen noch Abbott etwas vorwerfen, vor allem deshalb, weil die CBD sich nicht retrospektiv auf lange zuvor erfolgte Sammlungen anwenden lässt, zumal bislang mit Epibatidinderivaten keine nennenswerten Einkünfte generiert worden sind, die mit dem Herkunftsstaat des Froschalkaloids geteilt werden könnten (ausführlich hierzu Angerer 2011: 360f.). 6 | Detailliert hierzu Angerer (im Erscheinen).
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relativ spontan, vor allem nach sinnlich wahrnehmbaren Kriterien auszuwählen. Meist wurden die Frösche hierfür abgeschmeckt, schließlich galt die Suche bioaktiven Alkaloiden, von denen viele bitter schmecken oder sogar auf der Zunge brennen. Ein populärwissenschaftlicher Bericht über Dalys Forschungen beschreibt diese beinahe im wortwörtlichen Sinne Trial-and-error-Methode wie folgt: »Once in the field, the two [Daly and Myers; Anm. d. Verf.] had a simple test to decide whether to take a particular frog. ›It involved touching the frog, then sampling it on the tongue. If you got a burning sensation, then you knew this was a frog you ought to collect‹, says Daly.« (Gillis 2002) Von Dalys früheren Kolleg_innen wird dieses Verfahren der weitgefächerten und unvoreingenommenen Auswahl von Fröschen aufgrund des von ihnen verursachten Brennens auf der Zunge oder nach ihrer Färbung im Rückblick als »searching for the always interesting unknown« bezeichnet (Williams/Martin Garraffo/ Spande 2009: 214), das zum Einsatz kam, wenn man nicht schon im Voraus relativ genau wusste, welche Art von Giftfröschen man suchte. Auch die Epibatidin sekretierenden Exemplare von E. anthonyi wurden offenbar durch Abschmecken entdeckt, eine Vorgehensweise, die zudem die weiteren Vorzüge hatte, einfach, schnell und ohne Ausrüstung benutzbar zu sein: »A simple and fast bioassay, albeit not very elegant, for detecting the presence of pharmacologically active substances in frog skin.« (Myers/Daly/Malkin 1978: 339) In anderen Fällen griffen die Wissenschaftler_innen bei der Auswahl von oder der Suche nach Fröschen auf das traditionelle Wissen und die Hilfe einheimischer Bevölkerungsgruppen zurück oder suchten die Orte ihrer Feldforschung nach Berichten über den lokalen Gebrauch von Froschgiften aus. Dies war beispielsweise bei einer Expedition in den frühen 1970er-Jahren zu Emberá-Indigenen im kolumbianischen Chocó der Fall, bei der die neue Art Phyllobates terribilis entdeckt und beschrieben wurde, die weltweit giftigste Wirbeltierart, die enorme Mengen des hochgiftigen Batrachotoxins sekretiert und von den Emberá zur Gewinnung von Pfeilgift für die Jagd genutzt wurde. Folgerichtig besteht beinahe die Hälfte des 60 Seiten langen Artikels zu den Ergebnissen der Expedition aus einer ethnografischen Dokumentation indigener Praktiken der Herstellung und Benutzung von Blasrohren und Giftpfeilen, neben einer ausführlichen Beschreibung des Frosches und seines Habitats sowie einer toxikologischen Charakterisierung seiner Alkaloide (siehe Myers/ Daly/Malkin 1978). Bei dieser Expedition war das lokale Wissen der Indigenen den Forschern wohl in doppeltem Sinne nützlich: Einerseits bei der Auswahl der Frösche, andererseits aber auch als Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit P. terribilis, die sie z.B. davon abhielt, bei dieser Spezies ihre übliche Methode des Abschmeckens anzuwenden (vgl. Myers/Daly/Malkin 1978: 339). Da die letale Dosis von Batrachotoxin für einen erwachsenen Menschen bei Eintreten in die Blutbahn vermutlich deutlich unter 200 μg liegt (vgl. Myers/Daly/Malkin 1978: 340) und ein einzelnes Individuum dieser relativ großen Frösche bis zu
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2 mg davon enthalten kann (also genug, um mehr als 10 Menschen zu töten), waren ernsthafte Gesundheitsrisiken beim Abschmecken nämlich nicht auszuschließen und zumindest ein sehr unangenehmes Gefühl auf der Zunge zu erwarten. Daher benutzten die Forscher zur Handhabung der Frösche im Feld, vor allem beim Häuten zur Extraktion der Alkaloide, neben Gummihandschuhen auch Schutzbrillen und Atemmasken (vgl. ebd.), wohlwissend, dass die Indigenen ihre Hände mit Blättern schützten, wenn sie Giftfrösche fingen oder festhielten, um ihre Pfeile durch einfaches Streichen über den Rücken der Tiere mit Gift zu versehen (vgl. Myers/Daly/Malkin 1978: 343). In dem Artikel zu P. terribilis folgt dementsprechend unmittelbar auf das Abstract eine Warnung vor den Effekten der Froschsekretionen,7 welche auch als Grund für die Wahl des Epithetons terribilis für die neu beschriebene Art angeführt werden. Die Gesundheitsrisiken, die der Umgang mit Giftfröschen – und zwar nicht nur mit dem besonders giftigen P. terribilis – mit sich bringen kann, werden auch in anderen Artikeln betont (siehe z.B. Martin Garraffo/Spande 2009: 195) und sind keineswegs aus der Luft gegriffen, wie der Fall einer Sammlerin zeigt, der das Tragen von Handschuhen beim Häuten des deutlich weniger giftigen P. aurotaenia große Mühe bereitete und die den Verzicht auf Gummihandschuhe mit der jahrelangen Lähmung einer Hand bezahlte (vgl. Martin Garraffo/ Spande 2009: 198). Während teilweise auch lebende Exemplare gesammelt wurden, vor allem für Aufzuchtprogramme und Experimente, war das Sammeln von Fröschen häufig gleichbedeutend mit dem von Froschhäuten, wofür die Tiere schon im Feld getötet werden mussten. In veröffentlichten Artikeln finden sich in den Abschnitten zu Materialien und Methoden indes oftmals Details zu den zur Extraktion und Konservierung der Alkaloide angewandten Verfahren, das Töten der Frösche wird aber gewöhnlich knapp unter Bezeichnungen wie »sacrificed« oder »euthanized« abgehandelt. Nur gelegentlich wird die Tötungsmethode genannt, im folgenden Zitat auch deshalb, um zu betonen, dass alles getan wurde, um eine Verunreinigung der gesammelten Häute durch Chemikalien zu vermeiden: »Frogs were collected by hand (when possible, in a plastic cup so as not to contaminate the skin by handling) and euthanized by pithing or freezing to avoid contamination by chemical agents«. (Darst et al. 2005: 57) Die frisch abgezogenen Häute der getöteten Frösche wurden anschließend möglichst sofort, also noch im Feld, in Lösungsmittel wie Methanol gegeben, um die gesuchten Substanzen extrahieren sowie die Proben für den Transport
7 | »The skin secretions are also irritating to porous skin and poisonous if ingested. These frogs should be considered as potentially dangerous if improperly handled. No effective antidote is known for batrachotoxin poisoning« (Myers/Daly/Malkin 1978: 312).
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und die weitere Untersuchung im Labor konservieren zu können (vgl. Myers/ Daly/Malkin 1978: 334). Inzwischen kommen allerdings im Feld wie im Labor zunehmend in universitären Protokollen kodifizierte nicht-letale Methoden zur Extraktion von Froschsekreten zum Einsatz, während das Töten von Fröschen bisweilen als aus ethischen wie wissenschaftlichen Gründen inakzeptabel bezeichnet wird (vgl. Clark 2010: 16) und zumindest in den USA eine explizite Genehmigung durch ein zuständiges universitäres Komitee erfordert (vgl. Clark 2010: 23). Im folgenden Zitat wird ein solches nicht-letales Verfahren beschrieben, wobei die Autor_innen explizit das Wohlergehen der Frösche nach der Extraktion hervorheben – die in freier Wildbahn untersuchten Tiere wurden wieder freigelassen und die im Labor gehaltenen verhielten sich bald wie üblich: »Poison frog secretion samples were collected in the field (Madagascar rainforests) and laboratory (captive-bred and born) by nonlethal methods in accordance with IACUC protocol 2006-0067 [...], which allowed the harvesting of skin secretions from living frogs. [...] samples were collected by wiping skin secretions off their backs, both with and without electrical stimulation induced by a transcutaneous amphibian stimulator. After each of two 10 s stimulation events, their backs were wiped with MeOHlaced Kimwipes, and these Kimwipes were stored in tubes or vials until being filtered away as described in the Supporting Information. After being wiped with MeOH, each frog was immersed in water and monitored for at least 10 min prior to release at point of capture. Frogs monitored in captivity were feeding, and in some cases calling, within 4 h of these sampling events.« (Clark et al. 2012: 477)
Auf diese Weise konnte in den Sekreten unerwarteterweise Gallensäure identifiziert werden, die von den Tieren selbst produziert, also nicht über ihre Nahrung aufgenommen wird, sowie Saccharose, ein pflanzlicher Zucker, den die Frösche vermutlich über Ameisen zu sich nehmen, die ihn über kleinere pflanzenfressende Insekten absorbieren (vgl. Clark et al. 2012: 476). Clark et al. vermuten, dass diese Substanzen durch Häuten im Feld kaum zu finden gewesen wären, und befürworten Verfahren, die eine möglichst geringe chemische und anderweitige Manipulation der Sekretionen mit sich bringen, wobei das Töten und Häuten einen massiven Eingriff in die Proben darstellt (vgl. ebd.). Zudem betont Clark, dass die Extraktion von Substanzen aus kompletten Froschhäuten in einem unspezifischen chemischen Querschnitt durch alle Bestandteile der Amphibienhaut resultiere, ganz im Gegensatz zur von ihr propagierten Methode des Abwischens zuvor elektrisch stimulierter Giftfrösche, die nichts als die eigentlich gefragten Hautdrüsensekrete erfasse (vgl. Clark 2010: 16). Indes ist nicht auszuschließen, dass solche nicht-letale Verfahren nicht empfindlich genug sind, um nur in minimaler Konzentration sekretierte Substanzen wie z.B. Epibatidin zu entdecken, die durch die Extraktion von Alkaloiden aus
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einer großen Menge an Froschhäuten auf einmal gewonnen wurden. Dennoch können nicht-letale Extraktionsverfahren als Beispiel dafür gelten, wie im Sinne Haraways im Einzelfall und ohne Rückgriff auf vereinfachende, verabsolutierende Positionen in der Forschung an Tieren Verantwortung praktiziert und deren Leid minimiert oder zumindest eingeschränkt werden kann.8
F RÖSCHE
ALS
V ERMIT TLER
BEI DER
S UCHE
NACH
A LK ALOIDEN
Bei ihren frühen Expeditionen von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre sammelten Daly und seine Kolleg_innen teils große Mengen an Fröschen, zumindest dann, wenn vorherige Untersuchungen bereits ihr Interesse geweckt hatten, wie z.B. im Falle der Hautextrakte, aus denen Epibatidin und Batrachotoxin gewonnen wurden. Sieben Reisen nach Kolumbien zwischen 1964 und 1977 ergaben so insgesamt mehr als 10.000 Häute verschiedener PhyllobatesSpezies, größtenteils von einem einzigen Ort, während die Ausbeute von vier Sammlungen zwischen 1974 und 1982 an nahe beieinander gelegenen Orten in Ecuador bei etwa 2000 Häuten von E. anthonyi lag (vgl. Martin Garraffo/ Spande 2009: 196; Williams/Martin Garraffo/Spande 2009: 208). Einerseits verweist diese große Anzahl gesammelter Exemplare und ihre Schlüsselrolle für das Forschungsprogramm der NIH darauf, dass es bei Bioprospektionstätigkeiten – der Etymologie des Begriffs der Prospektion zum Trotz – nicht nur um Erkundung und Entdeckung geht, sondern grundlegend auch um das Sammeln, also darum, Materialien von bestimmten Orten wegzuschaffen und sie andernorts in konzentrierter Form anzuhäufen (vgl. Parry 2000: 375). Andererseits umfassten jedoch die meisten von Dalys Sammlungen lediglich wenige Exemplare einer jeweiligen Art oder Population, oft nur ein bis fünf Stück 8 | »How can the multispecies labor practices of the lab be less deadly, less painful, and freer for all the workers? How can responsibility be practiced among earthlings? [...] There is no outside from which to answer that mandatory question; we must give the best answers we come to know how to articulate, and take action, without the god trick of self-certainty.« (Haraway 2008: 77, 88) Derartige Sorgen sprechen aus folgendem Zitat – vom Töten von Fröschen wird grundsätzlich abgeraten, doch wenn es sich nicht vermeiden lasse, gebe es folgende Optionen: »Although pithing has been used by numerous other investigators to kill frogs, it is not recommended because it seems inhumane and also can lead to contamination of skin samples with other tissues. Ideally, put the subject in a clean plastic bag or deli cup in a freezer for 10 minutes – this approach will slow down your subject to a sleep and then peaceful death. However, freezers are not usually available in the field, in which case one can use an eyedropper or plastic pipette to insert into the subject’s mouth a drop of absolute alcohol [...]. This usually kills the subject within 3 seconds.« (Clark 2010: 23)
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(vgl. Martin Garraffo/ Spande 2009: 202), wobei die gesammelten Mengen im Laufe der Jahre rückläufig waren. Teils dürfte dies daran gelegen haben, dass Sammelerlaubnisse schwerer zu erlangen oder gar Ausnahmegenehmigungen erforderlich wurden, z.B. für die Familie der Dendrobatidae, die 1987 durch CITES unter Naturschutz gestellt wurde; ein weiterer Grund sind verbesserte Analyseinstrumente, vor allem empfindlichere Kernspinresonanzspektrometer, die schon bei geringen Substanzmengen brauchbare Daten für die Aufklärung molekularer Strukturen lieferten – nicht umsonst wird bisweilen die Hoffnung auf noch bessere Instrumente geäußert, die mit einem »tiny drop of material« auskommen und umfangreiche Sammlungen unnötig machen (Martin Garraffo/ Spande 2009: 203). Ferner sind wohl auch Naturschutzgründe hierfür verantwortlich, schließlich ereignet sich derzeit weltweit ein katastrophales Amphibiensterben, das zahlreiche Arten in ihrem Bestand gefährdet (vgl. Hüppauf 2011: 298ff.). Allerdings stand Dalys Gruppe selbst nach massiven Sammlungen mitunter vor dem Problem, dass Hautextrakte völlig frei von den gesuchten Alkaloiden waren oder diese nur in geringer Konzentration enthielten. Dies war z.B. bei Epibatidin der Fall, was die Forscher_innen, die zur Bestimmung der molekularen Struktur der Substanz dringend auf eine größere Menge alkaloidhaltiger Häute angewiesen waren, lange vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellte. Erschwerend kam hinzu, dass gefangene und anschließend im Labor gehaltene Frösche mit der Zeit weniger und in Gefangenschaft geborene Tiere überhaupt keine Toxine sekretierten (vgl. Saporito et al. 2009: 279). Angesichts derart schwankender Alkaloidprofile mag es im Nachhinein überraschen, dass von Beginn an bis in die frühen 1990er-Jahre davon ausgegangen wurde, dass die Frösche ihre Toxine selbst synthetisieren und kein Zusammenhang mit ihrer Nahrung für möglich gehalten wurde. Die einzige andere Amphibienart, von der damals bekannt war, dass sie Alkaloide sekretiert, war indes der Feuersalamander; da dieser seine Hautsekrete selbst produziert, wurden lange alle experimentellen Befunde und Daten in Bezug auf die Prämisse der Biosynthese von Alkaloiden durch Amphibien interpretiert. Die verschiedenen Alkaloide wurden dementsprechend als genetisch determinierte, artspezifische chemische Marker verstanden, während der im Laufe der Zeit abnehmende Alkaloidgehalt in den Sekretionen in Gefangenschaft gehaltener Tiere mit einem Mangel an Stress im Terrarium im Vergleich zur freien Wildbahn in Verbindung gebracht wurde (vgl. ebd.). Der mitunter relativ langsame Rückgang der Toxizität wurde als Beleg dafür gedeutet, dass die Alkaloide nicht aus der Nahrung stammen konnten, wie Daly und seine Kollegen z.B. daraus folgerten, dass zwei Individuen von P. terribilis nach drei Jahren Haltung im Labor noch etwa ein Fünftel der Menge an Batrachotoxin von im Feld gehäuteten Exemplaren enthielten: »But the fact that the frogs are still appreciably toxic after long periods of captivity does provide evidence that the
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toxins are not sequestered from some natural food item.« (Myers/Daly/Malkin 1978: 336) Dennoch häuften sich Beobachtungen, die nur schwer mit der Hypothese der Biosynthese von Alkaloiden durch Frösche in Einklang zu bringen waren und dazu führten, dass in den 1980er- Jahren Umweltfaktoren im weitesten Sinne nach und nach als mögliche Einflüsse auf die Produktion von Toxinen gehandelt wurden. Vor allem die bei der Analyse von Wildsammlungen auftretenden starken Variationen in den Profilen verschiedener Populationen einer Art oder in zu unterschiedlichen Zeitpunkten gesammelten Proben einer einzelnen Population ließen sich kaum im Rahmen der biosynthetic hypothesis erklären (vgl. Saporito et al. 2009: 280). Um zu überprüfen, inwiefern die Sekretion von Toxinen durch Stress ausgelöst wird bzw. bei mangelndem Stress unterbleibt, führte Daly zudem eine Vielzahl von Versuchen mit der Absicht durch, die Biosynthese von Alkaloiden experimentell zu induzieren; trotz durchaus kreativer Versuche, die Frösche diversen Arten von Stress auszusetzen (u.a. durch häufiges Wechseln von Terrarien, die Beigabe von Adrenalin ins Trinkwasser, durch wechselnde Beleuchtung, Temperaturen und Geräusche sowie durch das Platzieren von Fressfeinden in unmittelbar benachbarten Terrarien), gelang es jedoch nicht, sie zur Produktion von Alkaloiden zu bewegen (vgl. ebd.). Doch selbst nach der Zusammenarbeit mit einer Biologin, die saisonale Veränderungen in der Zusammensetzung der Nahrung einer Population von Giftfröschen festgestellt hatte und dies als mögliche Ursache für variierende Alkaloidprofile vorschlug, hielt Daly an der biosynthetic hypothesis fest, da im Mageninhalt von Fröschen bislang keine Alkaloide gefunden worden waren, gestand aber ein, dass die Prämisse der Biosynthese allein keine plausible Erklärung für die massiven Schwankungen der sekretierten Toxine liefern konnte (vgl. Saporito et al. 2009: 281). Ein Artikel von 1992 über die variierenden Alkaloidprofile von Dendrobates auratus und mögliche genetische oder umweltbedingte Ursachen hierfür markiert indes ein vorsichtiges Abrücken von der biosynthetic hypothesis: Darin werden u.a. die Alkaloidprofile einer Jahrzehnte zuvor in Hawaii eingeführten Population dieser Spezies mit denen von Fröschen aus mehreren mittelamerikanischen Regionen verglichen und markante Unterschiede in deren Sekretionen konstatiert – nicht zuletzt fehlte in der hawaiianischen Population eine ansonsten stets vorkommende Alkaloidklasse völlig, zugleich konnte daraus aber ein anderes, bislang unbekanntes Alkaloid isoliert werden. Der Artikel schlussfolgert, dass die für schwankende Profile und die Abwesenheit von Alkaloiden in gefangen gehaltenen Tieren verantwortlichen Faktoren weiterhin völlig unklar seien (vgl. Daly et al. 1992: 887), betont jedoch, dass Umweltfaktoren voraussichtlich eine große Rolle hierbei spielen: »The results indicate that environmental factors have a remarkable role in either triggering or supporting alkaloid production in dendrobatid frogs.« (Daly et al. 1992: 890)
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Da vereinzelt auch anekdotische Evidenzen für die sogenannte dietary hypothesis, also die Akkumulation von Substanzen aus der Froschnahrung sprachen,9 führte Dalys Gruppe 1994 im Nachhinein als ›klassisch‹ bezeichnete Fütterungsversuche im Labor und im Feld durch, um die mögliche Akkumulation von Alkaloiden durch Frösche zu überprüfen; teilweise wurden Frösche dabei mit in synthetisch modifizierten Alkaloiden getränkten Insekten gefüttert, um die Aufnahme und Sekretion von Substanzen möglichst eindeutig verfolgen und belegen zu können. Die Experimente ergaben, dass nur in freier Wildbahn alkaloidhaltige Giftfrösche Alkaloide aus ihrer Nahrung akkumulieren konnten, wohingegen ebenfalls zur Familie der Dendrobatidae gehörige, nicht-alkaloidhaltige Frösche hierzu nicht in der Lage waren. Ebenfalls 1994 wurde schließlich in ersten Veröffentlichungen die Nahrung der Frösche als wahrscheinlichste Quelle der sekretierten Alkaloide bezeichnet. Verschiedene Spezies verfügen dabei jeweils über Aufnahmesysteme für bestimmte Alkaloidklassen, nicht alle können also dieselben Substanzen absorbieren und sekretieren (vgl. Saporito et al. 2009: 284f.). Inzwischen gilt, dass fast alle Giftfrösche ihre Alkaloide aus der Nahrung beziehen, während eine Biosynthese von Alkaloiden bislang nur bei australischen Fröschen der Gattung Pseudophryne nachgewiesen und in zwei anderen Fällen eine Modifizierung aufgenommener Alkaloide gezeigt werden konnte (vgl. Saporito et al. 2009: 291). Die Verbreitung der dietary hypothesis verschob indes die Herausforderung von der Suche nach Alkaloiden in Amphibien hin zu der tendenziell noch anspruchsvolleren Aufgabe, deren Quellen in der Froschnahrung zu identifizieren. Hierfür wird auch das Beuteverhalten von Fröschen in ihrem Habitat verfolgt, da es kaum aussichtsreich erscheint, an denselben Orten lebende Insekten, also das Hauptnahrungsmittel von Fröschen, auf gut Glück zu untersuchen. Giftfrösche dienen insofern zur Akkumulation und Detektion von Substanzen, deren ursprüngliche Quellen oft unbekannt oder die zumindest über Frösche leichter zugänglich sind als über alkaloidhaltige Insekten, wobei noch fast völlig unklar ist, wie die Frösche überhaupt Toxine absorbieren und verarbeiten (vgl. Saporito 2012 et al.: 166). In diesem Sinne stellen Giftfrösche einen Schlüssel zur Erkenntnis ökosystemarer Beziehungen der Zirkulation von Alkaloiden dar, die häufig zu komplex sind, um sie ohne ihre Hilfe zu durchschauen. Auch über Untersuchungen der Insekten im Mageninhalt von Fröschen lassen sich diese nicht auf ein bloßes Rohmaterial der Forschung reduzieren, denn oftmals kann ihre Beute auf diese Weise nur bis auf die Ebene 9 | Ein Tier konnte z.B. aus einem Aufzuchtprogramm für Giftfrösche entkommen und überlebte offenbar in einer Regenwaldausstellung, die im selben Institut stattfand; später wurde der Frosch tot aufgefunden und enthielt überraschenderweise Alkaloide, die bislang nur von Ameisen bekannt waren, während die aufgezogenen Tiere keinerlei Toxine sekretierten (vgl. Saporito et al. 2009: 282).
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der Familie bestimmt werden, was für eine Identifizierung der Quellen von Substanzen zu ungenau ist (vgl. Saporito 2012 et al.: 164); auf Details des Verhaltens und der Ernährung von Giftfröschen zu achten, bleibt somit unverzichtbar. Es wurde sogar gezeigt, dass die Schmackhaftigkeit der verfügbaren Insekten für Giftfrösche je nach ihrem Gehalt an (typischerweise bitteren) Alkaloiden variiert und somit über die Nahrung der Frösche auch deren Toxizität beeinflusst, was wiederum naheliegende Folgen für deren Schmackhaftigkeit für Fressfeinde hat (vgl. Saporito 2012 et al.: 165). Unter den Beutetieren von Giftfröschen wurden bislang vor allem in Ameisen und Milben Amphibienalkaloide bestimmt, insbesondere in manchen Hornmilbenarten (Oribatida), die im Gegensatz zu tropischen Giftfröschen beinahe ubiquitär und damit auch leichter zugänglich sind (vgl. Saporito et al. 2011: 214). Letztlich wurden zwar schon einige Froschalkaloide in Insekten entdeckt und damit ihre wahrscheinlichen Quellen gefunden, über 90 % der bekannten Substanzen jedoch noch nicht; so sind auch die ursprünglichen Quellen von Epibatidin und Batrachotoxin noch unbekannt (vgl. Saporito et al. 2012: 161). Frösche sind demnach tatsächlich die besseren Bioprospektoren, wie Daly in einem Interview einräumt: »The frogs are much better bioprospectors than I am [...]. They’re the ones that found the chemicals in the arthropods.« (Gillis 2002) Giftfrösche können insofern im Sinne Latours als Vermittler verstanden werden – ist doch ihr Input kaum vollständig zu erschließen und ihr Output höchst variabel sowie von diversen Faktoren, nicht zuletzt ihrem Verhalten, abhängig, weshalb sie laut der folgenden Definition keine ›Blackbox‹, kein Zwischenglied darstellen: »Der Begriff ›Vermittlung‹ bezeichnet im Unterschied zum ›Zwischenglied‹ ein Ereignis oder einen Akteur, die nicht ganz über Input und Output bestimmt werden können. Während ein Zwischenglied vollständig durch das bestimmt ist, wodurch es verursacht wird, geht eine Vermittlung immer über ihre Bedingung hinaus.« (Latour 2002: 382) Das vermeintliche Paradox, dass die Frösche gerade dann, wenn man ihnen mehr agency als unumgehbare Vermittler zugesteht, eigentlich weniger tun, da sie ihre Alkaloide ja nicht selbst synthetisieren, ist indes nur ein scheinbares – denn ihre Handlungen, z.B. die Spezifika ihres Beuteverhaltens, sind nun umso entscheidender und lebende Tiere mitsamt ihrer Umwelt von Interesse. Demnach genügt es nicht, einfach Exemplare der passenden Spezies zu sammeln oder im Labor aufzuziehen, wie es der Fall wäre, wenn ihre Alkaloide lediglich genetisch determinierte chemische taxonomische Marker wären. Vielmehr erfahren sie eine Positionsverschiebung, die vielleicht analog ist zu der von Rohmaterial zu einer Rolle, wie sie Hunde beim Aufspüren von Minen oder Drogen ausüben, und womöglich gar darüber hinaus geht, denn im Voraus ist ja nicht einmal genau bekannt, was überhaupt gesucht wird, d.h. welche Toxine und alkaloidhaltigen Insekten eigentlich mithilfe der Frösche gefunden werden sollen. Wenn die Frösche aber einen Übergang von Nutztieren zu Arbeitstieren durch-
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machen, da nicht mehr nur ihre Stoffwechselprodukte oder Körperbestandteile direkt als Rohstoff verwertet, sondern ihre Fähigkeiten genutzt werden, Toxine in Insekten zu entdecken und aufzunehmen, lässt sich fragen, ob sie nicht mit Haraway als co-worker in der Erforschung von Alkaloiden gelten können. Dass die Beziehungen zwischen Menschen und Fröschen asymmetrisch und nicht frei von Instrumentalisierung sind, schließt für Haraway das Bestehen speziesübergreifender Arbeitsverhältnisse nicht zwangsläufig aus, handle es sich dabei doch um typische Merkmale von Arbeit als solcher (vgl. Haraway 2008: 77). Auf jeden Fall erfüllen Giftfrösche als Vermittler bei der Suche nach Alkaloiden eine andere Funktion als die bloßen Rohmaterials von Forschung und Entwicklung, oder vielmehr: In gewissem Sinne nehmen sie beide Positionen zugleich ein. Denn letztlich mündete das Froschalkaloidprogramm der NIH in eine große Bandbreite an wissenschaftlichen und ökonomischen Handlungsweisen an und mit Fröschen, die von deren Verwertung als Rohstoff bis zur speziesübergreifenden Kollaboration mit Giftfröschen als nicht-menschlichen Bioprospektoren reichen. Ausgehend von der Suche nach potenziell pharmazeutisch nutzbaren Substanzen nahm dabei das Interesse am Verhalten der Frösche ständig zu und ein breites Spektrum an Fragestellungen kam auf, z.B. in Bezug darauf, wie und in welchen ökologischen Zusammenhängen die evolutionäre Spezialisierung von Fröschen auf ihre Nahrung und Sekretionen entstanden sein könnte (vgl. Darst et al. 2005).
D IE A USWEITUNG VON A LK ALOIDEN
ZU EINER CHEMISCHEN
Ö KOLOGIE
Die Alkaloidprofile von Giftfröschen variieren demnach in Abhängigkeit von zahlreichen Faktoren wie u.a. dem Wandel von Habitaten und saisonalen Veränderungen der verfügbaren Nahrung sowie von deren Schmackhaftigkeit, neben individuellen Variablen wie Alter, Größe und Geschlecht der Tiere; sogar innerhalb einzelner Populationen finden sich Unterschiede in der von verschiedenen Individuen verzehrten Nahrung und folglich in deren Alkaloidprofilen (vgl. Saporito et al. 2009: 281). Doch wie lässt sich Ordnung in dieses scheinbare Chaos fluktuierender Profile von Toxinen oft unklarer Herkunft bringen? Im Anschluss an ein von Dalys Gruppe bereits 1978 vorgeschlagenes Klassifikationsschema für Amphibienalkaloide – damals noch weniger als 100 Substanzen, inzwischen über 800 – (vgl. Daly/Spande/Martin Garraffo 2005: 1556) werden die Beziehungen zwischen alkaloidhaltigen Tieren in erster Linie über eine Standardisierung der von diesen sekretierten Verbindungen strukturiert, die nach ihren chemischen Eigenschaften, vor allem ihrer Molekülmasse, geordnet werden. Im nächsten Schritt lassen sich den so klassifizierten
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Alkaloiden dann die Spezies zuweisen, in denen sie bereits festgestellt worden sind. Auf diese Weise werden ökologische Zusammenhänge zwischen Fröschen, ihrer wahrscheinlichen Beute und den beiden gemeinsamen Toxinen sichtbar, was sich in Tabellen gut veranschaulichen lässt: Saporito et al. (vgl. 2012: 161) gliedern eine solche Tabelle z.B. nach Klassen von Froschalkaloiden und ordnen diesen die entsprechende Anzahl an Frosch- und Insektenspezies zu, hier nur grob unterteilt nach Froschfamilien bzw. nach Ameisen, Milben, Käfern und Tausendfüßern. Insgesamt sind darin 851 Alkaloide aus Giftfröschen erfasst, von denen bislang 79 ebenfalls in Insekten identifiziert worden sind. In vielen Spalten der Tabelle steht folglich noch eine Null, was jedoch das Ordnungsschema der Klassifikation nach Alkaloidklassen nicht beeinträchtigt, vielmehr ist dieses problemlos um weitere Substanzen oder Spezies ergänzbar.10 Der von den Autor_innen für ihren Ansatz verwendete Oberbegriff chemical ecology – eine übliche, im Titel mehrerer Fachzeitschriften zu findende Bezeichnung – scheint angesichts der über klassifizierte Alkaloide geordneten ökosystemaren Beziehungen verschiedener Spezies zueinander durchaus angemessen. Neben allgemeinen Fragen nach den ökologischen Zusammenhängen der Zirkulation chemischer Substanzen dienen viele Studien zur chemischen Ökologie von Froschgiften indes dem Ziel, über das Verfolgen der Kaskaden von Akkumulation und Sekretion von Alkaloiden endlich deren ›ursprünglichen Ursprung‹ auszumachen. Da jedoch in vielen Fällen unklar ist, ob die von Giftfröschen verzehrten alkaloidhaltigen Insekten ihre Toxine selbst synthetisieren oder diese ihrerseits aus noch unbekannten Quellen beziehen (z.B. von Pflanzen, kleineren Insekten oder Mikroorganismen), wird bisweilen vermutet, dass diversen Insektenspezies gemeinsame symbiontische Mikroorganismen die eigentlichen Produzenten der Froschalkaloide sein könnten, was erklären würde, weshalb einige Substanzen in verschiedenen Arten zu finden sind (vgl. Saporito et al. 2012: 164). In anderen Fällen werden hypothetische Nahrungsketten von Pflanzen über Insekten hin zu Fröschen postuliert, z.B. bei Epibatidin aufgrund struktureller Ähnlichkeiten dieses Alkaloids zu pflanzlichen Alkaloiden wie Nikotin (vgl. ebd.). Somit ist für die Erforschung amphibischer Alkaloide nicht zuletzt die Biodiversität unterhalb und oberhalb der Artebene entscheidend. Denn einerseits geht es um Substanzen, die diverse Spezies von Fröschen, Insekten und Vögeln, teils über verschiedene Kontinente hinweg, miteinander verbinden, und andererseits um variierende Alkaloidprofile und Verhaltensweisen von Tieren weit unterhalb der Ebene der Art, also um Individuen und Populationen in 10 | Dies gilt z.B. für Vogelarten aus Papua-Neuguinea, die das bereits aus Fröschen bekannte Batrachotoxin enthalten und es wohl von Käfern beziehen (vgl. Dumbacher et al. 2004).
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konkreten Habitaten. Demnach finden sich in der chemischen Ökologie der Froschalkaloide große und kleine Maßstäbe miteinander verschränkt. In der Forschungspraxis zeigt sich dies zum einen in der Klassifizierung und Standardisierung speziesübergreifend zu findender Substanzen, zum anderen jedoch in einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Variabilität von Alkaloidprofilen und insbesondere für Proben individueller Frösche. Clark et al. (vgl. 2012: 474) präsentieren z.B. das Massenspektrum eines »secretion sample collected from an individual wild Mantella baroni sample ›Live Frog #3‹« sowie Kernspinresonanzspektren der Sekretionen von Live Frog #3 und betonen in ihren Schlussfolgerungen explizit die Vorzüge der nicht-letalen Gewinnung von Proben individueller Frösche (vgl. Clark et al. 2012: 476). Bei der Erkundung von diverse Spezies umfassenden chemischen Ökologien werden so auch neuartige Praktiken der Konstituierung der Individualität nicht-menschlicher Wesen erschlossen.
S CHLUSSFOLGERUNGEN — DIE I NDIVIDUALISIERUNG UND S TANDARDISIERUNG NICHT - MENSCHLICHER I NDIVIDUEN Die in den Human-Animal Studies verbreitete Rede von »nicht-menschlichen Individuen« ist im Laufe der Zeit in der Forschung an Froschalkaloiden in gewissem Maße wortwörtlich umgesetzt worden. Denn die Spezifika der Alkaloidprofile und des Verhaltens individueller Tiere wurden zunehmend bewusst erkundet, nachdem klar geworden war, dass Giftfrösche unverzichtbare Vermittler auf der Suche nach bioaktiven Substanzen sind, wie sehr auch immer sie hierbei aus Interesse an ihren Sekretionen instrumentalisiert wurden. Angesichts dessen läuft freilich die – nicht zuletzt als programmatische Forderung für eine veränderte Repräsentationsweise von Tieren in Anspruch genommene – pauschale Rede von nicht-menschlichen Individuen Gefahr, die in konkreten Praktiken verankerten Differenzen im Umgang mit verschiedenen Spezies einzuebnen. Im hier geschilderten Forschungsprogramm bestanden z.B. enorme Unterschiede in der Art und Weise, wie Frösche, Labormäuse und Insekten in die Untersuchung von Alkaloiden und deren chemischer Ökologie eingebunden wurden. Die zunehmend bedeutsameren Praktiken der Individualisierung von Fröschen stehen dabei in einem scharfen Gegensatz zum Umgang mit Labormäusen, deren Individualität möglichst ausgeschaltet wurde. Denn bei Giftfröschen wurden individuelle Variationen von Alkaloidprofilen explizit gesucht und auf die hierfür verantwortlichen Faktoren hin erforscht, wohingegen Labormäuse auf genetische und phänotypische Homogenität hin gezüchtet werden. Individuelle Labormäuse sollen also gerade vollständig durch andere Mäuse derselben standardisierten Inzuchtlinie ersetzbar und mit diesen vergleichbar sein, statt durch ihre Variabilität aufzu-
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fallen (obgleich sie vermutlich bei genauerem Hinsehen ebenfalls über mehr Handlungsspielraum verfügen, als man zunächst annehmen würde); nicht umsonst trägt ein Standardwerk zur Wissenschaftsgeschichte der Etablierung von Mäusen als Modellorganismen den vielsagenden Titel Making Mice (Rader 2004). Dalys Gruppe setzte so bei Fröschen auf Wildsammlungen aus einzelnen Populationen und erkundete deren lange Zeit rätselhaft fluktuierenden Sekretionsprofile, während zumindest in den ersten Jahrzehnten ihres Forschungsprogramms, als subkutane Injektionen in Mäuse eine übliche Methode darstellten, Labormäuse als standardisiertes, im Katalog bestellbares Verbrauchsmaterial dienten. Das divergierende Ausmaß der Standardisierung und Individualisierung verschiedener nicht-menschlicher Tiere im Froschalkaloidprogramm der NIH lässt sich mit Rheinbergers Begriffen der epistemischen bzw. technischen Dinge erläutern. Epistemische Dinge sind für Rheinberger (2006: 27) »die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt [...]. Als epistemische präsentieren sich diese Dinge in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit«. Sie generieren Überraschungen (vgl. Rheinberger 2006: 33), verkörpern »das, was man noch nicht weiß« (vgl. Rheinberger 2006: 28), bedürfen hierfür jedoch stabiler Umgebungen, die durch technische Dinge gewährleistet werden, z.B. die Instrumente und Modellorganismen von Experimentalsystemen (vgl. Rheinberger 2006: 29). Während so die Frösche, ihr Verhalten, ihre Sekretionen unklarer Herkunft und ihre variierenden Alkaloidprofile als – im Laufe der Zeit zunehmend individualisiert betrachtete – epistemische Dinge gedeutet werden können, dienten Labormäuse und klassifizierte Alkaloide als stabilisierende, standardisierte Rahmenbedingungen hierfür. Rheinberger betont indes den rein funktional zu verstehenden Unterschied zwischen epistemischen und technischen Dingen, der keineswegs ein für allemal feststehe, sondern von konkreten Praktiken im experimentellen Kontext abhänge (vgl. Rheinberger 2006: 30). Inwiefern ein nicht-menschliches Wesen in einem Experimentalsystem als Individuum wirkmächtig werden kann, ist so auch dadurch bedingt, ob es darin als technisches oder als epistemisches Ding fungiert – seine Individualität ist weniger ein Ausgangspunkt als vielmehr ein Effekt von Praktiken in einem Spektrum zwischen Standardisierung und Individualisierung. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte man dies dahin gehend verallgemeinern, dass Individualität an sich kein Attribut ist, dem a priori eine besondere Relevanz zukommt. Denn wenn Akteure – gleichgültig, ob menschlich oder nicht – nichts als relationale Effekte bestimmter AkteurNetzwerke sind (vgl. Law 2009: 147), wird auch ihre Individualität erst in Relationen und Praktiken bedeutsam und erfahrbar. Im Froschalkaloidprogramm der NIH und dadurch inspirierten Ansätzen wie dem von Clark et al. (2012) wurden so Frösche in der Praxis in zunehmendem Maße individualisiert, wohingegen Mäuse lange als gezielt entindividualisiertes, standardisiertes Ver-
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brauchsmaterial für In vivo-Testverfahren dienten, bis diese größtenteils durch In vitro-Verfahren ersetzt wurden. Dennoch bleibt die Frage, was der Frosch letztlich von dieser neuartigen Konstituierung seiner Individualität und der erhöhten Aufmerksamkeit für seine Vermittlerrolle innerhalb komplexer chemischer Ökologien hat – abgesehen davon, dass daraus weitere Argumente für den Erhalt intakter Ökosysteme in ihrer irreduziblen Vielfalt ableitbar sind. Vermutlich sind indes mit der Absicht, sich ihre Fähigkeiten als nicht-menschliche Bioprospektoren zunutze zu machen, nach und nach tatsächlich etwas kooperativere Umgangsweisen mit Fröschen entstanden, die ihre individuellen Spezifika und Verhaltensweisen stärker einbeziehen, statt sie weiterhin vor allem als Rohmaterial zur Gewinnung von Alkaloiden zu nutzen. Zudem hat die Erfahrung, dass die Alkaloidprofile von Giftfröschen stark variieren und ihre Hautdrüsensekrete allerlei Unerwartetes in sich bergen können, wohl auch die Entwicklung nicht-letaler Extraktionsmethoden gefördert. Ob man dies als Schritt weg von dem in Paul Simons Song anklingenden Hype des Froschgifts als Heilmittel für das Leid lediglich der Menschheit hin zu dem von Haraway (vgl. 2008: 77) eingeforderten speziesübergreifenden Teilen von Leid mit nicht-menschlichen Wesen gelten lassen will, ist allerdings eine andere Frage.
L ITER ATUR Angerer, Klaus (2011): »Frog tales – on poison dart frogs, epibatidine, and the sharing of biodiversity«, in: Innovation: The European Journal of Social Science Research 24(3), S. 353-369. Angerer, Klaus (im Erscheinen): »›There is a frog in south america / whose venom is a cure‹ – poison alkaloids and drug discovery«, in: Alexander von Schwerin/Heiko Stoff/Bettina Wahrig (Hg.), Biologics. A history of agents made from living organisms in the twentieth century, London: Pickering & Chatto Publishers Ltd. AP (1998): »Painkiller based on frog poison«, The Augusta Chronicle vom 02.01.1998, http://chronicle.augusta.com/stories/1998/01/02/tec_219951. shtml, letzter Zugriff: 08.50.2013. Arneric, Stephen/Holladay, Mark/Williams, Michael (2007): »Neuronal nicotinic receptors: a perspective on two decades of drug discovery research«, in: Biochemical Pharmacology 74(8), S. 1092-1101. Badio, B./Daly, John (1994): »Epibatidine, a potent analgetic and nicotinic agonist«, in: Molecular Pharmacology 45(4), S. 563-569. Bannon, Anthony/Decker, Michael/Holladay, Mark et al. (1998): »Broad-spectrum, non-opioid analgesic activity by selective modulation of neuronal nicotinic acetylcholine receptors«, in: Science 279(5347), S. 77-81.
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›Experimental Life‹ Tier-Ökonomien im Alltag und in der Ethologie der Moderne 1 Stephan Zandt
Im Jahr 1890 bietet der Hinterhof der Griebenowstraße 10 in der Rosenthaler Vorstadt von Berlin ein Schauspiel, das erst vierzehn Jahre später seine ganze Tragweite entfalten wird. Wilhelm von Osten, Sohn eines Rittergutsbesitzers in Ostpreußen, ehemals Elementarschullehrer in Rechnen und Zeichnen und nun in Rente, unterrichtet sein Pferd Hans: Der ältere Herr steht in Anzug und mit Hut neben dem Hengst und lockt ihn mit einem Stück Mohrrübe, damit er den Kopf zur rechten Seite dreht. »Dabei wiederholt er immer wieder mit besonderer Betonung: ›Jetzt hast du rechts gemacht; Hans das ist rechts!‹« (Krall 1912: 12) Das Ziel der Übung ist es, im Bewusstsein von Hans die Bewegung des Kopfes mit dem Klang des Wortes ›rechts‹ zu verknüpfen, sodass das Pferd anschließend auf Zuruf mit der entsprechenden Bewegung zu antworten versteht. In gleicher Weise werden die Versuche auf die Gangarten ausgedehnt: »Geh nach rechts, geh nach links.« (Ebd.) Was auf den ersten Blick wie eine übliche Pferdedressur erscheint, ist jedoch bei von Osten der Beginn einer experimentellen Wette, die sich aus der pädagogischen Begeisterung eines Elementarschullehrers im Ruhestand ergibt: »Die Feststellung der geistigen Fähigkeiten des Pferdes – das war das Ziel, dem er in täglicher mühevoller Hingabe, aber in aller Stille zustrebte, und der Lösung dieser Aufgabe blieben die späteren Jahre seines Lebens gewidmet.« (Krall 1912: 11) Kann man einem Pferd – vorausgesetzt es verfügt über ein ausbildungsfähiges Verstandesleben – selbstständiges Denken beibringen? Das ist die Frage, die sich von Osten stellt und zu deren Beantwortung er im Hinterhof seines Hauses das experimentelle Setting einer tierlichen Elementarschule errichtet. Und von Osten ist von den Fähigkeiten seines Schülers überzeugt, denn »Hans I gab gelegentlich mancherlei Beweise von Gedächtnis und Überlegung« (ebd.). Dabei sind diese »gelegentlichen Beweise« jedoch nicht, wie man vermuten könnte, außergewöhnliche Ereignisse, sondern viel1 | Für Serafina, ohne die das Folgende nicht meine Aufmerksamkeit gefunden hätte.
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mehr, wie Karl Krall betont, »Vorfälle, wie sie von Leuten, die mit Pferden umgehen, schon unzähligemal erlebt worden sind« (ebd.), ohne dass allerdings je die Frage nach der Denkleistung gestellt worden wäre. Anders dagegen beim ehemaligen Mathematiklehrer von Osten: »[W]enn mein Pferd so folgerte von Osten von selbst einen großen Bogen auf der Straße macht, um auf der anderen Seite mit dem Wagen glatt in die Toreinfahrt einzubiegen, so beweist das eine Überlegung, ein selbständiges Nachdenken, das ohne Zweifel ausbildungsfähig ist, wenn ich dem Tiere meine Absicht verständlich machen kann.« (Ebd.)
Hans kann denken, davon ist Wilhelm von Osten überzeugt, und das Problem ist weniger das faktisch nachzuweisen – auch wenn dies das erklärte Ziel seiner Bemühungen ist – als vielmehr eine Kommunikationsebene zwischen Mensch und Pferd finden, die als Basis des didaktischen Unterfangens dient. Ist diese Ebene einmal gefunden, so ist es nur noch eine Frage der didaktischen Fertigkeiten des Lehrers und der Bereitschaft des Schülers, um dem Pferd die elementare Bildung eines denkenden Individuums zu vermitteln und damit im Umkehrschluss die Denkfähigkeit des Pferdes zu beweisen. Die gleiche Überzeugung teilt später auch Karl Krall, der die Bemühungen von Ostens fortsetzt, wenn er über ihn schreibt: »Er unterwies das Pferd, wie er etwa ein Kind, das schwer begreift, unterrichtet haben würde, jedes Ding umständlich erklärend. Nachdem sein Schüler gelernt hatte, mit dem Laut eine Bedeutung zu verknüpfen, begann eine bis dahin beim Tier unerhörte Geistesentwicklung, die nur durch die Umständlichkeit von Ostens verlangsamt wurde.« (Krall 1912: 16f.)
Und die Lehrmethode von Ostens zeitigt Erfolge, wie er etwa dem Major a. D. Fr. W. von Keller mit diversen Wagenmanövern in der damals noch nicht stark befahrenen Friedrichstraße demonstriert: »Nun will ich Ihnen einmal zeigen was mein Hans kann.« (Krall 1912: 12) Ohne die Zügel, die er am Kutschbock befestigt hat, lenkt von Osten den Hengst allein mit seiner Stimme: »Geh rechts, Hans; biege links in Straße ein; Trab; mach halt!« (Ebd.) Aber nicht nur das: Hans vermag darüber hinaus inzwischen zu zählen: »Ohne äußere Hilfe gibt er auf Befehl die Zahlen 1 bis 5 durch Scharren mit dem Huf wieder.« (Ebd.) Viel Zeit bleibt Hans I jedoch nicht, seine Studien zu vervollkommnen. Im Alter von 12 Jahren stirbt er nur fünf Jahre nach der Aufnahme seines Unterrichts 1895 an einer Darmverschlingung (vgl. Krall 1912: 276f.). Erst im September des Jahres 1900 erwirbt Wilhelm von Osten in Russland ein neues Pferd, mit dem er seine Studien fortsetzt und das es in der Folge zu einiger Berühmtheit bringen wird: Hans II, der Kluge. Diente Hans I als
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Reit- und Kutschpferd und wurde bei und neben diesen Aufgaben in den experimentellen Unterricht eingebunden, so wird Hans II von allen Arbeitsverpflichtungen freigestellt. Hans II, der Kluge, soll nicht zur körperlichen Arbeit, sondern zum Denker erzogen werden: »Am Tage arbeitete der Meister vor- und nachmittags mit seinem Zögling; ob glühende Sonnenstrahlen herniederbrannten, ob rauhe Herbststürme den Staub des Hofes aufwühlten, ob im Winter der Frost die Mohrrüben an den Fingern kleben ließ – das war ihm gleichgültig; mit unermüdlicher Ausdauer und eisernem Fleiß setzte er diesen beschwerlichen und oft so aufreibenden Unterricht fort. […] Tagtäglich konnten ihn seine Mieter und Nachbarn bei der Arbeit beobachten, und gerade diese regelmäßigen Zuschauer mußten erkennen, daß hier eine wirkliche Schulstunde abgehalten wurde, wenngleich sie von der eigentlichen Bedeutung der Versuche, die sie als eine Schrulle des alten Sonderlings betrachteten, keine Ahnung hatten«. (Krall 1912: 18)
Dieser Beschäftigungswechsel der Pferde von Ostens zwischen 1895 und 1900 vom Verkehrsmittel zum lernenden Experimental-Subjekt ist jedoch keineswegs zufällig, sondern hängt eng mit der Geschichte des Aufschwungs und Umbruches des Verkehrswesens im Berlin der Jahrhundertwende zusammen.
E XKURS : Z UR
ALLGEMEINEN
V ERKEHRSL AGE
Mit dem immensen Anwachsen Berlins zu einer der weltweit größten Metropolen war auch das innerstädtische Verkehrswesen explodiert. Erfasste das Volkszählungsergebnis des statistischen Amtes 1875 die Zahl von 966 858 Einwohnern, so hatte sich bis 1900 die städtische Bevölkerung auf 1 888 848 verdoppelt; im Jahre 1905 sollte sie die Zweimillionengrenze überschreiten. Gerade in den Jahren zwischen 1895 und 1900 verzeichnete Berlin im Zeitraum zwischen 1871 und 1912 mit 112,6 Prozent den größten Bevölkerungsanstieg, der andere europäische Städte wie Paris oder London bei weitem überflügelte. Durch die Expansion der städtischen Bevölkerung wuchsen nicht zuletzt auch die innerstädtischen Distanzen, denen von Seiten der gehobenen Schichten mit individuellen Verkehrsmitteln wie Kutschen und Reitpferden begegnet wurde: Es gab bis dato kein tragfähiges, öffentliches Verkehrswesen. Hierdurch wurde jedoch das Verkehrsproblem eher verschärft, denn behoben. »An den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten entstanden zu den Stoßzeiten Verkehrsstaus, die eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellten und zu Verzögerungen führten.« (Bendikat 1999: 114) Als beispielhaft hierfür können die Verkehrserhebungen für den Potsdamer Platz gelten, die vom Polizeipräsidium ab 1891 in Auftrag gegeben wurden: Allein zwischen 1891 und 1895
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erhöhte sich der tägliche Verkehr hier von 17 000 auf 19 685 Fahrzeuge (vgl. Bendikat 1999: 499). Zwar hatte in der Folge des Einsatzes erster Pferde-Omnibuslinien in den 40er Jahren bereits 1865 die erste Pferdeeisenbahn in Berlin ihren Betrieb aufgenommen, so konnte doch von einem öffentlichen, innerstädtischen Verkehrswesen keine Rede sein. Zumal die 7,8 Kilometer lange Strecke zwischen Brandenburger Tor und Charlottenburg im Grunde eher eine Angelegenheit von Vergnügungs- und Ausflugsfahrten war (vgl. Bendikat 1999: 103f.). Erst mit dem Bau der Ringeisenbahn (1877), der Stadtbahn (1882) und der Wannseebahn (1891) entstanden erste für den Massenverkehr taugliche Schnellverkehrsmittel (vgl. Bendikat 1999: 104f.). Mit der Gründung diverser privater PferdeEisenbahn-Gesellschaften 2 konnte ab 1873 insbesondere die Anbindung der Vororte und Stadtrandgebiete an die Innenstadt vorangetrieben werden. Bis in die 80er Jahre dominierte im innerstädtischen Verkehr aber immer noch der Pferde-Omnibus, der jedoch aufgrund seiner geringeren Transportkapazität und nicht zuletzt aufgrund des berüchtigten Berliner Kopfsteinpflasters geringere Transportgeschwindigkeiten verzeichnete, als die sich langsam auch im innerstädtischen Bereich etablierenden Pferde-Straßenbahnen, die den Omnibusverkehr verkehrstechnisch bald weit überflügelten (vgl. Bendikat 1999: 111; Meyer 2005: 469). »Bereits Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte jede Hauptstraße eine Straßenbahnlinie.« (Bendikat 1999: 519) Und auch vor der Haustür Wilhelm von Ostens in der Rosenthaler Vorstadt änderte sich in der Folge die Verkehrslage: Die Große Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE) eröffnete 1886 den Streckenabschnitt zwischen den Stationen Invalidenstraße/Chausseestraße und Kastanienallee/Schönhauser Allee; es folgten 1894 die Streckenabschnitte zwischen Rosenthaler Platz und Weinbergsweg, sowie zwischen Swinemünder Straße/Zionskirchplatz und Swinemünder Straße/ Vinetaplatz. 1888 hatte der kontinuierliche Anstieg der Fahrgäste bei der Großen Berliner Pferdebahn-Gesellschaft die 100-Milionengrenze überschritten; der öffentliche Nahverkehr bewegte sich an der Überlastungsgrenze. Nicht zuletzt aufgrund der begrenzten Leistungsfähigkeit der Pferde, die den immensen Verkehr zu bewältigen hatten. »Als in den 70er und 80er Jahren des 19. Jh. das Verkehrsaufkommen weiter wuchs und die Pferdekraft immer teurer wurde, versuchte man in den USA – aber auch in Berlin – […] Dampfstraßenbahnen oder Kabelbahnen, deren Seile durch Dampfmaschinen 2 | Insbesondere sind hier als größte Gesellschaften die 1871 gegründete Große Berliner Pferde-Eisenbahn AG (GBPfE), die 1876 gegründete Neue Berliner Pferdebahn-Gesellschaft und die 1878 gegründete Große Internationale Pferde-Eisenbahn zu nennen (vgl. Bendikat 1999: 107ff.).
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angezogen wurden, doch ohne nachhaltigen Erfolg. Erst die elektrisch angetriebenen Straßenbahnen begannen in den Städten […] in den 90er Jahren die Pferdekraft abzulösen.« (Meyer 2005: 469)
Schon kurz nach der Jahrhundertwende hatte sich die elektrische Straßenbahn in Berlin gänzlich durchgesetzt: Am 21.08.1902 wurde die letzte Berliner Pferdebahn auf den elektrischen Betrieb umgestellt (vgl. Bendikat 1999: 113). Und bereits am 23. September 1900, im gleichen Monat, in dem Hans II, der Kluge, in der Griebenowstraße 10 einzog, wurde wenige Straßenecken weiter der Streckenabschnitt zwischen Invalidenstraße/Chausseestraße und Veteranenstraße und der Abschnitt zwischen Kastanienallee/Zionskirchstraße und Kastanienallee/Schönhauser Allee elektrifiziert. Dieser verkehrstechnische Kontext des tierlichen Elementarschulunterrichts legt nahe, warum Hans II nach 1900 im Gegensatz zu Hans I zum reinen Experimental-Subjekt werden konnte: Das Pferd hatte perspektivisch in der Stadt als privates Transportmittel weitgehend ausgedient und es lässt sich vermuten, dass Wilhelm von Osten den stockenden Verkehr der Metropole Berlin lieber mit den neu etablierten öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigte als mit einem privaten Fuhrwerk. Dies heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die Pferde mit Einführung der elektrischen Straßenbahn Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Stadtverkehr verschwunden wären. Erst die Durchsetzung des Automobils, das auch im individuellen Verkehr die lebende Pferdestärke überflüssig machte, ließ die Pferde verkehrstechnisch in der Bedeutungslosigkeit versinken: 1923 wurde schließlich der letzte Pferdeomnibus in Berlin zugunsten der motorisierten Alternative eingestellt (vgl. Bendikat 1999: 120). In der Zeit um 1900 waren dagegen immer noch allein bei Droschken und Bahnen 30 000 Pferde beschäftigt, hinzu kamen der Güterverkehr, die städtischen Straßenreinigungsdienste, Müllabfuhr, Feuerwehr und Bestattungsunternehmen (vgl. Meyer 2005: 469f.). Pferde waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts alltägliche Stadtbewohner_innen und Hans ist hierin keine Ausnahme.
V OM R ECHNEN
UND
L ESEN
ZUM
M USKEL-L ESEN
Und doch hat Hans nichts mit den anderen Pferden gemein. 1901 beherrscht Hans bereits die Zahlen von 1 bis 15 und Wilhelm von Osten geht zum Unterricht in den vier Rechenarten über. 1902 »besaß er Kenntnisse, wie noch kein Tier zuvor […]. Er konnte zählen, in den Hauptrechnungsarten rechnen, buchstabieren und lesen, er erkannte die Töne, Münzen, Karten, die Zeigerstellung der Uhr […].« (Krall 1912: 17) Für Wilhelm von Osten ist spätestens zu diesem Zeitpunkt der Erfolg seiner Lehrmethode bewiesen und der Denkerstatus des Klugen Hans’ offensichtlich. Es gilt mit seinem außergewöhn-
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lichen Schüler an die Öffentlichkeit zu treten und die Denkfähigkeit des Pferdes wissenschaftlich beglaubigen zu lassen. Das Gerücht vom lesenden und rechnenden Pferd macht bereits die Runde, ohne jedoch, zum Leidwesen seines Besitzers, die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Hans erscheint zu Unrecht als ein weiteres Exemplar der auf Jahrmärkten ausgestellten zählenden und rechnenden Pferde, deren Künste lediglich auf Dressur beruhen, oder wie Karl Krall es ausdrückt: auf »Kniffen und Pfiffen« (Krall 1912: 17). Wilhelm von Osten resigniert, eine ernste Krankheit kommt hinzu und am 28. Juni 1902 erscheint im Militärwochenblatt sowie in der Vossischen Zeitung folgende Anzeige: »Meinen 7jährigen schönen, lammfrommen Hengst, mit welchem ich Versuche zur Feststellung des geistigen Könnens des Pferdes mache, will ich verkaufen. Er unterscheidet zehn Farben, liest, kennt die vier Rechnungsarten u.a.m. von Osten, Berlin, Griebenowstraße 10.« (Krall 1912: 18) Der Verkauf kommt aus mangelndem Interesse nicht zu Stande und erst auf eine weitere Anzeige mit der Einladung, »den Versuchen zur Feststellung der geistigen Fähigkeiten des Pferdes« (ebd.) unentgeltlich beizuwohnen, stellt sich der gewünschte Erfolg ein: Der Berliner Generalmajor z.D. Eugen Zobel, ein ausgemachter Pferdespezialist, überzeugt sich von der selbstständigen Denkfähigkeit des Pferdes und motiviert daraufhin einen kleinen Kreis namhafter Pferdekenner, weitere Versuche mit Hans zu unternehmen. Zobel ist es auch, der nicht zuletzt aufgrund seiner Reputation in Pferdefragen mit einem Artikel im weitverbreiteten Berliner Tageblatt über »Das lesende und rechnende Pferd« am 7.7.1904 Aufsehen erregt. Neben Zobel zeigt sich bald auch der bekannte Zoologe, Großwildjäger und Afrika-Forschungsreisende Carl Georg Schillings von den Rechenkünsten des denkenden Pferdes überzeugt und stellt sich öffentlich an die Seite des Pferdelehrers. Die Geschichte des Wunderpferdes wird zum internationalen, journalistischen Hype stilisiert. Selbst die New York Times berichtet und auch innerhalb Berlins entwickeln sich die Unterrichtsstunden des gelehrigen Pferdes zum Publikumsmagneten: »Die Offiziere der Berliner und Potsdamer Garnison, Sportleute und Pferdekenner, nicht minder die elegante Welt des Berliner Westens, auch einige Vertreter der Wissenschaft, gaben sich in der stillen Griebenowstraße, die unvermutet zur Berühmtheit gelangt war, ein Stelldichein. Vor der Mietskaserne reihten sich zahlreiche Wagen und Automobile und zuzeiten hatte ein starkes Aufgebot von Schutzleuten die Aufgabe, die nicht geladenen Verehrer des längst in der Nachbarschaft bekannten intelligenten Hengstes […] von dem Hause fernzuhalten.« (Krall 1912: 21f.) 3 3 | Der kluge Hans entwickelt sich nicht nur zum Event, zum Zitat im Theater und zum Protagonisten von Couplets, sondern ebenso zum Werbeträger und Merchandising-Produkt: Er erscheint auf Postkarten, es gibt den klugen Hans als Kinderspielzeug und es wird sogar eine Likörmarke nach ihm benannt (vgl. Pfungst 1907: 23).
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Anfang August stellt sogar der preußische Kultusminister Dr. Studt Hans etliche Fragen, die dieser zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortet. Mitte August erscheint der Flügeladjutant des Kaisers, Generalmajor von Scholl, und es wird sogar mit dem Erscheinen des Kaisers höchstpersönlich gerechnet. In Amerika ist der entsprechende Artikel bereits gedruckt: »By the time this article is printed, the Kaiser, who has heard with interest of this horse prodigy, will have seen the animal.« (Krall 1912: 26) Die Diskussion und Auseinandersetzung um die intellektuellen Fähigkeiten des Pferdes und die Grenze zwischen Menschen und Tieren ist in vollem Gange und wird in den Medien heftig ausgefochten.4 Neben den Argumenten für und wider das tierliche Denkvermögen sind jedoch inzwischen Betrugsvorwürfe gegen den Besitzer des Pferdes laut geworden und das Kultusministerium sieht sich genötigt, den Sachverhalt prüfen zu lassen. Eine Kommission, die unter der Leitung von Geheimrat Carl Stumpf gebildet wird, seines Zeichens Direktor des Instituts für Psychologie der Berliner Universität, soll klären, ob bei den Vorführungen des Klugen Hans’ Tricks und Betrügereien im Spiel sind. Das Gutachten dieser sogenannten »Hans-Kommission« kommt am 12. September 1904 zum entlastenden Ergebnis, dass keinerlei »Tricks d.h. beabsichtigte Hilfen oder Beeinflussungen« (Pfungst 1907: 9) von Seiten Wilhelm von Ostens beobachtet werden konnten und »auch unabsichtliche Zeichen von der gegenwärtig bekannten Art ausgeschlossen seien« (ebd.). Wenn aber kein Betrug nachweisbar ist und keine der in der Debatte vorgebrachten Dressur-Erklärungen im Fall des klugen Pferdes in Anschlag zu bringen sind, heißt das, dass Hans tatsächlich denken kann? Die Anhänger_innen der Tierseele sind davon überzeugt; ganz im Gegensatz zu den Berliner Psychologen, die eine solche Beweisführung ex negativo nicht befriedigen kann. Carl Stumpf weist in der Folge seine Assistenten Erich von Hornborstel und Oskar Pfungst an, weitere Experimente mit Hans zu unternehmen und im Dezember wird das Geheimnis des denkenden Pferdes endgültig gelüftet. Das Ergebnis entspricht allen Hoffnungen und politischen Anforderungen der aufgeheizten Situation. Weder widerspricht das Gutachten, das Carl Stumpf am 9. Dezember 1904 veröffentlicht, dem Gutachten der ›Hans-Kommission‹, noch muss es die revolutionäre Denkfähigkeit des Pferdes einräumen: »Außer der Denkfähigkeit des Tieres und der Anwendung von Tricks gibt es eben noch ein Drittes.« (Pfungst 1907: 187) Dieses Dritte – so lautet die kurze Zusammenfassung des Ergebnisses des experimentellen Aufwandes, den die beiden Stumpf-Assistenten betreiben – sind kleine, beinahe unmerkliche Körperbewegungen der Fragesteller, die dem menschlichen Auge entgehen (und damit auch der Hans-Kommission
4 | Zur Kontextualisierung des Streits um den klugen Hans und die Tierseelenfrage im Rahmen der Diskussion um Darwinismus und Monismus (vgl. Baranzke 2001).
