Der Widerspenstigen Zähmung?: Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film [1. Aufl.] 9783839404010

In dieser Studie werden die Geschichte, Ökonomie und vor allem Politik des amerikanischen Independent-Films in seiner Be

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German Pages 400 [399] Year 2015

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INHALT
1 Einleitung
2 Stand der Forschung
3 Desperatelyseeking a definition
3.1 Die Unabhängigkeit von Studiofinanzierung, -produktion und -verleih
3.2 Budgethöhe
3.3 Textuelle Kriterien, >persönlicher Stil< und >kreative UnabhängigkeitMainstreamisierung< und >Institutionalisierung< des amerikanischen Independent-Films in den 1990ern
5.3 Das ökonomische Potenzial des Independent-Films
5.4 Die Zuschauer von Independent-Filmen
6 Cultural Studies und ideologiekritische Diskursanalyse - Theoretische Grundlagen und methodische Überlegungen zur Analyse der Politik filmischer Repräsentationen
6.1 Politik der Repräsentation (politics o/representation)l Identität und Differenz
6.2 Poststrukturalistische Repräsentationskritik Die Instabilität von Sprache, Bedeutungen und Zeichen oder das Problem der differance
6.3 Kritik am Poststrukturalismus/Schließungen dekonstruktivistischer Textverfahren/Zur Frage der Polysemie
6.4 Diskurs und Ideologie
6.5 Realistische vs. diskursive Lesart medialer Charaktere
6.6 Ideologiekritische Diskursanalyse als kritisches Verfahren und die methodische Umsetzung im Rahmen der Fallstudien
6.7 Positive/negative Image-Debatte
6.8 >Grenzen< der Diskursanalyse und Repräsentationskritik
7 Makroperspektive: Politik und Ideologie im gegenwärtigen US-lndependent-Film
7.1 Politik und Ideologie im Mainstream-Film New Hollywoods
7.2 Identitätspolitik, Independent-Film und die >Fixierung< von Differenz
7.3 Black independent voices: Blaxploitation, L.A. School, New Black Cinema
7.4 Asian American Independent-Film
7.5 Independent Women (Counter-) Cinema
7.6 New Queer Cinema
7.7 Identitätspolitik und die Grenzen des Zeigbaren: Gegenwärtige Beschränkungen des Independent-Films in der Darstellung von marginalisierten Gruppen: Fixierung von Differenz
7.8 Zensur und >Status der Unabhängigkeit
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Der Widerspenstigen Zähmung?: Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film [1. Aufl.]
 9783839404010

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Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung?

Andreas Jahn-Sudmann (Dr. disc. p ol.) ist Medienwissen schaftler an

der Universität Göttingen.

ÄNDREAS JAHN - 5UDMANN

Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-ameri ka ni sehen Independent-Film

[transcript]

Die vorliegende Studie wurde als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. disc. pol.) an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

©

2006

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ralf Stockmann, Göttingen, 2005 Lektorat & Satz: Andreas Jahn-Sudmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH. Wetzlar ISBN 3-89942-401-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www. transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT 1 Einleitung

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2 Stand der Forschung

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3 Desperatelyseeking a definition 3.1 Die Unabhängigkeit von Studiofinanzierung, -produktion und -verleih 3.2 Budgethöhe 3.3 Textuelle Kriterien, >persönlicher Stil< und >kreative Unabhängigkeit< 3.4 Der Independent-Film: Notwendige Differenz? Zur Logik eines Begriffs 3.5 Independent-Film, Avantgarde, Underground und die Konnotation des Oppositionellen

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4 Geschichte des Independent-Films: Industrie und textuelle Praxis 41 4.1 Hollywood und Independent-Film: Anfänge 41 4.2 B-Movies 44 4.3 Independent-Film und MinoritätenUnabhängige außerhalb des Studiosystems 46 4.4 Dieamerikanische Avantgarde in den 1940em 49 4.5 Von der Massenproduktion zum package-unit system: zum Aufstieg der unabhängigen Produktionsweise nach der Studioära 49 4.6 Die Herausbildung des art house-Markts in der 52 Nachkriegsperiode 4. 7 Roger Corman/ American International Pictures (AlP) 54 4.8 John Cassavetes 55 4.9 Counterculture Cinema/New American Cinema/ Underground Cinema: Die 1960er Jahre 56 4.10 New Hollywood, Independent-Film und die 1970er Jahre 58 70 4. 11 Hollywood und Independent-Film in den 1980em 5 Independent-Film und Hollywood heute: Industrie und textuelle Praxis 5.1 Contemporary New Hollywood: Blockbusters, Event-Movies und Corporate Hollywood 5.2 Boom, >Mainstreamisierung< und >Institutionalisierung< des amerikanischen Independent-Films in den 1990ern

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5.3 5.4

Das ökonomische Potenzial des Independent-Films Die Zuschauer von Independent-Filmen

6 Cultural Studies und ideologiekritische Diskursanalyse Theoretische Grundlagen und methodische Überlegungen zur Analyse der Politik filmischer Repräsentationen 6.1 Politik der Repräsentation (politics o/representation)l Identität und Differenz 6.2 Poststrukturalistische Repräsentationskritik Die Instabilität von Sprache, Bedeutungen und Zeichen oder das Problem der differance 6.3 Kritik am Poststrukturalismus/Schließungen dekonstruktivistischer Textverfahren/Zur Frage der Polysemie 6.4 Diskurs und Ideologie 6.5 Realistische vs. diskursive Lesart medialer Charaktere 6.6 Ideologiekritische Diskursanalyse als kritisches Verfahren und die methodische Umsetzung im Rahmen der Fallstudien 6.7 Positive/negative Image-Debatte 6.8 >Grenzen< der Diskursanalyse und Repräsentationskritik 7 Makroperspektive: Politik und Ideologie im gegenwärtigen US-lndependent-Film 7.1 Politik und Ideologie im Mainstream-Film New Hollywoods 7.2 Identitätspolitik, Independent-Film und die >FixierungStatus der Unabhängigkeit< 7.9 Die Politik einer alternativen Filmpraxis 7 .l 0 Zur Politik der Bilder Quentin Tarantinos 8 Mikroperspektive: Ideologiekritische Diskursanalyse exemplarischer Independent-Filme 8.1 Heartland of Darkness- Fernale Masculinity, White Trash und die Strategien der Repräsentation in BOYS DoN'T CRY (USA 1999, R.: Kimberly Peirce) 8.2 The WATERMELON WüMAN- Identität und Geschichte als Erfindung (USA 1996, R.: Cheryl Dunye)

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HAPPTNESS -family sitcomfrom hell (USA 1998, R.: Todd Solondz) 250 »Happiness Is to Help Each Other« - >Queering the neighborhoodinstitutionelle< Unabhängigkeit? Wovon ist der Independent-Film unabhängig? Vom Mainstream-Film? Von Hollywood? Von einem Studio bzw. vom Studiosystem? Von den so genannten Majors? Dies verweist auf weitere nicht ganz einfach zu beantwortende Fragen: Was bedeutet eigentlich Mainstream? Was Studios und Majors sind, ist dagegen schon ein wenig leichter zu beantworten. Der Begriff Studio hat vor allem drei Bedeutungsebenen, die sich ungefähr so skizzieren lassen: 1. Produktionseinrichtungen, in denen Filme hergestellt werden. 2. Ein Unternehmen, das Filme herstellt (Produktionsfirma). 3. Ein Unternehmen, das Filme vertreibt (Verleih). Als Majors werden die >großen< HollywoodStudios bezeichnet, die gegenwärtig wie schon zur Zeit der klassischen Studioära Filme zum Großteil sowohl herstellen, vertreiben als auch im Kinomarkt aktiv sind. Die meisten Namen der Major-Studios wie Warner Bros, 20th Century Fox oder Paramount aus der klassischen Hollywood-Ära sind erhalten geblieben und schmücken bis heute die Vorspänne der Blockbuster. Die Majors und ihre Filme repräsentieren gemeinhin nicht nur Hollywood, mit ihnen assoziiert man auch üblicherweise den Mainstream-Film; wie man umgekehrt den Mainstream-Film gemeinhin wiederum mit Hollywood assoziiert. Wie lässt sich jedoch das Konzept »Mainstream« fassen? Letztlich handelt es sich dabei um eine dominante Form des Kinos bzw. Films, hinsichtlich der Art und Weise wie Filme ökonomisch hergestellt, sowie textuell-ästhetisch, narrativ organisiert und ideologisch >verfasst< sind. Der Begriff »Mainstream-Film« ist allerdings nicht auf Hollywood beschränkt. Jedes Land hat sein dominantes Kino, das mitunter Hollywood ähneln mag, ebenso wie ein in jeweils besonderer Hinsicht gegenüber der dominanten Filmpraxis subordiniertes, unabhängiges Kino. Die konkrete Bestimmung des Mainstreams/des Independent-Films kann letztlich nur für spezifische historische Konstellationen erfolgen. 2 Im Rahmen dieser Arbeit geht es in erster Linie um das amerikanische Independent-Kino. Handelt es sich also beim amerikanischen Independent-Film um eine subordinierte oder alternative Praxis jenseits oder abseits des dominanten Kinos (Hollywood) oder um eine kulturelle Praxis, die gleichsam parallel zu oder sogar innerhalb von Hollywood existiert? Diese entscheidende Frage durchzieht letztlich die gesamte Arbeit. Um eine erste Annäherung an das begriffliche Konzept des Independent-Films zu leisten, sollen im Folgenden einzelne Kriterien der Definition von >Unabhängigkeit< detailliert und sukzessive diskutiert werden.

3.1 Die Unabhängigkeit von Studiofinanzierung, -produktion und -verleih Wie bereits in der Einleitung erwähnt, war das traditionelle Klassifizierungsmerkmal eines Independent-Films, dass dieser außerhalb der Major-Studios 2

Dennoch gibt es immer wieder Versuche, gleichsam die prinzipiellen Eigenschaften und Strukturen des Mainstream-Films herauszuarbeiten, wie dies etwa David Bordwell, Kristin Thompson und Janet Staiger in ihrer Studie The Classical Hollywood Cinema (1985) unternommen haben .

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finanziert bzw. produziert wurde. An diesem Konzept hält auch Greg Merritt (2000: xii) fest, der unter Independent-Filmen diejenigen versteht, die vollständig autonom von allen Studios, unabhängig von deren Größe, finanziert und produziert werden und für die zudem vor Produktionsbeginn kein Verleiharrangement abgeschlossen wurde (mit der Ausnahme, dass die Firma dem Filmemacher selbst gehört). Während die Bezeichnung semi-independent auf solche Filme angewendet wird, die nicht direkt von einem MajorStudio produziert werden, jedoch im Vorfeld der Produktion bereits eine Verleihgarantie besitzen oder von >kleineren< Studios wie z.B. Fine Line Features finanziert, produziert und ggf. vertrieben werden. Das Kriterium der Studiounabhängigkeit schließt auch all jene Filme ein, die ihre Finanzierung aus >nicht-industriellen Quellen< (Spenden, persönliche Ressourcen bzw. Ersparnisse, private Investoren) erhalten haben, was allerdings auf die meisten no budget- und viele low budget-Filme zutrifft. Allerdings ist das Kriterium derart umfassend, dass unzählige Filme als Independent-Filme zu gelten hätten, obwohl man sie auf der Basis anderer Kriterien entsprechend nicht als unabhängig einstufen würde (vgl. Pribram, E. D. 2002: 8). Seit die major-indies wie Miramax oder New Line teilweise oder vollständig in den Besitz der großen Studios übergegangen sind (die Walt Disney Company kaufte Miramax 1993, Turner Broadcasting übernahm 1994 New Line Cinema und ist seit 1996 im Besitz von Time Warner, vgl. Kap. 5), ist deren Bezeichnung als Independents ausgesprochen fraglich, da sämtliche von ihnen produzierten Filme oder diejenigen, an deren Finanzierung sie beteiligt sind, damit unzweifelhaft als Studiofinanzierung einzustufen sind, weswegen Merritt sie als »semi-independent« bezeichnet. Zudem ist es ausgesprochen zweifelhaft, ob man tatsächlich gegenwärtig noch von einer Independent-Firma sprechen kann, wenn etwa New Line Cinema dank finanziellen back ups durch den Mutterkonzern, wie im Fall THE LORD OF THE RlNGS (2001, 2002, 2003; R.: Peter Jackson), eine Trilogie im dreisteiligen Millionenbereich produziert. Trotzdem werden Miramax und New Line als Independent-Firmen im Sinne von major-independents gehandelt. Die gleiche zumindest >formale< Abhängigkeit von Miramax und New Line Cinema, die im Hinblick auf die Produktion von Filmen besteht, gilt auch hinsichtlich des Verleihs. Die Distributionssphäre ist letztlich, nicht nur in Hollywood, die entscheidende Sphäre kultureller Produktion, denn in ihr wird wesentlich reguliert, welche Filme überhaupt zu sehen sind. Die Verleihfirmen sind also zweifellos die gatekeepers des Filmgeschäfts. In institutioneller Hinsicht lassen sich in Anlehnung an Martin Date (1997: 58) im gegenwärtigen Hollywood folgende Kategorien unabhängiger Distributionsfirmen unterscheiden: • mini-majors bzw. major-independents: Dazu zählen Verleihfirmen, die von Majors aufgekauft oder in Major-Studios integriet1 wurden, wie z.B. Miramax oder New Line Cinema. • classic-, art house-, specialty.film-Abteilungen bzw. Tochtergesellschaften der Major-Studios, wie z.B. Fox Searchlight, Paramount Classics oder Screen Gems. 3

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Hierzu zählt z.B. auch Sony Picture Classics, eine lndie-Firma, die zwar nicht im Besitz des Sony Konzerns ist, aber mit Sony (dem u.a. die Filmunternehmen TriStar und Columbia gehören) über ein »Unique financing arrangement" verbunden ist (Goodell, G. 1998: 348).

30 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? • macro-indies: Diesen Begriff hat Dominik Tschütscher (2004: 18) in Anlehnung an Dale ( 1997) eingeführt, um größere Distributionsfirmen wie z.B. Lions Gate Releasing oder Newmarket Films4 zu bezeichnen, die weder eine independent oder classics division der Majors sind, noch von einem Major unterstützt werden. • micro-indies: Hierzu zählen alle kleineren Firmen, die sich den restlichen Markt aufteilen, wie z.B. Arrow Entertainment, Roxie Releasing, Lot 47, Zeitgeist, Northern Arts Entertainment, First Look Pictures, Strand Releasing, First Run Features oder New Y orker Films. Einige IndependentFirmen, die international bekannte Filme herausgebracht haben, können als Sitz ihrer Firma beispielsweise lediglich eine Garage in Las Vegas vorweisen, so etwa Greycat Films (vgl. Goodell, G. 1998: 347). Viele der micro-indies veröffentlichen mitunter nur ein bis zwei Filme pro Jahr in den Kinos, sei es in den USA oder international. Vor dem Hintergrund, dass viele Independent-Firmen entweder durch Übernahmen oder Fusionen ihre institutionelle Unabhängigkeit >verloren< haben, sowie mit Blick auf die Gründung von Indie-Abteilungen seitens der Majors, haben sich auch bedeutende Institutionen von der traditionellen Definition losgesagt, so die zunehmend wichtigen Independent Spirit Awards. Deren gegenwärtige Geschäftsführeein Dawn Hudson erklärt: When we first started in 1986, [ ... ) independent film was defined strictly by source of funding. We thought it was the best way to honor anti-establishment, on the margin, alternative filmmaking. But even back then that definition was a luxury. By 1994, we figured out that if we didn't expand on it, we were going to end up being the funding police of the industry. (Hudson, D. zit. in Kotter, St. 2004: online)

Trotzdem ist das Kriterium der unabhängigen Produktion, Finanzierung und des Vertriebs nach wie vor ein sehr wichtiges, gerade wenn es darum geht, die Beziehung zwischen einer textuellen Praxis und einer spezifischen Produktionsweise darzustellen. Entsprechend sind die begrifflichen Konzepte sowohl von Dale als auch Merritt hilfreich und finden in dieser Arbeit folglich auch Anwendung.

3. 2 Budgethöhe Ein weiteres zentrales Kriterium, gemäß dessen Independent-Filme identifiziert werden, ist die Höhe der Produktionskosten. Independent-Filme werden gemeinhin als Filme aufgefasst, die nur über ein geringes oder auch keinerlei Budget verfügen. Beträgt das Budget eine Million US-$ oder weniger, spricht man in der Praxis von »low budget«-Filmen, während die »no budget«Kategorie meistens solchen Filmen vorbehalten bleibt, deren Finanzmittel 100.000 US-Dollar oder weniger betragen (SHADOWS 1959, R.: John Cassavetes: 40.000 US-$; CLERKS 1994, R.: Kevin Smith: 27.000 US-$; BLATR

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Letztere haben mittlerweile auch schon wieder fusioniert (vgl. Diorio, C. 2003: online)

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WITCH PROJECT 1999, R.: Daniel Myrick/Eduardo Sanchez: 35.000 US-$; EL MARIACH! 1991, R.: Robert Rodriguez: 7000 US-$). 5 Demgegenüber können die Herstellungskosten von Filmproduktionen vor allem der major-independents deutlich die 10 bzw. 20 Millionen-Grenze überschreiten, z.B. bei THE ENGLISH PATIENT 26 Mio. US-$ (Miramax/1996, R.: Anthony Minghella), JACKTE BROWN (Miramaxll997, R.: Quentin Tarantino) 12 Mio. US-$, THE CTDER HOUSE RULES (Miramax/1999, R.: Lasse Hallström) 24 Mio. US-$, JASON X (New Line Cinema/2001, R.: James lsaac) 14 Mio. US-$, ABOUT SCHMIDT (New Line Cinema/2002, R.: A1exander Payne) mit einem Etat von 30 Mio. US-$ oder gar THE LORD OF THE RINGS- THE FELLOWSHIP OFTHERING (New Line Cinema/2001, R.: Peter Jackson) mit einem veritablen Blockbuster-Budget von 109 Mio. US-$. Wie in Kapitel4 aufgezeigt wird, gab es allerdings in der Geschichte des amerikanischen Films stets - teilweise oder vollständig - unabhängig finanzierte, produzierte und distribuierte Filme, die hinsichtlich der Höhe ihres Produktionsbudgets mit Mainstream-Studiofilmen vergleichbar waren.

3. 3 Textuelle Kriterien, •persönlicher Stil< und •kreative Unabhängigkeit< Die textuellen Eigenschaften, die herangezogen werden, um einen Independent-Film zu klassifizieren, lassen sich z.B. im Hinblick auf das Thema, Ästhetik, Narration oder die Repräsentationspolitik noch einmal analytisch unterscheiden. Ästhetische und narrative Experimente und avantgardistische Strategien der Filmproduktion, vor allem in Abgrenzung zu den Prinzipien und der Erzählweise des klassischen Hollywood-Kinos zählen traditionell zu den entscheidenden Charakteristika des Independent-Films, dies gilt insbesondere für die Avantgarde-, Experimental- und Underground-Filmtradition (vgl. Pribram, E.D. 2002: 42ff.). Als ein weiteres Charakteristikum des Independent-Films wird häufig benannt, dass Independent-Filmemacher in ihren Filmen (bzw. in ihrem Gesamtwerk) in besonderer Weise einen individuellen Stil erkennen lassen oder eine >persönliche Vision< umsetzen. Dieser individuelle Stil wird in erster Linie dem Filmemacher als dem entscheidenden Autor und Schöpfer des Films zugerechnet. Dabei handelt es sich um eine Auffassung, die in der Traditionslinie der so genanntenpolitique des auteurs steht, die insbesondere 1954 vom damaligen Filmkritiker Franvois Truffaut in seinem Artikel »Une certaine tendance du cinema francais« in der Cahiers du Cinema formuliert und später in den USA vor allem durch den Filmkritiker Andrew Sarris 1962 in einem Essay in der Filmzeitschrift Film Culture eingeführt und vertreten wurde, nachdem die Mitarbeiter der Cahiers du Cinema wie Truffaut, Claude Chabrol oder Jean-Luc Godard gleichsam als Kernmannschaft der Nouvelle Vague Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre längst ihre ersten Spielfilme realisiert hatten. Die Filme der Nouvelle Vague (wie überhaupt der europäische Film der damaligen Zeit) und die mit ihr assoziierte Autoren5

Gregory Goodell arbeitet mit einem anderen Budgetklassifikationssystem. Nach seiner Differenzierung umfassen low budget-Filme den Budgetbereich von ein paar Tausend US-$ bis zwei Millionen US-$ und medium budget-Filme von zwei bis zehn Millionen (vgl. Goodell, G. 1998: xxvii).

32 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? theoriehaben in den USA vor allem die so genannten Movie Brats bzw. die Film School Generation (u.a. Martin Scorsese, Fraucis Ford Coppola, William Friedkin) beeinflusst. Der damals jungen Generation von Filmemachern wird häufig zugeschrieben, Ende der l960er, Anfang der l970er ein New Hollywood hervorgebracht zu haben, indem sie die Erzählweise und ästhetischen Strategien des Hollywood-Kinos erweiterten und veränderten (vgl. Kap. 4 u. Kap. 5). Das Konzept des Autorenfilms ist in der USamerikanischen Filmkultur bis heute tief verankert. Wesentlicher Bestandteil der Diskurse über das Konzept des Autorenfilms bzw. der Autorentheorie war stets das Spannungsverhältnis zwischen der in ihm zum Ausdruck kommenden Vorstellung des Films als Kunst und der Stellung und Auffassung des Films als kommerzielles (Unterhaltungs-) Unternehmen: Inwieweit die Bedingungen und Produktionsweisen des kommerziellen Films überhaupt einen individuellen Stil des Filmemachers als Schöpfer des Films zulassen, der nicht a priori durch die primäre Funktion des Films als Ware überlagert ist, stellt eine der Grundproblematiken des Films als Diskurs und kulturelle Praxis im Allgemeinen und der AutorenfilmTheorie im Besonderen dar. Allerdings spielt die Erörterung dieser Frage, vor allem außerhalb akademischer Diskurse, in den gegenwärtigen kultureBen Diskursen kaum noch eine RoHe. Es ist vielmehr zu einer Selbstverständlichkeit geworden, auch den Regisseuren des Mainstream-Films, seien es Steven Spielberg, David Fineher oder Martin Scorsese einen individuellen Stil zuzuschreiben. Eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung eines persönlichen oder individuellen Stils ist in jedem Fall ein gewisses Maß an >kreativer Autonomierelativer Autonomie< genießen und den Hollywood-Studios dann zu Konflikten, wenn man befürchtet, die Filmproduktion könne in einem finanziellen Fiasko enden, etwa weil das kalkulierte Budget eines Films signifikant überschritten wird. Selbst ein Regisseur wie George Lucas hat frühzeitig in seiner Karriere zugesehen, sich von dem Einfluss der Hollywood-Studios freizumachen und vor allem Dank des Erfolgs von STAR WARS ( 1977) sein eigenes Filmimperium aufzubauen, obgleich seine Filme ironischerweise auf geradezu emblematische Weise den Mainstream-Film verkörpern. Wie auch dieses Beispiel deutlich macht, wird die unabhängige Produktionsweise nach wie vor üblicherweise als jener Modus kultureller Produktion betrachtet, der am ehesten die Bedingung der Möglichkeit erfül1t, Filme mit einer >persönlichen< oder >künstlerischen Vision< oder >Handschrift< zu realisieren; nicht zuletzt weil die mit Independent-Produktionen verbundenen Kosten zum Teil deutlich geringer als Studioproduktionen und insofern auch das Risiko von künstlerisch oder in thematischer/gewagten Produktionen überschaubarer sind (vgl. Kap. 5, 7). Eine Gegenposition vertritt hier Alexander Payne, der unter Rückgriff auf seine persönlichen Erfahrungen mit der Paramount-Produktion ELECTION (1999) provokativ em-

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phatisch die Möglichkeiten der Majors betont, Filme mit einem >indie spirit< zu realisieren: At a meeting of non-aligned nations during the Cold War, Fidel Castro made the dry observation, , ln reality there only were two non-aligend nations: the United States and the Soviet Union.' I often recall the quote when asked about American independent cinema, for I think on one level the only true independents are Paramount, Sony, Warner Bros., Universal and the rest of the major studios. Say what you want about their imprisonment by corporate edicts and market forces; only they can make whatever they choose, and only they enjoy assured distribution. (Payne, A. 2004: online).

Zu den thematischen/inhaltlichen Besonderheiten des Independent-Films zählt traditionell, neben im Verhältnis zum Mainstream-Film eher gewagten und ungewöhnlichen Darstellungen von Sexualität (z.B. in SEX, LIES AND VIDEOTAPE 1989, R.: Steven Soderbergh; I SHOT ANDY WARHOL 1996, R.: Mary Haron) und Gewalt (THE ADDICTION 1995, R.: Abel Ferrara; GUMMO 1997, R.: Harmony Korine; HENRY: PORTRAIT OF ASERIAL KILLER 1986, R.: John Mc Naughton), eine allgemeine Tendenz zu >ernsthafteren< und >intellektuelleren< Inhalten wie z.B. in SLACKER (1991, R.: Richard Linklater) oder THE ICE STüRM (1997, R.: Ang Lee). Ebenso lässt sich eine Hinwendung zu verstörenden und obskuren Geschichten und Charakteren wie in ERASERHEAD (1977, R.: David Lynch), IN THE SOUP (1992, R.: Alexandre Rockwell), Pr (1988, R.: Darren Aronofsky), STRANGER THAN PARADISE (1983; R.: Jim Jarrnusch) oder SWTMMTNG WTTH SHARKS (1994, R.: Georg Huang) konstatieren. Independent-Filme sind des Weiteren dadurch gekennzeichnet, dass sie die Geschichten von, über und für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen (Schwule, Lesben, >ethnische< Minderheiten usf.) erzählen (u.a. DAUGHTERS OF THE DUST 1991, R.: Julie Dash; PülSON 199 1, R.: Todd Haynes; WORKlNG GiRLS (1986, R .: Lizzie Borden), die bis heute von Hollywood weitestgehend ignoriert werden. Ferner zeichnet sich eine bestimmte inhaltlich-thematische Tendenz amerikanischer Independent-Filme historisch stets dadurch aus, dass sie sich ähnlich wie die filmhistorische Tradition des Avantgarde- bzw. Underground-Films - vor allem als politisch oppositionell gegenüber dem Hollywood-Mainstream positioniert (vgl. Pribram, E.D. 2002: 9) bzw. allgemein den dominanten soziokulturellen Status Quo herausfordert. In den l 980er und 1990er Jahren ist diese Entwicklung eng verbunden mit den so genannten identity politics: f eminist cinema, gay/lesbian/queer cinema, Asian American Cinema, African American cinema oder Latino/Latina Cinema. Filme, die in inhaltlich-politischer Hinsicht die hegemoniale Kultur herausfordern und hinterfragen, unterlaufen nicht zwingend die dominanten ästhetischen und narrativen Modi kultureller Produktion und vice versa. Der amerikanische Independent-Filmemacher John Sayles ist dafür ein gutes Beispiel. Seine Filme sind in Hinblick auf Narration und Ästhetik durchaus konventionell, inhaltlich-thematisch liefern seine Filme aber durchaus alternativ-kritische Visionen der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft (s. Kap. 7). Andererseits gibt es natürlich auch Filmemacher wie Quentin Tarantino, die weithin für ihre ästhetisch-narrativen Experimente gefeiert werden, die in ihrer Repräsentationspolitik allerdings kaum als progressiv angesehen werden können (s. Kap. 7).