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entgangen sind), dem Pferd jedoch nicht. Sie sind es, die dem Pferd die nötige Anzahl der Fußtritte verraten, um die richtige Antwort zu formulieren: »Das Pferd muß im Laufe des langen Rechenunterrichts gelernt haben, während seines Tretens immer genauer die kleinen Veränderungen der Körperhaltung, mit denen der Lehrer unbewußt die Ergebnisse seines eigenen Denkens begleitete, zu beobachten und als Schlußzeichen zu benutzen. Die Triebfeder für diese Richtung und Anstrengung seiner Aufmerksamkeit war der regelmäßige Lohn in Gestalt von Mohrrüben und Brot.« (Pfungst 1907: 185)
Weiß der Fragesteller die Antwort auf seine Frage nicht, so tritt Hans fehl, ebenso, wenn sich der Körper des Fragestellers außerhalb seines Blickfeldes befindet. Die Frage des Denkens ist offensichtlich eine Frage des sichtbaren Körpers: Hans kann nicht Rechnen, aber er kann Körper lesen und das mit einer Sensibilität, die den menschlichen Protagonisten und Beobachter_innen entgeht. Und er kann noch mehr, wie Vinciane Despret in einer Relektüre der Experimente betont (vgl. Despret 2004). Hans ist nicht nur in der Lage, als lebender Apparat die komplexen Verknüpfungen zwischen Bewusstsein, Affekten und Körpern sichtbar zu machen; er kehrt im Grunde das Verhältnis von Schüler und Lehrer um, wenn er die Menschen und insbesondere die Psychologen etwas über den menschlichen Körper und seine Affekte lehrt. Oskar Pfungst ist so fasziniert von diesen minimalen unbewussten Körperbewegungen und der Möglichkeit des Körpers, zu affizieren und affiziert zu werden, dass er sich in einer weiteren Laborexperimentreihe selbst auf den Standpunkt des Pferdes versetzt und erfolgreich die gedachten Zahlen seiner Probanden zu erraten versucht. Und nur indem er in einem Akt der Nachahmung die Position des Pferdes besetzt, kann er experimentell die Frage beantworten, warum nur bestimmte Personen von Hans regelmäßig richtige Antworten bekommen, während dies bei einem Großteil nur gelegentlich der Fall ist. Für die deutliche Ablesbarkeit der jeweiligen Antwort am Körper des Fragestellers ist auf Seiten des Fragestellers ein hohes Maß an Konzentration und Erwartungshaltung nötig, denn nur dies lässt die jeweilige Bewegung für den Körper-Leser, sei es ein Mensch oder ein Pferd, signifikant erscheinen: »Es fand sich […], daß dies mit einem hohen Grade von Erwartungsspannung, also mit starkem Affekte, geschehen müsse. […] Dieser Affekt machte sich bemerkbar durch Spannungsempfindungen in Kopfhaut und Halsmuskulatur – zuweilen sogar durch Zittern des ganzen Kopfes – ferner durch Empfindungen der inneren Organe, endlich durch ein allmählich einsetzendes, sich immer mehr steigerndes Unlustgefühl. Bei Erreichen der Endzahl ließen die Spannungen plötzlich nach, und zugleich stellte sich ein eigenartiges Gefühl der Befreiung oder Erleichterung ein.« (Pfungst 1907: 69)
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War diese spezifische Haltung beim Fragesteller nicht vorhanden, so waren die Körperbewegungen für Hans, wie auch für Pfungst, nicht lesbar; die Antwort ging in die Irre. Hans ist wie die meisten Pferde ein überaus talentierter »Muskel-Leser«, wie Pfungst betont: »›Jedes brauchbare Pferd ist ein MuskelLeser. Es liest die Gedanken seines Kutschers aus dem Druck des Gebisses, … obgleich nicht ein Wort des Befehls geäußert wird.‹ Wissen wir doch, daß bei vollkommen abgerichteten Pferden zuweilen schon – scheinbar – der bloße Gedanke des Reiters an eine bestimmte vom Pferd auszuführende Bewegung genügt, damit dieses sie auch sogleich ausführe.« (Pfungst 1907: 130f.)
W AGENPFERDE
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Dieses Muskel-Lesen, das Pfungst hier anführt, verfährt jedoch auf der Ebene eines kinästhetischen Sinnes, und so sehr Pfungst die Tragweite dessen auch zu relativieren sucht, so ist es doch bemerkenswert, dass es Hans, dem Klugen, gelingt, dieses Lektüreverfahren auf die Ebene des Visuellen zu übertragen. Pfungst führt zur Erklärung dieser besonderen Fähigkeit die spezifischen Haltungsbedingungen von Hans und deren Effekt auf die Verminderung des »Sinneslebens« ins Feld: Hans II darf im Gegensatz zu Hans I, der weiterhin als Reit- und Kutschpferd diente, den Hof nicht verlassen und ist dadurch in der ausschließlichen Stall- und Hofhaltung auf Wilhelm von Osten als einziger Bezugsperson beschränkt. In Anbetracht dieser Bedingungen erscheinen die besonderen visuellen Leistungen von Hans leicht erklärlich: »Ob es möglich gewesen wäre, auf einem anderen Weg Denkleistungen bei dem Tier hervorzurufen, halte ich gleichwohl für mehr als zweifelhaft.« (Pfungst 1907: 171) Anders dagegen entwickelte sich scheinbar Hans I, wenn man den Untersuchungen Pfungsts zur Kommunikation zwischen Menschen und Pferden Glauben schenkt. In Folge der Erfahrungen mit dem Ostenschen Pferd und dem Problem der Wahrnehmung des Fragestellers durch das Pferd, hatte Pfungst bereits relativ früh den auditiven Sinn ausgeschlossen. Um der Frage nach der Verallgemeinerung eines möglicherweise mangelhaften Gehörs bei Pferden nachzugehen, hatte er eigens eine alltagsethologische Versuchsreihe mit 25 anderen Pferden im Kasernenhof, im Zirkus, auf der Reitbahn und bei Privatpersonen veranstaltet. Die Frage nach dem Hörsinn der Pferde war nicht zuletzt für den Alltagsumgang mit Pferden relevant, denn wenn die Tiere im Grunde nicht auf Zurufe reagierten, sondern auf ganz anders gelagerte Zeichen, wäre ein Ansprechen der Tiere im Kontext der Dressur und Abrichtung überflüssig. »Die Resultate dieser Versuche waren im wesentlichen folgende. Auf Zungenschlag reagieren viele Pferde, und zwar durch flotteren Gang. Auf: Brr! (oder: Holá!) halten
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viele an. Sehr schön zeigten dies letzte z.B. zwei Wagenpferde (zusammen vor einem Landauer gehend, mit großen Scheuklappen versehen, die Zügel ganz lose gehalten), deren eines auf das vom Bock gegebene: Brr! Jedesmal promt anhielt, während das andere, nicht auf dieses Zeichen geübt, ruhig weitertrabte, so daß sich der Wagen allemal schräg stellte – eine sichere Gewähr dafür, daß hier nicht etwa unbeabsichtigte Zügelhilfen mitspielten, denn diese hätten auf beide Tiere gleichmäßig wirken müssen. Andere Pferde waren gewöhnt, auf ein langgezogenes: Holá! Zu halten, doch nur auf den Tonfall (d.h. auf die Sprachmelodie), denn jedes andere Wort, ja auch ganz unartikulierte Laute, hatten, im gleichen Tonfall gerufen, den nämlichen Effekt. Mit dem Wechsel der Betonung dagegen schwand auch der Effekt.« (Pfungst 1907: 133)
Was Pfungst hier experimentell austestet, ist das Ostensche Wagenmanöver auf der Friedrichstraße, das dieser seinerzeit mit Hans I ausgeführt hatte. Und es wird deutlich, wie groß der Unterschied zwischen den beiden Namensvettern tatsächlich ist: Hans I bleibt bei allem Unterricht ein Verkehrspferd, das den Anforderungen seines Alltags als Wagenpferd entsprechend eine die kinästhetische ergänzende, auditive Affektökonomie entwickelt, während Hans II, freigestellt von aller verkehrsbezogenen Arbeit, rein auf den Alltag des Experimentalunterichts beschränkt, eine visuelle Muskel-Lesefähigkeit entwickelt. Gilles Deleuze hat dieses Phänomen 1978 in einem kleinen Text anhand des Unterschieds zwischen Zug- und Rennpferden beschrieben: »[E]s gibt zwischen einem Arbeits- oder einem Zugpferd und einem Rennpferd größere Unterschiede als zwischen einem Ochsen und einem Arbeitspferd. Und zwar, weil das Renn- und das Arbeitspferd nicht die gleichen Affekte, noch die gleiche Macht haben, affiziert zu werden; das Arbeitspferd hat viel mehr Affekte mit dem Ochsen gemeinsam.« (Deleuze 1988: 161)
Aber es ist nicht nur das Pferd, das sich je nach seiner Umgebung und seinen Alltagspraktiken und -erfordernissen in seinen Affektökonomien unterscheidet, es sind ebenso die menschlichen Protagonisten, die in ihren Affekten eine Veränderung erfahren, je mehr sie sich auf die Situation einlassen. Denn, wie Despret betont, ist Hans II in der Lage, Menschen ohne deren Wissen zu vereinfachten Bewegungen zu animieren, um die Ergebnisse der Kommunikation zu verbessern (vgl. Despret 2004: 115f.). Ahmt Hans II die Vorstellungen der Fragesteller nach, die diese in natürlichen Ausdrucksbewegungen erkennen lassen, wie Pfungst herausgefunden hatte, so gilt dies für eine Ausnahme nicht. Stellt sich der Proband die Zahl ›Null‹ im Labor vor, so ahmt er in einer unwillkürlichen Bewegung mit dem Kopf die Form der ›Null‹ nach, während er im Zusammenspiel mit dem Pferd stattdessen den Kopf schüttelt, und damit exakt diejenige Bewegung nachahmt die Hans in der Regel zu machen pflegt, wenn er antwortet. Wie ist eine solche Beobachtung zu erklären, wenn
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nicht dadurch, dass die »natürlichen Ausdrucksbewegungen für ›Null‹ und ›Nein‹« ohne das Wissen der Fragesteller, »durch andere, wie sie das Pferd als Direktiven eben brauchte, verdrängt worden [sind]« (Pfungst 1907: 81)? Ist dies aber der Fall, so muss man daraus folgern, dass sich hier wiederum das Lehrer-Schüler-Verhältnis umkehrt: »Hans has made them move otherwise, he changed the habits of their bodies and made them talk another language. He taught them how to be affected differently in order to affect differently.« (Despret 2004: 116)
B EGEGNUNGS -E XPERIMENTE Können Tiere denken?, das war die Frage, die die Begebenheiten um den Klugen Hans strukturierten, und es gibt, allen Anstrengungen der Beteiligten zum Trotz, auch nach Abschluss aller Versuche keine Antwort, auch nicht von Seiten der Psychologie: »Sicher ist nur«, schreibt Oskar Pfungst ganz am Ende seiner Abhandlung, »daß bisher nichts davon nachgewiesen werden konnte, ja daß nicht einmal ein gangbarer Weg zum Nachweise gezeigt worden ist.« (Pfungst 1907: 172) Ebenfalls fehlt eine Antwort auf die Frage nach der ontologischen Nähe oder Distanz zwischen Menschen und Tieren. Ein gescheitertes Experiment in der Frage nach dem Geist der Tiere, so könnte man konstatieren. So sieht es auch die Experimentelle Psychologie, in deren Fachgeschichte der Kluge Hans allein im Zusammenhang mit dem sprichwörtlichen KlugenHans-Effekt erinnert wird: als ein signifikanter Störfaktor innerhalb der experimentellen Arbeit, der sich aus der Erwartungshaltung des Versuchsleiters ergibt. Die unbewusste angespannte Erwartungshaltung der Fragesteller sorgt für die entsprechenden minimalen Körperbewegungen, die die Antwort für das Pferd bereits vorweg nehmen.5 Der Versuchsleiter vertraut in die denkerischen Fähigkeiten seines Pferdes und muss am Ende einsehen, dass das Pferd etwas anderes tut, als er dachte. Eine Sicht also, die sich auf die mangelnde Kontrolle und das blinde Vertrauen, kurz auf eine Psychologie des Versuchsleiters einlässt und das Pferd vollständig entlastet: Die Gutgläubigkeit des Versuchsleiters übersieht die Eigenwilligkeit des Versuchsobjekts. Was diese Perspektive auf die Ereignisse um 1900 jedoch vollständig aus dem Blick verliert, ist die lokale Veränderung der Begegnungsweisen zwischen Menschen und Pferden sowie deren jeweils veränderte Affektverhältnisse, wie sie sich in der Errichtung des Experimentierraumes im Hinterhof der Berliner Vorstadt ereigneten. Die Fixierung auf die Frage nach der Nähe oder Differenz zwischen Mensch und Tier und, damit verbunden, nach der Denkfähigkeit 5 | Zu ähnlich gelagerten Aussagen kommen etwa die Studien Robert Rosenthals. Vgl. hierzu paradigmatisch Rosenthal 1966.
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der Tiere und der Psychologie des Menschen, übersieht das eigentlich Entscheidende: Die mikroskopisch kleinen Verschiebungen in den Beziehungen zwischen Menschen und Pferden, die sich aus der nur lokalen, aber nichtsdestotrotz gänzlichen Veränderung des Begegnungssettings zwischen den Arten ergeben und die fundamentale Auswirkungen auf die Frage haben, zu was ein Pferd unter diesen oder jenen Umständen in der Lage ist. Gehen wir aber andererseits nicht zu streng mit der Überlieferung der Begebenheiten um den Klugen Hans ins Gericht, denn die Protagonisten verhandeln den Fall selbst stets im Register der zentralen Frage nach der Denkfähigkeit der Tiere. Und doch taucht die andere Frage, die nach den Vermögen und Fähigkeiten des Pferdes unter diesen oder jenen Umständen, immer wieder an den Rändern der Texte um den Klugen Hans auf. Und auch Wilhelm von Osten ist sich der gänzlich veränderten Position seines Pferdes entgegen dem allgemeinen Stand der Arbeitstiere bewusst, wenn er dem Klugen Hans auf seinem Sterbebett für die Schwierigkeiten und Peinlichkeiten, in die dieser ihn gebracht hatte, ein »Ende vor dem Mörtelwagen« (Krall 1912: 349) wünscht. Wenn auch die anthropogenetische Übertragung eines Elementarschulunterichts auf die Beziehung zwischen den Arten aus dem Pferd keinen elementar gebildeten Bürger macht, so bildet sich doch innerhalb dieses Settings ein Pferd mit einer deutlich veränderten Affektökonomie heraus. Und auch, wenn die Wissensübermittlung in Form des Ostenschen Curriculums scheitert, so wird, jenseits der Schultafel und innerhalb des Umgangs zwischen den Arten, ein Wissen um die Affekte von Tieren und Menschen hervorgebracht, das durchaus interessanter erscheint als die Frage, ob ein Pferd zum Mathematikschüler taugt oder nicht. Ein Wissen im Übrigen, bei dem nicht mehr ganz klar ist, von welcher Seite ausgehend man hier von einer Wissensproduktion sprechen kann, insofern dieses Wissen grundlegend auf den alltäglichen gemeinsamen Umgang der Arten angewiesen ist. Die Spezifik dieses experimentellen Settings ist, folgt man Vinciane Despret, ein spielerisches Lernen von Praktiken der Aufmerksamkeit, eine Öffnung hin auf die Möglichkeiten und Fähigkeiten der beteiligten Körper. Jedoch nicht – und dies ist ein grundlegender Unterschied zur Dressur eines Wagen-, Reit- oder Rennpferdes – im Sinne einer zielgerichteten ökonomischen Zurichtung der Körper, sondern vielmehr im Sinne der Erforschung der je situationsbedingt möglichen Ökonomien der beteiligten Körper. »[I]hr wißt nicht im Voraus, was ein Körper oder eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener Kombination vermag« (Deleuze 1988: 162), so fasst Deleuze, ausgehend von Spinoza, das Credo dieser neuen experimentellen Ethologie zusammen, die stets darauf verwiesen ist, neue Begegnungsweisen und Verteilungen zwischen Dingen, Tieren und Menschen vorzunehmen, weil allein hierin ein praktisches Lernen und Lehren der Praktiken der einen wie der anderen Seite möglich erscheint. Denn es ist, wie es Deleuze an gleicher Stelle ausdrückt, »Sache langen Experimentierens,
›E xperimental Life‹
langer Umsicht, einer spinozistischen Weisheit« (Deleuze 1988: 162), um die Affekte eines Körpers und seine Vermögen zu kennen. Dieser alltägliche Umgang des ethologischen Experimentierens ist jedoch, wie sich am Beispiel des Klugen Hans’ zeigen lässt, ein gänzlich anderer, als der alltägliche Umgang vorher und außerhalb dieses Settings. Isabelle Stengers hat in ihrem »kosmopolitischen Vorschlag« im Zusammenhang mit den Problematiken von Tierversuchen und in Anschluss an Deleuze auf die »Untrennbarkeit von ethos, die einem Lebewesen eigene Verhaltensweise, und oikos« betont, der »das Habitat dieses Wesens [bezeichnet] und die Art und Weise, in der dieses Habitat den Anforderungen, die mit dem ethos verbunden sind, entspricht oder ihnen widerspricht, oder Gelegenheiten für ursprüngliches ethos, sich selbst aufs Spiel zu setzen, bietet.« (Stengers 2008: 163) Dabei betont Stengers, dass Untrennbarkeit nicht zwangsläufig Abhängigkeit bedeutet, denn ein ethos »kann nicht in beliebiger Weise umgestaltet werden, indem man die Umgebung umgestaltet.« (Ebd.) Und doch enthält gleichermaßen kein ethos in sich selbst seine Bedeutung: »Wir wissen nie, zu was ein Wesen fähig ist oder werden kann.« (Stengers 2008: 163) Stattdessen kann man vielleicht eher davon sprechen, »dass die Umgebung vorschlägt [proposes], aber dass das Wesen darüber verfügt [disposes], diesem Vorschlag eine ›ethologische‹ Bedeutung zu geben oder ihn abzulehnen.« (Stengers 2008: 163f.) Was sich, so könnte man in Anschluss an Stengers sagen, mit der modernen Ethologie herausbildet, ist eine Offenheit für solche »Propositionen« und die daraus resultierenden möglichen »Dispositionen«; eine experimentelle Offenheit, die ihren Nutzen in ihrer impliziten Wissensproduktion und weniger in etwaigen ökonomischen Erfordernissen findet. Denn es gehört zu den Voraussetzungen des Klugen Hans’ als eines experimentellen Subjekts, dass die verkehrsgeschichtliche Situation das Pferd als Zug- und Reittier bereits in die Nutzlosigkeit verweist und es damit, aus dem Arbeitsalltag gelöst, freistellt für eine neue Form der spielerischen und experimentellen Form des Alltags.
Ö KOLOGIE
DES
H AUSHALTS
Wenn, entgegen der verbreiteten Rezeption des Klugen Hans’, auf den letzten Seiten weniger von der experimentellen Psychologie die Rede war als vielmehr von der Ethologie, so deshalb, weil es gerade die sich im 20. Jahrhundert etablierende Verhaltensbiologie ist, in der diese neuen, experimentell ausgerichteten Alltagspraktiken der Interspezieskommunikation ihre Anwendung finden. Was im Fall des Klugen Hans’ unbewusst ausgeführt wird und am Ende als Experimentalfehler enttarnt wird, wird bei Konrad Lorenz zu einer Methode der Kommunikation zwischen den Arten entwickelt: »Es ist nichts Besonderes, das ›Vokabularium‹ einiger Tierarten zu verstehen. Wir können
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auch zu den Tieren sprechen, wenigstens soweit dies im Bereiche des Möglichen unserer Ausdrucksmittel liegt und soferne die Tiere ihrerseits bereit sind, mit uns Kontakt aufzunehmen.« (Lorenz 1991: 71) Wenn es auch Grenzen gibt – denn der »Sendeapparat« des Menschen ist durchaus beschränkter als der der meisten Tiere –, so ist doch eine »Übertragung von Gefühlen und Affekten« (Lorenz 1991: 74f.) zwischen den Arten im Sinne einer Verständigung im alltäglichen Umgang möglich. Und es ist nicht zuletzt die visuelle Muskel-Lesefähigkeit des Klugen Hans’, die als herausragendes Beispiel für die entsprechende Leistungsfähigkeit des »Empfangsapparates« bestimmter Tiere in Anschlag gebracht wird. (Vgl. ebd.) Eine Leistungsfähigkeit, die, so legt es Lorenz nahe, gerade bei sozialen Tieren, die alltäglich mit Menschen umgehen, sehr entwickelt ist, weil sie nicht in der Lage sind, die Sprache ihrer menschlichen Lebensgenossen zu verstehen (vgl. Lorenz 1991: 76). Die Kommunikation zwischen den Arten ist ein Lerneffekt auf beiden Seiten, der in der alltäglichen Praxis kinästhetische, visuelle oder auditive Ebenen und Rituale der Verständigung etabliert, die eine oft unbewusste Verständigung möglich machen. Und Lorenz forciert solche lehrenden und lernenden alltäglichen Praktiken des kommunikativen Zusammenlebens, wenn er sein gesamtes häusliches Alltagsleben zum experimentellen Setting erklärt: »[W]as hat meine Frau im Laufe der Jahre er- und geduldet! Denn wer dürfte wohl seiner Gattin zumuten, daß eine zahme Ratte in der Wohnung frei herum läuft, aus den Betttüchern nette kleine Scheibchen nagt, um damit ihr Nest zu tapezieren? Oder, daß ein Kakadu von der Wäsche, die zum Trocknen im Garten hängt, sämtliche Knöpfe abbeißt? Oder, daß eine zahme Wildgans im Schlafzimmer nächtigt, welches sie morgens durch das Fenster fliegend verläßt? […] Was würde sie sagen wenn… und so weiter über zwanzig Seiten! Man wird mich fragen: Ist denn das alles unbedingt notwendig? Und meine Antwort wird ein lautes und deutliches Ja sein. Gewiß kann man Tiere auch in durchaus salonfähigen Käfigen halten, kennenlernen jedoch kann man höhere und geistig regsame Tiere nur dann, wenn sie sich frei bewegen dürfen.« (Lorenz 1991: 13)
Was Lorenz hier schildert, ist der radikale Versuch einer sprichwörtlichen Domestizierung freilebender zahmer Tiere, deren ›un-oikonomischer‹ Charakter im Sinne der menschlichen Haushaltung des oikos jedoch offensichtlich ist: Das Haus wird zum Ort einer konfliktreichen, aber gleichermaßen spielerischexperimentellen Auslotung von Lebensgewohnheiten, Lebensräumen und des Zusammenlebens zwischen den Arten. Wenn Konrad Lorenz sich später unter den »Bauerntypus« des Verhaltensforschers im Gegensatz zum »Jägertypus« einzuordnen versucht (vgl. Lorenz 1978: 41), sollte man nicht die gewisse Ironie des Bezugs zur bäuerlichen Tier-Ökonomie übersehen. Zwar will der »Bauerntypus«, wie Lorenz ausführt, »Tiere besitzen und vor allem auch züchten, ver-
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mehren« und beschleicht »Tiere nur, um sie zu fangen und anschließend zu halten« (ebd.), der Zweck der Handlung hat sich jedoch zwischen Bauer und dem Ethologe grundlegend gewandelt. Hält und züchtet der Bauer die Tiere vornehmlich, um ihre Körper und Affekte im Sinne der Ökonomie des bäuerlichen Haushalts zu- und abzurichten, so gibt der Verhaltensforscher Lorenz seinen Haushalt selbst der willkürlichen Haushaltung der Tiere anheim. Die Tiere werden nicht mehr öko-, oder noch besser: ›oikonomisiert‹, sondern sie ›oikonomisieren‹ ihrerseits die häusliche Ordnung, die hierdurch »aus methodischwissenschaftlichen Gründen« in einen experimentellen Aushandlungsprozess überführt wird: »Auf Schaden und Ärger muß man sich allerdings dann gefaßt machen.« (Lorenz 1991: 13) Nicht die Ökonomie des oikos ist als Leitfaden entscheidend, sondern die Ökonomie der Körper, deren Verteilung, Verhalten und Affektverhältnisse zueinander: Die Frage der Haushaltung des oikos wird von einer ökonomischen Frage zu einer Frage der Umwelt und der Ökologie. Nicht zufällig erschien 1935 Lorenz’ für die vergleichende Verhaltensforschung epochemachender Aufsatz »Der Kumpan in der Umwelt des Vogels« (Lorenz 1935) mit einer Widmung zum 70. Geburtstag von Jakob von Uexküll, dessen Buch »Umwelt und Innenwelt der Tiere« 1909 den Begriff der Umwelt in Verbindung mit einer Ethologie der Affekte als biologischen Terminus durchgesetzt hatte. Mit Konrad Lorenz’ Haushaltspraktiken wird explizit, was Isabelle Stengers als »ethisch-ökologische« Perspektive bezeichnet (vgl. Stengers 2008: 163). Und, wie im Falle des klugen Hans’, wird sichtbar, dass eine Erforschung der Ökonomie der tierlichen Affekte und Fähigkeiten in Abhängigkeit von ihrer jeweils gegebenen Umwelt auf ein grundlegendes Aussetzen der alltäglichen Ökonomisierung der tierlichen Körper angewiesen ist. Nur wenn das Pferd als Verkehrsmittel ausscheidet und dem oikos, als Keimzelle der Ökonomie in der Moderne, keine wirtschaftliche Rolle mehr zukommt, können die tierlichen Körper für eine spielerische Neuanordnung und -ausrichtung freigestellt werden, die andere Fähigkeiten und Lebensweisen ermöglicht.
E THOLOGIE
DES
S PIELS
Gleichzeitig ist es, abseits von aller experimentellen Wissensproduktion, gerade erst eine gewisse Nicht-Alltäglichkeit, eine Nicht-Vertrautheit mit dem jeweiligen Tier, die überhaupt eine Frage nach den Vermögen, den Affekten und Fähigkeiten eines Tieres begründet. Nur insofern das alltägliche Wissen um den Charakter des jeweiligen Tieres nicht mehr trägt oder nicht gegeben ist, wenn also in den alltäglichen Begegnungspraktiken eine fundamentale Verunsicherung eintritt oder die jeweilige Begegnungen nicht mehr innerhalb eines ritualisierten Settings ablaufen, nur dann ergibt sich eine Perspektive auf den Körper der_des Anderen, die von einem fundamentalen Komplex des
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Nicht-Wissens ausgeht. Ein Nicht-Wissen, auf das – historisch gesehen – eine Strategie des experimentellen Spiels Antworten verspricht. Dass es gerade die Strategie des spielerischen Austestens von Begegnungsformen, Settings und Situationen ist, die als probates Mittel einer ethologischen Wissensproduktion erscheint, ist dabei nicht überraschend. Es war und ist stets das Spiel zwischen Individuen einer Art oder unterschiedlicher Arten, die das Wissen um die Affekte und Vermögen der jeweils beteiligten Individuen mit einer gewissen Unsicherheit ausstattet oder in Frage stellt. Dieses Element des Ungewissen zeichnet das Spiel von und mit Tieren als prädestiniertes Setting für eine ethologische Fragestellung aus, die nicht mehr auf die Gewissheiten eines regulierten tierlich-menschlichen Alltags setzen kann. Auf unvergleichliche Weise hat Gregory Bateson – selbst durch die Tier-Spiele verunsichert – auf die Ungewissheit und den geradezu paradoxen Charakter der Spielsituation am Beispiel von spielenden Affen im Fleishhacker-Zoo in San Francisco hingewiesen: »[D]ie Daten der Tiere [erforderten] eine fast vollständige Revision meines Denkens […].Was ich im Zoo antraf, war ein allgemein bekanntes Phänomen: ich sah zwei junge Affen spielen, d. h. in eine Interaktionsfolge verwickelt, bei der die Handlungseinheiten oder Signale denen des Kampfes zwar ähnlich, aber nicht gleich waren. Es war selbst für den menschlichen Beobachter offensichtlich, daß die Abfolge als Ganze kein Kampf war, und es war dem menschlichen Beobachter auch ersichtlich, daß dies für die beteiligten Affen ›nicht Kampf‹ war. […] Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde.« (Bateson 1985: 243f.)
Die Affen spielen, sie kämpfen nicht. Aber – und diese Frage verunsichert Bateson – wie kommt die Verständigung zwischen ihnen darüber zu Stande, dass sie spielen und nicht kämpfen? »[D]ieses Phänomen Spiel [konnte] nur auftreten, wenn die beteiligten Organismen in gewissem Maße der Metakommunikation fähig waren, d. h. Signale austauschen konnten, mit denen die Mitteilung ›Das ist Spiel‹ übertragen wurde.‹« (Bateson 1985: 244) Der Rahmen der Spielsituation besteht, so verallgemeinert Bateson, ausgehend vom Spiel der beiden Affen, aus einer Reihe von Handlungen oder Signalen, die »auf andere Handlungen des ›Nicht-Spielens‹ bezogen sind oder diese bezeichnen« (Bateson 1985: 245). Doch gleichzeitig – und das macht den unsicheren und paradoxen Rahmen des Spiels nach Bateson aus – bezeichnen diese Handlungen und Signale eben gerade nicht, was jene Handlungen, auf die sie bezogen sind, bezeichnen würden. Es ist diese unauflösbare Paradoxie, die den jeweiligen Rahmen der Situation immer prekär erscheinen lässt: Spielen die Affen oder kämpfen sie? Die spielerischen Bisse und Hiebe »tendieren immer dazu, als ›reale‹ Kampfhiebe mißverstanden zu werden« (Bateson 1985: 247). Jede Handlung innerhalb einer Situation stellt gleichermaßen eine Frage
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nach den Regeln und Bedingungen dieser Situation: »[I]nnerhalb des Spiels muß […] oft daran erinnert werden, daß dies ›ein Spiel ist‹.« (Bateson 1985: 251) Aber auch andersherum, auf einen möglichen realen Kampf bezogen, sind die Hiebe nicht eindeutig. Jegliche Art von Kommunikation ist stets in einen Komplex der Unsicherheit verwickelt, die stets nur situationsbedingt auflösbar erscheint. Und es ist für Bateson gerade diese Unsicherheit, die eine Entwicklung von Kommunikation allererst ermöglicht: »Spekulieren wir über die Entwicklung der Kommunikation, so ist offensichtlich, daß eine sehr wichtige Stufe in dieser Entwicklung eintritt, wenn der Organismus allmählich aufhört, ganz ›automatisch‹ auf die Stimmungs-Zeichen eines anderen zu reagieren, und fähig wird, das Zeichen als ein Signal zu erkennen: das heißt, zu erkennen, daß die Signale des anderen Individuums wie auch seine eigenen nur Signale sind, denen man trauen oder mißtrauen kann […].« (Bateson 1985: 242)
Kommunikation geht bei Bateson gerade nicht vom Verstehen, sondern vom Bewusstsein eines potenziellen Missverständnisses aus, von einer Situation, in der missverstandene auf der einen oder inszenierte Zeichen auf der anderen Seite vorkommen. Kommunikation setzt also gerade dann ein, wenn die Zeichen oder Gesten nicht als unwillkürliche »Objekt-Indikatoren« oder als »Ausdruck der Gemütsbewegungen« (Darwin 2000) aufgefasst werden, sondern vielmehr die Unsicherheit und Uneindeutigkeit dieser Zeichen im Rahmen der Austauschbeziehungen auftauchen. Erst hier scheint ein Verhältnis auf, das zwischen den Akteuren eine Art Frage-und-Antwort-Spiel begründet, in dem auf der Ebene einer Metakommunikation stets und andauernd der Rahmen der Situation verhandelt wird. Ist der alltägliche Umgang mit Signalen oft von einem »Automatismus« geprägt, der, aufgrund der tagtäglich eingespielten Routine der Verknüpfung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, die stets unsicheren Signale auf die Ebene der unwillkürlichen Zeichen reduziert,6 so heißt dies im Umkehrschluss, dass gerade der Umbruch, die Unterbrechung oder gar das Nicht-Vorhandensein solcher Routinen die implizite und fundamentale Unsicherheit solcher Zeichen zum Vorschein bringt. Der Bruch des alltäglichen und routinierten Rahmens führt einen Komplex des Nicht-Wissens in die Beziehungen ein, die im Falle der Tier-Mensch-Beziehungen eine ethologische Frage implizieren: Welchen Affekt bezeichnet dieses oder jenes Zeichen? Was vermag dieses oder jenes Tier? Eine Frage, die, wie die Spiele der Affen bei Bateson zeigen, nur in Form einer ständigen Kommunikation beantwortbar erscheint, die versucht, den Rahmen und die Situation der jeweiligen Handlungen zu bestimmen. Die Offenheit dieser Rahmen, aufgrund des ver6 | Bateson zeigt dies etwa am Beispiel der Affekt-Reaktionen auf Headlines, Werbung oder Parfum (vgl. Bateson 1985: 242f.).
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mehrten Ausscheidens der Tiere aus dem Arbeitsleben, und die Fokussierung auf die Ökonomie der Kommunikation selbst, unterscheidet dabei die moderne Ethologie grundlegend von anderen Ethologien.
V ON
DER E THOLOGIE DES A LLTAGS ZUR ALLTÄGLICHEN E THOLOGIE Zeigen lässt sich dies etwa an einem der herausragenden Beiträge zu einer ethologischen Diskussion der Tier-Spiele der Neuzeit. Nicht zufällig stellt Michel de Montaigne anhand des Spiels mit seiner Katze die grundlegende Frage nach den kommunikativen Fähigkeiten der Tiere: »Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir? Die närrischen Spiele, mit denen wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebensooft wie ich bestimmt sie, wann es losgehen und aufhören soll.« (Montaigne 2011a: 187) Und es ist Montaigne – der Philosoph, der lieber »ein guter Stallmeister […] als ein guter Logiker« sein wollte (Montaigne 2011b: 264) –, der direkt im Anschluss Platons Schilderungen des goldenen Zeitalters für die Forderung nach einer alltäglichen ethologischen Einstellung eintritt: »Platon zählt in seiner Darstellung des goldenen Zeitalters unter dem Saturn zu den Hauptvorzügen des damaligen Menschen die Fähigkeit, sich mit den Tieren zu verständigen: Indem dieser sie beobachtete und erforschte, lernte er die wahren Eigenschaften und Unterscheidungsmerkmale jedes einzelnen von ihnen kennen und erwarb sich auf solche Art eine vollendete Einsicht in ihr Wesen; daher führte er ein weitaus glücklicheres Leben, als wir es je vermöchten. […] Diese Unfähigkeit zur Kommunikation zwischen ihnen und uns – warum sollte sie nicht ebenso unsere sein wie ihre?« (Ebd.)
Denn es ist offensichtlich, dass sich die Tiere untereinander verständigen und nicht nur innerhalb einer Gattung, sondern über Gattungsgrenzen hinweg: »Das Pferd erkennt bei einem Hund an einer bestimmten Art des Bellens, ob er angriffswütig ist; hat seine Stimme jedoch einen anderen Ton, erschrickt es nicht im geringsten. Sogar bei den Tieren ohne Stimme können wir aus dem sichtbaren Austausch ihrer Dienste ohne weiteres schließen, daß es bei ihnen ein anderes Kommunikationsmittel geben muß: Ihre Bewegungen sind es, durch die sie zueinander reden und sich ihre Gedanken mitteilen […].« (Montaigne 2011a:188)
Dabei sollten jedoch nicht die spezifischen Bedingungen und Kontexte dieser von der modernen experimentellen Ethologie weit entfernten Beobachtungen unterschlagen werden. Denn Montaigne ist keineswegs der Begründer einer solchen modernen Ethologie avant la lettre, ganz im Gegenteil: Was Montaigne
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hier aus der Sicht einer Ethologie des Alltags von und mit Tieren in Anschlag bringt, ist weniger durch eine Unzulänglichkeit des Alltagswissens motiviert, als vielmehr aus dem offensichtlichen Mangel des zeitgenössischen philosophischen Wissens, das gerade ein solches Alltagswissen ignorieren zu können glaubt, um eine einfache und klare Distanz zwischen Tieren und Menschen zu behaupten. Dies ist der Grund, weshalb Montaigne nicht etwa wie von Osten, Pfungst oder Lorenz ein experimentelles ethologisches Verfahren begründet, sondern vielmehr auf einer Ethologie der alltäglich praktizierten Mensch-Tierund Tier-Tier-Beziehungen besteht: Das Problem des mangelnden Tierwissens ist bei Montaigne weniger eine Krise des Alltagswissens als vielmehr eine Ignoranz gegenüber dem bestehenden Alltagswissen. Man würde die Eigenschaften, die Vermögen und Affekte der Tiere sehr gut kennen, wenn man sich nicht aus Hochmut einer alltäglichen Verhaltensforschung verweigern würde. Dabei rekurriert Montaigne auf einen Alltag, der von dem Zusammenleben mit bestimmten Tieren, etwa Katzen, Pferden und Hunden, geprägt ist und in dessen Praktiken und Ritualen man ein implizites, aber allgemein verbreitetes Wissen erwirbt. Nur so kann Montaigne diese Sachverhalte als evident in die Debatte um die ontologische Distanz zwischen Menschen und Tieren einführen. Entgegen dem Modernen Gregory Bateson stellt Montaigne argumentativ gerade nicht auf die Unsicherheit der Kommunikation, das potenzielle Missverstehen und die Unsicherheit des Kommunikationsrahmens ab, sondern umgekehrt: Ihm ist es um den Beleg einer gelingenden alltäglichen Kommunikation der Arten und über die Arten hinweg zu tun, den er gerade über die Ebene der Affekte und der unwillkürlichen Zeichen zu erbringen sucht. Eine Spur, die durchaus geradliniger auf eine moderne Ethologie verweist, findet sich gerade nicht in der Alltags-Ethologie der europäischen Haustiere, wie sie Montaigne in Anschlag bringt, sondern vielmehr in der entgegengesetzten Richtung: Es ist die Zoologie der unbekannten, der wilden und vom europäischen Menschen entfernt lebenden Arten, die für die moderne Ethologie Pate steht. Es sind die unbekannten Kontaktzonen der neuen Welt, in denen oft jedweder Rahmen einer Situation und damit die Zeichen und Signale jeglicher Umwelt unsicher erscheinen. In einer exotischen Welt, ohne Routinen und alltägliche Automatismen, ist der europäische Zoologe auf eine permanente Aufmerksamkeit hinsichtlich der trügerischen Zeichen seiner Umwelt angewiesen; nur so lässt sich eine Kenntnis über die Tiere, das Klima, die Menschen, die Pflanzen u.v.m., deren Gefahren und Vorzüge erlangen. Die Tropen Südamerikas etwa sind für Europäer_innen durchaus kein vertrauter Interaktionsraum, auch nicht für erfahrene Forschungsreisende wie Alexander von Humboldt. Im Februar des Jahres 1800 hatte dieser zusammen mit dem Botaniker Aime Bonpland seine berühmte Expedition ins Innere von Venezuela angetreten, um nachzuweisen, dass die beiden großen Flusssysteme Südamerikas, Orinoko und Amazonas, ein verbundenes Wassersystem bilden.
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2775 Kilometer legt die Expedition auf dem Rio Negro und dem Orinoko zurück, bis sie ein halbes Jahr später die Küstenstadt Nuova Barcelona erreicht: Das Ende einer Expedition, deren Auswertung und Dokumentation den damals 31-jährigen Alexander von Humboldt sein restliches Leben beschäftigen wird. In seinem Reisebericht über diese Expedition ist neben unzähligen anderen Tier-Mensch-Begegnungen auch die Erzählung eines Missionars verzeichnet, der Humboldts Vorstellung und Alltagswissen über den Charakter und die Affekte des südamerikanischen Jaguar (panthera onca) vollständig revidieren. Und es ist nicht nur die ethologische Frage, die er hieran anschließt, die Bezüge zur modernen Ethologie aufweist, sondern es ist ebenso wie bei Bateson der paradoxe Rahmen des Spiels, in dem der ethos des Tieres seine Ambivalenz entfaltet und die Beobachtenden ratlos zurücklässt: »Ein paar Monate vor unserer Ankunft hatte ein Jaguar […] ein Kind verwundet, mit welchem er gespielt hatte; ich bediene mich dieses Ausdrucks ohne Bedenken, so befremdlich er scheinen mag, weil ich in der Lage war, an Ort und Stelle Tatsachen zu erfahren, welche für die Geschichte der Lebensart dieser Tiere nicht ohne Interesse sind. Zwei indianische Kinder, ein Knabe und ein Mädchen von acht bis neun Jahren, saßen nahe beim Dorf Atures mitten in einer Savanne [...] im Gras. Es war zwei Uhr nachmittags; ein Jaguar trat aus dem Wald hervor und näherte sich den Kindern, indem er um sie herhüpfte; bald verbarg er sich im hohen Gras, bald sprang er auf, mit gekrümmten Rücken und niedergebücktem Kopf, wie unsere Katzen zu tun pflegen. Der Knabe ahnte die Gefahr nicht, in der er sich befand, und schien damit erst in dem Augenblick bekannt zu werden, wo der Jaguar ihm mit seiner Pfote Schläge auf den Kopf versetzte. [...] [D]as kleine Mädchen ergriff alsdann einen Baumast und schlug das Tier, welches die Flucht ergriff.« (Humboldt 2008: 277f.)
Humboldt legt wie Gregory Bateson Wert darauf, diese Szene nicht als ernsthaften Kampf misszuverstehen, so »befremdlich« dies gerade bei einem solchen Raubtier scheinen mag. Können Jaguare spielen? Diese Frage verunsichert Humboldt sichtlich. »Wie soll man sich diese Anfälle von Schäckerei bei einem Tier erklären, das in unseren Menagerien zwar leicht gezähmt wird, im Naturzustand dagegen jederzeit wild und grausam ist?« (Humboldt 2008: 178) Nimmt man an, der Jaguar wäre sich seiner Beute sicher und spielte mit ihr, »wie unsere Katzen mit Vögeln spielen, denen die Flügel gestutzt sind« (ebd.), wie soll man sich erklären, dass er sich von einem kleinen Mädchen in die Flucht schlagen lässt? Und andersherum, wenn der Jaguar nicht hungrig war, warum näherte er sich den Kindern? Worauf Bateson mit einer Kommunikations- und Interaktionsfrage eingeht, das stellt sich Humboldt gute 150 Jahre zuvor als unlösbares Problem dar, insofern er über kein Instrumentarium verfügt, die Einflüsse der Umwelt auf den ethos zu bedenken oder wie Bateson den ethos als Kommunikation in unsicheren und potentiell paradoxen Rahmen
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aufzufassen. Humboldt stellt ebenso wie Montaigne die Frage nach dem Spiel des Jaguars als eine Frage nach dem Charakter. Und auf diese Frage gibt es im Falle des panthera onca keine Antwort; zumindest nicht außerhalb eines Alltags-Settings, das über genügend ritualisierte und eingespielte Umgangsweisen verfügt, aus denen eine Regelhaftigkeit des ethos ableitbar erscheint: »Es gibt geheimnisvolle Dinge in den Neigungen und dem Haß der Tiere. […] Dies sind Instinkte, deren Geheimnis dem Menschen verborgen ist.« (Ebd.)
S CHLUSS Und doch gibt es an anderen Stellen in Humboldts Reisebericht Hinweise und Ansätze in Richtung einer modernen »ethisch-ökologischen« Perspektive:7 »Dieser Heißhunger der Insekten in gewißen Gegenden, diese Blutgier, womit sie den Menschen anfallen, diese bei derselben Art wechselnde Wirksamkeit des Gifts sind merkwürdige Erscheinungen, denen jedoch ähnliche in den Klassen der großen Tiere zur Seite gestellt werden können. Das Krokodil von Angostura atackiert den Menschen, während man in Nueva Barcelona im Río Neveri mitten unter diesen fleischfressenden Reptilien unbesorgt und ruhig badet. Die Jaguare von Maturín, von Cumanacoa und von der Landenge des Panamá sind im Vergleich zu denen vom oberen Orinoco feige Tiere.« (Humboldt 2008: 291)
So sehr diese Beobachtungen in Richtung einer modernen »ethisch-ökologischen« Perspektive verweisen, so weit entfernt ist Humboldt doch gleichermaßen, den Anforderungen einer solchen Perspektive als Wissenschaft zu genügen. Humboldt steht in den Tropen weder die Möglichkeit der Errichtung eines experimentellen oikos zur Verfügung, in dem eine solche Beobachtung und die Spezifik des jeweiligen ethos der Tiere erforscht werden könnte, noch eine Praxis der alltäglichen Beobachtung. Die Forschungen, die Humboldt anstellt, finden stets in Bewegung statt; die Reise verhindert einen alltäglichen Umgang mit den betreffenden Tieren. Folgt man der Typus-Unterscheidung von Konrad Lorenz, so entspricht Humboldt weder dem Ethologen-Typus des »Bauern«, der die Tiere innerhalb eines neuen oikos domestiziert, noch dem Typus des »Jägers«, der in den Praktiken des »Beschleichen[s] und Belauern[s]« die jeweilige Tierart über einen längeren Zeitraum in ihrem jeweils ge- und bewohnten oikos aufsucht (vgl. Lorenz 1978: 41). Erst ausgehend von den Umbrüchen des alltäglichen Umgangs mit Tieren zu Beginn der Moderne, insbesondere aber mit dem Ende der ökonomi7 | Zum Einfluss Alexander von Humboldts auf die entstehende Ökologie vgl. Trepl 1994: 104-109.
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schen Nutztiere im Bereich des Verkehrs und gleichermaßen mit der Freistellung des oikos von den Fragen einer bäuerlichen Tier-Ökonomie, wird der Weg frei für eine experimentelle und »ethisch-ökologische« Perspektive. Und doch sollten an dieser Stelle nicht die anderen, gleichzeitigen Folgen und Kosten dieser Freistellung aus dem Blick verloren werden.. Denn es ist gleichzeitig der Verlust der »maschinellen Ensembles« aus Tieren, Menschen und technischen Gerätschaften (vgl. Macho 1997: 190), wie sie bis ins 19. Jahrhundert üblich waren, der den »schleichenden Ausschluss der Tiere aus allen gesellschaftlichen Bereichen« (Macho 1997: 194) ermöglicht hat: »im selben Maße, in dem ein alltägliches Arbeitsverhältnis zwischen Menschen und Tieren seltener oder gar unmöglich wurde, konnten Tiere entweder mit einem puren Fleischindex (gezüchtet, verwahrt und geschlachtet unter Ausschluss der Öffentlichkeit) oder mit einem puren Luxusindex (als wertvolle, vom Aussterben bedrohte Zootiere, als dressierte Zirkustiere, als reinrassige Heimtiere mit garantiert benutzerfreundlicher Projektionsfläche) definiert werden.« (Macho 1997: 197)
Der Ausschluss der Tiere aus der Ökonomie beschränkt sich jedoch nicht nur auf die, gerade heute erneut und vermehrt diskutierte und zu Recht angeklagte, »Eliminierung der Tiere«, sondern er ermöglicht gleichermaßen eine Öffnung der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit hin auf die Ökonomien des ethos der Tiere selbst. Vielleicht spiegelt gerade das Schicksal des Klugen Hans diese Ambivalenz wie kein zweites wieder: 1916 wird der Kluge Hans, glaubt man der Presse, noch einmal als Arbeitstier mobilisiert, in einem Kontext, der von Ostens Wunsch, ihn vor dem Mörtelwagen zu sehen, bei weitem übertraf: Hans wird zum Einsatz an der Front des ersten Weltkriegs eingezogen. Das weitere Schicksal ist nicht bekannt, wahrscheinlich ist er wie so viele andere Pferde in diesem ersten maschinellen Krieg gefallen.8 So entsetzlich dieses Ende ist, so sollte doch – vielleicht gerade vor diesem tragischen Hintergrund – der Anteil des Klugen Hans’ an der Entwicklung einer experimentellen »ethisch-ökologischen« Perspektive auf tierlich-menschliche-Beziehungen nicht vergessen werden. Eine Perspektive, die eine Beziehung der Aufmerksamkeit auf Tiere und der Kommunikation mit Tieren begründet; eine Aufmerksamkeit, die es von der Ethologie zu lernen gilt, will man die je konkreten historischen und kulturellen Mensch-Tier-Beziehungen – auch im Namen der Tiere und jenseits einer verallgemeinernden Diskussion über die Tiere – ernst nehmen.
8 | Zur Rolle und zum Schicksal von Pferden im ersten Weltkrieg vgl. etwa Tempest 2009.
›E xperimental Life‹
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»durch die vnuernünfftigen thier geschleyfft ...« Tiere in mittelalterlichen Rechtspraktiken und Schandritualen Ramona Sickert
E INFÜHRUNG 1 Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier rückt in den letzten Jahren zunehmend als Thema in den Fokus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften (vgl. Steinbrecher 2008, Roscher 2011) und auch der mediävistischen Fächer (vgl. Dinzelbacher 2000, Obermeier 2009). Hierbei wurde der alltägliche Umgang mit Tieren in der agrarisch geprägten Gesellschaft des Mittelalters genauso in den Blick genommen (vgl. Obermeier 2009a) wie das vormoderne Interesse an Tieren als Freunde und Mitgeschöpfe (vgl. Kompatscher/Classen/ Dinzelbacher 2010), während Fragen nach der Mensch-Tier-Grenze und ihrer Überschreitung in der neueren historischen Forschung bisher noch kaum gestellt worden sind.2 Die biblischen Vorgaben, mit denen die Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen wird, bestimmten das Wissen über Tiere in der christlich geprägten Vorstellungswelt des Mittelalters: Mensch und Tier sind als »creatio Dei« einander verwandt, ebenso schreibt die Schöpfungsgeschichte aber die Superio-
1 | Mit der Wahl von geschlechtsneutralen Formulierungen folge ich den Vorgaben des Bandes zu einer geschlechtersensiblen Sprachregelung – allerdings ist die Quellenlage in Bezug auf das Thema Geschlecht nicht überall eindeutig. In Fällen etwa spezifisch auf männliche Delinquenten bezogener Strafformen oder des Vorhandenseins von ausschließlich als männlich bezeichneten Akteuren wurde das generische Maskulinum gesetzt. 2 | Für den Bereich der germanistischen Mediävistik hat Udo Friedrich eine diskursanalytische Untersuchung der Mensch-Tier-Grenze und ihrer Überschreitung vorgelegt (vgl. Friedrich 2009). Für das Thema in älteren Arbeiten vgl. etwa Salisbury 1994.
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rität des Menschen fest.3 Biblisch begründet und in den moraltheologischen Texten des Mittelalters fortgeschrieben wurde auch die Auflösung dieser Differenz im Menschen selbst, der sich durch seine Ratio zwar vom Tier unterscheide, nach der Vertreibung aus dem Paradies aber in seiner fortwährenden Sündhaftigkeit an der tierlichen Natur Anteil habe (vgl. Friedrich 2009: 62f.). Der Einfluss des christlichen Deutungshorizontes auf das Tierverständnis lässt sich auch an den tierkundlichen Schriften des Mittelalters ablesen, die keine Zoologie im modernen Sinn ausbreiteten, sondern Tieren didaktische Funktionen im Rahmen christlicher Allegorese zuwiesen (vgl. Pastoureau 2011: 11f.). Im berühmten Rhythmus über die Rose des Zisterziensers Alanus ab Insulis im 12. Jahrhundert hat diese die allegorische Auslegungsweise fundierende Ansicht, nämlich dass die gesamte Schöpfung und mit ihr auch die Tiere ein unermesslicher Vorrat an Zeichen seien, ihren vielleicht treffendsten Ausdruck gefunden.4 Die symbolisch-allegorische Dimension der Tiervorstellungen beeinflusste unterschiedlichste Bereiche der mittelalterlichen Theologie, Kunst und Literatur, aber auch der politischen und gesellschaftlichen Repräsentation. Tierbilder strukturierten jedoch nicht nur das Denken und dienten gerade in der Vormoderne als »Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung, der Strukturierung und Ordnung sowie der Deutung und Bewältigung von Welt« (Obermeier 2009a: 2), sondern konnten auch handlungsanleitend sein für konkrete Nutzungen von Tieren durch Menschen, die im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Funktion von Tieren als Sozialmarker ist vor allem für diffamierende Kennzeichnungen in den Bereichen der Häresieverfolgungen (vgl. Vincent-Cassy 1984) und des mittelalterlichen Antijudaismus (vgl. etwa Wiedl 2010) bereits intensiv erforscht. Im vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, dass das »Tier-Konstrukt« (Paul 2004) über die diffamierende Distanzierung zu als jeweils anders oder fremd wahrgenommenen Gruppen der mittelalterlichen Welt hinaus auch tatsächliche Auswirkungen auf menschlich-tierliche Interaktionen und auf Menschen und Tiere selbst haben konnte. An Beispielen aus dem Feld der vormodernen Rechtspraktiken und Schandrituale soll verdeutlicht werden, inwiefern das Tierverständnis nicht nur die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften an Sündigende und Lasterhafte, an Marginalisierte und Kriminalisierte fundierte, sondern gleichermaßen zur Verdinglichung von nichtmenschlichen Lebewesen führen konnte. 3 | Vgl. Gen. 1, 26: »et ait faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram et praesit piscibus maris et volatilibus caeli et bestiis universaeque terrae omnique reptili quod movetur in terra«. 4 | »Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est, et speculum. / Nostrae vitae, nostrae mortis, / nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum.« (Migne 1855: Sp. 579).
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TIERSTR AFEN
UND
TIERHALTERHAF TUNG
Das strafrechtliche Vorgehen gegen Tiere lässt sich bis zu jenen biblischen Vorgaben in Exodus 21 zurückverfolgen, nach denen ein Rind, das einen Menschen zu Tode gebracht hatte, gesteinigt werden sollte. Es war verboten, das Fleisch des Tieres nach der Steinigung zu verzehren. Die Tierhalterinnen hingegen blieben am Leben, es sei denn, ihnen war die Gefährlichkeit des Tieres vorher bekannt, und sie hatten es dennoch nicht sorgfältig verwahrt – dann sollten auch sie sterben, konnten sich aber durch Lösegeld freikaufen.5 Obwohl das weltliche Recht des Mittelalters diese biblische Formulierung wieder aufgriff, zielten die mittelalterlichen Rechtsvorschriften nicht auf die strafrechtliche Verfolgung der Tiere, sondern ihrer Halter (vgl. Schumann 2009: 40). Diese mussten für die Schäden, die ein Tier angerichtet hatte, durch die Zahlung von Wergeld aufkommen, dessen Höhe von der sozialen Stellung des Opfers und der Art der Verletzung abhing (vgl. Dinzelbacher 2006: 114f.). Dieser bereits in den germanischen Stammesrechten festgeschriebene Grundsatz blieb – trotz Differenzen im Detail – bis ins hohe Mittelalter erhalten. Noch der zwischen 1220 und 1235 entstandene Sachsenspiegel sieht die Eigentümerhaftung für durch Tiere entstandene Schäden vor, von der sich Tierhalter_innen durch die Preisgabe des Tieres an die Geschädigten befreien konnten. Davon ausgenommen waren nach dem Recht des Sachsenspiegels jene Fälle, bei denen ›wilde‹ Tiere gehalten wurden und bei denen die gefährlichen Eigenschaften des Tieres vorher bekannt waren (vgl. Steppan 2001: 150f.). Für die Straf barkeit der als unvernünftig angesehenen Tiere lassen sich jedoch weder im römischen, noch im kanonischen Recht oder den germanischen Stammesrechten des frühen Mittelalters Anhaltspunkte finden (vgl. Schild 2010: 185), und auch die weltlichen hochmittelalterlichen Rechte bieten keinerlei Hinweise auf Tiere, die vor Gericht angeklagt wurden (vgl. Dinzelbacher 2006: 114). Dennoch konzentrierten sich historische Forschungen zur Rolle von Tieren im mittelalterlichen Recht bislang im Anschluss an die Studie Karls von Amira (vgl. von Amira 1891) vor allem auf tierliche Akteure, die als Angeklagte vor weltlichen und kirchlichen Gerichten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verurteilt worden seien (vgl. Evans 1906, Berkenhoff 1937, Cohen 1989, Dinzelbacher 2006, Fischer 2005 und 2008). Auch neuere Untersuchungen beziehen sich in der Unterscheidung von Tierstrafen und Tierpro5 | Vgl. Ex. 21, 28-30: »si bos cornu petierit virum aut mulierem et mortui fuerint lapidibus obruetur et non comedentur carnes eius dominusque bovis innocens erit. quod si bos cornipeta fuerit ab heri et nudius tertius et contestati sunt dominum eius nec reclusit eum occideritque virum aut mulierem et bos lapidibus obruetur et dominum illius occident. quod si pretium ei fuerit inpositum dabit pro anima sua quicquid fuerit postulatus.«
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zessen auf die Untersuchung Karls von Amira (vgl. Dinzelbacher 2006: 113, 116f., Fischer: 2008: 5151). Demnach seien einzelne domestizierte Tiere, die Menschen verletzt oder getötet hatten, vor weltlichen Gerichten angeklagt und zum Tod durch verschiedene Todesstrafen verurteilt worden, teils nachdem sie vorher in Untersuchungshaft genommen und von einem menschlichen Verteidiger vertreten worden waren. Vor kirchlichen Gerichten dagegen seien Kollektive von Tieren angeklagt worden, die etwa die für Menschen bestimmte Ernte verzehrt hatten, und die nach der Vorladung vor Gericht, der Verteidigung ihrer Interessen durch einen Menschen, der Anhörung von Zeugen und nach gewissen Fristen zum Abzug von den Feldern schließlich exkommuniziert worden seien (vgl. Fischer 2008: 5152f.). Historische Berichte über diese Tierprozesse, bei denen alles »formal nicht anders zu[ging] als bei einem Verfahren gegen menschliche Angeklagte« (Dinzelbacher 2006: 110), sind erst ab dem 13. Jahrhundert überliefert, während normative Quellen oder Gerichtsakten für die Zeit des Mittelalters fehlen. Die rege Forschungsdiskussion zur Personifizierung und strafrechtlichen Verantwortung der Tiere in diesen Verfahren verkennt die jüngst von Eva Schumann vorgebrachte Kritik, die sich zu Recht an der oft betonten Abwesenheit aussagekräftiger Quellen zur tatsächlichen mittelalterlichen Strafpraxis festmacht (vgl. Schumann 2009: 42). Im Anschluss an die von ihr für den deutschen Rechtsraum vorgebrachten Thesen, dass einerseits die Texte über Tierprozesse vor kirchlichen Gerichten dem Genre der fiktiven Prozesse zuzuordnen sind (vgl. Schumann 2009: 37-40) und dass andererseits die Strafverfahren gegen einzelne Tiere vor weltlichen Gerichten keine realen Bestandteile der Strafrechtspraxis waren (vgl. Schumann 2009: 42f.), soll eine Diskussion über die Rolle von Tieren im mittelalterlichen Recht im Folgenden nicht anhand der Tierprozesse und Tierstrafen geführt werden.
TIERE ALS O PFER VON UND M ITE XEKUTIONEN
RECHTSRITUELLEN
T ÖTUNGEN
Säcken Existieren für die gegen Tiere gerichteten juristischen Strafen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtswirklichkeit und Strafpraxis nur wenig konkrete Anhaltspunkte, sollen anschließend gemeinsame Exekutionen von Menschen und Tieren von Interesse sein, die sich ausschließlich gegen die verurteilten Menschen richteten, »während die Einbeziehung, häufig auch Quälerei und Tötung der Tiere allein dem Vollzug der Strafe diente« (Schumann 2009: 27). Bei diesen »rechtsrituellen Tiertötungen« (Berkenhoff 1937:
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6) wurden nicht nur die verurteilten Menschen durch Tiere gepeinigt, sondern auch die Tiere, die keine Schuldvorwürfe trafen, getötet. Die »poena cullei«, ursprünglich eine römische Todesstrafe für Delikte des Verwandtenmordes, galt auch im Mittelalter als eine Sonderform des Ertränkens (vgl. Bukowska Gorgoni 1979, Lieberwirth 2008). Wurden die Verurteilten beim Ertränken an Armen und Beinen zusammengebunden und in ein Gewässer geworfen (vgl. Schild 1980: 204-206), nähte man sie beim Säcken zusammen mit bestimmten Tieren in einen Sack ein und ertränkte sie anschließend gemeinsam mit diesen. Diese Strafe des »Säckens« erwähnte Isidor Hispalensis im fünften Buch seiner um 623 veröffentlichten Enzyklopädie, in der der Bischof von Sevilla das ihm verfügbare antike Wissen sammelte und dem Westen tradierte. Nach ihm würden des Verwandtenmordes Schuldige mit einem Affen, einem Hahn und einer Schlange in einen Ledersack gesteckt und ins Meer hinabgestürzt.6 In den Schriften der Glossatoren tauchte die »poena cullei« mit der zunehmenden Rezeption des römischen Rechts ab dem 12. Jahrhundert wieder verstärkt auf (vgl. Bukowska Gorgoni 1979: 150), die tatsächliche Strafpraxis des Säckens ist jedoch nur in Spanien und vor allem in den Gebieten der deutschen Rechte wiederholt erwähnt (vgl. Bukowska Gorgoni 1979: 153f.). Obwohl der Totschlag von Verwandten im sächsisch-magdeburgischen Recht als besonders schimpflich betrachtet wird (Scheele 1992: 145), kennt der Sachsenspiegel das gemeinsame Ertränken von Menschen und Tieren nicht. Der um 1275 entstandene oberdeutsche Schwabenspiegel erwähnt zwar die Strafe des Säckens für den Mord an Verwandten, jedoch nicht die Beigabe von Tieren.7 Erst Johann von Buch, im 14. Jahrhundert Hofrichter der Mark Brandenburg, geht in der zwischen 1325 und 1333 verfassten Sachsenspiegelglosse wieder auf das Säcken zusammen mit Tieren ein.8 Ebenso wird in der um 1390 von Nikolaus Wurm kompilierten Sammlung von Magdeburger Schöffen6 | »Culleum est parricidale vasculum ab occulendo, id est claudendo dictum. Est autem uter ex corio factus, in quo parricidae cum simio et gallo et serpente inclusi in mare praecipitantur. Omnium autem istarum mortium genus animadversio nominatur.« (Lindsay 1911: Abschnitt 27, 36). 7 | »Swer sinen mac ertoetet ane schulde heimelich oder ofenlich, dem sol man machen einen liderinen sac, unde sol in dar inne senken in ein wazer, daz si reine oder unreine, unz an den grunt, unde sol in dar inne lazen sterben. daz ist da von gesezet, daz weder liute noch vihe noch sunne noch mane sinen tot an sullen sehen von siner unreinikeit.« (Wackernagel 1840: 266). 8 | »So nemen leges eynerlege mordere vt dorch orer bosheit willen, daz sint de, de oren vader edder moder edder kint edder ore elderen, wo de heten, elderen heten morden. Den edder de dat bewisten, de scholde me besuwen in ener hud mit eneme hunde vnde mit eme apen vnde mit ener adderen vnde mit eneme hanen.« (Kaufmann 2002: 616f.).