34 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? E. Deieire Pribram listet neben den hier aufgeführten Abgrenzungsdimensionen noch eine Reihe weiterer auf, wie z.B. »release pattem«, »actors«, »director's experience«, »specialiced audiences« (vgl. Pribram, E.D. 2002: Sff.), entlang derer sie typische Eigenschaften des Independent-Films herausarbeitet. Indem sie zu dem Ergebnis kommt, dass keines der Kriterien für sich genommen dazu ausreicht, eine präzise Bestimmung des Begriffs »Independent« herzuleiten, schlägt sie in der Folge ein mehr oder minder recht flexibles Definitionskonzept vor: An independent consists of some combination, even if a minimal number, of the attributes I have outlined. Fora film to be even remotely considered independent, it must exhibit at least one or two of these characteristics. lt should also be noted that these are diverse attributes, sometimes overlapping (a low budget generally ensures no name actors, sometimes competing (a foreign film could well have a Hollywood·sized budget or aesthetic approach). Further, these are not equally weighted criteria; some count more or less, in varying configurations, depending on the case and context in any given filmic instance (Pulp Fiction's aesthetic impact arguably outweighs its budget and stars). (Pribram, E.D. 2000: 10)

Die Ungenauigkeit einzelner Kriterien wird jedoch nicht allein dadurch beseitigt, dass mehrere Abgrenzungsmerkmale berücksichtigt werden, sondern derart allenfalls minimiert. Letztlich löst Pribram das Problem dadurch, dass sie es auf der Grundlage ihres Merkmalkatalogs zu einer kontextabhängigen Ermessensfrage erklärt. Je nach spezifischer Fragestellung und Methode kann ein solches offenes Begriffskonzept sinnvoll sein, um etwa zu vermeiden, bei der Entwicklung des Forschungsdesigns bestimmte Filme von vomeherein durch ein zu rigides Definitionskonzept auszuschließen. Ebenso unbestimmt belässt Pribram das Verhältnis der Kriterien zueinander. Ihr Hinweis etwa, dass einige Kriterien im Vergleich zu anderen relevanter seien, enthält kaum Erkenntnisgewinn. Es dürfte ferner diskussionswürdig sein, ob PULP FTCTION (1994, R.: Quentirr Tarantino), wie Pribram argumentiert, allein aufgrund seines bedeutenden ästhetischen Stils als Independent-Film gelten darf und dadurch andere >indie-untypische< Faktoren wie das Staraufgebot (John Travolta, Bruce Willis), das Budget (acht Millionen US-$) und das Veröffentlichungsschema (1200 Verleihkopien von Miramax/ Disney) vemachlässigenswert erscheinen lässt (vgl. Hillier, J. 2001: xv). Folgt man Pribram, würde jeder Film, der einen innovativen individuellen Stil erkennen lässt, als Independent-Film durchgehen. Was Pribram letztlich vorschlägt, ist die systematische Reduktion eines individuellen Urteils, bei gleichzeitiger Anerkennung von deren Unmöglichkeit. Vielleicht sollte man es sich angesichts solcher Definitionsprobleme einfach machen und sich schlicht an den United States Court justice Potter halten, der, obgleich er behauptete nicht zu wissen, was Obszönität sei, erklärte, »I know it when I see it« (Friedman, L. D. 1991: 14).

3. 4 Der Independent-Film: Notwendige Differenz? Zur Logik eines Begriffs Wie dargestellt, erweist sich das unablässige Bemühen um definitorische Bestimmungen des Independent-Films deshalb als so kompliziert, weil es

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sich um eine Praxis handelt, deren Eigenschaften, diskursive Formationen und Grenzen beweglich und veränderbar sind und auch sein müssen. Zumindest scheint dies der Begriff so zu erfordern. Der Independent-Film kann sich als eine prinzipiell alternative Praxis des Filmernachens eben begrifflich nur dann hinreichend legitimieren, wenn er, tatsächlich oder lediglich dem Anschein nach, eine Differenz markiert, indem er sich gegenüber anderen kinematografischen Systemen, konkret dem Hollywoodkino, in irgendeiner Hinsicht kontinuierlich abgrenzen kann. Independent-Film als Klassifikationskategorie ist daher a priori ein relationaler Begriff. Er setzt begrifflich bzw.formal das Prinzip einer Differenz notwendig voraus.6 Und es ist gerade dies, was seine Abhängigkeit konstituiert - die Abhängigkeit von dem, wovon er sich unterscheiden muss. Einen ähnlichen Gedanken hat Scott MacDonald formuliert: »The mainstream cinema (and its sibling television) is so fundamental a part of our public and private experiences, that even when filmmakers produce and exhibit alternative cinematic forms, the dominant cinema is implied by the alternatives« (1993:1). Theoretisch wäre auch eine andere semantische Logik möglich, dergestalt, dass der Independent-Film als Signifikant einer tatsächlich autonomen kulturellen Praxis fungiert, insofern er als eine solche Klassifikationskategorie sowohl Abhängigkeit als auch Unabhängigkeit einschließen könnte Differenz bzw. Unabhängigkeit als Möglichkeit und nicht als Notwendigkeit. Diese Begriffslogik würde, mit anderen Worten, auch die Option der NichtUnterscheidbarkeit des (bezeichneten) Systems (der kulturellen Praxis) implizieren. Als relationaler wie auch als praktischer Begriff gehorcht das Konzept Independent-Film im Sinne der westlichen Kultur vor allem einer binären Ordnungs- bzw. Systemlogik, insofern er als periphere, marginale, vor allem aber als alternativ-oppositionelle Praxis traditionell dem dominanten, klassischen Hollywood-Kino gegenübergestellt wurde (s. Tab. 1). In besonderer Weise taten sich in der amerikanischen Filmgeschichte hierbei die Vertreter der Avantgarde wie Maya Deren, Andy Warhol, Kenneth Anger, Jonas Mekas, Richard Kern oder Gregg Araki hervor. Die tabellarische Darstellung (Tab. I) gibt Auskunft darüber, mit welchen Attributen einerseits der Independent- und andererseits der Mainstream-Film üblicherweise belegt werden. Diese dichotomen (Selbst-)Zuschreibungen sind, explizit wie implizit, ständig wiederkehrender Bestandteil der kulturellen Artikulationen über den Independent-Film in Filmzeitschriften, Diskussionsforen, aber auch der akademisch-filmwissenschaftliehen Diskurse. Aus (post-)strukturalistischer Perspektive sind die Logik des dichotomen, schematischen Denkens und die damit verbundenen ideologisch-politischen Implikationen kritisch zu hinterfragen, auch dann, wenn sie vom vermeintlichen Standort an der Peripherie und einer marginalen hierarchischen Position aus errichtet werden. Wie die aufgelisteten Attribute in der Tabelle 1 deutlich indizieren, stehen diese nicht symmetrisch zueinander, etwa im Sinne prinzipiell gleichwertiger Alternativen, sondern unterliegen einer hierarchischen Ordnung im Sinne eines kulturellen Überlegen-/Unterlegenheitsverhältnisses. Der Independent-Film wäre dieser Logik entsprechend insofern kulturell überlegen oder wertvoller, als er im Verhältnis zum Mainstream als 6

Aus poststrukturalistischer Perspektive ist die Annahme einer solchen Logik bereits auch nur eine diskursive Konstruktion. Die hier dargestellte seman· tische Logik ist jedoch für die diskursive Verwendung des Begriffs Independent-Film als tatsächliche Bedeutungspraxis grundlegend.

36 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? wahrhaftiger, pluralistischer, provokativer, komplexer oder z.B. innovativer konstruiert wird. Diese Form der Hierarchisierung hat in Hinblick auf die aktuellen Diskurse zum gegenwärtigen amerikanischen Independent-Film eine doppelte, miteinander in Beziehung stehende Implikation. Einerseits fügt sich diese Wertigkeit durchaus in die ökonomischen Prinzipien von Produktdifferenzierung und Zuschaueradressierung ein. Andererseits wird der Independent-Film gegenwärtig so diskutiert, als ob er aufgrund der bereits genannten >Mainstreamisierung< seine >natürlichen Werte< wie Originalität, Pluralität etc. verloren habe und insbesondere durch die spezifischen Entwicklungen in den frühen 1990er Jahren nur noch als Marketing-Tao! funktioniere (vgl. Kap. 5). Tabelle 1: Binäre Oppositionen: ZuschreibungenIndependent vs. Mainstream·Film

Independent-Film

Mainstream-Film

politisch

unpolitisch

originell

konventionell

avantgardistisch

standardisiert

kommunal

Unternehmensprodukt

oppositionell

affirmativ

progressiv

konservativ

alternativ

hegemonial

Diversität

Uniformität

unreguliert

reguliert

seltsam, ungewohnt

typisch, gewohnt

Reduktion

Spektakel

Freiheit

Zensur

untergeordnet

dominant

low budget

high budget

16mm, (Digital) Video

35mm

ungeschliffen

glatt

provokativ, risikofreudig

gezähmt, harmlos

Kunst

Unterhaltung

auteur

Genre

authentisch, wahrhaftig

falsch, ideologisch

einzigartig, geistreich

gewöhnlich

Nischen-orientiert

pauschal

New York, Bundesstaaten

Los Angeles

Peripherie

Zentrum

auf Charaktere konzentriert

auf plot konzentriert

identity politics

melting-pot

DESPERATELYSEEKING ADEFINITION

I 37

3. 5 Independent-Film, Avantgarde, Underground und die Konnotation des Oppositionellen Neben der Beziehung zur populären Mainstream-Kultur ist jedoch für das Verständnis des Independent-Films auch die Beziehung zur Avantgarde relevant. Im Gegensatz zum Begriff Independent-Film gehört es zur begrifflichen Logik und zur tatsächlichen kulturellen (historischen) Praxis von solchen Konzepten wie Underground- oder Avantgarde-Kino, dass sie die mitunter fundamentale und radikale, sowohl inhaltlich-politische wie formal-ästhetische Opposition zum Kino Hollywoods suchen. P. Adams Sitney, dessen großes wissenschaftliches Projekt die Darstellung der Tradition des Films-als-Kunst in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg ist, und die Installation dieser Tradition »as the continuation of a similar one in Europe before the war« (James, D.E. 1989: 20), definiert den Begriff formalistisch: »[T]he rejection of linear narrative [ ...] is nearly the defining feature of the independent cinema« (Sitney, P.A. 1978: vii). Entscheidend bei Sitneys Ansatz ist, dass er nicht explizit zwischen IndependentFilm und Avantgarde-Film unterscheidet. Mit Blick auf das Verhältnis Hollywood und Avantgarde konstatiert Sitney, dass »the precise relationship of the avant-garde cinema to American commercial film is one of radical othemess. They operate in different realms with next to no significant intluence on each other« (Sitney, P.A. 1979: viii). David E. James kritisiert dies wie folgt: »In counterposing against commercial film as unified avant-garde from Vertov to Kubelka, Sitney elides the radical socia1 differences among the people who produce the films he refers to and the radically different cinemas they compose« (James, D.E. 1989: 21). James plädiert sicherlich zu Recht für den Blick auf die sozialen Unterschiede >innerhalb< der kulturellen Praxis dessen, was der Begriff Avantgarde (und Independent-Film) umfasst, sowie die Berücksichtigung der Unterschiede zwischen denjenigen Personen, die diese Praxis ausüben und >repräsentierenIdentität< dieser Praxis von großer Bedeutung. Die Identität des Independent-Films als Abgrenzung gegenüber dem Mainstream sollte aber keine Fixierung dessen bedeuten, worin diese Abgrenzung semantisch besteht (z.B. in der Zurückweisung eher linearer Erzählstrategien des Mainstream-Films) und welche verschiedenen Ausdrucksformen sie einschließt. Denn ein Insistieren des Independent-Films auf ein größeres und offeneres Spektrum an Möglichkeiten und Variationen kultureller Artikulation ist (oder zumindest kann) letztlich auch ein ganz zentrales Unterscheidungsmerkmal gegenüber Mainstream-Filmen (sein). Die Definition des Independent-Films durch Sitney als eine radikal andere kulturelle bzw. textuelle Praxis gegenüber der des kommerziellen Films mag zudem zwar für die avantgardistische Tradition des Independent-Films gelten. Aber weder aus historischer Perspektive noch mit Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse ist das Konzept Independent-Film mit dem Kriterium »radikale Andersheit« ausreichend erfasst. So gab es in den USA stets ein (primär) kommerziell orientiertes Independent-Kino, das mal mehr, mal weniger unabhängig von den großen

38 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Hollywood-Studios operierte und dabei natürlich auch das Mainstream-Kino imitierte bzw. sich daran orientierte. Wobei innerhalb des kommerziell orientierten Independent-Kinos im besonderen Maße die Orientierung, Marktnischen zu bedienen, von Bedeutung war. Man denke nur an die Tradition der Roger Corman-Filme, die sich vor allem über provokative Sujets von Hollywood abzugrenzen suchten und kommerziell davon profitieren wollten (vgl. Kap. 7). Worauf es hier jedoch ankommt, ist, dass insbesondere in textueller Hinsicht der Independent-Film über eine dezidiert avantgardistisch orientierte Filmpraxis hinaus, vor allem für eine Filmpraxis steht, die prinzipiell eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Erzählkino wahrt. Avantgarde und Mainstream markieren die Pole, zwischen denen sich der Independent-Film als hybride Form in historisch unterschiedlichen und gemäß spezifischen Konstellationen hin und her bewegt (vgl. Pribram, E.D. 2002). Dennoch ist es vor allem die Beziehung des Independent-Kinos zum Hollywood-Kino, die im Rahmen dieser Arbeit primär in den Blick genommen wird, weil sich einerseits das gleichsam ideelle Konzept des Independent-Films im Wesentlichen aus der Abgrenzung gegenüber dem Mainstream speist und das Avantgarde-Kino andererseits auch unter »unabhängiges Kino« subsumiert wird. Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass das genannte Konzept des Independent-Films als hybride Form zwischen Mainstream- und AvantgardeFilm implizit mit der Vorstellung von Letzterem als homogene und >autonome< Einheiten operiert, was den tatsächlichen kulturellen Praktiken, die diese Begriffe bezeichnen, nicht gerecht wird. Die epistemologische Crux wird dabei vor allem durch den Begriff der Hybridität selbst ausgelöst, der als Vermischung diverser >Zutaten< eine falsche Vorstellung von vorgängigen Essenzen suggeriert oder zumindest suggerieren kann. Hybridität muss daher eher als ein heuristischer Begriff, denn als ein strenges analytisches Konzept gesehen werden. Auf der Basis der bisherigen Ausfuhrungen möchte ich prinzipiell ein eher offenes Begriffskonzept des Independent-Films verwenden, das seinen unterschiedlichen und vielfältigen Artikulationen entsprechend Rechnung trägt, sowohl auf der Ebene dessen, was sie bezeichnen als auch hinsichtlich dessen, was bezeichnet wird. Entscheidend für die Berücksichtigung im Rahmen dieser Untersuchung als Independent-Film ist gleichsam deren diskursive Existenz oder Bezeichnung als »Independent-Film« und nicht allein das Vorhandensein bestimmter (textueller, institutioneller, etc.) Eigenschaften oder Merkmale, die eine Berücksichtigung hier rechtfertigen würden, wenngleich die Definition auf industrieller/institutioneller Basis aus den genannten Gründen weiterhin sinnvoll ist. Diese >Devise< gilt auch für die Auswahl der hier verwendeten Fallstudien, deren diskursiver Status als Independent-Film jeweils unterschiedlich evident sein dürfte, mithin hinsichtlich bestimmter Kriterien (Budget, Studioverbundenheit) sogar zu negieren wäre. Was die gegenwärtigen Verhältnisse betrifft, so argumentieren viele Filmwissenschaftler, Kritiker, Filmschaffende und Fans, dass der Independent-Film sich mittlerweile längst vom Avantgardistischen/Oppositionellen so weit in Richtung Mainstream bewegt hat, dass er im Prinzip nicht nur als unterscheidbarer, alternativer mode ofp roduction, sondern auch als textuelle Praxis beinahe oder gänzlich aufgehört hat zu existieren. Robert Redford, der sich als >Gründer< des Sundance Film Festivals intensiv für den amerikanischen Independent-Film engagiert hat, ist einer derjenigen, die diese

DESPERATELYSEEKING ADEFINITION

I 39

Entwicklung ausdrücklich begrüßen und die Trennung zwischen Studio- und Independent-Filmen überwinden möchten, damit - wie er provokativ formuliert- »there won't be a distinction between types of movies, just a broader menu. I think the reason independent film got categorized in the first place was because by and !arge, it wasn't very good« (Robert Redford zit. in Kim, W. 1997: 85). Die Frage ist jedoch, ob die oft verkündete Bewegung der >Mainstreamisierung< des Independent-Films, einerseits als textuelle Praxis, andererseits als Produktionsweise, tatsächlich diagnostizierbar ist. Waren mit anderen Worten Independent-Film und Mainstream zwar in historischer Sicht einmal diskrete kulturelle Praktiken, sind es gegenwärtig jedoch nicht mehr? Ist der Independent-Film als hybride Konstruktion einer kulturellen Praxis, die nicht vollständig als reale Praxis fixiert werden kann, nun auch gleichsam symbolisch als >einheitliche Praxis< nicht mehr haltbar?

4

GESCHICHTE DES INDEPENDENT- fl LMS: INDUSTRIE UND TEXTUELLE PRAXIS

4.1 Hollywood und Independent-Film: Anfänge Ob der Independent-Film nun gegenwärtig noch berechtigterweise als alternatives System betrachtet werden kann oder nicht, es gilt in jedem Fall daran zu erinnern, dass Hollywood ursprünglich selbst mit einer Abkehr vom dominanten Filmsystem assoziiert wurde. Als 1908 führende Filmproduzenten und Vertriebsfirmen der Ostküste mit der Gründung der Motion Pielure Patents Company (MPPC) 1 einen ersten Versuch zur Errichtung eines Monopols unternahmen, war Hollywood Zielort einer Migrationswelle von Independent-Firmen, die zwischen 1908 und 1913 dorthin zogen, um unabhängig vom Kartell der MPPC in New York ihr Filmgeschäft zu betreiben. Hollywood war ein geografisch gut gewählter Standort. Aufgrund des stabilen Klimas, des Sonnenscheins und der abwechslungsreichen Landschaft bot es hervorragende Drehbedingungen. Darüber hinaus waren die Grundstückspreise für die Errichtung von Studios günstig und die Löhne deutlich niedriger, denn Los Angeles war damals eine Stadt ohne Gewerkschaften. 2 Zu denjenigen, die nach Hollywood gingen, gehörten Schlüsselfiguren des späteren Studiosystems wie William Fox (Fox Film Corporation) oder Carl Laemmle (später chief executive von Universal Pictures) (vgl. Gomery, D. 1998a: 43; Ferncase, R. 1996: 3). Die bis dahin >Unabhängigen< sollten sehr bald das Zentrum der Filmindustrie verkörpern, die Macht des Edison-Trusts brechen und im Verlauf der 191 Oer und 1920er Jahre im Sinne einer vertikalen Integration von Filmproduktion, Distribution und Ausstellung ein eigenes oligopolistisches System bilden: das so genannte Studiosystem. Der Begriff »vertikale Integration« bezieht sich auf die Struktur eines Marktplatzes, der in unterschied-

2

Die MPPC war eine Vereinigung von zehn amerikanischen und europäischen Filmproduzenten und Filmtechnikherstellern (u.a. Edison, Biograph und die Vitagraph Company), die auch »The Trust« oder »Edison-Trust« genannt wurde. Sie hatte u.a. das Monopol, Filmtechnologie an Produzenten und Projek· toren an Kinobetriebe zu lizenzieren, und war für die Lizenzen ausländischer Firmen zuständig. Neben der Sicherung des inländischen Monopols zielte das Kartell darauf, ausländische Filmimporte, die in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts noch eine Vormachtstellung inne hatten, zurück zu drängen, indem nur wenige ausländische Produzenten eine Lizenz erhielten (vgl. Miller, T. et al. 2003: 24, vgl. auch Gomery, D. 1998a: 43). Häufiger wird angeführt, die Unabhängigen hätten sich auch deshalb für den Standort Hollywood entschieden, um während des Patentkrieges mit ihrer unlizensierten Filmausrüstung notfalls vor Überfällen von ,Spionen' des Trusts über die Grenze nach Mexiko fliehen zu können. Diese >Theorie< erscheint jedoch insofern höchst zweifelhaft, als die Fahrt bis zur Grenze 5 Stunden erforderte und außerdem ein Mitglied des Trusts, Selig, bereits seit 1907 in Los Angeles präsent war (lzod, J. 1988: 31).

42 I

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

licher Hinsicht eher integriert als getrennt ist. Was die Filmindustrie betrifft, stellte das Studiosystem einen Markt dar, in dem die Studios jede Ebene des Marktplatzes von oben nach unten, von der Produktion bis zur Vorführung, kontrollierten (vgl. Belton, J. 1994: 64). Nach Douglas Gomery ist es entscheidend für das Verständnis des Studiosystems, dass nur acht große Firmen die drei zentralen Sphären der Filmindustrie (Filmproduktion, Verleih und den Kinomarkt) dominierten (Gomery, D. 1986: 6). Zu diesen Major-Firmen gehörten um 1929 die so genannten >Big Five< - Paramount Pictures (1914), Loew's Inc. als Muttergesellschaft der berühmten Metro-Goldwyn-Mayer, Fox Film Corporation (gegründet 1915; später 20th Century Fox 1935), Warner Bros. (gegründet 1923 bzw. 1917 zunächst nur Vertrieb) und RadioKeith-Orpheum, RKO (gegründet 1928). Jede dieser Firmen besaß in Südkalifornien gewaltige Produktionseinrichtungen (Studios), ein weltweites Vertriebsnetzwerk und eine große Kinokette. Daneben gab es die so genannten »Little Three« oder kleineren Firmen, Universal (gegründet 1912) und Columbia (gegründet 1922), die sich auf den Bereich der Produktion und Distribution konzentrierten, und schließlich United Artists, 1919 von Charlie Chaplin, Mary Pickford, D.W. Griffith und Douglas Fairbanks gegründet, die in erster Linie auf den Vertrieb von Filmen ihrer eigenen und (später) der anderer unabhängiger Produzenten (wie Walt Disney oder David 0. Selznick) ausgerichtet waren und ab 1926 eine Kinokette ( United Artists Theater Circuit) unterhielten. Während in den Anfangstagen des Kinos IndependentProduktion, -Vertrieb und -Vorführung somit die Norm darstellten, existierten seit Ende der 1910er, Anfang der 1920er Jahre, als sich das Studiosystem als dominante Struktur etablierte, alle anderen kinematografischen Ausdrucksformen in irgendeiner Beziehung zum Studiosystem (Kleinhans, Ch. 1999: 311). Wie bereits dargestellt, lassen sich historisch verschiedene Formen der unabhängigen Filmproduktion unterscheiden: Während der Studioära konnte man die Bezeichnung »independent producer« grundsätzlich sowohl auf David 0. Selznick, Samuel Goldwyn, Walter Wanger, Charles Chaplin/ United Artists als auch auf Mono gram, Maya Deren, Edgar Ulmer, Pare Lorentz oder Oscar Micheaux anwenden (Staiger, J. 1985: 317), wobei jede dieser Firmen und Personen für eine durchaus unterschiedliche Produktionspraxis steht. Janet Staiger definiert den Begriff »independent producer«, Wie er üblicherweise in Hollywood verwendet wurde: An independent production firm was a small company with no corporate relationship to a distribution firm. An independent producer might have a contract with a distributor or participate in a distribution alliance, but it neither owned nor was owned by a distributing company. The term also implied a small firm: independents produced only a few films per year. Thus, they did not commit themselves to a full-year supply of product to exhibitors (ebd.).

In diesem Sinne entstand die unabhängige Produktionsweise während der Verbreitung der multiple-reel films etwa um 1911 bis 1914. Multiple-reet filmsgab es in den USA bereits seit 1907, als Adolph Zukor den Vertrieb des Pathe-Films Drei-Rollen-Film PASSION PLAY (F 1897) übernahm. 3 Staiger

3

Während sich der Trust in der ersten Hälfte der 1910er Jahre nach der veralteten Nickelodeon-Formel noch auf die Produktion von one-reelers bzw. two·

GESCHICHTE

I 43

(1985) nennt drei wesentliche Faktoren, die zur Entstehung der unabhängigen Produktion führten: 1. Eine einzige Produktions- und Vertriebsfirma von multiple-reelers war nicht in der Lage, ein Produktionsvolumen zu erreichen, um den Jahresbedarf von ca. 100 Filmen eines Kinobeireibers ausreichend abzudecken. 2. Des Weiteren trug die Zunahme von Gehältern, Anteilrückzahlungen und die Anziehungskraft von Stars an der Kinokasse dazu bei, dass sie in der Lage waren, ihre eigenen Produktionsfirmen zu etablieren. 3. Ein weiterer Faktor war die Stärke der »Optional distribution alliances and states' -rights exchanges which expected to deal with a multitude of sources for their product« ( ebd.: 317). First National und andere namhafte Vertriebsgruppen kauften nicht nur Independent-Filme, sondern stellten auch die für die Produktion nötigen Finanzierungsmittel zur Verfügung. Zwischen 1916 und 1918 machten Schätzungen zufolge Independent-Produktionen etwa ein Drittel der Spielfilmproduktionen aus (ebd.). Einen Sonderstatus unter den Majors hatte United Artists inne, deren Gründung durch die Schauspieler und Regisseure Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks, D.W. Griffith und der Schauspielerin Mary Pickford es sich 1919 zum Ziel setzte, eine Vertriebsalternative zu etablieren und die künstlerische und ökonomische Kontrolle über ihre eigenen Filme und Profite zu behalten (vgl. Hillier, J. 2001: xiv). Und unabhängig produzierte Filme konnten erstaunliche Profite erwirtschaften. Vor allem ein Film, der 1915 seine Premiere hatte, illustriert dies nachdrücklich: BLRTH OF A NATION von David Wark Griffith - der erste »major independent film« der USA (Merritt, G. 2002: 3). Dieser Film schrieb in mehrfacher Hinsicht Filmgeschichte. Einerseits als Filmkunstwerk, das die ästhetischen und narrativen Möglichkeiten der Filmsprache revolutionierte, andererseits wegen seines Produktionshintergrunds. Der vollständig außerhalb der Studios produzierte 12-Rollen-Film umfasste eine Länge von ursprünglich drei Stunden, verschlang über 100.000 US-$ allein in der Herstellung (ohne Verleih- und Verrnarktungskosten) und spielte während seiner ersten Laufzeit über 60 Millionen US-$ ein. BTRTH OF A NATION schrieb zudem Filmgeschichte, weil es ein zutiefst rassistischer Film ist, der den Ku Klux Klan heroisiert und Afroamerikaner als minderwe1tig, animalisch und triebhaft darstellt (vgl. u.a. Dyer, R. 1997). Entsprechend löste der Film von Beginn an Proteste aus, etwa seitens der Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colared People), aber auch von Weißen, und die Vorführung des Films wurde in einigen US-Staaten untersagt, was dem Film aber zusätzliche Publicity verschaffte. BIRTH OF A NATION erzählt am Beispielzweier Familien (der Stonemans aus dem Norden und der Camerons aus dem Süden) die Ereignisse des amerikanischen Bürgerkriegs und der darauf folgenden Rekonstruktionsperiode. Lillian Gish spieltElsie Stoneman, in die sich Ben Cameron (Henry 8. Walthall) verliebt. Elsie und Ben treffen sich erst, als der Krieg vorbei ist. Aber Elsies Vater ist ein Kongressabgeordneter der Nordstaaten und hat sich den bürgerlichen Freiheiten des Nordens verschrieben (der Gleichstellung von >Schwarzen< und >Weißenwahre Natur< der schwarzen Bevölkerung enthüllt und Ben und der Ku Klux Klan diese in die Flucht geschlagen haben, kann das Paar sich aussöhnen. BIRTH OF A NATION illustriert wie kaum ein anderer Film, wie groß das kommerzielle Potenzial von Filmen sein konnte, die außerhalb der Studios produziert wurden. Darüber hinaus gab es schon immer eine Reihe von Firmen, die keine corporate relationship mit einer Vertriebsfirma hatten, deren Produkte aber dennoch dazu bestimmt waren, von einem der Major-Studios vertrieben zu werden (vgl. Bernstein, M. 1993). Insofern sie letztlich damit sehr wohl von den Studios abhängig waren und sich die Filme kaum bedeutend von denen der Majors unterschieden, handelt es sich um »semi-independent productions« (ebd.: 49). Beispielsweise führte Samuel Goldwyn, statt chief executive eines der Major-Studios zu werden, seit 1923 sein eigenes Independent-Studio, wobei er sich auf einen geringen Output vergleichsweise kostspieliger Filme konzentrierte, die er über die Verleihfirmen United Artists und RKO veröffentlichte. Viele seiner Produktionen waren nicht nur bei den Kritikern erfolgreich und gewannen zahlreiche Oscars, sondern auch kommerzielle Erfolge. Goldwyn produzierte drei der sechs Tophits der 1930er, genauso mit THE BEST YEARS OF 0UR LTVES (1946, R.: William Wyler) den erfolgreichsten Film der 1940er (Kramer, P. 1996: 37). Janet Staiger zufolge stellte die Tradition der kommerziellen Independent-Filmproduktion in Hinblick auf die Kriterien der Arbeitsteilung, Finanzierung und der grundsätzlichen Produktionsweise keinen signifikanten Unterschied zum dominanten Studiosystem dar: Commercial independent production in the terms we have been analyzing the dominant studio mode of production seems to have organized itself in similar fashion. lts relations in its work processes were that of a hierarchy with divided Iabor; its means of production were identical; financing came from the same sorts of investors on the same grounds, with some people owning the firm and other workers being employed. Independent production's conception of quality films generally was within the classical paradigm; and its systems of consumption were commercial theatrical exhibition. (Staiger, J. 1985: 319)

4. 2 B-Movies Um während der Depressionszeit in den 1930er Jahren Zuschauer in die Kinos zu locken, wurde mit den B-Movies innerhalb des Studiosystems eine neue Form >Untergeordneten Kinos< geschaffen. Dahinter stand eine kinematografische Praxis, in der viele Kinos zwei Filme (double feature), ein Afeature4 und ein Bfeature, zusammen mit einem animierten Cartoon, einer newsreel oder einem Reisebericht zeigten. Die Herstellung der B-Movies als low budget-Produktionen hatte für die Major-Studios mehrere Vorteile. 4

1939 unterschieden die Major-Firmen nach Budget, Staraufgebot, Laufzeit etc. drei Typen von A-Features - Superspecials, die Prestige-Filme mit einem Budget von über einer Millionen US-$ und einem Topstaraufgebot, Specials mit ·populären Stars, und mit einem Budget zwischen 200.000 und 500.000 US-$, Programmers als unterste Stufe der A-Klasse-Filme mit kleineren Stars und kürzeren Filmlaufzeiten (vgl. Maltby, R. 2003: 132).

GESCHICHTE

I 45

Einerseits waren die B-Movies weitere Produkte, mit denen die Kinos beliefert werden konnten, die sich in Besitz der Studios befanden, bzw. durch sie kontrolliert wurden. Andererseits erlaubten diese Filme, grundsätzlich das Investment in Kapitalanlagen aufrecht zu erhalten und dass sowohl Personal als auch Produktionsmittel (Technik) ständig effektiv ausgelastet waren. Zugleich konnten sich kleinere Studios, darunter so genannte poverty-rowFirmen5 wie Mascot, Republic, Tiffany oder die Monogram, mit der Herstellung zum Teil sehr billig produzierter Filme auf dem Markt behaupten. Die doublefi::ature-Praxis 6 trug damit zur wirtschaftlichen Prosperität sowohl des Independent-Sektors als auch der amerikanischen Filmindustrie insgesamt bei. Nach Janet Staiger stellten beispielsweise in der Saison von 1931/32 22 Independent-Firmen 192 Spielfilme, 243 Kurzfilme und 8 Serien her (Staiger, J. 1985: 318). Unabhängige Produzenten vonB-Movies waren aber durch die marktbeherrschende Stellung der Majors aufgrund oligopolistischer Industriepraktiken (s.u.) klar in ihrer untergeordneten Stellung festgeschrieben. In den 1930er und 1940er Jahren existierten neben den B-Movies außerdem die so genannten Exploitation-pie/ures, deren Wurzeln bis in die frühesten Tage des Kinos zurückreichten und die in den 1950er Jahren im Zusammenhang grundlegender Veränderungen Hollywoods die B-Movies verdrängten (Ciark, R. 1995: 34). Der entscheidende Unterschied in der Produktion von einerseits B-Movies und andererseits Exploitation-Filmen bestand darin, dass die B-Movies, sowohl Komödien als auch Kriminaldramen, ein breites Publikum zu erreichen versuchten und dementsprechend die Darstellung >anstößiger< Inhalte nicht in Frage kam. Genau dieses Merkmal aber erfüllten die Exploitation-Filme, indem sie, zumeist in kleineren Städten und in ländlichen Gegenden in gemieteten Häusern oder Zelten, solche Inhalte auf die Leinwand brachten, die Hollywood aufgrund der Beschränkung durch den Production Code nicht zeigen konnte: Drogen, Sex und Gewalt. Wie Thomas Doherty (1995) aufzeigt, bildeten die Teenager spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die kommerziell >wichtigste< Gruppe der Kinozuschauer. Es dauerte allerdings bis Mitte der 1950er Jahre, bis die

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6

Der Begriff stammt aus den 1920er Jahren und bezeichnet ein Gebiet im Zen· trum Hollywoods, in dem verschiedene ·fly-by-night·-Produzenten angesiedelt waren bzw. zusammenkamen, um schnell billige Filme zu realisieren. Viele Poverty Row-Firmen hatten dort nur Büros - von Studios kann man also nicht sprechen. Bald wurde der Begriff abfällig auf alle kleineren Filmproduktionen appliziert, was auch damit zusammenhängt, dass viele Firmen wieder schließen mussten und natürlich über geringe finanzielle Mittel verfügten. Columbia Pictures war die einzige Poverty Row-Company, der es in den 1930ern gelang, in den Rang eines Major-Studios aufzusteigen. Monogram (gegründet 1930) und Republic (gegründet 1935) gehörten zu den größeren Poverty RowStudios und waren semi-independents (vgl. Merritt, G. 2000: 63). Nach Richard Maltby produzierten diese Firmen zwischen 100 bis 200 Filme im Jahreine beachtliche Zahl, aber die Mehrheit der B-Filme wurden von den Majors produziert (2003: 121 ). Gegen Ende der 1920er Jahre begann man in den Kinos, zwei Filme zu dem Preis von einem vorzuführen, um damit den wesentlich durch die Weltwirtschaftskrise bedingten Umsatzrückgang aufzufangen. Die double feature-Praxis (auch double bi/1 genannt) war vor allem in den 1930er und 1940er Jahren stark verbreitet und erwies sich als erfolgreiche wirtschaftliche Strategie, den Umsatz zu stabilisieren.

46 I

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

Filmindustrie anfmg, dieses Publikum ernst zu nehmen. Erst der Erfolg des Films ROCKAROUNDTHE CLOCK(1956, R.: Fred. F. Sears) testified convincingly to the power - and the future ascendancy - of the teenage audience. Henceforth, the industry campaign to woo this group would be concer· ted and conscious: it signalled new production and marketing strategies and gave prominence to a new kind of motion picture, the teenpic. Since the 1950s, this process has only accelerated, and teenpics, once the industry's embarrassing underside, have lately become its foundation. (Doherty, T. 1995: 313)

Die geschickte Vermarktung der Exploitation-pictures versprach allerdings mehr explizite Darstellung, als tatsächlich visuell geboten wurde. Zudem wurden die Inhalte zunächst in einen puritanischen politischen Diskurs verpackt, wenngleich Letzterer in den 1950er Jahren, als der Exploitation-Film in stärkerem Ausmaß auch in Kinos bzw. drive-ins gezeigt wurden, deutlich in den Hintergrund trat.

4.3 Independent-Film und MinoritätenUnabhängige außerhalb des Studiosystems Die Besonderheit des Independent-Films war von Beginn an, solche Filme zu drehen, die die Studios nicht drehen wollten. Nicht alle populären Filme der Stummfilm- und Studioära waren so offen rassistisch wie BlRTH OF A NATiON, aber die allermeisten stellten Minoritäten in stereotyper Weise und den weißen US-Amerikanern als inhärent unterlegen dar. Der Independent-Film bot eine Artikulationsmöglichkeit, dieser kulturellen Praxis etwas entgegenzusetzen: »By picking up cameras to tell their OWJl stories. American minorities of all skin tones, ethnicities, beliefs, and persuasions have been able to circumvent the pigeonholes of Hollywood. Unfortunately, for decades few people knew of such movies because of weak distribution. This often led to the quick failure ofa noble dream« (Merritt, G. 2000: 12). Der erste Film mit afroamerikanischer Besetzung, THE PULLMAN PORTER, wurde 1910 von dem Afroamerikaner William Poster über seine Firma Poster Photoplay Company produziert. THE PULLMAN PORTER war ein Kurzfilm, ebenso wie die nachfolgenden Filme THE RAlLROAD PORTER (1912) oder FALL GUY (1913). »The Foster films depicted Blacks in slapstick humor where a character might first slip, get his head stuck in a barre!, and then be spanked by another Black person wielding a wooden plank« (Rhines, J. A. 1996: 14) Hier von einem alternativen Kino der Darstellung von Arroamerikaner zu sprechen, wäre wohl verfehlt. >Schwarze< als Objekte der Belustigung gehörten schon zum US-amerikanischen Kino spätestens seit der Einführung der Montage, wie z.B. in Edisons TEN PTCKANINNIES (1904). Aber mit seinem all-black-cast war Foster dennoch so etwas wie ein Pionier des afroamerikanischen Kinos und der späteren so genannten race films.

Oscar Micheaux und race fi/ms Zu den unabhängigen Produzenten, die tatsächlich außerhalb des Studiosystems tätig waren, gehörte Oscar Micheaux. Als afrikanisch-amerikanischer Filmemacher, Autor, Produzent und Schauspieler stellte er bis 1948 jährlich etwa einen Spielfilm her, um ihn in den Kinos der >black commu-

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nities< vorzuführen (vgl. Kleinhans, Ch. 1999: 312). Micheauxs Filme wie WITH!N ÜUR GATES (1920), BODY AND SOUL (1925), M URDER IN HARLEM (1935) sind vor allem durch die Abwesenheit rassistischer Stereotype und für ihren Einsatz und die Profilierung afroamerikanischer Schauspielerstars wie etwa Lorenzo Tucker bekannt, was in gewisser Hinsicht die Starpraktiken des weißen Hollywoods spiegelte. 7 Micheauxs Filme, die nahezu alle Genres umfassen, von denen viele aber Melodramen waren, zählen zu den so genannten race pictures bzw. race .films. Dabei handelte es sich typischerweise (wenn auch nicht unbedingt bei Micheaux) um Filme, die ausschließlich mit Afroamerikanern besetzt, von afroamerikanischen und >interracialernsthafte Rollen< in >ernsthaften Filmen< zu übernehmen (vgl. Golus, C. 2002: online). Wie viele andere racefilms auch, griffen Micheauxs Filme Themen auf, die die spezifischen sozialen Erfahrungen von Afroamerikanern behandelten und damit verbunden deutliche politische Aussagen artikulierten. So klagt z.B. WTTHTN ÜUR GATES, eine der wenigen Produktionen, die bis heute erhalten geblieben sind, das Lynchen von Afroamerikanern und das Problem von interracial rape an. 8 In Chicago wurde die Aufführung des Films ursprünglich verboten und dieser erst in einer deutlich geschnittenen Fassung veröffentlicht, nachdem es zu massiven Protesten seitens der afroamerikanischen community gekommen war (Golus, C. 2002: online). Micheaux setzte sich zudem kritisch mit Problemen innerhalb der afroamerikanischen Kultur auseinander, darunter Alkoholkonsum, Glücksspiel und Prostitution (Geltzer, J. 1998: online). Derartige Perspektiven und Themen führten dazu, dass Micheaux von afroamerikanischen Kulturkritikern kritisch wahrgenommen wurde, während ihn die weiße Presse ignorierte (Horne, J. 2001: online). In jedem Fall kann Micheaux sowohl hinsichtlich der Produktionsweise als auch mit Blick auf seine Filme als zentraler Begründer des US-amerikanischen Independent-Films gelten. Die Praxis der race .films ging langsam zugrunde, als Hollywood auf das lukrative Geschäft aufmerksam wurde und selbst Filme mit >schwarzen Darstellern< für ein >schwarzes Publikum< produzierte und viele unabhängige afroamerikanische Produzenten nicht überleben konnten. Micheauxs Film Corporation stellte ihre Produktionen in den späten 1940ern ein.

Amerikanisch-jiddische Filme Ähnlich den race pictures wurden im New York der 1930er jiddische Filme, die aus dem Jiddischen Theater heraus entstanden, regelmäßig speziell für die jüdische bzw. jüdisch-orthodoxe Kultur produziert (ebd.). Filme wie

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Lorenzo Tucker, der zwischen 1930 und 1948 in einer Reihe der späten Filme Oscar Micheauxs zentrale Rollen übernahm, wurde etwa als »The Black Valentino" angepriesen (vgl. Geltzer, J. 1998: online). ln diesem Film wird eine versuchte Vergewaltigung gezeigt.

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OST UND WEST/GOOD LuCKIMAZEL Tov (A 1923, USA 1923 bzw. 1932 als Neuveröffentlichung u.a. mit jiddischem Erzählton, R.: Sidney M. Goldin & lvan Abraham), I WANTTOBE A BOARDER (1937, R.: Joseph Seiden) oder TEVYE (USA 1939, R.: Maurice Schwartz) zeigten in Kostümen, Legenden und Sprache eine Kultur, die Hollywood ignorierte. Nach Merritt wurden die jiddisch-amerikanischen Filme sogar weitaus stärker als >black-cast pictures< marginalisiert, indem sie lediglich in sehr wenigen Theatern, zumeist in Manhattan, aufgeführt wurden und somit kaum die Chance hatten, nennenswerte Profite zu erzielen oder überhaupt große Schwierigkeiten hatten, das für die Herstellung der Filme notwendige Budget zu finanzieren (Merritt, G. 2000: 81). Wie gering letztere zum Teil waren, lässt sich am Beispiel des Films GREEN FIELD (1937) belegen. Edgar Ulmer übernahm die Regie für einen Betrag von nur 300 US-$ und realisierte den Film, zusammen mit CoRegisseur Jacob Ben-Ami, in nur acht Tagen mit einem Budget von 8000 US-$ (ebd.: 82). Der Zweite Weltkrieg setzte nicht nur dem europäischjiddischen Kino mit der fast vollständigen Vernichtung der Juden in Europa durch die Deutschen ein Ende, sondem aus völlig anderen Gründen ebenso der amerikanischen-jiddischen Filmindustrie. Ein Prozess, der durch die zunehmende Assimilierung vieler amerikanischer Juden in Amerika, als einem der wenigen Staaten neben Israel, der Juden, trotz auch hier vorhandenem Antisemitismus, (auch ohne erzwungene Assimilierung) eine gewisse Sicherheit bot und nach wie vor bietet, beschleunigt wurde, und insofern eine distinkte amerikanisch-jüdische Filmkultur zusehends verschwand (ebd.: 83). Auffällig ist, dass die meisten amerikanisch-jiddischen Filme insbesondere der 1930er Jahre und 1940er Jahre nicht die Ereignisse in Deutschland reflektieren. Die Gründe dürften natürlich unterschiedlich sein: Verdrängung, Angst vor antisemitischen Ressentiments kommen als mögliche Motive in Frage. Mit LTBERTY HEIGHTS (1999) drehte Barry Levinson einen der wenigen Independent-Kinofilme9 , die sich gegenwärtig mit jüdischem Leben in den USA auseinandersetzen. LTBERTY HEIGHTS erzählt die Geschichte zweier jüdischer Brüder im antisemitischen und rassistisch geprägten Baltimore der 1950er. Van Kurtzman (Adrien Brody) verliebt sich in eine >höhere Tochter< und Ben Kurtzman in eine afroamerikanische Mitschülerin. Seit Ende der 1980er Jahre wurden in den USA zunehmend jüdische Filmfestivals gegründet (u.a. Boston 1989, Washington 1990, Phoenix 1995). Wie das bereits 1980 ins Leben gerufene San Francisco Jewish Festival haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, internationaler jüdischer Kultur und jüdischem Leben ein filmisches Forum zu bieten. Die amerikanischen Beiträge zu diesen Festivals bestehen bis dato in erster Linie aus Kurzfilmen oder Dokumentationen, während die internationalen Beiträge insbesondere aus Israel häufig Spielfilme sind. Es scheint sich jedoch eine verstärkte Umsetzung jüdischer Themen im US-amerikanischen Spielfilm anzudeuten. Die Initiatoren des Seattle Jewish Film Festival bringen ihr Anliegen auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass »[f]or centuries, people have learned about Jewish life in black and white. But when projected through the lens of

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Im US·amerikanischen Fernsehen ist die (komödiantische) Darstellung jüdischer Charaktere weitaus verbreiteter mit Serien wie Seinfeld (1990 - 1998) oder The Nanny (1993 - 1997).

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modern filmmakers, the richness of Jewish heritage takes on whole new dimensions.« (Seattle Jewish Film Festival200 1: online)

4.4 Die amerikanische Avantgarde in den 1940ern Viele Filmpraktiker und Filmwissenschaftler unterscheiden zwischen einer >ersten< und >zweiten< amerikanischen Avantgarde, wobei eine dritte die Entwicklung und Ausformung des New American Cinema bezeichnet. Nach Hans Scheugl und Ernst Schmidt jr. waren in der ersten Phase kaum eigenständige Entwicklungen zu verzeichnen, vielmehr seien europäische Filme mittelmäßig nachgeahmt worden. Demgegenüber markiert die zweite Phase »den Beginn eines eigenständigen amerikanischen Avantgardefilms« (1974b: 1031 ), der sich ab den 1940er Jahren entfaltete und zu dessen Vertreterinnen Filmemacherinnen wie Kenneth Anger, Maya Deren, Sidney Peterson und Stan Brakhage gehörten. Bei den Produktionen der amerikanischen Filmavantgarde wie FTREWORKS (1948, R. : Kenneth Anger), MESHES OF THE AFTERNGON (1943, R.: Maya Deren) oder INTERIM (1952, R.: Stan Brakhage) handelte es sich überwiegend um Kurzfilme, die in typischer IndependentProduktionsweise fast ausschließlich auf 16mm 10 gedreht wurden und entweder durch den Filmemacher selbst oder mit Hilfe öffentlicher Förderung finanziert wurden. Die Arbeiten waren durch das kritische Interesse bestimmt, neue ästhetische Sichtweisen zu entwickeln und neue Themen zu finden und dabei in aller Regel mit den Konventionen des Mainstreams radikal zu brechen. Ein wichtiger Fokus lag in diesem Zusammenhang auf solchen Menschen, die durch die Mainstream-Kultur marginalisiert und ignoriert wurden, insbesondere auf der Schwulen- und Lesben- und der >raceBlockbustern< der damaligen Zeit (die A-Filme), auch B-Movies als weniger gelungene und wenig Erfolg versprechende low budget-Produktionen an den Mann gebracht werden konnten, womit das Geschäftsrisiko von den Produzenten auf die Kirrobetreiber verlagert wurde. Zudem konnte man damit gleichsam die Leinwände für die Produktionen der Studios reservieren, mit der Konsequenz, dass die Unabhängigen Schwierigkeiten hatten, ihre Filme angemessen im Kino auszuwerten. Das Blindbuchen war eine weitere solche Strategie, bei der die Kinobetreiber letztlich Filme buchen mussten, die sie vorher nicht gesehen hatten. Erst die Praxis der trade showings ermöglichte es den Kinobetreiber, die Produkte im Voraus zu begutachten (vgl. Aberdeen, R. 2000). Die Einschränkung der monopolistischen Praktiken führte insgesamt dazu, dass die Majors vor allem an exklusiven Filmen mit Star- und Schauwerten Interesse hatten, damit alle so genannten Blocks-ofjive für die Kinos attraktiv waren. Des Weiteren war der reduzierte Ausstoß von Filmen eine quasi direkte Folge des Zweiten Weltkriegs: Die Bevölkerung hatte aufgrund des kriegsbedingten wirtschaftlichen Booms höhere Einkommen zur Verfügung und widmete ihre Freizeit u.a. vermehrt dem Kinobesuch, entsprechend stiegen die Kinobesucherzahlen bis zum Rekordjahr von 1946 kontinuierlich an. Aufgrund der starken Publikumsnachfrage liefen Filme der A-Kategorie im Kino deutlich länger, was den Ausstoß an Filmen insgesamt ebenfalls reduzierte und opulente Filmproduktionen mit entsprechenden Star- und Schauwerten begünstigte (Staiger, J. 1985: 331). Die Veränderung der industriellen Strukturen Hollywoods führte dazu, dass viele Filmschaffende den Studios den Rücken zukehrten und unabhängig wurden. Die Situation, dass sehr viel Kapital für Filmprojekte aufgrund der massenhaften Kinoerfolge zur Verfugung stand, war dabei ein entscheidender Anreiz. Talente der Industrie wie James Cagney oder Joseph Hazen schlossen nunmehr unabhängige Verträge mit ihren vormaligen Arbeitgebern ab. Nach dem Krieg, in der zweiten Entwicklungsphase, verstärkte sich der Trend zur Produktion weniger, ausgewählter Filme in Form des package-unit system. Das System der vertikalen Integration - die Kontrolle über die Herstellung, den Vertrieb und die Vorführung von Filmen in den Kinos - als das entscheidende industrielle Organisations- und Strukturprinzip der Studio-

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ära wurde in den Nachkriegsjahren stark beschränkt, vor allem dadurch, dass die Studios mit dem Entflechtungsurteil gezwungen wurden, sich von ihren Kinoketten zu trennen und monopolistische Praktiken verboten wurden. Die Bedeutung dieses Urteils lässt sich am ehesten daran erkennen, dass zur Zeit der Studioära die Beherrschung der Kinos als Schlüssel der Profitabilität der Kinoindustrie betrachtet wurde. In diesen Bereich wurde seitens der Majors bei weitem am meisten investiert. Nach Douglas Gomery waren während der 1930er und 1940er ca. 94 Prozent der Investitionen an den Besitz der Kinos gebunden, während die Vertriebssphäre lediglich ein Prozent der Investitionsausgaben ausmachte und die riesigen Studiokomplexe, ebenso wie die beträchtlichen Stargehälter gerade erstaunliche fünf Prozent betrugen (vgl. King, G. 2001: 26f.). Und dabei kontrollierte man längst nicht alle Kinos, sondern vor allem die Erstaufführungskinos der großen Städte. Des Weiteren gingen in den Nachkriegsjahren die Kinobesucherzahlen kontinuierlich zurück. 1946 betrug die Anzahl wöchentlicher Kinobesucher ca. 90 Millionen, 1950 war sie schon auf 60 Millionen zurückgegangen - und sie sollte in den darauf folgenden Jahren noch weiter sinken. Die Gründe hierfür waren unmittelbar nach dem Krieg nicht etwa die Konkurrenz des Fernsehens, denn die Verbreitung von Fernsehern in den späten 1940er und frühen 1950ern hielt sich noch in Grenzen, vielmehr änderte sich das Freizeitverhalten des fiiiheren Kinopublikums. Andere Freizeitorientierungen (Autokauf etc.) wurden wichtiger, Aktivitäten und Bedürfnisse, die man während des Zweiten Weltkriegs entbehren musste und denen man nun wieder nachgehen konnte, ferner die Migration aus den Städten in die Vororte (und die damit verbundene schwierige Erreichbarkeit der Kinos in den Städten), sowie der baby boom, dürften eine Erklärung in diesem Zusammenhang sein (Gomery, D. 1998d: 249). Ein weiterer Faktor, der die Studios zur Änderung ihrer Marktstrategien bewog, war, dass u.a. die europäische Filmindustrie den Export von Filmeinnahmen beschränkte, so dass die US-Filmindustrie die Verluste auf dem einheimischen Markt nicht ausgleichen konnte (Staiger, J. 1985: 332). Die Studios reagierten mit einer forcierten Kostenreduktion, die sie durch den Verkauf von Studioressourcen (z.B. an Independent-Firmen) und Entlassungen von Filmschaffenden umsetzten. Die Einkommensverluste erwiesen sich jedoch für die Unabhängigen als Vorteil. Die individuelle Produktionsweise reduzierte Fixkosten und erlaubte den Studios mehr Flexibilität. Nunmehr konzentrierten sie sich auf die Produktion weniger, spezialisierterer Produkte, während sie gleichzeitig die Finanzierung und den Kauf begehrter Independent-Filme intensivierten. Mit der Etablierung des >Paketsystems< wuchs ein neues System, das die Macht der großen Stars, Regisseure und natürlich Agenten vergrößerte. Die Studios hatten durch die Paramount Decrees jedoch ihre Macht längst nicht verloren. »No production was made without the green light from a studio head, whether the director was an auteur or a hired hand from a talent agency. Packages came and went, but the studios remained all powerful. Without studio approval, no blockbuster was made« (Gomery, D. 1998d: 249). Doch die Agenten spielten eine zusehends wichtigere Rolle, insbesondere bei der Initiierung von Filmprojekten. Der Ablauf der Paket-Produktionsweise hat sich bis heute kaum verändert und sieht in der Regel, wenn auch nicht zwingend in dieser Reihenfolge, so aus: Ein Produzent, später dann häufiger ein Agent, zeichnet für die Organisation des Projekts verantwortlich. Ein Script wird geschrieben oder

52 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? die Rechte an der Adaption eines Stoffs gesichert, dann sucht man sich einen Regisseur, die Stars und das FilmpersonaL Mit einem so zusammengestellten Paket bemüht man sich um die Finanzierung des Projekts ( vgl. Kap. 5). Spätestens seit den 1940ern hatten unabhängige Produzenten, aufgrund ihrer deutlichen Abhängigkeit als >kleine Firmen< von den mächtigen Studios ein wesentliches Interesse daran, deren Monopolstellung zu brechen (obgleich unabhängige Produzenten ihre Filme durch die Verleihe der Big Eight veröffentlichten) und unterstützten die entsprechenden anti trust-Bemühungen des Justice Departments. Unabhängige Produzenten, unter ihnen Charles Chaplin, Walter Wangerund David 0. Selznick 11 , hatten sich zusammengeschlossen, als die Regierung während des Zweiten Weltkriegs zeitweise den anti trust-Prozess aussetzte, und etablierten mit der SIMPP (The Society of Independent Motion Picture Producers) eine entsprechende Handelsorganisation, die die Position und Interessen der Unabhängigen in der von den Studios dominierten Filmindustrie wirksam vertreten sollte, was sie mit Blick auf den Ausgang ihrer anti-trust-Bemühungen letztlich erfolgreich taten (vgl. Aberdeen, J.A. 2000). Laut Geoffrey Noweli-Smith kam es auch zu einer »generellen Lockerung« des Studiosystems, weil die Filmschaffenden von den Schauspielern bis zu den Drehbuchautoren die Arbeit in den Studios mit Blick auf die Reglementierungen zunehmend schwer erträglich fanden und das Management der Studios Schwierigkeiten hatte, die reibungslosen Abläufe innerhalb des >Apparats< zu gewährleisten (1998b: 412). Vor dem Hintergrund der nach 1946 sinkenden Zuschauerzahlen verstärkte sich dieser Trend und Regisseure wie Orson Welles, müde von den Auseinandersetzungen mit Hollywood, arbeiteten schließlich völlig unabhängig, während es anderen wie Otto Preminger darum zu tun war, Lücken im System für ihre Arbeit zu suchen und zu nutzen (ebd.). Der signifikante Anstieg der Independent-Produktion ab Mitte der 1940er lässt sich deutlich anhand folgender Zahlen nachvollziehen: 1945 betrug die Zahl unabhängiger Produzenten in Hollywood noch 40, 1946 waren es schon 70, 1947 100 und 1957 betrugt die Anzahl 165 (vgl. Prokop, D. 1995: 185). Mit Ausnahme von MGM operierte gegen Ende 1946 jede der Major-Firmen mit einigen Independent-Projekten als festem Bestandteil ihres regulären Produktionsschemas (vgl. Staiger, J. 1985: 332). Wenngleich sich das Studiosystem in seiner bis dahin bestehenden Form langsam auflöste (die Umsetzung der Bestimmungen des Paramount-Urteils dauerte bis weit in die 1950er Jahre hinein), behielten die Majors nach wie vor die Kontrolle, nicht nur über die ertragreichsten Kinos, sondern auch über die erfolgreichsten Regisseure, Schauspieler etc.