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sprüchen (Blume von Magdeburg) die Beigabe von Tieren beim Säcken erwähnt. Wer »seinen vater odir muter totit odir andir sein elderen« sollte zuerst mit glühenden Zangen gerissen und nachher zusammen mit einem Affen, einer Natter, einem Hahn und einem Hund in einem Ledersack ins Wasser geworfen werden.9 Die Bemerkungen zum Säcken im bedeutendsten Rechtsbuch der Frühen Neuzeit, dem im Jahr 1509 zum ersten Mal gedruckten Laienspiegel des Ulrich Tengler, sind besonders aufschlussreich für die Nutzung der Tiere in diesem Strafritual. Wer einen Nahestehenden tötet, solle mit Affen, Hund, Hahn und Natter in einen Ledersack genäht und ins Meer oder in ein anderes fließendes Gewässer geworfen werden, heißt es zunächst.10 Im Reichsrecht würde dieser Brauch als grausam angesehen, nicht nur wegen der durch die Tiere verursachten Verletzungen der Delinquenten, sondern vielmehr darum, weil die aus den Eigenschaften der Tiere resultierenden Bedeutungen auf die Herabwürdigung des Verurteilten hin abzielten.11 So sei der Missetäter durch sein Tun blind gegenüber seinem Nächsten gewesen, genau wie die nach ihrer Geburt für einige Tage blinden jungen Hunde, ebenso wird die Frechheit des Hahns mit dem Verhalten des Verurteilten in Verbindung gebracht. Die Natter schließlich bezeichne das Unglück des Übeltäters und seines Opfers gleichermaßen, da die weibliche Natter einerseits ihrem Männchen den Kopf abbeißen würde, den dieses bei der Paarung in ihr Maul stecke, andererseits würde sie bei der anschließenden Geburt selbst getötet, da sich ihre Jungen den Weg aus ihrem Leib beißen würden.12 Interessant sind vor allem Tenglers Bemerkungen zum 9 | »Wer seinen vater odir muter totit odir andir sein elderen, den sol man mit gluhindin czehenen slahin, daz [man] keins ganczis an im blybit. Vnd sol in in einen lederin sag vornehin mit einem affin vnde einr notern und mit einen hanen und mit einem hunde, und sol in werfin in ein wazsir.« (Böhlau 1868: 169). 10 | »[Peen die ir nächst freünd ertödten] Beuelhen mit samt ainen Affen / Hund / Cophan vnd Vippernater / lebendig in ain[n] lederin sack verna٧ et / in ain nahend mer oder fliessend wasser werffen / damit er aller element an fahen z u٩ mangeln / allain dem hymel über beliben / vnd dem ertrich also todter benomen / biß er vom leb[e]n zum tod gericht als [ect.] vt supra.« (Tengler, Laienspiegel http://daten.digita le-sammlungen.de/bsb00002001/image_330 letzter Zugriff: 29.04.2013). 11 | »[Nota] Dise peen / wirdet in Kaiserlich[e]n recht[e]n vor andern für grausam gesetzt / vnd nicht allain / von dess schmertzen wegen / so der übelth a٧ ter / von den thieren empfahen / sonder von nachfolgennden natürlichen bedeütungen / so die thyer an iren aigenschafften m o٧ gen oder sollen haben.« (Ulrich Tengler, Laijen Spiegel, ebd. und http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00002001/image_331 letzter Zugriff: 29.04.2013). 12 | »Zum andern / Als [der] hund etlich tag nach seiner geburd blind allso ist auch der übeltha٧ ter mittsehennden augen an seinem n a٧ chsten fründ blind gewesen. Zum
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Affen, dessen Verfügbarkeit für die konkrete Strafvollstreckung jedoch zweifelhaft erscheint (vgl. Kisch 1954: 76-80), und der durch eine leichter zu beschaffende Katze ersetzt werden konnte (vgl. Bukowska Gorgoni 1979: 155). Während der Affe dem Menschen von allen Tieren am ähnlichsten sei, aber dennoch ein unvernünftiges Tier, hätte der Übeltäter zwar eine menschliche Natur, aber seine der Vernunft widersprechende Tat sei unmenschlich.13 Die Ratio erscheint hier nicht nur als Kriterium der Distinktion, sondern auch als derjenige Punkt, an dem die Grenze zwischen Mensch und Tier überschritten wird, wenn die Verurteilten durch ihre Missetat auf das »animalische Substrat menschlichen Verhaltens« (Friedrich 2009: 63) verwiesen werden. Wie Tengler jedoch bemerkte, werde diese Strafe »auß mangel der thier« nicht mehr verhängt, sondern durch Schwert- und andere Todesstrafen ersetzt.14 Die Strafe war insbesondere für Frauen, vor allem Kindsmörderinnen, oder wegen Abtreibung vorgesehen, sie konnte ebenfalls gegenüber Männern, etwa für den Mord an engen Verwandten oder anstelle der Galgenstrafe verhängt werden (vgl. Lieberwirth 2008: 1417f.). Höhepunkte der tatsächlichen Vollstreckung des Säckens liegen im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. Bukowska Gorgoni 1979: 154), während die »poena cullei« für Verwandtenmord im sächsischen Recht bis ins 18. Jahrhundert weiterhin in Gebrauch war (vgl. Laufs 1985: 119), allerdings konnte das Säcken durch die Strafe des Räderns ersetzt werden, falls kein geeignetes Gewässer vorhanden war (vgl. Bukowska Gorgoni 1979: 155). Neben dem peinlichen Quälen der Verurteilten durch Bisse der in dem Sack befindlichen Tiere scheint die strafverschärfende und symbolische Bedeutung der beigegebenen Tiere in einem Maß wichtig gewesen zu sein, dass auch die Beigabe von Zetteln erlaubt wurde, auf denen die nicht verfügbare Schlange nur aufgemalt war (vgl. von Hentig 1954: 305).
dritten / Als der Cophan vor anderen vogelen über sein kreft fr a٧ ch vnd trutzig / Also ist [der] übeltha٧ ter über menschlich krefft / z u٩ uil frech vnd trutzig auff seinen freünd gewesen. Zum vierden / so bedeüt die vippernater des übeltha٧ ters vnd get o٧ dten vnglück / dann wenn die selb[e]n slangen / mit ainan[der] brunsten / so steckt das m a٧ ndlich / sein haubt dem weiblch / in sein maul / alßdann beißt sy jm vor girden den kopff ab. Wen[n] auch die jungen zeytig werden / so erwarten sy nicht alle der engen geberstat halben / sonder beyssen sich selbs auß irer m u٩ ter leib.« (Ulrich Tengler, Laijen Spiegel http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00002001/image_331 letzter Zugriff: 29.04.2013). 13 | »Von ersten / Als der aff vor andern vnuernünfftigen thyeren vil menschlicher gleichnuß vnd gestalt hat / vnd ist doch kain mensch Also was diser übelt a٧ ter ain menschliche natur / aber sein mißthat vnuernünfftig vnd vnmenschlich.« (ebd.). 14 | »Doch ist dise peen nit allenthalben im gebrauch / auß mangel der thier / sonder man ertrenckt oder richt sy mit dem schwert oder ander peen.« (ebd.).
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Hängen mit Hunden Dass die Verwendung von Tieren bei peinlichen Strafen mit der Diffamierung und dem sozialen Ausschluss der Delinquent_innen noch im Sterben einherging, wurde insbesondere für das Hängen mit Hunden intensiv erforscht (vgl. Kisch 1954, Schnitzler 2002 und 2003). Bereits das Erhängen galt als unehrenhafte Strafe, die im Mittelalter vorrangig für Diebstahlsdelikte verhängt wurde15 und die mit der Heimlichkeit der begangenen Missetat korrespondierte. Die Schimpflichkeit der Galgenstrafe offenbart sich auch daran, dass die Hingerichteten nach der Exekution nicht vom Galgen abgenommen wurden und dass es verboten war, den Erhängten ein christliches Begräbnis zukommen zu lassen (vgl. Schild 1980: 197). Mit offener Gewalt begangene Delikte wie Totschlag hingegen zogen die als ehrenvoller angesehene Strafe der Enthauptung durch das Schwert nach sich (Scheele 1992: 66), wobei die Heimlichkeit auch bei Tötungsvergehen als strafverschärfendes Element und bei Mord neben dem Verbergen des Opfers als entscheidendes Merkmal der Heimtücke angesehen wurde, das die Strafe des Räderns nach sich zog (Scheele 1992: 137). Als Verstärkung der Schimpflichkeit dieser Strafe kann das Hängen an den Füßen gelten, eine Sonderform des Henkens, bei der die Verurteilten kopfüber ohne eine Strangulation gehängt wurden, so dass sich ihre Leidenszeit verlängerte und der Tod unter Umständen erst nach einigen Tagen eintrat. In den Annalen von Colmar wird zum Jahr 1296 über das Hängen an den Füßen als Exekutionsform eines jüdischen Diebes berichtet, der die Tortur acht Tage überlebte und sich sogar befreite, aber wegen der Verletzungen an den Füßen nicht fliehen konnte.16 Zur weiteren Entehrung konnten bei dieser besonderen Form der Strafe zwei Hunde mitgehangen werden, die zum einen dazu dienten, den Delinquenten durch ihre Bisse zu verletzen. Zum anderen begründeten die Tiere als abwertendes Zeichen die öffentlich sichtbare Demütigung der Missetäter und durch den damit verbundenen Ehrverlust auch ihre soziale Exklusion (vgl. Schnitzler 2002: 300, Jütte 1995: 158). Die Angaben in der Chronik des Dietrich Westhoff machen deutlich, dass mit der Beigabe von Hunden über die öffentliche Entehrung hinaus auch eine Gleichsetzung des Verurteilten mit den Tieren intendiert sein konnte. Der Dortmunder Chronist berichtet zum Jahr 1486 über die Hinrichtung eines Juden in Dortmund, der wegen Diebstahl dazu verurteilt worden war, an den Füßen zwischen zwei Hunden und
15 | »Den def scal men hengen.« (Eckhardt 1955: 141, vgl. Schild 1980: 197f.). 16 | »Iudeus in anno precedenti pro furto in Sultzematin per pedes suspenditur, qui octo diebus supervixit et se elevans super patibulum liberavit; sed propter lesiones pedum fugere non valebat.« (Pertz 1861: 222, vgl. Kisch 1954: 80f.).
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an einem besonderen Galgen gerichtet zu werden.17 Zusammen mit ihm seien die Hunde zuerst lebendig in Säcken aufgehängt worden, die man danach öffnete, und mit der Bemerkung »do hengen die drei hunde tosamen am galgen« schließt Westhoff seinen Bericht.18 Der Vergleich der religionsgesetzlich unreinen Hunde mit Andersgläubigen, insbesondere als Herabwürdigung des Judentums, ist auch aus der mittelalterlichen Literatur bekannt.19 Im Rahmen von Diffamierungs- und Exklusionspraktiken des vormodernen Antijudaismus zielten Tiervergleiche über die Angriffe auf die Würde des Einzelnen oft auf die »Diffamierung der gesamten Judenheit« (Jütte 1995: 159). Es muss aber bemerkt werden, dass das Hängen an den Füßen wie auch die Galgenstrafe mit Hunden sowohl für Christen als auch für Juden überliefert ist und erst seit dem 14. Jahrhundert vorrangig für wegen schweren Diebstahls verurteilte Juden überliefert wurde (vgl. Jütte 1995: 159). So war auch im Recht des Sachsenspiegels für schweren Diebstahl die reguläre Galgenstrafe vorgesehen, wobei für jüdische Dieb_inne keine Ausnahmen gemacht wurden.20 Ebenso sollten Juden in gleicher Weise wie Christen hingerichtet werden, wenn sie eine Gewalttat gegen Christen begangen hatten.21 Ähnliches bestimmte die Sachsenspiegelglosse des Johann von Buch (vgl. Kisch 1954: 70). Das einzige Rechtsbuch, in dem das Hängen mit Hunden ausdrücklich beschrieben und in einen Zusammenhang mit jüdischen Dieben gestellt wurde, ist der Laienspiegel des Ulrich Tengler (vgl. Hattenhauer 2011). Im dritten Teil des Laienspiegels heißt es »Von Juden straff«, dass Juden_Jüdinnen nach dem Schleifen zur Richtstätte zwischen zwei beißenden Hunden an
17 | »[...] dat man ine hangen sol bij den voten upvart levendigs an ein sunderlige galge und dat hovet nedervart to der erden tuschen 2 levendige hunde.« (Hansen 1887: 349, vgl. Aschoff 1988). 18 | »Und ist volgens up einer karren mit twein hunden uetgevoert, wort im oeck ein eigen galge van holte getimmert, und als die hunde oeck bij den voten levendig upgehangen worden in secken, toeg man dar nach die secke unden af, do hengen die 3 hunde tosamen am galgen und oek ires levens ende genommen.« (Hansen 1887: 349, vgl. Aschoff 1988, Schnitzler 2002: 301). 19 | Vgl. für deutsche mittelalterliche Texte Frey 2007 und für die mittelniederländische Literatur Cluse 2000: 297-305. 20 | »Sleit de jode enen kerstenen man, oder dut he eme ungerichte, dar he mede begrepen wert, men richtet over ene alse over enen kerstenen man.« (Eckhardt 1955: 198). 21 | »Koft de jode oder nimt he to wedde kelke oder buke oder gerwe, dar he nenen weren an hevet, vint men it binnen sinen weren, men richtet over ene alse oven enen def.« (Eckhardt 1955: 199, vgl. Kisch 1954: 69).
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einem besonderen Galgen an den Füßen gehängt werden sollten.22 Falls sie sich in dieser Zeit zum Christentum bekehrten, konnte die Strafe in eine weniger verunglimpfende Todesstrafe abgemildert werden, zudem würde ihnen ein christliches Begräbnis zuteilwerden.23 Sollte der Bekehrte jedoch wieder vom christlichen Glauben abfallen, wurden diesem weitere grausame Strafen und der vorrangig für Zauberei- und Ketzereidelikte vorgesehene Tod durch das Feuer angedroht.24 Aber auch bei Tengler steht diese Exekutionsweise nicht als allgemeine »Judenstrafe«, denn sie folgt im Laienspiegel unmittelbar nach den Galgenstrafen für schweren Diebstahl und bezieht sich ausschließlich auf durch Juden verübte Diebstahlsdelikte (vgl. Hattenhauer 2011: 314).
Ahndung von Sexualdelikten Das »Animalische« im Menschen offenbarte sich nach mittelalterlichen Vorstellungen nicht nur in seinem vernunftwidrigen, rechtsbrecherischen Handeln, sondern auch in seinem lasterhaften Sexualverhalten. Geläufig war die Unterscheidung von menschlicher Ratio und der dem tierlichen Bereich zugeordneten sexuellen Lust (vgl. Salisbury 1994: 61f.). Einzelne Tiere wie die Hyäne oder der Ziegenbock galten als Repräsentanten menschlicher sexueller Ausschweifung oder Devianz, bestimmte menschliche Sexualpraktiken wurden mit dem Verkehr von Tieren gleichgestellt, wie es Alexander von Hales im 13. Jahrhundert in seiner Summa Theologica über das Verlangen eines Mannes,
22 | »Den Juden zwischen zwayen w u٧ etend od[er] beyssenden hu[n]den z u٩ der gewondlichen richtstatt ziehen vel schlaiffen mitt dem strang oder ketten / bey seinen f u٧ ssen an ainen besonderen galgen zwischen die hund nach verkerter maß henckeg / damit er also vom leben zum tod gericht werd / in seinem plinden jüdischen vnglauben / sein straff vun peen / andern meniklich[e]n [ect.]« Ulrich Tengler, Laijen Spiegel, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00002001/image_328 letzter Zugriff: 29.04.2013. 23 | »Ob sich der Jud auß grausam der peen bed a٧ cht / vnd begeren wurd / als ain christ z u٩ sterben und christenlichen glauben anz u٩ nemen / So mo٧ cht man als dann mit der volziehung still steen / biß er den glauben in v a٧ nknuß lernen / vnd getaufft. Vnd jn alßdann widerumb für gericht f u٧ ren / verurtailen vnd richten als ainen christen / Wo er auch das hailig sacrament begeren wurde jm dasselb nach radte / der gaistlichait / deßgleichen christenliche begrebnuß mittailen lassen.« Ulrich Tengler, Laijen Spiegel, ebd. und http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00002001/image_329. 24 | »Auch mag man jm sagen / Wo er nach dem tauff widerumb abfallen / so wurde er schwa٧ rlicher gepeiniget / weder ander k a٧ tzer / im feür vnd mit andern grausam[m] en peen gestrafft.« (ebd.).
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seine Frau nach »Art der Tiere« (»modus brutalis«) zu erkennen, schreibt.25 Der als »bestialitas« bezeichnete sexuelle Umgang zwischen Menschen und Tieren wurde in mittelalterlicher Sicht unter die »peccatum contra naturam« gezählt, wie auch gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen Menschen und nicht zur Zeugung dienende Sexualpraktiken zwischen Männern und Frauen (vgl. Reinle 2007: 166f). Die Summa Theologica des Thomas von Aquin definierte im zweiten Teil der Morallehre das »Vergehen gegen die Natur« (»vitium contra naturam«) als Selbstbefriedigung, den als »sodomiticum vitium« bezeichneten Verkehr mit dem gleichen Geschlecht und als weitere abweichende Sexualpraktiken. Als »bestialitas« bezeichnete Thomas die Paarung mit einer Sache (»res«), die nicht der gleichen Spezies angehört.26 Eine Besonderheit bei der Strafverfolgung der »bestialitas« bestand darin, dass bisweilen auch die beteiligten Tiere getötet wurden. Der sexuelle Kontakt zu Tieren findet sich zuerst als ein kirchenrechtlich geahndetes Vergehen, für das die menschlichen Missetäter verschiedene Bußen erhielten, die von Alter und Stand der Täter, aber auch von der »qualitas« der Tiere abhingen (vgl. Lutterbach 1999: 161-165). Der achte Kanon des Konzils von Nablus schrieb im Jahr 1120 zum ersten Mal die Todesstrafe durch Feuer für Sodomiedelikte vor: Wer Sodomie betreibe, solle verbrannt werden, dies gelte für beide Parteien, wobei Tiere nicht ausdrücklich aufgeführt wurden.27 Die Erwähnung einer Todesstrafe für die »bestialitas« in den westfränkischen Reichsannalen (Annales Bertiniani) zum Jahr 846 ist für das Frühmittelalter als Einzelfall zu werten. Ein Mann, der in der Fastenzeit beim sexuellen Verkehr mit einer Stute entdeckt wurde, so heißt es dort, wurde lebendig verbrannt, während über die Mittötung des Tieres keine Nachricht überliefert ist.28 25 | »Sed dicendum est potius quod peccat vir sic cognoscendo uxorem modo brutali, nec necessitas eum excusat a toto, licet diminuat quantitatem peccati; et licet non sit modus cognoscendi contra naturam generalem, est tamen modus cognoscendi contra modum naturae rationalis.« (Marrani 1930: 656, vgl. Salisbury 1994: 63f.). 26 | »Uno quidem modo, si absque omni concubitu, causa delectationis venereae, pollutio procuretur: quod pertinet ad peccatum immunditiae, quam quidam mollitiem vocant. Alio modo, si fiat per concubitum ad rem non eiusdem speciei: quod vocatur bestialitas. Tertio modo, si fiat per concubitum ad non debitum sexum, puta masculi ad masculum vel feminae ad feminam, ut apostolus dicit, ad Rom. I, quod dicitur sodomiticum vitium. Quarto, si non servetur naturalis modus concumbendi: aut quantum ad instrumentum non debitum; aut quantum ad alios monstruosos et bestiales concumbendi modos.« (Commissio Leonina 1899: 244). 27 | »Si quispiam adultus sodomitica nequicia se sponte polluisse probatus fuerit, tam faciens quam paciens comburatur.« (van Eickels 2009: 66). 28 | »Quadam die iunior[um] cum equa coiens repertus, iudicio Francorum vivus incendio crematur.« (Waitz 1883: 34, vgl. Reinle 2007: 177).
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Dass sich die Strafen für den sexuellen Umgang mit Tieren nicht nur auf die menschlichen Delinquenten, sondern auch die missbrauchten Tiere erstreckten, offenbaren die Überlegungen der Kanonisten des 11. Jahrhunderts wie die des Ivo von Chartres, der für menschliche Täter Kirchenbußen vorsah. In seinem Decretum geht er auch auf die Frage ein, warum ein unvernünftiges Tier, das in keiner Weise empfänglich für Gesetze sei, angeklagt und getötet werden sollte, dies begründet er mit der Verunreinigung durch die Schandtat und der ständig erneuerten Erinnerung an diese.29 Auch die mittelalterlichen Bußbücher und Bußsummen, die als eine der Hauptquellen für die mittelalterliche Sexualmoral gelten können (vgl. Salisbury 1994: 70, Dinzelbacher 1994, 53, 56), äußern sich mehrfach zum Thema. Im Anschluss an biblische Vorschriften, in denen sexueller Verkehr mit Tieren unter die todeswürdigen Vergehen gezählt wurde, und nach denen alle Beteiligten getötet werden sollten30, schreibt etwa der englische Theologe Thomas Chobham in seiner um 1215 entstandenen Summa Confessorum, dass das Tier getötet, verbrannt und vergraben werden sollte, damit die Erinnerung an das Verbrechen durch das Tier nicht erneuert werde.31 Für die menschlichen Täter hingegen waren in den Bußsummen verschiedene Kirchenbußen vorgesehen. Das Motiv, mit der Beseitigung der beteiligten Akteure auch die Erinnerung an die Tat auszublenden, konnte sogar dazu führen, dass bei »bestialitas«-Delikten auch die Prozessakten vernichtet wurden (vgl. Dinzelbacher 2006: 126). Als Sanktion für die »bestialitas« war im weltlichen Recht ab dem 13. Jahrhundert das Verbrennen vorgesehen, eine Hinrichtungsart, die nicht nur bei Sodomie und schweren Sexualstraftaten, sondern auch im Zusammenhang mit Häresie- und Zaubereidelikten verhängt wurde (vgl. Schild 1980: 204). Weltliche Strafen für Sodomiedelikte sind in den Rechtsbüchern im Reich vor dem 13. Jahrhundert nicht überliefert (vgl. Reinle 2007: 178), noch die große Laienrechtssammlung des Sachsenspiegels kennt keine Sodomiedelikte, während der spätere Schwabenspiegel durch Gerede oder Schriften verbreitete Gerüchte über Sodomie, über den Verkehr mit Tieren oder über angebliche Ketze-
29 | »[Quare pecus humana commistione pollutum jussum sit interfici]. [...] Quaeritur quomodo sit reum pecus, cum sit irrationabile nec ullo modo capax legis? [...] Pecora inde credendum est jussa interfici, quia tali flagitio contaminata, indignam refricant facti memoriam.« (Migne 1855a: Sp. 686, vgl. Salisbury 1994: 74). 30 | Lev. 20, 15f.: »qui cum iumento et pecore coierit morte moriatur pecus quoque occidite. mulier quae subcubuerit cuilibet iumento simul interficietur cum eo«. 31 | »Gravior tamen omnibus est eorum penitentia qui cum bruto animali luxuriam exercent. In primis enim debet pecus illud occidi et comburi vel subterrari, ne per ipsum memoria criminis refricetur et ne ipsum in usus transeat humanos.« (Broomfield 1968: 402, vgl. Salisbury 1994: 78).
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rei mit Rädern bestraft wissen will.32 Als erster weltlicher Rechtstext überhaupt überliefert das um 1328 verfasste Freisinger Rechtsbuch die gemeinsame Hinrichtung von menschlichen Missetäterinnen und Tieren. In dem Rechtsbuch, mit dem Ruprecht von Freising regionale Gewohnheitsrechte zusammenstellte und dabei in großen Teilen den Rechtssätzen des Schwabenspiegels folgte, wird aufgeführt, dass eine Bezichtigung wegen Sodomie Zeugen vor Gericht mit drei Eiden bekräftigt werden sollte. Auch das Tier habe als zweiter Zeuge vor Gericht zu erscheinen, anschließend sei der als »viech vnrainer« bezeichnete Täter auf das Tier zu legen und zusammen mit diesem zu verbrennen.33 An der Wende zur Frühen Neuzeit schließlich führte das Reichsrecht der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. die Feuerstrafe für Delikte »wider die Natur« zwischen Menschen und Tieren sowie für gleichgeschlechtlichen Verkehr auf, wobei jedoch offen bleibt, ob die beteiligten Tiere mit hingerichtet werden sollten.34 Nur am Rande sei erwähnt, dass die Sodomie einerseits ab dem 13. Jahrhundert im weltlichen Recht unter die Ketzerei gezählt wurde (Reinle 2007: 193), aber andererseits auch in den inquisitorischen Vorstellungen von Ketzereidelikten ab dem 12. und 13. Jahrhundert und den Verfolgungen von als »Hexen« bezeichneten Frauen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit eine bedeutende Rolle spielte, in denen sich Ansichten über Teufelsverwandlung und den Kuss unter den Schwanz eines schwarzen Katers, über sodomitische Praktiken und magische Kulte miteinander verbanden (vgl. Hergemöller 2007). Weitere Verfahren der Mittötung von Tieren im Mittelalter wurden im weltlichen Recht für als »notzucht« bezeichnete Vergewaltigungen aufge32 | »Verrater heizen wir die, die mit ir rede einen verpalmundent, daz si in sagent von siner cristenheit, also daz si sagent, er si ein Sodomite, oder er habe vihe geunreinet, oder si ein kezzer; mugen si daz niht uf in erziugen: so sol man si radebrechen. Und die ez niht geturren gereden, die schribent briefe oder heizent si ander liute schriben, und sezent die selben mit namen dar an, und werfent si an die strazen, daz si die liute uf heben und si lesen: daz ist ein mort, und were ein tot noch wirser dann der ander, man sol im in tun.« (Gengler 1853: 106, vgl. Reinle 2007: 193f.). 33 | »[Ob man ainen bey ainem viech ligen vinndt]. jst das ein man oder ein fraw ainen zeicht er sey ein viech vnrainer vnnd das hab er gesehnn. vnnd ob das für gerichtt kümbt so sol er jn nur zu dreyenn aidnn vberwindnn das er jn alzo fundenn hab als er jn für geit. es sol auch das viech engegnn sein da er jn bey fundenn hab. das sol sein der annder zeug. wirt er überwundenn so sol man jn legenn auf das viech. vnnd sy paide jn vnd das viech verprennen.« (von Maurer 1839: 292, vgl. Dinzelbacher 2006: 126). 34 | »[Straff der vnkeusch, so wider die natur beschicht] Item so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten.« (Kaufmann 1980: 81).
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führt (Berkenhoff 1937: 116f.). Aus dem Landrechtsteil des Sachsenspiegels ist zu entnehmen, dass bei der Vergewaltigung einer Frau alles Lebendige, das im Haus anwesend war, getötet werden sollte.35 Dass darunter neben den an der Tat unbeteiligten Menschen auch Tiere wie Pferde, Rinder, Hunde, Katzen, Gänse und Hühner verstanden wurden, macht eine Bestimmung des Schwabenspiegels deutlich. Während als Strafen für den Täter die Enthauptung oder das Begraben bei lebendigem Leibe vorgesehen waren, sollten diejenigen, die der Frau keine Hilfe geleistet hatten, genauso getötet werden wie die im Haus befindlichen Tiere. Auch das Haus, in dem die Vergewaltigung stattgefunden hatte, sollte zerstört werden.36 Obwohl nicht ausdrücklich erwähnt, ist davon auszugehen, dass diese Wüstung und die Tötung der Anwesenden auch hier erfolgen sollte, um die Erinnerung an die Tat zu beseitigen (vgl. Schild 2010: 186). In der um 1300 entstandenen Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels wird dieser Rechtsbrauch in einer den Text begleitenden Miniatur, auf der die Enthauptung zweier Vögel dargestellt ist, eindringlich illustriert.37
TIERE
ALS
H INRICHTUNGSINSTRUMENTE
Neben diesen Rechtspraktiken der Mitexekution von Tieren konnten tierliche Akteure als Schand- oder Hinrichtungsinstrumente von verurteilten Menschen dienen. Ein frühes Beispiel für die Beteiligung von Tieren an mittelalterlichen Todesstrafen bietet das Los der Königin Brunichilde (vgl. Scheibelreiter 2002, Weber 2004), die nach ihrer Gefangennahme durch den Frankenkönig Clothar II. im Jahr 613 erst gefoltert, dann auf einem Kamel vorgeführt und anschließend an ein Pferd gebunden und von diesem zerrissen worden sein
35 | »Al levende dink, dat in der notnumft was, dat scal men unthoveden.« (Eckhardt 1955: 195). 36 | »Unde ist daz ein maget oder ein wîp in nôtnümfte genomen ist, unde wirt in ein hûs gefüeret wider ir willen, oder ob ez dar inne geschihet; unde si ruofet, unde ir kumet niemant zuo helfe; unde mac man des die liute unde daz hûs überziugen selbe dritte mit den, die ir ruofen hânt gehoeret: man sol über die liute rihten alsô, daz man in daz houbet abe slahe. man sol allez daz toeten daz in dem hûse ist gewesen, liute unde vie, ros unde rinder, hunde unde kazen, gense unde hüenre. unde ist si ein maget gewesen, unde mac man daz irvinden, sô sol man in, der ez dâ hât getân, alsô lebendingen begraben. unde ist ez ein wîp gewesen, sô sol man in houpten. unde daz hûs dâ ez dâ inne ist geschehen, daz sol man ûf die erden slahen.« (Wackernagel 1840: 201f.) 37 | Die Abbildung ist online einzusehen unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg164/0038 letzter Zugriff: 30.04.2013.
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soll, wie es der Verfasser der um 658 entstandenen Fredegar-Chronik aus zeitgenössischer Perspektive darstellt.38 Als »damnatio ad bestias« sind Verurteilungen zum Tod durch Tiere bereits im Altertum bekannt. Bei der seit der Antike praktizierten Zerreißung von Menschen durch Tiere, die vorrangig als Strafe für verschiedene Delikte des Verrats vorgesehen war (vgl. van Dülmen 1988: 127, Schild 1980: 206), wurden die Verurteilten an Händen und Füßen zumeist an vier Pferde gebunden, so dass ihnen die Gliedmaßen herausgerissen wurden. Nach dem Prinzip der »spiegelnden Strafen«, das den deliktspezifischen Zusammenhang von Schuld und Strafe auch für die Öffentlichkeit sichtbar machte, entsprach die Abtrennung der einzelnen Körperglieder der bewussten Trennung vom jeweils Vertrauten durch den Verrat (Ohly 1995: 430). Noch der wohl berühmteste Bericht über die außergewöhnliche Hinrichtung des Königsmörders Robert François Damiens im Jahr 1757 macht die Schwierigkeiten dieser Hinrichtungsform deutlich. Nach dem Anschlag auf den französischen König Ludwig XV. war Damiens zur Folter verurteilt worden, anschließend sollte »sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden« (Foucault 1992: 9). Den vier Pferden gelang es aber nicht, den Attentäter zu zerreißen, so dass zuerst zwei weitere Pferde vorgespannt wurden, die aber nach weiteren erfolglosen Versuchen widerspenstig wurden, so dass sich die Scharfrichter schließlich mit Messern behelfen mussten (vgl. Foucault 1992: 10f.). Auch weil das Zerreißen durch Pferde sehr aufwändige Vorbereitungen beinhaltete und es zudem eines großen Platzes bedurfte, wurde diese spektakuläre Hinrichtungsform häufig durch das Vierteilen ohne Tiere ersetzt, bei dem die Verurteilten mit dem Beil in vier Teile zerhackt wurden, teilweise erst nachdem man ihnen vorher die Eingeweide entnommen hatte (vgl. Schild 1980: 206f., von Hentig 1954: 338). In der mittelalterlichen Literatur wurde das Vierteilen und Zerreißen vielfach thematisiert, auch ist es in historiographischen Berichten seit dem 12. Jahrhundert häufig erwähnt (vgl. Ohly 1995: 428f.). Als reguläre Strafart jedoch kann das Zerreißen durch Tiere bis ins 18. Jahrhundert hinein nur selten belegt werden (vgl. Ohly 1995: 431), im weltlichen Recht des deutschen Sprachraums ist nur die Strafe des Vierteilens, nicht jedoch der Zerreißung durch Tiere nachzuweisen. Noch der Sachsenspiegel will Verräter (»vorredere«) neben Mördern, Räubern und Brandstiftern mit der Strafe des Räderns bestraft wis-
38 | »[...] per triduo eam diversis tormentis adfectam, iobetque eam prius camillum per omne exercito sedentem perducere, post haec comam capitis, unum pedem et brachium ad veciosissemum aequum caudam legare; ibique calcibus et velocitate cursus membratim disrumpetur.« (Krusch 1888: 142, vgl. Ohly 1995: 428).
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sen.39 Dass Verratsdelikte nicht ausschließlich mit der Strafe des Vierteilens geahndet wurden, machen die Bestimmungen der Blume von Magdeburg deutlich, die das Enthaupten, das Sieden und das Aufsetzen eines mit siedendem Pech gefüllten Hutes als Strafen für diese Delikte vorsieht.40 Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 sieht für die »Straff der verreterey« die Vierteilung für männliche Übeltäter und die Ertränkung für Frauen vor. Bei schwerem Verrat konnte die Strafe durch vorheriges Schleifen oder Reißen mit Zangen erhöht werden. Auch war es möglich, die Verurteilten vor der Vierteilung zu köpfen.41 Der Leib der Missetäter_innen sei bei der Vierteilung zu vier Teilen zu zerhauen, die anschließend öffentlich ausgestellt werden sollten.42 Das Zerreißen durch Tiere spielte hier jedoch keine Rolle. Aber auch vor der Vollstreckung der eigentlichen Todesstrafe dienten Tiere zur Demütigung der Verurteilten, die an Pferde gebunden und auf dem Weg zur Richtstätte geschleift wurden (vgl. Laufs 1985: 118). Das Schleifen durch Tiere fand einerseits vor der Vollstreckung der eigentlichen Todesstrafe statt, wurde aber andererseits auch als eigenständige Todesstrafe angewandt (vgl. von Hentig 1954: 350). In England zählte das Schleifen hinter einem Pferd zur Richtstätte vor der Vierteilung zum festen Bestandteil der Strafen gegen als »Treason« bezeichnete Verrats- und Verschwörungsdelikte, die den König oder seine Angehörigen zum Ziel hatten (vgl. Bellamy 1970). Im deutschen Recht der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 findet sich das strafverschärfende Schleifen durch »die vnuernünfftigen thier« vor der Hin39 | »Alle modere und de den pluch roven oder molen oder kerken oder kerkhof unde vorredere unde mordbernere, oder de er bodescap werven [to eme vromen], de scal men alle radebreken.« (Eckhardt 1955: 142, vgl. Scheele 1992: 147). 40 | »Wirt einr eins uorretniss ubirwondin, alz recht ist, man slehit im sein houbt ab, vnd sein gut sol man im uorteilin. Ist auch dys ein gesworin, man peinigit in serer und seut in in einr pfanne vnd machit in einen hut uon peche und von swebel. Daz tut man auch, der seinen herrin uorred.« (Böhlau 1868: 166). 41 | »Item welcher mit boßhafftiger verreterey mißhandelt, soll der gewonheyt nach, durch viertheylung zum todt gestrafft werden, Wer es aber eyn weibsbilde, die solt man ertrencken, vnd wo solche verreterey grossen schaden oder ergernuß bringen möcht, als so die eyn landt, statt, seinen eygen herrn, bettgnossen, oder nahet gesipten freundt betreffe, so mag, die straff durch schleyffen oder zangenreissen, gemert, vnnd also zu tödtlicher straff gefürt werden, Es möcht auch die verreterey also gestalt sein, man möcht eynen solchen mißthetter erstlich köpffen vnd darnach viertheylen [...].« (Kaufmann 1980: 84, vgl. Laufs 1985: 118f., Steppan 2001: 149). 42 | »[Zu der viertheylung] Durch seinen gantzen leib zu vier stücken zu schnitten vnd zerhawen, vnd also zum todt gestrafft werden soll, vnnd sollen solche viertheyl auff gemeyne vier wegstrassen offentlich gehangen vnnd gesteckt werden.« (Kaufmann 1980: 116).
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richtung für Delikte wie Mord, Giftmord und die Tötung von nahestehenden Personen.43
TIERE
ALS
S CHANDOBJEK TE
Tiere dienten jedoch nicht nur in der regulären Strafvollstreckung als entehrende Beigaben, sondern wurden auch in außerrechtlichen Schandritualen zur diffamierenden Ausgrenzung und sozialen Sanktionierung abweichenden Verhaltens benutzt. Die Funktion der Tierbeigaben im außerrechtlichen Bereich konnte auch die von Esther Cohen als »Inversion« bezeichnete Gleichsetzung mit Tieren bedeuten, die nicht nur auf die soziale, sondern auch die menschliche Identität der Betreffenden zielte (vgl. Cohen 1993: 168). Von entscheidender Bedeutung war aber auch die Beteiligung der Öffentlichkeit an den Strafen, »[d]enn die Ehrenstrafe wurde im Grunde nicht von dem Scharfrichter oder dem Stadtknecht usw. vollzogen, sondern von der Öffentlichkeit selbst. In der Verspottung durch das Volk lag die eigentlichen Strafe, die infam machte« (Schild 1980: 212). Über die Verspottung und das Verlachen in der Öffentlichkeit hinaus griffen diese Strafformen die soziale Stellung der Einzelnen konkret an, »denn der Ehrlose war ein in seinen Rechten beeinträchtigter Mensch« (ebd.). Öffentliche Entehrung bedeutete etwa das Reiten auf bestimmten Tieren, bei dem Menschen, mit dem Gesicht zum Hinterteil des Tieres sitzend, vorgeführt wurden (vgl. Mellinkoff 1973). Infamierend waren dabei nicht nur die Reittiere wie Esel, Schafsböcke oder ›klapprige‹ Pferde, sondern auch das Rückwärtsreiten, bei dem die auf dem Tier Sitzenden gezwungen waren, sich an dessen Schwanz festzuhalten und ihr Gesicht dessen Hinterteil zu nähern (vgl. Cohen 1994: 69). Als Bildmotiv taucht das umgekehrte Reiten ab der Mitte des 14. Jahrhunderts in Schandbildern auf, die in von Gläubigern gegen säumige Schuldner gerichteten Scheltbriefen zu finden sind (vgl. Lentz 2004). Durch die Androhung, die Schandbilder öffentlich auszuhängen, sollten die ausstehenden Schulden mit Nachdruck eingefordert werden (Schreiner 1989: 198). Die visuell angedrohten öffentlichen Entehrungen zeigten die Schuldner oft an den Füßen am Galgen hängend, aber auch rückwärts auf einem Tier reitend, wäh43 | »[Vom schleyffen] Item wo durch die vorgemelten entlichen vrtheyl eyner zum todt erkent, beschlossen würde, daß der übelthätter an die richtstatt geschleyfft werden soll, So sollen die nachuolgenden wörtlin an der ander vrtheyl, wie obsteht, auch hangen, also lautend, Vnd soll darzu auff die richtstatt durch die vnuernünfftigen thier geschleyfft werden.« (Kaufmann 1980: 117, vgl. Laufs 1985: 118f., Steppan 2001: 149, 167ff.).
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rend die unehrlichen Bürgen, als Ausweis ihrer Unzuverlässigkeit, ihr Siegel unter den Schwanz des Tieres anbrachten.44 Aus dem Bereich des mittelalterlichen Antijudaismus ist das umgekehrte Reiten als Juden_Jüdinnen verunglimpfendes Bild und Relief in Form des sogenannten »Judensau«-Motives bekannt (vgl. Wiedl 2010). Das Rückwärtsreiten auf einem Esel oder einem anderen Tier konnte aber auch als Schandpraxis vom 8. bis zum 12. Jahrhundert zur symbolisch überhöhten Absetzung und Demütigung von Gegenpäpsten dienen, wie es Klaus Schreiner für den schimpflichen Aufzug des Gegenpapstes Gregor VIII. herausgearbeitet hat (vgl. Schreiner 1989). So wurde Gregor VIII. nach seiner Gefangennahme nackt auf einem als verachtungswürdiges Tier bezeichneten Kamel (andere Quellen nennen einen Esel) herumgeführt, wie die Pöhldener Annalen zum Jahr 1119 berichten, wobei der Gegenpapst mit Unrat und Kot beworfen wurde.45 Neben dieser Strafe zur päpstlichen Entehrung tauchte der Eselsritt auch in außerrechtlichen Spottritualen auf, mit denen verschiedene Verstöße gegen soziale Normen in der Öffentlichkeit geahndet wurden. Die Strafe erfolgte hier jedoch nicht als institutionelle obrigkeitliche Rechtsausübung, sondern wurde gemeinschaftlich, zumeist von einer Gruppe junger Männer, vollzogen. Als Form der sozialen Sanktion insbesondere bei Verstößen gegen die Ehemoral war der entehrende Eselsritt oft Bestandteil der als Charivari (»Katzenmusik«) bezeichneten lärmenden Umzüge, die bisweilen in der Karnevalszeit veranstaltet wurden. Während dieser Rügebrauch in Frankreich des 14. und 15. Jahrhunderts für Männer angewandt wurde, die des Ehebruchs bezichtigt waren, taucht er in Teilen des deutschen Sprachraumes im 16. Jahrhundert auf, wobei Frauen auf dem Esel reiten mussten, die ihre Männer geschlagen hatten oder Männer, die sich von ihren Frauen schlagen ließen (vgl. Schreiner 1989: 179f., Schild 2010: 183). In den Bereich der Ehrenstrafen mit Tieren einzuordnen ist auch das seit ottonischer Zeit bekannte Tragen von Hunden, ein Phänomen der mittelalterlichen Harmschar, bei der verschiedene Gegenstände oder ein Hund in der Öffentlichkeit getragen werden mussten, während die Schuldigen den Weg zumeist mit bloßen Füßen und im Büßergewand zurückzulegen hatten (vgl. Schwenk 1990: 304-307). Nach Stefan Weinfurter, der sich intensiv mit die44 | Zahlreiche Beispiele bietet der Katalog bei Matthias Lentz für Esels-, Schweine-, Pferde- und Kuhritte sowie für das Hängen an den Füßen (vgl. Lentz 2004). 45 | »Discedente igitur cesare, Romani, penitentia ducti, Calixtum devote revocaverunt, captivantes Burdinum qui confugerat Suderen. Hunc itaque nudum inposuerunt ex adverso super camelum, quod animal est despectivum. Sed et pueri veluti dementia vexatum cum luto insequentes clamabant: Ecce papa! Ecce papa!« (Pertz 1859: 76, vgl. Schreiner 1989: 167).
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sem Ritual auseinandergesetzt hat (vgl. Weinfurter 2004, 2005), unterlag die Bedeutung des Hundetragens vom 10. bis zum 12. Jahrhundert einer Transformation, die im veränderten Umgang mit Konflikten und dem Wandel des Herrscherideals im Mittelalter gründete (vgl. Weinfurter 2005: 216-218). Noch der Markgraf von Mailand musste im Jahr 1008 zur Befriedung eines von ihm verursachten Streites mit der Stadt Asti einen Hund in der Öffentlichkeit tragen, während der ebenfalls beteiligte Erzbischof von Mailand ein Buch zu halten hatte.46 Erscheint das Hundetragen hier noch als Mittel zur Aussöhnung, das an das positiv besetzte Bild des Hundes als Sinnbild der Treue anknüpfte47, stand seit dem 12. Jahrhundert die pejorative Deutungstradition des Tieres im Vordergrund. Das Tragen von Hunden wurde nunmehr als entehrende Strafe praktiziert, die als Ersatz oder im Vorfeld von weiteren Strafen, darunter oft auch der Todesstrafe, zur Anwendung kam (vgl. Weinfurter 2004: 121). Indes blieb das entehrende Tragen des Hundes, der als standesgebundenes Tier galt, für politisch Höhergestellte reserviert (Weinfurter 2005: 214). In seinen zwischen 1157 und 1160 abgefassten Gesta Frederici berichtet Otto von Freising zum Jahr 1155 über den Fall des Pfalzgrafen Hermann von Stahleck, der für seine Landplünderungen nicht nur die Todesstrafe erhielt, sondern vorher zusammen mit seinen Helfern den schmähenden Aufzug mit Hunden auf sich nehmen musste.48 Die anschließenden Bemerkungen des zisterziensischen Historiographen zur Harmschar machen deutlich, dass die zu tragenden Gegenstände und Tiere jeweils standesabhängig waren. Vor der Hinrichtung sollten Verurteilte nach fränkischem und schwäbischem Recht einen Hund bis zur nächsten Grafschaft tragen, wenn es sich um Adelige handelte, falls es Ministeriale waren, sollten sie einen Sattel tragen, während Bauern Bäuerinnen ein Pflugrad zu tragen hatten.49
46 | »Haec autem fuit pacis conditio, quod venientes Mediolanum, tertio ab urbe miliario nudis incedendo vestigiis, episcopus codicem, marchio canem baiulans, ante fores ecclesiae beati Ambrosii reatus proprios devotissime sunt confessi.« (Bethmann 1848: 11, vgl. Schwenk 1990: 301). 47 | Zu den biblischen Deutungstraditionen des Hundes vgl. Schnickmann 2010. 48 | »Hunc morem imperator servans palatinum istum comiten, magnum imperii principem, cum decem comitibus complicibus suis canes per Teutonicum miliare portare coegit.« (Waitz 1921: 154, vgl. Weinfurter 2004: 118). 49 | »Denique vetus consuetudo pro lege aput Francos et Suevos inolevit, ut, so quis nobilis, ministerialis, vel colonus coram suo iudice pro huiusmodi excessibus reus inventus fuerit, antequam mortis sententia puniatur, ad confusionis suae ignominiam nobilis canem, ministerialis sellam, [rusticus aratri rotam] de comitatu in proximum comitatum gestare cogatur.« (Waitz 1912: 154, vgl. Schwenk 1990: 293).
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S CHLUSSBEMERKUNGEN Nicht nur der Mensch, der in seiner irrationalen Untat mit als vernunftlos geltenden Tieren auf eine Stufe gestellt wurde, der wegen seiner Religionszugehörigkeit ein Ziel christlich fundierter Herabwürdigung wurde oder dessen Hierarchieverletzungen und abweichendes Verhalten sanktioniert werden sollten, wurde mit Tiervergleichen bestraft. Die Verdinglichung von Tieren im mittelalterlichen Recht führte bisweilen auch dazu, dass gänzlich unschuldige tierliche Akteure zu Opfern wurden, die zur symbolischen Überhöhung und Verschärfung der Strafe oder um die Erinnerung an die Tat zu beseitigen, mitgetötet wurden. Die biblisch begründete Mensch-Tier-Grenze scheint in der gemeinsamen Hinrichtung von Tieren und Menschen nicht nur diskursiv, sondern praktisch aufgehoben. Noch in der Gegenwart wird die diskursive Grenzüberschreitung mit der Bezeichnung von Straffälligen als »Bestien« im Boulevardjournalismus in semirechtliche Zusammenhänge eingesetzt, die sich mit der Rede über »Problembären« und »Mörderhaie« darüber hinaus auch auf Tiere erstreckt, die als haftbare und menschengleiche Schuldige konzipiert werden. Auch sind zur Ausgrenzung und Diffamierung dienende Tiervergleiche nicht nur ein historisches Phänomen, sondern ein gegenwärtiges Problem in rassistischen, antisemitischen und sexistischen Diskursen (vgl. Fischer, Tierstrafen 13, Paul 2004). Die hier umrissene Aufhebung der Grenzen von Mensch und Tier mögen verdeutlichen, dass die Wirkungen der »animalischen Attribuierungen« (Roscher 2011: 132) nicht nur auf menschliche Akteure, sondern auch auf die Existenzbedingungen einzelner Tiere weiterhin ein lohnendes Untersuchungsfeld der Human-Animal Studies sein können.
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»... der Schlüssel zum Pogrom« Tier-Metaphern im Rassismus der europäischen Wissenschaften des 18., 19. und 20. Jahrhunderts 1 Christof Mackinger Der Rassismus-Report der Wiener Initiative Zivilcourage und Anti-RassismusArbeit (ZARA) weiß jährlich von unzähligen rassistischen Beschimpfungen, Schmierereien und diskriminierenden Amtshandlungen zu berichten. Immer wieder wird auch Alltagsrassismus dokumentiert, der sich in Beschimpfungen basierend auf Tier-Metaphern äußert. Diffamierungen, wie ein Schwarzer2 Taxifahrer solle »zurück nach Hause auf seinen Baum« (ZARA 2009: 18) gehen, sind leider keine Seltenheit. Auch ein Bericht der antirassistischen Einrichtung Opferperspektive aus Potsdam kommt zum Schluss, »dass es immer wieder geschieht [...], dass Menschen mit dunkler Hautfarbe mit Affen gleichgesetzt werden, indem ihnen Bananen hingehalten oder sie durch Affengeräusche gekränkt werden« (Opferperspektive 2009: 15). Rassismus-Forscher_innen sind sich einig darin, dass Tier-Bildern im Rassismus hohe Relevanz zukommt. So bemerken die Autor_innen des Nachschlagewerks Rassismus auf gut Deutsch, dass neben Gefahren- und MangelBildern, Tier-Bilder nach wie vor eine zentrale Methode sind, um Afrika bzw. Schwarze abzuwerten (vgl. Nduka-Agwu/Hornscheidt 2010: 505f.). Zur näheren Erörterung dieses Phänomens wird sich der folgende Text dem rassistischen Wissen der letzten Jahrhunderte annähern, um mehr über die Struktur und die Ursprünge abwertender Tier-Metaphern in Erfahrung zu bringen. Dafür wird zunächst Theoretisches zu Rassismus, den MenschTier-Verhältnissen und rassistischer Tier-Metaphorik erläutert, anschließend der historische Kontext von drei beispielhaft untersuchten Autoren umrissen 1 | Danke an Pamela, Markus und Helen für die umfangreichen Korrekturen. 2 | In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe »Schwarz« und »Weiß« groß geschrieben. Damit soll verdeutlicht werden, dass es sich bei Schwarzen und Weißen um Konstrukte des Rassismus handelt und nicht um biologisch klassifizierbare Gruppen (vgl. Arndt 2004: 13).
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und je einer ihrer zentralen Texte und deren rassistische ›Argumentation‹ analysiert. Dabei sollen die Themen und Topoi herausgearbeitet werden die einen Brückenschlag von rassistisch diskriminierten Menschen zu Tieren ermöglichen. Zum Abschluss wird Interpretationen und Perspektiven Raum gegeben.
THEORIE Um rassistischen Tier-Metaphern auf den Grund zu gehen, bedarf es einer Auseinandersetzung sowohl mit Theorien der Rassismus-Forschung als auch der Human-Animal Studies. Erstere erforschen den strukturellen und institutionalisierten Ausschluss von Menschengruppen und ihre Rechtfertigungsideologien, während sich die Human-Animal Studies mit der Ergründung der vielfältigen Beziehungen von Menschen und Tieren beschäftigen. Beim Thema der vorliegenden Untersuchung kreuzen sich diese beiden Disziplinen.
Rassismus Folgt man dem Psychologen Mark Terkessidis, so ist der Ursprung des Rassismus im Jahr der vermeintlichen Entdeckung Amerikas, 1492, zu verorten: »Seit Ende des 15. Jahrhunderts [schälte sich] eine politisch-ökonomische Struktur heraus, die über viele Zufälle und Experimente zum modernen System der Nationalstaaten führte. Rassismus war [...] von Anbeginn in die Struktur eingelassen.« (Terkessidis 1998: 85) Nichtsdestotrotz muss die Fixierung eines so heterogenen und historisch wandlungsfähigen Phänomens wie dem des Rassismus auf ein klares Entstehungsereignis kritisch gesehen werden. Vorformen des heutigen Rassismus werden von Theoretiker_innen immerhin bereits in der Sklavenhaltergesellschaft der Antike verortet (vgl. Hund 2006: 20). Auf die ›Entdeckung‹ Amerikas folgen die zwei ›Urszenen‹ des Rassismus: Erstens in der durch die Inquisition herbeigeführten Einheit des spanischen Staates qua Religion, im Zuge derer die Exklusion vor allem der Juden_Jüdinnen und Maur_innen realisiert wurde; und, zweitens, in der Entwicklung des sozialen Abstands in der Neuen Welt und damit der Etablierung einer Klassengesellschaft von Weißen Herren und Schwarzen Indigenen, die dennoch eng zusammenlebten und den damit einhergehenden »wahrscheinlich umfangreichsten Völkermord der Geschichte« (Terkessidis 1998: 86) mit sich brachte. Hierin manifestieren sich die zwei zentralen Stränge des Rassismus der damaligen Zeit: Der »Antinegrismus« und der »Antijudaismus/Antisemitismus« (vgl. ebd.). Der britische Sozialwissenschafter Michael Pickering schreibt diesbezüglich: »[S]uch ideology in Europe and the Americas developed out of the econo-
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mic exploitation of colonial recources, including ›native‹ labour power: Europeans abroad found it necessary to rationalise that exploitation in racist terms« (Pickering 2001: 30).
Rassisierung Terkessidis geht von Robert Miles’ Rassismus-Definition aus und erweitert sie: Rassismus beinhaltet immer den Prozess der Konstruktion von Gruppen anhand bestimmter Merkmale, die historisch variabel und relativ beliebig sind: »Manchmal wurden unsichtbare (fiktive oder reale) biologische Eigenschaften zu solchen Kennzeichen, gewöhnlich jedoch irgendwelche sichtbaren somatischen Attribute.« (Terkessidis 1998: 72) Dies ist ein Konstruktionsprozess, der biologische Kategorien eröffnet, die damit nicht nur als naturgegeben in die Körper eingeschrieben gelten und damit unabänderlich zu sein scheinen, sondern sich biologisch sogar reproduzieren. Diese tragenden Attribute, die zur Kategorisierung dienen, und auf die die Wahl oft recht willkürlich fällt, nennt Robert Miles »Bedeutungsträger«. Hautfarbe gilt dabei, spätestens seit dem transatlantischen Sklavenhandel (vgl. Hund 2006: 34), als einer der wichtigsten Bedeutungsträger in der Geschichte des Anti-Schwarzen Rassismus. »Rassen sind«, nach Miles, »gesellschaftliche Fiktionen, keine biologischen Realitäten.« (Zit. n. Terkessidis 1998: 72) Heute nehmen neben den somatischen Bedeutungsträgern auch andere, wie soziologische (Sprache, Kleidung etc.), geistige und symbolische (politische Praktiken, Einstellungen, religiöse Verhaltensweisen etc.) sowie imaginäre Kennzeichen (phantasmatische Vorstellungen okkulter Macht) größere Bedeutung ein. Außerdem treten biologische Merkmale oft in den Hintergrund, ebenso der Begriff »Rasse«, den ich im Folgenden als Rassisierung bezeichnen werde (vgl. Terkessidis 1998: 74). Dies deshalb, weil Rassisierung in seiner grammatikalischen Form den Konstruktionsprozess verdeutlicht und damit herausstreicht, dass »Rasse« aktiv zugeschrieben wird. Damit wird dem Stigma »Rasse« die Naturhaftigkeit genommen und die Zuschreibung im sozialen Gefüge verdeutlicht (vgl. Gender et Alia 2013). Für den im Folgenden analysierten Zeitraum haben aber sowohl somatische Bedeutungsträger als auch die Prozesse der Rassisierung größte Bedeutung. Inhaltlich beschränke ich mich vor allem auf die Analyse des Rassismus gegen Schwarze und Juden_Jüdinnen, da diese den Schwerpunkt des rassistischen Wissens in den bearbeiteten Jahrhunderten bildeten. Rassisierung als ideologischer Konstruktionsprozess ist nur schwer von der (praktischen) Umsetzung des Rassismus, den konkreten Ausschließungspraxen vom Zugang zu kulturellen, ökonomischen und symbolischen Ressourcen trennbar. Rassistisch ist eine Rassisierung allerdings nur, wenn sie aus einer Machtposition heraus erfolgt (vgl. Terkessidis 1998: 78f.).
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Vieles dessen trifft sowohl auf Antisemitismus als auch auf Rassismus gegen Schwarze zu. Bedeutende Unterschiede zwischen Rassismus gegen Schwarze und gegen Juden_Jüdinnen bestehen allerdings in den Zuschreibungen an die Betroffenen: Im Gegensatz zu Schwarzen, die im rassistischen Wissen mit Unterentwicklung, Kindlichkeit und Tiernähe in Verbindung gebracht werden, ist es bei Juden_Jüdinnen meist umgekehrt. Ihnen wird neben der Gier eine besondere Schläue und Intelligenz unterstellt; Eigenschaften, mit denen sie sich unrechtmäßig großen Einfluss in den jeweiligen Gesellschaften verschaffen würden (vgl. Benz 2004: 31). Der Ursprung, die Geschichte und der Kontext des Antisemitismus unterscheiden sich in mancher Hinsicht stark vom Rassismus gegen Schwarze.
Rassistisches Wissen Mark Terkessidis führt den Begriff des »rassistischen Wissens« ein, um Begriffe wie Vorurteil oder Stereotyp zu vermeiden, die gedankliche Verfehlungen von Individuen und die Möglichkeit ›richtiger Urteile‹ andeuten. Ein Charakteristikum des rassistischen Wissens ist die Tatsache, dass es wenig über sein ›Objekt‹, also die rassisierten Menschen, auszusagen vermag. Vielmehr sagt es jedoch etwas über die Wissenden bzw. die Gesellschaft, in der sie leben, und über deren Wissensstrukturen und Subjektivierungsprozesse aus (vgl. Terkessidis 1998: 84). Die Untersuchten fungieren dabei als identitäre Projektionsfläche: Ihnen werden all jene ungeliebten und störenden Eigenschaften zugeschrieben, welche die Wir-Gruppe ablehnt. Zudem ist rassistisches Wissen einerseits in einigen Punkten logisch erklärbare Ideologie, die in sich schlüssig sein mag, sich andererseits aber auch völlig irrationaler Argumentationen und Zuschreibungen bedient (vgl. Miles 2000: 25). Darüber hinaus verdeutlicht rassistisches Wissen Machtverhältnisse: Zum Objekt von Wissen zu werden hat immer mit ungleicher Verteilung von Macht zu tun. Gerade in Bezug auf den Glauben an die Objektivität der Wissenschaft, mindestens im Rückblick auf vergangene Jahrhunderte, wird deutlich, dass Objektivität immer perspektivisch ist. Es ist die parteiliche Sicht der übergeordneten Gruppe, die in ihrem Blick auf die Untergeordneten die Konstruktion des ›Anderen‹ vollzieht. Damit stimmt der rassistische Diskurs mit den allgemeinen Paradigmen der Wissenserzeugung überein (vgl. Terkessidis 1998: 12). Im Hinblick auf eine Differenzierung zwischen rassistischen Wissenschaftler_innen und Pseudo-Wissenschaft als Deckmantel des blanken Rassismus schreibt der Historiker Boria Sax: Die Unterscheidung »between science and pseudo-science fails to recognize that science is socially constructed within a particular historical context« (Sax 2000: 103). Und auch Terkessidis stellt zur Diskussion: »Der gleichen Wissenschaft, die früher die Eigenschaften von ›Rassen‹ erforschte, traut man heute zu, dass sie weiß, was in Bezug auf An-
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dere ein richtiges oder falsches Urteil ist.« (Terkessidis 1998: 83) Wissenschaft muss daher vielmehr als eine Verschiebung des konsensfähigen Rahmens von Diskursen begriffen werden. Rassistisches Wissen ist damit keine Ausnahme, kein Fehlurteil, sondern in weiten Teilen ein Ausdruck gesellschaftlicher Normalität (vgl. Terkessidis 1998: 109). Auch heute sind Methoden und Deutungen in der Wissenschaft umkämpft und Beiträge wie dieser sollen zu einer Reflexion beitragen, um Wissenschaft in Zukunft herrschaftskritischer zu gestalten.. Wie bereits angedeutet, kann klassische Rassismus-Forschung allein rassistischen Tier-Metaphern theoretisch nicht gerecht werden. Besonderes Augenmerk ist daher auch auf den symbolischen Gehalt der Metaphern hinsichtlich der Repräsentation von Tieren zu richten.
Mensch-Tier-Verhältnisse Tiere nehmen in menschlichen Gesellschaften seit jeher wichtige Funktionen in der gesellschaftlichen Produktion der symbolischen Ordnung ein (vgl. Macho 2004), sei es in ihrer Darstellung als Götter, der Verkörperung von Gut und Böse etc.. Obwohl mittlerweile unbestritten ist, dass die meisten Tier-Spezies vieles mit Menschen verbindet, ist es vor allem Trennendes, das zur Sprache kommt. Ein Ausdruck davon ist der gebräuchliche Kollektivsingular »das Tier« für Millionen unterschiedliche Spezies, deren verbindendes Element einzig darin besteht, nicht menschlich zu sein. Ein Kriterium, das alle Tiere durchgehend als eine Gruppe bestimmt, gibt es nicht. So kommt der Philosoph Ludger Schwarte zum Schluss, dass »der Tierbegriff kein Substanz- sondern ein Funktionsbegriff ist. Tier ist folglich, wer in bestimmten Zusammenhängen als Tier fungiert.« (Schwarte 2004: 210) Die Anthropologin Barbara Noske sieht sogar eine Entwicklung, die Tiere als den Gegenbegriff des Menschen darstellt, indem eine scharfe Trennlinie zwischen dem Subjekt (freier, handelnder Akteur) und dem Objekt (die passive Sache) konstruiert wird (vgl. Baker 2001: 79). Damit bleiben Tiere weiterhin ein wichtiger Referenzpunkt des symbolischen Koordinatensystems, insbesondere im stark durch Dualismen geprägten Denken. Dieses geht auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurück (vgl. Paul 2004: 211), in der Tieren Natur, Körperlichkeit, Instinkt etc. zugeschrieben wird, während mit Menschen Vernunft, Geist, Kultur in Zusammenhang gebracht werden. Tiere werden zur »Inkarnation des Anderen« (Fischer 2001: 171). Konkrete Praxen innerhalb der Verhältnisse zwischen Menschen und Tieren sind ambivalent (vgl. Baker 2001: 90), wenn auch Tiere in westlichen Gesellschaften überwiegend zur Nutzung bestimmt sind. Es gilt als normal, Tiere zu züchten, zu schlachten und zu essen. Die institutionalisierte Gewalt gegen Tiere wird von großen Teilen der Bevölkerung getragen, ist jedoch nicht un-
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umstritten. Institutionalisierter Tierschutz ist ein Ausdruck dessen, erschüttert aber die »Schlachthofgesellschaft« (Rogausch 1999) in ihren Grundfesten nicht annähernd. Als Tier bezeichnet zu werden ist somit im Regelfall eine Beleidigung, angesichts der damit geweckten pejorativen Assoziationen des Wilden, Unkontrollierten, Triebhaften und Schmutzigen, und kennzeichnet mögliche Verstöße der Bezeichneten gegen soziale Normen (vgl. Baker 2001: 89). Tiere werden dabei zur Symbolfigur und zum Modell der Unterwerfung des Schwachen, Affektiven und damit ›Minderwertigen‹, gegen die gewaltsame Handlungen als legitim gelten. Diesbezüglich schreibt die Sozialwissenschaftlerin Birgit Mütherich: »Dieser [...] Mechanismus der ›pathischen Projektion‹ beschreibt die – politisch vielfach genutzte – Projektion eigener sozial unerwünschter oder tabuisierter Eigenschaften und Empfindungen auf tierliche, besonders aber auch auf fremde menschliche Individuen und Gruppen, denen Schwäche bzw. Naturnähe zugeschrieben wird« (Mütherich 2003: 11).
Abwertende Tier-Metaphern Ebenso wie die gesellschaftliche Praxis ist auch die symbolische Repräsentation unter Zuhilfenahme von Tieren ambivalent. Nach Baker (2001: 77ff.) können Tier-Metaphern zweierlei Funktionen erfüllen: Einerseits werden sie zu Modellen für besonders moralisches Verhalten, Ordentlichkeit und soziale Kompetenz idealisiert, Unterschiede zwischen ihnen und Menschen werden ignoriert. Diese Idealisierungen funktionieren aber nur mit einer sehr reduzierten Anzahl von Tierspezies, die eine besonders erstrebenswert erscheinende Fähigkeit repräsentieren. So etwa die unbändige Kraft eines Löwen oder die sprichwörtliche Freiheit und jägerische Perfektion eines Adlers. Jobst Paul spricht in diesem Zusammenhang von »affirmativen Tier-Metaphern« (Paul 1992a: 31f.). Andererseits werden Tiere auch als ›das Andere‹ repräsentiert, als Biest, das Wilde, als Modell für Unordnung und Chaos und zur Darstellung dessen, wie Dinge nicht sein sollen (»destruktive Tier-Metaphern«, ebd.). Im dualistischen Denken verhaftete Repräsentationen tendieren fast zwangsläufig zur Abwertung (vgl. Baker 2001: 83). Die gängigste Strategie, um Menschen visuell zu diskreditieren, ist ihre Darstellung mit affenähnlichen Attributen (vgl. Baker 2001: 109ff.). Die Darstellung von Menschen als Tiere, insbesondere ausgewählte Spezies, soll oft die (vermeintliche) Verletzung sozialer Normen oder der menschlichen Würde durch die Dargestellten suggerieren. Die Mensch-Tier-Grenze dient dabei als »Verdichtungssymbol ultimativer sozialer Grenzen«, wie es der Soziologe Michael Fischer umschreibt. Ein Verdichtungs-
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symbol, »das – affirmativ oder kritisch, ätiologisch oder metaphorische Beziehungen konstruierend – zur Thematisierung innermenschlicher Exklusion und Gewalt zitiert wird« (Fischer 2001: 185). Der US-amerikanische Historiker und Sklaverei-Experte David Brion Davis sieht in der Animalisierung das ultimative Mittel, um Menschen vom Mitgefühl auszuschließen, und versteht sie sogar als eine konkrete Handlungsanweisung: »Animality could also suggest the peril of murderous violence and the need for surveillance and discipline« (Davis 1997: 12f.), oder wie es Theodor W. Adorno, Theoretiker der Frankfurter Schule, beschreibt: »Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom.« (Adorno 1996: 133f.) Allzu offensichtlich abwertende Tier-Darstellungen haben in Massenmedien seit der Shoa weitgehend an Akzeptanz verloren (vgl. Urban 2011: 6). Zu finden sind diese allerdings weiterhin in rechtsextremer Propaganda. In subtiler Form werden Tierbilder aber auch in wissenschaftlichen und massenmedialen Diskursen bis heute weiter getragen.
Das Tier-Konstrukt Die Assoziation mit Tieren ist also eine der effektivsten Strategien, Menschen abzuwerten. Doch warum diese Abwertung von Menschen durch eine Gleichsetzung mit allem Tierlichen funktioniert, blieb ungeklärt. Erst der Sprachwissenschafter Paul versuchte in seiner Studie Das [Tier]-Konstrukt und die Geburt des Rassismus (2004) den kulturellen Grundlagen von Ausgrenzung und Stigmatisierung nachzugehen und kommt zum Schluss, dass »diese Tiefenstruktur offenbar allen Begründungen für Ausgrenzung und Stigmatisierung zugrunde liegt« (Paul 2004: 96), weit über den Rassismus hinaus. Er nennt sie das »Tier-Konstrukt«. Dabei bedeutet das »Tier-Konstrukt« nicht zwangsläufig eine direkte Bezugnahme auf Tiere. Diese erfolgt lediglich im Zusammenhang mit Kollektivsymbolen (Paul 2004: 90ff.), also Elementen der symbolisch verdichteten und vereinfachten Form des heute gängigen und gültigen Bildes unserer Gesellschaft. Diese Symbole wecken Assoziationsketten, die mit Tieren bzw. einem diffusen Schema, das an das gesellschaftliche Tier-Bild erinnert (eine »stereotype, zoologische Konzeption vom ›Tier‹«, Paul 2004: 311), in Verbindung gebracht werden können. Das Tier-Konstrukt beschreibt Paul selbst als ein ›Wesen‹, das allein der Befriedigung seiner Triebe gehorcht und das keinen Geist hat, eine vielfach ausbeut- und erzählbare »fiktionale Gestalt des Nur-Körpers, eines Reiz-Reaktionswesens – einer Monster-, Science Fiction-, Actionfigur, die auf egoistische Triebbefriedigung, automatische Aggression und kommunikative Unzugänglichkeit festgelegt ist. Ohne diese Gestalt [...] wäre Dualismus und Ausgrenzung nicht möglich« (Paul 2004: 76).
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Eine Andeutung genügt, um in den Adressierten das Gesamtmanuskript abzurufen (vgl. Paul 1992b: 219). Die kulturgeschichtliche Rezeption dieser Sphäre entwickelte sich zu einem »gewaltästhetischen Klima« (Paul 1992a: 32) der Abgrenzung, vor allem gegenüber der als animalisch gedeuteten Trieb-Ebene. Praktisch-theoretisch fasst Paul das Tier-Konstrukt sehr weit: Ihm gelingt es damit, Themen einzubeziehen, die nur indirekt auf Tiere verweisen, aber in den untersuchten Quellen als ›Gradmesser der Menschlichkeit‹ fungieren: Die Themen Ernährung, Ausscheidung und Fortpflanzung/Sexualität spielen eine zentrale Rolle (vgl. Paul 2004: 70). Das »Tier-Konstrukt« wird damit zur Negativ-Folie der menschlichen Identität und zentraler Bezugspunkt im Koordinatensystem der Abwertung. Pauls Begriff des »Tier-Konstrukts« ist in der tatsächlichen Analyse weiter gefasst als für diesen Beitrag sinnvoll, er stellt aber eine wichtige Ausweitung der Analyse der für Rassismus instrumentalisierten Tier-Bilder dar. Funktionieren kann Abwertung mithilfe von Tier-Bildern nur, wenn Tiere ohnehin mit negativen Assoziationen besetzt sind. Dies kann in unserer Gesellschaft in vielen Bereichen weitgehend als selbstverständlich vorausgesetzt werden, anderenfalls würden die beschriebenen Vergleiche mehr Verwirrung als Klarheit schaffen. Paul beschreibt das »Tier-Konstrukt« als »technomorphes Produkt einer instrumentellen Phantasie« (Paul 1992b: 213), das nichts mit realen Tieren zu tun hat. Es kann aber »nicht unabhängig gesehen werden von der menschlichen Wahrnehmung von ›wirklichen‹ Tieren und vom Umgang mit ihnen. Die Vernichtung ganzer Spezies, die Vivisektion, aber auch die industrialisierte Massentierhaltung sind nicht denkbar ohne eine Reduktion von Tieren auf (›ethisch‹ zu vernachlässigende) Vitalfunktionen.« (Paul 2004: 311)
A NALYSE Die Auswahl an untersuchten Texten repräsentiert jeweils ein Werk aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, das – nach umfangreicher Lektüre zahlreicher Werke des wissenschaftlichen Rassismus sich argumentativ des »Tier-Konstrukts« bedient und meines Erachtens den methodischen und theoretischen Mainstream der jeweiligen Zeit möglichst widerspiegelt. Entschieden habe ich mich für einen der Vorläufer der deutschen Ethnologie, Christoph Meiners, und seinen Text Ueber die grosse Verschiedenheit der Biegsamkeit und Unbiegsamkeit, der Härte und Weichheit der verschiedenen Stämme, und Racen der Menschen (1787). Darin nimmt er Bezug auf Reiseberichte, die lange Zeit die ein-
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zige Quelle für Naturforscher_innen waren. Weiters habe ich ein Kapitel der Vorlesungen über den Menschen (1863) des Schweizer Mediziners Carl Christoph Vogt analysiert, der sich auf vermeintlich ›harte Fakten‹ der Vermessung und Quantifizierung der Menschen stützt. Zuletzt untersuchte ich Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens (1940) des Wiener Zoologen Konrad Lorenz, der, in zoologischer Tradition, einzig auf Beobachtungen vertraut. Mithilfe der »Zusammenfassenden Qualitativen Inhaltsanalyse mit Induktiver Kategorienbildung« (Mayring 2010: 66) habe ich thematische Kategorien gebildet, um damit die konkreten Anknüpfungspunkte zu erörtern, mittels derer von Menschen als Fast-Tieren gesprochen wird, und um die Werkzeuge der Abwertung der genannten Wissenschafter fassbarer zu machen.
Christoph Meiners’ (1747-1810) »Halb-Menschen« Meiners lebte in einer Zeit, in der sich in Europa die Aufklärung durchsetzte und die Wissenschaft anhand einer Flut an ethnographischen und anthropologischen Zeugnissen überwiegend der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt nachging. Mit dem Kolonialismus europäischer Staaten in Südostasien und der Karibik sowie an der afrikanischen West- und Ostküste, ging die ›Entdeckung‹ der Kulturen von Menschen mit sehr heterogenen äußeren Merkmalen einher. Dies stellte Wissenschafter_innen vor die Frage nach der Verbreitung der Menschheit und nährte polygenetische Erklärungsmuster, also die Idee von verschiedenen Ursprüngen der Menschheit und einer voneinander unabhängigen Entwicklung (vgl. Mosse 1990: 56f.). Der Monogenismus – die Lehre von einer einheitlichen Abstammung der Menschen – erklärte sich Unterschiede unter Menschen hingegen vor allem durch klimatische Einflüsse. Im ständigen Wechsel von der Wissenschaft zur aus der Antike überlieferten Ästhetik, lag eine der Haupteigenschaften des modernen Rassismus des späten 18. Jahrhunderts (vgl. Mosse 1990: 29). Phrenologie (Schädeldeutung) als auch die Physiognomik (Gesichtsdeutung) bildeten das Bindeglied zwischen Ästhetik und Wissenschaft und versuchten mit Vermessungen ›harte Fakten‹ zu produzieren. Carl von Linnés »Scala Naturae« trachtete danach, die Natur systematisch klassifizieren zu können, während die christlich geprägte »Große Seinskette« von Mineralien über Grashalme, Tiere, Menschen bis hin zu Engeln eine Kontinuität ausmachte. Neben den rassistischen Implikationen der Seinskette, die besagt, dass einige Menschen den Tieren näher stünden als andere, war sie auch Ausdruck der Abwertung von Frauen (vgl. Schiebinger 1995: 210ff.). Die Suche nach dem missing link zwischen Menschen und Tieren beschäftigte viele Wissenschafter_innen und führte zu Spekulationen wie die des Naturforschers Comte de Buffon über Khoi-San, damals abwertend als »Hottentotten« bezeichnet:
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»He [Buffon] drew a particularly repulsive portrait of what were then regarded as the lowest of the savage and thus closest to the anthropoid apes, namely the Hottentotts: animal-like eyes, thick and protruding lips, flat nose, a stupid and fierce look; the females with long slack breasts, the skin of their belly hanging down to the knees; everybody hideous, covered with encrusted dirt.« (Jahoda 1999: 44)
Christoph Meiners selbst war »Professor der Weltweisheit« in Göttingen, ein Vertreter der Popularphilosophie und Rassisierungsforscher, der sein Wissen überwiegend aus der damals umfangreich produzierten völkerkundlichen Reiseliteratur bezog und damit die »erste wissenschaftliche und wertende Rassentheorie Deutschlands« (Vetter 1996: 221) schuf. Insbesondere im späteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere sah Meiners in der Vermischung des Blutes die einzige Möglichkeit, den Charakter von Menschen zu ändern, und nimmt damit als relativ neues Element rassistischen Wissens die Erbschaft in seine Theorie auf. Sklaverei sei ebenso gerechtfertigt wie andere Ungleichheiten, so Meiners, weil sie gottgegeben sei (vgl. Vetter 1996: 213). Bestimmend für ihn waren die drei Säulen: »Unveränderlichkeit der Rassen, ihre grundsätzliche Verschiedenheit und ihre Degeneration durch Vermischung« (Vetter 1996: 234), die sich in vielen wichtigen Theorien der Rassisierung des 19. und 20. Jahrhunderts wiederfinden. In dem untersuchten Text Ueber die grosse Verschiedenheit der Biegsamkeit und Unbiegsamkeit, der Härte und Weichheit der verschiedenen Stämme, und Racen der Menschen (1787) behandelt Meiners die Anpassungsfähigkeit (»Biegsamkeit«) unterschiedlicher »Völker«, über die sie zu bewerten seien: »Je geistreicher, und edler Nationen von Natur sind, desto biegsamer, und zugleich desto empfindlicher, zarter, und weicher ist ihr Körper; je weniger sie hingegen Fähigkeiten, und Anlagen zur Tugend besitzen, desto unbiegsamer nicht bloß, sondern auch desto gefühlloser werden ihre Leiber; desto mehr können sie Schmerzen und die höchsten Grade, oder die schnellsten Abwechslungen von Hitze und Kälte aushalten, desto weniger Krankheiten sind sie ausgesetzt, desto leichter erhohlen sie sich von Wunden, […] und desto eher können sie die schlechtesten und unverdaulichsten Speisen […] ertragen.« (Meiners 1787: 211f.)
Wenig überraschend sind, nach Meiners, die »Völker keltischen Ursprungs«, denen er Mitteleuropäer_innen zurechnet, die aufgeklärtesten und entwickeltsten. Er hebt ihre Verdienste in Wissenschaften und Kunsthandwerken hervor und lobt ihre großen Feldherren. Nachgereiht werden die »slawischen Völker Europens«, welche giftige und ungiftige Schwämme durcheinander essen könnten, ohne davon Schaden zu nehmen. Krankheiten behandelten sie mit Branntwein, Knoblauch und Peitschenschlägen oder Verbrennungen
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und Bädern im Schnee. Nach den noch weniger empfindsamen »Morgenländischen Völkern«, unter die Meiners, neben den Türk_innen, die Gesellschaften des westlichen Asiens subsumiert, reiht er die »Mongolen«: Südasiat_innen, amerikanische Indigene, »Japanesen« und »alle häßlichen schwarze[n] und schwärzliche[n] Völker«. Schwarze seien »nicht bloß durch die Farbe, sondern durch die ganze Organisation ihrer Natur von den Europäern verschieden, und daß sie den Thieren um viele Grade näher, als diese, sind« (Meiners 1787: 226f.). Sie würden sich durch ein besonders starkes Gebiss, dicke Nervenstränge und eine dicke Haut auszeichnen, womit Meiners klare Anleihen bei dem deutschen Anatomen Samuel Soemmering macht, der eben darin eine Besonderheit der Körper Schwarzer Menschen sah (vgl. Jahoda 1999: 58). Doch auch anderweitig seien Schwarze von Weißen zu unterscheiden: Bezüglich ihrer Verdauung könnten sie es »mit den reissendsten Thieren ihres Erdtheils aufnehmen, wenigstens fressen sie Löwen, Schlangen, und Tiger, und rohes und stinkendes Fleisch, wie es die Ungeheuer der libyschen Wüste thun. [...] Ihre Weiber gebähren so leicht, als Tigerinnen und Löwinnen nur werfen können.« (Meiners 1787: 228f.) Noch schwächer, gefühlloser und weniger anpassungsfähig seien aber amerikanische Indigene, folgt man dem Göttinger Professor. Er war erstaunt, dass »die Bewohner eines ganzen Erdtheils den unvernünftigen Thieren so nahe verwandt sind«, weswegen er sie als »Halb-Menschen« bezeichnete (Meiners 1787: 230). Die durch Missionen verschleppten Indigenen würden »haufenweise dahingerafft«, was als Indiz gewertet wird, dass sie an neue Lebensumständen völlig anpassungsunfähig seien, fast so wie die »wilden Thiere« (vgl. Meiners 1787: 244ff.). Meiners’ Hervorhebung der besonderen Widerstandsfähigkeit der Haut Schwarzer und Vergleiche mit als besonders robust geltenden Tieren wie Löwen, Pferde oder Tiger (vgl. Meiners 1787: 228f.), insbesondere das Argument der Schmerzunempfindlichkeit, ist kein Zufall. Er steht damit am Anfang einer langen Tradition rassistischer Argumentation. Marissa Demetrius macht darin eines der »fundamental tenets of nineteenth century medical and racial anthropology« (Demetrius 1998: 20) aus, auf die selbst Rassisierungsforscher_ innen im 20. Jahrhundert noch zurückgreifen (vgl. zum Beispiel Stigler 1919). Hoberman sieht darin eine Legitimationsstrategie: »The ›biological fitness‹ argument also legitimated slave labor by endowing blacks with a special capacity for exertion in a hot and humid climate« (Hoberman 1997: 242). Indigene Amerikaner_innen seien zudem »zugleich so unbiegsam [...], daß sie fast ebensowenig, als die wilden Thiere, sich an ein anderes Klima, und noch mehr an eine andere Nahrung und Lebensart gewöhnen können«, sodass »die Wilden fast eben so wenig nach europäischer Art leben [könnten], als die Fische ausser dem Wasser ausdauern können« (Meiners 1787: 244ff.). Sie würden zusätzlich dazu »ekelhafte Speisen und Getränke« (Meiners 1787: 237)
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verzehren, »stinkendes und rohes Fleisch und Fische« essen und »faulendes Wasser trinken« (Meiners 1787: 233). Meiners bezieht sich damit auf die Praxis des Essens, die symbolisch sehr stark aufgeladen und gesellschaftlich streng geregelt ist. Rohes Essen dient dabei als Ausdruck davon, dass die jeweiligen Menschen im krassen Widerspruch zur Zivilisation leben. Wenn es um NichtWeiße geht, bemüht Meiners nicht nur sehr umfangreich Vergleiche mit Tieren, sondern sieht in deren vermeintlicher Anpassungsunfähigkeit, fehlender Schmerzempfindlichkeit, und ihren ›unzivilisierten‹ Ernährungsgewohnheiten Faktoren, die sie den Tieren ähnlich machen würden. Seine Theorien nehmen implizit Bezug auf die erwähnte »Große Seinskette«, auch könnte man seinen Begriff des Halb-Menschen als Suche nach dem missing link verstehen. Insbesonders aber seine Quellen, zum Teil fantastisch anmutende Reiseberichte, repräsentieren den Modus Operandi der Wissenschaft seiner Zeit und gereichen zu einer Rechtfertigungsideologie des Kolonialismus.
Carl Vogts (1817-1895) »Affenmenschen« In der Lebenszeit Carl Vogts führten veränderte Positionen der Rassisierten zu Verlagerungen und Umformulierungen innerhalb des rassistischen Wissens: Sklavenaufstände in der Karibik, das Verbot der Sklaverei in England und Frankreich, aber auch die Emanzipation der Juden_Jüdinnen im Nachwirken der Französischen Revolution, bewirkten einen langsamen Paradigmenwechsel im Rassismus. Direkt an die Ästhetik des 18. Jahrhunderts anschließend entwickelte sich die Phrenologie, die Hirnvermessung, die im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug antrat. Das Gehirn gäbe dem Schädel seine Form, weshalb von diesem der Charakter eines Menschen ablesbar sei. Von der Kopfform einzelner Menschen sei ›objektiv‹ auf ihre Eigenheiten zu schließen (vgl. Mosse 1990: 51f.). Wichtigster Vertreter der Phrenologie war der Anatom Georges Cuvier, welcher der Überzeugung war, dass eine flache Stirn und eine vorstehende Mundpassage immer ein Zeichen von Tiernähe und damit Minderwertigkeit sei. Die Schädelform von Europäer_innen (Gesichtswinkel 80°) bestätigte nach Cuvier deren Überlegenheit, während Schwarze und Affen mit einem Gesichtswinkel von 70° (Schwarze) bzw. 67° (Orang-Utans) schon fast identisch wären (vgl. Jahoda 1999: 78). Charles Lyell, der Begründer der modernen Geologie und einer der »drei größten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts« (Gould 1988: 32) vertrat Ähnliches: »Das Gehirn des Buschmanns […] geht in die Richtung des Gehirns der Simiadae (Affen). Dies läßt auf eine Verbindung zwischen Mangel an Intelligenz und struktureller Ähnlichkeit schließen« (zit. n. Gould 1988: 32). Dieser medizinisch-anthropometrische Ansatz sah auch eine ›natürliche‹ Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, wie der französi-
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sche Arzt und Anthropologe Paul Broca unter Beweis stellte: Selbst »bei den intelligentesten Rassen, wie bei den Parisern, gibt es eine große Anzahl von Frauen, deren Gehirn der Größe nach den Gorillas näher steht als den höchstentwickelten männlichen Hirnen« (zit. n. Gould 1988: 88f.). Unter anderem der Anatom Franz Pruner-Bey oder der Arzt Ludwig Büchner interpretierten auch die Merkmale des restlichen Körpers. Die einflussreichste Lehre aber, die aus der Anthropometrie entstand, war die Kriminologie des Italieners Cesare Lombroso. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod war die Meinung weit verbreitet, Kriminalität sei Resultat der Biologie bestimmter Menschen, anstatt Ergebnis sozialer Umstände. Die Stigmata Lombrosos führten zu unzähligen Verurteilungen vermutlich Unschuldiger (vgl. Gould 1988: 144ff.). Zur gleichen Zeit schuf Joseph-Arthur de Gobineau mit seinem »Ariermythos« ein positives Gegenbild zum »Mythos der jüdischen Rasse« (Geiss 1988: 164). Trotz widersprüchlicher Angaben vertrat Gobineau auch die Ansicht, dass australische Indigene das Bindeglied zwischen Menschen und »brutes« darstellen würden (vgl. Gobineau 1915 [1853]: 107). Viel zentraler war in seinem Werk aber der Glaube an eine mögliche Degeneration von Rassisierungen durch Vermischung. In die gleiche Kerbe schlug der Engländer Charles Darwin, der mit seiner Theorie der »natürlichen Auslese« und dem »Überleben der Tüchtigsten« Rassist_innen Stoff lieferte (vgl. Geiss 1988: 170): »Dem Darwinismus schien die Notwendigkeit des Kampfes innezuwohnen, und sie verlieh dem Kampf zwischen überlegenen und minderwertigen Rassen eine neue wissenschaftliche Dimension.« (Mosse 1990: 95) Carl Vogt selbst studierte Medizin und Zoologie in Deutschland, der Schweiz und Frankreich und engagierte sich politisch in demokratischen Initiativen. Er engagierte sich als radikaler demokratischer Politiker und musste aufgrund seines Engagements für die Linke in der 1848er-Revolution aus Deutschland emigrieren. In der Schweiz ging er weiter seiner politischen Arbeit nach und lehrte zudem an der Universität Genf. Vogts Werk beschäftigt sich unter anderem mit der Stellung der Menschheit in der Natur und ihrem Verhältnis zu Tieren. Insbesondere eine seiner Publikationen über »Microcephalen«, damals eine übliche Bezeichnung für vom Down-Syndrom Betroffene, löste eine Kontroverse über Arbeitsmethoden in der Anthropometrie aus (vgl. Seidlitz 1868), da er letztere mit Affen »in eine Reihe« (Seidlitz 1868: 8ff.) stellte. Im Kapitel Neger und Germanen seines Buches Vorlesungen über den Menschen stellt Carl Vogt vermeintliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Schwarzen und Weißen Männern dar. Er kritisiert, dass bisherige Untersuchungen, die große Unterschiede zwischen Menschen und Affen ausmachten, vom Weißen Mann auf die ganze Menschheit schließen würden und gibt zu bedenken, dass Weiße Frauen oder Schwarze Männer mehr Gemeinsamkeiten mit Affen aufweisen würden. Anhand der Vermessung von
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Extremitäten, Becken, Schädel und Genitalien zeigt Vogt schließlich die vermeintliche Nähe Schwarzer Männer zu Menschenaffen: Dabei streicht er unter Bezugnahme auf Rassisierungsforscher seiner Zeit, wie Peter Camper und Soemmering, heraus, dass Gesichtswinkel und die Anzahl der Zähne auf eine Tiernähe hindeuten würden: »Der obere Theil des Gesichtes mit der schief zurücktretenden schmalen Stirn, dem niederen Scheitel, den stark vorgewölbten Augenrändern gleicht noch fast mehr dem Affengesichte, als der untere Theil mit dem hervorstehenden Gebisse.« (Vogt 1863: 234) Als »entschiedendste Hinneigung zum thierischen Typus« (Vogt 1863: 225) aber deutet der Mediziner das verschobene Längenverhältnis des Unter- zu dem des Oberarmknochens bei Schwarzen, genauso das vermeintlich »immer unverhältnismäßig große« (Vogt 1863: 233) Glied Schwarzer Männer, sowie ihre relative Schmerzunempfindlichkeit. Auch in der Entwicklung Schwarzer Kinder sah der Professor Ähnlichkeiten mit Affen. Sie blieben, was die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten angehe, in der Pubertät stecken. Zum Schluss äußert Carl Vogt die Vermutung, Mikrocephalen seien dem ausgestorbenen missing link zwischen Mensch und Tier am nächsten, weshalb er andernorts auch von »Affenmenschen« spricht (vgl. Seidlitz 1868). Der Mediziner nimmt in seinem Text auf unzählige Theorien des rassistischen Wissens seiner Zeit Bezug. Das zentrale ›Argument‹ Vogts für die Abwertung Schwarzer ist ihre vermeintliche körperliche Ähnlichkeit zu Menschenaffen. Nicht selten kommt er bei seiner detaillierten Beschreibung Schwarzer Körper zum Schluss: »Alles dies läßt unverkennbar den verwandten Affen durch die Menschenhülle hervorschimmern« (Vogt 1863: 218). Carl Vogt schließt sich den scheinbar objektiven Körpervermessungen seiner Kollegen bereitwillig an. Die Schädelform, die nach dem damaligen Wissen sehr stark von der Größe, Form und Beschaffenheit des Gehirns abhängt, verweist damit implizit auf die mangelnde Intelligenz der untersuchten Schwarzen Männer. Dass aber viele der angeführten Zahlen irreführend sind und nicht stimmen können, zeigt unter anderem der Psychologe Gustav Jahoda (1999: 85f.). Nur kleine Hinweise geben Informationen über Vogts Einschätzung der Ernährungsgewohnheiten Schwarzer: »Ausnahmsweise starke Entwicklung der Kiefer« und der Kaumuskulatur (Vogt 1863: 222 bzw. 243). An gleich mehreren Stellen, erwähnt er aber deren Schmerzunempfindlichkeit und schließt sich damit weiter oben erwähnten Rechtfertigungsstrategien von Gewalt gegen Schwarze an. Wie oben gesehen findet auch die Sexualität Schwarzer bei Vogt Erwähnung. Marianne Schuller schreibt, dass das Wissen um Sexualität immer so groß gewesen sei, weil sie (neben der Kriminalität) ein Gradmesser für die Normalität der Betrachteten ist (vgl. Schuller 1999: 126). Im 19. Jahrhundert war sie nicht nur in Zusammenhang mit einer befürchteten Vermischung von Rassisierungen Thema, sondern auch im Sinne der Bevölkerungspolitik,
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wodurch sich vielfältige Modi der Kontrolle, Kanalisierung und Förderung ›legitimer Sexualität‹ herausbildeten (vgl. Foucault 1977). Daraus folgte auch die Stigmatisierung Rassisierter oder anderer abgewerteter Menschen mit einer vermeintlich ›ungezügelten Sexualität‹, die sich vor allem im rassistischen Bild des tierlich-sexualisierten superpotenten Schwarzen Mannes manifestierte. Vogts Anmerkung über die unverhältnismäßige Größe des Geschlechts Schwarzer Männer weist in eine Richtung, welche der Historiker Eddie Donoghue bis zurück zu den Sklavenmärkten Europas verfolgt, wo die reproduktiven Fähigkeiten der Versklavten zentral waren (vgl. Donoghue 2008: 14). Iris Wigger sieht darin eine »Illustration des Gegensatzes von Natur und Kultur«, die Schwarzen mangelnde Fähigkeit zur Triebkontrolle unterstellt (vgl. Wigger 2007: 133) und sie damit abermals in die Nähe von Tieren rückt. Einzig ein Hinweis Vogts auf die mangelnden Geschlechtsregungen der Mikrocephalen stellt in dieser Argumentation einen Bruch dar. Carl Vogt reiht sich methodisch in den wissenschaftlichen Mainstream seiner Zeit ein. Insbesondere die Rassisierungs-Forschung des 19. Jahrhunderts bezog sich überwiegend auf die ›harten Fakten‹ der Anthropometrie. Vogt zitiert ihre Urheber, eine Reihe von namhaften Anatomen, und verschafft seinen Abhandlungen damit ein gewisses Maß an Seriosität und Repräsentativität für seine Disziplin.
Konrad Lorenz’ (1903-1989) »Degeneration der Vollwertigen« Der im Anschluss an Charles Darwin entstehende Sozialdarwinismus, der Darwins Evolutionstheorie mit Gobineaus pessimistischen Verunreinigungsideen verband, entwickelte sich schnell zu einem ›neuen Zweig‹ des Rassismus, der sogenannten »Rassenhygiene«, und der »Erbgesundheitslehre« (Eugenik) als dessen praktische Anwendung (vgl. Geiss 1988: 172). Ein maßgeblicher Entwickler der Eugenik, Francis Galton, war der Ansicht, dass der Charakter, der Körper und seine Fähigkeiten quantitativ beurteilt werden könnten, um damit zur Förderung der Reproduktion »hochwertiger« und zur Geburtenkontrolle »minderwertiger« Paare beizutragen (vgl. Mosse 1990: 97). In Frankreich und Deutschland gründeten sich Forschungsinstitutionen und Zeitschriften zur Förderung und Erforschung der »Erbgesundheitspflege«. Ganz anders als Galton, waren Houston Stewart Chamberlain und Ernst Haeckel, welche die Eugenik weitertrugen, Antisemiten. Nach Chamberlain sind Schwarze eine untergeordnete, kulturunfähige Menschenunterart, während Juden den Germanen die Beherrschung der Welt streitig machen (vgl. Geiss 1988: 173). Den deutschen Biologen Haeckel bezeichnet der Historiker George L. Mosse als einen »direkten Vorfahren der Nazi-Euthanasie« (Mosse 1990: 110).
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Während nach innen der Antisemitismus zu wachsen begann, war es der Kolonialismus nach Außen, der Nicht-Europäer_innen unterwarf. Das späte 19. Jahrhundert brachte nicht nur die koloniale Expansion Europas mit sich, sondern auch das Bedürfnis danach, die »Wilden« zu verstehen, unter anderem um sie besser beherrschen zu können (vgl. Jahoda 1999: 87). Kolonialpsychologie und Völkerschauen waren eine Folge dessen: Fritz Schultzes Standardwerk Psychologie der Naturvölker (1900) beschreibt »Naturvölker« als wenig denkfähig mit einem Hang zum Lügen und Phantasieren – »der Naturmensch« bedeute »die Bestie im Menschen« (Schultze 1900: 5f., 188) – und rechtfertigt damit deutsche Kolonialpolitik zur postulierten ›Zivilisierung‹ Schwarzer. Die europäische Dominanz wird ab Ende des 19. Jahrhunderts in Völkerschauen demonstriert, wo möglichst ›exotische‹ Menschen, wie »Feuerländer«, »Eskimos« oder Menschen aus verschiedensten afrikanischen Ländern auf Jahrmärkten und Volksfesten inszeniert und ausgestellt wurden. Einer der Urheber der nationalsozialistischen Rassenideologie, Hans Günther, rückt Juden_Jüdinnen in die Nähe Schwarzer Menschen: »Man wird nicht irren, wenn man das oft ganz krause Haar, die wulstigen Lippen und das vorgeschobene Gebiß einzelner Juden auf Beimischung von Negerblut zurückführt, zu der ja die Gelegenheit in Ägypten gegeben war.« (Günther 1930: 143) Damit kehrt Günther, wie seine Kolleg_innen, zur Rassisierungsforschung des 19. Jahrhunderts zurück, indem er Schädelform und Prognathie als Hinweise der Unterordnung Schwarzer deutet. Schwarze Frauen werden ganz offen mit Tieren in Verbindung gebracht: »Im weiblichen Geschlecht finden sich die tief angesetzten, ziegeneuterförmigen Brüste [...]« (Günther 1930: 145). Einzelne Verfechter_innen der nationalsozialistischen Ideen sehen in Juden_Jüdinnen gar ein Bindeglied zwischen Mensch und Tier, dies stellte aber eine relative Minderheitenposition dar (vgl. Müller-Hill 1998: 88). Viel stärker zum Tragen kommt in der nationalsozialistischen Ideologie ein Gedanke, der an den »Edlen Wilden« anschließt, der seit der Zeit der Aufklärung die andere Seite der Medaille der rassistischen Darstellung »zurückgebliebener Naturmenschen« abbildet. Die Zivilisation ist es jetzt, die die Nazis als Krankheit, als »Degeneration«, verabscheuen. Hannah Neu beschreibt dieses antimoderne Denken und die Großstadtfeindschaft: »Intellektualität, Technik und Rationalität schienen geradewegs der Hölle entstiegen zu sein« (Neu 2008: 16). Die Natur hingegen »dient dem (deutschen) Menschen als Quelle von Identität und Stärke« (ebd.), so Neu. Die Großstadt, das Gegenbild von Natur, wird als traditionslos, entwurzelt und unfruchtbar imaginiert (vgl. ebd.). Daran schließt der Zoologe Konrad Lorenz in seinem Text Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens direkt an. Der Wiener Lorenz prägte die Vergleichende Verhaltensforschung mit und gelangte durch seine ethologischen Konzepte der Biologie des Verhaltens und der darin begründeten Idee der Prägung zu internationaler Bekanntheit. Viel
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unbekannter ist seine politische Lauf bahn: Er war Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP) und Mitarbeiter des für Propaganda, Erziehung und Gesundheit zuständigen Rassenpolitischen Amtes (vgl. Föger/Taschwer 2009: 103). Erst nach Lorenz’ Tod 1989 wurde seine Mitarbeit an einer Studie an »deutsch-polnischen Mischlingen« in Polen bekannt, in deren Konsequenz Kinder in Konzentrationslager geschickt wurden, da sie als »asozial« oder »erbbiologisch minderwertig« beurteilt wurden (vgl. Deichmann 1991: 298). Der für seine kulturpessimistischen Ideen bekannte Konrad Lorenz versuchte, mithilfe seiner später der Soziobiologie oder Humanethologie nahestehenden Theorien Lösungsansätze gegen den von ihm befürchteten kulturellen und biologischen »Verfall« zu bieten. Das wohl beste Beispiel hierfür ist sein Text Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens, in dem Lorenz Abweichungen im Verhalten domestizierter Tiere darstellt, die er bei Wildtieren nicht beobachten konnte. Bei bestimmten Taubenarten und Haushähnen etwa spricht er von Instinkthandlungen, die das Verhalten der Tiere dominieren, aber sinnlos ablaufen würden, wie unbegründete Ausweichmanöver im Flug oder andauerndes Imponiergehabe. Zudem nehme bei domestizierten Tieren die Selektivität der reizauslösenden Faktoren ab. Lorenz beschreibt dies am Beispiel der Bakivahenne, die man »Kartoffeln ausbrüten und Frettchen führen lassen« (Lorenz 1940: 25) könne. Dies würde zwar ihre Zucht erheblich erleichtern, aber nicht die Auslese an vorteilhaften Eigenschaften. Zuletzt beschreibt er bei domestizierten Gänsen beobachtetes Auseinanderfallen von Instinkthandlungen in vereinzelte, teils sinnlose Handlungen. In einem weiteren Schritt geht Konrad Lorenz aufgrund der seiner Meinung augenscheinlichen körperlichen Ähnlichkeiten zwischen Großstadtmenschen und domestizierten Tieren (verkürzte Extremitäten, erschlaffte Muskulatur) davon aus, dass auch die sozialpsychologisch vererbten »Verfallserscheinungen« der Tiere auf Menschen übertragbar seien. Eine quantitative Veränderung von Instinkthandlungen sieht er in fehlender Gefühlstiefe bei Großstadtmenschen, eine »Vergröberung reizaussendender Zeremonien« (Lorenz 1940: 55) in den lasziven Blicken und Gebärden von Schauspielerinnen. Schließlich folgert Lorenz: Sollten die dargestellten Vermutungen stimmen und »entschärft« die »Domestikation« von Menschen durch das Stadtleben tatsächlich die erbliche Auslese, so müsse eine »noch schärfere Ausmerzung ethnisch Minderwertiger« (Lorenz 1940: 66) durch die »Rassenpflege« erfolgen, um abhanden gekommene Instinkte zu ersetzen. Konrad Lorenz schreckt nicht vor aggressiver NS-Rhetorik zurück, um damit Gewalt zu rechtfertigen: Ein »Vollwertiger« habe, wenn es sich um grobe Abweichungen handle, ohnehin »den Trieb, den Verbrecher aktiv anzugreifen und zu vernichten« (Lorenz 1940: 69).
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Lorenz setzt Sexualität als Norm anhand derer Abweichungen registriert werden können: So würden domestizierte Tiere zu viel Geschlechtsverkehr neigen, »frühreif sein« (Lorenz 1940: 47), der Inzucht und »homosexuellen Anwandlungen« (Lorenz 1940: 50) nicht abgeneigt sein. Moralischen Verfall registriert er ebenso innerhalb der Stadtbevölkerung. So ist es sicher kein Zufall, wenn Konrad Lorenz’ Überlegungen an Adolf Hitlers Mein Kampf (1925) erinnern, in dem dieser von einer »Verseuchung und Mammonisierung unseres Liebeslebens« und der »daraus resultierende[n] Versyphilisierung des Volkskörpers« (Hitler 1925: 177) spricht. Ähnlich wie Anatomen des 19. Jahrhunderts sieht Lorenz in der Ästhetik eine erbbiologische Wichtigkeit: »Unser arteigenes Empfinden für Schönheit und Häßlichkeit unserer Artgenossen hängt aufs Engste mit den unsere Rasse bedrohenden domestikationsbedingten Verfallserscheinungen zusammen. Man kann in ihm geradezu eine arterhaltend wichtige Differenzierung zur Ausmerzung solcher Verfallserscheinungen erblicken.« (Lorenz 1940: 56f.)
Hierbei stellt er sogar einen direkten negativen Bezugspunkt her, wenn er abwertend vom »Fettsteiß-Ideal der Hottentotten, Buschmänner« (ebd.) schreibt, obwohl dies von Lorenz’ Theorie abweicht, da letztere eindeutig nicht dem Bild des Großstadtmenschen entsprechen würden. Damit widerspricht der NS-Zoologe nicht zum ersten Mal seinen selbst aufgestellten Thesen. An sich richtet sich sein Text nach eigenen Angaben gegen die ›Degeneration‹ von Menschen in der Stadt. Bezugnahme auf namhafte rassistische wissenschaftliche Theorien und Protagonisten lassen allerdings den Eindruck entstehen, er vertrete damit eher einen ›breit angelegten‹ Rassismus, dem nicht nur die von ihm als unauthentisch klassifizierten Menschen zum Opfer fallen, sondern auch Homosexuelle und vermeintlich Kriminelle. So erinnern seine Ideen nämlich auch an den Kriminologen Lombroso: »Je tiefer die ›Regression‹ des asozialen Menschen, desto gefährlicher der Verbrecher« (Lorenz 1940: 68f.) und an allgemeine »Degenerations«ängste, wie sie Comte de Gobineau knapp 100 Jahre vor den Nationalsozialist_innen schon hegte. Einzelne Passagen bei Lorenz zeigen, dass er eindeutig an rassistische Theorien der letzten Jahrhunderte anschließt, weswegen sein Text auch in diesem Kontext verstanden werden muss. Methodisch bieten NS-Ideologen zwar eine weite Bandbreite, treffen sich jedoch immer in den geforderten Maßnahmen zur Herstellung der angestrebten Normalität: Der Eugenik, der Maximierung der als positiv angenommenen genetischen Merkmale – so auch Konrad Lorenz. Er stellt damit einen weiteren Baustein zur Rechtfertigungsideologie der menschenverachtenden Praxis
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der Nationalsozialist_innen bereit, die im industriellen Massenmord der Shoa mündet.
S CHLUSS Alle drei analysierten Texte zeigen, angepasst an die wissenschaftliche Methodik der jeweiligen Zeit, Elemente von rassistischem Wissen. Wie eingangs erwähnt ist Paul der Ansicht, dass das Tier-Konstrukt jedem ›Argument‹ für Ausgrenzung und Stigmatisierung zugrunde liegt (vgl. Paul 2004: 96). In der Analyse des sehr unterschiedlichen Text-Materials wurde deutlich, dass das Tier-Konstrukt sehr unterschiedlich nutzbar gemacht wird: Christoph Meiners nimmt implizit Bezug auf die religiös aufgeladene »Große Seinskette« in die er Menschen sowie Tiere einordnet und wertet. Kriterien wie die Anpassungsfähigkeit, Ernährungsgewohnheiten und Schmerzempfindlichkeit nutzt Meiners als Rechtfertigung um Schwarze und andere nicht-europäische ›Völker‹ den Tieren nahe anzusiedeln und damit abzuwerten. Bei Carl Vogt sind es (wie sich z.T. später herausstellte) imaginierte körperliche Unterschiede und davon abgeleitete, von der mitteleuropäischen Norm abweichende, Handlungen im Bereich der Ernährung oder Sexualität, die eine Rechtfertigung der Abwertung von Nicht-Europäer_innen liefern. Sowohl Christoph Meiners als auch Carl Vogt nutzen zum Teil explizit destruktive Tier-Metaphern als Referenzpunkt zur Verschiebung ganzer Menschengruppen abseits der westlichen menschlichen Idealvorstellungen. Viele Wissenschafter_innen des 18. und 19. Jahrhunderts sehen eine evolutionäre Kontinuität zwischen Menschen und Tieren. Dies ermöglicht Meiners und Vogt eine wertende Zuordnung innerhalb dieser Ordnung zu treffen: Schwarze, Indigene Amerikaner_innen etc. werden in der als natürlich dargestellten Hierachie den Weißen nachgereiht und nahe den Tieren angesiedelt, wie Begriffe wie ›Halb-Menschen‹ und ›Affen-Menschen‹ verdeutlichen. Anders verhält es sich bei Konrad Lorenz, auch angesichts der Tatsache, dass sein Text, wie beispielhaft ausgeführt, in sich Widersprüche aufweist: Seine, mit dem nationalsozialistischen Tier-/Natur-Bild (vgl. Paul 2004: 134) in Einklang gebrachte Sicht auf Tiere, zieht vielmehr eine Parallele zwischen den dann schon getrennteren Sphären von Menschen und Tieren. Lorenz bemüht affirmative Tier-Metaphern hinsichtlich der Wildtiere, indem er diese als Vorbild für Authentizität und Stärke reduziert und idealisiert. Dabei werden »suggestiv (…) individuelle menschliche Eigenschaften, hier als Vollkommenheitsprädikate, in ganze Tiergattungen projiziert« (Paul 1992a: 37), so Paul über affirmative Tier-Metaphern. Konrad Lorenz will die »nordische Bewegung« vor einer Vermischung und damit einhergehenden Degeneration schützen und in weiterer Folge »vor dem Verschwinden bewahren« (Lorenz 1940: 75). Damit
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ordnet er sich, wie andere NS-Ideolog_innen auch, selbst biologistisch dem »Tier-Konstrukt« unter (vgl. Paul 2004: 132ff.): Er macht mit seiner aggressiven Rhethorik und Anleihen bei bekannten Rassisten jedoch deutlich, dass seine Ideen nur im Kontext des nationalsozialistischen Rassismus und Antisemitismus zu verstehen sind und, so meine Annahme, auf die Rechtfertigung der Gewalt gegen, in der NS-Ideologie als ›minderwertig‹ bezeichnete, Menschengruppen abzielt. Argumentativ zentral sind aber bei allen drei Autoren Begriffe, die auch Paul als Kerntopoi des Tier-Konstrukts darstellte: Sowohl Lorenz als auch Vogt beziehen sich auf die deviante Sexualität Stigmatisierter. Vogt und Meiners hingegen streichen Essgewohnheiten und Ernährung heraus, die nicht ihrem hohen Zivilisationsstand entsprächen. Alle drei Autoren hängen einer sehr stereotypen, zoologischen Konzeption von Tieren an, die letzteren keine Möglichkeit der Reflexion oder Entscheidung lässt. Diese Reduktion und Essenzialisierung stellt ein Kernelement des »TierKonstrukts« dar. Der Bezug der drei Wissenschafter darauf äußert sich allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Während Meiners und Vogt Tierlichkeit vor allem als negativ und problematisch empfinden, ist es bei Lorenz genau umgekehrt: Natürlichkeit und instinkt-geleitetes Verhalten seien authentisch und erwünscht. Im Nationalsozialismus Verfolgte entsprechen diesem Ideal in Lorenz’ Logik nicht.
A USBLICK In der Geschichte der Moderne waren es jedoch nicht nur Rassisierte, die mit Tieren in Verbindung gebracht wurden. Auch Frauen galten, wie schon erwähnt, als tiernahe und damit untergeordnet (vgl. Roscher 2007). Eine häufige, strategische Reaktion antirassistisch, aber auch antisexistisch Bewegter war es, sich noch klarer von Tieren und der mit ihnen in Verbindung gebrachten Körperlichkeit und Instinkthaftigkeit abzugrenzen (vgl. Roscher 2007: 234f.). Kontinuitäten zwischen Menschen und Tieren wurden tabuisiert, um abwertenden Theorien, wie den oben beschriebenen, die Basis zu entziehen. Nur so schien es möglich, Reduktionismus und Essenzialismus, die rassistischer und sexistischer Argumentation als Bezugspunkt dienten, zu delegitimieren – innerhalb der Gruppe der Menschen. De facto wurde das Problem jedoch nur an die Grenze der Menschheit verschoben und mündete meist in einer »Affirmation der Herabsetzung des Tieres« (Roscher 2007: 243), so die Historikerin Mieke Roscher. Es wird also deutlich, dass nichts daran vorbeiführt, dualistisches Denken in Frage zu stellen und stattdessen einem Ideal der Diversität zu folgen, das Roscher als »Subjekt-Werdung des nicht-menschlichen Tieres und anderer
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marginalisierter Gruppen« (Roscher 2007: 248) benennt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lieferten mit ihrer Idee der dialektischen »Naturbefriedung« (vgl. Türcke 2007) erste Anknüpfungspunkte, ebenso Barbara Noske, die dafür plädiert, Tiere in ihrer Andersheit zu akzeptieren, die sich als Akteur_innen eine eigene Welt erschaffen und eine eigene Perspektive auf die Welt erleben (vgl. Noske 1997). Nicht zuletzt der »Natureculture«-Ansatz der US-amerikanische Feministin und Wissenschaftstheoretikerin Donna J. Haraway (2003 und 2008) bietet Denkmöglichkeiten der Aufweichung eines Natur-Kultur-Dualismus. Darüber hinaus bedarf es eines Wandels der den beschriebenen Ideologien zugrunde liegenden Praxis. Um Abwertungsmechanismen wie dem Tier-Konstrukt beizukommen, bedarf es noch vertiefter Forschung zu dem Thema. Die leider unlängst verstorbene deutsche Soziologin Birgit Mütherich hat diesen Bedarf schon vor Jahren formuliert: »Da die soziale Konstruktion des Anderen ebenso wie die rassistische, sexistische und andere Diskriminierungsformen bis hin zu Feindbildgenerierungen nur ganzheitlich, d.h. unter Einschluss der ›Tier-Frage‹ mit qualitativ neuem Erkenntnisgewinn analysiert und unter dem Gesichtspunkt der Gewalt als Problematik behandelt, abgemildert und vielleicht sogar ansatzweise gelöst werden können, erschließt sich hier ein neues, weites Forschungsfeld.« (Mütherich 2003: 21)
In dieses will sich die vorliegende Untersuchung eingereiht wissen.
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»Hitler war Vegetarier« Über die Zuschreibung menschenfeindlicher Tierliebe Andrea Heubach »Just as feminists were charged with man-hating when we began to channel our energies and our theorizing to women’s needs and experiences, animal activists now stand accused of people hating.« (Donovan/Adams 1999: 4)
In öffentlichen Debatten wie in privaten Diskussionen werden Vegetarismus/ Veganismus und der Einsatz für Tierrechte/Tierbefreiung1 nicht selten mit dem Verweis auf Adolf Hitler kritisiert. Es wird dessen angeblicher Vegetarismus und der Tierschutz im Nationalsozialismus (NS) herangezogen und somit dem, was allgemein als Tierliebe gilt, ein inhärenter Menschenhass unterstellt. Die Begründungen beziehen sich, neben Hitlers mutmaßlicher Ernährungsform, auf die Tierschutzgesetzgebung aus dem Jahr 1933, auf das Schächtverbot sowie die Einschränkung von Tierversuchen im Nationalsozialismus. Derartige Argumentationsmuster lassen sich in verschiedenen gesellschaftlichen Sparten aufzeigen. Sie finden sich in Mainstreammedien ebenso wie in linken Publikationen. Dabei ist diese reductio ad Hitlerum kein spezifisch deutsches Phänomen. So gab etwa der italienische Gewerkschaftsbund der Viehzüchter, -händler und Nutztierhalter FederFauna im Jahr 2012 bekannt, nun jährlich den Premio Hitler an Tierrechtler_innen verleihen zu wollen (vgl. FederFauna 2012). In der Bekanntmachung werden heutige Tierrechtler_innen mit den Nationalsozialist_innen verglichen. Als Prämie dient eine Tafel mit einer Fotomontage, auf der Hitler unter der zu »Animal Reich« abgeänderten Überschrift »Animal Rights« zwei Rehe vor dem Eingang des Stammlagers in Auschwitz füttert (vgl. ebd.). 1 | Im Folgenden werden die Begriffe Tierrechte und Tierbefreiung ungeachtet in Teilen der Bewegung formulierter Unterscheidungen synonym verwendet, da jene Differenzierungen für den Inhalt dieses Textes nicht relevant sind.
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Angesichts derartiger geschichtspolitischer Instrumentalisierungen erscheint es wichtig, genauer hinzusehen und zu fragen, was für eine Sicht auf nichtmenschliche Tiere in der NS-Ideologie dominierte und in welchem Verhältnis diese Tierbilder zu Menschenbildern standen bzw. wie sich diese Tierbilder auf Menschenbilder übertrugen. Zugleich stellt sich auch die Frage, was der aktuell hegemoniale Diskurs über den gegenwärtigen Blick auf die NS-Täter_innen und auf nichtmenschliche Tiere aussagt. Geschichtsschreibung ist nicht objektiv möglich und nie interessenfrei. Im Besonderen betrifft dies auch Themen, die die Frage berühren, inwieweit oder ob überhaupt nichtmenschliche Tiere für menschliche Zwecke genutzt werden dürfen. Chronist_innen vermerken Tierschutz-/Tierrechtsaktivitäten und Vegetarismus häufig nicht, wenn sie über Widerstandskämpfer_innen oder andere linke Denker_innen berichten, sofern sie selbst diese Überzeugungen nicht teilen. Geschichte wird mehrheitlich von jenen geschrieben und analysiert, die die Nutzung zumindest einiger Tiere für den Menschen als legitim erachten. Ebenso beeinflussen auch Fleisch- und Milchwirtschaft, Pharmazeut_innen und Mediziner_innen, die an nichtmenschlichen Tieren forschen, den Diskurs um die geschichtliche Interpretation des Tierschutzes im Nationalsozialismus. Am Diskurs beteiligt sind auch Vertreter_innen rechter Weltanschauungen, die ebenfalls ein Interesse haben, Tierschutz mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen. So bemühen sich Autor_innen wie Daniel Heintz, Tierschutz und Nationalsozialismus in einen quasi natürlich erscheinenden Zusammenhang zu rücken und reihen sich dabei mit dem gleichen selektiven Blick in den Tenor des Diskurses ein, wenn auch mit einem anderen ideologischen Hintergrund und einer anderen Intention.2 Auch der vorliegende Text beansprucht für sich keine Verortung im wertfreien Raum, sondern sucht die herrschende Geschichtsschreibung und den damit verbundenen Diskurs über Tierschutz und Tierrechte aus einer Tierbefreiungsperspektive kritisch zu hinterfragen.3 Anhand von Textbeispielen aus Mainstream- und linken Medien und mit besonderem Augenmerk auf Daniel Jüttes prämierten Aufsatz, dessen Inhalte die Grundlage der meisten Medienberichte zum Thema Tierschutz im Natio2 | So behauptet Heintz: »Für viele ist der Tierschutz vor allem ein ›linkes‹ Thema, besetzt durch Parteien und Gruppierungen links der Mitte. Doch diese Betrachtungsweise ist nicht richtig. Wenn man es politisch betrachtet, so waren es doch großteils auf Nation und Heimat bezogene Bürger, die sich für das Wohl der Tiere einsetzten.« (Heintz 2008: 5) 3 | Die Autorin lebt seit etwa zehn Jahren vegan, war mehrere Jahre lang in der Tierbefreiungsbewegung aktiv, bewegt sich in linken Spektren und ist unter anderem im Bereich der Gedenkstättenpädagogik tätig.
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nalsozialismus bilden, wird der hegemoniale Diskurs kritisch zusammengefasst und blinde Flecken thematisiert. Im Anschluss gilt es, zentrale Argumente aus dem Diskurs aufzugreifen und in diesem Zuge Tierbilder und Tierpolitik im Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen. Aufgegriffen werden die implizite Darstellung des Nationalsozialismus als Tierparadies, die reductio ad Hitlerum sowie die Annahme, eine ›Aufwertung von Tieren‹ führe zu einer Abwertung von Menschen. Das zusammenfassende Schlusskapitel mündet mit Blick auf die Gegenwart in Folgerungen aus Geschichte und Geschichtspolitik.
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Häufig wird derzeit eine »Kontinuität, wenn nicht Identität zwischen nationalsozialistischer Tierschutzpolitik (genauer: Tierschutzpropaganda) und der Tierrechtsbewegung« (Brucker 2009: 1) suggeriert. Was die Historikerin Renate Brucker als regelmäßig eingesetzten argumentativen Trick bezeichnet, mag auch der Skandalisierungsroutine der Medien geschuldet sein: Im Titel wird das Mensch-Tier-Verhältnis als allgemeines ethisches Problem angedeutet – Von Menschen und Tieren, Von Mäusen und Menschen, Tierliebe Menschenfeinde. Was in der Überschrift allgemein formuliert ist, wird im Text allein auf NS-Deutschland beschränkt, während die am Ende gezogenen Schlussfolgerungen wiederum häufig generalisierender Natur sind (vgl. Brucker 2009: 1f.). Auch im linken Spektrum finden sich tendenziöse Überschriften. Menschenfeinde als Tierschützer lautet etwa der Titel eines 2008 im Online-Magazin Telepolis veröffentlichten Artikels des Jungle World-Autors Marcus Hammerschmitt, in dem er der antispeziesistischen Ideologie einen menschenfeindlichen Grundzug unterstellt (vgl. Hammerschmitt 2008). »Kein Fussbreit [sic] dem Antispeziesismus!«4 betitelt der sogenannte AK Gibraltar das Fazit in ihrem Text gegen den Antispe-Kongress 2008. Dort heißt es ferner: »Das Konzept des Antispeziesismus ist aus unserer Perspektive kein linkes, wird und darf auch nie eines werden. Wer es verwendet, macht sich zum Feigenblatt für EuthanasiebefürworterInnen, fleißige UmschreiberInnen der deutschen Geschichte und nicht zuletzt für Nazis […].« (AK Gibraltar 2008: 16) Nicht nur Worte, auch Bilder werden zuweilen suggestiv eingesetzt. So ist Helene Heises Artikel Tierliebe Menschenfeinde, der 2007 unter der Rubrik einestages im Online-Portal des Magazins Spiegel erschien und die Verknüpfung von Tierschutz und Propaganda im Nationalsozialismus aufgreift, ein Bild vorangestellt, das den SS-Mann Karl Höcker mit einem Schäferhund zeigt. Neben dem Foto ist als Erläuterung zu lesen: »Höcker und Favorit: Der SS-Offizier 4 | Die Formulierung ist angelehnt an die Parole »Kein Fußbreit dem Faschismus«.
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und Adjutant des Lagerkommandanten im KZ Auschwitz Karl Höcker mit seinem Schäferhund Favorit auf einem Bild aus seinem privaten Fotoalbum. Während nebenan in Auschwitz Menschen sterben, spielen Höcker und Favorit fröhlich auf einer Wiese.« (Heise 2007) Die Artikelüberschrift legt nahe, es gäbe eine Verbindung zwischen Tierliebe und Menschenfeindlichkeit. Tatsächlich illustriert das Bild vielmehr, dass Höcker, obwohl SS-Täter, auch ein Mensch war. Eine ähnlich irritierende Wirkung hätte das Bild, zeigte es Höcker beim Spielen mit einem kleinen Kind. Obwohl die Täterforschung inzwischen von der Ontologisierung und Dämonisierung eines ›Tätermenschen‹ weit entfernt ist, bleibt es schwer begreiflich, dass SS-Männer, die in den Vernichtungslagern mordeten, nach der Arbeit liebevoll mit Frau und Kindern umgehen oder ihren Hund streicheln konnten. Die Unfassbarkeit der Naziverbrechen scheint ein Denken in der simplen polaren Einteilung von Gut und Böse zu evozieren, wie es Joachim Radkau am Beispiel des Naturschutzes erläutert: »Der Nationalsozialismus ist etwas Böses; Naturschutz ist etwas Gutes; also kann es unter dem NS-Regime keinen Naturschutz gegeben haben. Oder, könnte man hinzufügen: Wenn es damals doch Naturschutz gegeben hat, dann muss dieser eben auch böse gewesen sein. […] Der Nazismus wird zu einer in allen Erscheinungsformen bösen Macht stilisiert, gleichsam zum Ersatz für den Teufel, der der Säkularisierung zum Opfer gefallen ist. Daher wird unterstellt, dass die Nazis ähnlich wie die Bösewichte im Comic stets nur Böses getan hätten. In Wirklichkeit besteht das vertrackteste Problem jedoch in dem banalen Faktum, dass die Nazis größtenteils mehr oder weniger normale Menschen und daher zu vernünftigen Handlungen durchaus fähig waren.« (Radkau 2003: 41f., Herv. im Org.)
Während Bild und Text des Artikels suggerieren, die ›Tierliebe‹ Höckers und seine Fähigkeit, beruflich den Massenmord an Tausenden von Menschen zu betreiben, seien zwei Seiten derselben Medaille, ließen sich ebenso Beispiele aus der Täterforschung anführen, bei denen ›Tierliebe‹ offenbar mit einem inneren Widerstand gegen das Misshandeln und Töten von Menschen einherging.5 Der Artikel Heises basiert direkt auf Daniel Jüttes vielzitierten, von der Körber-Stiftung prämierten Beitrag zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten Von Mäusen und Menschen. Die Auswirkungen des nationalsozialis5 | So ist in Andrea Riedles Buch Die Angehörigen des Kommandanturstabs im KZ Sachsenhausen über den SS-Oberscharführer Sosnowski, der als weniger brutal galt als viele seiner Kollegen, zu lesen, er habe es laut seiner Urteilsschrift abgelehnt, bei der Vollziehung von Prügelstrafen mitzuwirken, und geäußert, »er schlage seine Hunde nicht, viel weniger einen Menschen.« (Riedle 2011: 237)
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tischen Reichstierschutzgesetzes von 1933 auf die medizinische Forschung an den Universitäten Tübingen, Heidelberg, Freiburg. Eine kompaktere Fassung des Aufsatzes findet sich unter dem Titel Tierschutz und Nationalsozialismus. Die Entstehung und die Auswirkungen des nationalsozialistischen Reichstierschutzgesetzes von 1933 (vgl. Jütte 2002a).