4.6 Die Herausbildung des art house-Markts in der Nachkriegsperiode In der Nachkriegsperiode entwickelte sich ein Kino- und Vertriebssystem von art houses, das es ambitionierten Filmemachern, die ihre Werke als 11 Insgesamt gründeten acht Personen die SIMPP, von denen die meisten den zu berühmtesten Namen der Filmgeschichte gehörten, wie etwa Samuel Goldwyn, Mary Pickford, Walt Disney, Orson Welles oder Alexander Korda.

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Kunst (oder aber auch als Unterhaltung) verstanden, erlaubte, ihre Filme wie THE QUIET ÜNE ( 1948, R.: Sidney Meyers) oder LOST 8 0UNDARIES ( 1949, R.: Alfred L. Werker) in speziellen Kinos zu zeigen und so einen bescheidenen Profit zu erzielen. In den späten 1940er Jahren zeigte aber nur rund ein Dutzend Kinos, die Hälfte davon in New York, regelmäßig Kunstfilme. Der Mangel an inländischen Produktionen und restriktive Handelspraktiken verhinderten effektiv den Import ausländischer Filme. Dieser Mangel wiederum war im Wesentlichen auf die Vormachtstellung der Majors auf dem Kinosektor zurückzuführen, die erst durch die Paramount-Entscheidung von 1948, abgesehen von der genannten Kontrolle über besonders lukrative Kinos, gebrochen wurde (vgl. Austin, B. 1989: 81). Artfilms sind nach Murray Smith typically characterized by aesthetic norms that are different from those of classi· cal narrative films; they are made within a somewhat less rationalized system of production; and they are often supported by government policies designed to promote distinctive national cinemas. But art cinema is still a commercial cinema, which depends for its existence on profits, rather than the more ethereal rewards of status and prestige. (Smith, M. 1998b: 395f.)

In erster Linie handelte es sich bei diesen Kunstfilmen Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahren um ausländische Filme. Lediglich ein kleiner Teil waren amerikanische Independent-Filme. In den 1950em nahm die Zahl derar t house-Kinos stetig zu. Um 1956 gab es schon 226 US-Kinos, die vollständig auf den artfilm ausgerichtet waren, 1964 bereits 500 und 1980 geschätzte 1000 Kinos (Austin, B. 1989: 81 ). Der Aufstieg derart hauses war dabei entscheidend darauf zurückzuführen, dass die Majors in der Nachkriegsperiode deutlich weniger Filme produzierten bzw. vertrieben. Dies förderte nicht nur den Wettbewerb der Kinos um die verfügbaren US-Major-Produktionen, sondern bedeutete auch, dass Kinos ihre Leinwandzeit mit Independent- und ausländischen Filmen füllten (ebd.). Anfang der 1960er Jahre gewann das art cinema durch die Anstrengungen und Aktivitäten von Firmen wie Cinema V, geflihrt von D. Rugoff, weiter an Relevanz. Ähnlich wie später Miramax oder New Line setzte Cinema V u.a. darauf, eine eigene Identität zu etablieren, die auf Unterscheidbarkeit von den Studios basierte und mit markanten Produkten und spezifischen Produktionsstrategien erfolgreich realisiert wurde (ebd.: 68). Dazu gehörte, dass Cinema V nicht nur Kunstfilme vertrieb, sondern auch im Bereich des Betriebs von art.film-Kinos rasch expandierte. Hinsichtlich der Produktions- und Marketingstrategien stellte sich Rugoff beispielsweise mit Filmen wie der >antibürgerlichen< Komödie MORGAN- A SUTTABLE CASE FüR TREATMENT (GB 1966, R.: Kare! Reisz) oder dem Surf-Dokumentarfilm THE ENDLESS SUMMER (1966, R.: Bruce Brown) auf die ästhetischen und thematischen Bedürfnisse desjüngeren Publikums ein. Das typische Publikum derart houses der Nachkriegsperiode setzte sich aus eher gebildeten Zuschauern zusammen, die sich primär für anspruchsvolle Filme interessierten und besonderen Wert auf die Qualität des Inhalts und der Handlung legten, was sie vor allem in ausländischen Filmen verwirklicht sahen (Staiger, J. 1992: 185). Diese Auffassung wurde auch von Filmkritikern geteilt. Bosley Crowther, Starkritiker der New York Times, berichtete 1946, dass zu den zehn besten Filmen des Jahres fünf europäische Importfilme zählten (ebd.: 186). Das Publikum der Kunstlichtspielhäuser

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interessierte sich besonders für die Filme des italienischen Neorealismus oder für britische Komödien (vgl. Kleinhans, Ch. 1999: 313). Um den Erfolg europäischer Produktionen, der über mehrere Jahrzehnte andauerte, zurückzudrängen, wurden ausländische Filme bald als eigene Kategorie behandelt ein einfacher Schachzug, mit dem Hollywood nunmehr eine konkurrenzlose Position einnahm (Staiger, J. 1992: 186).

4. 7 Roger Corman/American International Pictures (AlP) Zu Beginn der frühen 1950er Jahre wurde der Independent-Film jedoch nicht in erster Linie mit art .films assoziiert, sondern galt, Merritt zufolge, als »grindhouse epithet« (Merritt, G. 2000: 123). Als die prominente Persönlichkeit im Bereich der Exploitation-pictures und B-Movies gilt zweifellos Roger Corrnan, der seit Mitte der 1950er bei über 50 Filmen Regie führte und weit mehr als 260 Filme entweder produzierte und/oder deren Vertrieb übernahm. Darüber hinaus fingen bei ihm bzw. bei der Produktionsfirma American International Pictures (AlP), mit der Corman seit THE FAST AND THE FuRTOUS ( 1954) zusammenarbeitete, einige der zentralen Protagonisten des New Hollywood an, unter ihnen Jack Nicholson, Dennis Hopper, Francis Ford Coppola und Peter Bogdanovich. Sie sollten später schaffen, was Corrnan nicht gelang, in Hollywood Karriere zu machen. So entschied er sich dafür, den typischen Weg eines >Unabhängigen< zu gehen, indem er seinen ersten >eigenen< Film, THE MONSTER FROM THE ÜCEAN FLOOR (1954), größtenteils selbst finanzierte, obgleich es bis heute eigentlich zum common sense des Filmbusiness gehört, nie eigenes Geld einzusetzen. Der Film wurde in nur sechs Tagen gedreht und obgleich das Resultat filmhistorisch getrost als cineastische Katastrophe eingestuft werden kann, spielte er immerhin 110.000 US-$ ein. An der Erkenntnis, dass billig produzierte Filme grundsätzlich eher einen Profit versprechen, sollte Roger Corman stets festhalten. Das beinhaltete auch, auf Mitglieder der Filmgewerkschaften zu verzichten und stattdessen billige Arbeitskräfte einzusetzen. Tatsächlich waren Corrnans erste 17 Filme allesamt profitabel. Ausgerechnet mit seinem ersten anspruchsvollen Projekt, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Charles Beaumont THE INTRUDER (1961) machte Corman erstmalig Verluste. THE lNTRUDER, auftatsächlichen Ereignissen basierend, erzählt die Geschichte des bigotten Rassisten Adam Cramer (William Shatner), der in einer Kleinstadt der Südstaaten die Bevölkerung gegen die gerade erlassenen Schulintegrationsgesetze aufhetzt. Obgleich der Film sowohl in Cannes als auch bei den Filmfestspielen von Venedig zugelassen wurde, wurde er in Cannes nicht gezeigt. Aus Angst vor einem Aufruhr, wegen der Aufhebung der Rassentrennung im Süden der USA, zogen sich Pathe Labs, die den Film teilweise mitfinanzierten und den Vertrieb übernehmen wollten, aus dem Projekt zurück. Cormans eigene Firma Filmgroup brachte den Film selbst heraus. Aufgrund der geringen Promotion erwies sich der Film an der Kinokasse jedoch als Flop (Merritt, G. 2000: 165f). Corman kommentierte dies später eher lapidar: »I learned my lesson and almost never lost money on a film again« (Corman, R. 1990: xi).

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Zum Kennzeichen der low budget-Produktion bei AlP gehörte die Fokussierung auf die Produktion schematischer Genre-Filme. In den Anfangsjahren waren das vor allem beach-Filme, später Science-Fiction-Horror- und Motorradfilme, in den späten 1960er Jahren schließlich Drogenfilme wie THE TRIP (1967, R.: Roger Corman). AlP verfilmte häufig Erzählungen Edgar Allen Poes, so HOUSE OF USHER (1960, R.: Roger Corman) oder THE PIT AND THE PENDULUM (1961 , R.: Roger Corman). Die Vorlagen längst verstorbener Autoren waren nicht durch Copyright geschützt und entsprechend wurde zusätzlich gespart. 1970 gründete Roger Corrnan seine eigene Firma New World und konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Produktion von Exploitation-Filmen, darüber hinaus importierte er ausländische Kunstfilme, von denen fünf einen Oscar als Bester Ausländischer Film erhielten. Und bei New World begann die Karriere einer weiteren Generation von Star-Filmemachern und Produzenten wie Jonathan Demme, Frances Doel, Ron Howard, John Sayles, James Cameron oder Barbara Boyle (Corman, R. 1990: vii-viii).

4. 8 Joh n Cassavetes Zu den einflussreichsten Pionieren des US-amerikanischen IndependentFilms wird zu Recht John Cassavetes gezählt, der sich vor seiner Regiekarriere ab Mitte der 1950er Jahre in Filmen wie EDGE OF THE CITY (1958) als vielseitig begabter Darsteller in Hollywood etablieren konnte. Durch seine Erfahrung als Schauspieler in Hollywood frustriert, wollte er den Schauspielern die Gelegenheit geben freier zu agieren. Basierend auf Improvisationsübungen in seinem Schauspielworkshop setzte Cassavetes in seinem Regiedebüt SHADOWS (1959) eine flexible Handkamera ein, ließ den Raum gleichmäßig ausleuchten und die Dialoge improvisieren' 2, um die Schauspieler so weit wie möglich von den Beschränkungen durch die filmische Apparatur zu entlasten bzw. Letztere der Darstellung unterzuordnen. »Wir haben gedreht, wann immer die Schauspieler bereit waren. Wir waren ihre Sklaven. Wir waren nur dazu da, das, was sie taten, aufzunehmen« (Gelmis, J. 1970: 83). Die ungewöhnlichen Methoden Cassavetes' prägten bzw. forcierten auf signifikante Weise den ästhetischen und narrativen Stil des Films. Die Bilder von SHADOWS sind grobkörnig, missachten die für den Hollywood-Stil essentielle durchgängige Schärfe, während die Erzählweise durch eine eher fragmentarische Montage das Hollywood-Gebot des unsichtbaren Schnitts negiert und sich frappierend spontan und ungesteuert zu entwickeln scheint. Sowohl in Hinblick auf die sich derart als präsent ausweisende Ästhetik und Narration als auch in der durch die spezifischen Produktionsstrategien begünstigten Konzentration auf das Studium der gestischen Darbietung weist SHADOWS viele Gemeinsamkeiten mit der in etwa zur gleichen Zeit entstandenen Dokumentarfilmbewegung cimima verite auf. SHADOWS erweist sich jedoch nicht nur in stilistischer Hinsicht als über den historischen Kontext hinaus bedeutsam, sondern gleichermaßen thematisch, indem er präzise die sozialen Beziehungen des Alltags von drei jungen New Yorkern 12 Die Improvisation beschränkte sich allerdings auf die Erstfassung. ln der tat· sächlichen Kinofassung improvisieren die Schauspieler nicht, wobei Cassavetes im Abspann den Hinweis auf die Improvisation beibehielt, um die Arbeit der Schauspieler angemessen zu würdigen.

56 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? hinsichtlich Fragen der Einstellung und Identität von race und Geschlecht analysiert (Andrew, G. 1999: 15). Cassavetes' Verhältnis zu Hollywood trug stets ambivalente Züge. Einerseits erklärte er, »that art and authorship are effecti ve antidotes to the mediocrity of the Hollywood product, an auteuristic view that made him the object of both the >Movie Journal< column of Jonas Mekas, the organizer and defender of alternative film, and the cinephile pantheon of first-generation film school filmmakers like Martin Scorsese« (Margulies, I. 1999: 27 6). Andererseits hielt ihn diese Einstellung nicht davon ab, auch bei Studioproduktionen wie TOO LATE BLUES (1961) and A CHILD IS WAITING (1962) Regie zu führen. Doch wie Merritt konstatiert, «[b]oth were commercial and artistic disappointments« (Merritt, G. 2000: 159). In jedem Fall war Cassavetes' zentrale Bedeutung als Vorbild für eine Vielzahl gegenwärtiger Filmemacher, seien es nun Martin Scorsese oder Francis Ford Coppola, weithin anerkannt und auch bei dem Projekt Dogma 95 war Cassavetes, wie der dänische Drehbuchautor Magens Rukov es formuliert hat, »der Geist im Theater« (Sudmann, A. 2001: 168).

4. 9 Counterculture Cinema/New American Cinema/Underground Cinema: Die 1960er Jahre Während sich nach dem Zweiten Weltkrieg in industrieller Hinsicht eine entscheidende Verlagerung hin zu einer dezentralen, unabhängigen Produktionsweise vollzog, gehörte zu den signifikanten Eigenschaften des so genannten New American Cinema in seiner Frühphase der Impuls sich auf neue Produktionsmethoden (Stichwort: location shooting) sowie neue visuelle Stile (Nouvelle Vague) und auch auf radikale Politik hin auszurichten. Am 28. September 1960 trafen sich in New York rund 20 unabhängige Filmemacher, um eine Selbsthilfeorganisation zu gründen, die ex post als New American Cinema Group bekannt wurde. Die Gruppe sollte monatlich zu informellen Treffen zusammenkommen, um die Visionen und Probleme der unabhängigen Filmproduktion zu diskutieren und insbesondere die Bedingungen und Möglichkeiten der Filmproduktion, -promotion und des vertriebs zu erörtern. Letzteres war vor allem Aufgabe des Filmemachers und Präsidenten des Boards Jonas Mekas. Dieser hatte 1955 die Zeitschrift Film Culture gegründet, die nicht nur die Werke experimenteller, avantgardistischer Künstler unterstützte, sondern anfangs auch die Spiel- und Dokumentarfilme des New American Cinema. Nach Prüfung der bescheidenen Möglichkeiten des Vertriebs kam Mekas zu dem Ergebnis, dass es nur eine vernünftige Strategie geben könne: die Gründung einer unabhängigen Vertriebskooperative (cooperative film distribution center), die von den Filmemachern selbst geleitet wurde. Ein Konzept, das Mekas in seiner Wohnung den Filmemachern der Avantgarde- und Independent-Filmszene vorstellte, darunter Ron Rice, Gregory Markopoulos, Lloyd Williams, Emile De Antonio und die Experimentalfilmemacherin Shirley Clarke als einzige Frau. Damit war das erste Fundament zur Gründung der Film-Makers Cooperative gelegt (vgl. Mekas, J., The Film-Maker's Cooperative A Brief History, o.J.: online). Noch im selben Jahr präsentierte die New American

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Cinema Group der Öffentlichkeit ein Manifest, in dem sie die wichtigsten ihrer filmpolitischen Positionen und Ziele darlegten, ebenso wie die Festschreibung dessen, was sie vehement ablehnten: das >Offizielle KinoFlowerPowerzeitgemäßen Kantigkeit< weitaus weniger riskant, als die Spektakelfilme, die aussahen, als gehörten sie einer längst vergangeneo Zeit an. Hollywood hatte so lange gebraucht, um auf die zeitspezifischen Veränderungen und Bewegungen in Kultur und Gesellschaft zu reagieren, da es wie Peter Biskind (2000) anschaulich nachgezeichnet hat - bis Mitte der 1960er Jahre noch fest im Griff derjenigen Generation war, die gleichsam das Kino erfunden hatte. 14 Erst eine neue Generation junger, enthusiastischer Filmemacher, die Movie Brats, sollte den amerikanischen Film in vielerlei Hinsicht nachhaltig verändern und in den 1970er Jahre einige Klassiker der Filmgeschichte realisieren. Sie waren Filmbesessene, die ihr Handwerk entweder beim Fernsehen (Robert Altman, Steven Spielberg, William Friedkin) und/ oder an den Filmhochschulen 15 (Francis Ford Coppola, Georg Lucas, Martin Scorsese) gelernt hatten bzw. vom Independent-Film kamen (Coppola, Peter Bogdanovich). Die Einführung des so genannten rating system bedeutete eine weitere wichtige Veränderung für den US-amerikanischen Film. Was an Filminhalten zur Zeit der Studioära möglich war, fand seine Grenzen in Bestimmungen, die Hollywood seit 1930 durch den so genannten Production Code auferlegt wurden. Auch wenn Filme in der Studioära durchaus an spezifische Gruppen adressiert waren, mussten sie trotzdem für Zuschauer jeglichen Alters geeignet sein. Damit ein Film vertrieben und vorgeführt wurden durfte, musste er ein Prüfsiegel der Production Code Administration (PCA) 16 tragen. Dabei 13 Die Zahl stieg in den 1980ern wieder auf über 20 Millionen und betrug 2001 rund 29 Millionen. 14 »1965 saßen der zweiundneunzigjährige Adolph Zukor und der nur unwesent· lieh jüngere Barney Balaban noch immer im Vorstand von Paramount; der dreiundsiebzigjährige Jack Warner leitete Warner Bros. und der dreiundsechzigjährige Darryl F. Zanuck 20th Century Fox" (Biskind, P. 2000: 15). 15 Von denen es noch Mitte der 1960er Jahre hieß, sie würden sich kaum als Sprungbrett nach Hollywood eignen. 16 Bis 1934 hieß diese Abteilung der MPPDA noch Studio Relations Commitee (SRC). 1927 publizierte die MPPDA ein verbindliches Regelwerk zur Film·

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handelt es sich um eine Einrichtung, die 1934 durch die Motion Pictures Producersand Distributars of America (MPPDA) 17 etabliert wurde und deren offizielle Funktion darin bestand, die Einhaltung von Sitte, Anstand und Moral auf der Leinwand zu gewährleisten (vgl. Maltby, R. 1998a). 18 Dieses Regulierungssystem geriet in den 1950ern zunehmend unter Druck. Rallywoods Produzenten beschwerten sich über die Restriktionen, die der Production Code ihrer Arbeit auferlegte. Zumal während des Zweiten Weltkriegs eine Liberalisierung der Zensur eingesetzt hatte, die man zu verteidigen gedachte (Maltby, R. 1998a: 223f.). Im Mai 1952 hatte der United States Supreme Court eines der wichtigsten Urteile der amerikanischen Filmgeschichte formuliert, in dem erklärt wurde, dass die Anwendung des First Amendment, das die Presse- und Meinungsfreiheit garantierte, auch für Filme gelte. Grundlage der gerichtlichen Entscheidung war Roberto Rossellinis L' AMORE ( 1948), der auf Druck der katholischen Kirche wegen »Frevlerei« durch das New York Board of Regents zensiert wurde. Indem mit dem Urteil des Obersten Gerichts staatliche und kulturelle Zensur für verfassungswidrig erklärt wurde, wobei die Zensur aufgrund von »Obszönität« ausgeschlossen war, wurde die Autorität der PCA zwar geschwächt, aber nicht zerstört, obgleich ein Gericht des Bundesstaates Marylands deutlich machte, dass der Code im Sinne eines Gesetzes eindeutig verfassungswidrig sei (vgl. ebd.: 225). Ein Jahr darauf brachte United Artists mit THE MOON Is BLUE (1953 , R.: Otto Preminger) als erste große Filmgesellschaft mit großem Erfolg einen Film ohne PCA-Siegel heraus (vgl. Kap. 5.2.6). Die Liberalisierung der Zensurbestimmungen in den 1950er Jahren hatte allerdings auch viel mit dem Rückgang der Zuschauerzahlen zu tun. Ab ca. Mitte der 1960er Jahre veränderte sich Rallywoods Konzeption des Kinozielpublikums: Männliche Jugendliche und junge Männer, die sich, so die Annahme, für stories about men interessierten, lösten Frauen, die sich laut Kramer vornehmlich für Kostümdramen wie CLEOPATRA oder Musicals wie THE SOUND OF Musrc interessierten, als traditionelles Zielpublikum der Industrie ab (vgl. auch Kramer, P. 1999: 96). Wenn also Filme der 1960er und 1970er Jahre die Lebensstile, das Milieu und die Themen der jugendlichen (männlichen) (Gegen-)Kultur in den Vordergrund Iückten, so war dies nicht nur Ausdruck des sozialkulturellen Wandels, sondern auch eine spezifische Produktionsstrategie der Zuschaueradressierung. Im November 1968 beendeten die USA die Ära des Production Code, indem sie als letzte der größeren westlichen Nationen ein System zur Altersfreigabe einführten (vgl. Gomery, D. 1998b: 409). Filme wurden nunmehr

produktion - die .,Don'ts and Be Carefuls«, deren Einhaltung Aufgabe des SRC war, wobei die Abteilung bis 1930 jedoch nur eine beratende Funktion hatte (vgl. Maltby, R. 1998a: 219). 17 Die MPPDA wurde 1922 gegründet. Ihr heutiger Name lautet Motion Picture Association of America. 18 Die PCA war eine Selbstzensurbehörde, deren eigentlicher Zweck vor allem da· rin bestand, der Bedrohung durch die Zensur anderer zu entgehen, sei es nun der staatlichen Zensur, der lokaler Autoritäten oder kirchlicher Organisationen wie der einflussreichen Legion of Decency. Einerseits hatte die Einrichtung das Ziel kommerziellen Schaden abzuwenden, der durch die Zensur externer Organisationen entstehen könnte, andererseits stellte die Vergabe des PCA-Siegels eine enorme Machtquelle dar, nicht zuletzt um den Markt zu kontrollieren.

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durch die Code And Rating Administration (CARA), wie sie bis 1977 hieß 19, zunächst nach folgendem Klassifikationssystem in vier Kategorien eingestuft: »G« (suggested for general audiences) bedeutete, dass der Film für jedes Alter geeignet ist, »M« (suggested for mature audiences - adults & mature young people) sah ebenfalls keine Altersbeschränkung vor, empfahl jedoch, dass Eltern entscheiden sollten, ob der Film für ihre Kinder unter 16 Jahren geeignet sei. »R« (restricted) bedeutete eine Freigabe des Films für unter 16-Jährige nur in Begleitung von Eltern oder Erwachsenen, während das »X«-rating (persons under 16 not admitted) die Freigabe eines Films grundsätzlich erst ab dem Alter von 16 Jahren gestattete. Seit seiner Einführung wurde das rating system mehrmals modifiziert: 1970 wurde die Kategorie «M« in »GP« umgewandelt, als die Altersbeschränkung auf 17 angehoben wurde. 1972 änderte man »GP« in »PG« (parental guidance suggested). 1984 kam mit «PG-13« (parents strongly cautioned) eine weitere Kategorie hinzu. Schließlich wurde 1990 das «NC-17 « (no one under seventeen admitted) als Ersatz für die »X«-Kategorie eingeführt, da »X« sehr oft mit Pornografie in Verbindung gebracht wurde. Anders als das »X«-rating, das nicht durch die MPAA geschützt war20• und entsprechend von unabhängigen Studios als Werbung für Filme etwa mit pornografischem Inhalt genutzt wurde, hielt die Organisation von Jack Valenti nunmehr die Rechte an dem »NC-17«-rating (vgl. u.a. Maltby, R. 2003: 23). Tabelle 2: CARA ratings, 1975-1979

Gesamtzahl der Filme je Kategorie,

1975-1979 G

230

PG

755

R

868

X

165

Quelle: Maltby, R. 2003 : 24

Als Folge der Einführung des rating system wurden die Grenzen dessen, was an inhaltlicher Darstellung möglich ist, im Mainstream deutlich erweitert. Mit der Abschaffung des Produc/ion Code veränderten die Majors ihre Produktionsstrategie und fingen an, viele der früheren Exploitation-Genres zu produzieren (Dale, M. 1997: II 0). Der neue Freiraum wurde insbesondere 19 Ab 1977 stand die Bezeichnung CARA nicht mehr für Code and Rating Administration, sondern für Classification and Rating Administration, »abandoning any reference to the existence of a Code governing movie production as well as the practice of vetting scripts in advance of production" (Maltby, R. 2003: 23). 20 Die Bezeichnungen etwa " G", " M" oder "R" waren dagegen durch die MPAA geschützt.

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von den Movie Brats genutzt. Dazu gehörte auch ein Film wie John Schlesingers MlDNlGHT COWBOY (1969), der ein X-rating erhielt und ein kommerzieller Erfolg wurde. Wie in der Tabelle illustriert wird, versuchten die Studios allerdings grundsätzlich einratingihrer Filme in die X-Kategorie zu vermeiden, nicht zuletzt wegen der generell zu erwartenden schlechteren Vermarktbarkeit (vgl. Kap. 7.8), da ein bestimmtes Publikum durch die restriktive Altersbeschränkung ausgeschlossen wurde und außerdem das Label »X« als Stigma galt. Bereits 1969 war ein beträchtlicher Anteil von Kinobetreibern nicht bereit, Filme mit einem X-rating zu zeigen, so wie zahlreiche Zeitschriften sich weigerten, derart bewertete Filme zu besprechen (Farber, St. 1972: 47). 21 Die Einstufung »G« wiederum verlor an Bedeutung, da sich Hollywood nach der Einführung des rating system zunehmend auf männliche Jugendliche und junge Männer als neues (kommerziell relevantes) Zielpublikum konzentrierte, das man nun mit >gewagteren< aber nicht allzu drastischen Darstellungen von Sexualität und Gewalt zu adressieren suchte (vgl. Tab. 2). Ratings hatten in der Vermarktung von Filmen also sehr bald die Funktion, >gewagteremutigere< und offensivere Inhalte und Darstellungsweisen anzuzeigen und damit das relevante Publikum erfolgreich anzusprechen (vgl. Kramer, P. 1999: 97). Tatsächlich, so Maltby, entspricht es einer bis heute gängigen industriellen Praxis bis zu einem gewissen Grad Nacktheit oder Gewalt in einem Film unterzubringen, um ein »PG« oder »R«-rating zu erhalten und ratings nicht zuletzt derart als Mittel der Zuschaueradressierung zu nutzen (Maltby, R. 2003: 23). Gleichzeitig reduzierte Hollywood hochbudgetierte Produktionen der Einstufung »G«, die auf die bis dahin durchaus als kommerziell entscheidende geltende so genannte female led familyaudience abzielten und deren Bedeutung insbesondere seit Beginn der 1970er Jahre deutlich zurückging (vgl. ebd.). The introduction of a ratings system regulating access to individual films according to the age of the movie·goer signalled the industry' s willingness to abandon the notion of inoffensive entertainment for everybody, and instead to appeal strongly and and specifically to some audience segments, especially young males, even if that meant excluding other segments such as women and children. (Krämer, P. 1999: 97)

Wie der Tabelle (Tab. 2) zu entnehmen ist, die die Verteilung der ratings für die Jahre 1975-1979 exemplarisch ausweist, konzentrieren sich die meisten Einstufungen im genannten Zeitraum entsprechend auf die Kategorien »PG« mit 755 und »R« mit 868 Filmen.

4.10.2 Saturation Release und andere BlockbusterProduktionsstrategien Während der 1970er gab es zudem einige bedeutsame Veränderungen in den industriellen Produktionsstrategien vor allem im Bereich des Vertriebs und Marketings, die teilweise bzw. gerade auch im gegenwärtigen Hollywood wirksam und gültig sind. Eine dieser >neuen< Vertriebspraktiken Rallywoods war das so genannte four-walling, bei dem ein Verleiher ein Kino für eine 21

Allerdings lag die Altersgrenze des X-rating 1969 noch bei 16 Jahren.

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Zeitspanne von in der Regel ein bis zwei Wochen und zu einer Pauschalsumme mietete. Dieses Verfahren wurde bereits während der 1960er Jahre von unabhängigen Firmen wie etwa American National Enterprises intensiv und erfolgreich eingesetzt. Populär wurde das Verfahren jedoch erst, als Warner Bros. den ebenfalls unabhängig produzierten Film BlLLY JACK (1971 , R.: Tom Laughlin)- nachdem der Film erstmalig nur mit geringer Resonanz gelaufen war - 1973 ein zweites Mal nach diesem Vertriebsschema veröffentlichte und damit sensationell hohe Einspielergebnisse verbuchen konnte. Ein Film, der nach dem .four-walling-Prinzip in den Vertrieb ging, musste aufgrund der festen Buchungszeiten der Kinos augenblicklich das Interesse und die Aufmerksamkeit des Publikums erreichen (vgl. Wyatt, J. 1999: 64ff.). Um diese sofortige Aufmerksamkeit zu erzielen, ging dem Kinostart massive Fernsehwerbung voraus, die nach vorherigen Marktanalysen zielgruppenspezifisch konzipiert und realisiert wurde. Dies galt auch für BlLLY JACK: »Separate ads foregrounded romance, countercultural/antiVietnam War aspects, action, and martial arts - a varied campaign designed to reach a broad spectrum of moviegoers. A !arge number of theaters were rented within the region of the television signal, maximizing the convenience of attending the film.« (Ebd.: 75) Wegweisend für die gegenwärtige Produktionsweise von Blockbustern war jedoch insbesondere ein Film, Spielbergs JAWS (1975) (vgl. King, G. 2002: 54). Ähnlich wie bei anderen erfolgreichen Filmen der 1970er profitierte JAWS davon, dass die Buchvorlage des Films vor dem Kinostart bereits Bestseller-Status hatte. Außerdem wurde JAWS nicht nur durch eine nationweite Fernsehwerbung flankiert, sondern wie zuvor schon Francis Ford Coppalas THE GODFATHER (1972) von Anfang an zeitgleich in über 400 Kinos gestartet. Der Film spielte 129 Millionen ein, auch wenn die Beteiligung für den Regisseur an den Netto-Einnahmen damals noch relativ gering war. Das saturation release-Schema für Werbung und Verleih sollte sich fortan ungebremst fortsetzen. Allerdings stiegen die Kosten für Marketing und Verleih immens und minderten die Bedeutung von Rezensionen in Printmedien und machten es einem Film praktisch unmöglich, sich nach und nach durchzusetzen und allein durch seine erzählerischen und künstlerischen Qualitäten zu überzeugen. Insgesamt konzentrierten sich die Major Studios in den 1970ern auf wenige Filme. 1970 umfasste der Ausstoß der Studiofilme noch 151 , Mitte der 1970er Jahre 95 Filme. 1977 sank die Gesamtzahl der Produktionen auf 84 Produktionen (Wyatt, J. 1994: 79). Die Strategie der Konzentration finanzieller Mittel auf wenige Filme in Verbindung mit den genannten Blockbuster-Vertriebsstrategien und enormen Marketinginvestitionen sollte zusehends zur vorherrschenden Produktionsweise Hollywoods werden, die in den 1980er und 1990er noch ausgebaut wurde. Was die Grenzverschiebungen in Hinblick auf die Möglichkeiten des Darstellbaren betraf, so begann in den 1970ern tatsächlich eine scheinbar >regellose< Zeit (vgl. Merritt, G. 2002: 194). Hollywood erschien vor allem in ästhetischer Hinsicht so radikal anders wie vielleicht nie zuvor in seiner Geschichte. Wenn Hollywood bereits Grenzen verschob, tat es der Independent-Film erst recht. Dort wurde an der Ausweitung des Extremen und Schockierenden, wie z.B. im Horrorfilm, gearbeitet.

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4.10.3 Low budget-Horror Ein Film, der bald zum Kulthorrorfilm avancieren sollte, war N!GHT OF THE LIV!NG DEAD (1968), den George A. Romero nahezu im Alleingang für die geringe Summe von 114.000 US-$ realisierte und der allein in den USA 12 Millionen US-$ einspielen sollte. N!GHT OF THE LIVING DEAD wurde jedoch nicht als bloßer trash-Horrorfilm, sondern als Filmkunst betrachtet und im Museum of Modem Art vorgeführt.»[ ...] NIGHT OF THE LiVING DEAD was to become a model for thousands of imitators over the next thirty years, making it one ofthe most influential independent films ever produced« (Femcase, R. 1996: 6). Romero realisierte in den 1970em neben einigen anderen Filmen zwei weitere allegorisch aufgeladene Horrorfilme, MARTIN (1977) und ZOMB!ES- DAWN OF THEDEAD (1978). Eine Reihe anderer Filmemacher betätigte sich als kinematografische enfants terribles und zelebrierte low budget gare-Filme: I DRINK YOUR BLOOD (1970, R.: David E. Durston), BLOODTH!RSTY B UTCHERS (1970, R.: Andy Milligan), THE CORPSE GR!NDERS (1971, R.: Ted V. Mikels), BLOOD OF GHASTLY HORROR (1972; R.: Al Adamson), I DISMEMBER MAMA (1972, R.: Paul Leder) etc. Zu den berüchtigten Horrorfilmen jener Zeit gehört auch THE LAST HOUSE ON THE LEFT (1972, R: Wes Craven): Nachdem zwei Teenager-Mädchen gefoltert, vergewaltigt und schließlich von vier Sadisten umgebracht worden sind, nehmen deren Eltern blutige Rache. Drastische Szenen wie etwa die einer Kastration inmitten einer Oralsex-Szene trugen zum Nimbus des Films bei. Der populärste low budget-Film und zugleich einer der erfolgreichsten Independent-Filme der Filmgeschichte war THE TEXAS CHA!NSAW MASSACRE (1974). Tobe Hooper realisierte den Film mit Amateurdarstellern und einer Crew der Universität von Texas mit einem Produktionsbudget von gerade 140.000 US-$. Der Film spielte bereits auf dem inländischen Markt über 30 Millionen US-$ ein. Wie bei so vielen anderen low budget-Horrorfilmen auch, war der plot recht einfach strukturiert: Fünf junge Erwachsene stranden in der Nähe einer Farm, die einer kannibalistischen white trash-Familie gehört, und werden aus keinem auf den ersten Blick erkennbaren Grund niedergemetzelt, außer, dass sie sich unglücklicherweise am falschen Ort befinden. Eine weitere wichtige Persönlichkeit des Horror-Films seit den 1970er Jahren ist John Carpenter, dessen Karriere vor allem durch den Teen-HorrorFilm HALLOWEEN (1978) befördert wurde. Gedreht mit dem geringen Budget von 300.000 US-$ spielte der Film weltweit 79 Millionen US-$ ein. Damit ist HALLOWEEN auch heute noch einer der erfolgreichsten Independent-Filme aller Zeiten. Darüber hinaus hat Carpenter in den 1970ern eine Reihe anderer low budget-Independent-Filme mit Kult-Status gedreht, u.a. die Science Fiction-Komödie DARK STAR (1974) oder den Action-Thriller ASSAULT ON PRECINCT 13 (1976).

4.1 0.4 Underground- und Kultfilme in den 1970ern Wenn man unter Underground-Film solche kulturellen Produkte versteht, die von der breiten Öffentlichkeit und dem Mainstream unentdeckt bleiben (wollen), dann wurden viele Underground-Filme der 1970er Jahre zu Unrecht

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so bezeichnet, denn in den 1970ern waren sie weit über intellektuelle Cineastenkreise hinaus bekannt (vgl. Tyler, P. 1970: 8). Den Underground-Film bekannt und öffentlich (zugänglich) zu machen, ein Streben, das mit Blick auf den Begriff durchaus etwas paradox anmutet, war auch die Intention von Jonas Mekas, auf dessen Initiative 1970 die Anthology Film Archives gegründet wurden. Aufgabe dieser Institution war es, Avantgarde-Filme zu erhalten und vorzuführen. Die Filmsammlung umfasste in den l980er Jahren 6000 Titel, neben einer Referenzbibliothek mit mehr als einer Million art ./Um-Dokumenten (vgl. Merritt, G. 2000: 250). Tatsächlich ist der Begriff Underground nicht unbedingt (allein) auf den mode ofproduction oder eine bestimmte kulturell-politische >Ideologie< in Form etwa eines Manifests anwendbar, vielmehr hat seine Relevanz auch oder gerade mit dem Geschehen vor der Kamera zu tun. Z.B. könnte man, die Überlegungen Parker Tylers (1970:7) aufgreifend, eine Funktion des Underground-Films gerade darin sehen, Unentdecktes, Schockierendes und Tabuisiertes sichtbar zu machen. Wobei sich die Frage stellt, ob der Film bzw. die Kamera eher als Voyeur oder als (politische) Waffe verstanden wird, denn ähnlich wie der Begriff der Avantgarde hat die Bezeichnung Underground militärische Konnotationen, aber zusätzlich mit dem besonderen Beigeschmack des Konspirativen, wie auch mit dem des Umstürzlerischen. Insbesondere zwei Filmemacher repräsentierten die Sichtbarkeit und Popularität des amerikanischen Underground-Films der l970er Jahre: Paul Morrissey und Andy WarhoL Warhol drehte BLUE MOVIE (1969) an einem einzigen Tag. Der Film wurde aus einer fixen Kameraposition gedreht, die in 145 Minuten zwei Liebende auf und um das Bad herum beim Sex, Reden und Fernsehen zeigt. Ein weiterer Film Warhols WOMEN IN REVOLT (1972) zeigt drei drag queens in einer >burlesken KomödieAbnormitäten< oder Anstoß erregende Körperakte vorführt, sondern weil diese in eine narrative Form eingebunden sind, die die Normen, Werte und Ideale, die mit dem amerikanischen Traum assoziiert werden, parodieren.

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Dies führt Mendik und Schneider zu dem Ergebnis, dass die grotesken Arbeiten eines Regisseurs wie John Waters »exist as a >puredivenhaften< oder >größenwahnsinnigen< Regisseuren dirigieren zu lassen. Stattdessen nahm man ihnen die Kontrolle über die Filme. Zu Beginn der 1980er vollzog sich eine Gegenrevolution: Die Studiomanager erlangten die Macht von den Regisseuren zurück, wenn sie sie überhaupt je abgegeben hatten (vgl. King, G. 2002: 90ff.). Und diese waren in erster Linie Geschäftsleute und selten kreative, filmenthusiastische Produzenten. Fast alle bedeutenden Regisseure der 1970er- William Friedkin (Pleite mit SORCERER 1977), Peter Bogdanovich (Pleite mit THEY ALL LAUGHED 1981) oder Paul Sehrader (Pleite mit CAT PEOPLE, 1982) - verschwanden von der Bildfläche oder erholten sich nur langsam von ihren letzten Misserfolgen wie Martin Scorsese (Pleite mit NEW YORK, NEW YORK (1977), Francis Ford Coppola (Pleite mit ÜNE FROM THE HEART 1982) oder Robert Altman (Pleite u.a. mit BUFFALO BILL AND THE INDIANS 1976 und POPEYE 1980). Die neuen Chefs von Paramount (Barry Diller, Michael Eisner, Don Simpson, Jeffrey Katzenberg) schlugen einen Kurs ein, der das Filmemachen in Hollywood grundlegend verändern sollte. Eine maßgeblich durch das Fernsehen geprägte high concept-Ideologie (vgl. Wyatt, J. 1994), die durch die industrielle Blockbuster-Strategie und Veränderungen in den 1970ern lange >vorbereitet< war, setzte sich durch: Filme sollten sich problemlos auf Werbespot-Länge reduzieren lassen. Wollte jemand einen Film machen, musste er nunmehr erläutern oder - wie es im Fachjargon heißt -pitchen, wie er ihn sich als 30-Sekunden-Fassung vorstellte. Das war genau Spielbergs Vorstellung, der dieses Konzept so verstand: »Wenn jemand eine Idee in fünfundzwanzig Wörtern zusammenfassen kann, läßt sich daraus ein prima Film machen. Ich mag es, wenn Ideen, insbesondere Filmideen, schön handlich sind« (Biskind, P. 2000: 700). Nach Wyatt stellt das high concept-Prinzip eine Form der Produktdifferenzierung innerhalb der Mainstream-Industrie dar, das neben der signifikanten Verbindung von und Fokussierung auf Marketing und Merchandising mit dem und innerhalb des Filmprodukts, sich vor allem durch die Betonung auf style innerhalb von Filmen realisiert. Zu den Merkmalen von high concept style zählen nach Wyatt z.B. ein bestimmter ausgeprägter Filmlook, der durch die Kameraästhetik und das Produktionsdesign modelliert wird und sich für die Präsentation von Spots, Trailern etc. eignen muss, ferner Stars, deren Image/ Charakter typisiert und schematisch angelegt und klar mit dem jeweiligen Filmprojekt verbunden ist, wie z.B. bei Clint Eastwood und Charlie Sheen in THE ROOKIE (1990), ferner ein vordergründiger Einsatz von eng an den visue11en Schauwerten orientierter Popmusik wie bei FLASHDANCE (1983, R.: Adrian Lyne), FOOTLOOSE (1984, R.: Herbert Ross), DIRTY DANCING (1987, R.: Emile Ardolino), WAYNE'S WORLD (1992, R.: Penelope

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Spheeris) oder PRETTY WOMAN (1990, R.: Garry Marshall), das Spiel mit der Vertrautheit von Genrekonventionen (vgl. 1994: 23ff.), sowie überhaupt das Spiel mit intertextuellen Anspielungen auf Femsehserien, TV -Shows, andere Filme etc., so in FERRIS BUELLER'S DAY ÜFF (1986, R.: John Hughes) (ebd.: 58f.). Dieser high concept style generiert gleichsam eine Form des visuellen Exzesses, mit der Konsequenz, so Wyatt, dass die Identifikation mit den Charakteren und der Narration eines Films deutlich geschwächt wird: The modularity of the film's units, added to the one-dimensional quality of the characters, distances the viewer from the traditional task of reading the films' narrative. ln place of this identification with narrative, the viewer becomes sewn into the ·surface• of the film, contemplating the style of the narrative and the production. The excess created through such channels as the production design, stars, music, and promotional apparati, all of which are so important to high concept, enhances this appreciation of the films's surface qualities. (Ebd.: 60)

Nach Wyatt lässt sich das high concept-Prinzip pointiert wie folgt darstellen: High concept can be conceived, therefore, as a product differentiated through the emphasis on style in production and through the integration of the film with its marketing. This definition encompasses several aspects of high concept; to gather these aspects tagether in an appropriately high concept fashion, one can think of high concept as compromising ··the Iook, the hook, and the book". The Iook of the images, the marketing hooks, and the reduced narratives form the cornerstones of high concept. (Ebd.: 20ff.)

Die ästhetisch-ökonomischen Entwicklungen Hollywoods im Sinne des high concept-Films korrespondierten auch mit den allgemeinen soziokulturellen Entwicklungen in den USA der 1980er. Die Reagan-Ära brach an und mit ihr eine neue konservative Ideologie, die sich schon längere Zeit als signifikante Tendenz in den kulturindustriellen Produkten Hollywoods angekündigt hatte und nun noch deutlicher zum Vorschein kam. Neomilitaristische und antikommunistische Kriegsfilme wie THE DEER HUNTER (1978, R.: Michael Cimino), MEGAFORCE (1982, Hal Needham), REDDAWN (1984, R.: John Milius), RAMBO-FIRST 8LOOD PART 11 (1985, R: George P. Cosmatos), Tor GuN (1985, R.: Tony Scott) wurden in den 1980ern genauso zur Regel wie konservative Arbeiterklassefilme wie FLASHDANCE (1983, R: Adrian Lyne) oder THE FLAMTNG KID (1984, R.: Garry Marshall) (vgl. Kellner, D./Ryan, M. 1988). Die Blockbuster-Vermarktungsstrategien Hollywoods waren ausgesprochen kostspielig und fiihrten gegen Ende der Dekade erneut zu einer Kostenexplosion. Zu Beginn der 1980er betrugen die Kosten fiir Herstellung und Vermarktung zwischen 20 und 30 Millionen US-$. Die Startkosten eines Filmes lagen bereits damals bei über 10 Millionen US-$. (Heutzutage >erfordert< der Start eines Blockbuster-Films der Majors im Durchschnitt 100 Millionen US-$, vgl. Kap. 5). Der Anstieg der Produktions- und Herstellungskosten bedeutete insgesamt einen erheblichen Risikozuwachs, den die Verantwortlichen in Hollywood natürlich vermeiden wollten. Entsprechend kann »die Rückkehr zur genreorientierten Produktion in Hollywood [ .. ] zum Teil als Antwort der Filmindustrie auf die steigenden Produktionskosten der Blockbuster-Filme und die damit verbundenen Risiken gesehen werden« (Gomery, D. 1998c: 436). Hollywood reagierte auf die Kostenentwicklung, indem es

72 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? sich an dem orientierte, was sich auf dem Markt bereits bewährt hatte. So entstand der Trend zur Produktion von Sequels bzw. zur Nachahmung erfolgreicher Filme, beispielsweise von RAMBO- FIRST BLOOD (FIRST BLOOD PART II; RAMBO III, 1988, R.: Peter MacDonald), ROCKY (1976: R.: John G. Avildsen; Rocky II 1979, R.: Sylvester Stallone; Rocky III 1982, R.: Sylvester Stallone; Rocky IV 1985, R.: Sylvester Stallone; Rocky V 1990; R.: John G. Avildsen), INDIANA JONES AND THE RAIDERS OFTHELOST ARK (1981, R.: Steven Spielberg; INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM 1984, R.: Steven Spie1berg; INDTANA JONES AND THE LAST CRUSADE 1989, R.: Steven Spielberg), POLICE ACADEMY (1984, R.: Hugh Wilson; bisher sieben Teile, zuletzt: POLICE ÄCADEMY- MISSION TO MOSCOW 1994; R.: Alan Metter), SUPERMAN (1978, R.: Richard Donner; SUPERMAN II (1980, R.: Richard Lester); SUPERMAN III (1983, R: Richard Lester); SUPERMAN IV 1987, R.: Sidney J. Furie), HALLOWEEN (1978, R.: JOHN CARPENTER, bisher sieben Teile, zuletzt HALLOWEEN H20 - 20 YEARS LATER 1998, R.: Steve Miner) oder FRIDAY THE 13TH (1980, R.: Sean S. Cunningham, bisher 10 Teile, zuletzt: JASON X 2001, R.: James Isaac). Hollywoods Bedürfnis nach Bewährtern ermöglichte letztlich auch die zunehmend astronomisch hohen Gagen der Top-Schauspieler. Das mit den gestiegenen Produktionskosten verbundene Risiko wurde jedoch im Wesentlichen durch die Existenz stabiler ancillary markets wie Kabelfernsehen, Video, Merchandising reduziert bzw. kalkulierbar gemacht. Diese zusätzlichen Auswertungsfenster, deren ökonomische Relevanz bis dato stetig zugenommen hat, fungieren als Puffer, falls Filme im ultra high budget-Bereich an der Kinokasse scheitern. Zugleich ist der Markt für ultra high budget-Filme durch die Kostenexplosion erheblich kleiner geworden. Nur eine kleine Zahl von Filmen dieser Größenordnung kann auf dem Markt gleichzeitig erscheinen, damit jeder ausreichend einspielt, um die hohen Unkosten auszugleichen. Wie Thomas Schatz in seiner Arbeit über die Charakteristika des New Hollywood argumentiert, hat die Konzentration von Ressourcen auf Blockbuster einen (neuen) >Raum< für das Independent- und alternative Kino eröffnet (vgl. auch Neve, 8. 2002: 126; vgl. Schatz, T. 1993: 10). Die Blockbuster-Produktionen der 1980er hatten die Industrie zunächst retten können. Doch der enorme finanzielle Aufwand dieser Filme führte dazu, dass die Zahl der insgesamt jährlich produzierten Filme von 500 Filmen auf etwa 250 Filme sank. Dieses Angebotsdefizit machte insbesondere den Kinobesitzern zu schaffen, deren Häuser schon damals häufig mehrere Leinwände boten. Der Independent-Film profitierte jedoch nicht nur vom reduziertenoutputder Studios und der entsprechend erhöhten Nachfrage unterversorgter Kinobetreiber. Vielmehr versprach der Video- und Kabelboom, dass eine größere Nachfrage nach Filmen einsetzen würde, von denen vor allem die unabhängige Filmindustrie zu profitieren glaubte (vgl. Wyatt, J. 1998: 74). Peter Biskind: »Video wiped out the foreign film market overnight and, along with cable and European public television, fueled the explosion of American irrdies with a gusher ofmoney« (Biskind, P. 2004: 18). Folglich war ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein signifikanter Anstieg von Indie-Produktionen zu verzeichnen, »[ ... ] stimulated by the ease money of pre-sales to video and cable« (Balio, T. 1998: 65). Legt man alle Filme zugrunde, die ein MPAA-Rating erhielten, stieg die Anzahl der Independent-Filme von 193 im Jahr 1986 auf 393 in 1988, um in den darauf

GESCHICHTE I 73 folgenden drei Jahren zunächst bei ca. 400 Produktionen zu stagnieren (Wyatt, J. 1998: 74). Größere Independent-Firmen wie vor allem Carolco Pictures, aber auch Vestron Pictures, die De Laurentiis Entertainment Group oder die Cannon Group unternahmen laut Justin Wyatt während dieser Boom-Periode des Independent-Films in den 1980er Jahren ernsthafte Anstrengungen, einen >sofortigen< Major-Status zu erlangen (Wyatt, J. 2002: 142). Um dies zu erreichen, verwendeten diese Firmen ähnliche industrielle Strategien wie die Major-Studios: »ln terrns of business formation, these independent companies were distinguished not only by an initial desire to remain limited in scope compared to the major studios but also by an equal need to compete with the majors on their own terms, that is, by producing costly, star-driven vehicles« (ebd.: 143). Die 1976 gegründete Firma Carolco Pictures, die von Mario Kassar und Andrew Vajna geführt wurde, entwickelte sich (neben Orion Pictures 24) bald zur erfolgreichsten Independent-Firma der 1980er. Obgleich unabhängig in ihren geschäftlichen Operationen, war Carolco wie viele Independent-Produktionsfirmen, dennoch abhängig von den Majors, hinsichtlich des einheimischen Vertriebs von Filmen, und gelegentlich auch bei der Finanzierung ihrer Filme. Carolco konnte vor allem mit Star-fokussierten ActionfilmBiockbustern wie den Rambo-Filmen enorme kommerzielle Erfolge erzielen, ebenso wie mit den Amold-Schwarzenegger-Filmen TOTAL RECALL (1990, R.: Paul Verhoeven) oder TERMINATOR 2- JUDGEMENT DAY (1991 , R.: James Cameron). Diese Blütezeit sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Während sich in der Periode der Zunahme von Independent-Produktionen, zwischen 1986 und 1989, die Herstellungskosten eines Films verdoppelten, fielen die film rentali 5 der Independent-Filme im Durchschnitt um 33% (Wyatt, J. 1998: 75). Die meisten Independent-Firmen, die in dieser Boom-Periode gegründet wurden, gingen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ebenso schnell pleite, wie sie groß geworden waren. Bei Carolco Pictures dauerte es noch bis Mitte der 1990er Jahre, bevor extravagante Fixkosten, dubiose Verträge, gescheiterte Geschäftsbeziehungen und negative Publicity, neben den viel zu hohen Gehältern, die Stars wie Schwarzenegger und Stallone kassierten, die Firma letztlich ruinierten (vgl. ebd.: 143ff.). Vestron Pictures, die ebenfalls kommerzielle Erfolgsfilme vorzuweisen hatten, z.B. DTRTY DANCfNG (1987, R: Emile Ardolino, Einspielergebnis: 63 Millionen US-$), überschritten ihre Aktivposten und mussten nach einigen Flops - darunter z.B. Ken Russells GOTHIC (1986) und John Hustons THE DEAD (1987) - schließlich 1989 sowohl Produktion als auch Vertrieb einstellen. Ähnlich erging es Cinecom, die zunächst mit A ROOM WITH A VIEW (GB 1986, R.: James Ivory) Erfolg hatten und Skouras, deren erfolgreichster Film 1987 MY LLFE As A DoG (S 1985, R: Lasse Hallstrom) war. Kleinere Indie-Firmen (Aries, Circle, Hemdale, Odeon, New Century/Vista oder Spectrafilm) konnten nicht einmal einen einzigen finanziellen Erfolg vorweisen (vgl. ebd. 75; Balio, T. 1998: 65). 1995 wurde mit der Samuel Goldwyn Company ein weiterer Vertriebstycoon im Independent-Bereich der 1980er und 1990er Jahre zum Verkauf angeboten, um schließlich 1997 ganz aus dem Geschäft auszuscheiden

24 Orion Pictures hatte in den 1980ern allerdings quasi Major-Status. 25 Die Einnahmen, die der Verleih nach Abzug des Anteils der Kinobetreiber erhält.