Von Mäusen und Menschenfeinden — Daniel Jüttes historische Analyse Da auf jenen wissenschaftlichen Texten Daniel Jüttes die meisten derartigen Medienartikel fußen, lohnt es sich, Jüttes Texte genauer in den Blick zu nehmen. Sein Anliegen beschreibt Jütte in der Einleitung der Kurzfassung seiner Analyse deutlich: Nicht alleine darum geht es, den scheinbar unverständlichen Gegensatz zwischen einer ausführlichen Tierschutzgesetzgebung und der Ermordung mehrerer Millionen Menschen zu beleuchten. Eine historische Betrachtung dieses Abschnitts der deutschen Tierschutzgesetzgebung eigne sich laut Jütte auch, »um zu zeigen, auf welche abschüssigen Bahnen ein ideologischer oder emotional aufgeladener Tierschutz führen kann.« (Jütte 2002a: 168) Wortwahl und Formulierungen Jüttes geben an einigen Stellen Einblick in seine Positionen zum Thema Tierschutz und Tierversuche. Jütte spricht in Bezug auf die Debatte der letzten Jahre, in der auch die Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz diskutiert wurde, vom Einfluss einer »zunehmenden Emotionalisierung auf die Tierschutzgesetzgebung« (ebd.). So suggeriert er, tierliche Schicksale sollten (und könnten) auf einer nüchternen Sachebene, nicht einer emotionalen Ebene erörtert werden. Offen bleibt, was für Jütte das Gegenmodell zu einem ›ideologischen‹ oder ›emotional aufgeladenem‹ Tierschutz bildet. Ferner erläutert Jütte an anderer Stelle, der »radikale ›Internationale Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Thierfolter‹ setzte die Agitationen gegen die Vivisektion im Stile Wagners fort und attackierte Behörden und Politiker mit Bittschriften und Aufrufen, lange Jahre freilich ohne Erfolg.« (Jütte 2002a: 169) Ginge es um ein anderes Thema, etwa ein allgemeines Wahlrecht, würde Jütte das Adressieren von Bittschriften und Aufrufen, vermutlich nicht als »attackieren« bezeichnen. Eine gewisse Emotionalisierung scheint sich also durch so manche Wortwahl auch in Jüttes Schrift zu äußern. Vom Tier- zum Menschenversuch? Jütte beschäftigt sich in erster Linie mit den Auswirkungen der Tierschutzgesetzgebung auf den Bereich der medizinischen Forschung. Das Verbot des rituellen Schächtens als eine der ersten in einer langen Reihe von Einschrän-
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kungen der in Deutschland lebenden Jüdinnen_Juden und dessen Rolle als antisemitische Propagandamaßnahme thematisiert er nur am Rande. Den Propagandacharakter jenes Verbots des betäubungslosen Schlachtens von Tieren, das 1933 bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme verabschiedet wurde, macht Jütte allerdings in einem seiner kürzeren Artikel deutlich. Dort thematisiert er als faktische Ausnahme der klar antisemitisch motivierten Gesetzgebung, dass das Schächten in der Endphase des zweiten Weltkriegs (laut Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht) muslimischen Kriegsgefangenen erlaubt war (vgl. Jütte 2002b). Widersprüchlichkeit in der Tierpolitik macht Jütte in einem weiteren Artikel auch in der Person Görings aus, der in einer Rundfunkansprache im August 1933 drohte, diejenigen, die sich dem Vivisektionsverbot widersetzen, in Konzentrationslager abzuführen: »Derselbe Göring, der mit Vehemenz für eine Verschärfung der Tierschutzbestimmungen eintrat, verbrachte seine Freizeit am liebsten auf ausgedehnten Jagdtouren und führte auch im offiziellen Sprachgebrauch des Dritten Reiches mit Stolz den Titel ›Reichsjägermeister‹.« (Jütte 2001b) Auch bei seinem zentralen Thema, den Tierversuchen, zitiert Jütte Ausnahmen, die darauf hinweisen, dass Tierschutz keineswegs die höchste Priorität und möglicherweise primär einen Propagandazweck hatte. So schlussfolgert er etwa: »Festzuhalten bleibt, daß sowohl die Krebsforschung als auch die Forschung zur Entwicklung von biologischen Waffen mit staatlicher und stattlicher Förderung offenbar keine Rücksicht auf das Reichstierschutzgesetz nehmen mußte. Die sonst so strikte Tierschutzgesetzgebung mit ihren rigiden Forderungen nach einer Beschränkung der durchgeführten Tierversuche auf ein unerläßliches Minimum wurde hier schlichtweg den Interessen der kriegsrelevanten Forschung geopfert.« (Jütte 2001a: 73)
Während im medialen Diskurs zuweilen suggeriert wird, es bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Verbot von Tier- und dem Durchführen von Menschenversuchen, spricht Jütte von einem »fließenden Übergang vom Tier- zum Menschenversuch« (Jütte 2001b) und konstatiert, »daß Menschenversuche im Dritten Reich durchaus Konsequenz der Unzulänglichkeit von und Unzufriedenheit mit Tierversuchen sein konnten. […] Es gab damals ganz offensichtlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Tier- und Menschenversuchen, der beim Scheitern von Tierexperimenten die Fortsetzung mit Menschenversuchen legitimierte.« (Jütte 2001a: 85)
Die strengen Tierschutzbestimmungen seien nur selten Grund für ein Ausweichen auf Experimente an Menschen gewesen. Das Reichstierschutzgesetz stünde also nicht in direkter Kausalität zu den von Ärzten begangenen Ver-
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brechen gegen die Menschlichkeit in Konzentrationslagern, da Forscher, die solche Menschenversuche vornahmen, ohnehin ebenso massenhaft mit Versuchstieren experimentieren durften (vgl. Jütte 2001b). Der Übergang von Tier- zu Menschenversuchen im Dritten Reich war laut Jütte keine direkte Konsequenz des Reichstierschutzgesetzes, »sondern vielmehr eine Folge einer Ideologie, die ihre Menschenverachtung auch durch eine Aufwertung von Tieren legitimierte« (Jütte 2002a: 167). Die Rolle, die Jütte der vermeintlichen Aufwertung von Tieren zuspricht, deutet er in Überschriften wie »Das Tier ›Mensch‹: Der ideologische Weg zum Holocaust« (Jütte 2001a: 95), oder (in Anlehnung an Arluke und Sax) »›Animalizing of humans‹ als Voraussetzung für die Endlösung?« (Jütte 2001a: 97) an. Zwar lässt sich bei Jütte auch die Vermutung herauslesen, in der Ideologie der Nationalsozialisten seien alle Menschen wie Tiere betrachtet worden: »In der Tat legen […] Projekte wie der Lebensborn die Vermutung nahe, daß der ›Zucht von Menschen‹ ein Weltbild der SS-Eliten zugrunde lag, in dem (selbst arische) Menschen mit Tieren auf einer Stufe standen. Eine solche Einstellung ermöglichte es, spezifisch tierbezogene Praktiken auch bei Menschen anzuwenden, so zum Beispiel Zucht und Auslese.« (Jütte 2001a: 98)
Ähnliches legt Jütte auch nahe, wenn er ausführt: »Im Tier glaubte der überzeugte Vegetarier Hitler, viele bewundernswerte Eigenschaften zu erkennen, die auch den arischen Menschen angeblich kennzeichnete [sic]. Seine Gefolgsleute bestärkten ihn in dieser Ansicht, nicht zuletzt sein Propaganda-Chef Goebbels, der in sein Tagebuch notierte, daß der Mensch keinen Grund habe, sich dem Tier überlegen zu fühlen.« (Jütte 2001a: 96)
Jedoch erklärt Jütte ebenso, der nationalsozialistische Tierschutzgedanke impliziere eine »radikale Verschiebung innerhalb der Mensch-Tier-Hierarchie« (ebd.), durch die moralische Grenzsteine verschoben würden. Dies legt eher die Deutung nahe, dass die Mensch-Tier-Grenze nicht durchbrochen, sondern vielmehr zur Legitimation aufrechterhalten und verschoben wurde, dass also Zuordnungen zu Kategorien, die Auswirkungen auf moralische Bewertungen haben, verändert wurden. Dass eine hierarchische Einordnung mit den Kategorien ›menschlich‹ und ›untermenschlich‹ bestehen blieb und eine weitere speziesistische Abstufung durch die Kategorisierung als ›Schädlinge‹ oder ›niedere Tiere‹ hinzutrat, deutet auch der folgende Absatz an: »Der Jude stellte also im nationalsozialistischen Weltbild sowohl den Feind des Ariers als auch den Feind des Tieres dar, was Hitler und seine Anhänger aber nicht daran
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hinderte, die Juden im Dritten Reich auf die Stufe von niederen d.h. ›un-arischen‹ Tieren zu stellen. ›Der Jude‹, aber auch ›der Bolschewik‹, als Verkörperungen des tierquälerischen Vivisektors und als Erzfeinde des deutschen Volkes, wurden von den Nationalsozialisten gerne als Schädling, Ratten (Hitler) oder ›Menschentiere‹ (Himmler) bezeichnet. Solche ›Untermenschen‹ in die Nähe zu Insekten und anderen Kleinstlebewesen zu rücken, schien den Nationalsozialisten vertretbar zu sein.« (Jütte 2001a: 97)
Jütte konstatiert im Gegensatz zu vielen Texten, die auf seinen Forschungsergebnissen fußen, darüber hinaus einen positiv gearteten Zusammenhang zwischen dem Umgang mit nichtmenschlichen Tieren und mit Menschen, wenn er in Bezug auf Krebsforschung und die Forschung zur Entwicklung biologischer Waffen schlussfolgert: »Daß beide Forschungszweige sich auch des Menschenversuchs mit großer Selbstverständlichkeit bedienten, verdeutlicht die menschen- und auch tierverachtende Einstellung der beteiligten Wissenschaftler.« (Jütte 2001a: 73) Nationalsozialisten im Fokus — Ausblendung anderer Personalunionen Im Unterschied zu manchen Berichten, die sich auf seine Texte stützen, nutzt Jütte den NS-Kontext nicht als Ausgangspunkt, um allgemeingültige Schlüsse über den Zusammenhang zwischen menschenbezogenen Einstellungen und jenen zu anderen Tieren zu ziehen. Sollen allgemeine Schlüsse gezogen werden, wie die Titel vieler Artikel suggerieren, dürfte vor allem der Blick auf Großbritannien nicht versäumt werden, das historisch als Geburtsland der Antivivisektions- sowie der Tierschutzund Tierbefreiungsbewegung betrachtet wird (etwa in Dinges 1996: 18; Maehle 1996: 9; Klueting 2003: 86). Die relevante Frage, ob in Großbritannien ähnliche Verknüpfungen zwischen Tierschutz und nationalistisch-rassistischen und antisemitischen Gesinnungen bestanden, wird jedoch in den generalisierenden Texten ausgeklammert. Jüttes wissenschaftlicher Fokus liegt alleine auf Tierschutzgesetzgebung und Tierversuchen im Nationalsozialismus. Doch scheint sein Blick teilweise stark voreingenommen und selektiv. Über dem Nationalsozialismus gegenüber kritische Tierschützer_innen schreibt Jütte: »Auch wenn solch kritische Stimmen in der Minderheit blieben, zeigen sie doch, daß sich Teile der Tierschutzbewegung der kontinuierlichen Indoktrination und Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten durchaus bewusst waren. Der Großteil der Tierschützer schien wohl nichts gegen eine Kooperation einzuwenden zu haben und sah in der politischen Interessenvertretung durch die NSDAP ein hoffnungsvolles Zeichen.« (Jütte 2001a: 7)
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Dass Jütte von einem »Großteil« der Tierschutzbewegung spricht, scheint ohne belegbare Zahlen spekulativ. Einseitig erscheint die Behauptung zudem angesichts der Tatsache, dass die Hoffnung in die Nationalsozialisten durchaus nicht speziell unter Anhänger_innen des Tierschutzes symptomatisch, sondern in großen Teilen der Gesellschaft anzutreffen war, wie die Wahlergebnisse der NSDAP 1932 und 1933 verdeutlichen. Haben bei einem Großteil der Tierschutzbewegung derartige Hoffnungen bestanden, wurden sie schnell enttäuscht. Über sechshundert Tierschutzorganisationen wurden gleichgeschaltet (vgl. Sax 2000: 212), wodurch der organisierte Tierschutz »um alle radikal-progressiven Mitglieder bereinigt« (Roscher 2012: 36) wurde. Wenig Berücksichtigung finden (neben weiblichen Beteiligten) bisher die Verbindungen von Tierschutz und Tierrechten, Vegetarismus, Friedensbewegung und anderen emanzipatorischen Bestrebungen (vgl. Brucker 2010a: 268). Auch im sogenannten Dritten Reich gab es nicht nur völkisch Bewegte, die sich für nichtmenschliche Tiere einsetzten und Vegetarier_innen, die nationalistische und antisemitische Ansichten vertraten, sondern auch Kritiker_innen und Widerständler_innen, die sich für die Rechte von Tieren und gegen ihren Verzehr stark machten. Ein prominentes Beispiel für einen Vivisektionsgegner, der sich explizit auch gegen Menschenversuche und Antisemitismus aussprach, ist der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde (1858-1941). Quidde hielt Vorträge gegen Vivisektion, nahm an internationalen Antivivisektions-Kongressen teil und gründete 1898 mit seiner Frau Margarete den Münchener Verein gegen Vivisektion und sonstige Tierquälerei (vgl. Schwantje 1928). In seinem im Jahr 1900 erschienenen Buch Arme Leute in Krankenhäusern schilderte er, wie in Krankenhäusern an mittel- und ahnungslosen Patient_innen, die zum Teil absichtlich mit Krankheitserregern infiziert wurden, Heilmethoden erprobt wurden. Quidde kritisierte das soziale Gefälle in der medizinischen Behandlung, das beinhaltete, dass mittellose Patient_innen, häufig ohne ihr Mitwissen, als Versuchsobjekte benutzt wurden (vgl. Quidde 1900: 7). Er beklagte die »Übertragung der Vivisektion auf menschliche Versuchstiere« (Quidde 1900: 12). Gleichzeitig kritisierte er bei Teilen der Vivisektionsgegner_innenschaft auch Antisemitismus: »Die Angriffe gegen die besprochenen Mißbräuche werden zum Teil mit besonderem Eifer von Leuten vertreten, die mit Recht als Feinde der geistigen Freiheit und wissenschaftlichen Forschung gelten, oder die ganz anders geartete Bestrebungen mit dieser Sache des Rechtes und der Humanität verquicken, etwa von Antisemiten, die gegen jüdische Ärzte hetzen [...].« (Quidde 1900: 31)
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Quidde emigrierte nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 in die Schweiz. Als Beispiel für andersgeartete Verknüpfungen ließe sich auch der Pazifist, teilweise vegan lebende Vegetarier und Tierrechtler Magnus Schwantje (18771959) anführen, der als wichtigsten Bestandteil seiner Radikalen Ethik den Begriff des Radikalen Tierschutzes prägte und Schriften wie Das edle Waidwerk und der Lustmord veröffentlichte (vgl. Brucker 2010b: 97ff.). Er verweigerte in seinen Publikationen Inserate von Büchern, in denen er antisemitische Tendenzen erkannte (vgl. Brucker 2010a: 277). Ebenso wies Schwantje eugenische und ›rassehygienische‹ Forderungen und Diskriminierungen von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen ausdrücklich zurück (vgl. Brucker 2010a: 280). Schwantje hielt Reden über Sozialismus und Pazifismus oder Pazifismus und Vegetarismus und war Mitbegründer des Bundes der Kriegsdienstgegner (vgl. Brucker 2009: 9). Im Jahr 1907 gründete er die Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes und verwandter Bestrebungen, die sich ab 1918 Bund für radikale Ethik nannte und als erste deutsche Tierrechtsgruppe im modernen Sinne gilt (vgl. Roscher 2012: 35). Schwantje musste im März 1933 mehrere Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Im September 1933 wurde er verhaftet und im Gestapo-Gefängnis Columbia-Haus verhört. Nachdem er von der Transportliste für das KZ Dachau gestrichen wurde, floh er 1934 in die Schweiz. Erwähnenswert scheint auch der Internationale Sozialistische Kampf bund (ISK), der vegetarische Gaststätten betrieb, die im Widerstand gegen das NSRegime als Treffpunkte und Finanzierungsmöglichkeiten fungierten (vgl. Brucker 2005: 9f.). Das Eintreten für Vegetarismus und Tierrechte gehörte zum politischen Programm der Organisation. So hieß es in einem Mitteilungsblatt: »Ein Arbeiter, der nicht nur ein ›verhinderter Kapitalist‹ sein will und dem es also ernst mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung ist, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Mord, der an Grausamkeit, Rohheit und Feigheit alle Schrecknisse des Weltkrieges in den Schatten stellt.« (Nelson 1926: 376)
Der SPD-Politiker und Mitbegründer des ISK, Willi Eichler (1896-1971), erklärte sein Verständnis von Sozialismus: »Sozialismus heißt ausbeutungsfreie Gesellschaft – frei von jeder Ausbeutung. [...] Aber wer denkt daran, welch ungeheure Ausbeutung darin liegt, harmlose Tiere zu morden, nur, um sich mit deren Fleisch einen Gaumenkitzel zu verschaffen?« (Eichler 2010 [1926]: 152, Herv. im Org.). Eichler emigrierte 1933 nach Frankreich.
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Jütte jedoch vermutet in seinem Text: »Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Tierschutzbewegung, auch wenn keine Zahlen dazu vorliegen, besonders in den 1920er Jahren eine überwiegend rechtsgerichtete Anhängerschaft hatte.« (Jütte 2001a: 14) Jütte stützt sich hier auf die Behauptung, die Wortführer_innen der Antivivisektionsbewegung seien in dieser Zeit sehr häufig antisemitisch und zutiefst deutsch-national gesonnen gewesen (vgl. Jütte 2001a: 14f.). Hier fragt sich, ob Jütte bei seiner Recherche tatsächlich nicht auf ausreichend Gegenbeispiele gestoßen ist.6 »Nur der Vollständigkeit halber« (Jütte 2001a: 17) erwähnt Jütte, »daß auch sozialistische Bewegungen der 1920er Jahre Tierschutz, wenngleich aus anderen Gründen als die Nationalsozialisten und vor allem in wesentlich geringem [sic] Umfang, forderten« (ebd.). Als Beispiel führt Jütte den ISK und im Speziellen Willi Eichler an, über den er schreibt: »Die Argumentation Eichlers ist zwar ebenso ideologisch gefärbt wie die der nationalsozialistisch gesonnenen Tierschutzvereine, drückt aber explizit aus, daß Tierschutz ohne die gleichzeitige Achtung vor dem Menschen nicht möglich sei.« (Jütte 2001a: 17) Dass Jütte diese Äußerung als ebenso ideologisch gefärbt wahrnimmt, mag kaum verwundern. Schließlich sind keine Werturteile denkbar, denen keinerlei Ideologie (und sei es die Ideologie einer ›politischen Mitte‹) zugrunde liegt. Hier scheint die Zuschreibung des Ideologischen jedoch der moralischen Abwertung des Anliegens zu dienen. Fazit: Jüttes Sicht auf den Tierschutz im Nationalsozialismus Wie allen Texten zum Thema ist auch den Texten Jüttes eine Parteilichkeit anzumerken. Diese äußert sich in einer teilweise tendenziösen Wortwahl, in vereinzelten suggestiven Überschriften sowie auch darin, dass Jütte in seiner historischen Betrachtung der Tierschutzbewegung offensichtlich eine selektiv-verkürzende Auswahl getroffen hat, in der er Gegner_innen und Opfer des Naziregimes fast vollständig ausblendet und pauschalisierende Schlüsse zieht. Mögliche Zusammenhänge zwischen NS-Tierschutzgesetzgebung und Ideologie auf der einen und Tierversuchen im Nationalsozialismus auf der anderen Seite stellt Jütte dagegen differenzierter dar. Der Tierschutz hatte Jütte zufolge im Nationalsozialismus keine absolute Priorität, sondern war von Widersprüchen gekennzeichnet und wurde nicht konsequent durchgesetzt. Interessant erscheint, dass Jütte selbst, im Widerspruch zum gegenwärtigen Tenor, der sich weitgehend auch auf seine Forschungsergebnisse beruft, nicht nur keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Tierversuchsverbot 6 | So erwähnt Jütte etwa Paul Förster als Beispiel für die antisemitischen und deutschnationalen Wortführer. Quidde, der über Jahrzehnte dessen Stellvertreter im Internationalen Verein war oder Schwantje lässt er jedoch unerwähnt.
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und den Experimenten an Menschen formuliert, sondern vielmehr in Kantischer Tradition eine Korrelation zwischen menschen- und tierverachtenden Einstellungen.
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IM N ATIONALSOZIALISMUS UND IHRE DISKURSIVE R EZEP TION Nachdem die Grundlagen des vorherrschenden medialen und wissenschaftlichen Diskurses skizziert sind, gilt es nun, drei zentrale Argumente noch einmal in den Blick zu nehmen. Im Folgenden soll zunächst auf die reductio ad Hitlerum eingegangen werden. Darauffolgend steht die Frage im Mittelpunkt, wie Tierpolitiken im Nationalsozialismus – in Abgrenzung zur diskursiv vorherrschenden gemäßigten Tierschutzperspektive – aus einer Tierbefreiungsperspektive betrachtet werden könnten. Im Anschluss wird die vielfach explizit oder implizit geäußerte These der Abwertung menschlichen durch die ›Aufwertung tierischen Lebens‹ aus intersektioneller Sicht betrachtet.
In des Führers Gedärmen Was die italienische Gewerkschaft Federfauna in besonders geschmackloser Weise vollzieht – die Behauptung, Hitler sei Vegetarier und Tierschützer/rechtler gewesen, als Argument gegen Tierschutz/Tierrechte oder Veganismus/Vegetarismus einzusetzen – wird trotz der offensichtlichen logischen Schwäche auch in vielen Medienberichten und alltäglichen Diskussionen vollzogen. Ein diesem Argument zugrunde liegender Syllogismus würde folgendermaßen aussehen: Prämisse: Hitler war Diktator des NS-Regimes. Prämisse: Hitler war Vegetarier. Conclusio: Alle Vegetarier_innen sind Nazis/schlecht/auf moralischen Abwegen. Ganz offensichtlich ist hier der Schluss vom Besonderen aufs Allgemeine, oder anders ausgedrückt, der Umkehrschluss, dass nun auch jede_r Vegetarier_in ein Nazi sei, das fehlerhafte Glied in der Argumentationskette.7 7 | Der falsche Umkehrschluss ließe sich ebenso auf der Grundlage der Mengenlehre erläutern: Nur weil es eine Überschneidung gibt und sich in der Gruppe der Vegetarier_innen auch Nazis befinden, kann daraus nicht gefolgert werden, dass alle Vegetarier_innen auch Nazis (und ebenso wenig, dass alle Nazis auch Vegetarier_innen) sind.
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Vermutlich ist auch die zweite Prämisse nicht zutreffend. Ob Hitler tatsächlich, wie von Jütte und vielen anderen angenommen, überzeugter Vegetarier war – und zwar den nichtmenschlichen Tieren zuliebe – scheint keinesfalls erwiesen. Es kursieren verschiedene Versionen über Hitlers Ernährungsgewohnheiten und die zugrunde liegenden Motive. Unklar ist, ob Hitler aus Hypochondrie, Verdauungsbeschwerden oder aus seiner Verehrung für Richard Wagner auf Fleisch verzichtete (vgl. Veritas 2008: 55, Briesen 2010: 105f.). Fragwürdig ist auch, wie konsequent der Vegetarismus Hitlers war und inwieweit er in Goebbels Propaganda aufgebauscht wurde, um das Bild eines gesunden, asketischen Führers zu stilisieren. Hitlers Koch erklärte, Hitler habe vor dem Krieg gerne gefüllte Tauben und Weißwurst gegessen, während seine Vorkosterin während des 2. Weltkriegs nach eigenen Angaben für Hitler weder Fleisch noch Fisch probieren musste (vgl. Nikkhah 2013). Allerdings fragt sich nicht nur: »Wie vegetarisch war Hitler?«, sondern auch: »Welche Relevanz sollte das für heutige Debatten haben?«. Interessant erscheint in diesem Kontext auch die Frage, warum gerade der Vegetarismus Hitlers und der Tierschutz im Nationalsozialismus diskursiv eine tragende Rolle spielen und nicht etwa Hitlers Nichtrauchertum und das Reichsnaturschutzgesetz. Auch das Naturschutzgesetz, das auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes unter persönlichem Eingreifen Görings verabschiedet wurde (vgl. Trittin 2003: 33f.), könnte Thema kritischer Debatten sein. Schließlich wurde auch der Naturschutz im Nationalsozialismus völkisch legitimiert und mit antisemitischen Stereotypen verknüpft (vgl. Uekötter 2003: 20). Ein Grund für die Dominanz des Tierschutzthemas mag der offenbare Widerspruch zwischen einer scheinbar auf Empathie fußenden Tierschutzgesetzgebung und dem Massenmord an mehreren Millionen Menschen sein. Umweltschutz wird vermutlich auch deshalb nicht mit der gleichen Argumentation oder zumindest nicht im gleichen Maße angegriffen, da er als Grundprinzip gesellschaftlicher Konsens ist, während dies für Tierbefreiungspositionen nicht zutrifft. Selbst wenn Hitler ethisch motivierter Veganer gewesen wäre, könnte dies im normativen Umkehrschluss nicht als Legitimation für die Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere dienen. Geht es darum, mit wissenschaftlichem Anspruch die Tierbilder im Nationalsozialismus und einen möglichen Zusammenhang mit (gruppenbezogener) Menschenfeindlichkeit in den Fokus zu nehmen, scheinen Tierpolitik und Propaganda wesentlich aussagekräftiger als ein möglicher Vegetarismus Hitlers.
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Tierparadies Drittes Reich? — Eine Betrachtung aus Tierbefreiungsperspektive Die meisten Betrachtungen des Themas Tierschutz im Nationalsozialismus erfolgen aus einer gemäßigten Tierschutzperspektive, aus der Tierschutz als etwas prinzipiell Erstrebenswertes gilt, das jedoch nicht allzu weit ausgedehnt werden sollte, da dies vermeintlich auf Kosten der Menschen geschehe. Eine Differenzierung zwischen Tierschutz- und Tierrechtsansätzen findet in aller Regel nicht statt. Ziel des Tierschutzes ist es, Leiden nichtmenschlicher Tiere zu vermindern. Für die Nutzung von Tieren, deren Legitimität durch Tierschutzpositionen nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, gilt die Forderung nach besseren Haltungsbedingungen und sanfteren Tötungsmethoden. Tierbefreiungspositionen lehnen die Nutzung von Tieren dagegen ab. Häufig wird, um die Abgrenzung von Tierschutzpositionen zu verdeutlichen, die Forderung »Nicht größere Käfige, sondern die Abschaffung der Käfige« zitiert. Im Rahmen des folgenden Abschnitts soll die Betrachtung von Tierbildern und Tierpolitik im Nationalsozialismus aus einer Tierbefreiungsperspektive erfolgen. Anstatt wie andere Texte den Fokus darauf zu legen, wie Tierschutz bzw. was als Tierschutz propagiert wurde, lautet die Leitfrage: Wo widersprechen NS-Tierpolitik und Tierbilder Tierbefreiungsansätzen? Dabei sind propagandistische Rhetorik und tatsächliche Tierpolitik zu unterscheiden, auch wenn Propaganda und Tierschutz nicht immer scharf voneinander zu trennen sind.8 Tierpolitiken im Nationalsozialismus Im vielzitierten Reichstierschutzgesetz vom 24.11.1933 wurde bereits im Abschnitt I zur ›Tierquälerei‹ ein Verständnis niedergeschrieben, das nicht dem Konzept der Tierbefreiung entspricht. Dort heißt es: »(1) Verboten ist, ein Tier unnötig zu quälen oder roh zu mißhandeln. (2) Ein Tier quält, wer ihm länger dauernde oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden verursacht; unnötig ist das Quälen, soweit es keinem vernünftigen, berechtigten Zwecke dient [...]« (Reichsgesetzblatt 1933). Während die Verhältnismäßigkeit bzw. Zweckmäßigkeit von tierlichem Schmerz oder Leid dem Tierschutzgedanken entspricht, gilt es aus einer Tierbefreiungsperspektive als nicht legitim, Tieren für menschliche Zwecke Leid zuzufügen. Jedoch erfolgte mit dieser Gesetzgebung, zumindest der Formulierung zufolge, auf der Ebene des Reichsstrafgesetzbuchs – wie allerdings bereits zuvor 8 | So war das Tierschutzgesetz von 1933 ebenso Propagandamaßnahme wie Grundlage tatsächlicher Tierpolitik.
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in einigen Landesgesetzen des Deutschen Reichs im 19. Jahrhunderts – auch eine Wende zu einem pathozentrischen Verständnis von Tierschutz, der nicht mehr in der kantischen Tradition anthropozentrisch bleibt, sondern die Leiden der Tiere selbst und nicht Auswirkungen auf die Menschen als Begründung anführt. Das Gesetz beinhaltete eine Einschränkung der Tierversuche. Schmerzhafte Versuche durften nicht zweimal an demselben Tier durchgeführt werden. Zudem waren Versuche an ›höheren Versuchstieren‹ (Pferde, Hunde, Katzen, Affen) nur zulässig, wenn Versuche an ›niederen Tieren‹ nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führten (vgl. Klueting 2003: 86). Hier entspricht die Kategorisierung in ›niedere‹ und ›höhere Tiere‹ einer Position, die aufgrund ihrer Hierarchisierung innerhalb des ›Tierreichs‹ als speziesistisch bezeichnet werden kann. Wenn angeführt wird, Göring habe angekündigt, ›Tierquäler‹ in Konzentrationslager zu schicken, sollte nicht ausgeblendet werden, dass mit dem Verbot der Tierquälerei eine Nutzung und Tötung von Tieren nicht ausgeschlossen wurde. Dies betrifft auch die Konzentrations- und Vernichtungslager selbst, in denen es auch Fleischereien, Hühnerfarmen, Schweineställe oder Zuchtstationen für Angorakaninchen gab (vgl. etwa Kaienburg 2006). Von ›antiveganer‹ Seite wird zuweilen angeführt, nicht nur Hitler, sondern auch viele seiner Gefolgsleute, darunter auch Reichsführer-SS Heinrich Himmler, seien Vegetarier gewesen. Boria Sax, der in seinem Buch Animals in the Third Reich verschiedene Perspektiven auf den Umgang mit nichtmenschlichen Tieren vergleicht, führt hingegen an, Himmler habe sich vor seiner SSKarriere als Hühnerzüchter versucht (vgl. Sax 2000: 150). Sax berichtet auch von Jost Hermand, der als Hitlerjunge in Polen vieles habe tun müssen, was den Tierschutzgesetzen entgegengesetzt war. So habe er Hühner und Kaninchen schlachten, Tauben den Hals umdrehen und lebende Kröten schlucken müssen. Sax interpretiert dies als Versuch, die deutsche Jugend abzuhärten (vgl. Sax 2000: 117). Auch der Einsatz von Tieren im Krieg galt nicht als Tierquälerei. So waren Pferde eines der Hauptfortbewegungsmittel der Wehrmacht (vgl. Menzel 2010). Auf deutscher Seite wurden im Zweiten Weltkrieg 2.800.000 Pferde eingesetzt, als Fortbewegungsmittel der kämpfenden Soldaten und des Führungspersonals sowie als Zugtiere vor allem bei der Artillerie. Insgesamt beliefen sich die ›Totalverluste‹ an Pferden seit dem 22. Juni 1941 auf 1.558.508 (vgl. ebd.). Des Öfteren zitiert wird das Töten von ungefähr 30.000 Pferden, die die deutsche Wehrmacht auf der Halbinsel Krim am 4. Mai 1944 nicht in die Hände der gegnerischen Truppen geben wollte und sie daher erschoss und von einer Klippe stürzte. Sax beschreibt diese Handlung als irrational, da trotz des vorherrschenden Hungers das Fleisch der getöteten Pferde nicht verzehrt wur-
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de und da der Krieg ohnehin schon als verloren gegolten habe (vgl. Sax 2000: 297). Neben Pferden wurden auch Hunde an der Front eingesetzt. Sie dienten dem Militär als Spürhunde, überbrachten Nachrichten, bewachten Gefangene und wurden teilweise auch in Gefechten eingesetzt. Die SS war verantwortlich für die Betreuung, Ausbildung und Zucht dieser Hunde (vgl. Sax 2000: 286). Auch Beispiele für Tierquälerei bei der SS lassen sich ohne großen Rechercheaufwand finden. Die Tierärztin Maria Gräfin von Maltzan, die im Widerstand aktiv war, berichtet in ihrer Autobiografie unter anderem davon, dass ein SS-Trupp verwundete Hunde, die in ein Hundelazarett transportiert werden sollten, als Zielscheibe benutzte (vgl. von Maltzan 1986: 171f.). Mit einem selektiven Blick auf Tierpolitiken, wie er im aktuellen Diskurs vorherrscht, ließe sich ebenso die Gegenthese untermauern, die Nazis hätten kein Mitgefühl mit Tieren gekannt. War Tierschutz ein erfolgreiches propagandistisches Mittel, muss es jedoch Menschen gegeben haben, die sowohl von Antisemitismus als auch vom Tierschutz überzeugt bzw. zu überzeugen waren. Von ›Untermenschen‹ und ›Ungeziefer‹ — Tiere als symbolische Repräsentationen und Referenzobjekte Ein deutliches Beispiel für die Instrumentalisierung von Tierbildern sowie der Empathie mit Tieren für antisemitische Propaganda findet sich im Film Der ewige Jude aus dem Jahr 1940, der antisemitische Hetze mit Tiervergleichen untermalt. So rückt der Film nach einigen Ausführungen über das angebliche jüdische Parasitentum Nagetiere in den Fokus. Unter Einspielung bedrohlich wirkender Musik werden Aufnahmen von Ratten gezeigt. Der Sprecher des Films kommentiert: eine Parallele zur jüdischen Wanderung durch die ganze Welt böten die »Massenwanderungen eines ebenso ruhelosen Tieres – der Ratte. Die Ratten begleiten als Schmarotzer den Menschen von seinen Anfängen an. Ihre Heimat ist Asien. Von dort aus wandern sie in riesigen Scharen über Russland und die Balkanländer nach Europa […].« (Der ewige Jude 1940) Die Ratten werden also zunächst als fremdländische Tiere dargestellt. Weiter heißt es: »Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land…« und »[s]ie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen unterirdischen Zerstörung dar – nicht anders als die Juden unter den Menschen.« (Ebd.) Hier wird der anfängliche Vergleich noch einmal explizit ausgesprochen: Was die Ratten unter den Tieren, das seien die Juden unter den Menschen. Hier wird also das ›niedere Tier‹ herangezogen, um die Idee des ›parasitären‹, ›niederen‹ Menschen zu veranschaulichen.
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Im Film ist zudem die Rede von »Niststätten« der Juden. Auch hier ist der Tiervergleich offensichtlich. Noch deutlicher wird er nur, wenn im Film von den Juden als »Volk von Parasiten« die Rede ist (vgl. ebd.). Der Vergleich operiert mit der Setzung, bestimmte Tiere seien Schädlinge. Noch unausgesprochen bleibt, was Hitler in einem Auszug seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 in den letzten Minuten des Films drohend vorwegnimmt: »die Vernichtung der jüdischen Rasse«. Die Reichstagsrede fungiert im Film gleichsam als erlösendes Moment nach einer vorangehenden Sequenz, in der Bilder des Schächtens von Kühen und Schafen und lachende Gesichter der Schlachter gezeigt werden. Dabei wird das Schächten vom Sprecher als »einer der aufschlussreichsten Bräuche der jüdischen sogenannten Religion« beschrieben. Wie Birgit Pack anmerkt, werden den Schächtszenen nicht, wie es der Realität entsprechen würde, Bilder von Schlachtungen mit vorhergehender Betäubung gegenübergestellt, sondern idyllische Aufnahmen von lebenden Tieren auf Wiesen und Weiden (vgl. Pack 2004). Hier soll also Empathie mit Tieren genutzt und umgeleitet werden. Thema ist die Quälerei »an unschuldigen und wehrlosen Tieren« (ebd.), nicht die Schlachtung an sich. Die Tatsache, dass auch nicht-koscheres Fleisch von geschlachteten Tieren stammt, wird ausgeblendet und bildhaft suggeriert, die unbeeinträchtigt grasenden Tiere seien die Alternative. Um den Bogen zu angeblichen guten ›deutschen Eigenschaften‹ zu spannen, wird vom Sprecher schließlich berichtet, nie zuvor sei ein Deutscher Zeuge einer Schächtung gewesen: »Es wäre sonst bei der bekannten Tierliebe des deutschen Menschen unverständlich gewesen, dass die Juden bis in die letzte Zeit hinein ihre grausamen Quälereien an unschuldigen und wehrlosen Tieren ungestraft betreiben könnten.« (Ebd.) Hier wird deutlich, dass der Tierschutz in der nationalsozialistischen Propaganda auch eine indirekt-anthropozentrische oder vielmehr germanozentrische Komponente aufweist: Der Umgang mit den Tieren, die nicht als ›Parasiten‹ oder ›Schädlinge‹ kategorisiert werden und die daher ›Tierliebe‹ verdienen, soll ›die Deutschen‹ angeblich gegenüber anderen ›Völkern‹ auszeichnen. Tierbilder, die rassistische Grundsätze bekräftigen sollen, können zwangsweise nicht auf einem Gleichheitsgedanken, sondern müssen auf einer als natürlich behaupteten Rangordnung auf bauen. Sichtbar wird in der antisemitischen Rhetorik des Propagandafilms daher auch, dass die Kategorisierung des Untermenschen, des ›jüdischen Parasiten‹ oder ›Schädlings‹, auch auf einer Hierarchisierung des Tierreichs basiert – auf einer Kategorisierung tierlicher ›Parasiten‹ und ›Schädlinge‹ auf der einen sowie von ›höheren‹ Tieren, denen der Tierschutz zu Gute kommen soll auf der anderen Seite.
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Die Idee von Menschen und Untermenschen hinterfragt nicht die MenschTier-Grenze als solche, sondern verschiebt sie lediglich partiell. Sie positioniert Gruppen menschlicher Individuen innerhalb einer Hierarchie anderer, nichtmenschlicher Tiere. So werden bestimmten Menschengruppen menschliche Attribute abgesprochen, die grundsätzliche Überlegenheit der restlichen Menschheit über die Nichtmenschen wird jedoch nicht in Frage gestellt. Während Tierrechtspositionen auf einem Prinzip der Gleichheit (über die Grenzen der menschlichen Spezies hinaus) auf bauen, bleibt der Tierschutz im Nationalsozialismus innerhalb eines hierarchischen Systems verhaftet: »An intensified hierarchy, however, replaced humanism as an organizing principle.« (Sax 2000: 42) Werden Menschen als ›Ungeziefer‹ bezeichnet, so erwächst aus dieser Behauptung des Seins auch ein Sollen, wie dies Hitlers Propagandaleiter Joseph Goebbels deutlich formuliert hat: »Gewiß ist der Jude auch ein Mensch. Noch nie hat das jemand von uns bezweifelt. Aber der Floh ist auch ein Tier – nur kein angenehmes. Und da der Floh kein angenehmes Tier ist, haben wir vor uns und unserem Gewissen nicht die Pflicht, ihn zu hüten und zu beschützen, ihn gedeihen zu lassen, damit er uns nicht sticht und peinigt und quält, sondern ihn unschädlich zu machen. Gleich so mit dem Juden.« (Goebbels 1932, zit.n. Jochheim 1992: 36)
Es ist nicht die Infragestellung der Privilegien von Menschen, die (eine Abwertung und damit) eine Rechtfertigung von Grausamkeiten und Vernichtungsabsichten ermöglicht, sondern vielmehr die grundsätzliche Aufrechterhaltung einer Hierarchie, die den moralischen Ausschluss des ›Untermenschen‹ erst ermöglicht. Tiere haben in der NS-Ideologie eine Doppelfunktion. Der menschliche Umgang mit ihnen wird zum Indikator für die Überlegenheit einer ›Rasse‹ erklärt. Zudem dienen bestimmte abwertende Tierbilder als Metaphern, um die Abwertung einzelner Menschengruppen zu untermauern. Die Tierbilder bleiben dabei stereotypisch und unterkomplex, wie Jobst Paul in seiner Arbeit über Das ›Tier‹-Konstrukt und die Geburt des Rassismus beschreibt: »[...] das Konstrukt kann seine anthropologische Stereotypik nur auf Grund einer stereotypen, zoologischen Konzeption vom ›Tier‹ generieren, die über die realen Tiere der Empirie gestülpt wird. Das ›Tier‹-Konstrukt kann daher nicht unabhängig gesehen werden von der menschlichen Wahrnehmung von ›wirklichen‹ Tieren und vom Umgang mit ihnen.« (Paul 2004: 311)
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Auf wertung durch Abwertung? Wenn Heises Artikel Tierliebe Menschenfeinde mit dem Satz schließt: »Wo die Grenze zwischen ›edlem Tier‹ und viehischem ›Unter-Menschen‹ verblasste, war der Schritt vom medizinischen Tierexperiment zum Menschenversuch fast schon getan« (Heise 2007), werden in diesem Fazit zwei Sachverhalte ignoriert, die implizit bereits enthalten sind. Zum einen ist die Kategorie des ›viehischen Unter-Menschen‹ per se ausreichend, um eine andere Behandlung als die, die gewöhnlich Menschen zugestanden wird, zu rechtfertigen. Das ›edle Tier‹ wird argumentativ nicht benötigt. Zum anderen kann ein Übergang vom Tier- zum Menschenversuch nur erfolgen, wenn es bereits Tierversuche gibt. Rhetorisch wird hier jedoch der Gedanke nahegelegt, mit der moralischen Aufwertung nichtmenschlicher Tiere würden der Abwertung von Menschen Tür und Tor geöffnet. Dieser angenommene Zusammenhang wird häufig als Argument vorgebracht, Tiere nicht in eine erweiterte Moralgemeinschaft aufzunehmen. Anstelle einer gründlichen Analyse tatsächlicher kausaler Zusammenhänge werden dabei bildhafte Vorstellungen wie die zweier Waagschalen evoziert und nahegelegt, es handle sich um ein Nullsummenspiel, in dem eine Aufnahme weiterer Gruppen von Individuen nicht ohne einen Ausschluss anderer möglich sei. So schreibt Ivo Bozic in einem Jungle World-Artikel, in dem er sich für Tierschutz und gegen Tierrechte ausspricht: »Bei Veganismus und Tierrechten geht es nicht um Tierschutz, sondern um Ideologie. Eine gefährliche Ideologie, denn sie untergräbt die Menschenrechte, die sich wohlweislich von den meist brutalen und alles andere als gerechten ›Gesetzen der Natur‹ unterscheiden. Ihr wichtigstes Anliegen ist es, die Grenze, die zwischen Mensch und Tier gezogen wurde, in Frage zu stellen. Eine Grenze, die dazu dient, für ausnahmslos alle Men schen das gleiche Recht auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit einfordern zu können.« (Bozic 2008)
Ähnlich führt auch Thilo Spahl in seinem Text Das Bein in meiner Küche an: »Tierrechtler sehen sich gerne in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung, des Antirassismus und Feminismus. Sie erkennen nicht, dass das große Verdienst dieser Bewegungen gerade darin besteht, dazu beigetragen zu haben, alle Menschen in die Gemeinschaft der Gleichen aufzunehmen und so die Menschheit zu einen. Wenn wir nun damit begännen, Nichtmenschen in diese Gemeinschaft aufzunehmen, würden wir das Konzept der Einheit und Gleichheit aufgeben. In der Praxis würde das heißen, dass wieder Unterschiede gemacht werden dürfen. Da die meisten Rechte – etwa das Recht auf Meinungsfreiheit, auf Bildung, auf Arbeit oder das Wahlrecht – für Tiere (weil
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sie ›anders schlau‹ sind) keinen Sinn ergeben, haben Tierrechtler als konstitutives Kriterium der erweiterten Gemeinschaft die Leidensfähigkeit gewählt.« (Spahl 2012: 12)
Bei dieser Argumentation wird in der Regel ausgeblendet, dass nicht alle Menschen über jene als typisch menschlich geltenden Fähigkeiten verfügen, auf die sich berufen wird. So bleiben Kindern, als altersdement oder als geistig behindert geltenden Menschen gewisse Rechte verwehrt, die anderen zugestanden werden. Dass es nicht möglich sei, Tiere gleich diesen Menschen in eine solidarische Moralgemeinschaft aufzunehmen, ohne von Neuem zu hierarchisieren bzw. bestehende innermenschliche Hierarchisierungen zu bestärken, erscheint vor dem Hintergrund einer innermenschlichen Moralgemeinschaft, die sehr wohl auch Ungleiche mit einschließt, nicht zwingend der Fall. Zudem mag es vor dem Hintergrund einer Kritik an Rassismen und Sexismen zynisch anmuten, dafür zu argumentieren, dass manche (in diesem Falle nichtmenschliche Tiere) aufgrund einer Ungleichheit, d.h. ihrer Verschiedenheit vom Menschen, von einer moralischen Berücksichtigung ausgeschlossen bleiben müssten. Aus einer Tierbefreiungsposition lässt sich vielmehr die Verknüpfung der Abwertung menschlichen Lebens mit der tierlichen Lebens anführen. Erst durch die Legitimation, Ungleiche (›Tiere‹) auszubeuten, die Bedürfnisse von Ungleichen zu ignorieren, wird es möglich, die Ausbeutung und Vernichtung anderer Menschen zu rechtfertigen, indem diese ebenso zu Ungleichen erklärt werden. Das Bestehen dieser Kategorien und die Legitimation, nichtmenschliche Tiere ›wie Tiere‹ zu behandeln, machen das Abwerten von Menschen und deren Einordnung als ›Untermenschen‹ erst möglich. So konstatiert der Soziologe Wolfgang Sofsky, der das Terrorsystem der Konzentrationslager analysiert: »Am Ende wird das Opfer gar nicht mehr als fühlendes, denkendes und handelndes Wesen begriffen. Er ist kein Mensch mehr. Für den Täter gehört der andere nicht mehr in dieselbe Kategorie Lebewesen wie er selbst.« (Sofsky 1997: 269) Das Menschsein einer Person als moralisch relevante Kategorie bedingt im Umkehrschluss die ›Nichtmenschen‹, die nicht oder nicht auf dieselbe Weise moralisch zu berücksichtigen sind. Die Kategorie des Menschen und des aus ihr erwachsenden ›Nichtmenschen‹ ermöglicht die Rechtfertigung einer ›menschenunwürdigen‹ Behandlung. Theodor W. Adorno sieht eine Basis für Antisemitismus und Rassismus in der Gleichsetzung mit nichtmenschlichen Tieren: »Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets immer wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom.« (Adorno 2003:118)
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Die Rechtswissenschaftlerin Maneesha Deckha, die sich mit der kulturellen Bedeutung der Kategorie des Subhumanen für Gewalt beschäftigt, geht ebenfalls von einer solchen Interdependenz der verschiedenen Herrschaftsformen aus, wenn sie erläutert: »Dehumanization promotes racialization, which further entrenches both identities. It is an intertwined logic of race, sex, culture and species that lays the foundation for the violence.« (Deckha 2010: 39) Deckha stellt auf dieser Grundlage die Frage, ob Diskurse, die auf dem Argument der Menschenrechte fußen, grundsätzlich wirkungsvoll für diskriminierte Gruppen sind: »This approach does not effectively achieve its aims of protecting vulnerable human groups from violence because it leaves the subhuman category intact, a category that humanized humans can always assert should convictions sway about the relative moral worth of a particular human group. The subhuman category is then poised to ›animalize‹ or dehumanize the target group and generate corresponding justifications as to why the human group does not deserve better than subhuman treatment.« (Deckha 2010: 44)
So gelangt Deckha zu der Schlussfolgerung, im Hinblick auf die Menschengruppen, die ›entmenschlicht‹ werden, sei die bessere Strategie die Auflösung der Kategorie des ›Subhumanen‹ mit Hilfe der Infragestellung der MenschTier-Grenze und damit der menschlichen Überlegenheit (vgl. ebd.).
D ISKURSE
UND
TIERBILDER — FA ZIT
In der Tradition der Aufklärung war das Verhalten gegen Menschen und gegen Tiere lange als gleichgerichtet betrachtet worden. Im Rahmen eines anthropozentrischen Tierschutzes wurde Tierschutz als indirekte Verpflichtung gegenüber nichtmenschlichen Tieren und primär als Verpflichtung den Menschen gegenüber angenommen, da durch einen grausamen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren »das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird«. (Kant 1797: 443) Mittlerweile geht der herrschende Diskurs offenbar nicht mehr von einem Zusammenhang zwischen dem Verhalten gegenüber Menschen und dem gegenüber anderen Tieren aus. Dieser Paradigmenwechsel könnte eine Folge der pathozentrisch-instrumentalisierenden Umdeutung des Tierschutzes im Nationalsozialismus sein, möglicherweise aber auch im Zusammenhang mit einer Verteidigung der Ernährungsgewohnheiten in Zeiten einer industrialisierten Tierhaltung stehen.
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Gegenwärtig wird vielerorts ein Zusammenhang zwischen Tierschutz oder Tierbefreiung und Menschenfeindlichkeit suggeriert, der jedoch nicht belegbar erscheint. Unter den Argumenten finden sich logische Fehlschlüsse, eine eingeschränkte Reproduktion von Geschichte, wenn es um die Tierschutzbewegung und Vertreter_innen von Tierschutz- und Tierrechtspositionen geht, sowie eine verkürzte Betrachtungsweise der Tierpolitik im Nationalsozialismus. Zur Unterstützung der These werden prominente Vertreter antisemitischer Ideen, die (möglicherweise) Vegetarier waren, herangezogen und Gegenbeispiele weitgehend ausgeblendet. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist jenes Anführen von Beispielen kaum geeignet, um einen zwingenden Zusammenhang der Überzeugungen zu verifizieren, hingegen ließe sich ein solcher nach gängiger Wissenschaftsauffassung durch Gegenbeispiele widerlegen. Zuweilen wird in der aktuellen Diskussion suggeriert, die Nationalsozialist_innen und heutige Tierrechtler_innen teilten das gleiche Tierbild – bzw. das Bild des Menschen als ›auch nur ein Tier‹. Allerdings wird bei näherer Betrachtung der NS-Rhetorik schnell deutlich, dass die Nationalsozialisten keineswegs bestehende ontologische und ethische Trennlinien zwischen Menschen und Tieren abzuschaffen gedachten, sondern sie lediglich punktuell verschoben und bestehende Hierarchien mit der Einführung von Kategorien wie ›Ungeziefer‹ oder ›Untermenschen‹ ergänzten. Der Grundtenor legt nahe, eine ›Aufwertung‹ tierlichen Lebens ginge einher mit einer Abwertung menschlichen Lebens bzw. mit dem Ausschluss menschlicher Gruppen aus der Moralgemeinschaft. Bei genauerer Betrachtung scheint es jedoch vielmehr die Aufrechterhaltung der Grenze zwischen ›Mensch‹ und ›Tier‹ zu sein, die die Zuschreibung des ›Untermenschen‹ ermöglicht, sowie die speziesistische Unterscheidung zwischen ›edlem Tier‹ und ›Schädling‹, die zur ideologischen Untermauerung der schonungslosen Ermordung und Vernichtung von Menschengruppen herangezogen wurde. Der Blick auf nichtmenschliche Tiere ist der Blick von Privilegierten auf Unterprivilegierte. Dort, wo Tiere dem Nutzen der Menschen entzogen werden, müssen Menschen Privilegien zurückstecken, was jedoch von einer Abwertung oder dem Ausschluss aus der Moralgemeinschaft grundsätzlich verschieden ist. Der Diskurs zu Tierliebe und damit auch zu Tierbildern der Nazis ist eng verknüpft mit Einstellungen zu Tierschutz und Tierbefreiung und nicht zuletzt auch mit dem Bild der Nazis in den Köpfen der Diskursteilnehmer_innen. Deutlich wird, dass auch der Blick auf die deutsche Vergangenheit simplifizierend erfolgt und, obwohl die Täter_innenforschung ein differenzierteres Bild zeichnet, scheinbar schematisch an einer Gut-Böse-Dichotomie orientiert bleibt. Hitler und die SS werden zum personifizierten Böse, zu Unmenschen,
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die nichts mit ›uns‹ gemein haben und denen so, wenn auch auf andere Weise abgesprochen wird, in dieselbe Kategorie Mensch wie ›wir‹ zu gehören – ein Täterbild, das sich nicht zuletzt als fatal erweisen könnte, wenn es darum geht, zu verhindern, dass sich dieser Teil der Geschichte wiederholt.
L EHREN
AUS
G ESCHICHTE
UND
G ESCHICHTSPOLITIK
Auch wenn der herrschende Diskurs Geschichte und Gegenwart verzerrt und grundsätzlich Verschiedenes zu Gleichem deklariert, sollte die darin enthaltene, gerechtfertigte Kritik in heutigen Tierschutz- und Tierrechtszusammenhängen nicht ignoriert werden. Für eine Bewegung ist es von grundlegender Bedeutung, die eigene Geschichte zu untersuchen, um aus ihr lernen zu können – nicht nur, um die diskursiv vorgenommene ideologische Verortung historisch fundiert widerlegen zu können, sondern auch, um bewusst Einfallstore für menschenverachtende Ideologien geschlossen zu halten.9 Dabei steht die Tierrechtsbewegung vor dem Problem, dass große Teile ihrer Geschichte kaum bekannt sind und Dokumente nicht gesichert wurden (vgl. Brucker: 2009: 1). Nicht geleugnet werden sollte, dass Tierschutz und Antisemitismus zuweilen Hand in Hand gingen. So wird nicht zu Unrecht eine fehlende Vergangenheitsaufarbeitung deutscher Tierschutzorganisationen kritisiert und zudem auch eine gewisse Kontinuität im Hinblick auf »die vom Antisemitismus getragenen Anti-Schächt-Kampagnen« (Schmidt 1996: 78). Ein bewusster Umgang mit der deutschen Vergangenheit und einem latenten bis offen zutage tretenden Antisemitismus existiert in Teilen der Bewegung gewiss. So wird auch von Tierrechtsseite eingewandt, die Kritik am Schächten erfolge häufig in Zusammenhang mit antisemitischen, antiislamischen oder allgemein ›fremden‹feindlichen Aussagen (vgl. Pack 2004). Thematisiert wird die Gefahr der Manifestierung eines Antisemitismus auch bei den sogenannten Holocaust-Vergleichen (vgl. Pack 2004), mit denen besonders die Organisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) Kontroversen auslöste, wobei von Teilen der Tierbefreiungsbewegung kritisiert wurde, durch den Vergleich werde die historische Singularität des Holocaust verneint und Vernichtungsabsicht mit Verwertungsabsichten gleichgesetzt (vgl. etwa AG des Hamburger Tierbefreiungstreffens 2004). 9 | In den Blick genommen werden sollte dabei nicht nur die NS-Geschichte, sondern auch die neuere Geschichte, so etwa der Umgang mit Strömungen wie Hardline oder Frontline, mit Unterwanderungsversuchen durch Neonazis, Organisationen wie dem Universellen Leben oder Einzelpersonen, die Berührungspunkte mit Neonazis nicht scheuen.
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Hier schließt sich der Kreis der Instrumentalisierung des Holocaust, die die Organisationen FederFauna und PETA beide in skandalisierender Absicht, wenn auch auf der Grundlage entgegengesetzter Argumente und Ziele betreiben. Tierschutz und Vegetarismus waren nicht für den Holocaust und weitere Opfer des Nationalsozialismus verantwortlich und im Rahmen der industriellen Massentierhaltung findet kein Holocaust statt. Die Debatte um Veganismus, Tierbefreiung oder die Nutzung nichtmenschlicher Tiere kann nur mit Geschichtsbewusstsein und ohne geschichtspolitischen Rekurs auf die NSZeit seriös geführt werden. Im Rahmen dieses Textes konnte nur umrissen werden, was sich als breites, noch kaum bearbeitetes Forschungsfeld darstellt. Es bleibt zu hoffen, dass die im deutschsprachigen Raum noch recht jungen Human-Animal Studies sich in nicht allzu ferner Zukunft einiger Themen wie den Tierbildern im Nationalsozialismus, den politischen Einstellungen innerhalb der Tierrechts-/ Tierbefreiungsbewegung und unter vegan/vegetarisch lebenden Menschen sowie der Geschichte der Tierschutz- und der Tierrechts/Tierbefreiungsbewegung im deutschen und internationalen Kontext annehmen werden.
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Der kritischen Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Tier ist es bislang nicht gelungen, das konkrete Tier auszumachen. Seit Derrida wissen wir, der Singular »das Tier« meint immer eine Vielheit (vgl. Derrida 2010: 47ff.), »Das ist ein Wort, das Tier, das ist eine Benennung, die Menschen eingeführt haben, ein Name, den dem anderen Lebenden zu geben, sie sich das Recht und die Autorität gegeben haben.« (Ebd.) »Das Tier« beschreibt eine Mannigfaltigkeit wie es bei Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tier-Werden heißt (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 326). Und auch die Bilder, die wir vom Tier und uns vom Tier machen, sind von seiner Individualpräsenz oft weit entfernt – »[U]nsere Tierbilder sind tatsächlich kollektive Bilder.« (Winzen 2002: 178) Das Problem, mit dem wir es sowohl im Zusammenhang mit der Sprache vom Tier als auch bei dem Abbilden des Tieres zu tun haben – und das haben Jacques Derrida, Gilles Deleuze/ Félix Guattari und Steve Baker, wenngleich in gänzlich unterschiedlichen Disziplinen verortet, hinreichend diskutiert – ist die Abwesenheit des individuellen Tieres und einer damit einhergehenden radikalen Verklärung: »Die kulturelle Verdrängung der Tiere ist natürlich ein komplexerer Prozess als ihre physische Verdrängung. Die Phantasietiere können nicht so leicht verjagt werden. Sprichwörter, Träume, Spiele, Geschichten, Aberglauben, die Sprache selbst, erinnern an sie: die sind nicht verjagt worden, statt dessen hat man sie anderen Kategorien zugeschrieben, so dass die Kategorie Tier ihre zentrale Bedeutung verloren hat.« (Berger 2003: 23) Meine nachfolgenden Überlegungen gehen aus einem Forschungsprojekt hervor, an welchem ich seit einiger Zeit arbeite und welches sich mit der Frage beschäftigt, wie das Dekonstruieren von Bildern des Tieres das konkrete Tier freizulegen vermag und inwieweit die künstlerische Bildproduktion im Stande ist, das Begehren des eigentlichen Tieres heraufzubeschwören, nämlich dann, wenn ein Werk nicht mehr Gegenstand, sondern Mittel der Betrachtung ist.
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Ausgangspunkt meiner Gedanken ist die Suche nach dem konkreten Tier in der zeitgenössischen Kunst oder besser, die Suche nach dem, was konkretes Tiersein heute bedeuten kann. Allzu schnell wird klar, auch in der künstlerischen Auseinandersetzung wurde das Tier seiner Rolle als Surrogat bislang selten enthoben. »Die Verwendung des toten oder lebenden Körpers des Tieres als Bild, als Material oder als Medium in bildender Kunst und visueller Kultur geht von der Vorstellung einer Hierarchie der Lebewesen aus, bei der der übergeordnete Mensch das untergeordnete Tier in jeder Form beherrscht und in Bilder zwingt.« (Ullrich 2004: 1) Doch mit welcher Art von Bild, von Substitut, haben wir es hier zu tun? Welcher Mechanismus greift, wenn wir davon ausgehen, dass das konkrete Tier zwar absent, nicht jedoch ausgelöscht ist? Was bedeutet das »Begehren des Bildes« (vgl. Mitchell 2008) für das Bild des Tieres? Und welche Bedeutung kann diese Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst für die anthropologische Differenz haben? »Bei allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurteil soll es erregen? Und dann noch: Bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?« (Nietzsche 1983: 523) Verstehen wir das tierliche Leibsein vorerst als mögliche Spur des Authentischen, welches lediglich von menschlichen Konstrukten wie Metaphern, Effigien und Bildern überdeckt wird1, muss man, so meine These, in der weiteren Auseinandersetzung das Tier in einem doppelten Sinne als ein artifizielles Vorstellungsbild verstehen und kann es als ein solches dekonstruieren – einerseits als mentales Bild menschlicher Spiegelwünsche, dem Streben nach Ersatzschönheit, Ebenbildnerei und/oder dem romantischen Verlangen nach Vereinigung mit der Natur, andererseits als ein Artefakt künstlerischer und künstlicher Bildproduktion. Unter Berücksichtigung der noch jungen Diskursgeschichte der Bildwissenschaften möchte ich den Versuch einer eben genannten Dekonstruktion unternehmen und so soll die Frage nach einer tierlichen Gegenwärtigkeit, Körper und Leib, Repräsentiertem und Repräsentation erster Gegenstand nachfolgender Untersuchung sein. Wenn wir also davon ausgehen, dass das konkrete Tier absent ist – demnach weder länger einen Teil der Natur, noch einen Teil der Kultur darstellt – müssen wir uns fragen, womit wir es dann zu tun haben. Dieser Text widmet sich deshalb dem tierlichen Leibsein und wendet sich später solchen künstlerischen Werken zu, die entweder den Versuch unternehmen, das konkrete Tier zu behandeln, oder aber die Abwesenheit des Tieres in den Fokus stellen. Eine Annäherung an das Individualtier kann nur über die Auseinandersetzung mit 1 | Erst in einem nächsten Schritt soll das Tier als ein Bild im Sinne eines gänzlichen Konstruktes, wie beispielsweise in Rassezucht und Genese menschlicher Idealvorstellung, untersucht werden.
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dem Bildcharakter des Tieres und der Dekonstruktion seiner Repräsentation erfolgen. Die Besonderheit besteht darin, dass immer auch die Realpräsenz des Tieres abwesend ist. Die Suche nach dem konkreten Tier ist ebenso immer auch eine Suche nach der Realpräsenz und der Gewichtung von Präsenz und Repräsentation. Die Realpräsenz wird, wie sich im Weiteren zeigt, durch die Überpräsenz des Konstrukteurs, des Menschen, negiert und jene Konstruktion wird zunehmend Teil einer gänzlich neuen Ästhetik.
R EPR ÄSENTATIONEN Carlo Ginzburg formuliert sehr treffend, welche Bedeutung der »répresentation« beigemessen wird: »[A]uf der einen Seite vergegenwärtigt die Repräsentation etwas Nichtgegenwärtiges, was eine klare Unterscheidung zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten voraussetzt; auf der anderen Seite ist die Repräsentation die Zurschaustellung eines Gegenwärtigen, die öffentliche Darstellung eines Dinges oder einer Person.« (Ginzburg 1992: 4)
Wenngleich die Repräsentation Ambivalenz aufweist, die ihr inhärenten Dichotomien einander auszuschließen scheinen, so wird nachfolgend aufgezeigt werden, dass wir es bei der Repräsentation in Bezug auf nichtmenschliche Tiere, folglich der Idee des Tieres, mit beiden Definitionen gleichermaßen zu tun haben: »In der ersten Annahme ist die Repräsentation das Requisit einer mittelbaren Kenntnis: sie macht ein nichtgegenwärtiges Objekt sichtbar, indem sie es durch ein Bild ersetzt [...].« (Ebd.) In diesem Fall kann der tierliche Körper Surrogat, Symbol, Metapher für alles Mögliche sein. »Die Kunstgeschichte ist reich an Tierdarstellungen. Doch trotz dieser Fülle an Bildern, auf vielerlei Art benutzt und gedeutet, als Symbol, Metapher oder Allegorie, scheint es, dass Tiere selten, wenn überhaupt je, als sie selbst dargestellt worden sind. Immer scheinen sie für etwas oder jemand anderen zu stehen.« (Longhurst 2005: 118) Das Tier fungiert demnach als repräsentierendes Moment, als Medium. Repräsentiert wird hingegen etwas Anderes; das Tier ist nicht selbstreferenziell. Zeichen und Referent sind klar voneinander zu unterscheiden. Komplizierter wird es, wenn die Idee des Tieres, das Bild, Schnittstellen mit der realen, konkreten, körperlichen Präsenz bildet. Das sichtbare Zeichen bezieht sich augenscheinlich auf den Referenten, so beispielsweise im Umgang mit lebendigen tierlichen Körpern. Rezipient_innen fassen das Tier als gegenwärtig auf, obwohl es sich, in einem vielfachen Sinne, ebenfalls um ein Bild bzw. um eine bildhafte Überlagerung handelt. Ein aktuelles Verständnis
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von Repräsentation ist das der Repräsentation als der inneren Fähigkeit, sich etwas zu repräsentieren: »Das Charakteristische der damit erreichten Entwicklungsphase dieser begrifflichen Bedeutung des Wortes Repräsentation liegt darin, dass bei solcher Verwendung nicht nur kein Ähnlichkeitsverhältnis, sondern auch keinerlei kausale Beziehung zwischen Repräsentat und Repräsentation mehr mitgedacht wird.« (Sandkühler 1999: 1385)
Das Tier ist in diesem Sinne ein anthropomorphes Repräsentat und damit Teil einer anthropomorphic creation (ebd.), die Repräsentation richtet sich nach der menschlichen Vorstellungsart, was dazu führt, dass das Tier ausschließlich artifiziell präsent ist und sein kann und demnach zu einem Gegenstand reiner Sichtbarkeit wird. Der Mensch zeigt sich hier gleichermaßen überpräsent, im Sinne eines Initiators, Konstrukteurs der Repräsentation, der tierliche Leib ist absent und so wird der Körper zu einem Ersatzkörper, zu einem reinen Träger fremder Information. Der tierliche Körper evoziert Abwesenheit. Boris Groys konstatiert, »dass sich [...] hinter den Zeichen etwas sehr anderes befindet, als die bloße Vorderansicht erscheinen lässt und zu erkennen verspricht: ein submedialer Raum, eine verborgene, abwesende und geheime Struktur, etwas Unsichtbares und Unbewußtes, welches das Äußere immer schon gesteuert und uns in eine Scheinwelt der Repräsentation eingeschlossen hat.« (Groys 2002: 395)
»In traditionellen Abhandlungen über Repräsentation liegt der Schwerpunkt darauf, wer oder was repräsentiert wird, während in zeitgenössischer Theorie die Aufmerksamkeit dem Prozess des Repräsentierens gilt, der Frage also, wer die Repräsentation ausübt.« (Belting 2002: 29) Belting wirft damit die Frage nach der Autorschaft der Repräsentation auf. Das Tier wird durch Medialisierung zu einer Repräsenz eines Anderen gemacht. Die Entzweiung von Realpräsenz und Repräsenz ist der Idee des Tieres immanent. Der Körper nichtmenschlicher Tiere muss als eine mediale Projektionsfläche verstanden werden. Leib und Körper sind voneinander losgelöst. Carol J. Adams Begriff des abwesenden Referenten beschreibt treffend das Phänomen des Zwischenraums, in welchem sich das konkrete Tier zwischen Leibsein, Körper und Fremdpräsenz befindet. Nimmt man die Repräsenz als gegeben hin, liegt die Verbindung zum Bild nahe. Der Effigienkult, bei welchem »[a]n die Stelle des abwesenden Körpers [...] ein Ding [tritt], das ihm ähnelt (oder auch nicht); so etwa die Puppen aus Wachs, Holz oder Leder, die während der Bestattung der französischen und englischen Herrscher auf den königlichen Sarg gestellt wurden« (Ginzburg 1992: 4), und die metaphorische Überfrachtung der Tierdarstellungen, deren
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Symbolgehalt sich bis heute in künstlerischen Werken ausmachen lässt 2, sind nur zwei Beispiele, die uns lehren, in representationem wörtlich als Bildnis zu verstehen.
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Aber werfen wir erst einmal einen Blick auf die möglichen Bilder, die nachfolgend besprochen werden. Zum einen wäre da das Bild welches ich im Weiteren gerne als Urbild benennen möchte. »Bild kommt vor Abbild, und bilden ist ursprünglicher als mitteilen.« (Ginzburg 1992: 12) Urbild meint nichts anderes als das Konkrete, das Tatsächliche; um Jean Baudrillard anzuführen, ohne näher auf seinen Begriff des Simulakralen einzugehen: das Etwas, von dem der Mensch sich noch kein Bild gemacht hat (vgl. Baudrillard 2008). Des Weiteren wird die Rede von dem Abbild sein. Der Begriff des Abbildes wirft einige Probleme auf, da es sich dabei um das Etwas in der Welt handelt, von welchem sich der Mensch ein Bild macht, hierzu sind sowohl Bilder reiner Vorstellung, also imaginierte Bilder, zu rechnen, als auch solche, die allgemein unter Bildproduktion zusammengefasst werden können (Gemälde, Fotografien, Abgüsse, digitalisierte Wiedergaben etc.). Diese Unterscheidung wird dann von Bedeutung sein, wenn es darum geht, inwiefern der Mensch die Rolle des Schöpfers oder besser des Konstrukteurs einnimmt. Grundlage meiner Überlegungen ist, dass das Überlagern des Urbildes durch erstens das Vorstellungsbild, welches sich der Mensch unweigerlich macht, und zweitens durch die diversen Schichten konstruierter subjektiver, emotionaler assoziativer und affektiver Bilder entsteht, welche der Mensch aus verschiedensten Beweggründen auf das Tier projiziert und welche im Folgenden als Trug- bzw. Zerrbilder denotiert werden. Martin Schulz beschreibt diese Art von Repräsentation als »ein Bild eines Bildes, welches wiederum einen inszenierten Körper zeigt, der sich auf andere und nächste Bilder bezieht, die ihrerseits schon nachgeahmt wurden und in unserem Blick, ob vertraut oder fremd, anziehend oder abstoßend, ohnehin bereits als Bilder erscheinen« (Schulz 2002: 1). Der Mensch schafft also Realität: »Was wir Welt nennen, ist keine vorgegebene Fertig-Welt, sondern sie ist bei der ›Konzeptualisierung des Realen als eines Attributs der Repräsentation entstanden‹.« (Sandkühler 1999: 1386, Herv. i. O.) 2 | Aktuelle künstlerische Positionen befassen sich nicht zwingend mit spektakulären und wundersamen Erscheinungen, Attributen und Bedeutungen der Mythologie und sehen auch keinen Kanon geschichtsträchtiger Bedeutungselemente vor, sie bedienen sich ebenso profaner Themen, welche jedoch bei näherer Betrachtung gleichen Mechanismen unterworfen sind und sich ebenso als anthropozentrisch und anthropomorph interpretieren lassen.
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»Tatsache ist, dass ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und dass kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen. Ähnlichkeit ist für Bezugnahme auch nicht notwendig; fast alles kann für fast alles andere stehen. Ein Bild, das einen Gegenstand repräsentiert – ebenso wie eine Passage, die ihn beschreibt –, nimmt auf ihn Bezug und, genauer noch: denotiert ihn. Denotation ist der Kern der Repräsentation und unabhängig von Ähnlichkeit.« (Wiesing 2005: 26)
Zuletzt möchte ich noch das Körperbild anführen, welches die wohl größte Schnittmenge zwischen Realpräsenz und Repräsenz darstellt. Das Körperbild wird dann bedeutungsvoll, wenn das Tier augenscheinlich realpräsent ist und ist ähnlich konnotiert wie der von Schulz beschriebene Scheinleib als wirkliche Substitution: »[D].h. [ein] an ein Medium3 gebundene[s] Bild in seiner Funktion als stellvertretender Ersatz, als Scheinleib und wörtlich eben als Re-präsentation eines nicht im selben Raum präsenten, nicht mehr anwesenden Körpers; als Exkarnation, Veräußerlichung oder Verkörperung eines ursprünglichen Körperhaften.« (Schulz 2002: 15) Für den anthropologischen Ansatz der Bildwissenschaften sind die Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit des bewussten Daseins; Bilder sind zuerst einmal Artefakte des Menschen (vgl. Wiesing 2005: 17ff.).4 Sowohl konkrete Bilder als auch Vorstellungsbilder sind Gegenstand bildwissenschaftlicher Forschung. »Die Rede von inneren und äußeren Bildern, von Bildern im Geiste und Bildern an der Wand ist keine Äquivokation. In inneren und äußeren Bildern ist gleichermaßen ein Bewußtsein von etwas, das nicht anwesend ist, angesprochen. Wer sich einen Film anschaut, hat als Betrachter ein Bewusstsein von einer nicht anwesenden Wirklichkeit, so wie derjenige, der sich eine Situation in der Vorstellung ausmalt.« (Wiesing 2005: 22)
Implizit ist, »dass sich uns etwas unausweichlich entzieht« (Didi-Huberman 1999: 17).
3 | Schulz beschreibt den Scheinleib in Bezug auf das Loslösen des eigentlichen Körpers durch Medien. 4 | Ob und inwiefern nichtmenschliche Tiere selbst Bilder produzieren, soll nicht Teil dieser Untersuchung sein. Vielmehr geht es um das Verständnis des nichtmenschlichen Tieres als Dargestelltes und die Konsequenzen dieser Erkenntnis für den Umgang mit dem lebenden Tier.
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Die Frage nach der Repräsentation ist immer auch eine Frage nach dem Körper. »Der Körper wird seither eher als Einzelwesen verstanden, das sich vom kollektiven Körper der Gemeinschaft gelöst oder aber darin aufgelöst hat.« (Belting 2002: 29) Wenn im Folgenden die Rede vom Körper sein wird, ist dieser als ein Bildkörper zu verstehen. Solche Bildkörper »stellen nicht Körper um ihrer selbst willen dar, sondern drücken mit dem Körper eine Idee [...] aus, die sie verkörpern. Die dargestellten [und zur Schau gestellten, Anm. M.M.] Körper sind gleichsam Stellvertreter, die anschaulich machen, was sich sonst der Anschauung entzieht [bzw. sich somit der Anschauung nicht zu entziehen vermag, Anm. M.M.] und nur gedacht werden kann oder geglaubt werden muss.« (Ebd.) Was hier in einer anderen Kontextualisierung von Belting beschrieben wird, lässt sich auf den tierlichen Körper als Medium übertragen. Der eigentliche Körper hat sich durch das Bildvermögen des Menschen in eine bestürzende Erfahrung der Absenz verwandelt, da die antizipierte Wirklichkeit nur mehr als Modell, als eine Reliquie der Erinnerung, als Erscheinung überlebt (vgl. Frohne 2002:422). Der tierliche Körper ist Teil der menschlichen Bildproduktion und als ein solcher stellt er ein Sichtbarkeitsgebilde, einen Gegenstand aus Sichtbarkeit dar. »Entscheidend ist, dass in der präzisen Rede über Bilder zwischen dem Dargestellten, der Darstellung und dem Darstellenden differenziert werden muss.« (Wiesing 2005: 27) Mit dieser Unterscheidung geht auch die Dekonstruktion des Bildkörpers des Tieres einher. Das Dargestellte ist die Extension, die Darstellung ist eine mögliche Intension, das Darstellende ist Zeichenträger. Folglich gibt es den darstellenden Bildträger, hier der tierliche Körper, die im Bildkörper gegebene Darstellung, welche ferner als Intention, besser als Projektion, verstanden werden sollte, und das Dargestellte, welches einen mehr oder weniger bezeichneten realen Gegenstand meint, und sich ebenso auf den Tierkörper wie auf weitere ästhetische Wahrnehmungsphänomene – also das Wahrnehmen von Kunstwerken – beziehen und so weiteres Abbild sein kann. Autor und Initiator der Darstellung ist der Mensch. Es lässt sich zusammenfassen: Allein die Tatsache, dass der Mensch sich vom Tier eine Vorstellung, also ein Bild im Kopf gemacht hat, bedingt die Absenz des Urbildes. Das irdische Abbild hat das Urbild verdrängt. Dieses irdische Abbild wird auf den Körper des Tieres projiziert und macht ihn so zum Darstellenden, also zum Träger von Information, und zum Bildkörper, Extension, gleichermaßen. Das künstlerische Bildvermögen evoziert folgerichtig ein Bild eines Bildes. Die Intention, also die Darstellung, ist das, was die Betrachter_innen wiederum als Bild rezipieren. Nicht erst das Abbild, sondern bereits der Körper, der dahinter steht, muss als Bild gedacht werden. Das Tier ist eine Einheit von Bildträger (Signifikant) und Bildobjekt (Designat). Die Wahrnehmung des Tieres als Entität, als einfach Seiendes, und nicht als ein kompliziertes Konstrukt menschlicher Ima-
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gination5 bedingt, dass wir es letztlich einmal mehr mit einer Fragmentarisierung und der damit einhergehenden Desubjektivierung zu tun haben. Nur, dass diese Desubjektivierung eine abbildende oder bildende ist und sich nicht wie beispielsweise in der Fleischverarbeitung auf eine Entzweiung der physischen Bestandteile bezieht.6 Dieser Prozess der Verbildlichung zeichnet verantwortlich für den objektbezogenen Umgang mit den lebenden Tieren. Interdependenzen zwischen solchen Bildern, die durch die menschliche Vorstellung den tierlichen Körper überlagern, jenen, die den tierlichen Körper konstruieren, und denen, die ihn in einem doppelten Sinne als Bildträger hervorgebracht haben, können mit Hilfe der Bildwissenschaften beschrieben und dekonstruiert werden. Das Bildvermögen des Menschen wird von Hans Jonas als ein physischer Aspekt der Macht und damit als eine Art von Gewalt angesehen, welche der Mensch (homo pictor) über seinen Körper hat (vgl. Jonas 1987: 40). Diese Art von Macht und Gewalt ist es, die er auch über den tierlichen Körper hat und welche Ute Eskildsen, auf die Position des Tieres bezogen, notwendigerweise als »Kein Recht am Bild« (Eskildsen 2005: 11) postuliert. Es zeichnet sich ab, dass die Mensch-Tier-Beziehung auch eine Betrachter_inBild-Beziehung ist. »Das wilde Tier konnte den langen Belichtungszeiten vorerst entkommen, das Zuchttier wurde still – und die Exoten in Käfige gestellt. In dem Interesse am lebenden Tier folgte die Kamera [und so der menschliche Blick, Anm. M.M.] dem Gewehr; bis heute dienen Tiere den Schönbildnern der Magazine, Amateuren und Künstlern – sich der Abbildung zu verweigern ist ihnen nicht vergönnt.« (Ebd.) Das Sehen und Wahrnehmen ist in der Vermittlung von sozialen Beziehungen ebenso bedeutsam wie die Sprache und so bedarf es nicht zuletzt der Betrachtung der Relationalität von Bild und Betrachter_in. Dies sollte auch Gegenstand der Untersuchung des Verhältnisses und vor allem des Verständnisses zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren und so Grundlage einer aktuellen Mensch-Tier-Diskussion sein.
5 | Wer nun anmerkt, dass wir Menschen alles in unserer Welt imaginieren, tut dies zurecht. Die Imagination von Menschen und/oder der unbelebten Welt, unterliegt jedoch anderen Mechanismen und muss folglich mit Hilfe anderer Methoden untersucht werden. 6 | Siehe hierzu die Ausführungen zur Desubjektivierung durch Fragmentarisierung von Klaus Petrus: http://www.tier-im-fokus.ch/mensch_und_tier/fragmentierte_sub jekte/ vom 25.01.2013, letzter Zugriff 22.06.2013.
Konstruktionen tierlicher Sichtbarkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz
W IM D ELVOYES ’ A RT F ARM Der belgische Künstler Wim Delvoye führt mit seinem Projekt Art Farm den Rezipient_innen nur zu gut vor Augen, was das (Ab-) Bilden des tierlichen Körpers meint. Er initiierte7 bis zum Jahr 2008 das Tätowieren lebender Schweine auf einer Farm in Yang Zhen, Peking, nachdem er zuvor Häute von Schweinen tätowiert hatte, welche er aus Schlachthäusern bezog. Neben Delvoyes Konsumkritik – zu den Motiven gehören Markenlogos wie das des Modelabels Louis Vuitton – tritt in seiner Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Körper und der Haut besonders deutlich in Erscheinung. Auf der Kunstfarm in China – Delvoye musste einem richterlichen Beschluss Folge leisten und das Tätowieren der Tiere in Europa einstellen – lebten bis zu 24 Schweine unter, möchte man den Vergleich zur Massentierhaltung anführen, verhältnismäßig guten Bedingungen. Das Bild des Zuchttieres stellt eine der vielschichtigsten Konstruktionen menschlichen Abbildungsvermögens dar. Noch bevor ein Rassetier geboren wird, ist sein Körperbild bereits imaginiert. Rasse- und Zuchtstandards definieren die charakteristischen Merkmale, die als Zuchtziel angestrebt werden und sich vor allem auf den Phänotypus konzentrieren. Ideale Vertreter_innen einer Rasse werden auf Ausstellungen von Zuchtrichter_innen prämiert, solche Individuen, die der Normierung nicht entsprechen, werden von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Das domestizierte Tier wird in einem mehrfachen Sinne auf seinen Körper und sein Abbild reduziert. Die erste bildliche Konstruktion ist demzufolge Delvoyes Verwendung von Rasseschweinen inhärent. Die Tiere werden auf der Farm großgezogen bis sie ein Gewicht von ca. 30 kg erreicht haben und damit als tätowierfähig gelten. Delvoye beschäftigt Menschen, die sich um das Reinigen der Ställe, die Fütterung der Schweine und Vorbereiten der Tiere kümmern. Der Tätowierprozess erfolgt nach Sedierung des Tieres und wird nach und nach vollzogen. Die Haut der Schweine wird mit Vaseline behandelt und durch Lotion vor dem Sonnenlicht geschützt. Dass das Tätowieren für die Tiere ein traumatisches Erlebnis darstellt und ihnen unausweichlich die Schlachtung bevorsteht, ist dem Werk immanent. Inwiefern die Betrachter_innen dies jedoch auszublenden vermögen, hat mit der Tatsache zu tun, dass das Schwein, per se ein Tier der Schlachtung, der Einverleibung und des Nutzbringens, wenig eindeutige Gefühle im Menschen hervorruft, obwohl es eines der frühesten domestizierten Tiere der Zivilisationsgeschichte ist. Physiologisch sind sich Menschen und Schweine sehr ähnlich. Dies betrifft sowohl die Beschaffenheit des Fleisches als auch die Struktur des Fettgewebes. Delvoye verwendet sogenannte weiße Schweine, die eine helle rosige Haut aufweisen, welche als ein Analogon zu der westeuropäischen menschlichen Haut 7 | Vgl. ART FARM REVISITED (2012, 24 min.) (China, R: Lissette Olivares).
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verstanden werden kann. Die Haut menschlicher und nichtmenschlicher Tiere gleicht sich in vielerlei Hinsicht mehr, als dass sie sich unterscheidet, und so lassen sich Parallelen ziehen und Aussagen treffen, die für beide Spezies zutreffend sind. »Die Haut des Menschen hat ganz unterschiedliche Funktionen. Insbesondere bietet sie Schutz vor Wärme [und] Kälte [...], weiterhin vor dem Eindringen bestimmter Mikroorganismen und anderen schädlichen Einflüssen von außen. Zudem bewahrt sie den menschlichen Körper vor Wärme- und Wasserverlust. Darüber hinaus ist die Haut das größte Sinnesorgan des Menschen, über das er mithilfe unterschiedlicher Rezeptoren Schmerz, Wärme, Kälte oder auch Vibrationen und Druck wahrnehmen kann. Diesen eindrücklichen Wahrnehmungen stehen aber auch eine Reihe von Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber, mit der die Haut Signale an die Umwelt weitergibt, die Hinweise auf die Verfassung des Menschen geben können. So kann die Haut erröten oder erblassen, man kann eine ›Gänsehaut‹ bekommen und über gewisse Drüsen in der Haut Pheromone aussenden. Auch in dieser biologischen Perspektive ist die Haut Mittler zwischen Innen und Außen, gehört sozusagen zwei Welten an. Die enge Verbindung von Haut und Innenwelt zeigt sich z.B. in dem Ausspruch ›Die Haut als Spiegel der Seele‹, der darauf hindeutet, dass die Haut als Ausdrucksfläche besonders sensibel auf psychische Belastung reagiert.« (Bidlo 2010: 38) Wenn Delvoye ein Schwein, vielmehr, das Bild eines Schweines tätowiert bzw. tätowieren lässt, so hebt er den tierlichen Körper in einer zweiten Stufe in die Abbildhaftigkeit. Er schreibt ein Bild in die Haut ein, welches wesentlichen Anteil an der Gestalt und an dem Erscheinungsbild des Tieres hat. Die Tatsache, dass das Schwein kein Recht an seinem Bild hat, verdeutlicht, dass es sich lediglich um das Einschreiben anthropologischer Information handeln kann. Das tätowierte Schwein wird einmal mehr zu einer Reproduktion gesellschaftlicher Spiegelwünsche, seine Haut zur Projektionsfläche. Dies steht im Gegensatz zu einem Menschen, der sich bewusst für eine Körpermodifikation entscheidet und so den Übergang »vom Körper hin zum spezifischen Selbst, das sich zeichenhaft [...] [über die Tätowierung] zu repräsentieren sucht« (Bidlo 2010: 41) vollzieht. »Die Haut ist eine besondere Oberfläche. Sie ist Trennwand zu(m) anderen, eine Grenze des Individuums zu seiner Außenwelt, eine Demarkationslinie zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Du, die nicht ohne Weiteres überschritten werden kann.« (Schüller 2011: 116) Durch das Einschreiben von Information in die Haut der Tiere wird diese Grenze jedoch überschritten. »Die Verfügung über die Haut des Anderen war und ist immer auch an Herrschaft und Macht gekoppelt.« (Bidlo 2010: 24) »Eines der berühmtesten literarischen Beispiele, in denen Haut eine zentrale Rolle spielt, ist Kafkas Erzählung ›In der Strafkolonie‹ aus dem Jahr 1919. Eine bis in feinste Details
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ausgetüftelte Apparatur graviert dort den Delinquenten Gebote in die Haut, bis sie nach langen Stunden an den Folgen dieser Folter sterben. [...] Die in die Haut geritzten Gebote beinhalten jeweils die Vergehen der Verurteilten. Interessanterweise kennt dieser seinen individuellen Lehrsatz vor Ausführung der Strafe nicht: ›Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib‹ – die Inschrift soll sich explizit ›im Körper vollziehen‹.« (Bidlo 2010: 117) Was sich in der Arbeit von Wim Delvoye im Körper der Schweine vollzieht, ist eine grenzüberschreitende aggressive Geste anthropozentrischen Bildvermögens. Und doch bedeutet diese künstlerische Auseinandersetzung mit der Körperoberfläche der Schweine eine Auseinandersetzung mit dem leiblichen raumgreifenden Körper und dem ihm inne wohnenden. »Die visuelle Rhetorik der Außenhaut ist immer auch ein Reden über Internes. Die Kunst der Körperoberfläche will dem Innersten nahe kommen durch Thematisierung des Äußeren [...].« (Kimpel 2008: 7) Nach eigener Aussage möchte der Künstler der Gesellschaft ein großes verzerrtes Spiegelbild vorhalten. Wenn er einen tierlichen Körper über und über mit einem Markenbranding wie dem des Herstellers Louis Vuitton versieht, – jedes junge Mädchen in China wünscht sich eine Handtasche dieses Fabrikats, so Delvoye – oder einen Körper mit den Helden und Prinzessinnen der Disneyfilme verziert, liegt auf den ersten Blick eine Glücksverheißung vor, welche durch die Assoziation zum Materialgebrauch der tierlichen Haut als Leder gebrochen wird. Gleichzeitig erinnert die rosige Haut an unsere eigene und wirft den Betrachter so auf seine eigene Körperlichkeit zurück. Auch wenn wir das konkrete Tier in Delvoyes Art Farm nicht auszumachen vermögen, zeigt er dennoch eine Spur des Authentischen auf, aber »[d]er fremde Körper, dessen Schrift ich lese, ist physisch abwesend und gleichzeitig als die Spur des Rhythmus seiner Hand anwesend.« (Hahn 2010: 118) Und schon jetzt sei auf ein ästhetisches Phänomen verwiesen, welches des Weiteren von Interesse für die Suche nach dem konkreten Tier sein wird: Delvoye arbeitet mit dem Stilmittel der Idylle, hier um genauer zu sein mit der von Julia Wirxel definierten, nachfolgend angeführten, gebrochenen Idylle. Einzelne Tierindividuen werden auf seiner Kunstfarm aufgezogen, er gibt ihnen Namen 8 und schreibt Bilder menschlicher Wünsche und Ideale, so zum Beispiel Charaktere aus Disneyproduktionen9, religiöse Motive und die genannten Markenlogos in ihre Haut ein. Er signiert sogar in der Schrift der 8 | Siehe hierzu die Ausführungen Jacques Derridas zu dem Verhältnis von Benennung und Machtausübung (vgl. Derrida 2010: 26 ff.). 9 | Es werden überwiegend solche Bilder tätowiert, die menschliche Wesen darstellen. Aber auch Donald Duck und Mickey Maus werden neu interpretiert: An ein Kreuz genagelt, blutend und mit verschlossenen Augen, stirbt Mickey gewissermaßen für all die anderen Mäuse, Hunde, Enten, Fische und Schweine.
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Walt Disney Company. Die Bezeichnung Art Farm impliziert etwas Idyllisches. Mit Farmen wird kollektiv etwas Positives, geradezu Natürliches, assoziiert. Farm steht in unserem Sprachgebrauch im Gegensatz zu Massentierhaltung und Mast.
Abbildung 1 »An dieser Stelle muss ein Blick auf das Merkmal von Gebrochenheit und Ungebrochenheit eines Kunstwerks gerichtet werden. Der Terminus wird so verwendet, dass in einer künstlerischen Arbeit ein Bruch vorhanden ist, sie ist gebrochen. [...] In der zeitgenössischen Kunst ist ein wie auch immer gearteter Bruch tendenziell zwingend. Mit diesem Begriff wird auf die Komplexität und die vielfältigen, im Werk angelegten Ebenen durchdringende und miteinander verwobenen Aspekte hingewiesen – und sogar darüber hinaus in der Erweiterung auf der Rezeptionsebene. Ein Bruch in einem Kunstwerk bedeutet, dass eine alles umfassende und alles erfassende Klarheit abgelehnt wird. Ebenso wird in diesem Zusammenhang zumeist das Einfache im Verständnis von simpel oder leicht verständlich vermieden. Die Kunstgeschichte, das verwendete Medium und gesellschaftliche Ereignisse sind kritisch, vielschichtig, intelligent, anspielungsreich und nicht für jeden sofort ersichtlich, also auf versteckte Weise [...] zu reflektieren.« (Wirxel 2012: 6)
Das die Idylle irritierende Moment ist Delvoyes Werk inhärent. Die fertig tätowierten Schweine – der Kunstmarkt wartete nur darauf, dass die Bilder der Schweine heranreiften –werden in Glasvitrinen wie 1998 im Museum DhondtDhaenens in Deurle, Belgien, lebendig und umringt von zweidimensionalen
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Bildern ausgestellt oder ihnen steht die Schlachtung bevor, ihre Körper werden entweder zu taxidermischen Skulpturen, Trophäen weiterverarbeitet oder aber ihre Häute werden auf bereitet, aufgespannt, ausgestellt. Und auch die Häutung stellt eine, im Kontext der Bildwissenschaften, interessante Form der Verbildlichung dar. Sich ein Bild machen rekuriert in der Fotografie nicht zuletzt auf den Mythos um Marsyas und Apoll.10 Das Häuten zeigt einmal mehr die Vielschichtigkeit des Bildermachens auf und bleibt als solche in der Rezeption auf der Ebene des ästhetischen Geschehens verhaftet.
Abbildung 2
10 | »Die spiritistischen Photographen Ende des 19. Jahrhunderts tragen als Trophäe die Haut des Geistes heim in die nüchterne Welt des Sichtbaren. Doch bereits einer der ersten – und zugleich originellsten – Kommentatoren der neuen Erfindung der Photographie, Oliver Wendell Holmes [...] unternimmt eine neue Deutung des antiken Mythos [...] am Leitfaden der Photographie: [...] Allgemein verbreitet und akzeptiert ist die Version, dass ein junger Hirte Minervas Flöte gefunden hat und naiv genug war, um einen musikalischen Wettkampf mit dem Gott der Musik einzugehen. Natürlich wurde er besiegt, und der Sieger fesselt ihn an einen Baum und häutet ihn bei lebendigem Leibe. Aber der Gott des Gesangs war ja gleichzeitig der Gott des Lichts [...].« (Stiegler 2006: 121) Und so deutet Holmes den Mythos subtil als einen Vorgang des Abbildens durch Licht, so wie auch in späteren Versuchen, eine Erklärung für das Abbilden durch Fotografie zu finden, die Sprache von Eidola – einem Häutchen, einer Schicht eines Körpers ist, welche durch die Macht der Fotografie abgelöst wird: »[U]nd die Photographie überrascht ihn, zieht ihm eine Schicht des Körpers ab und bewahrt sie auf. Daher kommt es für den Körper zu einem offenkundigen Verlust eines seiner Häutchen und mit ihm eines Teils seines konstitutiven Wesens.« (Stiegler 2006: 85) Was Stiegler hier als Metapher der Fotografie nach Nadar zitiert, ist wenngleich esoterisch anmutend, ein treffendes Schaubild für das, was ›ein Bild vom Tier machen‹ heute bedeuten kann.
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U NSERE H AUSTIERE — J O L ONGHURSTS S ZENERIEN EINES PANOP TIKUMS »Haustiere sind die idealen Spiegel, da sie nicht die tatsächlichen, sondern nur die erwünschten Bilder reflektieren.« (Baudrillard 2007: 115) So ist das schönste Haustier für Jean Baudrillard in seinem System der Dinge »eine Art Mittelding zwischen Wesen und Sache(n). Hunde, Katzen, Vögel [...] – ihre pathetische Anwesenheit ist das Zeichen für ein Versagen auf dem Gebiet der menschlichen Kontakte und für die Zurückgezogenheit in eine narzisstische Heimwelt, in der die Ichbezogenheit sich ungestört auswirken kann. Stellen wir nebenbei fest, dass diese Tiere geschlechtlich nicht bestimmt sind (manchmal, mit Rücksicht auf die Umwelt, kastriert werden), dass sie, wiewohl Lebewesen, doch wie Gegenstände keine Sexualität zeigen und gerade durch diesen Umstand keine gefühlsmäßige Beunruhigung stiften. Dank dieser wirklichen oder symbolischen Kastration tragen sie dazu bei, die Angst des Besitzers vor dem Kastriertwerden zu überwinden.« (Stiegler 2007: 114)
Die Fotografin und Wissenschaftlerin Jo Longhurst konzentriert sich sowohl in der wissenschaftlich theoretischen Auseinandersetzung als auch in ihrer künstlerisch praktischen Arbeit mit dem Haustier. »Das Haustier fehlt. Aber es fehlt nicht nur in der Diskussion, es wird bewusst ausgeschlossen.« (Longhurst 2005: 118) Anstoßgebend für ihre ›Anmerkungen zum fehlenden Haustier‹ ist die Feststellung John Bergers, »dass [...] die in der visuellen Kultur vorhandenen ›Tiere der Vorstellung‹ keine wirklichen physischen Tierbedürfnisse oder Grenzen hätten und nur dazu da seien, unsere eigenen narzisstischen Bedürfnisse widerzuspiegeln« (Longhurst 2005: 119), sowie Steve Bakers Ausführungen zu einem postmodernen Tier, welches vielmehr aussieht wie ein gebrochenes, merkwürdiges, ›falsches‹ oder verfälschtes Ding, bei dem es einem schwer falle, es nicht als Hinweis zu deuten auf das Thema, was Mensch-Sein heute bedeutet (vgl. Baker 2000: 54). Die beiden zwölfteiligen Tableaus ihrer Arbeit ›Twelve dogs, twelve bitches‹ aus dem Jahr 2003 zeigen auf den Einzelsegmenten je einen Vertreter der britischen, von der Fédération Cynologique Internationale (FCI) anerkannten, Hunderasse ›Whippet‹, wobei die linke Tafel ausschließlich Rüden, also männliche Hunde zeigt, während auf der rechten Tafel Hündinnen zu sehen sind. Im 19. Jh. zur Jagd eingesetzt, beschränkt sich das Interesse an den Windhunden seit dem 20. Jh. mehr auf den Einsatz der Tiere in Rennen oder als Schauobjekte bei Ausstellungen. Auf den ersten Blick erscheinen die Tableaus wie eine Art Entwurfsmuster. In ihrer Monotonie – die Hunde stehen in exakt gleicher Weise, der Kopf ist in dieselbe Richtung gewandt, Abstand zum Objekt, Hintergrund, Farbklang und Platzierung innerhalb des Formates sind
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Abbildung 3 von der Autorin minutiös geplant und stringent beibehalten – erschließen sich den Betrachtenden in einem zweiten Schritt die Insignien der Rassezucht. Longhurst erinnert mit der gewählten Präsentationsform an Stereotype der Vererbungslehre. Die Widerristhöhe der Individuen unterliegt wie auch Fellvariation, Ausprägung von Gesichtsschädel, Hals, Körper, Rute etc. dem FCIStandard Nr. 162, Abweichungen sind nicht erwünscht, alles folgt dem Idealbild eines Whippets. Sogar die eingenommene Haltung der Hunde beruht auf einer antrainierten Verhaltensweise – so lassen sich die besonderen Merkmale in einer Ausstellungssituation besonders gut beurteilen, wenn die Whippets gegeneinander antreten. Longhurst transformiert das Bild des Ideal-Whippets in ein nächstes Bild, wobei der Betrachter in dieser panoptischen Sicht auf den tierlichen Körper sich ungehemmt ein wiederum nächstes Bild machen kann. Das Tier wird, wie W.J.T. Mitchell es nennt, ein biologisch lebensfähiges Simulakrum seiner selbst. In diesem Zusammenhang steht auch der Klon, hier im Sinne einer Reproduktion von Idealbildern, den er wie folgt beschreibt: »Der Klon bezeichnet das heutige Potenzial zur Erzeugung neuer Bilder [dies impliziert den Schöpfungsdrang des Menschen] – Bilder, die insofern neu sind, als sie den alten Traum von der Erschaffung eines ›lebendigen Bildes‹ erfüllen, einer Replik oder Kopie, die nicht bloß ein mechanisches Duplikat ist, sondern ein organisches, biologisch lebensfähiges Simulakrum eines Lebewesens. Indem der Klon den Begriff der belebten Ikone auf den Kopf stellt, macht er das Verleugnen des lebendigen Bildes unmöglich. Wir erkennen nun, dass es nicht nur einige wenige Bilder sind, die lebendig zu werden scheinen, sondern, dass Lebewesen selbst immer schon in der einen oder anderen Form Bilder gewesen sind.« (Mitchell 2008: 28)
Das Streben nach Ersatzschönheit und die menschliche Überpräsenz verdrängen das individuelle Tier und so lassen sich auch die Namen bzw. Titel der Hunde lesen, welche von Longhurst angeführt werden: ›Champion Walkabout
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War Waggon from Stormalong‹, ›Elleonia Dancing Queen at Dumbriton‹ und ›Elaphine Blue Blood‹ lassen auf »das besondere Verhältnis der Züchter zu diesen Hunden [schließen], eine Mischung aus Kontrolle, Zuneigung und Wünschen [wird so] [...] zentraler Aspekt der Arbeit von Jo Longhurst. Die Idee des perfekten Rassetieres verfolgt die Künstlerin über eine genaue fotografische Registrierung der Tierkörper.« (Eskildsen 2008: 8) Am Beispiel einer Detailabbildung ist dem Werk eine weitere Bedeutungsebene zuzuschreiben. Longhurst zeigt mit ihren Hundefotografien einen Vorgeschmack auf das, was Schaulust in der heutigen Zeit bedeuten kann. So mutet das Gesamtgefüge der Fotografien zwar erhaben an, die Einzelbilder jedoch ermöglichen eine distanzlose Betrachtung der Individuen.
Abbildung 4 Der Rüde ›Nevedith Zedfa Zappa‹ steht seitlich vor graugrünlichem Hintergrund, die Lichtführung ist gleichmäßig, es gibt kaum Reflexionen und Schatten. Der Körper, derart befreit von einem sichtbaren Umraum, ist den Blicken der Betrachter_innen ausgeliefert. Bis auf einen hauchdünnen Faden um den Hals des Tieres ist kein weiterer Bildgegenstand auszumachen. Bedenkt man, wozu der Mensch fähig ist, wenn es darum geht, die eigenen Vorstellungen und Wünsche in den schöpferischen Prozess der Zucht einzubringen11 – wir alle kennen die Schreckensbilder von haarlosen Katzen, Hunden mit zurückgezüchteten Nasen, extrem vergrößerten Orbita und den daraus hervorgehenden Einschränkungen für die Tiere – geben die Arbeiten Longhursts eine erste Vorahnung auf das Verständnis und Verhältnis des Menschen zu seinem Haustier. Sein Körper wird mit ikonografischer Bedeutung aufgeladen, er trägt deut11 | »Möglicherweise besteht darin eine der Aufgaben der Kunst im Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit: die Codes offenzulegen und die Vorstellung von der ultimativen Beherrschung des Lebens als Illusion deutlich zu machen.« (Mitchell 2008: 222)
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lich die Zeichen menschlicher Gegenwart. Es ist das gleiche Interesse an der Abbildung, die Mischung aus Neugierde, Scham und Faszination, wie wir sie auch bei der Betrachtung von Schaubuden der Abnormitäten der Vergangenheit verspüren. Longhurst verführt die Betrachter_innen, sich der Schaulust hinzugeben. »Gleichzeitig sucht sie nach Formen, die das emotionale Verhältnis zu den Hunden darstellen.« (Ebd.) Dieses emotionale Verhältnis versucht Longhurst (sie selbst lebt mit mehreren Hunden dieser Art zusammen; sie sind Haustier und Studienobjekt gleichermaßen) in weiteren fotografischen Bildern des Werkkomplexes ›The Refusal‹ herauszuarbeiten, denn, und das macht sie zum Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung, »[w]enn das moderne Tier angeblich Abwesenheit oder Verlust darstellt oder, schlimmer noch, überhaupt nicht dargestellt wird, wird das postmoderne Tier höchst sichtbar, aber auf eine Art, die auf eine weitere Fragmentierung der Vorstellung vom Tier als einem eigenständigen Lebewesen hindeutet.« (Longhurst 2005: 119) Die Arbeit ›I know what you’re thinking‹ von 2003 zeigt vier Einzelporträts der gleichen Rassevertreter vor gleichfarbigem, graugrünem Hintergrund.
Abbildung 5 Der gewählte Bildausschnitt beinhaltet die Sicht auf den Kopf der Hunde bis zu ihrem Brustbein und rekurriert damit auf das Brustbild der menschlichen Figur. Besondere Qualität, und das macht die Arbeit von Longhurst für die Tierbilder der Kunst so einzigartig, ist der Anschein, die Tiere würden den Blick des_r Betrachtenden erwidern. Doch der Mensch ist auch hier überpräsent. Neben den Zuchtmerkmalen und -attributen sind es die Spiegelungen des künstlichen Lichtes in den Augen der Hunde und der Faden über dem Kopf zwei der Hunde, die eindeutige Verweise auf die Anwesenheit des Menschen in den Bildern erbringen. »Für die damit verbundene Ideologie sind Tiere immer die Beobachteten. Die Tatsache, dass sie uns beobachten können, hat jede Bedeutung verloren.« (Berger 2003: 25)
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Ä STHE TIK DES A BWESENDEN — Z UR ZOOLOGISCHEN U TOPIE VON W ESLE Y M EURIS Die von Wesley Meuris gestaltete Installation ›Cage for Galago crassicaudata‹ ist eine raumgreifende Käfigskulptur mit den Maßen 220 cm x 160 cm x 350 cm und als solche Teil seiner 2005-2007 entstandenen Arbeit ›Zoological Classification‹. Der an eine Vitrine erinnernde, architektonische Körper besteht aus zehn in Holz eingelassenen Glassegmenten und ist von den Betrachter_innen von drei Seiten einsehbar. Die vierte Seite des rechteckigen Gebildes ist holzverkleidet und geschlossen. Es gibt einen Boden, welcher einige Zentimeter über dem Ausstellungsboden abschließt, ebenfalls holzverkleidet, und ein den Raum nach oben abgrenzendes Element, eine Art
Abbildung 6 Abdeckung bzw. Himmel. Der Innenraum ist durch drei Leuchtstoffröhren hell und künstlich anmutend erleuchtet. Rückteil des Innenraums sowie der Boden sind mit kleinen grauen und weißen Mosaikfliesen versehen. In der hinteren Wand befindet sich auf der rechten Hälfte eine Aussparung, welche eine Durchreiche sein könnte und optisch die einzige Verbindung zum Außenraum darstellt. Der geflieste Boden fällt nach vorne hin ab, in der Senke hat sich Wasser gesammelt. So entsteht der Eindruck eines Wasserbassins. Der Werkstoffaufzählung des Künstlers ist zu entnehmen, dass die Installation auch eine Ventilation inkludiert, welche jedoch für die Rezipient_innen nicht sichtbar ist. Neben den Installationsgefügen von Meuris werden im Ausstellungsraum Tafeln angebracht, die den Titel des Werkzyklus’ aufgreifen; sie enthalten Daten und Informationen einer Klassifizierung. Hier definiert die zum Werk gehörende Tafel Größe, Gewicht, Verbreitung, Habitat
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etc. eines Halbaffens mit dem lateinischen Namen ›Galago crassicaudata‹, weist aber auch auf Fütterungszeiten, Käfigreinigung, Temperatur, Lichtintensität, Quadratmeterangaben etc. hin und steht somit im Kontext des Zoos. Im Werk verwandte Werkstoffe rekurrieren hingegen auf die Ästhetik von Erholungs- und Entspannungsräumen von Menschen, wie z.B. Thermen und Bädern. Einerseits integriert das Objekt zwar die physische Begrenzung und Topologie von Tierkäfigen in zoologischen Anlagen, andererseits schafft das Werk die Atmosphäre der Entspannung, die Besucher_innen eines Zoos zu verspüren suchen. Meuris arbeitet nicht mit der zooüblichen Imitation von natürlichen Lebensräumen, er spielt durch die Wahl des Materials und des Farbklangs mit der Ästhetik von Wellnesseinrichtungen und schafft so eine erste Irritation in der Wahrnehmung. Wie mit der Ambivalenz einer Vitrine – sie zieht die Blicke an, nur um in einem zweiten Schritt den Betrachter aufgrund ihrer Undurchdringlichkeit wieder abzuweisen – spielt Meuris mit der Anziehungskraft seiner Installation und der Ungewissheit und dem bitteren Nachgeschmack, der bleibt, wenn die Betrachter_innen auf die Tatsache verwiesen werden, dass es sich um einen Käfig und damit um einen Ort von Separierung, Freiheitsentzug und Zurschaustellung handelt. Desweiteren steht aber ein gleichermaßen verwirrendes Moment im Vordergrund: das zur Schau gestellte Subjekt fehlt. In all seinen Käfigen, Vivarien und Gebilden artifizieller Lebensräume ist das Tier absent. »The artist accentuates the visibility of a non-image, the absence of the animal, and in precisely this way turns the spotlight on the ubiquitous architectural context, its hidden background and the true protagonist. In this sense, Meuris turnes Jeremy Bentham´s renowned panopticon inside out. The guard/spectator is now in the spotlight, and not the prisoner.« (Dewilde 2007: 8)
Immer, so scheint es, geht es Meuris um die Macht der Imagination, um das Verhältnis von Werk und Betrachter_in. Imaginiert wird aber nicht nur ein virtueller zoologischer Garten, die Betrachter_innen imaginieren gewissermaßen das Gefangensein, das Zur-Schau-Gestellt-Werden. Die Rezipierenden machen sich ein Bild von dem Zustand, der mit W.J.T. Mitchell als ›Eröffnen einer poetischen Welt‹ bezeichnet werden kann. »Ein Bild ist [...] ein sehr eigentümliches und paradoxes Geschöpf, konkret und Abstrakt zugleich, sowohl ein spezifischer, individueller Gegenstand als auch eine symbolische Form, die eine Totalität umfasst. Sich ein Bild von etwas machen, ein Bild von etwas haben oder es festhalten heißt, eine umfassende Sicht auf eine Situation zu erlangen [...]. Um schließlich ein vollständiges Bild von Bildern zu erhalten, können wir uns nicht weiterhin mit einem engen Begriff von ihnen zufrieden geben, noch
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können wir uns einbilden, dass unsere Ergebnisse, gleichgültig wie allgemein oder umfassend sie sein mögen, mehr sein werden als ein Bild von Bildern [...] und zwar so, wie sie einigen von uns zu einem bestimmten Moment erscheinen. Denn was auch immer dieses Bild ist – wir selbst befinden uns [...] immer schon in ihm.« (Mitchell 2008: 15)
Erkunden wir Meuris’ ›Cage for Pelodiscus sinensis‹ ebenfalls aus dem Jahr 2005 – der Titel gibt einmal mehr Aufschluss darüber, dass es sich lediglich um den Käfig für, nicht aber um das Tier selbst handelt – sehen wir zunächst ein ähnliches Konstrukt aus Glas, Glasmosaikfliesen, Holz, einer Ventilation und Leuchtmitteln. Wieder ist der vordere Teil verglast, der hintere Part mit Holz ummantelt. Die Installation mit den Maßen 210 cm x 125 cm x 195 cm ist jedoch anderweitig erfahrbar. Durch acht Beine, die den Auf bau aus Holz und Glas tragen, wiegt die Arbeit visuell leichter und lässt sich umschreiten, d.h. von allen Seiten betrachten.
Abbildung 7 Wie auch die angeführte Ausstellungsansicht zeigt, ist diese Installation auch in einem Wohnraum denkbar. Durch diese Umsetzungsweise erhalten die Betrachter_innen einen wesentlich intimeren Blick auf das artifizielle Habitat, vielleicht ertappen sie sich selbst dabei, an die Scheiben klopfen zu wollen, so wie Kinder es tun, wenn ein begehrtes Tier sich nicht nach ihren Wün-
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schen zeigt. Noch stärker wird ihnen der eigene Blick als voyeuristisch erscheinen, denn »[j]e mehr der Körper als Gegenstand der Repräsentation aus dem Bild verschwunden ist und je undurchdringlicher die mediale Oberfläche der Zeichen wird, desto mehr wird man auf die Präsenz seines eigenen Körpers und seines eigenen Blickes zurückgeworfen« (Schulz 2002: 13). Der Künstler Wesley Meuris verzichtet auf das Abbilden eines Surrogats, er konfrontiert die Rezipient_innen mit einer Leerstelle und sensibilisiert so zugleich für die Dialektik von Nähe und Distanz. Das Tier ist hier nicht Metapher für einen den Menschen betreffenden Zustand, sondern tritt so weit zurück, dass der Mensch sich unausweichlich auf seine eigene Präsenz und die damit verbundenen grundlegenden Bedürfnisse besinnen muss. »We saw that an overpowering looking goes hand in hand with forms of literal dominance. The artist is here prisoning us, shutting us up with our gaze in an animal cage, an emptied stage. [...] Finally he literally absorbs us into the greater overall installation. This time we wander around in his world. How do we get out of this cage system?« (Dewilde 2007: 8) Eine besondere Qualität seiner Auseinandersetzung ist die Kritik an der Aus- und Zurschaustellung selbst. Durch die Rezeption wird bewusst, dass das Werk selbst unsere Wahrnehmung gestaltet, es nicht ausschließlich Gegenstand der Betrachtung ist. »The concept of ›exhibiting‹ is unravelled, i.e. subjected to ›critique‹. And this unravelling derives its inner strength from aestheticisation. So, no call of ›Away with the cage, away with the zoo, away with the museum‹, but an intelligent analysis of the concept of ›exhibiting‹. With the obvious metonymic shift from the zoo to the museum: the cage of Dendrolagus dorianus in the virtual zoo, the cage of the Mona Lisa in the Louvre. The Dendrolagus and the Mona Lisa are protected, screened off, enveloped, ›exhibited‹ for the contemplation of the interacting viewer who thereby enjoys aesthetic pleasure. This enjoyment is ambigous, as psychoanalysis tells us: we ourselves are safe and nothing can happen to us – hypocritical enjoyment; we do not merge with hat exhibits itself – the pleasure of the voyeur.« (Parret 2007: 18)
D AS TIER ALS S PEICHER S CHLUSSBEMERKUNG
VON
E RINNERUNG —
Alle drei vorgestellten künstlerischen Arbeiten haben eines gemeinsam: sie vermögen die Betrachter_innen so intensiv auf ihre eigenen Körper zurückzuwerfen, ihn mit ihrem Voyeurismus zu konfrontieren, dass sich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Tieres anbietet. Deshalb halte ich es für eine wichtige Feststellung, dass die angeführten künstlerischen Werke den Betrachter_innen vor Augen führen, dass diese sich in der Position der Schauenden befinden.
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»[W]ir bewegen uns, zeichnen auf, projizieren, sehen und verändern dabei die Natur und Gestalt dessen, was wir sehen, durch unsere Bewegung und unser Sein und entdecken schließlich, dass das Werk nicht Gegenstand, sondern Mittel der Betrachtung ist.« (Thater 1996: 15) Neben der großen Anzahl von Werken der zeitgenössischen Kunst, die das Tier zum Gegenstand menschlicher Verklärung machen, erzeugen Delvoye, Longhurst und Meuris eine Irritation, einen Bruch dieser Idylle, welcher dazu führt, Menschsein auf die wesentlichen Wahrnehmungsgefüge zurückzuführen. Der Mensch wird in erster Linie mit sich selbst konfrontiert und ist gefordert zu hinterfragen, wie das Wesen des Tieres ist, nicht wie es erscheint. In diesem Zusammenhang weist das Tier als Werkstoff der künstlerischen Auseinandersetzung Spuren von Erinnerung auf. Auch wenn wir von einer inszenierten Authentizität, wie Cordula Meier sie beschreibt12, weit entfernt scheinen, ist die Spur der Erinnerung unübersehbar. »[Denn] [d]as Aufrufen von Erinnerung wird nicht selten durch einen Anstoß möglich. Dabei ist dieser Anstoß über verschiedene Sinne auslösbar. Der Geruch eines bereiteten Essens, der mit einer Erinnerung verbunden ist, oder das spezielle Parfum, welches den Mann an eine große Liebe erinnert, sind Beispiele, wie der Geruchssinn die Brücke zu einer Erinnerung baut. Ein berühmt gewordenes Beispiel ist der von Marcel Proust beschriebene Geschmack, der ihn veranlasst, auf die ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ zu gehen. Die gedankliche Verbindung von Geruch oder Geschmack an eine Person oder ein Erlebnis ereignet sich im Kopf desjenigen, der diese Verbindung – freiwillig oder zwanghaft – herstellt. Es gibt Objekte, die direkt aus diesem Grunde des Erinnerungsanstoßes existieren. Eines der eindeutigen und schönen Beispiele aus dem Bereich der Alltagswelt ist der Knoten im Taschentuch. Man macht einen Knoten in das Taschentuch mit dem Ziel, etwas nicht zu vergessen. Beim Blick auf das Tuch wird direkt die Assoziation zu etwas anderem frei, der Knoten im Taschentuch bekommt die Funktion des Erinnerungsanstoßes.« (Meier 2002: 47)
So finden wir in den besprochenen Arbeiten vielleicht nicht das konkrete Tier, dennoch gelingt es den Künstler_innen gewissermaßen einen Knoten in unser Taschentuch zu machen, uns daran zu erinnern, dass etwas ohne unsere Imagination existieren kann, wir nicht Schöpfende, sondern Geschöpf sind und uns auf eine Suche nach dem Authentischen13 machen sollten. In diesem 12 | Authentizität ist hier immer eine bewusst gemachte Fiktion (vgl. Meier 2002: 203). 13 | »Die Suche nach dem Authentischen ist die Hoffnung, an das ganz Wahre heranzukommen. Sie wirkt mitunter wie eine Last, sich von dem Symbolischen zu befreien. Keine verkomplizierte Vermittlung durch Sprache oder sonstige sublime Konstruktionen mögen zwischen die Körper der Dinge/Wesen und die Körper der Wahrnehmenden treten.« (Sturm 1996: 130)
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Zusammenhang ist die künstlerische Auseinandersetzung von Delvoye, Longhurst und Meuris eine wertvolle Annäherung an das Wesentliche, das Wesen des Tieres. »Die Existenz geht der Essenz voraus. Als das einzige Wesen, [...] das sagen kann was nicht ist, hat der Mensch die ganze Verantwortung.« (Jean-Paul Sartre)
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A BBILDUNGEN Abb. 1: Wim Delvoye: ›Live tattooed pigs‹ 2005, Cheng Jia Tun Beijing, China, Artfarm I, abgedruckt in: Wim Delvoye: Artfarming, Rectapublishers 2007. Abb. 2: Wim Delvoye: ›Critical Elegance‹ Museum Dhondt – Dhaenens, 20.09.-08.11.1998, abgedruckt in: Wim Delvoye: Artfarming, Rectapublishers 2007. Abb. 3: Jo Longhurst: ›Twelve dogs, twelve bitches‹, 2003, 24 c-type prints auf Aluminium, je 60,9 x 40,6 cm, abgedruckt in: Jo Longhurst: The Refusal, Göttingen 2008. Abb. 4: Jo Longhurst: ›Twelve dogs, twelve bitches‹, Detail, 2003, 24 c-type prints auf Aluminium, je 60,9 x 40,6 cm, abgedruckt in: Jo Longhurst: The Refusal, Göttingen 2008. Abb. 5: Jo Longhurst: ›I know what you’re thinking‹, 2003, 4 c-type prints auf MDF je 101,6 x 76 cm, abgedruckt in: Jo Longhurst: The Refusal, Göttingen 2008. Abb. 6: Wesley Meuris: ›Cage for Galago crassicaudata‹, 2005, Glas, Fliesen, Holz, Wasser, Leuchtmittel und Ventilation, 220 x 160 x 350 cm, abgedruckt in: Wesley Meuris: Zoological Classification, Antwerpen 2006. Abb. 7: Wesley Meuris: ›Cage for Pelodiscus sinensis‹, 2005, Glas, Glasfliesen, Holz, Leuchtmittel und Ventilation, 210 x 125 x 195 cm, abgedruckt in: Wesley Meuris: Zoological Classification, Antwerpen 2006.
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»Anything can happen when an animal is your cameraman«1 Wie wir Tiere ansehen: Crittercams in der Gegenwartskunst Jessica Ullrich
Thema dieses Beitrags ist die Nutzung von Animal Borne Imaging Technology (ABIT) in der Gegenwartskunst, also von technischen Bildern, die von nichtmenschlichen Tieren hergestellt werden, welche als Wirt für eine parasitäre Kamera dienen.2 Der erste Prototyp der sogenannten Crittercam, die als Ausgangspunkt für den weiteren Einsatz von Animal Borne Imagery gesehen werden muss, wurde 1987 vom Meeresbiologen Greg Marshall entwickelt. Es handelte sich ursprünglich um ein Kamerasystem zum Aufzeichnen von Bild, Ton und anderen Daten von Meerestieren. Mittlerweile haben Marshall und seine Kolleg_innen im Auftrag von National Geographic mehr als 600 verschiedene Spezies, darunter auch Raubkatzen, mit Kameras ausgestattet, um ansonsten verborgene Einblicke in tierliches Leben zu erhalten. Die Kameras, die mit Zwei-Komponenten-Kleber, Saugnäpfen oder Gurten befestigt werden, fallen in der Regel nach kurzer Zeit wieder ab und können mit GPS-Ortung wiedergefunden werden. Die entstandenen Daten werden wissenschaftlich ausgewertet, aber auch für didaktische und kommerzielle Zwecke eingesetzt. Da die Aufnahmetechnik meist auf dem Kopf des Tieres angebracht wird, überlappen sich in der Betrachtung der Filme das Gesichtsfeld des Tieres und das des menschlichen Schauenden, so dass der Eindruck entsteht, man sehe durch die Augen des betreffenden Tieres. Auf den Erfolg und der Technik der Crittercams auf bauend, kamen schnell vergleichbare, wenn auch oft einfachere Kameras 1 | Dies ist der Titel einer Schriftarbeit des Künstlers Adel Abdessemed von 2008 und gleichzeitig ein Werbespruch einer Crittercam-Broschüre (zitiert in Haraway 2007: 250). 2 | Im Folgenden wird im Dienste einer komfortableren Lesbarkeit von »Tieren« und »Menschen« gesprochen, auch wenn die Problematik dieser Begrifflichkeit der Autorin durchaus bewusst ist.
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für den Hausgebrauch auf den Markt, mit der sich u.a. die eigenen Haustiere beobachten lassen, und dies teilweise auch live. So existieren mittlerweile verschiedene private Catcam Websites, auf denen Katzenbesitzer in Echtzeit mitverfolgen können, was ihre mit einer Catcam ausgestattete Katze in ihrem ›Privatleben‹ unternimmt.3 Donna Haraway widmet sich in ihrem Buch When Species meet dem Phänomen der Crittercam-Assemblage, die sie in der Verbindung von tierlichen, menschlichen und technischen Komponenten als idealen Ausdruck ihres Konzepts von natureculture verstehen muss. Sie diskutiert, wie durch die Symbiose von Mensch, Tier und Maschine die Erfahrung des Anderssein ermöglicht und die Inhabitation des Anderen als ein neues Selbst erlebbar gemacht werden soll. Dabei kritisiert sie den Ansatz der Crittercamproduzent_innen aber auch als kolonialistisches »Body-snatching« oder Parasitentum (Haraway 2008: 253). Crittercams erscheinen tatsächlich als ein weiterer Schritt hin zur totalen Überwachung natürlicher Phänomene, indem sie den technologischen Zugang zu Sphären öffnen, die bislang von Menschen noch nicht in Besitz genommen wurden: »Crittercam is about access.« (Haraway 2008: 257). Haraways Analyse widmet sich vor allem der 13-teiligen, 2004 gelaunchten Fernsehserie von National Geographic, in der der Fokus auf die Mission der Forscher gelegt wird bzw. auf die Anstrengungen, die Kameras an unkooperativen Tierkörpern anzubringen. Während es in anderen Tierfilmen für den Zuschauer oft keine Rolle spielt, wie die Filme hergestellt wurden, bzw. was die (meist bewusst verschleierten) Bedingungen ihre Hervorbringung sind, wird hier gerade die Filmproduktion selbst zum Spektakel. Das eigentliche Material der Crittercams macht nur wenige Minuten Sendezeit aus und erscheint im Gegensatz zur Rahmenhandlung eher langweilig. Das Programm kommt nie ohne voice-over aus und wiederholt ständig die Botschaft, dass die neue Technologie in allererster Linie dem Artenschutz diene. Dies Lieblingsargument aller Naturforscher ist in seinem implizierten Insistieren auf die Bedürftigkeit nichtmenschlicher Tiere nicht unproblematisch. Vor allem soll damit gerechtfertigt werden, dass Tiere gestört, gejagt und eingeschränkt werden, um solche Filme herzustellen. Haraway kommt in ihrer Analyse zur Auffassung: »Viewer excitement over Crittercam imagery is a highly produced effect.« (Haraway 2008: 259). 3 | Mr. Lee’s Catcam ist vermutlich die populärste Webseite, auf der sogar Anweisungen zum Selberbauen eigener Catcams zu finden sind. Auch an den Helmen von Ski- oder Radfahrern kommen längst Kameras zum Einsatz, um Zuschauern ein Gefühl von waghalsigen Manövern aus der Perspektive der Sportler zu liefern »als wäre man dabei gewesen«. Diese Kameras sind aber weder besonders praktisch noch bequem, das entstehende Videomaterial von geringer Qualität. Gerade mit verwackelten Bilder wird aber ein Gefühl von Authentizität vermittelt.
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Doch wie der Filmtheoretiker Béla Balázs bemerkt, existiert wohl tatsächlich eine »tiefste metaphysische Sehnsucht des Menschen, zu sehen, wie Dinge sind, wenn man nicht zugegen ist.« (Bálázs 1982: 108), die Grund für den Enthusiasmus des Publikums sein könnte. Es gibt jedenfalls ein großes Bedürfnis danach, Tiere anzuschauen, der Erfolg von Zoos, Zirkussen und Tierfilmen sind Beleg dafür. Filmemacher_innen arbeiten heute mit Makro- und Teleobjektiven, Zeitlupe sowie Zeitraffer und anderen Technologien, um das sichtbar zu machen, was mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmbar wäre. Das große Interesse an tierlicher Kinetik und tierlichen Formen ist dabei so alt wie das bewegte Bild selbst. Bereits die Erfindung und Entwicklung des Films geht mit der Aufnahme von verschiedenartigen Tieren in Bewegung einher. Eine Pionierrolle an der Schnittstelle von bildender Kunst und Wissenschaft spielen die Bildserien und Chronofotografien von Etienne-Jules Marey oder Eadweard Muybridge, die konzipiert wurden, um die Besonderheiten von spezifischen Bewegungssequenzen aufzudecken und die damit durchaus als Vorläufer der Crittercam gesehen werden können. Marey etwa entwarf 1882 die chronophotographische Pistole, mit der auf einer einzelnen Platte zwölf Fotos in der Sekunde aufnehmbar waren und machte damit den Flug der Vögel erstmals in seinem dynamischen Ablauf sichtbar. Und Muybridge installierte etwa zur selben Zeit zwölf Kameras, die mit Stolperdraht und elektronischen Auslösern vom aufgenommenen Tier selbst ausgelöst wurden, um zu beweisen, dass Pferde im Galopp kurzzeitig alle vier Hufe vom Boden lösen. Winfried Pauleit sieht schon in diesen frühen Experimenten ein »Dispositiv der Kontrolle«, da die aufgenommenen Körper durch die »Zurichtung der experimentellen Anordnung« egalisiert würden (Pauleit 2012: 15). Sowohl Mareys als auch Muybridges forschender Blick strebte danach, keine tierliche Bewegungen außerhalb des von ihnen vorgegebenen Rahmens, der bestimmte Posen oder modellhafte Stereotypien favorisierte, zuzulassen. Eigenbewegungen, die das betreffende Tier als Individuum zeigen würden, sollten vermieden werden, genauso wie emotionale Wirkungen auf die Zuschauer_innen (Pauleit 2012: 17). Es sollte eine größtmögliche Distanz zum Geschehen gewahrt werden und auf »alle filmsprachlichen Gestaltungsmittel« verzichtet werden, »einschließlich des Tons, da ein Kommentar der Manipulation Tür und Tor öffnen und der Originalton den Betrachter vom vermeintlich Wesentlichen ablenken könnte.« (Gürge 2007: 67) Diesen Vorstellungen wird von der ABIT eine Absage erteilt. Die Tiere, die Animalcam-Aufnahmen herstellen, sind der üblichen Schauanordnung, der »Grammatik, welche die Zurschaustellung und das Schauen organisiert« (Nessel 2012: 35) entzogen. Während die Tiere in den chronophotographischen Experimenten genauso wie die in Zoos oder Zirkussen immer gefangene und zugerichtete waren, lässt sich mit Animalcams das Ideal freilaufender Tiere in
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maximaler Sichtbarkeit verwirklichen – allerdings um den Preis, dass man das kameratragende Tier selbst gar nicht sieht. Während man bei Muybridge und Marey mit eingefrorenen Bilderserien aus der üblichen Außenperspektive konfrontiert wird, behaupten AnimalcamProduzent_innen, einen internen Blick aus der Perspektive des Tieres zu präsentieren. Es geht ihnen erklärterweise oft weniger darum, die Physiologie einer bestimmten Spezies zu fixieren, als darum, die Psychologie eines spezifischen Individuums einzufangen. Durch den Einsatz von Hochtechnologie sollen Einblicke ins Seelenleben von Tieren ermöglicht werden. Hierfür bewegte Bilder zu verwenden, liegt insofern nahe, als dass das Medium Film als eine Art »Gefühlsmaschine« (Tan 1996) verstanden werden kann, in dem bewusst spezifische Techniken eingesetzt werden, um bestimmte Emotionen hervorzurufen. Walter Benjamin bezeichnet das Mediale – und damit implizit auch Film – gar als »Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung« (Benjamin 1916: 142). Damit wird dem Medialen eine quasi autopoetische Qualität und eine gewisse Magie zugesprochen, die sich auch auf Crittercam-Aufnahmen übertragen lässt, da der initiierende menschliche Künstler auf die Motivwahl denkbar wenig Einfluss hat. Marcus Doel und David Clarke haben herausgearbeitet, wie bewegte Bilder das »optische Unbewusste« (Doel/Clarke 2007) rahmen, indem sie nicht nur das Sichtbare, sondern auch das Fühlbare organisieren. Gerade das rohe Ausgangsmaterial mit der notwendigen Point-of-view-Einstellung und der Überwachungskamera-Ästhetik von Animal Borne Imagery, gibt diesen Filmen eine ganz eigene haptische Visualität und affektive Kraft. Der Point-of-view-Shot wird bekanntlich auch im Spielfilm eingesetzt, um eine Identifikation mit dem Blickenden zu evozieren. Man soll als Zuschauer in die Lage des/der Protagonist_in versetzt werden und die Dinge aus seiner bzw. ihrer Perspektive miterleben. Selbst in der wissenschaftlichen Forschung existiert eine Faszination für das vermeintliche Tier-Werden, das Crittercams ermöglichen. Greg Marshall beispielsweise äußert sich wie folgt: »Wenn du die Kamera anbringst, bist du für einen kleinen Moment ein Teil dieses Wesens.« (Heinken 2012: 123) Und als die Tierrechtorganisation PETA die CrittercamProgramme von Animal Planet als Ausbeutung der Tiere zu kommerziellen Zwecken kritisierte, verteidigte sich der verantwortliche Produzent lediglich mit dem Hinweis auf den affektiven Schauwert: »The first time I saw the eagle’s head, and the ground rushing underneath, I got a tingle in my spine. I don’t know anyone who wouldn’t be fascinated by that.« (Haraway 2008: 204). ABIT hat heute längst einen festen Platz an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Forschung und Unterhaltung eingenommen, so dass die Verwendung auch in der Kunst nicht überraschend ist. So gibt es in der Gegenwartskunst bereits eine ganze Reihe von Projekten, die sich Animalcams bedienen. In der Folge sollen drei Künstler_innen vorgestellte werden, deren Prozedere sich kaum vom Einsatz wissenschaftlicher, kommerzieller oder privater
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Crittercams unterscheidet: Sie befestigen kleine leichtgewichtige Kameras an ausgewählten Tieren, überlassen diese ihrem gewöhnlichen Tagesablauf und präsentieren die von den Kameras aufgezeichneten Bilder als Videokunstwerke. Den Künstler_innen geht es dabei vor allem darum, die Perspektive eines nichtmenschlichen Wesens zu simulieren oder erfahrbar zu machen.4
N OBUHIR A N ARUMIS »D OGUMENTARIES « Der Japaner Nobuhira Narumi arbeitet seit 1990 an seinem Dog net, für das er in verschiedenen Ländern ausgewählten Hunden Überwachungskameras anpasst und sie zusammen mit ihren Besitzer_innen ausführt, um die so entstandenen Filme ungeschnitten und ohne Ton in Galerien oder Museen auszustellen. Die Videos sind Teile einer größeren Serie von Fotografien und Installationen, die alle auf dem Material der Dogcam basieren. Diese besteht aus zwei Teilen, wobei ein Objektiv Fotos schießt, sobald der Hund mit dem Kopf nickt und die andere Linse das bewegte Bild aufzeichnet. Die Kamera wird dem Hund erst aufgesetzt, nachdem Narumi sich etwa eine Woche lang mit Hund und Halter_in vertraut gemacht hat. Das tatsächliche Filmen beginnt erst, sobald der Hund sich an die etwa 20 Gramm schwere Kamera gewöhnt hat. Aufgezeichnet wird dann der übliche Spaziergang, bei dem Narumi die beiden begleitet. So kartographiert Narumi die täglichen Wege und das soziale Umfeld verschiedener Hund-Mensch-Gespanne aus der Perspektive des Caniden. Narumis Arbeit kann in der Tradition der Land Art Bewegung der 1960er Jahre gelesen werden, als Künstler wie Richard Long oder Hamish Fulton das Wandern bzw. Spazierengehen als Kunstform propagierten. Doch während Land Artists normalerweise die Einsamkeit suchten, um ihre persönliche Verbundenheit mit dem Land wiederzugewinnen und bewusst urbane Räume mieden, sucht Narumi vor allem städtische Umgebungen auf. Die Videos sind etwa 3 Minuten lang und liefern kanide Eindrücke aus New York, Tokio, Hong Kong, London und einer Farm in Neuseeland, wobei es mit The Universe’s Point 4 | Zumindest kursorisch soll hier eine etwas anders geartete Arbeit erwähnt werden: Das in New York lebende russischstämmige Künstlerpaar Vitaly Komar und Alexander Melamid stattete 1998 den Schimpansen Mikki mit einem Fotoapparat aus, um Aufnahmen von Moskau für ihre Ausstellung auf der Biennale in Venedig zu generieren. Dieses Projekt sollte den Illusionscharakter von Kunst offenlegen und sich gegen den Mythos wenden, dass Kunst durch Inspiration und menschlichen Genius entstehe, Intentionalität voraussetze und immer als Selbstausdruck gelesen werden müsse. So attackieren Komar und Melamid tradierte auktoriale Modelle, die von Kompetenz, Autorität und Personalstil ausgehen.