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(Pribram, E.D. 2002: 6). Biskind: »The field was getting so crowded that there was bound tobe a correction, and it happened in October 1987, when the stock market crashed. That, combined with the overexpansion of the most successfu1 distributors, 1ed to a shakeout« (Biskind, P. 2004: 19). Der Videomarkt hat sich, wie Wyatt betont, vor allem deshalb als ökonomisch unsicher für Independent-Filme herausgestellt, weil sowohl die Verleih- als auch die Verkaufvideos ein A-Titel-Markt sind. Filme, die bereits im Kino mit Erfolg gelaufen sind, sind auch zumeist auf den ancillary markets Video und Kabel erfolgreich. Umgekehrt überzeugen Filme an der Kinokasse nicht, ist es sinnlos - so das Kalkül Hollywoods - auf den Videomarkt zu setzen (Wyatt, J. 1998: 75). Es ist daher recht offenkundig, dass diese Logik vor allem die Blockbuster Hollywoods begünstigt. Als Erklärung dafür, dass trotz der Expansion des Videomarkts, insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, Independent-Firmen auf lange Sicht von diesem Wachstum nicht ausreichend profitieren, verweist Wyatt zudem auf den kommerziellen Trend zum Verkaufsvideo. Zwischen 1985 und 1992 beispielsweise sei zwar auch der Verleih von Videos gestiegen, die Zahl von verkauften Videos sei allerdings während dieser Periode um den Faktor 7 gewachsen (ebd.). Da nur bestimmte Kinotitel über den so genannten >sell-throughUnabhängigen< independent auteurs, die mit ihren Filmen erfolgreich ein Mainstream-Publikum erreichen, obgleich ein Großteil seiner Filme sich einer an konventioneller Hollywood-Ware geschulten Konsumierbarkeit und Logik filmisch klar widersetzt oder diese spontan aufhebt; so in LOST HIGHWAY (1996), wenn der Saxophonspieler Fred Madison (Bill Pullman) auf einer Party einen

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Mann trifft, der behauptet in genau diesem Moment auch in Freds Haus zu sein, was zumindest auditiv bestätigt wird, wenn Fred bei sich zu Hause anruft und sich die Stimme seines Gegenübers meldet. Auch weitere stilistische Besonderheiten aus dem ästhetischen Repertoire Lynchs, beispielsweise das Zelebrieren von Trägheitsmomenten u.a. in der Fernsehserie Twin Peaks (1990-1991), sind kaum in die Hollywood-Kausallogik integrierbar. »Von Eraserhead bis Lost Highway beschäftigen sich seine Filme eher mit der Erzeugung seltsamer Welten, verstörender Stimmungen und bizarren Bildern, als mit der Herstellung einer sauberen, linearen, leicht verständlichen Erzählung, umgeben von runden, als >echt< erkennbaren Charakteren« (Andrew, G. 1999: 41). Anders als Geoff Andrew hier vermutet, sind die Lynch-Welten zwar zweifellos verstörend, seltsam und bizarr und auch die Charaktere werden nicht im klassischen Sinne als >rund< oder als >echt< konzipiert, jedoch werden gerade die Momente, in denen seine Filme Authentizitätsmarker in Zweifel ziehen oder diese geradezu kollabieren lassen m.E. zur Bedingung der Möglichkeit, sich in den Filmwelten Lynchs heimisch zu fühlen und sich mit der Welt und den Figuren zu identifizieren. Lynch beschreibt den Generierungsprozess seiner vermeintlich sunealen Welten: »I believe that ideas come from outside us. [... ] It's as if they are being broadcast in the air and we tune into them like our mind is a receiver« (Lynch, David zit. n. Levy, E. 1999: 65, Fußnote 19). Lynchs ERASERHEAD (1977) gehört mit Sicherheit zu den seltsamsten Zeugnissen der Filmgeschichte. Mehrere Jahre Arbeit hat Lynch in diese außergewöhnliche Arbeit investiert, die sich im Grunde nicht mit irgendetwas bereits Existierendem vergleichen lässt. (Vergleichsfilme fanden sich zeitgenössisch trotzdem - s.u.). Der Inhalt von ERASERHEAD lässt sich in Kürze nur schwer skizzieren. Die Handlung ist in einer düsteren Industrie-Einöde angesiedelt, in der große Maschinen unablässig lärmend und qualmend in Bewegung sind, und in der Henry Spencer, die zentrale Figur in einem dunklen, unmöblierten Zimmer lebt. Bei einem seltsamen Abendessen im Kreis seiner >Ehemaligen< erfährt Henry, dass seine Ex-Frau Mary ein Kind von ihm bekommen hat - eine Frühgeburt. Doch das Baby ist ein kaum zu beschreibendes Monster. Zusammen mit dem Kind zieht Mary bei Henry ein, das familiäre Glück jedoch hält nicht lange vor. Eines Nachts verlässt Mary die Wohnung, woraufhin das Baby augenblicklich krank wird und Henry sich darin versucht, es zu pflegen. Das ist jedoch erst der Beginn einer zutiefst sunealen, traumartigen mit sexueller Metaphorik überladenen Handlung, die sich assoziativ aneinanderreiht und einem einfachen interpretatorischen Zugriff versperrt. Die ersten Reaktionen auf den Film fielen eher verhalten aus. Die Zeitschrift Variety verortete den Film beispielsweise in der Tradition Herschell Gordon Lewis', der in den 1960er Jahren mit Werken wie BLOOD FEAST (1963) oder 2000 MANTACS (1964) den US-amerikanischen Gore-Film ins Leben rief (Seeßlen, G. 1997: 30). Lynchs kommerzieller Durchbruch erfolgte mit THE ELEPHANT MAN ( 1980) nach einer Fallstudie des britischen Arztes Sir Frederick Treves, der von Mel Brooks Brooksfilms Ltd. produziert wurde. Der finanzielle Erfolg des Films führte dazu, dass Lynch 1984 mit der allgemein als gescheitert geltenden Studio-Verfilmung (Universal) von Frank Herberts ausufernder sechsbändiger, sich über 5000 Erzähljahre erstreckender Science Fiction/FantasySaga DUNE erstmals bei einem Hollywood-Film Regie führte. Erst mit BLUE

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VELVET (1986) drehte er wieder nach einem eigenen Buch. Der CollegeStudent Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) findet ein abgeschnittenes Ohr und wird mit der Nachtseite seiner auf den ersten Blick so harmlos anmutenden kleinen Heimatstadt konfrontiert; mit der traumatisierten Nachtclubsängerin Dorothy Valens (Isabella Rossellini) und Frank Booth (Dennis Hopper), dem Mann, der ihren Mann und ihr Kind entfüh11e und sie nun brutal missbraucht. Ähnlich wie ERASERHEAD ist BLUE VELVET offen für mannigfaltige Deutungen jeglicher Natur und operiert mit einer verstörenden Bildsprache. Allerdings ist BLUE VELVET deutlich handlungsorientierter und weniger grenzüberschreitend. Jonathan Rosenbaum bezeichnet BLUE VELVET als den Wendepunkt in Lynchs Karriere: Vorher wurden seine Filme von einer Camp-Ästhetik charakterisiert, die sozusagen direkt aus seinem Unterbewußtsein kam; mittlerweile sind die Filme bewußt auf camp gemacht. Ich möchte glauben, daß er einige der kitschigeren Momente des Films - zum Beispiel die Rotkehlchen als Boten der Liebe - ernst gemeint hat. Als er jedoch merkte, daß man diese Ideen bloß schrullig fand, begann Lynch sie systematischer und mit einem gewissen Kalkül zu benutzen. (Hoberman, J. I Rosenbaum, J. 1991: 296)

Joel und Ethan Coen Die filmpraktische Erfahrung Joel und Ethan Coens bestand letztlich darin, dass sie zusammen mit Sam Raimi an dem Drehbuch für einen Film mit dem Titel CRTMEWAVE (1985), bei dem Raimi Regie führte, gearbeitet hatten. Um die Herstellungskosten ihres Debütfilms BLOOD SIMPLE (1984) zu finanzieren, produzierten sie zunächst einen dreiminütigen Trailer, der potenziellen Investoren gezeigt wurde (Levy, E. 1999: 24). Nach einem Jahr hatten sie ein Budget von immerhin I ,5 Millionen US-$ erhalten und setzten den Film in der für die weitere Zusammenarbeit üblichen Arbeitsteilung, Joel Coen als Regisseur und Drehbuchautor und Ethan Coen als Drehbuchautor und Produzent, um. »The genius of >Blood Simple< is that everything that happens seems necessary« (Ebert, R. 2000:online), schreibt Roger Ebert in der Einleitung seiner Filmkritik zu der wiederveröffentlichten Fassung des Director "s Cut von BLOOD SIMPLE (1984/2000). Das klingt zunächst nicht nach einer Narration, wie man sie von Independent-Filmen erwartet und die die Erzählstrukturen Hollywoods unterläuft. Julian Marty (Dan Hedaya), ein eifersüchtiger Barbesitzer, beauftragt den Privatdetektiv Visser (M. Ernmet Walsh), seine Frau Abby (Frances McDormand) und deren Liebhaber Ray (John Getz) umzubringen. Statt Abby und Ray zu töten, entschließt sich Visser jedoch den Auftraggeber zu töten. Ray findet die Leiche und beseitigt sie, in der Annahme seine Geliebte habe Marty getötet. Marty allerdings erweist sich als noch lebendig, woraufhin Ray ihn endgültig ermordet. Seine von all dem nichts ahnende Geliebte kommt dahinter und beschuldigt Ray, während Visser glaubt, das verliebte Paar sei hinter ihm her, was zu weiteren Verwicklungen und Wendungen führt. Das Bemerkenswerte und Ungewöhnliche dieses und späterer Coen-Filme ist eigentlich, dass das Netz der narrativen Beziehungen selbst für das in dieser Hinsicht schon immer geniale HollywoodSystem (Schatz, Th. 1989) zu filigran und komplex ist. Ferner ist das eigentliche Material für das damalige Hollywood auch außergewöhnlich absurd. Joel und Ethan Coen gelingt es jedoch, jedes vermeintlich wildwüch-

GESCHICHTE I 79 sige Detail am Ende als logisch und motiviert in die narrative Gesamtarchitektur des Films einzufügen. Seit BLOOD SiMPLE haben die Coen-Brüder in verschiedenen Konstellationen, im Rahmen größerer und kleinerer Produktionen mit den Hollywood-Studios zusammengearbeitet, darunter Filme wie u.a. RAlSlNG ARlZONA (1987), MILLER'S CROSSfNG (1990), BARTON FINK (1991), FARGO (1996), THE BTG LEBROWSKI (1998) und sind stets in dem Sinne >unabhängig gebliebenSynthese< bemüht: Wenn New Hollywood im ökonomischen Sinn (als Wiederbelebung der US·Studios) wie im postklassischen Sinn (als high-concept·Film mit visueller Durchschlagskraft) die nachdrückliche Umfunktionierung des Films und seiner textuellen Grenzen in ein Produkt mit verschiedenen Märkten und Erscheinungsformen betreibt, so könn· ten wir das neue (postmoderne) Epistem als eines definieren, das den Exzeß der ökonomischen Weiterverwertungsmöglichkeiten mit dem Exzeß des Textes und seiner vielen Bedeutungsebenen verbindet (Elsaesser, Th. 1998: 81 ).

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cinema« (2000: 63). Das Konzept bezeichnet nach Kramer allerdings keinen fundamentalen Bruch in der US-amerikanischen Filmgeschichte, sondern hebt letztlich die Bedeutung von ästhetischen und ökonomischen Transformationen in Hollywood hervor (vgl. ebd.). Das Konzept des "postmodernen« (Hollywood- )Kinos ist vor allem eines, das auf die formalästhetischen , narrativen und thematischen Veränderungen Hollywoods in den 1980ern und 1990ern abzielt. Erst später, nachdem das Konzept in anderen kulturellen Bereichen (Literatur, Architektur) international breit diskutiert wurde, fand es Eingang in die akademischen Diskurse der Filmwissenschaft, insbesondere in Deutschland (vgl. zur Diskussion u.a. Felix, J. 2002; Merschmann, H. 2000; Rost, A. /Sandbothe, M. 1998). Als ·Beschreibung< kultureller Phänomene reflektiert das Konzept »postmodernes Kino« u.a. eine Empfänglichkeit für die neuen Reize elektronisch erzeugter Bilder, eine Faszination dieses Kinos für seine eigene Künstlichkeit, verbunden mit der textuellen Ausstellung dieser Künstlichkeit; ferner ein mitunter ausgiebig zelebriertes Spiel mit intertextuellen Anspielungen und Zitaten auf andere Filme und Medien (wie Comic, Werbung u.a.), sowie das Phänomen von Doppelkodierungen dieser postmodernen Film(-texte), die besonders anschlussfähig sind für sehr unterschiedliche Dekodierungsweisen, sowohl für die •naive< Rezeption als auch für die kennerhafte Entschlüsselung des Spiels mit den Anspielungen; weitere •Merkmale' des postmodernen Kinos sind die Auflösung der Trennung von Kitsch und Kunst, sowie - in inhaltlicher Hinsicht - die thematische Konzentration auf Stoffe, in denen z.B. synthetische Körper eine prominente Rolle im Film spielen, wie z.B. in The Matrix (1999, R. : Andy Et Larry Wachowski), Terminator 2 - Judgement Day (1991, R.: James Cameron) oder FACE OFF (1997, R.: John Woo) (vgl. Schreckenberg, L 1998). Das industriell orientierte Konzept des postfordistischen Kinos bezieht sich vor allem auf die Konsequenzen des Endes der vertikal integrierten und fabrikartigen Produktionsweise von Filmen des .. studiosystems" , u.a. bedingt durch das Entflechtungsurteil von 1948, sowie den Übergang zu einer eher •fragmentarisch-individuellen < Paketproduktionsweise, deren postfordistische Charakteristik darin besteht, dass kleinere Mengen an Filmen von eher spezialisierten Produzenten hergestellt werden (vgl. u.a. King, G. 2002: 5ff .).

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Dieser Versuch alleine reicht natürlich nicht aus, um die komplexen Konzepte aufeinander zu beziehen. Als Orientierungsmarke ist Eisaessers Zitat aber sicherlich hilfreich. Ob nun ästhetischer oder industrieller, postklassischer oder postfordistischer Diskurs, in aller Regel wird dabei mitgedacht, dass ein solcher New Hollywood-Diskurs nicht monolithisch betrachtet werden kann, sondern in enger und wechselseitiger, ja dialektischer Beziehung zu verschiedenen soziokulturellen und historischen Kontexten steht (vgl. King, G. 2002: 2). Auch in der zeithistorischen Verortung New Hollywoods unterscheiden sich die Konzepte zwar durchaus, herauskristallisiert haben sich aber zwei bzw. drei dominante Versionen historischer Verortungen: Eine Version des New Hollywood wird häufig als »Hollywood Renaissance« bezeichnet und umfasst ungefähr die Zeit von Mitte/Ende der 1960er Jahre bis ca. Mitte/ Ende der 1970er (vgl. ebd.: 3, 11 f.). 5 Gemeint ist damit jene Ära Hollywoods, die eng assoziiert ist mit dem Aufkommen und dem Erfolg der Movie Brats und der Filmhochschulgeneration. Darüber hinaus wird seit den 1980ern eine Variante New Hollywoods unmittelbar mit dem typischen Erscheinungsbild und der Produktionsweise von Hollywood-Blockbustern im Zeitalter der globalen Medienkonglomerate in Verbindung gebracht. Schließlich ein drittes Begriffskonzept, das beide anderen einschließt und nahezu die gesamte Nachkriegsperiode einbezieht und u.a. die herausragende Bedeutung des Entflechtungsurteils des supreme courts gegen Paramount von 1948 berücksichtigt (vgl. Kap. 4). Stellt man die (engeren) Konzepte der New Hollywood >Version I< und >Version II< einander gegenüber, so stehen sie zwar nicht vollständig, aber doch signifikant in Opposition zueinander. Während die »Hollywood Renaissance« vor allem als Phase einer ästhetisch-stilistischen, erzählerischen oder allgemeinen kulturellen Erneuerung bzw. Transformation (kritisch) gewürdigt wurde bzw. wird, repräsentieren die globalen New Hollywood-Blockbuster eher ein kommerziell >aufgeladenesKerngeschäft< Film operieren sie - im globalen Maßstab - insbesondere im Fernseh- und Musikgeschäft Außerdem besitzen sie in den USA signifikante Anteile auf dem Pay-TV-Markt und im Buch- und Magazinmarkt Robert C. Allen (1999) vertritt die These, dass das Hollywood-Kino »[ ... ] - the institutional, cultural and textual apparatus we ha ve known since the 191 Os« tot sei, und zwar seit Ende der 1980er (Allen, R.C. 1999: 121). Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hollywood in erster Linie Filme ftir das Kino hergestellt. Andere Märkte wie das Fernsehen waren deutlich nachgeordnet Dies, so Allen, sei im derzeitigen New Hollywood anders. In der gegenwärtigen Medienkultur werden Filme nicht mehr in erster Linie im Kino konsumiert. Andere Auswertungsfenster bzw. Geschäftsbereiche wie Video/DVD, TV, Themenparks, Computerspiele etc. haben seit den 1980em immer mehr an Bedeutung gewonnen. Tatsächlich ist das Filmgeschäft nur noch ein Unterhaltungssektor unter vielen, in denen die Majors operieren (vgl. Dale, R. 1997: 9). Neben der beschriebenen vertikalen Integration haben die Hollywood Studios über Jahrzehnte einen Prozess der horizontal orientierten Marktbeherrschung vorangetrieben (horizontale Integration), indem sie die Anhindung und Vereinnahmung der nachgelagerten Märkte realisierten, um auf 13 Zur Zeit des Paramount-Urteils hatte man dies offensichtlich noch nicht erkannt, denn die Oligopolistische Struktur der Majors konnte mit dem erzwun· genen Verkauf der Kinoketten lediglich geschwächt werden - die Einschränkung der Kontrolle über den Vertrieb von Filmen wäre zweifelsohne effektiver gewesen. 14 Der Hollywood-Blockbuster steht ferner (wie andere Hollywood-Filme auch) am Anfang einer Verwertungskette, deren grundsätzlicher Ablauf zunächst die Veröffentlichung im Kino, dann auf Video, dann via pay-per-view und letztlich im broadcast und basic cable television vorsieht. Jedes " Fenster" dieser »Sequenz" ist exklusiv und ein neues Fenster wird erst eröffnet, wenn der Wert der vorherigen ausgeschöpft ist (vgl. Gomery, D. 2000: 360).

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diese Weise maximale Synergieeffekte zu erreichen. Eine wesentliche Voraussetzung für diesen Prozess war die forcierte Schaffung von Medienkonglomeraten wie Disney/ABC, AOL Time Warner oder Vivendi Universal durch zahlreiche Aufkäufe und Fusionen in den verschiedenen Sparten der globalen Unterhaltungsindustrie. Dieser Prozess der Konglomeration ist allerdings kein Phänomen der 1990er, sondern in Hollywood schon seit Jahrzehnten zu beobachten. 15 Schon lange sind daher die Einnahmen aus einzelnen ancillary markets höher als die Einnahmen an der einheimischen Kinokasse. Bereits 1992 machten die US-Kinoeinnahmen nur noch 25% der Studioeinnahmen aus, 1980 waren es noch 80%. Ein Großteil der US-Bevölkerung schaut sich Filme mittlerweile auf Video oder DVD an. Häufig fängt das ökonomische Leben eines Films heutzutage in Form von Spielzeugen und als Bilder auf Nahrungsmittelverpackungen vor seiner Kinolaufzeit an und endet in Form von Videos und Computerspielen lange, nachdem der Film die Leinwände der Multi- und Megaplexe wieder verlassen hat (vgl. Allen, R.C. 1999: 122).

5.1.4 Blockbuster Trotz der kommerziellen Bedeutung der so genannten angrenzenden bzw. nachgelagerten Märkte ist der Blockbuster nach wie vor insbesondere auch in kommerzieller Hinsicht immer noch eine wesentliche Schlüsselplattform, die quasi als Ausgangspunkt für die anderen Märkte fungiert (vgl. Allen, R.C. 1999: 123). Er ist das zentrale Verbindungsstück im komplizierten Gefüge Hollywoods und der globalen Medienkultur. »Ün the face of it, it is the blockbuster in its contemporary form that combines (in the most exemplary but also the most efficient form) the two systems (film-as-production/cinemaas-experience), the two Ievels (macro-level of capitalism/micro-level of desire), and the two aggregate states of the cinema experience (commodity/service)« (Elsaesser, T. 2001a: 16). Was charakterisiert einen Blockbuster, fragt Eisaesser und benennt folgende Merkmale: First, a big subject and a big budget (world war, disaster, end of the planet, monster from the deep, holocaust, death battle in the galaxy) . Second, a young male hero, usually with lots of firepower, or secret knowledge, or an impossibly difficult mission. The big movie is necessarily based an traditional stories, sometimes against the background of historical events, more often a combination of fantasy or sci-fi, with the well-known archetypal heroes from Western mythology an parade. ln one sense, this makes blockbusters the natural, that is, technologically more evolved, extension of fairy tales. ln another sense, these spectacle »experiences", these "media events«, are also miracles, and not at all natural. Above all, they are miracles of engineering and industrial organization. They are put tagether like supertankers, aircraft carriers or skyscrapers, office blocks, shopping malls. They resemble military campaigns, and that's one of the main reasons they cost so much to make. (Ebd. : 17)

15 1962 erwarb beispielsweise MCA (Music Corporation of America) die UniversalInternational Studios. 1966 kaufte Gulf+Western Paramount, 1967 integrierte die Bank of America United Artists über ihre Tochter Transamerica Corporation und ebenfalls 1967 verkaufte Jack Warner Warner Brothers an die kanadische Produktions- und Verleihfirma Seven Arts und Warner Brothers wurde in Warner Bros-Seven Arts unbenannt.

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Wie aus Tabelle 5 ersichtlich wird, betragen die Herstellungskosten eines Films der großen Hollywood-Studios gegenwärtig im Durchschnitt 50 - 60 Millionen US-$. 2003 waren es 63,8 Millionen US-$, gegenüber 11,9 Mio. US-$ im Jahr 1983. Dies dokumentiert deutlich den signifikanten Anstieg der Herstellungskosten, der nicht zuletzt auf die immer üppigeren Stargehälter zurückgeführt werden kann, aber auch auf die Investitionsbereitschaft in stetig aufwändigere Produktionswerte wie Spezialeffekte. Bei den Tochtergesellschaften der Majors sind es im Jahr 2003 bereits 46,9 Mio. US$ gegenüber 18,4 Mio. US-$ im Jahr 1999 (MPA Worldwide Market Research 2003a: 19). Hieran zeigt sich, dass die specialty-, classics- und >indie-fache seiner Produktionskosten im Kino einspielen muss, bevor er als kommerzieller Erfolg gewertet werden kann (1988: 172). Viel Zeit, um an der Kinokasse entsprechend hohe Summe einzuspielen, haben Hollywood-Filme nicht - Laufzeiten im Kino von über sechs Wochen sind die Ausnahme. Alleinaufgrund der astronomischen Budgetziffern dürfte ersichtlich sein, dass bei Nicht-Erfolg eines Films die Verluste ebenfalls beträchtlich sind. Tatsächlich können die meisten Blockbuster-Kandidaten ihre Kosten auf dem inländischen Kinomarkt nicht wieder einspielen. Das ist leicht nachzuvollziehen: Die Gesamtkosten eines Kinostarts im Jahr 2003 (theatrical costs) der MPPA-Majors (ohne die Tochtergesellschaften) betragen - wie bereits erwähnt - im Durchschnitt I 00 Millionen US-$. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass ein Verleih >nur< ca. 50% - über die Gesamtlaufzeit eines Filmes gerechnet - der Einnahmen an der Kinokasse behält. Darüber hinaus sind häufig Stars und Regisseure in Form so genannter »backend deals« prozentual an den Bruttoeinnahmen des inländischen Marktes beteiligt, mitunter bis zu 20%?4 Spielt ein Film der Majors, dessen Kinostart-Kasten 100 Millionen US-$ betragen, etwa 200 Millionen US-$ auf dem nationalen Kino-Markt ein, bleibt von den Einnahmen nach Abzug des Anteils der Kirrobetreiber von 50% (auf die Gesamtlaufzeit des Films im Kino gerechnet) für den MajorVerleih nichts übrig. Abzüge aufgrund der oben genannten backend deals nicht mitgerechnet. Von den insgesamt 120 in den Kinos veröffentlichten Filmen der Major-Studios (ohne Tochtergesellschaften) im Jahr 2003 überschritten jedoch gerade mal fünf Filme die 200 Millionen US-$-Grenze: FTNDTNG NEMO, PIRA TES OF THE CARIBBEAN: THE CURSE OF THE BLACK PEARL (R.: Gore Verbinski), THE MATRIX RELOADED (R.: Andy und Larry Wachowski), BRUCE ALMIGHTY R.: Tom Shadyac) und X2 (R.: Bryan Singer). Allein diese fünf Filme machen aber 18% (ca. I, 7 Milliarden US-$) der Gesamteinnahmen auf dem inländischen Kinomarkt aus. Weitere 15 Filme konnten immerhin mehr als 50 Millionen US-$ einspielen, was rund 21 % (1,7 Milliarden US-$) der box office-Einnahmen entspricht. Doch die Aussicht auf gigantische Einspielrekorde im Kino, die wie etwa bei TITAN!C weltweit bereits längst die Grenze von einer Milliarde US-$ überschritten haben, lässt Misserfolge schnell und gerne vergessen? 5 Die Gefahr des Scheiterns ist relativ groß: lf a movie opens well, the stock goes up. Opening weekend grosses have become so important that unless the picture opens well it is considered a failure. Paramount executive John Goldwyn says of the studios: •We all know we can pretty much determine what your picture will do overall based on your opening weekend•. William Mechanic, chairman of Fox Filmed Entertainment, went a step 24 Häufig verzichten Starschauspieler im Gegenzug auf einen Teil ihrer Gage. 25 Titanic hat weltweit Einnahmen in Höhe von ca. 1,8 Milliarden US-$ (nicht inflationsbereinigt) im Kino eingespielt.

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further: ·Unfortunately, it' s reached a point where your fate is written after the first matinee in New York.• The public has bought into this •opening weekend • mentality in a big way, in part because the press calls such attention to the top· ten box office grosses. (Goodell, G. 1998: 350)

Die Studios müssen also ihre Vermarktungsstrategien so konfigurieren, dass ein Film bis zum Kinostart maximale Beachtung erreicht. Dies erfordert einen erheblichen Aufwand an Marketingmaßnahmen, um im richtigen Moment ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu erzeugen, bevor der Start des nächsten Blockbusters diese wieder abzieht. Ein nicht unerheblicher Vorteil der Strategie des so genannten >to-open-bigWerkzeugeOne stop< shopping. lf a studio chief likes a project he will put up the entire production and marketing budget. The disad-

27 Martin Dale liefert in The Movie Game eine gute Übersicht der Risikomanagementstrategien Hollywoods (1997: 21ff.).

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vantage is that thousands of people are competing for the same scarce resources« (Dale, M. 1997: 41). Die Studios finanzieren ihre Projekte teilweise aus Profiten, teilweise durch ihre Muttergesellschaften, sowie über Banken wie City National, Chase National oder die Bank of America, die seit vielen Jahren mit den Hollywood-Majors Geschäfte machen. Independent-Filmemacher haben dagegen selten die Möglichkeit, ihre Filmprojekte durch Banken zu finanzieren. Obgleich es hier Ausnahmen gibt: Janet Wasko weist daraufhin, dass z.B. die Comerica Entertainment Group zwischen 2000-2002 sehr aktiv in der Finanzierung unabhängig produzierter Filme war (2003: 34). Ansonsten sind Indies oft gezwungen, ihre Finanzierung über pre-sales an andere distribution outlets wie TV- networks, pay cable channels oder Video/DVD-Firmen sicherzustellen, sei es im in- oder ausländischen Markt, häufig im Austausch für das Recht, den Film als Erster zu zeigen. Tatsächlich »stellt die Verhandlung regional oder auch medial (Video, TV) fraktionierter Distributionsrechte (jractionalisation) eine der wichtigsten Ressourcen zur Finanzierung unabhängiger Filmproduktionen dar« (Blanchet, R. 2003: 95). Relevante US-Anbieter sind in diesem Bereich Firmen wie Franchise, Alliance oder die deutsche Intermedia. Die meisten >Unabhängigen< Produzenten von Major-pick-ups bevorzugen gegenwärtig jedoch Kooperationsverträge bzw. output deali8 mit den Major-Verleih firmen, wie z.B. New Regency bei Fox, Imagine und Mandalay bei Universal oder Morgan Creek bei Wamer Bros. (ebd.: 959). Weitere Finanzierungsquellen von Indies können darüber hinaus Merchandising- oder Product Placement-Deals sein. Im Fall des Independent-Films STAND AND DELIVER (1988, R.: Rarnon Menendez) kam das Geld für das Budget von 1,37 Millionen US-$ aus verschiedenen Quellen: Corporation for Public Broadcasting, American Playhouse, ARCO Corporation, National Science Foundation, Ford Foundation sowie durch einige product placement-Verträge. Nach Dale ist ein »independent filmmaker [.. ] ultimately dependent on the commissioning criteria of third parties - the Majors, the indie distributors, direct-to-video and foreign sales - but tries to avoid being locked into one financing source. Independents must therefore be more inventive and single-minded than >one-stop< shoppers« (1997: 94). Unabhängig produzierte US-Filme werden also typischerweise von den Majors oder den semi-independents verliehen, auch im Ausland, dort aber zudem durch lokale Verleihfirmen wie z.B. Constantin Film in Deutschland (vgl. Blanchet, R. 2003: 95). Ein großes Problem des gegenwärtigen art house-Independent-Films besteht darin, dass viele Finanzierungsstrategien, die unabhängige Produzenten über die Jahre erfolgreich in Anspruch genommen haben, nicht mehr funktionieren. Dazu gehört beispielsweise der Femsehmarkt. Der internationale Film ist vor allem auch ein Fernsehgeschäft Vor allem die Einführung des privatwirtschaftliehen Fernsehens hat die Marktsituation für viele art hause-Filme insbesondere in den 1990em nach Einschätzung von Wouter Barendrecht, Präsident der in Hong Kong ansässigen, internationalen Handels- und Vertriebsfirma Fortissimo Film Sales, deutlich verschärft, denn die Privatsender z.B. in Deutschland interessieren sich nicht für die

28 Ein output deol ist ein Lizenzvertrag über alle Produktionen, die in einem bestimmten Zeitraum von einem Filmproduzenten bzw. Studio produziert werden.

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klassischen art hause-Filme, sondern in erster Linie für die typische Mainstream- bzw. Blockbuster-Ware Hollywoods, die erfahrungsgemäß bessere Einschaltquoten erzielt. Die kommerzielle Orientierung der Privaten hat auch Einfluss auf die Programmpolitik der public broadcasters, die in Deutschland oder England mit den privatwirtschaftlich organisierten Sendern um die Einschaltquoten konkurrieren und daher ebenfalls primär auf konventionelle Mainstream-Ware setzen (vgl. Barendrecht, W. zit. n. Schamus, J. 2002: online). Dies hat wiederum Einfluss auf die Verleihpolitik der Vertriebe, und auf die Produktion und Finanzierung von Filmen. Ohne die finanziellen Mittel, die durch den Vorverkauf internationaler Filmrechte generiert werden, ist es gerade bei teureren Independent-Produktionen schwierig, Banken dazu zu bewegen, in solche Produktionen zu investieren. Während bestimmte Formen der Filmfinanzierung komplizierter geworden sind und an Bedeutung verlieren, haben andere Formen plötzlich wieder Konjunktur, dazu zählt gegenwärtig verstärkt die traditionelle Investitionsressource des privaten Beteiligungskapitals. Mittlerweile finanziert eine Reihe von Individuen, von denen viele im Computer- und Internet-Business reich geworden sind, ihr Eigenkapital in unabhängige Filmproduktions- und Distributionsfirmen. So hat Alliance Atlantis-Gründer Robert Lantos unlängst Millionen in den jungen Independent-Filmverleih ThinkFilm gesteckt. Auf der Produktionsseite ist z.B. Microsoft-Gründer Paul Allen umfangreich an der Independent-Firma Vulcan Entertainment beteiligt, ebay-Mitbegründer Jeffrey Skoll an Ovation, Fred Smith (FedEx) an Alcon Entertainment sowie Roger Marino, ebenfalls ein Multimillionär der Computerbranche, an Revere Pictures (Pinsker, B. 2003: online). Nach eigenem Bekunden besteht die Motivation für die Investitionen im Independent-Filmbereich weniger in der Aussicht, dass man noch reicher wird, denn dafür bieten sich andere Investitionsbereiche weitaus besser an. Vielmehr geht es den Beteiligten offensichtlich eher um nicht (unmittelbar) finanzielle Motive wie z.B. Prestige. Oder wie Morgan Rector, Präsident der Comerica Entertainment Group, es ausdrückt: »it's like buying a sports team for them«. (Rector, M. zit. n. ebd.). Die Major-Produktionsfirrnen konzentrieren mittlerweile ihre Ressourcen im Wesentlichen auf zwei Typen von Filmen: kostspielige high conceptEvent-Filme und Debütfilme von Regisseuren oder Jungstars. Allein im Sommer 2004 liefen im US-Kino 15 Regiedebütfilme an, darunter Zack Snyders DAWN OF THE DEAD-Remake und DOUDGEBALL- A TRUE UNDERDOG STORY des Regieneulings Rawson Marshall Thumber. Derzeit lautet das Credo der Verantwortlichen, dass billig produzierte und/oder experimentierfreudige Filme eher in der Lage sind neue Publikumsschichten zu erreichen und derartige Filme aufgrund des geringeren finanziellen Risikos auch viele Blockbuster-Flops kompensieren. Wohingegen Blockbuster gleichsam als »tent poles« der Industrie fungieren, allerdings kaum deren Publikum erweitern (vgl. Lane, Ch. 2000: 31 ). Darüber hinaus sind jedoch die Einnahmen aus den ein bis zwei Blockbuster-Hits, die jedes Studio in einem Jahr vorzuweisen hat, in der Lage, einen großen Teil der laufenden Studio- und Entwicklungskosten sowie der Verluste abzudecken. Die gegenwärtigen industriellen Strategien und Produktionsweisen der Majors sind derart erfolgreich, dass sie ein kommerzielles Rekordjahr nach dem Anderen verbuchen können. Tatsächlich sind es die 1990er Jahre, die in kommerzieller Hinsicht als die goldene Ära Hollywoods bezeichnet werden müssen. Und, falls der Trend anhält, wird das erste Jahrzehnt des neuen Jahr-

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tausendsnoch erfolgreicher sein als die 1990er. So beliefen sich im Jahr 2002 die Einnahmen an der US-Kinokasse laut den MPA Market Statistics auf 9,5 Milliarden US-$, gegenüber dem Vorjahr, eine Zunahme von 13,2% und gleichzeitig der höchste Jahr-zu-Jahr-Anstieg seit über 20 Jahren. Aber auch aus einer zeitlich längeren Perspektive betrachtet, sind die Einnahmen beachtlich. 1982 betrugen die Einnahmen mit 3,5 Milliarden noch 6 Milliarden US-$ weniger (ebd.: 2ff.). 2003 verzeichneten die US box office-Einnahmen keinen weiteren Zuwachs, waren indessen immer noch mit 9,49 Milliarden US-$ fast auf dem Rekordstand des Vorjahrs (vgl. MPA Worldwide Market Research 2003a: MPA Market Statistics, 3).

5.1.6 US-Kinos in der Multiplex-Ära Trotz der beachtlichen Kinoeinnahmen, die die Filmindustrie vorzuweisen hat, ist die Zahl der durchschnittlichen wöchentlichen Kinobesuche dennoch seit Mitte der 1960er Jahre relativ unverändert gering. Prozentual auf die gesamte US-Bevölkerung übertragen, bewegt sie sich auf einem Niveau von ca. 10%. So sind beispielsweise im Jahr 2000 pro Woche 27,3 Millionen USBürger ins Kino gegangen (d.h. 9,7% der US-Bevölkerung). 1930 waren es beispielsweise noch 80 Millionen (ca. 65% der damaligen Bevölkerung) (vgl. Pautz, M. 2002: online). Insgesamt gingen im Jahr 2003 in den USA 167,6 Millionen Zuschauer ins Kino. 35% davon sind regelmäßige bzw. häufige Kinogänger, d.h. gehen einmal pro Monat ins Kino, 50% gehen gelegentlich, d.h. alle sechs Monate mindestens ein Mal ins Kino, 15% sind unregelmäßige Kinogäuger (vgl. MPA Worldwide Market Research 2003b: U.S. Movie Attendance Study, 1). Die 1990er Jahre erlebten ferner eine gewaltige Expansion von Kinos mit einer großen Anzahl von Leinwänden, die nunmehr Megaplex-Größe29 erreicht haben (16 Leinwände aufwärts). 1980 waren es noch 17.590. Im Jahr 2000 betrug die Gesamtzahl der Leinwände in den USA 37.396 (vgl. MPA Worldwide Market Research 2002: MPA Market Statistics, 23f.). Das sind 13.707 mehr als zehn Jahre zuvor, keine Dekade zuvor weist einen ähnlichen Anstieg auf (Pautz, M. 2002: online). Vor dem genannten Hintergrund, dass sich die Häufigkeit des wöchentlichen Kinobesuchs der US-Bürger kaum verändert (vgl. auch Blanchet, R. 2003: 128), ist diese Situation für den Kinomarkt allerdings recht prekär. Aufgrund dieser Überversorgung an Leinwänden bzw. Kinos mussten binnen kürzester Zeit acht große Ketten (darunter Carmike Cinemas, General Cinemas, Loews und United Artists) ihren Bankrott erklären (vgl. ebd.). Insgesamt wurden im Zeitraum von 1999 bis 2002 ca. 1500 Kinos geschlossen. Entsprechend ging auch die Gesamtzahl der verfügbaren Leinwände in den US-Kinos zurück (2001 : 36.764; 2002: 35,280). 2003 ist wieder ein leichter Zuwachs zu verzeichnen. Der Stand im Jahr 2003 betrug 35.786 Leinwände, was einem prozentualen Anstieg von 1,4% gegenüber dem Vorjahreswert entspricht. Diese verteilen sich auf insgesamt 6066 Kinos, Autokinos mitgerechnet (vgl. MPA Worldwide Market Research 2003a: MPA Market Statistics, 23).

29 2002 gab es in den Vereinigten Staaten 474 derartiger Kinos, 2003 waren es schon 490 (vgl. MPA Worldwide Market Research 2003a: MPA Market Statistics,

26).

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In ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Beziehung zu den Kinounternehmen und -ketten haben die Studios sichergestellt, dass sie es sind, die in der ersten Laufzeit eines ihrer Filme die Majorität der Kinoeinnahmen erhalten. So gehen insbesondere bei Blockbuster-Produktionen ca. 90% der Bruttoeinnahmen direkt an den Verleih, die restlichen 10% an den Kinobetreiber, allerdings erst nach Abzug einer ausgehandelten Pauschale für operative Kosten seitens des Kinobetreibers, die als Hause Allawance bezeichnet wird. Darüber hinaus existieren so genannte Minimum Flaars, ein periodisch aufgeschlüsselter Mindestbeteiligungssatz des Verleihs an den laufenden Kinoeinnahmen, wenn der Basissatz der 90/10-Aufteilung nach Abzug der Hause Allawance zwischen Verleih und Kinobetreiber nicht erzielt werden kann. Der Verleih sichert sich damit gegen Verluste bei geringen Einspielergebnissen eines Films ab. Typischerweise sieht ein solcher Aufteilungsschlüsselder Minimum Flaars so aus (vgl. Blanchet, R. 2003: 99): 1st through 2nd week 70% 3rd week 60% 4th week 50% 5th week 40% 6th week und danach 35% Die Festsetzung der Minimum Flaars ist grundsätzlich variabel. Je nachdem, ob der Film hohe Einspielergebnisse bzw. Ticketverkäufe erwarten lässt, ist die Beteiligung des Verleihs zu Beginn der Laufzeit eines Films höher oder niedriger. Die hohe Beteiligung des Verleihs am Anfang der Laufzeit eines Films geht darauf zurück, dass Filme in dieser Phase heutzutage die höchsten Einnahmen erzielen. Was zunächst nach einer erdrückenden Dominanz der Verleihfirmen gegenüber den Kinobetreibern aussieht, relativiert sich jedoch in der >Gesamtsichtgroßen< Übernahmen der 1990er waren keineswegs >feindliche ÜbernahmenMainstreamisierung< des Independent-Sektors wurde gleichsam materiell/formal evident durch den Aufkauf von Miramax durch Disney im Jahre 1993 sowie durch den Erwerb von New Line durch Ted Turners News Corporation 1994. Bald darauf zogen die anderen sechs großen HollywoodStudios nach, indem sie ebenfalls Independent-Firmen, wie beispielsweise Universal 1997 October Films, aufkauften oder ihrerseits eigene >IndependentService-Netzwerk< des Independent Film Charme! (IFC) der Rainbow Media Holdings LLC, die wiederum eine Tochtergesellschaft der Cablevision Systems Corporation ist.

5.2.6 Miramax und New Line Cinema Dass Miramax und New Line zu den wenigen Independent-Firmen gehörten, die gegen Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre nicht sang- und klanglos untergingen, sondern sich im Gegenteil bis heute erfolgreich behaupten konnten, gelang ihnen laut Justin Wyatt vor allem durch zwei wesentliche Produktionsstrategien - Franchising und aggressives Marketing bzw. Publicity (Wyatt, J. 1998: 87). New Une Cinema und »Franchising" Zunächst war New Line Cinema, das 1967 von Robert Shaye gegründet wurde, eine Vertriebsfirma, die sich auf den special event-Markt von Colleges spezialisiert hatte. Erst 1973 entschloss sich Shaye, auch einen Kinovertriebszweig zu etablieren. Schwerpunkt der Vertriebspolitik waren zunächst anspruchsvolle europäische Filme für den art house-Markt, so Claude Chabrols LES NOCES ROUGES/WEDDTNG IN BLOOD (F/1 1973), Pier Paolo Pasolinis PORCILE/PIGPEN (F/1 1969) und Eric Rohmers DIE MARQUISE VON 0 .../THE MARQUISE OF 0 ... (BRD/F 1976), Trash-Filme wie PTNK FLAMINGOS von John Waters (1972) oder Horrorfilme wie Tobe Hoopers THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (1974) (vgl. Wyatt, 1. 1998: 68). Bevor diese Filme in größerem Umfang in den Kinos anliefen, wurden sie zunächst meist nur auf der Mitternachtsschiene in Repertoire-Kinos gezeigt, woraus sich, wie u.a. J. Boberman & Jonathan Rosenbaum in ihrem Buch Mitternachtskino. Kultfilme der 60er und 70er Jahre (1998) nachzeichnen, ein regelrechter Kult entwickelte. Ab ca. 1974 umfasste die Vertriebspalette aus dem Hause New Line sowohl fremdsprachige, Sexploitation- und gay-Filme als auch RockDokumentationen und so genannte »Midnight Specials«. Ziel dieser Vertriebspolitik war es die Märkte zu bedienen, die von den Majors vernachlässigt wurden und sich von dem eher traditionellen Mainstream-Film so weit wie möglich abzugrenzen (Wyatt, J. 1998: 76). 1978 stieg New Line schließlich zunächst in begrenztem Rahmen auch in den Produktionssektor ein, was - wie Wyatt nachweist - hauptsächlich zwei Gründe hatte: Einerseits hatte sich mit der zunehmenden Etablierung des art films die Konkurrenzsituation verschärft, da immer mehr Vertriebsfmnen auf den

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Markt traten und die Preise für die Filme in die Höhe schnellten, was New Line dazu veranlasste, Geld in Vor-Produktionsvereinbarungeil (preproduction-deals) zu investieren, um sich nach Fertigstellung des Films die jeweiligen Verleihrechte zu sichern. Andererseits war Shanes Entscheidung, in den Produktionssektor zu wechseln auch dadurch motiviert, dass zunehmend mehr Geld durch das Fernsehen, aus dem Ausland und durch weitere Nebenmärkte verfügbar war (ebd.: 77). Innerhalb der nächsten Dekade erweiterte New Line seine Vertriebspolitik durch so genannte pick up deals 37 , indem sie langfristige Allianzen mit Filmproduktionsfirmen, beispielsweise mit der britischen Produktionsfirma W orking Title Productions, einging (ebd.). Besonderen Erfolg hatteNew Line mit Wes Cravens A NtGHTMARE ON ELM STREBT (1984). Der low budget-Exploitation-Horrorfilm spielte bei Herstellungskosten von 1,8 Millionen US-$ in den USA mehr als 25 Millionen US-$ ein. Noch höhere Gewinne erzielten die nachfolgenden Sequels, bisher sechs, zuletzt NEw NIGHTMARE (1994, R.: Wes Craven). Entscheidend ist, dass die Einnahmen nicht sofort in weitere Produktionen reinvestiert wurden, sondern zunächst in die Firma zurückflossen (ebd.). Den Erfolg der NTGHTMARE-Reihe konnte New Line noch überbieten durch einen der erfolgreichsten Independent-Filme, der je realisiert wurde: TEENAGE MUTANT NTNJA TURTLES (1990, R: Steve Barron), der in den USA 135 Mio. US-$ einspielte. Bereits ein Jahr vor der Veröffentlichung des Films lizenzierten über 100 Firmen die Turtles, wodurch Merchandisingeinnahmen von ca. 350 Mio. US-$ zusammenkamen. Sofort nach Veröffentlichung fingen die Verantwortlichen an von den Turtles als Franchise zu sprechen und bereits im darauf folgenden Jahr wurde TEENAGE MUTANT NINJA TURTLES Il - THE SECRET OF THE ÜOZE (1991, R.: Michael Pressman) und später TEENAGE MUTANT NtNJA TURTLES III (1993, R.: Stuart Gillard) realisiert. Mit FranchiseFilmen sind besonders populäre Filme gemeint, deren inhärente Bestandteile (z.B. die zentralen Charaktere) sich nachhaltig für die lizenzrechtliche Auswertung auf den nachgelagerten Märkten (merchandise) und für Nachfolgeproduktionen eignen. Nach Wyatt erinnert New Lines Franchising an Paramounts Strategie in den 1980er Jahren, ihre Verleihplanung um kommerzielle >Zeltpfostenart hause hitsUnmoralischen< Charakters ohne PCA-Siegel herausgebracht. Die öffentliche Kontroverse trug auch hier dazu bei, dass die Komödie sowohl ein kommerzieller Erfolg und für drei Academy Awards nominiert wurde. Kurz darauf wurde eine zweite Preminger/United Artists-Produktion THE MAN WITH THE GOLDEN ARM (1955) ebenfalls ohne MPAA/PCA-Siegel herausgebracht und erwies sich gleichermaßen als Kinoerfolg (vgl. Balio, T. 1987: 61 ff.). Damit war die Theorie, dass ein Film ohne PCA-Siegel keinen Erfolg haben könnte, vorerst widerlegt (vgl. Merritt, G. 2000: 144). Ein anderes Beispiel, das Wyatt für die Übertragung von Exploitation-Marketingstrategien auf den art house-Sektor anführt, war die Vermarktung des Films READY TO WEAR (1994) von Robert Altman. Miramax bewarb den Film mit Aufuahmen, die der MPAA nicht zur Genehmigung vorgelegt wurden, was zu einer öffentlichen Debatte um das spärlich bekleidete Model Helena Christensen führte. Die MPAA reagierte, indem sie die Verwendung des Bildes innerhalb der Werbekampagne untersagte. Columbia allerdings benutzte das Foto weiterhin für die CD-Promotion des Soundtracks. Da diese den Aufruf »See the Movie« enthielt, handelte es sich für die MPAA eindeutig um eine Filmwerbung und man drohte, dem Film das R-rating zu entziehen. Miramax engagierte daraufhin den Staranwalt Alan Dershowitz und machte daraus erneut ein Marketing-Event und veranstaltete zehn Tage vor der Premiere des Films eine Pressekonferenz mit Christensen und Dershowitz (Wyatt, J. 1998: 83). Miramax hat es zweifelsohne auch dank der geschickten Marketingstrategien verstanden, sich erfolgreich im amerikanischen Filmgeschäft zu behaupten.

5.2. 7 lndies adaptieren Major-Strategien: Annäherung der Produktionsweise Produktions- und Finanzierungsstrategien Zur typischen Produktionsweise eines Independent-Films gehört, dass die Finanzierung nicht selbst geleistet wird, sondern durch äußere Quellen (Investoren, Förderungsprogramme etc.) erfolgt. Dieses klassische IndependentCharakteristikum haben die Majors verstärkt übernommen. Zur zentralen Produktionsstrategie >unabhängiger< Vertriebsfirmen wie Sony Picture Classics oder Gramercy zählt in erster Linie die Akquisition von Filmen, die bereits als fertiges Produkt erworben und dann distribuiert werden. Aufgrund der finanziellen Unterstützung der Majors konnten major-independents in den l990ern allerdings vermehrt auch Filme selbst produzieren oder kofinanzieren. Aber auch die classics division Fox Searchlight ist relativ stark im Bereich der Kofinanzierung tätig, ebenso die neuen Unabhängigen, z.B. Lions Gate und IFC Films mit FAHRENHEIT 9/ 11. Allgemein lässt sich hier konstatieren, dass sich die macro- und major-indies sowie die classic divisions auf der einen Seite und die Mainstream-Labels der Studios auf der anderen Seite in ihren Finanzierungsstrategien einander annähern. Ein weiterer Aspekt, der die Annäherung der größeren Indies und der Majors dokumentiert, ist, dass major-independents ebenfalls regelmäßig test

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screenings von Filmen durchführen und genauso wie die Majors Daten auswerten, die im Rahmen der intensiven Zuschauerforschung seitens der National Research Group erhoben werden. Um explizit den Mainstream-Filmmarkt zu bedienen, hat Miramax zudem mit Dimension Films ein Label gegründet, das ausdrücklich mit den Produkten der Majors konkurriert. Dimension Films ermöglicht auch die fiir den Mainstream-Markt typische Produktion von Sequels (SCREAM 1996, 1997, 2000; SPY KIDS 2001, 2002, 2003, SCARY MOVIE 2000,2001,2003, 2005). Distributionsstrategien Insbesondere die major-indies, aber auch macro-indies, operieren mit den fiir die Majors typischen Verleihstrategien des wide release. Diese Praxis tritt damit zu der für Indies (nach wie vor) typischen Verleihstrategie des platform release hinzu. Im Sinne des platform release wird der Film zunächst nur in einem begrenzten Umfang in Kinos gestartet, wobei der Distributionsgrad je nach Erfolg des Films mit zunehmender Laufzeit langsam erweitert wird. Nach Peter Biskind war indie marketing [ ...] as distinct from studio marketing as indie films were from studio films. Where studios spent freely an advertising, indies relied an publicity, which was free. Whereas studios practiced saturation booking and launched expensive campaigns that included massive TV buys, newspaper ads, radio, billboards, and so an, aimed at attracting as many people to as many theaters as possible in the shortest amount of time - usually the first weekend - indie distributors did the opposite. lnstead of taking the money and running, they understood that the first week was going to be the weakest, so they depended an good reviews and ward of mouth gradually to build an audience for films booked into lengthy engagements at few theaters. [ ...] Whereas the studios adhered to the law of large numbers, releasing a lengthy slate of pictures each year, gambling that a handful would break out while dumping the rest, indie distributors released few pictures, could ill-afford even a single flop, much less two or three, and consequently lavished tender loving care an each one (Biskind, P. 2004: 24f.)

Die Einschätzung von Biskind ist sicherlich etwas polarisierend, die Beschreibung aber in der Tendenz zutreffend. Man sollte allerdings etwas genauer differenzieren. So halten auch einige >lndies< wie Fine Line Features oder auch die Indie-Abteilung Sony Picture Releases gegenwärtig sehr wohl weiter an der Verleihpraxis des platform release fest. Kleinere Indie-Verleihfirmen ohne Studio-Verbindungen haben nach wie vor nicht die finanziellen Mittel für einen wide release. Was den Ausstoß von Filmen betrifft, verhält es sich gegenwärtig so, dass einige major-independent-Verleihfirmen sowie Verleihe der Majors wie Buena Vista, Sony oder Wamer Bros. jeweils zwischen 15 und 20 Filmen veröffentlichen. Bei Dreamworks SKG waren es 2003 allerdings gerade mal 6 Filme, beim Verleih MGM 12. Die meisten c/assics-Abteilungen der Majors veröffentlichen ca. 10 Filme pro Jahr als Kino-release. Lediglich Sony Pictures Classics hat 2003 18 Filme im Kino gestartet. Auch Lions Gate als macro-indie-Verleih brachte 2003 12 Filme im Kino heraus. Kleinere Independent-Verleihfirmen wie ThinkFilm, IDP oder New Yorker Films, deren Labels im Kern für den art house-Markt stehen, veröffentlichen je nach Größe ungefähr 5 Filme pro Jahr - die meisten eher noch weniger. Der Ausstoß an Kinofilmen von kleineren Indie-Verleihfirmen ist also nach wie vor gering, ebenso wie die Einnahmen an der Kinokasse.

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Vermarktung und Stars Independent-Firmen setzen bei der Auswahl von Projekten zunehmend auf ähnliche Produktionswerte wie die Majors und greifen auf etablierte Hollywood- bzw. Mainstream-Stars zurück. Der Einsatz von Stars soll Finanzierungs- und bessere Vermarktungsmöglichkeiten sicherstellen. Für die meisten Verantwortlichen im Independent-Geschäft ist die Beteiligung eines bekannten Hollywood-Schauspielers bzw. Schauspielstars überhaupt die conditio sine qua non, um einen Film zu finanzieren oder zu kaufen. Aber auch die Hollywood-Stars haben ein großes Interesse an Independent-Projekten und verzichten sogar auf einen Großteil ihrer sonst üblichen Gagen, um in Independent-Filmen, sei es aus Prestigegründen, sei es aus Interesse am Projekt, mitzuspielen. Dieses Phänomen ist nicht ganz neu. In den 1980em setzen größere Independent-Firmen explizit auf hochbudgetierte Star-Vehikel wie beispielsweise Carolco Motion Pictures mit Amold Schwarzenegger in TERMINATOR 2- JUDGEMENT DAY, Sylvester Stallone in der RAMBO-Serie, Mickey Rourke in ANGEL HEART (USNCAN/GB 1987, R.: Alan Parker). Allerdings waren die Produktionen der genannten Firmen etwa mit Actionund Thriller-Filmen deutlich auf den Mainstream-Markt ausgerichtet, was sich wiederum an deren Produktion von Sequels ablesen lässt (vgl. Kap. 4). Während der 1980er war die Mitwirkung von Hollywood-Stars in Independent-Filmen letzten Endes eher unüblich. Auch hier gibt es Ausnahmen: Matt Dillon hat z.B. 1986 in den Independent-Filmen NATTVE SoN (R.: Jerrold Freedman), in KANSAS (1988, R.: David Stevens) und in DRUGSTORE COWBOY (1989, R.: Gus Van Sant) mitgespielt. Mit dem Boom der 1990er hat die Präsenz von Hollywood-Stars in Independent-Filmen signifikant zugenommen: Ob Tom Cruise, Cameron Diaz oder Bruce Willis- nahezu jeder große Name Rallywoods findet sich in den Vor- und Abspännen von Independent-Filmen. Einige Schauspieler sind für ihre >Indie-Präsenz< regelrecht bekannt, z.B. Johnny Depp, Christina Ricci, Holly Hunter, Tim Robbins, Harvey Keitel oder Steve Buscemi. Anderen- wie John Travolta in PULP FrCTTON- haben Independent-Filme ein fulminantes Comeback beschert. Auch durch den Erfolg der Indies bei den Oscarverleihungen der letzten Jahre hat das Mitwirken in Independent-Filmen für Hollywood-Stars an Attraktivität gewonnen. Das gilt auch und insbesondere für die Academy Awards f"lir Actress in a Leading Rote. Seit dem Jahr 2000 wurden diese nahezu ausschließlich an Semi- oder IndependentProduktionen vergeben, darunter an zwei lesbische und einen ftm transgender-Charakter: 2000: Hillary Swank für BOYS DON'T CRY, 2002: Halle Berry für MONSTER'S BALL (2001, R.: Mare Foster), 2003: Nicole Kidman für THE HOURS (2002), 2004: Charlize Theron für MONSTER (2003 , R.: Patty Jenkins), einzige Ausnahme war 2001 Julia Roberts für ERIN BROCKOVICH (2001, R.: Steven Soderbergh), wobei Roberts' Rolle an Karen Silkwood (Meryl Streep) in STLKWOOD (1983, R.: Mike Nichols) erinnerte und Steven Soderbergh auch als Vertreter der Independent-Szene gilt. Die Verteilung bei den Actors in a Leading Role war genau umgekehrt, der einzige Academy Award für einen Independent-Film ging hier an Adrien Brody für THE PTANTST (2002, R.: Roman Polanski). So scheint der IndependentFilm einige der wenigen Chancen für Frauen zu bieten, sich in komplexen und eindrucksvollen Rollen zu präsentieren, während sie im MainstreamFilm Rallywoods meist immer noch die Schauspieleein neben dem Hauptdarsteller sind.

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Jenseits der verstärkten Präsenz von Hollywood-Stars in IndependentFilmen haben viele bekannte Hollywood-Schauspieler insbesondere seit den 1970er Jahren eigene Produktionsfirmen gegründet, um solche Filmprojekte, die sie kommerziell und/oder künstlerisch reizvoll fanden, außerhalb des Studiosystems oder in Kooperation mit den Majors, zu produzieren oder bei diesen Filmen Regie zu führen. Neben der besseren künstlerischen Kontrolle etwa hinsichtlich der Entwicklung von Drehbüchern und Rollen, hat die Existenz einer eigenen Produktionsfirma steuerliche Vorteile, z.B. was die Verrechnung von Annehmlichkeiten wie Privatjets, Chauffeuren, usf. betrifft. Außerdem verdienen die Stars gleich mehrfach- als Schauspieler, Produzent und ggf. als Regisseur, Autor. Mittlerweile besitzen die meisten HollywoodStars Produktionsfirmen: Jodie Foster gehört Egg Pictures, Kevin Spaceys Produktionsfirma heißt Trigger Street Productions, George Clooney hat kürzlich gleich zwei Firmen ins Leben gerufen: Left Bank flir Kinofilme und Mirador Entertainment für den IV-Sektor, Tom Hanks Produzenten-Aktivitäten laufen über seine Firma Playton Pictures, Julia Roberts fUhrt eine Firma namens Shoelace usf.