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of View von 2009 auch einen 5-minütigen impressionistischen Zusammenschnitt aller Filme gibt. In The Universe’s Point of View gibt es also mehr als einen bildproduzierenden Hund, so dass durch die wuchernde Akkumulierung von Urheberinstanzen auch die Subjektposition des Schauenden zumindest in Frage gestellt wird. Die Hunde porträtieren dabei auch den Lebensstil ihrer menschlichen Gefährten. Eine historische Referenz könnte auch Walter Benjamins Beschreibung des Flaneurs sein. Benjamin beschreibt wie dieser Typus des urbanen Spaziergängers sein gesamtes, angesammeltes kulturelles Wissen über historische Landmarken für die Geruchseindrücke eines streunenden Hundes eintauschen würde: »[...] oft gäbe er all sein Wissen um das Domizil von Balzac oder von Gavarni, um den Ort eines Überfalls und selbst einer Barrikade für die Witterung einer Schwelle oder das Tastbewußtsein einer Fliese dahin, wie der erstbeste Haushund es mit davonträgt.« (Benjamin 1998: Kap. M.). Doch Narumi fügt dem Spaziergang ein interaktives und kommunikatives Element hinzu, das Hund und Halter einbezieht. Eigentlich enthüllen die Filme sogar mehr über ihre menschlichen Gefährten als über die Hunde selbst. Tatsächlich sagt Narumi dazu: »My work is really about people, because the dog of today is an almost completely artificial animal.« (DiPietro 1999, o.S.). Der erste Hund, mit dem Narumi kooperierte war Dylan Thomas (19861997), der Welsh Terrier von Joni Waka (genannt Johnnie Walker), dem Gründungsdirektor der Za Moca Foundation und der Artist Residency Tokyo. Für Tokyo night 1 von 1996 begleitet er ihn auf einen Spaziergang durch den Tokioter Bezirk Shinjuku, wo er u.a. an der Roy Liechtenstein-Skulptur Wave vorbeikommt und einen hundetypischen Kommentar zur Kunst im öffentlichen Raum durch das Setzen einer Urinmarke abgibt. In Kabukucho, einem Rotlichtviertel, inspiziert Dylan Thomas die Sex-Shop-Auslagen ab und trifft auf eine Prostituierte, die ihm einen Blick unter ihren Rock erlaubt. Auch die Begegnung mit den Plastikhunden eines Straßenhändlers erscheint vielsagend, ruft diese doch die menschliche Tendenz zu Anthropomorphismus auf, die auch Narumis Ansatz eigen ist. Im Video Scent view von 1998 trägt die Mischlingshündin eines Restaurantbesitzers in Hong Kong die Kamera. Weil sie Probleme im Bewegungsapparat hat, wird sie ein Stück im Auto spazieren gefahren. Als sie während seines Ausflugs auf in Käfigen eingesperrte, herrenlose Artgenossen trifft, die eingeschläfert werden sollen, liegt es nahe, für die filmende Hündin das gleiche Schicksal zu antizipieren. Denn Narumi gibt dazu in einem Interview die Information, dass der Halter plante, aus politischen und ökonomischen Gründen nach China zurückzukehren und sie auf der Straße zurückzulassen. So reflektiert der Mikrokosmos Hund-Besitzer einerseits den Makrokosmos globaler Zusammenhänge und andererseits die schizophrene Haltung Hun-
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den gegenüber. Eben noch geliebt, kann der nutzlos gewordene oder störende Hund wie ein Gebrauchsgegenstand entsorgt werden. In der Folge begleitete Narumi für London von 1999 den Hund eines Obdachlosen, der durch städtisches Brachland wandert. Der Hund sucht im Video augenscheinlich zwischen Glasscherben und Unrat nach Essbarem und lenkt damit das Augenmerk über Umwege auf die desolate Lage seines Halters. Der Hund scheint so den Betrachter_innen des Films seine Augen zu leihen, damit sie im metaphorischen Sinne klarer sehen und übernimmt so beinahe die Funktion eines Blindenführhunds, der ansonsten übersehene Einblicke in die menschliche Gesellschaft erlaubt.5 Formal erinnern die Videos mit ihrem tiefen, weiten Fokus und ihrer ruhelosen und verwackelten Kameraführung an die Experimentalfilme der 1960er Jahre in New York. Diese Filme sahen nicht nur billig und unaufwändig aus, sondern waren das häufig auch und behaupteten so eine destabilisierende Kraft auf tradierte Kategorien des Films bzw. der Kunst. Deren Pioniere wie etwa Stan Brakhage suchten nach einem kinematografischen Äquivalent für den literarischen Ich-Erzähler, um ihr Unbewusstes direkt auf den Film zu bannen.6 Man suchte nach neuen Bildern und Eindrücken, die man durch ungewohnte Kameraperspektiven erreichen wollte und verabschiedete sich von linearen Narrationen. Die Filmemacher_innen nutzten diverse Abstraktionstechniken wie etwa Unschärfen oder auch das Fehlen von Soundtracks. Durch die Kamerabewegung sollte eine affektive Verbindung zwischen den Subjekten vor und hinter der Linse geschaffen werden. Narumis merkwürdig stillen, abgehackten Impressionen voll visueller Kakophonie wirken ähnlich ungewohnt und subjektiv. So weisen sie auf einen alternativen sensorischen Erfahrungsreichtum des Hundes, der Menschen verschlossen bleibt. Die Bilder bringen die Betrachter_innen sehr nah an Essensreste am Boden, die Hinterteile anderer Hunde, Exkremente oder Urinmarken an Häuserwänden. In Kombination mit der verwackelten Kameraführung verursachen die Bilder stellenweise beinahe Brechreiz und nähern sich damit auf der Bildebene der Priviligierung 5 | In der Ausbildung von Blindenführhunden wurden Hunden in den 1930er Jahren Abrichtewagen an Kopf und Körper festgebunden. Die räumlichen Dimensionen des menschlichen Körpers sollten so für den Hund am eigenen Leib erfahrbar sein. Die Gestelle wurden treffenderweise »künstlicher Mensch« genannt. Mit ihnen wurde also in der Umkehrung ein Tier gezwungen, eine menschliche Perspektive einzunehmen. 6 | In Brakhages Dog Man Star von 1962 kommt u.a. ein Hund vor, der die gleiche Gewichtung wie die menschlichen Personen im Film oder die Landschaftsmotive hat. Der mehrteilige Film kommt ebenfalls ohne Ton aus und widmet sich im dritten Teil dem Verhältnis von Körperoberfläche und Körperinneren. Somit thematisiert er die Bezüge von Innen- und Außensicht seiner Protagonist_innen, was eine inhaltliche Parallel zu Narumis Ansatz eröffnet.
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des Transgressiven und Obszönen, auch Skatalogischen im Verständnis von Georges Bataille (Bataille 2005: 13). Durch den Verzicht auf einen Soundtrack verweist Narumi auf die angestammte tierliche Sphäre des Nicht-Sprachlichen. Die Reduktion auf schwarz-weiss könnte auf das eingeschränktere Farbensehen bei Hunden hindeuten, ist aber vor allem der günstigen Überwachungskamera geschuldet. Narumi glaubt, mit der Aufgabe des dominanten menschlichen Blicks einen Weg gefunden zu haben, die Welt »objektiv« zu observieren.7 Das ist natürlich nicht möglich. Auch sein eigener künstlerischer Eingriff, die Initiierung des Projekts, die Auswahl der Technologie und vor allem des auszustellenden Materials sowie dessen Zusammenschnitt macht das Projekt höchst subjektiv. Auch können menschliche Betrachter_innen die Arbeit natürlich nur mit menschlichen Augen und ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Hintergrund sehen und deuten, so dass höchst persönliche Interpretationen die Folge sein müssen. Den Blick des Hundes »objektiv« zu nennen, verkennt ebenfalls die individuelle Subjektivität der beteiligten Hunde, die sich von ihren Interessen gelenkt durch die Straßen bewegen. Obwohl Dog net tatsächlich viel über Menschen (und über Narumi) aussagt, sind diese kurzen geophysischen Reisen nicht ohne die Agency der Hunde denkbar. Doch auch wenn Narumi mit dem Versprechen eines authentischen, unvermittelten Einblicks in die Wahrheit der Hunde argumentiert, kann es natürlich nie einen direkten Zugriff auf deren Wirklichkeit geben. Jede Erkenntnis ist vor allem vom eigenen individuellen Standpunkt abhängig und damit notwendig ›perspektivistisch‹. 8 Doch selbst wenn die Repräsentation der Welt in den Arbeiten keineswegs objektiv ist, wird doch die Absolutheit des menschlichen Blicks relativiert. Die Hunde werden zwar ungefragt Akteur_innen und Ko-Autor_innen eines Kunstwerks, behalten aber doch eine gewisse Handlungsmacht. Sie treffen Entscheidungen, bestimmen den Weg und richten das Augenmerk auf die Dinge, die sie interessieren. Sie agieren nicht nur gemäß der sozialen Rolle, die ihnen als Kumpantiere zugewiesen wird, sondern auch nach eigenen individuellen Interessen und Wünschen – und die sind klar unterschieden von menschlichen. Ein Kritiker nennt Narumis Hunde deshalb auch treffend »Cultural guides« (Moulinet 1997, o.S.), Fremdenführer.
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Diese Charakterisierung trifft in ähnlichem Maße auf den Jack Russell Terrier Stanley zu, der in einem Projekt der kanadischen Künstlerin Jana Sterbak eine 7 | Narumi in einem Email-Interview mit der Autorin vom 01.08. 2008. 8 | Zum Perspektivismus vgl. Kaulbach 1990.
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Akteursrolle als kameratragendes Tier spielt. Auf der Biennale 2003 stellte Jana Sterbak mit From Here to There eine große 6-Kanal-Videoinstallation im kanadischen Pavillon aus, die von ihrem eigenen Hund aufgenommen worden war. Im Gegensatz zu Narumi, der mit fremden Hunden arbeitet, ermöglicht diese Arbeit der Künstlerin daher vielleicht eine ganz neue Dimension des Erlebens einer symbiotischen Hund-Mensch-Beziehung. Als eine Art Cyborghund trug Stanley eine leichtgewichtige medizinische Kamera und bewegte sich damit u. a. über schneebedeckte Felder in Montreal. Zwar sollte der Hund »den Blick führen« und die Künstlerin wollte sich »leiten lassen von einer Sichtweise, die nicht die unsere ist« (von Drahten 2003: 249), dennoch traf Sterbak durch schnitttechnische Eingriffe eine Auswahl, die aus über 100 Stunden Filmmaterial 12 Minuten herausdestillierte. Im Gegensatz zu einer Kamera auf einem beweglichen Roboter ist der Hund ein lebendiges Wesen mit einem eigenen Blick- und Standpunkt, der in diesem Fall 35 Zentimeter über dem Boden lag. Als Jagdhund brachte Stanley Qualitäten mit sich, die sich von einem menschlichen Blickpunkt unterscheiden: Er orientierte sich rastlos nach einem von Geruchssinn bestimmten Rhythmus, reagierte auf Reize, die menschliche Betrachter_innen vermutlich nicht wahrgenommen hätten. Auf sechs Videoprojektoren simultan multipliziert sah man in verwackelten Bildern aus Stanleys Perspektive wie er ausgelassen mit anderen Hunden spielt, ein Stachelschwein verfolgt und in einen vermutlich extrem fokussierten Bewusstseinszustand während der Hatz verfällt oder auf einer Autofähre im Wagen allein gelassen in Panik gerät. Die Tonspur überträgt dabei sein freudiges Bellen, aufgeregtes Hecheln oder verzweifeltes Jaulen. Damit fungiert die Tonspur als »Fährte aller Lebewesen im Realen« (Holl 2012: 99), die das akustisch Reale mit den »Täuschungen des filmisch Visuellen« (Holl 2012: 99) verbindet. Außer Stanleys Lautäußerungen war passagenweise Glenn Goulds Interpretation der Goldberg Variationen von Bach zu hören. Durch die Überlagerung von Stanleys Sphäre mit einem Produkt des Kanons westlicher Hochkultur wird deutlich, dass die Biennalebesucher_innen die Dinge trotz allem immer nur mit einer menschlichen Perspektive wahrnehmen können. Die laute Musik könnte dabei als eine Form der Gewalt gelesen werden, die jede Artikulation des Hundes übertönt; sie begleitet aber auch sein Spiel und gibt diesem eine zusätzliche Dynamik, die als blasses Echo seiner tatsächlichen Erregung fungieren könnte. Auf der Bildebene wird ein starker Verfremdungseffekt durch die Multiplizierung der Projektionen hervorgerufen, wobei sich die Vervielfältigung des immer gleichen Bildes durch die rasend schnellen Repetitionen des Tastenanschlags doppelt und es unmöglich wird, dem Ablauf der Ereignisse zu folgen. Das Bildmaterial gleitet stellenweise ins Abstrakte und kombiniert auch unterschiedliche Kameraeinstellungen abwechselnd auf benachbarten Projektionsfeldern, so dass bewegte Muster entstehen, die kaum noch Bezüge zum realen Raum- und Zeitgefüge habe.
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Mit dem Verlust der filmischen Form und der Betonung des Prozesshaften und der Materialität des Films bedient Sterbaks Arbeit die vier Vektoren, die von Rosalind Krauss und Yves Bois zur Charakterisierung des »Informe« aufgestellt wurden: Horizontalität, niederer Materialismus, Puls und Entropie (Bois/Krauss 1997). Die vertikale Achse, die laut Krauss für das Erhabene steht und damit auch die aufrechte Haltung der Schauenden wird gegen eine bodennahe Achse eingetauscht, welche traditionell mit dem animalisch Triebhaften assoziiert wid. Klare Bilder werden zugunsten ungeformter, nicht mehr identifizierbarer Materie aufgegeben; das kulturell oft abgewertete Repetitive löst pulshaft die lineare Präsentation ab und die gesamte Mise-en-scène kippt in entropische Auflösung von Bildern und Tönen.9 Dies alles geschieht gerade in den Szenen, in denen Stanley spielt und scheinbar ganz im intensiven, lustvollen Erleben der Interaktion mit anderen Hunden aufgeht. Dem kaniden Spiel kann damit eine destabilisierende Funktion nicht nur auf tradierte Kunstkategorien, sondern auch auf gewohnte (menschliche) Weltzugänge zugesprochen werden. In einer zweiten, verwandten Arbeit von 2005 mit dem Titel Waiting for High Water, die ursprünglich für die Biennale konzipiert, dort aber nicht gezeigt wurde, bewegte sich Stanley kameratragend durch das überschwemmte Venedig. Hier werden auf drei Videoprojektoren simultan multipliziert in verwackelten Bildern die altbekannten touristischen Sehenswürdigkeiten Venedigs aus Stanleys Perspektive präsentiert. In der ersten Einstellung sieht man eine Gruppe Touristen, die sich neugierig zu dem Hund herunterbeugen, um ihn besser betrachten zu können. Auch wenn die Geste freundlich erscheint, erinnert sie daran, dass Tiere oftmals als Objekte aufgefasst werden, die man nach Belieben anschauen und berühren kann. Das kann als Hinweis auf die auch dem Video inhärenten Machtstrukturen gewertet werden: Die Schaustellung des Lebendigen, die Rahmung, die unsere Wahrnehmung des Tieres organisiert und erst zum Genuss macht (vgl. Berger 2009: 30), bleibt auch hier erhalten..Und das selbst wenn die üblicherweise getrennten Sphären von Tier und Mensch wie sie etwa im Zoo durch die Gitterstäbe definiert werden, durch die Kollision von menschlichem und kaniden Gesichtsfeldern in der Rezeption scheinbar aufgehoben wird. Das Fehlen des Blicks des Tieres wird von John Berger als großer Verlust beschrieben: »Sie sind Begegnung gegenüber immunisiert, da nichts mehr im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen kann.« (Berger 2009: 30) Auch Stanleys Blick wird durch die schnellen Schnitte als wenig fokussiert konstruiert, aber keineswegs als gleichgültig. Eine konzentrierte Rezeptionshaltung ohne Möglichkeit einen Fluchtpunkt zu fixieren, an dem Halt und Deutung gefunden werden könnte, zwingt 9 | Auch die Bildverdopplungen in diesen Passagen können als akkumulierender Ausdruck von Entropie gewertet werden.
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Sterbak in beiden Installationen dem Publikum schon allein durch die Ausstellungssituation auf. Idealerweise werden beide Arbeiten in einem geschlossenen, abgedunkelten Raum ohne Tageslicht gezeigt, den man nur durch eine Tür betreten kann. Dadurch wird das gesamte Setting schwer fassbar und hüllt die Betrachter_innen physisch ganz ein. Man bewegt sich in einem immersiven System und wird selbst Teil davon, wodurch der eigene Standpunkt zusätzlich verunklärt wird. Indem Sterbak die Rezipient_innen physisch in der Installation festhält, fixiert sie sie in einer konkreten Wahrnehmungssituation, aus der sie sich nur schwer befreien können. Hier mag man eine Parallele zu Stanley sehen, der für die Dauer der Aufnahme ebenfalls in seiner CyborgKonstruktion gefangen ist. Durch das Vermeiden einer voraussehbaren Ästhetik und eindeutiger narrativer Strukturen und die unkonventionellen Schnitte und Filmmuster zielt Sterbak darauf ab, zu desorientieren. Die Besucher_innen sollten, so Sterbak, sich »für ein paar Minuten vorstellen, dass unsere Sicht auf die Dinge nicht die einzige ist.« (von Drathen 2003: 258). Stanley sollte genau wie Narumis filmende Hunde zu einer Art Führhund werden, um alternative Realitäten und Sichtweisen zumindest zu imaginieren. Aber Sterbak verlässt sich nicht allein auf das Filmmaterial. Sie simuliert auch mit anderen Mitteln die visuellen und akustischen Wahrnehmungen, die der Terrier haben könnte. Die Vervielfältigung der Projektionen macht das weitere Gesichtsfeld und die Andersartigkeit der Wahrnehmung des Hundes nachempfindbar. Hunde können im Gegensatz zu Menschen, die nur etwa 100 Grad überblicken ohne den Kopf zu wenden, 250 bis 270 Grad weit sehen. Auch die reduzierte Farbigkeit des Films, die vor allem Blautöne favorisiert, spielt auf das physiologische Farbensehen von Hunden an.10 Aber auch das Gehör der produzierenden und rezipierenden Individuen differiert aufgrund der unterschiedlichen Spezieszugehörigkeit: Das Frequenzspektrum von Hunden liegt etwa doppelt so hoch wie beim Menschen. So ist auch die zweite Installation konsequenterweise akustisch überwältigend: Eine desorientierende, rasend schnelle Cembalomusik gibt ein blasses Echo der überwältigenden multisensorischen Eindrücke Stanleys auf den geruchsintensiven Straßen von Venedig, die nicht auf Video festgehalten werden können. Die Künstlerin sucht damit nach einer heterophänomenologischen Einfühlung in ihren Hund, getreu der Forderung Daisie Radners: »The question ›What is the animal like?‹ has to be answered in light of the animal’s own physiology and behavior. The key to making progress via Innenwelt hetereopheno-
10 | Schon 1937 eröffnete das American Museum of Natural History in New York eine Ausstellung mit fünf Exponaten, die zeigen sollten, wie die Welt durch die Augen eines Huhns, Hundes, Fisches, einer Fliege und einer Schildkröte aussieht. Dabei wurde eine Fade-out Technik gewählt, um die angeblich farblose Welt des Hundes zu simulieren.
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menology is to recognize that animal experiences are not just pale imitations of our own.« (Radner 1994: 403). Stanley war übrigens als Ko-Autor der Arbeit bei den Pressekonferenzen und öffentlichen Auftritten Sterbaks stets anwesend, einmal sogar als einziger Repräsentant des Künstlerduos, als Sterbak selbst erkrankt war. Er wurde dem Publikum also als »Person« vorgestellt und erlangte so eine gewisse Berühmtheit. Nicht nur werden also menschliche Schauende ein Stückweit tierlich, indem sie den Blickpunkt eines Hundes einnehmen, sondern der Hund wird genauso ein wenig »menschlich«, da er als Autor eines Kunstwerkes imaginiert wird.11 Andererseits wird Stanley – wie Haustiere generell – immer relativ zur Künstlerin gesehen, so als sei er eine bloße Extension ihrer künstlerischen Agency. So erhält er eine ähnlich prothetische Funktion wie die Kamera, die er trägt. Damit korrespondiert die letzte Einstellung von Waiting for High Water: Hier sieht man die Hand von Sterbaks Assistenten hinabgreifen, um die Dogcam auszustellen; eine Geste, die wie das Ausschalten des Hundes wirkt – die aber dem Ausgesetzsein Stanleys im Dispositiv der totalen Überwachung auch ein Ende setzt.
S AM E ASTERSON : D EN TIEREN
EINE
(V IDEO -)S TIMME
GEBEN
Der letzte Künstler, dessen Arbeit mit ABIT diskutiert werden soll, ist der Amerikaner Sam Easterson. Bereits 1998 begann Easterson mit seinen Animal Videos als Point-of-view-Serie, die er erst 2007 beendete, auf ähnliche Weise mit dem Konzept der Grenzen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Natur und Technologie zu experimentieren12: 1998 setzte er zunächst für A Sheep in Wolfs’s Clothing ein Schaf mit einer voluminösen Helmkamera für einige Zeit in ihrer Herde ab, um das Ergebnis in einer Ausstellung zu präsentieren. Auf dem entstandenen Video war zu sehen, wie sich die anderen Schafe von der ungewohnt aussehenden Artgenossin abgrenzten und ihr argwöhnisch 11 | Wenn Tiere als Produzenten technischer Bilder anerkannt werden, billigt man ihnen implizit Autorenqualitäten zu, die man traditionell sonst Menschen zuspricht. Tatsächlich existieren längst naturwissenschaftliche Forschungsansätze, die auch Tieren den Status von Kulturschaffenden im weitesten Sinne zugestehen. (Vgl. z.B. de Wal 2001 oder Sommer 1999.) 12 | Easterson hat mittlerweile die Arbeit mit Animalcams aufgegeben und konzentriert sich jetzt auf Nestcams und Dencams, also auf Filme von Kameras, die in Nestern oder Bauten versteckt werden, sowie auf den Aufbau seines Museum of Animal Perspectives (M.A.P.). Dieses 2009 initiierte Projekt existierte bis vor Kurzem lediglich als Website, auf der Hobbynaturforscher aus aller Welt ihre Tierfilme öffentlich machen konnten und soll noch 2013 in St. Paul, Minnesota, einen permanenten Ort erhalten.
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begegneten. Diese Erfahrung veranlasste Easterson dazu, für nachfolgende Projekte die Kamera zu verkleinern und weniger auffällig anzubringen. Mit jeweils optimiertem Equipment montierte er dann in der Folge selbstgebaute Kameras auf diverse Spezies, um Eindrücke von der Wüste, der Prärie oder dem Sumpf einzufangen. Zu den Tieren, mit denen er gearbeitet hat, zählt ein Schaf, ein Bison, ein Wolf, ein Kojote, ein Maulwurf, ein Gürteltier, ein Alligator, ein Frosch, diverse Vögel, eine Tarantel, ein Skorpion, eine Kuh, eine Ziege, eine Schildkröte, eine Grille, ein Falke, ein Pfau, ein Truthahn, ein Huhn, ein Karibu, eine Ente, eine Biene und eine Fliege. Vor allem geht es ihm bei dieser großen Bandbreite an Spezies darum, zu demonstrieren, dass jedes Tier es wert ist, beobachtet zu werden, nicht nur die »primetime animals« (Easterson 2012: 70) wie er die beliebte Megafauna in gängigen Naturprogrammen nennt. Die Videos decken, was nicht überraschend ist, deutliche Unterschiede auf, was Verhalten, Lebensraum und Individualität einzelner Tier angeht. Jedes Tier hat eine ihm oder ihr eigene charakteristische Art und Weise sich zu bewegen, zu atmen, den Raum in Besitz zu nehmen. Die momenthaften Eindrücke aus Eastersons Animal Videos erfüllen dabei eine Forderung des Tierfotografen Jack Couffers, der die Aufgabe des Tierfilmers darin sieht »to find each animals eccentricity and to somehow exploit it and incorporate the individualism in the story.« (Couffer 1963: 152). Die Wölfe aus der Wolfcam aus dem Jahr 2001 haben beispielsweise ihre Nasen immer schnuppernd am Boden. Wenn sie sich jedoch zu konzentrieren scheinen, hören sie auf zu hecheln. Die Ohren des Gürteltiers aus der Armadillocam desselben Jahres rotieren, sobald es auf neue Pflanzenarten trifft. Die Kühe hingegen lecken ständig die eigenen Schnauzen sowie die ihrer Herdengefährt_innen. Die Videos dauern oft nur wenige Sekunden, selten mehrere Minuten. Eastersons erklärtes Ziel war es, die umfangreichste und kompletteste Bibliothek von point of views zu sammeln, ein Archiv, dass jedem Tier im Land eine »first animal perspective« bzw. eine »video voice« (Easterson 2006, 58) gibt. Dieser enzyklopädische Ansatz hat Ähnlichkeiten mit dem der Encyclopaedia Cinematographica, die 1952 in der BRD als wissenschaftliches Filmprojekt initiiert wurde, um ein Archiv von Bewegungsphänomenen aller Art zusammenzustellen und das erst in den 1990er Jahren beendet wurde. Der Künstler Christoph Keller, der dieses historische Material für eine seiner Videoinstallationen neugeordnet hat und damit nach eigenen Worten eine »Verschiebung vom Dokument zum Monument« geschaffen hat, sieht in diesem das Potential zur Identifizierung: »Das ist schon eine körperliche Konfrontation besonders, bei den Tieren, die so ähnlich aufgebaut sind wie man selber: die Bewegungen der Beine und Flügel spürt man so und hat einen fast kindlichen Bezug dazu.« (Keller 2001: 4) Auch Easterson betont vor allem die Bedeutung der Empathie für seine Arbeit:
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»For as long as I can remember, I have been interested in stepping outside myself, to see from another perspective. When micro video camera technology started becoming affordable, I began trying to use it as a tool to empathize with animals and plants. [...] when I was doing animal-borne imaging work, I felt there was often a meaningful transference that took place [...]« (Easterson 2012: 70)
Eine der Szene aus Where the Buffalo Roam von 2003 spielt mit seinem plakativen Identifizierungsangebot eine Schlüsselrolle. In dieser Sequenz sieht man aus der Perspektive eines Bisons, wie er aus einem Teich trinkt und sich darin spiegelt. In der Reflektion auf dem Wasser friert das Selbstporträt des Tieres plötzlich ein und gibt den menschlichen Betrachter_innen einen atemberaubenden Eindruck momenthafter Selbsterkenntnis des Tieres. Man sieht das Bisongesicht als sei es das eigene Gesicht im Spiegel und bekommt so das Gefühl, im Körper des Tieres gefangen zu sein. Diese anrührende Szene erinnert zugleich an den Abstand zwischen Tier und Mensch und an die Verbindung alles Lebendigen. Der Bison wendet sich still an die schauende Person, zweifach gebrochen durch die Kameralinse und die Wasseroberfläche. In keinem anderen der Filme tritt man von Angesicht zu Angesicht einem Tier gegenüber. Keine der anderen Filme zeigt einen erwiderten Blick. Und doch bleibt man in der Zuschauerposition gefangen ohne Möglichkeit der Interaktion, im Grunde blickt selbst aus dem Tier heraus wieder nur der Mensch. Ganz offensichtlich geht es mindestens ebenso sehr um den Menschen wie um die Tiere. So äußert sich Easterson in einem Interview auch folgendermaßen »I just can’t resist trying to empathize with animals and plants. I think that in the process of attempting to learn what it’s like to be an animal or plant, I learn more about what it means to be human.« Andererseits führt er fort: »I’m not looking for things that make them (the animals) more human […] I’m looking for things that make me feel like I am one of them. Sometimes I feel like they are trying to tap into me as well – through the camera«. (Easterson 2012: 69). Tatsächlich kann man sich auch in jedem der Videos durch die vorwärtsstrebende Bewegung und durch die speziesübergreifende Überlagerung der Gesichtsfelder ansatzweise in die tierlichen Filmproduzenten einfühlen. Es ist beinahe so, als stecke man in einem Videospiel-Avatar – allerdings einem nicht steuerbaren. Richtung, Geschwindigkeit, Entfernung und Ziel werden vom jeweiligen Tier bestimmt. Zuweilen wird in der Betrachtung der Sinn für Balance, der erst das Gefühl davon vermittelt, wo man sich in der Welt befindet, irritiert. Durch die ausgestellten physischen Begegnungen der Tiere mit ihrem Ökosystem wird man sich der Verletzlichkeit und der Abhängigkeit des Tieres von seinem Lebensraum bewusst. Durch die extremen Nahaufnahmen von der Erde, über die sich z.B. das Gürteltier bewegt, wird das Verständnis für die Konsequenzen von Schädigungen oder Veränderungen dieses Lebensraums
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für das Tier fast körperlich greif bar. Man kann das Ausgesetztsein der Tiere nachfühlen und wird dadurch möglicherweise auch an die eigene Verletzbarkeit und Verbundenheit mit der Welt erinnert. Indem man in die Position des Tieres versetzt wird, so hofft, Easterson, könnte in der Rezeption das Bewusstsein für gefährdete Habitate steigen und Empathie und Respekt für artfremdes Leben wachsen. »Wenn die Leute die Dinge aus der Perspektive des Tieres sehen, werden sie es weniger bereitwillig verletzten oder ihr Habitat zerstören.« (Easterson 2005: 54) Easterson sieht sich selbst als filmenden Naturforscher und versteht seine Arbeit als Mittel zum Schutz gefährdeter Tiere und ihres Lebensraums. Folgerichtig wurden seine Animal Videos nicht nur in Kunstmuseen gezeigt, sondern auch auf Animal Planet oder im Discovery Channel und sind mit Disneys Eco-tainement Programmen aus den 1950er Jahren verglichen worden wie etwa The Living Desert (1954) oder The Vanishing Prairie (1955). Schon diese frühen Tierfilme wurden mit dem Hinweis auf Natur- und Artenschutz gedreht und verfolgten neben kommerziellen und propagandistische Interessen auch pädagogisch-didaktische Zwecke. Die Forschung zum Tierfilm durch Cynthia Chris oder Greg Mitman (Chris 2006, Mitman 1999) hat gezeigt, dass Tierfilme jedoch immer nur vorgeben, objektiv zu sein, aber tatsächlich sorgfältig konstruiert sind und meist über konventionalisierte Abläufe verfügen. Die Wildnis wird dabei als Platz der Freiheit konstruiert und mit therapeutischen Effekten ausgestattet. Als Heterotopien stellen Tierfilme zwar tatsächliche Orte dar, über die unser Wissen aber stets selektiert, gerahmt, bearbeitet und interpretiert ist. Die Untersuchung verschiedener Habitate aus artenschützerische Perspektive hat auch für Easterson eine hohe Priorität: Betrachter_innen der Videos sollen etwas über das Leben von Tieren in entlegenen Landstrichen erfahren, ohne jede menschliche Einmischung. Unberührte Landschaft soll als schützenswerter Ort erfahrbar werden – und zwar, indem man sie quasi stellvertretend über das Tier und doch wie am eigenen Leib erfährt. Dabei ist man sich in Eastersons Filmen im Gegensatz zu den Disney-Vorläufern der Aufnahmesituation stets bewusst. Oft bleiben Teile des Tierkörpers wie Ohren oder Fellteile sichtbar. Der Schaffensprozess wird demystifiziert, indem die apparativen Aspekte des Filmemachens betont werden. Die schlechte Aufnahmequalität erinnert an Bilder von Überwachungskameras und unterstreicht die allgemeine low budget Anmutung.13 Vor allem haben Eastersons Arbeiten aber natürlich Gemeinsamkeiten mit den Crittercam-Programmen von National Geographic, die ebenso wie er damit werben, dass sie aus erster Hand aus der Wildnis berichten. In beiden Fällen 13 | Eastersons Arbeit steht im Übrigen wie auch die der beiden anderen Künstler_innen im Kontext des experimentellen Films. So hat er, bevor er sich den Tieren zuwandte, Kameras in Popcornmaschinen und anderen technischen Geräten installiert.
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wird die Präsentation des Nie-zuvor Gesehenen angekündigt sowie behauptet, Geheimnisse der Natur aufzudecken und gleichzeitig den Planeten zu retten. So decken sich Eastersons artenschützerischen Intentionen mit den reißerischen Versprechungen der als politisch korrekte Reality TV-Shows inszenierten Crittercam-Formate: »Safely worn by wildlife, Crittercams capture video, sound, and other information, giving us rare views of the private lives of animals. By allowing us this animal’s eye-view, Crittercams help to solve scientific mysteries. And what we learn from Crittercams helps us to protect the very animals that wear them.« (Webseite National Geographic)
Wissenwollen ist jedoch niemals neutral, sondern geht meist mit Machtstreben und Herrschaftsansprüchen einher. Dass die Tiere, vor allem die wilden, nicht freiwillig kooperieren und meist gejagt und gefangen werden müssen, bevor sie mit Kameras ausgestattet werden, die vermutlich auch ihr normales Verhalten beeinflussen, zeugt von der inhärenten Gewalt, die dem menschlichen Forschergeist zu eigen ist. So vereint auch Eastersons Praxis alle Aspekte des Jagens: die Auswahl des Habitats, das Verfolgen und Aufspüren seines Objekts und die Befriedigung dadurch, am Ende das zu bekommen, was man wollte. Wo früher das Gewehr genutzt wurde, wenn es um die Sammlung, Bestimmung oder das Studium von Tieren ging, kommt heute die Kamera zum Einsatz.14 Und das erlangte Wissen über Tiere wird vor allem genutzt, um Menschen zu erklären, nicht um Tieren zu helfen. Das Verlangen, Tieren immer noch näher zu kommen schafft dabei eine brutale Intimität, die fast schon reflexhaft mit dem Hinweis aus Naturschutz und Rettung gefährdeter Arten gerechtfertigt wird. Gerade der Gebrauch von Überwachungskameras oder medizinischen Kameras zur Untersuchung des Körperinnern zusammen mit der Ankündigung, dass »intime« oder »geheime« Einblicke in das Leben von Tieren eröffnet werden, unterstreicht dabei die voyeuristische Komponente von Animal Borne Imaging Technology. Im Gegensatz zu den Programmen im Natur-Fernsehen liefert Easterson allerdings keine spektakulären Szenen oder romantischen Erzählungen. Die Wolfcam etwa zeigt kein jagendes Raubtier, sondern lediglich einen Wolf, der sich niederlegt und offenbar seine eigenen Pfoten oder auch einfach nur seinen Lagerplatz betrachtet. Dabei ist es Easterson wichtig, dass die Filme in keiner Weise nachbearbeitet werden »The key is not to mess with it (in post). I find that does a disservice to the animal. I think that is what I learned most from my ABIS work. If you let them, animals have secrets to tell. You can’t pretend like
14 | Niko Tinbergen hat Vogelfotografie treffend als »sublimiertes Jagen« bezeichnet, zitiert in Mitman 1999: 59.
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you can tell their story better then they can, through editing or narrating[...].« (Easterson 2012: 70). Easterson deutet die entstandenen Bilder also nicht, gibt keinerlei Narration vor, schneidet die Filme nicht, und unterlegt sie nicht mit Musik, sondern dokumentiert nüchtern das Gesichtsfeld des Tieres.15 Der Soundtrack besteht lediglich aus den natürlichen Geräuschen der Tiere, wie Schnüffeln, Heulen, Knurren oder einfach Atemgeräuschen. Im Grunde passiert auf keinem der Filme Nennenswertes. Doch auch Tiere, die nichts tun, können arkadische Vorstellungen verkörpern. Für Theodor Adorno jedenfalls verwirklicht sich in ihnen eine Utopie: »Rien faire, comme un bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein‹ sonst nichts, ohne alle weiteren Bestimmung und Erfüllung’ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten […]« (Adorno 1951: 208).
A GENCY
UND
K ONTAK T ZONEN
Wer der eigentliche Filmproduzent in den vorgestellten Kunstwerken ist, ist nicht leicht zu beantworten. Tier, Kamera und Künstler_in bilden ein Netzwerk von Akteur_innen. Man kann sich mit Donna Haraway fragen, ob die filmenden Tiere nur Daten sammelnde Objekte oder gleichberechtigte Subjekte im Tier-Mensch-Verhältnis sind. Haraway erkundet mit ihrer Frage die semiotische Agency der Tiere und kommt zu dem Schluss, dass jede Deutungshoheit notwendig relational ist. (Haraway 2012: 261) Agency ist ebenso wie Macht (nach dem Verständnis von Foucault) vielgestaltig. Beides kann nicht besessen, sondern allenfalls gesteuert werden. Somit ist nicht festlegbar, wer in diesem Hybrid aus Tier und Aufnahmetechnik an der Bedeutungsgenerierung wel15 | Dennoch präsentiert Easterson seine Videos manchmal in aufwändigen Großinstallationen, die das Streben nach Naturbelassenheit ironisieren. Die Settings dekonstruieren die Low-Budget-Anmutung der Filme, indem sie den riesigen Bestand an technischen Gerätschaften offenlegen, der für die Herstellung der Arbeit notwendig war. So zeigt er Taxidermien von Tieren, die Kameras, Batterien und andere Ausrüstung am Körper tragen und riegelt sie mit Warnschildern ab, die die Öffentlichkeit auffordern, hinter dem Absperrband zu bleiben. Mit diesen Ergänzungen zu den unbearbeiteten Filmen legt Easterson eine häufig zu beobachtende Attitüde der Natur gegenüber offen: Um sich sicher fühlen zu können, tendieren Menschen dazu, wilde Tiere zu kontrollieren, indem sie sie einzäunen oder sogar töten. Obwohl viele Leute sich für Tiere und Natur interessieren, ziehen sie es vor, aus sicherer Entfernung Naturprogramme im Fernsehen zu sehen oder wilde Tiere im Zoo oder in Naturkundemuseen zu beobachten. Sie bleiben damit passive Zuschauer, die niemals in wirkliche Interaktion mit Tieren oder ihrem Habitat treten. (Feaster 2001).
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chen Anteil an: »There is no general answer to the question of animals’ agential engagement in meanings, any more than there is a general account of human meaning making.« (Haraway 2012: 262). Die Tiere sind nicht bloß »Widerstand« oder »Rohmaterial« für die beteiligten Menschen, genauso wenig wie die Menschen völlige Kontrolle haben. »[...] it’s not about who ›has‹ hermeneutic agency« so Haraway, »[i]nsofar as I (and my machines) use an animal, I am used by an animal (with its attached machine) [...]. The animals, humans, and machines are all enmeshed in hermeneutic labor (and play) by the material-semiotic requirements of getting on together in specific lifeworlds.« (Ebd.)16
Künstler_innen, die Animal Borne Image Technology einsetzen, billigen Tieren als Partner_innen, Vermittler_innen oder Akteur_innen ein gewisses Maß an Autonomie und Subjektivität zu. Manche inszenieren sie sogar als buchstäbliche Ko-Autor_innen von Kunstwerken. Dabei ist das Verständnis von Autorschaft bekanntlich ebenso wie der Kunstbegriff geschichtlichen Veränderungen unterworfen. Das Konzept des autonomen, schöpferischen, über sein Werk herrschenden Autors als geistigem Urheber und intentionalem Zentrum steht längst zur Disposition. Wenn man auf die Grundannahme eines auktorialen Gestaltungswillens verzichtet, wird der/die Autor_in zum Schnittpunkt eines intertextuell strukturierten Zeichenzusammenhangs, und es ist hauptsächlich das Werk, das seine Bedeutung in der Rezeption generiert. So stellt sich auch bei den vorgestellten Arbeiten die methodische Frage, ob der Intention des geistigen Urhebers oder der ästhetischen Erfahrung Vorrang eingeräumt werden muss. Die Festlegung dessen, wer oder was als Autor_in gilt, bleibt zwar vorläufig und veränderlich, doch die Hand der menschlichen Künstler_innen bleibt auch in den besprochenen Arbeiten dominant in der Art und Weise wie die Filme präsentiert werden, durch Installation, Soundtracks, Schnitte oder Begleittexte. Wichtiger noch: Die Künstler_innen haben die Konzepte entwickelt, die theoretische und materielle Rahmung bereitgestellt und die beteiligten Tiere zur Kooperation gezwungen. Denn die Tiere nehmen nicht freiwillig an der Generierung von Bedeutung teil. In der »Crittercam assemblage«, erkennt auch Haraway, »the hermeneutic agency of the animals is not voluntary [...] « (Haraway 2012: 262). Das Anbringen von Animalcams kann als eine der größtmöglichen Inbesitznahmen des betroffenen Tieres gelesen werden. Nach Foucault sind die Kennzeichen für die Einwirkung von Machtverhältnissen auf ein Individu16 | Hier lehnt sich Haraway an Don Ihde an: »Insofar as I use or employ a technology, I am used by and employed by that technology as well.« (Zitiert in Haraway 2012: 249.)
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um dessen Einschluss in einen abgeschlossenen Bereich und die Zuweisung eines festen Platzes sowie die Hierarchisierung des Individuums nach seiner Rangordnung zu anderen. Dies alles geschieht in der Rezeption von Animal Borne imagery, also im Bezug auf das mediale Tier auf dem Bildschirm, nicht jedoch in deren Produktion. Die Tiere befinden sich zwar für die Dauer der Aufnahme unter permanenter Überwachung eines allumfassenden Blickes, doch der beobachtende Mensch hat keine Möglichkeit, einzugreifen. Auch ist sich das Tier dem Blick des Überwachers wohl nicht bewusst. Allerdings behindert und irritiert die Kamera vermutlich, so dass ein verändertes oder sogar gestörtes Verhalten die Folge sein kann. Crittercam-Erfinder Greg Marshall hat jedenfalls abweichend von früheren Aussagen mittlerweile eingeräumt, dass die Kameras die Tiere durchaus in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken (vgl. Wikipedia: Crittercam). Grundsätzlich kann gelten: »So oder so werden Tiere von der Kamera verändert.« (Burt 2012: 55). Andererseits haben die Schauenden keinerlei Einflussmöglichkeiten auf das Tier. Die virtuelle Immersion in die Bewegung eines Individuums einer anderen Art vermittelt sogar den Eindruck, man würde man als betrachtender Mensch selbst ferngesteuert. Die (eingeschränkte) Kontrolle, die man in Videospielen hat, wird hier nicht gewährt. Es handelt sich somit bei der ABIT gleichermaßen um eine Technik des Einschlusses wie des Ausschlusses, und zwar für alle Beteiligten, menschliche wie nichtmenschliche Tiere. Die Tiere sind in der Rezeption zwangsläufig mediale Geschöpfe, ihre Präsenz ist indirekt, vermittelt und hybrid – und sie tauchen in ihrer äußeren Erscheinung auf den Aufnahmen nicht auf. Der/die Künstler_in hingegen war bei der Aufnahme nicht dabei, was auch ihn bzw. sie zu einer/m abwesenden Referent_in macht. Vergleichbar passiv werden die Rezipient_innen konstruiert: Sie bleiben Zuschauer_innen und kommen nicht an ›echte‹ Naturerfahrungen oder Begegnungen mit den involvierten Tieren heran. Balázs gibt im Übrigen ohnehin zu Bedenken, dass es überhaupt nicht ›natürlich‹ sei, Tiere ganz aus der Nähe zu sehen. Tiere im Film, so sagt er, geben uns ein »ungewohntes, geheimnisvolles, unnatürliches Bild der Natur.« (Balázs 1982). Somit sind die Arbeiten ungewollt auch Parodien auf den menschlichen Zugang zur Natur und den technischen Apparat durch den Menschen mit Tieren in Kontakt zu kommen versuchen. In den Videos wird der/die Zuschauer_in auf eine rein virtuelle Reise mitgenommen und hat den trügerischen Eindruck, sich durch Zeit und Raum zu bewegen. Doch gerade diese Scheinbewegungen provozieren möglicherweise einen echten Standortwechsel hin zur Akzeptanz einer tierlichen Perspektive im weitesten Sinne des Wortes. Vor allem ist es die ungelenk erscheinende, rohe Kameraführung mit abrupten Bewegungen in Kombination mit der ungewohnten Perspektive, die zu einer kompletten Desorientierung der Schauenden führen kann. Die Filme sind eben keine neutralen Doku-
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mentationen der Welt, sondern Observationen eines Individuums, das seinen Raum durch Bewegung konstruiert. Die Welt wahrzunehmen, bedeutet, durch sie zu navigieren und mit Dingen in Kontakt zu treten. Und Bewegung spielt eine bedeutende Rolle bei der Generierung von Agency. Folgt man Maxine Sheet-Johnston, ist Bewegung nicht nur notwendig, um die eigene Subjektivität zu definieren, sondern auch um die Subjektivität eines anderen zu verstehen: »creaturely movement is the very condition of all forms of creaturely perception« (Sheet-Johnston 1999: 132), schreibt sie und führt weiter aus »aliveness is thus a concept grounded in movement as the concept ›I can‹« (SheetJohnston 1999: 135). Filmemachen wird auch in den betrachteten Werken als performativer Akt vorgeführt und Bewegung als eine Art und Weise der Wissensgenerierung. Die dreidimensionale körperhafte Weltwahrnehmung durch Bewegung und die zweidimensionale des Bildes werden durch die imaginierte Inkorporierung des Tieres ineinander überführt. Die Betrachter_innen werden gezwungen, sich aus ihrer gewohnten senkrechten Position heraus zu begeben und einen eher ›waagerechten‹ bzw. ›horizontalen‹ Blick einzunehmen. Dabei wird ein Stückweit der aufrechte Gang mit dem potentiell aufwärts zum Himmel gerichteten Blick aufgegeben, der lange Zeit eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Mensch und Tier war und zuweilen als hierarchisch gedachtes Alleinstellungsmerkmal des Menschen angeführt wird. Die visuelle Immersion in die tatsächlich stattgefundene Bewegung eines tatsächlichen Tieres kann so zur Übung in Empathie werden. Dadurch, dass die Kameras an ihren Körpern befestigt sind, übertragen die Tiere ihre Physiologie auf das Videomaterial, die Kamerabewegungen scheinen direkt Puls und Herzschlag als Chiffren der Lebendigkeit wiederzugeben. Während Tiere in der Kunst oft als Objekte behandelt werden, die dazu da sind, dass man sie anschaut, legen sie hier selbsttätig fest, wohin sie und mit ihnen die Betrachter_innen schauen. Diese verlieren die gewohnte Hand-Auge-Koordination und werden vom Tier auf einen wilden Ritt entführt, der zuweilen seekrank macht, weil die Videokünstler_innen im Gegensatz zu den Produzent_innen von professionellen Crittercams selten mit Bildstabilisatoren gegen das Bildruckeln durch Eigenbewegung arbeiten. Bislang ungekannte Arten der Begegnung mit der Welt und dem Land werden nahegelegt und damit auch alternative geistige Zustände. Die Ausstellung tierlicher Differenz trainiert vielleicht die Fähigkeit, anderen Tieren Bewusstsein zuzuschreiben sowie das Verständnis, dass Andere Wünsche, Wissen und Intentionen haben, die von den eigenen verschieden sind. Zumeist fungieren Tiere in der Kunst lediglich als Metaphern oder Symbole. Dabei geht die Verwendung des Tieres als Bild, als Material oder als Medium von der Vorstellung einer Hierarchie der Lebewesen aus, bei der der übergeordnete Mensch das untergeordnete Tier beherrscht und in Bilder zwingt. Das Einlassen auf einen Blick, der anders ist, hat somit durchaus emanzipatorisches
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Potential. Indem autonome Tiersubjekte vorgestellt werden und nicht einmal mehr bewegungslose Tiere in Bilder gezwungen werden, die eine festgelegte symbolische Bedeutung haben, entwickeln die vorgestellten Künstlerin_innen neue Methoden, tierlichen Agenten auf eine aufmerksame Art und Weise zu begegnen. Dies impliziert die theoretische Akzeptanz eines animalischen Standpunkts unabhängig von dem des menschlichen; eines Standpunkts, den sich die menschlichen Schauenden im performativen Tier-Werden für einen Augenblick rudimentär zu eigen machen. Die Tiere selbst bewahren sich ihr tierliches, unfassbares Sein und lassen sich nicht restlos ausdeuten. Einer klaren Definition widersetzten sie sich allein schon durch ihre Bewegung, denn jede Kategorisierung erfordert immer ein Stilllegen des Untersuchungsgegenstands: Diese Tiere sind ebenso wie das Filmmaterial selbst, zu widerspenstig, zu lebendig, um reine Projektionsfläche zu sein. Menschen lassen Tiere allerdings nur ungern aus ihrer angestammten Rolle als Bedeutungsträger ausbrechen. So artikuliert Greg Mitmann für den Tierfilm: »Animals on film perform, willingly or not, stories through which humans make meaning of the world.« (Mitman 1999: 210) Dabei helfen in der Regel autoritäre Voice-over, die die Bilder für das Publikum interpretieren. Menschliches Verhalten wird so durch Tiermodelle erklärt. Das geschieht bei den Arbeiten der drei vorgestellten Künstler_innen nicht. Sie erteilen dem Sensationalismus der Crittercam-Programme von National Geographic eine Absage, genauso wie der Schaulust an der Schönheit von Tierkörpern. Doch sie tauschen sie gegen eine neue Form des Voyeurismus an der Performanz des Lebendigen ein, die man mit Balázs als »Belauschung« der Natur (Balázs 1982) definieren könnte. Die romantisch-utopische Vorstellung einer von Menschen befreiten Welt wird konstruiert, in der dieser nicht länger alleiniges Zentrum des Wissens ist. Offenbar eignet sich Film als posthumanes, nicht-anthropozentrisches Projekt (vgl. Nvssel 2012: 10), »das Dinge und Lebewesen gleich behandelt«, ideal dafür (Pierivolaropoulo 2012: 112). Auf der Suche nach einem »nicht von menschlicher Herrschaft durchdrungenem Verhältnis zur äußerem Wirklichkeit« (ebd.) wird jedoch erneut die tradierte Auffassung bestätigt, dass Tiere zwar reagieren, aber niemals antworten können.
V ISIONEN
UND
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Auch werden in den Arbeiten die Unterschiede in der sinnlichen Wahrnehmung verschiedener Tiere und damit ihre grundsätzliche Andersheit kaum berücksichtigt. Alle Werke verlassen sich vor allem auf den visuellen Reiz, auch wenn andere Sinne einbezogen werden. Doch visuelle Stimuli sind gerade für Tiere wie etwa die Hunde in Narumi und Sterbaks Arbeiten nicht von derselben Bedeutung wie etwa der Geruchssinn, der sich nicht einmal ansatzweise
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simulieren lässt. Tiere sind bekanntlich mit Sinnesapparaten ausgestattet, die sich vom menschlichen stark unterscheiden. Sie nehmen divergierende Ausschnitte der Realität wahr, ihre Interpretationen der Welt setzen andere Prioritäten, ihre Strategien der Weltaneignung sind verschieden. Manche Tiere kommunizieren in für uns unhörbaren Frequenzbereichen, über magnetische und elektrische Felder oder hormonelle Informationen. Das Gesichtsfeld beispielsweise des Falken mit dem menschlichen zu überblenden, erlaubt zwar den Wechsel in die Vogelperspektive, aber keinen Eindruck in die überlegene visuelle Wahrnehmung des Raubtiers. Viele Tiere verfügen über ein Farbensehen, das das menschliche weit übersteigt und andere Farbspektren umfasst. Auch das Nachtsehen ist bei vielen Spezies stärker ausgeprägt. Die Bilderaufnahme pro Sekunde liegt beim menschlichen Auge bei 24 Bildern pro Sekunde, während manche Insektenaugen bis zu 250 Bilder pro Sekunde sehen. Dennoch hat der Sehsinn den Ruf besonders objektiv zu sein, während Geruch und Tastsinn oft als subjektiv, chaotisch und körpernah beschrieben werden. Das liegt u.a. daran, dass mit dem Auge Dinge, die in der Ferne liegen, wahrgenommen werden können, ohne körperlich involviert zu sein. Traditionell wird der Sehsinn mit Intelligenz und Bewusstsein, aber auch mit dem Übernatürlichen assoziiert. Begrifflichkeiten wie »klar sehen«, etwas »durchschauen«, »Visionen« haben oder »Seher« sein, belegen dies. Schon Platon hat den Sehsinn mit der menschlichen Seele und menschlichem Bewusstsein verknüpft, während die anderen Sinne eher mit den materiellen Dingen assoziiert wurden. Menschen teilen ungern ihren Anspruch auf den vorgeblich besten Sehsinn und die Superiorität ihrer ästhetischen Erfahrungen. So konstatiert beispielsweise ein Optiker, nachdem er die herausragenden visuellen Fähigkeiten unterschiedlicher Tierarten referiert hat: »Das menschliche Auge ist aber die überlegenste Form des Sehens.« (Webseite Netzoptiker). Es gibt Naturwissenschaftler, die das Farbensehen so eng definieren, dass die offensichtliche Überlegenheit mancher Tiere in diesem Feld negiert wird. So wird etwa die Auffassung vertreten, dass ein Tier zunächst das (nachgewiesene) Bewusstsein bzw. die interne Repräsentation einer Farbe haben muss, damit man überhaupt von Farbensehen sprechen kann. Solche Theorien sind also oft sehr anthropozentrisch (vgl. Jevbratt 2012: 90). Sehen-Können kann generell als Gebärde visueller Machtentfaltung verstanden werden. Gerade der erhöhte Standpunkt des aufrecht gehenden Menschen beinhaltet eine imperiale Geste der Macht über das Überschaubare. Die Weite des Horizonts gilt im übertragenen Sinne als Merkmal für Weitsicht, während ein niedriger Horizont, die (natürlich tierliche) »Froschperspektive« einen eingeengten Zustand der Gefangenschaft im Materiellen nahe legt (Spoerri 2001). Die Vorherrschaft des als exzeptionell konstruierten menschlichen Sehsinnes bleibt auch in Animal borne imaging bestehen, auch wenn der »Okular-
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zentrismus« (Jay 1997) herkömlicher Tierfilme, der ein eher leidenschaftliches Auge priviligiert, durch die körperbetontere Rezeptionshaltung abgemildert wird. In diesem Zusammenhang soll abschließend ein Projekt der britischen Fotografin Jo Longhurst Erwähnung finden, die mit ihren Aufnahmen von Whippets bekannt geworden ist. Vor einigen Jahren lud Longhurst die Hundefreunde ihres eigenen Whippets zu einer ihrer Ausstellungseröffnungen ein. Dort befestigte sie dann eine Dogcam an ihrem Hund Vincent und ließ ihn die Vernissage aus seiner Sicht filmen. Das Video wurde live auf einem Monitor in der Galerie übertragen: Zu sehen waren Nahaufnahmen von schnüffelnden Nasen und fellige Hinterteile. Keiner der Hunde reagierte in irgendeiner Weise auf die ausgestellten Fotos oder würdigte sie auch nur eines Blickes. Daraus lässt sich eine simple Tatsache folgern: Während die menschliche Begierde nach Sichtbarem unersättlich ist und Menschen vom Visuellen geradezu besessen sind, sind ihren Hunden Bilder schlicht egal.17 Festzuhalten bleibt hier, dass der visuelle Sinn für viele Tiere nicht der ausschlaggebende ist – oder selbst wenn er es ist, Menschen keine »Anschauung« davon haben können, wie Tiere die Welt sehen. Schon die auditiven oder olfaktorischen Sinne der verschiedenen Tierspezies übersteigen menschliches Vorstellungsvermögen. Ein gewaltiger Anteil der Realität des Tieres wird also in Animal Borne Imagery zwangsläufig ausgelassen. Doch auch mit der elaboriertesten Technik wäre es wohl ebenso unmöglich die Realität eines anderen Menschen zu duplizieren. Die Situation der Rezipient_innen von Animal borne Imagery lässt sich somit mit der in Platons Höhle vergleichen: Man sieht zwar, was projiziert wird, hat aber keine Vorstellung davon, wie die Wirklichkeit – bzw. in diesem Fall wie die tatsächliche Wahrnehmung des Tieres – aussieht. Man ist in der eigenen Weltwahrnehmung gefangen und das gilt, wie bereits Jakob von Üxküll gezeigt hat, sowohl für nichtmenschliche wie für menschliche Tiere. Keine Tierrepräsentation kann jemals authentisch sein. Menschliche Vorurteile, Stereotype, kulturelle Traditionen, Blick- und Wahrnehmungskonventionen beeinflussen auch die Daten aus Animalcams. Die Affekte und Erfahrungen, die die Videos zeitigen, bleiben notwendigerweise menschlich, da es unmöglich ist, die Limitierungen der menschlichen Physiologie und Psychologie zu verlassen. Es bleiben also immer unüberschreitbare Grenzen der Einfühlung in die Wesensverschiedenheit des Tieres bestehen. Die Überlappung menschlicher und tierlicher Perspektiven kann dennoch zumindest eine Kontaktzone im Sinne Haraways kreieren und mag einen zaghaften Versuch darstellen, Jonathan Burts Frage zu beantworten: »How might we visualize a world shared?« (Burt 2009: 158). 17 | Hier folge ich Jo Longhurst: »We’re so obsessed with image and they don’t care. By not being interested in looking at themselves, they have a freedom that we don’t have.« (Longhurst 2008)
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Am Ende seines Buches Reel nature plädiert Greg Mitman dafür, dass eine neue Art und Weise gefunden werden muss, Naturfilme zu machen, die sowohl für Menschen als auch für Tiere Wert haben (vgl. Mitman: 217). Er ruft zu diesem Zwecke nach neuen Bündnissen von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus auf. Vielleicht könnten künstlerische Projekte, die auf Animalcam-Material beruhen, ein erster Schritt in diese Richtung sein. Die empathische Energie, die das Publikum ohne Zweifel aus Animal Borne Imagery ziehen kann, kann im Sinne der Tiere produktiv gemacht werden. Auch Donna Haraway betont eine ethische Verpflichtung, die Menschen den Tieren gegenüber haben und sieht diese durch den Einsatz von Crittercams einmal mehr herausgefordert.18 Tatsächlich kann der Einsatz von Animal Borne Imaging in der Kunst eine produktive Erweiterung in der Mensch-Tier-Beziehung bedeuten, die sich nicht mehr auf ein humanistisch-wissenschaftliches Methodenrepertoire aus Sprache und Text verlässt. Die notwendige Voraussetzung, Tiere in ihrem »Inder-Welt-Sein« zu erforschen, ist für die vorgestellten Künstler_innen- und hier folgen sie Merleau-Ponty, die Einfühlung, eine Einfühlung, die nicht hierarchisch, sondern lateral ist (Merleau-Ponty 1994: 234). Animal Borne Imaging favorisiert die sinnlichen, körperlichen und affektiven Aspekte der Welterkennung. Anthropozentrische Hierarchien, die Sprache und Bewusstsein bevorzugen, werden in Frage gestellt. Nichtmenschliche Tiere werden, indem ihr Sehen – wenn auch eingeschränkt und notwendig anthropomorph – sichtbar gemacht wird, als Beobachter, als Teilhaber_innen einer visuellen Kultur und als Akteur_innen in biosozialen Netzwerken inszeniert und Ernst genommen.
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18 | »[...] situated human beings have epistemological-ethical obligations to the animals« (Haraway 2008: 263).
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Dinotasia, Dinotopia Animationen ungreifbarer Tierkörper im Kino des Fortschritts Anna Zett »Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.« (Guy Debord 1978, Abs. 2)
A NIMATION
VERSUS
C AP TURE
Der Dinosaurier-Spielfilm gehört zu den ältesten und beständigsten kommerziellen Filmgenres in den USA. Seine Geschichte reicht bis zu den Anfängen des Kinos zurück und erfährt derzeit mit Jurassic Park 3D sowie mit der 2014 bevorstehenden Veröffentlichung von Jurassic Park IV seine Fortsetzung. Das zentrale Element dieses Genres ist die On-screen-Kombination von Tricktechnik und Live-action-Kinematografie. Aus medienhistorischer, materialistischer Sicht ist der Dinosaurier-Film damit Kino par excellence. Der Inhalt dieses im Folgenden als prototypisch beschriebenen Kinos ist eine MenschTier-Begegnung der besonderen Art: spektakulär inszeniert, paradox strukturiert und selbstreferentiell ins Kinogeschäft integriert. Unter welchen historischen und materiellen Bedingungen findet diese Begegnung konkret statt und was steht dabei auf dem Spiel? Anhand des modernen Genre-Klassikers The Lost World (USA 1925) sowie des postmodernen Kassenschlagers Jurassic Park (USA 1993) will ich hier einen Überblick über die Problematik dieser trickreichen Begegnung geben. Das US-amerikanische Kino hat Dinosaurier als virtuell lebendige Tiere hervorgebracht und versucht seitdem scheinbar ausweglos sich ihrer zu bemächtigen. Der Widerspruch zwischen der visuellen Präsenz dieser Screen-Tiere und ihrer gleichzeitigen Ungreif barkeit steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Film als Bewegtbild ist aus der Kombination zweier grundverschiedener optischer Technologien entstanden: der Animation und der Fotografie. Die ersten modernen Animationsapparate griffen zunächst auf gemalte Bilder zu-
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rück. Im Zootrop, amerikanisch Wheel of Life, einem nicht-fotografischen Vorläufer der Filmtechnologie aus dem Jahr 1834, wurden 24 im Kreis angeordnete Einzelbilder von Menschen, Tieren und anderen Figuren durch schnelle Kreisbewegungen zu einem Bewegtbild animiert. Nicht nur die Apparatbezeichnungen Zootrop und Zoopraxiscope (von zoon, griechisch: Lebewesen, Tier), sondern auch das Wort Animation (von anima, lateinisch: Leben, Atem, Grundlage des Wortes animal) verweisen dabei auf Tiere als Inbegriff der lebenden Natur. »Im Unterschied zur Fotografie, über der immer ein Schatten der Abwesenheit und des Todes zu hängen schien, wurde dem Kino von Anfang an eine besondere Nähe zum Leben und zur lebendigen Wirklichkeit zugestanden« (Gregory 2009: 265). Doch die Fotografie ist nicht nur ›das Andere‹ des Kinos, sondern eben auch seine zweite mediale Grundlage. Aus seriellen fotografischen Momentaufnahmen menschlicher und nichtmenschlicher Tiere in Bewegung entwickelt sich Ende des 19. Jahrhunderts die Chronofotografie. Der französische Chronofotograf Etienne-Jules Marey schießt seine Bewegtbilder dabei noch buchstäblich mit einem Gewehr. 1882 schreibt er an seine Mutter: »I have a photographic gun [fusil photographique] that has nothing murderous about it and that takes a picture of a flying bird or running animal in less than 1/500 a second. I don’t know if you can picture such speed but it is something astonishing« (Etienne-Jules Marey, zit. n. Braun 1995). Wenn er abdrückt, kommt keine Kugel aus dem Lauf, sondern es entsteht in der Trommel ein Bewegungsbild mit zwölf Bildern pro Sekunde, belichtet auf eine einzige Platte. Mareys Zweckentfremdung der Jagdtechnologie verweist dabei ganz deutlich auf die damalige Assoziation von Fotografie mit Gefangennahme, Diebstahl und Tötung. Als ein Gewehr allerdings, das nicht tötet, sondern stattdessen Bilder produziert, kontrastiert es dieses Moment gleichzeitig mit verspielter Vitalität. Die Medienwissenschaftlerin Lucia Santaella Braga bezeichnet das fotografische Paradigma auch als dyadisch: zweigeteilt. Es ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen der Realität und dem Abbild, das der Apparat davon einfängt: »At the very moment when the shot is taken, the object out there, at that very moment, disappears forever« (Braga 1997:123). Diese dyadische Spannung bleibt der Kinematografie – der Nachfolgerin der Chronofotografie – erhalten, und so ist auch die Filmkamera immer schon eine Schusswaffe mit dem Potenzial, Lebewesen einzufangen, zu töten beziehungsweise den Akt des Tötens selbst visuell einzufangen. So ersticht ein Serienmörder/Kameramann im klassischen Psychothriller Peeping Tom (UK 1960) junge Frauen mit seinem Stativbajonett, um sie im Moment ihres Todes aufzunehmen.1 Auch 1 | Ausgehend von Susan Sontags Diskussion dieses Films in On Photography hat bereits Donna Haraway diese Trope auf den dominanten Umgang weißer Männer mit der kolonialisierten Natur übertragen (Haraway 1989). Cynthia Erb gibt daraufhin al-
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im dokumentarischen Kontext ist das Moment der tötenden Kamera bis heute präsent, aktuell etwa in den unzähligen mit Barrelcams (Gewehrlauf-Kameras) gefilmten Jagdvideos auf Youtube. Das Medium Film hat also eine paradoxe Verfassung: Zu gleichen Teilen aus Animation und Fotografie zusammengesetzt, oszilliert es zwischen maschineller Belebung und maschineller Gefangennahme beziehungsweise Tötung von Lebewesen, zwischen einem magischen Bezug zur Technologie und einem wissenschaftlichen Bezug zur Natur. Offensichtlicher als alle anderen Genres führt der Dinosaurier-Spielfilm nun diese beiden Aspekte der Filmgeschichte zu einer hybriden Form zusammen. Tiere, die dafür berühmt sind, ausgestorben zu sein, nicht mehr zu existieren, werden mithilfe der Tricktechnik so dargestellt, als wären sie doch wieder am Leben, doch real. Tom Gunning hat in seinem Artikel »Cinema of Attractions« (2000) darauf hingewiesen, dass im frühen Film noch nicht die Narration oder der visuelle Inhalt des Gezeigten, sondern vielmehr die Technologie des Films, der Maschinen und der Animation selbst im Vordergrund stand. Im Gegensatz zur bürgerlichen Kunst ging es in diesen Avantgarde-Filmen nicht um Inhalte, sondern um »direct stimulation« und die »exhibitionistische« Geste des Zeigens als solche (Gunning 2000: 232). Bereits ab 1903 ist Gunning zufolge jedoch eine sukzessive Synthese von Narration und Attraktion zu beobachten. Das Kino der Attraktionen wird dabei unwichtiger, verschwindet aber nie ganz. Der Dinosaurier-Spielfilm, entstanden im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, führt uns diese Synthese direkt vor Augen. Denn er erschöpft sich eben nicht in der menschengemachten, möglichst perfekten Wiederbelebung ausgestorbener Tiere, stattdessen versteckt er die Attraktion dieser Wiederbelebung in der Narration einer Begegnung. Der Realitätseffekt der Live-Action ist hier genauso wichtig, wie der Showeffekt der geglückten Animation. Dabei zeigt sich, dass die Integration des technologischen Spektakels in den narrativen Realismus keineswegs unbearbeitet vonstatten ging. Vielmehr wird der bildpolitische Konflikt zwischen Attraktion und Narration, Animation und Capture, mechanischer Belebung und mechanischer Gefangennahme hier bis heute offen ausgetragen, verarbeitet und dabei auf mehreren Ebenen ideologisch produktiv gemacht. Die Produktion lebender Dinosaurier (Animation) und die Problematisierung ihrer materiellen Greif barkeit (Fotografie) stehen nicht nur formal, sondern auch narrativ im Zentrum dieses Genres.
lerdings zu bedenken, dass sich ›wilde‹ Tiere immer wieder den Kameras entziehen und nicht mit ihrer Hilfe festgehalten werden können: »[T]here is a certain wish that the camera would operate with the force and precision of a gun, but a simultaneous recognition that contingencies of the wild mean that in fact this fantasy probably will not be fulfilled.« (Erb 2009: 69)
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E RSTE B EGEGNUNGEN
MIT
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Noch vor dem Durchbruch von Disneys Cartoons in den 1920er Jahren schreibt 1914 ein anderer Film US-amerikanische Filmgeschichte: Windsor McCays Gertie the Dinosaur. Das Besondere an diesem ersten US-amerikanischen Zeichentrickfilm ist die Verbindung von Live-Action-Footage und Animation. Der Cartoon ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Der sich selbst spielende Cartoonist Windsor McCay wettet während einer Autopanne vor dem Naturkundemuseum mit anderen weißen Männern, dass er Dinosaurier wieder zum Leben erwecken kann. Wir bekommen daraufhin die Anfertigung der einzelnen Zeichnungen und ihren stapelweisen Abtransport zu sehen. Beim Abendessen mit den Wissenschaftlern führt der Medienpädagoge schließlich Gerties Animation vor. McCay positioniert sich dabei vor einer Leinwand um sich in der Rolle von Gerties Dompteur zu präsentieren – vermutlich ganz ähnlich wie in den Bühnenshows, mit denen er durch die USA getourt ist, um seine Trickfilmtechnik vorzustellen. Am Ende des kurzen Stummfilms passiert dann allerdings etwas Bemerkenswertes: der Filmemacher begibt sich in Gerties virtuelle Realität hinein. War er zu Beginn noch ein fotografierter Mensch, steigt er nun als Zeichentrickfigur in der Rolle eines Zirkusdompteurs auf Gerties Rücken und lässt sich von ihr aus dem Bild tragen: »Gertie will show now that she isn’t afraid of me and take me for a ride.« Diese allererste Begegnung von Menschen und Filmdinosauriern markiert den Beginn einer prekären Beziehung. Um sich im selben Raum, der selben Zeit treffen zu können, müssen entweder animierte Dinosaurier so tun als seinen sie filmbare Tiere, oder Menschen müssen so tun als seien sie animierte Objekte. Die Differenz zwischen beiden Welten ist so fundamental, dass sie in der Begegnung komplett nivelliert werden muss. Kurz nach dem großen Erfolg von Gertie the Dinosaur, beginnt Willis O’Brien erste Dinosaurier mithilfe der Stop-Motion-Technik zu animieren, zunächst mittels Claymation: Tonfiguren werden Stück für Stück bewegt und Frame für Frame fotografiert. Sein allererster Film heißt The Dinosaur and the Missing Link: A Prehistoric Tragedy (USA 1915). Bereits diese ersten ClaymationDinosaurier treffen auf Menschen, allerdings handelt es sich dabei um prähistorisierte ›Steinzeitmenschen‹ und diese sind ebenso wie die Dinosaurier komplett aus Tonfiguren animiert. Drei Jahre später, in The Ghost from Slumber Mountain (USA 1918) lässt O’Brien dann zum ersten Mal zeitgenössische Menschen auf animierte Tonfiguren-Dinosaurier treffen. Der Geist eines Eremiten und Hobbypaläontologen bringt hier einen weißen Abenteuer-Urlauber dazu, durch ein magisches Fernglas zu schauen. Doch die distanzierte Beobachterposition des Mannes findet ein jähes Ende, als er merkt, dass der riesige zweibeinige Dinosaurier, den er im Fernglas sieht, viel näher ist als er dachte – und es auf ihn abgesehen hat. »His fevered breath was in my face! – I could almost
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feel his fangs tearing my flesh!!« Der fotografierte Mensch erlebt hier eine Beinahe-Begegnung. Er trifft aber noch nicht im selben Filmbild auf den animierten Saurier, sondern er feuert lediglich in einem Bild einen Schuss ab, der im nächsten Bild den Dinosaurier getroffen zu haben scheint. Wer geschossen (gefilmt) wird, war real. Wer erschossen wird, war lebendig. Für alle filmischen Monster2 gilt, dass sie sichtbar werden, gleichzeitig aber ungreif bar bleiben. So hat der Kulturwissenschaftler Jeffrey Jerome Cohen in seinen sieben Thesen zum Monster festgehalten: »The monstrous body is pure culture. A construct and a projection the monster exists only to be read« (Cohen 1996: 4). Auf der Leinwand treten Dinosaurier-Monster als aktive Charaktere in Erscheinung, interagieren mit echten Menschen und verschaffen sich damit einen Platz in der kulturellen Vorstellungswelt. Auf dem Filmset selbst hat allerdings gar keine Begegnung mit Dinosauriern stattgefunden; die Schauspieler_innen haben nur so getan, als würden sie welche sehen. Faszination, Neugier, Angst und Schrecken ließen sich auch ohne Dinosaurier spielen, und die Bilder animierter Dinosaurier wurden erst später hinzugefügt – bei Willis O’Brien buchstäblich durch Projektion. In diesem Sinne existieren Filmdinosaurier tatsächlich nur, um gelesen beziehungsweise gesehen zu werden. Im Moment ihrer Aufführung sind sie für das Kinopublikum lebendig. Wenn der Film vorbei ist, erstarren sie jedoch wieder zu leblosen Einzelbildern oder ziehen sich in die Latenz digitaler Schaltkreise zurück. Am Ende von The Ghost of Slumber Mountain lässt Willis O’Brien den Abenteurer aus einem Traum erwachen und erklärt die Begegnung somit im Nachhinein für eine Einbildung. In den folgenden abendfüllenden DinosaurierFilmen des 20. Jahrhunderts verlegt sich die Rechtfertigung der Begegnung zunehmend an den Beginn der Narration. Ein typischer narrativer Rahmen ist beispielsweise eine im Heute beginnende Zeitreise in die Zeit der Dinosaurier.3 Sehr häufig findet sich auch die Verortung der gesamten Handlung in einer fiktiven prähistorischen Zeit, in der Steinzeitmenschen mit Dinosauriern koexistieren.4 Auch Jules Vernes Reise nach dem Mittelpunkt der Erde 2 | Ich kann an dieser Stelle leider nicht genauer auf das komplexe Thema der Monstrosität eingehen. Siehe u.a. Georges Canguilhem und Bruno Latour. Canguilhem nähert sich Monstrosität teratologisch und beschreibt sie als die jeder natürlichen Form immer schon eingeschriebene Gefahr der Unförmigkeit (Canguilhem 2008: 135); Latour assoziiert Monstren mit den verdrängten Hybriden der modernen Wissenschaft (Latour 2008: 65). 3 | Zum Beispiel A Sound of Thunder (USA 2005), Reise in die Urzeit (þSSR 1955). 4 | Dieses Setting war vor allem während des Ersten Weltkrieges populär, in den frühen Kurzfilmen von D. W. Griffith und Willis O’Brien. Der wohl bekannteste Film dieses Genres erschien dann während des Zweiten Weltkrieges mit dem Klassiker One Million B. C. (USA 1940).
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(1864) wurde in den USA wiederholt filmisch adaptiert.5 Darüber hinaus gibt es auch das Modell Raumfahrt, in der Menschen auf fremden Planeten Dinosauriern begegnen.6 Weltweit am erfolgreichsten sind bis heute allerdings jene US-amerikanischen Dinosaurier-Filme, die auf allzu fantastische Momente verzichten und die Handlung stattdessen im Heute oder in der modernen Vergangenheit spielen lassen. Diese Filme rechtfertigen die Begegnung von Menschen und Dinosauriern dann in erster Linie diskursiv: Sie thematisieren Dinosaurier als potenzielles Objekt wissenschaftlicher, kolonialer und kommerzieller Aneignung. Der Realitätseffekt des Mediums Film verbindet sich hier mit dem diskursiven Realitätseffekt hegemonialer Perspektiven auf Bilder, Objekte und der Natur.
D IE V ERFILMUNG
DER
V ERLORENEN W ELT
Wie der Blick auf die frühesten Dinosaurier-Filme gezeigt hat, ist die Geschichte der filmischen Animation im angloamerikanischen Kontext aufs engste mit dem Motiv des Dinosauriers verbunden. Nicht nur der selbsternannte Inventor of animated drawing, sondern auch der Grandfather of Stop-Motion-Animation hat sich zuallererst dieses Motivs bedient. Derselbe Willis O’Brien stattet in den Monster-Movie-Klassikern The Lost World (1925) und King Kong (1933) schließlich abendfüllende Spielfilme mit prähistorischen Kreaturen aus und lässt diese auf visuell immer überzeugendere Art und Weise mit Menschen interagieren. Während die Regisseur_innen, Drehbuchautor_innen und Schauspieler_innen wechseln, bleibt der Animationstechniker O’Brien in allen frühen US-amerikanischen Dinosaurier-Filmen hindurch derselbe. Obwohl er auf die mit Schauspieler_innen gedrehten Szenen nicht den geringsten Einfluss hatte, wird er heute als Macher dieser Filme gesehen. 7 So schreibt Fatimah T. Rony über King Kong: »Although the film glorifies the Empire State Building, its greatest boast is its own technology, the very ability of animator Willis O’Brien to create a cinematic monster like Kong, the monster of evolutionary nightmare« (Rony 1996: 189). Wenn der Animationstechniker der Filmemacher ist, ist Tom Gunnings magisches »Kino der Attraktionen« nicht 5 | Zum Beispiel in Journey to the Center of the Earth (USA 1959), At the Earth’s Core (USA 1976). 6 | Dieses Konzept ist vor allem in der UdSSR zur Anwendung gekommen, zuletzt in The Witches Cave (UdSSR 1989). Das Filmmaterial des bekannteren Planeta Bur (UdSSR 1962) wurde allerdings von US-Amerikaner_innen gekauft und zweimal in den USA wiederveröffentlicht: Voyage to the Prehistoric Planet (1965) und Voyage to the Planet of Prehistoric Women (1968). 7 | Siehe zum Beispiel Kinnard (1993).
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weit. Indem die Dinosaurier-Animation allerdings in die realistische Erzählung einer Begegnung eingebettet ist, gibt sie sich hier jedoch gerade nicht als Selbstzweck zu erkennen. Seit seiner Uraufführung 1925 ist The Lost World, der erste abendfüllende Dinosaurier-Film, etliche Male Grundlage für gleichnamige Remakes gewesen8 und er hat das Motiv der animierten Wiederkehr prähistorischer Kreaturen auch international9 in unzählige andere Filme verstreut. Das, was Noel Caroll das literarisch-filmische Prehistoric World Genre nennt, hatte seine größte Popularität in den Jahren von 1880 bis 1930 (Carroll 1998: 120). Dies ist zum einen die Hochphase des britischen Imperialismus und des US-amerikanischen Aufstiegs zur Weltmacht, aber eben auch jene Zeit, in der sich die Filmtechnik und das Kino entwickelten und verbreitet haben. The Lost World10 erzählt von der Forschungsreise eines britischen Forscher-Abenteurer-Teams in ein abgelegenes, isoliertes Plateau im Amazonasgebiet, um der Behauptung von Professor Challenger auf den Grund zu gehen, dort hätten bis heute Dinosaurier überlebt. Der Film basiert auf einer gleichnamigen britischen Romanvorlage von Arthur Conan Doyle und geht damit – wie ein Großteil der frühen populären Filmgenres – direkt auf die viktorianische Unterhaltungsliteratur zurück (Seeßlen/Jung 2003: 72). Die zentralen Themen dieser Literatur, ob Abenteuer-, Fantasy- oder Kriminalromane, waren naturwissenschaftliche Forschung, koloniale Landnahme und männliches Heldentum – verschmolzen zur Phantasie vom organisierten Vordringen ins koloniale, feminisierte11 Unbekannte. Diese literarischen Motive bleiben auch im Film zunächst erhalten. So ruft Professor Challenger im Zoologischen Institut in London nach mutigen Freiwilligen, die bereit sind, für die Wissenschaft ihr Leben zu riskieren. Die Motivation des Zeitungsreporters Malone, sich dafür zu melden, ist dementsprechend weniger ein Interesse an Dinosauriern, sondern vielmehr seiner Verlobten Gladys den Beweis seiner Männlichkeit zu liefern. Auch Sir John Roxton reist weniger aus wissenschaftlichem Interesse, hat dafür aber Erfahrung mit kolonialer Großwildjagd und ebenso wie Malone ein romantisches Interesse an Paula White. Diese wiederum begleitet die Expedition vor allem, 8 | USA 1960, USA 1992, USA 1997, USA 1998, UK 2001. 9 | Die japanischen Godzilla-Filme, entwickelt in den 1950er Jahren, verweisen direkt auf The Lost World und King Kong. 10 | Ich stütze mich hierbei auf die DVD, herausgegeben von Absolut Medien, Berlin 2008. Der Film hat hier eine Länge von 101 Minuten. 11 | Das für die Konstruktion viktorianischer Männlichkeit so zentrale Unbekannte war im europäischen Diskurs immer wieder weiblich kodiert. So träumten transatlantische Seefahrer von der Eroberung unberührter Virgin Lands und so imaginierten Philosophen der Aufklärung die Wahrheit als solche weiblich und erklärten es zur Aufgabe der Wissenschaft, deren »Schleier zu lüften« (McClintock 1995: 40).
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um ihren Vater zu finden, der seit Challengers letzter Expedition auf dem Plateau verschollen ist. Selbst der cholerische Paläontologe Challenger scheint mit der Reise vor allem den daheimgebliebenen Wissenschaftlern in London den Beweis erbringen zu wollen, dass es hinter dem »Last Outpost of Civilization« tatsächlich noch ungelöste Mysterien zu entdecken gibt. Das viktorianische Abenteuer-Narrativ des 19. Jahrhunderts bildet also die Arbeitsgrundlage für das Lost-World-Genre; im Zuge seiner Verfilmung und Amerikanisierung kommt jedoch ein vollkommen neues Motiv hinzu. Es handelt sich dabei um die riesige, reptilienartige, oral aggressive prähistorische Kreatur, die in der Peripherie entdeckt und in die Metropole gebracht wird, dort ausbricht, randaliert, die Menschen in Angst und Schrecken versetzt und daher am Ende deportiert oder getötet werden muss. In Conan Doyles Roman wurde ursprünglich nur ein verhältnismäßig ungefährliches Pterodactylus-Ei mit nach London genommen, um es dort der wissenschaftlichen Community vorzuführen. Aus diesem Ei schlüpft während der Präsentation im Zoologischen Institut ein Flugsaurier, dieser entflieht durch ein Fenster nach draußen und fliegt in Richtung Ozean – vermutlich um in die Verlorene Welt zurückkehren und von den nächsten Abenteurern wiederentdeckt zu werden. Er richtet in der Metropole nicht die geringste Zerstörung an. Im Gegenteil, hier ist es die wissenschaftliche Community selbst, die daraufhin ihre vier zurückgekehrten Helden auf den Straßen feiert und dabei mehrere Verkehrsunfälle provoziert. Die aggressive Wut des Dinosauriers auf die moderne Metropole und die Menschen ist also ein Phänomen der Filmgeschichte und taucht erst in der US-amerikanischen Bearbeitung des Stoffes auf.
I M K INO
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F ORTSCHRIT TS
Ebenso interessant wie das, was in einer Übersetzung hinzukommt, ist das, was darin verloren geht. Die literarische Verlorene Welt sowie einige ihrer filmischen Adaptionen werden nicht nur von prähistorischen Reptilien, sondern auch von verschiedenen Formen ›primitiv‹ markierter Menschen bewohnt. Sie erscheint darin als eine typische Visualisierung dessen, was Ann McClintock in ihrer Analyse des viktorianischen Imperiums als »Anachronistic Space« bezeichnet hat – einem Ort, an dem alles das auftaucht, was vom Subjekt des historischen Fortschritts aus der Gegenwart verdrängt wird: »Within this Trope the agency of women, the colonized and the industrial working class are disavowed and projected onto anachronistic space: prehistoric, atavistic and irrational, inherently out of place in the historical time of modernity« (McClintock 1995: 85). Die Säkularisierung und Dynamisierung der historischen Zeit, angestoßen in der Renaissance und radikalisiert im Fortschrittsdiskurs des 19. Jahrhunderts, spielte bei der Herausbildung dieses modernen Dispositivs
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eine ganz zentrale Rolle. Im Rahmen dieses historisch beispiellosen Prozesses – der Moderne – wurde von Europa aus zweimal Tabula Rasa gemacht: Einmal räumlich in der ›Neuen Welt‹ durch die (diskursive sowie militärische) Herstellung eines leeren, geschichtslosen Landes und einmal zeitlich in der ›Neuzeit‹ durch die (diskursive sowie revolutionäre) Konstruktion einer leeren, offenen Zukunft (Osborne 1992: 70). Die offene Zukunft bot nun Raum für große Projekte und hoffnungsvolle Erwartungen und zugleich widerlegte die historische Biologie nach und nach die Vorstellung der göttlichen Herkunft des Menschen. Wie Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge beschrieben hat, wird die – vergebliche – Suche nach den Ursprüngen des Menschen nun zum zentralen Problem des Denkens und der Wissenschaften (Foucault 2009: 331f.). Das Narrativ der natürlichen Evolution und das Narrativ des unaufhaltsamen Fortschritts wird dabei konsequent aneinander gespiegelt und gegenseitig produktiv gemacht. McClintock betrachtet dieses ideologische Amalgam der Moderne, das durch eine naturalisierte, fortschreitende Zeit zusammengehalten wird, nun vor allem im Kontext des Konsum-Kapitalismus und bringt dabei ein weiteres wichtiges Element zum Vorschein, die Vergegenständlichung der Zeit: »Now not only natural space but also historical time could be collected, assembled and mapped onto a global science of the surface« (McClintock 1995: 36). Die populären Technologien und Wissensformen des europäischen 19. Jahrhunderts, das Auftauchen von Anthropologie, Paläontologie, Weltausstellungen, Zoologischen Gärten, Themenparks und Fotografie haben hier alle dieselbe Struktur. Sie suggerieren dem metropolitanen Bürgertum, dass die gesamte Natur- und Weltgeschichte potenziell ihrem konsumierenden und kontrollierenden Blick zugänglich ist. McClintock bezeichnet diesen Standpunkt als »Panoptical Time« – »the image of global history consumed at a glance in a single spectacle from the point of privileged invisibility« (McClintock 1995: 37). Auch im Visual-Effects-Spektakel The Lost World werden die Entdecker_innen nicht nur von einem Allosaurus, sondern parallel dazu auch von einem humanoiden Primaten, gespielt von einem Wrestler, immer wieder belauert und angegriffen, bis Roxton diese Species-of-one schließlich aus einer wahnwitzigen Entfernung erschießt. Noch bemerkenswerter als diese Personifizierung des »Anachronistic Space« ist allerdings die Tatsache, dass die in der Romanvorlage so zentralen indigenen Bewohner_innen des Plateaus, aber auch die indigenen Expeditionsbegleiter_innen und Helfer_innen (»our Indians«), im Film nicht mehr vorkommen. Was hier fehlt, ist das bei Conan Doyle so zentrale, paternalistische Motiv der bedauernswerten ›primitiven‹ Anderen, die auf ihre Befreiung durch Zivilisation und Moderne warten. Was hier aber auch fehlt, ist das Motiv des ›Edlen Wilden‹, also dem bewundernswerten Naturmenschen, ein Motiv, das seit der Eroberung der ›Neuen Welt‹ im kolonialen Europa eine wichtige Rolle gespielt hat.
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Tatsächlich wurde jedoch eine ganze Reihe von Szenen mit indigenen Amerikaner_innen gedreht.12 Im Original-Drehbuch von Marion Fairfax (vgl. Kinnard 1993) wird die Expedition sowohl von »native bearers« begleitet, als auch von kannibalischen »Nhambiquara Indians« bedroht. Der »Mixed-Breed«- Expeditionsteilnehmer Gomez konspiriert jedoch mit den Trägern und verschwindet heimlich mit dem ganzen Equipment. Letztere glauben beim Anblick der abfahrenden Kanus, dass das ganze Team verschwunden ist, wenden sich ab, und so kann die Expedition nun ungestört das Plateau erklimmen. Dieses doppelte Drehbuch zu The Lost World, des ersten DinosaurierSpielfilms der Filmgeschichte, liefert einen entscheidenden Hinweis zur Analyse dieses Genres. Für den Fall des Scheiterns der Animation wird als Plan B eine Geschichte gedreht, die von einem Angriff der ›Wilden‹ auf die Erobernden sowie von einer Verschwörung der Kolonialisierten erzählt. Das Drehbuch ist allerdings so raffiniert geschrieben, dass nach Willis O’Briens Erfolg alle zusammen gelöscht und durch Dinosaurier-Animationen ersetzt werden können, ohne dass in der Geschichte eine Lücke entsteht. Historisch kontextualisiert, bekommt diese Ersetzung eine bemerkenswerte Bedeutung. So war die, in die europäische Eroberungsgeschichte eingeschriebene, Ambivalenz gegenüber den ersten Amerikaner_innen13 im 19. Jahrhundert noch einmal überformt worden. Im Rahmen der staatlich-religiösen Doktrin der Manifest Destiny galt es jetzt, das gesamte Inland zwischen den Küsten anzueignen und in Privat- oder Staatsbesitz umzuwandeln. Die geografische Verschiebung der American Frontier nach Westen wurde dabei zu einem Projekt der Zukunftsproduktion. Die Geschichten der ersten Amerikaner_innen endeten nun in der Gegenwart wie in einer Sackgasse. Nicht nur von ihren Feinden, sondern insbesondere auch von ihren romantischen Befürworter_innen wurden sie auf die tragische Rolle des Beinahe-Verschwunden-Seins festgelegt. Von Coopers Roman Der letzte Mohikaner (1813) bis zum Stummfilm-Western The Vanishing American (1925) sind die ›Edlen Wilden‹ der Moderne immer wieder die Letzten ihrer Art: »These proto-American allegories were conveniently vanishing, leaving the land open for Euro-Americans to take their ›rightful‹ place« (Kilpatrick 1999: 12). Der ›Wilde‹ hört auf bewundernswert zu sein, da sein Fortbestand nur durch Präservation gesichert werden kann – dem Gegenteil des Fortschritts. Dinosaurier hingegen verweisen auf die Forschungsprojekte und Geschäftsideen der Zukunft. Sie sind bereits ausgestorben, sie müssen nicht erhalten und geschützt werden, sondern sie können und müssen ganz im Gegenteil immer wieder neu hergestellt werden. Die Ersetzung der ›Indianer‹ durch Dinosaurier in der US-Amerikanischen Lost World ist also nicht etwa 12 | Das Filmmaterial dieser Szenen ist heute allerdings verschollen. Es existieren nur noch einige Standbilder (vgl. Gross 2007). 13 | Siehe dazu Brunotte 2000; Weaver-Hightower 2007.
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ein Ergebnis von Kolonialismus-Kritik, sondern sie korrespondiert vielmehr mit dem Versprechen der totalen Eroberung des Kontinents und der Zukunft unter den Vorzeichen des Fortschritts. Nach der romantischen Zusammenkunft von Ed Malone und Paula White und dem Fund von Mr. Whites Taschenuhr in einem Haufen Knochen wird das Team schließlich Zeuge eines apokalyptischen Vulkanausbruchs. Eine Unzahl animierter Dinosaurier rennt wild über das Plateau und beginnt, sich von Flammen umgeben gegenseitig aufzufressen. Schließlich gelingt es allen in letzter Sekunde das Plateau zu verlassen. Unten warten schon vom Vulkanausbruch angelockte weiße Männer in Kolonialkluft. Diese helfen dabei, den Brontosaurus, der zu einem früheren Zeitpunkt zufällig vom Plateau gestürzt war und nun verletzt im Schlamm vor sich hin atmet, einzupacken und abzutransportieren. So kommen die ›Modernen‹ am Ende scheinbar ganz spontan auf die Idee, den unhandlichen Dinosaurier in Besitz zu nehmen, wie eine Ware zu exportieren/importieren und dem sensationshungrigen Publikum im Londoner Naturkundemuseum vorzuführen. Die Vorführung findet allerdings nicht statt, der lebende Dinosaurier tritt – im Gegensatz zu Kong – zu keinem Zeitpunkt als vorzeigbares Objekt in Erscheinung. Stattdessen stellt er seine Lebendigkeit der nächtlichen Stadt dadurch unter Beweis, dass er sie ins Chaos stürzt und aus Versehen die Tower Bridge zum Einsturz bringt. Danach verschwindet das magische Urzeitwesen wieder hinter den Horizont des Sichtbaren. Was bleibt, ist das Erlebnis einer spektakulären Begegnung und das Versprechen ihrer potenziellen Wiederholung. So gelingt das, was in der verfilmten Expedition scheitert dann trotzdem, nämlich auf der Leinwand. Die Tatsache, dass sich der Dinosaurier im Film nicht fesseln und nicht ausstellen lässt, macht seine menschengemachte Lebendigkeit im Kino nur noch eindrucksvoller. Der Dinosaurier ist visuell kontrollierbar, auch wenn er physisch ungreif bar bleibt. Die geglückte Dinosaurier-Animation markiert dabei neben dem Beweis fortgeschrittener Animationstechnologie noch einen weiteren, viel komplexeren Erfolg. Sie erschafft für das Kino einen neuen animalischen und animierten Anachronistic Space, deren – potenziell widerständige – Objekte nicht mehr kolonialen, interkulturellen Ursprungs sind. Die Objekte dieses neuen Raums sind – inklusive ihrer Widerständigkeit – zu 100 Prozent Produkt der Technologie. Als solche sind sie auch bereits von vorn herein Privateigentum und stehen unter menschlicher Kontrolle, sie können repliziert, verwertet und getötet werden – ohne irgendwelchen ethischen Einwände. So heißt es knapp 80 Jahre später in Jurassic Park II – The Lost World (USA 1997) »An extinct animal brought back to life has no rights. It exists because we made it. We patented it, we own it.« The Lost World (1925) stellt damit den Beginn eines Prozesses dar, in dem das Projekt der Dinosaurier-Animation im Kino die Form eines paradoxen Spektakels annimmt. In der Narration dieses Films hat dieses Spektakel aller-
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dings noch nicht den Charakter einer kommerziellen Zurschaustellung. Der Film reflektiert weder das Motiv der visuellen Ware noch der profitablen Show. In den kommenden großen Filmen dieses Genres – beginnend mit King Kong (1933) – wird das Moment kommerzieller Aneignung jedoch zunehmend direkt thematisiert.
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Im Kino des 20. Jahrhunderts ging es darum, Filmbilder als aufgenommene Realität zu kennzeichnen und den Aspekt der Animation in den Hintergrund zu stellen. Mit der digitalen Technologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts kommt es jedoch zu einer Art heimlichen Umkehrung dieses Prozesses. War Animation bisher die Ausnahme, die nicht ernstzunehmende Spielart des echten, fotografischen Kinos, wird die Logik des »creating-what-never-was« im Zeitalter des fotografischen Realismus digitaler Special Effects zur Regel (vgl. Manovich 1999). Braga hat dieses neue Moment auch als postfotografisches Paradigma beschrieben. Im Gegensatz zum fotografischen Paradigma stehlen oder töten diese neuen Bilder nichts, vielmehr werden sie durch numerische Kontrolle und abstrakte Modellierung generiert. Die Bilder, insbesondere die Tierbilder, werden von der Aufgabe, Realität einzufangen, befreit. »[T]heir symbolic nature empowers them to function as experimental images, prefiguring the world in order to better control it« (Braga 1997: 129). So werden trotz des enormen technischen Aufwands inzwischen auch lebende Tiere durch Animationen repräsentiert. Jane Desmond zieht dabei Verbindungslinien zur Inszenierung ausgestopfter Tiere und schlussfolgert: »The desire is to produce a convincing replica that can then be controlled in ways animal actors cannot« (2002: 170). In der langen Geschichte des Dinosaurier-Films wird auch dieser Wandel als ein Einschnitt problematisiert, verarbeitet und inszeniert. Auf den ersten Blick wird in Jurassic Park (USA 1993, im Folgenden kurz JP) das realistische Projekt des 20. Jahrhunderts weiterverfolgt und sogar noch perfektioniert. Im Vergleich zu den älteren Dinosaurier-Filmen fällt sofort auf, dass die Dinosaurier beeindruckend realistisch dargestellt sind. Ihre Welt scheint exakt mit der Live-Action-Welt der Menschen übereinzustimmen. Die Stop-Motion-Kreaturen des Willis O’Brien-Schülers Ray Harryhausen, wichtigster Dinosaurier-Animator der 1940er bis 1970er Jahre, sind mit ihren stockenden Bewegungen, ihren grellen Farben und ihrem individuellen Charakter noch klassische Filmmonster im Stil von O’Briens King Kong. Visual-Effects-Techniker von Industrial Light & Magic – der Postproduktions-Firma von JP – loben Harryhausen heute vor allem für die künstlerische Autorschaft an seinen Kreaturen. »He created subtleties of motion and action that made the
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characters uniquely his.«14 Bild für Bild im Miniaturset gedreht und später mit Live-Action-Footage kombiniert, wirkten dabei aber weder Größenverhältnisse, noch Licht oder Bewegung wirklich realistisch. In JP wird die Stop-Motion-Animation nun von einer vollkommen neuen Technologie abgelöst: den Computer Generated Images (CGI). Verschiedenste handwerkliche, robotische, analytische, dokumentarische und grafische Möglichkeiten werden ausgeschöpft und im Rechenzentrum zusammengeführt15. Wo die Dinosaurier in nächster Nähe mit Menschen interagieren und nur zum Teil im Bild sind, werden lebensgroße, hydraulisch gesteuerte Dinosaurier-Maschinen eingesetzt und live gefilmt. In all den Szenen allerdings, in denen Dinosaurier komplett im Bild zu sehen sind, werden den Filmbildern in der Postproduktion digitale Animationen hinzugefügt und dem Look des traditionellen Fotofilms angepasst. Mit ihrer neuen technischen Herstellung ändert sich auch der Charakter der Dinosaurier selbst – sie wirken wie Tiere. So studierten die Animatoren und Special-FX-Spezialist_innen zunächst unzählige lebende Tiere (und Menschen) im Detail und kreierten daraufhin die Illusion lebendiger Dinosaurier »by relying on shared assumptions of animal form, movement, and behavior« (Baird 1998: 91). Robert Baird hält diese Strategie der »Animalisierung« der Dinosaurier sogar für die Hauptursache des weltweiten Erfolgs des Films (Baird 1998: 94).16 Steven Spielberg, der Regisseur von JP, hat sie als bewussten Versuch der Entmonsterung dargestellt: »I wanted my dinosaurs to be animals. I wouldn’t even let anyone call them monsters or creatures« (zit.n. Shay 1993: 15). Mit Bruno Latour lässt sich diese Haltung als ein Versuch lesen, die »moderne Verfassung« erneut zu bestätigen. Diese behauptet seit jeher, Natur und Gesellschaft voneinander zu trennen, während sie in Wirklichkeit die Hybridisierung dieser Kategorien vorantreibt. So illustriert die Animalisierung der Dinosaurier genau das, was Latour als »Reinigungsarbeit« (Latour 2008: 21) bezeichnet hat. Menschengemachte Filmfiguren, zum Teil Produkte der modernen Paläontologie, zum Teil Produkte der modernen Phantasie, werden mit Hilfe spektakulärer Animationstricks für das Publikum in Naturobjekte verwandelt. Ihre Monstrosität, ihre doppelte Herkunft aus Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Phantasie wird verneint, und sie werden auf die reine Zugehörigkeit zur Natur festgelegt. Diese scheinbare Reinigung basiert jedoch 14 | Glen McIntosh, Lead Animator, Industrial Light and Magic. Zitiert nach Return to the Valley, DVD Special Feature, Warner Home Video 2003. 15 | Siehe Making Of von Jurassic Park, DVD Special Feature, Columbia Home Video 2000. 16 | Für ihn als Filmwissenschaftler, der sich nicht an der Psychoanalyse, sondern an der Kognitionspsychologie orientiert, ist ein guter Blockbuster vor allem ein »spectacle of cognition« (Baird 1998: 88), dessen Gelingen auf der genauen Kenntnis psychologischer Schemata beruht, sogenannten »Human Universals«.
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eigentlich auf einer »Vermittlungsarbeit« zwischen verschiedenen Formen des Wissens und der Evidenzproduktion. Hier ist das zum einen die Simulation der Bewegungsschemata »dinosaurierähnlicher« Tiere (Baird 1998: 92) und deren Neukombination im Animationsprogramm. Zum anderen ist das die digitale Reproduktion jener Realitätseffekte, die die Kulturgeschichte des Films im 20. Jahrhundert etabliert hat (vgl. Hediger 2004). Die Dinosaurier in JP erscheinen in Tierform und werden auch in der Narration animalisiert, sind mit Latour und Haraway aber gerade deshalb als Hybride, Monster oder Trickster zu beschreiben. Eng mit der Strategie der Animalisierung verbunden ist das zweite neue Element in JP: die diskursive Auseinandersetzung mit dem Problem der Animation. Die technologische Belebung der Dinosaurier wird in der Narration verarbeitet – der Film reflektiert sich selbst. So geht es in JP zum ersten Mal nicht um die Entdeckung, sondern um die biotechnologische Herstellung von Dinosauriern durch Menschen. Die Paläontolog_innen Alan Grant und Ellie Sattler werden an einer Raptor-Ausgrabungsstätte vom kindlichen Showman Hammond aufgesucht und dazu überredet, seinen neuen Themenpark zu begutachten, der vor seiner Eröffnung noch von Expert_innen abgesegnet werden muss. Gemeinsam mit dem steifen, profitgierigen Anwalt Gennaro und dem zynischen Chaos-Theoretiker Ian Malcolm landen sie auf der Privatinsel Isla Solna vor der Küste Costa Ricas. Im Jeep über die Savannen der Insel fahrend stellen sie fest, dass Hammond beziehungsweise seine Firma InGen, lebendige Dinosaurier hergestellt hat: »How did you do this?« – »I’ll show you.« Als kommerzielle Attraktion lassen sich lebendige Dinosaurier noch immer nicht vorzeigen, wie sich später herausstellen wird. Was sich aber zeigen lässt, ist der Prozess ihrer Herstellung. Angekommen im Besucherzentrum begeben sich die Expert_innen auf eine noch nicht ganz fertiggestellte Tour durch den Themenpark Jurassic Park. Diese beginnt zunächst im Kino, wo Hammond seinem filmischen Double auf der Leinwand scheinbar in den Finger sticht, um zu erklären, dass mit einem Blutstropfen das Wunder des Klonens beginnt. Das Filmbild Hammond beginnt sich nun zu verdoppeln und verdreifachen – mit Morris »an overt association of genetic with cinematographic copying« (Morris 2007: 196). Die aus dem Blutstropfen hervorkommende Cartoon-Figur Mr. DNA erklärt den vier Testbesucher_innen von Jurassic Park dann kindgerecht, wie aus in Bernstein konservierten Mücken Dinosaurierblut und -DNA gewonnen, mit Frosch-DNA komplettiert wurde und mithilfe dieser genetischen Information dann neue Dinosaurier ausgebrütet wurden. Dieser integrierte Making-Of-Film im Film nimmt jetzt das ganze Bild ein – die Perspektive der Testbesucher_innen fällt mit der des Kinopublikums zusammen. Die Medientechnologie der CGI-Animation ist ebenso wie die Biotechnologie des DNA-Kloning eine Übersetzung von digitaler Information in Bewegung, Affekt und Körperlichkeit – wenn im Kino auch nur zweidimensional.
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Und der Zuschauerraum in JP dreht sich anschließend direkt vom Kino ins Klonlabor. Der Show-Man Hammond beziehungsweise der Regisseur Spielberg spielen hier ganz deutlich mit der Parallelität von biologischer und filmischer Animation. So fragt der dümmliche Gennaro angesichts der hin-und herlaufenden männlichen Wissenschaftler hinter der Glasscheibe: »Are these ...ehm Auto-Erotica?« Und Hammond antwortet: »No, no, no we don’t have Animatronics here, those people are the real miracle workers of Jurassic Park.«17 Die männlichen Biotechnologen im innerfilmischen Projekt Jurassic Park werden hier gegen die tatsächlichen miracle workers hinter dem Film Jurassic Park ausgetauscht – die Special FX- und Animatronics-Expert_innen von Industrial Light & Magic.
A NTI - TECHNOLOGISCHE TECHNOLOGIE UND KOMMERZIELLE K RITIK AM K OMMERZ Im Zentrum des Films steht der Konflikt zwischen Realität und Virtualität. »The virtual becomes, and threatens to incorporate, the real. The narrative celebrates computer effects yet distrusts the technology that makes them, and itself, possible« (Morris 2007: 196). Tatsächlich wird in der Rollenverteilung, aber auch im artikulierten Diskurs des Films bald eine Technik-Kritik deutlich. So ist der Held des Films, der sympathische Paläontologe Grant, in den Worten seiner Freundin Sattler nicht »maschinenkompatibel«. Der Verursacher der Katastrophe hingegen ist der gierige, übergewichtige ComputerNerd Denis Nedry, der das Kontrollsystem des Parks erst programmiert hat und dann sabotiert, um ungehindert eine Dose mit Dino-Embryos herauszuschmuggeln. Nachdem überall die elektronischen Zäune ausgefallen sind und die menschengemachten Raubtiere beginnen, sich frei auf der Insel zu bewegen, ruft auf dessen Computer ein animierter Nedry nach dem Passwort: »Uh Uh Uh, You didn’t say the Magic Word!« Computer können zaubern, aber kann man sich wirklich auf sie verlassen? Am Ende sieht auch der Träumer Hammond ein: »We are overdependent on automation, I can see that now!« Diese mit Hilfe spektakulärer Computertechnologie inszenierte Technologiekritik macht JP zu einem ebenso selbstreflexiven wie intransparenten Film – und dabei zu einem ausgefeilten Spektakel des Widerspruchs. Diese heimliche Selbstreflexivität des Films erinnert erneut an Willis O’Briens King Kong. Dort wurde noch das Moment der Filmaufzeichnung dramatisiert: die Crew will eine Dokufiktion über Skull Island drehen, der Film kommt nicht zu Stande, stattdessen wird ein Monster eingefangen (ge17 | Animatronics selbst kamen zuerst in den 1960er Jahren im Themenpark Disneyland zum Einsatz (Desmond 2002: 170).
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captured), exportiert und schließlich getötet. Während hier also eindeutig das fotografische Paradigma problematisiert wird, steht in Spielbergs Film nun jedoch das postfotografische Paradigma zur Debatte. Innerhalb der Narration verweisen beide Filme dabei auf das »Kino der Attraktion« – »its ability to show something« (Gunning 2000: 216). So fragt Ian Malcolm, als sich das riesige hölzerne Tor öffnet und die Fahrt durch Jurassic Park beginnt: »What have they got in here: King Kong?« Das klassische Monster, hergeleitet von monstrare (lateinisch: zeigen, warnen), bekommt erst im Kontext seiner Zurschaustellung eine Realität und muss sich doch immer wieder der Zurschaustellung entziehen. Es weist dabei sowohl Qualitäten des ›Natürlichen‹ auf – seine ›Natürlichkeit‹ ist schier gigantisch – als auch Qualitäten des Hergestellten, Simulierten beziehungsweise Magischen. Obwohl alle wissen, dass es Dinosaurier nicht gibt und es sich dabei um Filmtricks handeln muss, werden sie als echt oder lebendig wahrgenommen, und dieser Verblüffungseffekt ist auch das zentrale Ziel des Films. Barbara Flückiger nennt diese Verbindung von Technologie und Magie auch die »doppelte Strategie des Belehrens und Staunens zwischen Wissen und Nichtwissen« (Flückiger 2008: 370). Diese Strategie ist gerade dann am Werk, wenn Filmen wie JP Making-Of-Videos hinzufügt werden. Die technologische Herkunft der Tiere wird zugegeben und zelebriert, ihre Produktion bleibt dabei aber trotzdem unnachahmbar. Mit Bezug auf die Geschichte wissenschaftlicher Demonstrationen beschreibt Flückiger Visual Effects als eine kulturelle Praxis, in der es darum geht: »ein Wissen teilweise zu enthüllen, teilweise aber auch zu verbergen und in diesem Zwischenbereich eine breite Palette des Staunens zwischen Furcht und Begeisterung zu erzeugen« (ebd.). Inbesondere Spielbergs Inszenierung des Dinosaurier-Labors hinter einer Glasscheibe, das der sich drehende Kinosaal plötzlich an Stelle einer Leinwand präsentiert bekommt, stellt den Dinosaurier-Film in den Kontext solcher magisch-wissenschaftlichen Demonstrationen. In dem Moment, in dem das Labor die Leinwand ersetzt, folgen die Wissenschaftler_innen dem Begehren nach der Enthüllung des Realen, befreien sich gewaltsam aus den Kinosesseln und gelangen hinter die Glasscheibe. Dort wird ihnen dann am Beispiel eines schlüpfenden Velociraptoren von einem freundlichen, ausgesprochen korrekten Labormitarbeiter das Prozedere der Dinosaurierkreation und der technologischen Reproduktionskontrolle erklärt: »There is no unauthorized breeding in Jurassic Park«. Alle Dinosaurier sind weiblich, ihnen wird einfach das Hormon vorenthalten, das Embryos brauchen um männliche Geschlechtsorgane auszubilden. Sattler ist skeptisch: »Deny them that?!« und Malcolm setzt nun zu jener melodramatischen Kritik an der Moderne an, die vorgibt, das Thema dieses Films zu sein: »John, the kind of control you are attempting is not possible. If there is one thing that the history of evolution has taught us, it’s that life will not be contained. Life breaks
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free, it expands to new territorries and crashes through barriers painfully, maybe even dangerously [...]«
Das, was hier als Leben bezeichnet wird, ist jedoch vielmehr eine Verkleidung für sein modernes Gegenstück: die Technologie. Moderne Qualitäten, geeignet für die Beschreibung der kolonialen Eroberung der ›Wildnis‹ oder der utopischen Eroberung der Zukunft, werden hier dem Leben selbst zugeschrieben. Hier zeigt sich deutlicher als je zuvor, dass die moderne Verschränkung von Evolution und Fortschritt die ideologische Grundlage des Dinosaurier-Films bildet. In Jurassic Park wird dieses Moment nun im Rahmen der »New Frontiers of Science« (Sanz 2002: 73) aktualisiert.18 Dabei wird auch hier wieder ›Gesellschaft‹ und ›Natur‹ vermischt – im Namen seiner Trennung. Kraft seiner Natur ist das Leben selbst ein Akteur des Fortschritts. Kraft ihrer menschlichen Herkunft sind die Dinosaurier selbst Akteure der Evolution. Die Menschen sollten allerdings lieber nicht versuchen sich der expansiven, unkontrollierbaren Kraft der Fortschrittsevolution in den Weg zu stellen. Beim folgenden Mittagessen, bei dem das Projekt Jurassic Park von allen außer dem gierigen Anwalt in Frage gestellt wird, erweitert Malcolm nun seine Kritik der Naturbeherrschung um eine Kritik an Kapitalismus und Kolonialismus. Im Licht mehrerer Diaprojektoren, die Werbematerial für Jurassic Park, Bilder von Logos, Diagrammen von Natur und Technik durch den ganzen Raum werfen, wird Hammond vom Chaos-Wissenschaftler Malcom als naiver Kapitalist und Ideendieb hart angegriffen: »I’ll tell you the problem with the scientific power that you’re using here. It didn’t require any discipline to attain it. You know, you read what others had done and you took the next step. You didn’t earn the knowledge for yourselves, so you don’t take any responsibility... for it. You stood on the shoulders of geniuses to accomplish something as fast as you could, and before you even knew what you had, you patented it, packaged it and slapped it on a plastic lunch box. And now you’re selling it. You wanna sell it.«
Das erklärte Ziel des innerfilmischen Projekts Jurassic Park ist nicht die Inbesitznahme und Kontrolle der ›Natur‹, sondern vielmehr, die ganze Welt und insbesondere die Kinder mit einem kommerziellen Spektakel im Corporate Design zu erfreuen. Der zentrale Vorwurf, der Hammond hier gemacht wird, 18 | Nach dem Ende der American Frontier als kontinentalem Eroberungsprojekt weicht die Frontier-Mythologie auf andere Bereiche aus. Daher wird, sowohl im Film als auch in der US-amerikanischen Politik des 20. Jahrhunderts erst die Raumfahrt und später zunehmend die Biotechnologie als eine Form der Eroberung der ›Wildnis‹ aufgefasst.
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ist dementsprechend der Vorwurf der Kommerzialisierung und der illegitimen Aneignung von intellectual property. Selbstverständlich hat die Firma InGen ihre Biokreationen patentieren lassen und sich damit als Pionierin der mikrobiologischen Eroberung bewiesen. Hammond selbst ist aber kein Forscher, sondern ein Visionär. Als schottischer Immigrant, der es scheinbar allein mit Kraft seiner Imagination geschafft hat, ein Imperium der Unterhaltungs- und Biotechnologie aufzubauen, ist er die Verkörperung des American Dream. Seine Karriere als Showman beginnt mit einem Flohzirkus und endet mit der Animation riesiger Urtiere. Dementsprechend ist das Labor in JP keineswegs ein Ort des Schreckens, sondern bleibt als Ort der Faszination und Kontrolle bestehen. Im Gegensatz zu The Island of Dr. Moreau19, wo lebendige Menschen im »House of Pain« zu monströsen Tiermenschen umoperiert werden, sind InGens Dinosaurier nicht das Produkt eines verrückten Wissenschaftlers, sondern der Traum eines sympathischen Kapitalisten. Während der Paläontologe Grant später allein mit Hammonds Enkeln im T-Rex-Gehege das Abenteuer der Vaterschaft ausprobiert, verbringt der Opa die Katastrophennacht nostalgisch im Besucherzentrum, isst schmelzendes Eis bei Kerzenschein und diskutiert mit Ellie Sattler über Realität und Illusion. Umgeben von Merchandise-Produkten, wird der Park hier als eine gescheiterte Hoffnung der Vergangenheit präsentiert. All die Spiele, Kuscheltiere, Bilder und Fossilienreliefe sind Bilder einer multiplen Nostalgie: Sie erzählen von der verlorenen Welt der Kindheit, von einem verlorenen Vergnügungspark, der nie aufgemacht hat, von einem geplatztem American Dream. Gleichzeitig verweisen die hier gezeigten Fanartikel, die auch in der realen Welt zum Verkauf stehen, auf die doppelte Agenda des Films JP. Malcolms mitreißende Kritik am Kommerz wird in ein Format gepackt, das genau dieselbe Struktur hat, wie das, was er kritisiert: Ein Blockbuster, der mit aggressivem Product-Placement und außerfilmischem Merchandising sich selbst als Marke etabliert. Der Kinofilm wird zu einem Werbefilm für die außerhalb des Film vertriebenen Markenprodukte. Spielberg hat zwar keine Lebewesen patentieren lassen, dafür aber den Begriff ›Jurassic Park‹ und ein Meer von Plastikfiguren, Spielen, Helmen und T-Shirts. Der Slogan »If it’s not Jurassic Park, it’s extinct«, der später im Kampf gegen nicht authentische Spielzeug-Kopien etabliert wurde, erzählt dabei auch von einer aggressiven Affirmation des Patentrechts und der kommerziellen Verwertung von Lebewesen. Mit Constance Balides liest sich dieser Slogan daher auch als: »if it’s not commercial you can forget it, even if it is history« (Balides 2000: 158).
19 | Buch: GB 1896, Film: USA 1932, 1977, 1996.
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Der Blick in die Narration US-amerikanischer Trickspielfilme hat eine in sich widersprüchliche Grundstruktur zum Vorschein gebracht: Animierte Dinosaurier werden von Eroberern und Unternehmern dingfest gemacht, doch spätestens in dem Moment, in dem sie gezeigt werden sollen, entfalten sie katastrophale Kräfte. Das Motiv der Verlorenen Welt, das dem generischen Dinosaurier-Film zugrunde liegt, antwortet dabei nicht nur abstrakt, sondern auch im Detail auf das geopolitische Motiv der Erfindung und Eroberung der Neuen Welt unter dem Vorzeichen des Fortschritts. Im ebenso utopischen wie fatalen Moment der Konfrontation zweier unvereinbarer historischer Zonen und medialer Wirklichkeiten wird dieses moderne Projekt jedoch immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Dinosaurier-Filme kritisieren ihre eigene Technologie und unterlaufen medial ihre eigene Narration. Ebenso wie das Medium Film kombiniert die dinotopische Traumfabrik der Moderne zwei entgegengesetzte Technologien. Einerseits die koloniale Technologie der Inbesitznahme von Objekten, Lebewesen, Natur – ähnlich dem Capturing im fotografischen Anteil der Filmtechnologie. Andererseits die kapitalistische Technologie der Produktion von (Konsum-) Objekten und die Zurschaustellung menschlicher Zauberkräfte – vergleichbar mit dem filmischen Moment der Animation. Als nicht-präsentierbare Urtiere entziehen sich Dinosaurier spektakulär dem menschlichen Zugriff; als präsentierte Filmtiere jedoch sind sie ihm Bild für Bild unterworfen. In der Jurassic Park-Trilogie, der bisher letzten Aktualisierung des Lost World-Genres, wird die immer schon widersprüchliche Dys/Utopie der (Wieder-)Herstellung urzeitlicher Tiere zu einem Spektakel des Widerspruchs dramatisiert. Die Produktion gerät außer Kontrolle und die animierten (Konsum-) Objekte beginnen sich zu verselbstständigen. Der Film thematisiert dabei zwei verschiedene Momente der industriellen Moderne, die sich bis 1990 gegenüberstanden und nun nach dem Scheitern des Kommunismus ineinander kollabieren. So beschreibt die Philosophin Susan Buck-Morss die »dream-form« des Westens als ein Utopia des Konsums, das dem Utopia der Produktion im (kommunistischen) Osten entgegengesetzt ist (Buck-Morss 1995: 3). Wenn beide Versprechen nach dem Zusammenbruch des einen Modells ihre binäre Substanz verlieren, verwandelt sich Utopia in einen Themenpark: »In this cynical time of the ›end of history‹, adults know better than to believe in social utopias of any kind – those of production or consumption. Utopian fantasy is quarantined, contained within the boundaries of theme parks and tourist preserves, like some ecologically threatened but nonetheless dangerous zoo animal.« (Buck-Morss 1995: 26)
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Wie Utopia liegt die Urgeschichte außerhalb der Geschichte – sie hört dort auf, wo die Geschichte anfängt. Sie ist auf demselben kontinuierlichen Zeitpfeil angeordnet wie die Geschichte, schließt an sie an und ist doch radikal von ihr verschieden. Im Gegensatz zur Geschichte können die Modernen die Urgeschichte nie wirklich hinter sich lassen, denn sie weicht zurück wie Michel Foucaults »Gebiet des Ursprünglichen«. Dennoch oder gerade deshalb versucht das moderne Denken »in der Richtung vorzugehen, in der sich dieses Zurückweichen vollzieht« (Foucault 2009: 402). Weil das aber ein Vorangehen ist und kein Zurückgehen, bekommen Dinosaurier, von denen immer mehr mineralisierte Knochen gefunden werden und deren visuelle Körper immer besser animiert werden, den Charakter des (immer wieder) Neuen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist das Utopische allerdings selbst zu einer verlorenen Welt geworden. Seine Reinszenierung gehört nun in den Bereich des Kinder-Thrillers. Durch die Assoziation der ›Dinotopie‹ Jurassic Park mit dem Showman und American Dreamer John Hammond, wird die diskursive Nähe von Urgeschichte und Utopie dabei ganz konkret auf die US-amerikanische Moderne hin formuliert. Am ›Ende der Geschichte‹ sind Utopien obsolet – selbst der American Dream. Die erfolgreiche Realisierung der filmischen und biotechnologischen Animation wiederum markiert die Wiederherstellung der Urzeit und damit die Ankunft von Utopia. Hammonds Traum glückt und scheitert also gleichzeitig. »It’s still the fleacircus! It’s all an illusion!« wirft Sattler ihm an Kopf. Doch auf der Leinwand sind die Dinosaurier realistischer und animalischer als je zuvor. In JP werden Dinosaurier nicht getötet, sondern geboren und aufgezogen, zunächst im Labor und dann in der ›Wildnis‹. Hier beginnen sie eine neue Existenz als tierliche Zeitgenossen. Als solche sind sie geschichtslos, sie sind nicht mehr prähistorisch, sondern nun vor allem vital. Am Ende von JP bringt der animierte, animalisierte T-Rex sein eigenes Knochenmodell zum Einsturz, und ein Banner mit der Aufschrift »When Dinosaurs ruled the earth« flattert halb zerrissen durch das Bild. Jetzt, nach der Wiederkehr der Urgeschichte, sind Geschichte und Evolution vollkommen ineinander kollabiert. Sie bilden eine neue, monströse Totalität, in der es keine Vergangenheit, keine Zukunft, keine Natur und keine Technologie mehr gibt. Was jetzt noch bleibt, ist die fortgesetzte Privatisierung der im Kino und Labor postproduzierten Hybriden – Reproduktion, Franchise, Patentverwertung und Privatkopie. In der kapitalistischen Logik der ständigen Erneuerung werden Dinosaurier so oft reanimiert, wie sich der Verkauf des Spektakels lohnt. Das aktuelle Revival scheint dabei jedoch einen rein retrospektiven Charakter zu haben. So wirbt die aktuelle Wiederveröffentlichung von Jurassic Park in 3D (USA 2013) mit dem Slogan: Remember, Return, Relive. W. J. T. Mitchell vermutete bereits Ende 1990er Jahre angesichts der damaligen Dinomanie: »The more the dinosaur proliferates, the more it is diminuished in stature, pacified and
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domesticated, and the less interesting its extinction becomes« (Mitchell 1998: 25). Dinosaurier sind heute nicht so mehr unbedingt deshalb interessant, weil sie einst ausgestorben sind, sondern weil sie einst im Kino wiederbelebt worden sind. Die im Film zelebrierte Nostalgie für den gescheiterten Traum vom Themenpark Jurassic Park, wird nun in den Kinosaal transportiert und verwandelt sich in eine Nostalgie für das 1990er Kinoerlebnis Jurassic Park, das wir nun noch einmal enhanced wiedererleben dürfen. Im Gegensatz zu den Animationstechniken wird die 3D-Technologie dabei nicht narrativ verarbeitet; sie dient lediglich der Scheinerneuerung retrospektiven Materials. Gleichzeitig ist die seit Jahren angekündigte und immer wieder verschobene Produktion von Jurassic Park 4 soeben noch einmal auf Eis gelegt worden, mit der Begründung, die Filmemacher_innen würden mehr Zeit brauchen, um den Fans die »bestmögliche Fortsetzung« zu bieten (DPA 2013). Retrospektive Auf bereitung ist einfacher als narrative Aktualisierung, sie ist eine billige Abkürzung in die Erfahrung historischer Zeitgenossenschaft. Tatsächlich stünde jedoch gerade jetzt eine grundsätzliche Erneuerung des Dinosaurierfilms und seiner imperialen Einbettung an. Denn inzwischen hat sich nicht nur das Zentrum der Ausgrabungs- und Forschungsaktivitäten geographisch nach China verschoben. Auch das Aussehen der Tiere hat sich in den letzten Jahren massiv verändert: sie gelten nun als vogelähnlich, gleichwarm und farbenfroh gefiedert. Inwieweit utopische Mensch-Tier-Beziehungen wie die zwischen Menschen und Dinosauriern in Zukunft produktiv gemacht werden können, hängt auch davon ab, wo und in welcher Form der Fortschrittsglaube weiterlebt.
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Informationen zu den Autor_innen
Klaus Angerer studierte Kulturwissenschaft und Spanisch an der HumboldtUniversität zu Berlin. Derzeit promoviert er am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zum Thema »Trennen und Bestimmen. Die Untersuchung und Verwertung biologischer Materialien in der Naturstoffforschung«. Mit der Untersuchung von Pfeilgiftfröschen beschäftigt er sich schon seit seiner Magisterarbeit zur Erforschung und Verwertung der Biodiversität in Ecuador. Annett Dittrich, Dr., studierte Ur- und Frühzeitgeschichte sowie Archäologie und Kulturgeschichte Nordostafrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2004 ist sie freiberuflich in der Grabungsarchäologie, Denkmalpflege und Museumskonzeption tätig. 2012 promovierte sie über die Neolithisierung im Mittleren Niltal. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Domestikation und Neolithisierung, prähistorisches Mensch-Umwelt-/Mensch-Tier-Verhältnis, vormoderne Konzeptionen zu Gender, Natur/Kultur und Raum. Andrea Heubach, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt in dem Bereich Politische Theorie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seit ihrer Promotion im Fachbereich Philosophie lebt sie in Berlin, wo sie als Dozentin, Gedenkstättenpädagogin und Autorin tätig ist. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Human-Animal Studies und der Gender Studies. Ulrike Kruse, Dr., studierte Germanistik, Neuere Geschichte und Allgemeine/ Vergleichende Literaturwissenschaft in Potsdam. Ihre Promotion erfolgte am GRK Interdisziplinäre Umweltgeschichte in Göttingen. Sie veröffentlichte u.a.: »Der Natur-Diskurs in Hausväterliteratur und volksaufklärerischen Schriften« (Bremen 2013), »Das Baumwolltier und andere Chimären« (ZS f. Fantastikforschung 2/2011: 35-54).
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Christof Mackinger ist Aktivist und Politikwissenschaftler. Er ist Mitherausgeber des Bandes »§278a: Gemeint sind wir alle! Der Prozess gegen die Tierbefreiungs-Bewegung und seine Hintergründe« (Mandelbaum Verlag, 2011) und Autor journalistischer Artikel zu Repression, politischen Gefangenen und Rechtsextremismus im Black Metal. Mona Mönnig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Kunst- und Designwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bildwissenschaften und der Human-Animal Studies. Derzeit arbeitet Sie an ihrem Dissertationsprojekt »Auf der Suche nach dem konkreten Tier in der zeitgenössischen Kunst. Zur Bedeutung der Bildwissenschaften für die anthropologische Differenz«. Klaus Petrus, PD Dr. Phil., ist Philosoph an der Universität Bern mit Schwerpunkten in Sprachphilosophie und Human-Animal Studies. Er ist einer der Macher der Webseite tier-im-fokus.ch und publiziert dort zur Nutztierhaltung. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören unter anderen Tierrechtsbewegung (Unrast Verlag, 2013), Animal Minds & Animal Ethics (mit Markus Wild, transcript Verlag, 2013) und Lexikon der Mensch/Tier-Beziehung (mit Arianna Ferrari, erscheint 2014 im transcript Verlag). Aiyana Rosen studierte Politikwissenschaften, Philosophie und Neuere Geschichte. Sie ist Mitbegründerin des Chimaira Arbeitskreises und Mitglied im Nachwuchsforscher_innennetzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS). Zurzeit lebt sie in Berlin, ist freiberuflich tätig und arbeitet an ihrem Promotionsprojekt, das im Forschungsfeld der Human-Animal Studies angesiedelt ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Bewegungen, Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse. Ramona Sickert, Dr. phil., ist Maria-Reiche-Stipendiatin der TU Dresden und arbeitet dort als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte religiöser Orden im Mittelalter und die Wahrnehmungsgeschichte. Derzeit entwirft sie ein Forschungsprojekt zur Tiersymbolik in der christlich-jüdischen Wahrnehmung im Mittelalter. Jessica Ullrich, Dr. phil., absolvierte ein Studium der Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Germanistik in Frankfurt/Main sowie des Kultur- und Medienmanagements in Berlin. Sie ist Kuratorin von Ausstellungen zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Von ihr sind bereits diverse Veröffentlichungen im Bereich der Gegenwartskunst und der Animal Studies erschienen. Sie ist Gründungsmitglied und Repräsentantin von Minding Animals Germany und Herausgeberin von Tierstudien, Neofelis Verlag, Berlin.
Informationen zu den Autor_innen
Sven Wirth studierte Soziologie, Philosophie und Gender Studies in Hamburg und Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kritik der Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse, feministische Wissenschaftskritik und poststrukturalistische politische Philosophie. Er ist Mitbegründer des Chimaira Arbeitskreises und seit 1995 in der Tierbefreiungsbewegung aktiv. Stephan Zandt studierte Europäische Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie und Vergleichende Religionswissenschaft in Marburg sowie Kulturwissenschaft in Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des SFB 644 »Transformationen der Antike«. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Human-Animal Studies, Kulturgeschichte der Ökologie und Ethologie, Anthropologie sowie die Geschichte der Natur-Kultur-Grenze. Anna Zett ist Autorin und Filmemacherin und lebt in Berlin. Im Zentrum ihrer Arbeiten zu und mit Filmtieren steht die Auseinandersetzung mit der Ideologie des Fortschritts und der Utopie der Neuen Welt. Unter dem Titel »Monster der Moderne« untersuchte ihre Magisterarbeit (Humboldt-Universität 2012) die Animation von Dinosauriern im US-amerikanischen Kino.
Kontakt www.chimaira-ak.org E-Mail: [email protected] Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies Postfach 44 03 42 12003 Berlin Dieser Sammelband wurde herausgegeben von folgenden Mitgliedern des Chimaira Arbeitskreises: Swetlana Hildebrandt, Anne Hölck, Helen Keller, Markus Kurth, Anett Laue, Sarah Lentz, Aiyana Rosen, Sven Wirth und Stephan Zandt.
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Human-Animal Studies Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch/Tier-Beziehungen Juli 2014, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2232-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de