Horizontale und vertikale Integration bei den lndies Viele Independent-Firmen schließen Verträge mit anderen Firmen ab oder etablieren eigene divisians, um wie die Majors das wirtschaftliche Potenzial angrenzender Märkte für sich auszunutzen. Aber auch Firmen wie Lions Gate operieren nicht nur im Film-, sondern auch im TV- und Verleihgeschäft. Nahezu jeder Indie(-Verleih) nutzt gegenwärtig die Möglichkeiten der Auswertung und Vermarktung seiner Produkte in Form von TV, Video, Musik oder Buch. Wenn keine eigene Abteilung vorhanden ist, greift man auf die Distributionsschienen der Major-Studios zurück (vgl. Tschütscher, D. 2004: 117). Grundsätzlich ist die Möglichkeit der Nutzung angrenzender Märkte aber begrenzt, weil sich auf Irrdie-Filme im Stil der klassischen art hause-Filme nicht unbedingt Franchise- und ähnliche Vermarktungsstrategien anwenden lassen. Sequels wie »About Schmidt 2« oder »The English Patient 3« sind kaum vorstellbar. 39 Auch die Auswertungsmöglichkeiten von art hause-Filmen auf dem Markt der Computerspiele dürften eher gering sein. Umso wichtiger ist daher die Auswertung auf den internationalen Märkten, etwa im Fernsehen oder im Video/DVD-Bereich. Darüber hinaus sind auch macra-indies darauf aus, ihre Filmbibliotheken auszubauen, um ihre Filme möglichst nachhaltig und langfristig in den verschiedenen (neuen) Märkten (DVD, Video-On-Demand) auswerten zu können. Außerdem besitzen die größeren Irrdies Studioeinrichtungen, die sie flir eigene und fremde Produktionen nutzen. Einige der größeren ursprünglichen IndependentVerleihfirmen wie New Line oder Miramax sind zudem seit längerem verstärkt auf dem Produktionssektor aktiv. Manche Indie-Studios wie Magnolia Pictures streben sogar in naher Zukunft an, neben der Produktion und dem Verleih von lndie-Filmen nun auch im Kinosektor aktiv zu werden. Mit Blick auf das gegenwärtige Überangebot an Kinos und Leinwänden ist es jedoch fraglich, wann dieser Schritt vollzogen wird. Die Strategien einer forcierten horizontalen und vertikalen Verflechtung insbesondere der größeren Indepen39 Auch hier gibt es Ausnahmen. Kevin Smith plant gerade ein Sequel zu seinem Erstlingswerk CLERKS mit dem ironischen Titel THE PASSION OF THE CLERKS (Drehbeginn: Januar 2005) als Anspielung auf das Leinwandepos von Mel Gibson .

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dent- und semi-independent-Firmen lassen sich ebenfalls als eines jener Merkmale deuten, die die These von der industriellen Annäherung von Hollywood-Majors und Independent-Firmen untermauern. Vermarktung und Kostenentwicklung Bedingt durch die allgemeine Kostenentwicklung und die Konkurrenzsituation mit den Majors auf dem US-Filmmarkt nehmen die Produktions-, Vertriebs- und Marketingkosten auch im Independent-Sektor signifikant zu. Allerdings erreichen sie noch längst nicht das Niveau der Majors. Die meisten kleineren Independent-Distributaren haben dafür nicht annähernd die finanziellen Mittel. Gerade für kleinere Produktionen ist es daher von Bedeutung, dass sie vor allem in die Vermarktung von Filmen investieren, um wenigstens ein wenig Aufmerksamkeit für einen Film zu generieren. Gramercy Pictures hat z.B. für FOUR WEDDINGS AND A FUNERAL (GB 1994, R. : Mike Newell) das Zweifache seiner Herstellungskosten für die Vermarktung des Films auf dem US-Markt ausgegeben (vgl. Miller, T. et al. 2003: 151). Allerdings hat Gramercy Pictures als Joint Venture von Polygram Film Entertainment und Universal Pictures auch andere finanzielle Möglichkeiten (ebd.: 15lf.). Ähnlich aufWändig waren die Marketingausgaben bei PULP FTCTTON, die in Höhe von 14,4 Mio. US-$ getätigt wurden, wie aus Tabelle 8 hervorgeht. Allein ca. 5,6 Mio. US-$ >investierte< man in den Zeitungsbereich, dicht gefolgt vom Bereich Network Television mit ca. 5,2 Mio. US-$. Tabelle 8: Marketingausgaben PULP FICT/ON (Jan. 1994- Dez. 1995) in Tausend US·S

Magazine Zeitungen Network Television Spot Television Syndicated Television Cable TV Networks National Spot Radio Summe insgesamt:

67,8 5.618,3 5.152,5 2.339,1 535,8 343,8 340,6 14.397,9

Quelle: Competitive Media Reporting and Publishers Information Bureau 1996 zi t. n. Tiiu Lukk (1997: 40)

So viel Geld in die Vermarktung eines Films zu investieren, ist natürlich ein erhebliches Risiko, zumal Tarantino bis zur Veröffentlichung von PULP FTCTTON noch recht unbekannt war. Doch die überaus positiven Publikumsreaktionen insbesondere während der Testvorführungen ließen die MarketingVerantwortlichen bei Miramax zu der Überzeugung gelangen, dass dieser Film das Potenzial hatte, über das identifizierte Kernpublikum der 18 - 24 Jahre alten männlichen Jugendlichen hinaus, ein breites Publikum zu erreichen. So entschied man sich, den Film am 14. Oktober 1994 in 1338 Kinos zu starten und tatsächlich spielte er bereits am ersten Wochenende ca. 9,3 Millionen US-$ ein (Lukk, T. 1997: 2 1). Deutlich geringer waren die Ausgaben bei THE BROTHERS MCMULLEN, der im August 1995 als pla(form

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release gestartet wurde und dessen Vermarktungskosten insgesamt ca.l ,6 Mio. US-$ betrugen (s. Tab. 9): Obgleich der Film bescheidender vermarktet wurde, war THE BROTHERS McMULLEN ein kommerzieller Erfolg. Bei Herstellungskosten in geschätzter Höhe von 23.800 US-$ spielte der Film auf dem Kinoinlandsmarkt brutto ca. I 0,2 Mio. US-$ ein; eine deutlich geringere Summe als PULP FTCTION mit sensationellen Bruttoeinnahmen von über 100 Mio. US-$, aber dennoch beachtlich, vor allem mit Blick auf das geringe Budget des Independent-Films. Tabelle 9: Marketingausgaben THE ßROTHERS MCMULLEN (Jan.- Dez. 2005) in Tausend US-$

Magazine Zeitungen Network Television Spot Television Cable TV Networks National Spot Radio Summe insgesamt:

18,1 1.119,0 264,8 17,9 178,6 18,9 1.617,3

Quelle: Competitive Media Reporting and Publishers Information Bureau 1996 zit. n. Tiiu Lukk (1997: 41)

Wie die Gegenüberstellung der Marketingausgaben von THE BROTHERS McMULLEN und PULP FTCTTON deutlich macht, variieren Art, Umfang und Höhe der Ausgaben signifikant, je nachdem wie das Potenzial eines Films eingeschätzt wird. Bei THE BROTHERS McMULLEN waren Zeitungen und Network Television die entscheidenden Felder der Marketingaktivitäten. Allerdings floss bei der Produktion, jenseits der allgemein deutlich geringeren Marketingausgaben, in relativer Hinsicht weit weniger Geld in den Bereich des Network Television als bei PULP FlCTlON (vgl. Tab. 8 und Tab. 9), was u.a. auf die unterschiedliche Verleihstrategie, platform release vs. wide release, zurückzufUhren ist. Im Fall eines wide release ist Fernsehwerbung eine unverzichtbare Marketingmaßnahme, während sie sich beim platform release, aufgrund der begrenzten gleichzeitigen Präsenz des Films in den Kinos, nur bedingt lohnt. Im Vergleich der Marketingstrategien der beiden Filme ist nicht zuletzt der Blick auf die Ausgaben für die Cable TV Networks interessant. Bei THE BROTHERS McMULLEN wurde hier mit ca. 179.000 US-$ eine kaum geringere Summe als bei PULP FTCTTON mit ca. 344.000 US-$ ausgegeben. Dies zeigt wiederum einerseits die große vermarktungsstrategische Bedeutung der Cable TV Networks flir Independent-Filme. Andererseits belegt die Höhe der Ausgaben im Fall von PULP FICT!ON flir die Cable TV Networks indirekt, dass es sich für bestimmte Sektoren nicht als zweckmäßig erweist, mehr Geld auszugeben, weil das Potenzial der Aufmerksamkeitsgenerierung bereits voll ausgeschöpft wurde. Die prinzipielle Annäherung der Produktions- bzw. Distributionsstrategien hat selbstverständlich auch damit zu tun, dass Independent-Firmen und Majors weitestgehend auf einem gemeinsamen Markt konkurrieren, auf dessen Bedingungen und Veränderungen sie reagieren müssen, den sie aber

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ebenso durch strategische Entscheidungen in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität beeinflussen. Auch oder gerade im Independent-Sektor gibt es ein Überangebot an zirkulierenden Filmen, d.h. auch hier existiert ein starker Wettbewerb, einerseits mit den Major-Mainstreamproduktionen, andererseits mit anderen Independent-Produktionen, um die Buchung vorhandener Leinwände. Erzielen die Independent-Filme nicht die erwarteten Umsätze an der Kinokasse, sind sie ebenso schnell aus den Kinos verschwunden und werden durch andere Produktionen verdrängt wie die Major-Produktionen auch. Und ebenso wie die Produktionen der Majors sind Independent- und semiindependent-Produktionen dazu angehalten, durch geeignete Marketingmaßnahmen zum richtigen Zeitpunkt ein Höchstmaß an medialer Aufmerksamkeit zu generieren. Da bei Independent-Filmen niedrigere Marketingbudgets zur Verfügung stehen, müssen mitunter alternative Strategien der Aufmerksamkeitserzielung verfolgt werden. Auch hier hat das Internet mittlerweile eine Schlüsselfunktion. Spezielle Online-Marketing-Agenturen werden seitens der Verleihfirmen mit der effektiven Platzierung von Werbung für neue Independent-Produktionen betraut, zum Teil mit erstaunlichen Resultaten. Ein Trailer des Independent-Films OPEN W A TER (2003) von Chris Kentis erreichte auf der yahoo-Seite 30 Millionen US-Surfer, was nicht ohne Einfluss auf die Einspielergebnisse blieb. Allein an den US-Kinokassen spielte der Film über 30 Millionen US-$ ein, bei Herstellungskosten von 130.000 US-$. Neben der Übernahmewelle von Independent-Firmen durch Majors und der Annäherung von Independent- und Mainstream-Film hinsichtlich ihrer Produktions- und Distributionsweise gibt es eine Reihe anderer Indikatoren und Faktoren, die die These von einer zunehmenden Institutionalisierung und Mainstreamisierung stützen. Symptomatisch und besonders plastisch lässt sich die Entwicklung der Institutionalisierung des Independent-Films am Beispiel des Sundance Festivals nachvollziehen.

5.2.8 Sundancing ... before you conquer Holfywood? Kommerzialisierung und Popularisierung der Independent-Filmfestivals Angesiedelt im Skigebiet Park Citys, Utah gilt das Sundance Film Festival gegenwärtig nicht nur als der wichtigste Aufführungsort für neue amerikanische Independent-Filme, sondern ist hinsichtlich Marktaktivitäten, speziell was die Entdeckung von neuen Talenten betrifft, nach Einschätzung vieler Experten mittlerweile das wichtigste Filmfestival nach Cannes. Weit verbreitet ist die Annahme, Robert Redford habe das Sundance Festival gegründet, was jedoch nicht den Fakten entspricht. Vielmehr existiert das Festival, das alljährlich an zehn Tagen im Januar stattfindet, unter dem Namen United States Film Festival bereits seit 1978. Erst 1985 übernahm Redfords Sundance Institute die Leitung, um dem Festival finanziell und logistisch unter die Arme zu greifen. Die offizielle Umbenennung in Sundance Film Festival erfolgte 1991 (vgl. Anderson, J. 2000: 2f.). Laut Redford war es von Beginn an das Hauptziel des Festivals, neue Talente zu zeigen und zu entdecken und vor allem- im Gegensatz zu den Restriktionen der Mainstream-IndustrieVielfalt zu ermöglichen und denjenigen eine Stimme zu geben, die Hollywood ignoriert. Dementsprechend sollten die Arbeiten von Frauen, von Afro-

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amerikanem und anderen >ethnischen< Minderheiten ein besonderes Forum finden. In der Rückschau des Filmpublizisten Peter Biskind erscheint Sundance vor 1990 bei weitem nicht in dem Licht, in dem es heute erstrahlt: The festival was one of the few devoted exclusively to American lndies, which in those days existed weil beneath the radar of all but a small band of dedicated enthusiasts. lt was a sleepy gathering, not yet the make-or-break event for filmmakers that it would soon become. Few of the films that played the festival got distributed; even fewer scripts that went through the Iabs got produced, and when by some fluke one did, it was hardly likely toset the world on fire . [ ... ] The political correct, regional Americana ran thinly through the veins of the •granola' films, Sundance warhorses like Gal Young ·Un, El Norte, and The Bailad of Gregorio Cortez, what Lory Smith, one of the programmers, admiringly described as ·feelgood, socially responsible' pictures. They were content-driven, not directordriven, often about less-than-pressing social issues. They were like Anne of Green Gables for adults, often featuring Colleen Dewhurst, Richard Farnsworth, Wilford Brimley, or equivalents. Occasionally, if a filmmaker got lucky, he might land a weathered Sam Shepard squinting into the sun while spitting tabakky through his crooked teeth and kicking cow patties at the lens with his boot. (Biskind, P. 2004: 29)

In dieser Zeit hatte das Sundance Film Festival das Image eines artfilm f estivals. Indie-Vertriebe, die einen Film produziert hatten, von dem sie sich ein cross over-Potenzial versprachen, hielten sich vom Festival fern (vgl. ebd.). Insbesondere mit dem Erfolg von SEx, LIES AND VTDEOTAPE, aber auch solcher Filme wie RTVER'S EDGE (1986, R.: Tim Hunter) oder HOUSE PARTY (1990, R.: Reginald Hudlin), wandelte sich der Charakter des Festivals grundlegend. Heutzutage ist der Veranstaltungsort vor allem eines: ein gigantischer Verhandlungs- und Verkaufsplatz, auf dem die etablierten Agenten, Produzenten und Vertriebsleute nach verwertbaren Talenten Ausschau halten. Allein die Major-Agentur William Morris schickt alljährlich zwei Dutzend Angestellte zum Wettbewerb um den Filmnachwuchs (Levy, E. 1999: 40). Und war es in der Anfangszeit des Festivals noch so, dass die relevanten Deals auf oder unmittelbar nach dem Festival geschlossen wurden, ist es mittlerweile infolge des verhärteten Wettbewerbs häufig der Fall, dass Independent-Filme bereits unter Vertrag sind, bevor sie auf dem Festival gezeigt werden (ebd.: 41). Der no budget-Regisseur Rick Schmidt beschreibt seine Erfahrungen auf dem Sundance Festival von 1989 wie folgt: Jeder, der die Entwicklung des Sundance Film Festivals (1988 - 2000) verfolgt hat, kann sehen, was ich erlebt habe, und das ist, daß der Fokus vom Feiern des ••kleinen unbekannten und künstlerischen amerikanischen lndie- (lies: selbst-produzierten) No-Budget Film" verschoben wurde , hin zu einer hollywoodisierten Version, einer Version mit einem Budget von nahezu einer Million Dollar, mit halbwegs bekannten Stars (Bridget Fonda, Parker Posey etc.), Filmen, die einem HollywoodProdukt auffällig ähnlich sahen. Plötzlich gab es im Wettbewerb keinen Platz mehr für kleine ••handgemachte" Streifen. 1989, in dem Jahr, als mein S 15.000-Film MoRGAN's CREEK für den Sundance Wettbewerb ausgewählt wurde, als einer von 17 weiteren Filmen, unter anderem SEX, LIES AND VIDEOTAPE, HEATHERS etc. , hatte ich die Ehre mitzuerleben, wie mein Film vor Agenten, Vertriebsleuten, Einkäufern und dergleichen mit einem defekten 16 mm-Projektor vorgeführt wurde (Resultat war eine schlechte Kritik in Variety). Ich stellte mir die Frage: ··Warum wurde mir so eine lausige Show geboten, auf einem Festival, das sich eigentlich als das

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>Festival der Entdeckungen• solcher Filme wie meinem abfeiert?•• Ich fragte mich auch, warum die Filme, gegen die ich anzutreten hatte, Filme mit einem derart hohen Budget waren , von denen einige bereits von Hollywood-Major-Companies vertrieben wurden. (Schmidt, R. zit. n. Sudmann, A. 2001: 185f.)

Als Plattform der Independent-Spielfilme neuer Regisseure wurde Sundance derart bekannt, dass Vanity Fair auf dem Cover seiner Aprilausgabe im Jahr 1996 titelte: »Special lssue: Hollywood '96. From Sundance to Sunset« (Kleinhans, Ch. 1999: 307). In jedem Fall ist Sundance dasjenige Filmfestival, das zum zentralen Ort des Aufstiegs des amerikanischen IndependentFilms in den 1990em wurde. 40

5.2.9 Slamdancing ... Da die Anzahl derjenigen Filme, die auf dem Sundance Film Festival jedes Jahr abgelehnt werden, wesentlich größer ist als die Zahl gezeigter Filme, lag es nahe, dass einige der abgewiesenen Regisseure früher oder später auf die Idee kamen, ihr eigenes Festival zu initiieren, um ihre Filme trotzdem einem breiten Publikum (und Vertretern der Industrie) zeigen zu können. Dementsprechend gründeten die 1995 vom Sundance Festival abgelehnten Regisseure John Fitzgerald (SELF PORTRAIT, 1995), Shan Kuhn (REDNECK, 1995) und Dan Mirvish (OMAHA - THE MOVIE, 1995) ihr eigenes Festival mit dem programmatischen Titel Slamdance, das zudem im selben Zeitraum wie das Sundance Festival stattfindet. Liefen 1995 noch 12 Filme, die zusammen nicht mehr als eine Millionen Dollar gekostet hatten (Levy, E. 1999: 44), so erlebte Slamdance in der Folge einen ähnlichen Wachstumsprozess wie Sundance. Das Festival verzeichnete als Rekord 1300 Einreichungen für die 31 competition slots, außerdem wuchs das Interesse der Industrie signifikant. Z.B. wurde Greg Mottolas DAYTRIPPERS, der 1996 auf dem Slamdance Festival seine Premiere hatte, nachdem ihn das Sundance Festival ablehnte, nach Cannes eingeladen. Als die Firma CFP den Film herausbrachte, konnte er mehr als zwei Millionen US-$ einspielen. Auch wenn das Slamdance Festival, von Betreibern wie von Experten-Beobachtern, weniger in direkter Opposition zu Sundance als im Sinne einer Ergänzung verstanden wird, kann es glaubhafter den >Indie-Spirit< repräsentieren, weil es einerseits klare Budgetgrenzen für Wettbewerbsfilme fixiert und sich andererseits stärker auf Debüt-Filmemacher konzentriert. Demgegenüber ist das Sundance Festival für manche mit dem entscheidenden Makel behaftet, dass es auch Produktionen zulässt, die von >Indiesecondary markets< (z.B. Video) veröffentlicht.41 Zum Vergleich: Bei den Studioproduktionen und Independent-Filmemachern, die den Standard-Kinovertrag benutzen, wurden 79% im Kino veröffentlicht und die übrigen 21% auf den >Zweitmärkten< (ebd.: 21). Die im Kino von kleineren Independent-Firmen veröffentlichten Filme erzielen deutlich geringere Einnahmen an der Kinokasse als die Studiofilme.

5.2.12 Sprungbrett nach Hollywood Regisseure wie Spike Lee, Steven Soderbergh, Robert Rodriguez, Kevin Smith und vor allem Quentin Tarantino haben mit ihren Erfolgsgeschichten sicherlich den Traum junger Menschen von einer Filmkarriere genährt. Auch die Entwicklung der digitalen Technik und des Internets hat dazu beigetragen, die Produktionsbedingungen fur die Realisierung eines Spielfilms signifikant zu erleichtern, dadurch dass die neuen digitalen Medien und Technolagien wie digitales Video, HO (High-Definition) und DVD mittlerweile die kostengünstige Herstellung selbst aufwändiger Filme erlauben und zugleich über das Internet auch die Distributionsmöglichkeiten im Hinblick auf Kosten und Verbreitung sich deutlich verbessert haben. Die optische Qualität der digitalen Aufzeichnungsmedien hat sich deutlich verbessert und wird mittlerweile als >echte< Alternative gegenüber dem traditionellen Film be-

41 Ein noch größerer Prozentanteil von Filmen wurde aber entweder niemals fertiggestellt oder nie veröffentlicht (ebd. ).

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trachtet. 42 Diese Situation hat dazu geflihrt, dass sich längst ein beachtlicher Markt entwickelt hat, der direkt auf die Hollywood wannabees abzielt, was sich auch an der enorm gestiegenen Anzahl von Ratgeberliteratur zum Independent-Film ablesen lässt (vgl. Kap. 2). Beachtlich ist auch die Anzahl jener Fachzeitschriften, die sich hauptsächlich oder zumindest ausführlich mit neuen Independent-Arbeiten auseinandersetzen, neben Variety etwa Premiere, Movieline, The Filmmaker Magazine, Film Threat, Sight and Sound oder Moviemaker. Schließlich existieren massenhaft Medienprogramme, die von research universities bis community colleges reichen, die Studenten (häufig) versprechen, dass sie sie Itir eine Position in der Hollywood-Industrie ausbilden und qualifizieren können (vgl. Kleinhans, Ch. 1999: 311 ). Nach Chuck Kleinhans ist der Independent-Film daher mittlerweile ( . .. ] a calling card that allows Hollywood executives to see what a new director can do with a low-budget project so that she/he might be hired into a three-picture deal: probably assigned to a genre-slot - horror, teen romance or comedy, neo-noir, action-adventure, homeboys/gangsta etc. From the industry point of view, contracting former independent directors gets the industry young talent that will work for cheap, finish films on time and on budget, and satisfy the producer's specifications. (Ebd.: 309)

5. 3 Das ökonomische Potenzial des Independent-Films Ein Independent-Film kann bereits dann als Erfolg verbucht werden, wenn er - in Abhängigkeit von seinem Budget - zwischen einer und drei Millionen im Kino einspielt, siehe CLERKS (3 Mio. US-$), IN THE COMPANY OF MEN (3 Mio. US-$), n (Pi) (3 Mio. US-$), RESERVOIR DOGS (2,8 Mio. US-$), HAPPINESS (2,9 Mio. US-$), DAUGHTERS OF THE DUST (1 ,7 Mio. US-$), Go FISH (2,4 Mio. US-$) oder SLACKER (1 Mio. US-$) (vgl. Pribram, E.D. 2002: 17f.; vgl. Merritt, G. 2000: 423). Einspielergebnisse von 7,1 Millionen US-$ wie im Falle von Spike Lees SHE's GOTTA HAVE IT (1986) gelten bereits als herausragend. Laut der Studie von Waltz und Rusco (2004) liegen die durchschnittlichen inländischen Kinoeinnahmen kleiner Independent-Filme bei zwei Millionen US-$ im Vergleich zu durchschnittlich 27 Millionen US-$ bei Studioproduktionen und mit Studios assoziierten Filmen (ebd.: 6). Als Resultat ihrer Untersuchung konstatieren die Autoren, dass Filme mit einem low budgetSAG-Vertrag zwar eine geringere Aussicht auf Profite gegenüber den Filmen mit dem Standard-Kinovertrag haben. »But the cost ofthe smaller probability of making a money-losing film is the greatly decreased likelihood of ending up with box-office eamings at all, and conditional on having a box-office re-

42 Zu den zahlreichen Independent-Spielfilmproduktionen im low budget-Bereich, die in jüngster Zeit erfolgreich auf DV- oder HO-Technologie gesetzt haben, gehören PIECES OF APRIL (2003, R.: Peter Hedges, Budget: ca. 300.000 US-$; Gross (US): ca. 2,4 Mio. US-$), NAPOLEON DYNAMITE (2004, R.: Jared Hess, Budget: ca. 400.000 US-$; Gross (US): ca. 44,5 Mio. US-$) oder OPEN WATER, Budget: ca. 130.000 US-$; Gross (US): ca. 30,5 Mio. US-$). Die Daten sind der Internet Movie Database entnommen, Stand: 16.4.2005.

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lease, a smaller likelihood of attaining eamings in the upper tail of the boxoffice revenue« (ebd.: 30). Hollywood hatte, wie beschrieben, spätestens mit Soderberghs SEX, LIES & VIDEOTAPE erkannt, dass Independent-Filme ein äußerst lukratives Geschäft bedeuten können. Besonders eindrucksvoll hat dies vor allem THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) gezeigt, das Werk zweier Filmstudenten Daniel Myrick und Eduardo Sanchez - aus Florida, dessen Herstellungskosten lediglich ca. 35.000 US-$ betrugen, der aber allein in den US-Kinos ca. 140 Millionen US-$ eingespielt hat. Ohne Stars, Spezialeffekte und zusätzliche Filmmusik, aus der Hand mit einem HiS-Camcorder und einer 16mm-Kamera gedreht, wird in BLATR WITCH PROJECT die Geschichte von drei Filmstudenten erzählt, die in den Wäldern Marylands einer Hexenlegende nachspüren wollen und nie wieder zurückkehren. Nur ihr Equipment taucht ein Jahr später auf. Der Film gibt vor, aus diesen >authentischen< Aufnahmen zusammengesetzt zu sein. Ein anderer Überraschungserfolg im Sommer 2002 war der IndependentFilm MY BIG FAT GREEK WEDDING (R.: Joel Zwick), der von Tom Ranks über seine Produktionsfirma Playton Pictures für fünf Millionen US-$ außerhalb der Major-Studios produziert wurde und bis Oktober 2002 bereits über 120 Millionen US-$ einspielen konnte. 20 Millionen US-$, was Tom Hanks' Gage in ROAD To PERDITION (2002, R.: Sam Mendes) entspricht, gab man für Werbung und Marketing aus. Eine lohnende Investition für den Produzenten, der allein ein Drittel der Netto-Erlöse aus den Kinoeinnahmen erhält. Nia Vardalos kassierte für ihre Drehbuchleistungen lediglich 500 US-$ und für ihre Hauptrolle ursprünglich 150.000 US-$ (vgl. Sorge, H. 2002: online). MY BIG FAT GREEK WEDDING ist eine recht schlicht konzipierte Liebeskomödie, eine typische melting-pot-Geschichte über eine Frau um die 30 aus einer konservativen, traditionsbewussten Einwanderungsfamilie, die sich in einen Angloamerikaner aus der Mittelschicht verliebt und ihn schließlich heiratet. Das Besondere an diesem Film ist, dass >EthnizitätMinderheitenkultur< von den angloamerikanischen Eltern ihres Partners als nicht angemessen abgelehnt wird, wird nur kurz angedeutet und letztlich als irrelevant abgehakt. Der Film hätte wahrscheinlich kaum eine Chance auf einen derartigen kommerziellen Erfolg gehabt, wäre nicht Tom Hanks von seiner Frau Rita Wilson auf den Stoff aufmerksam geworden. Finanziell aufwändigere Produktionen der classic-, macro- und majorindies, die ähnlich wie Studio-Filme als wide release im Kino veröffentlicht werden, müssen unter Berücksichtigung ihrer Herstellungs- und Vermarktungskosten erheblich größere Summen einspielen, um als kommerziell erfolgreich gelten zu können. Zu den prinzipiellen Vorzügen des IndependentFilms gehört es, dass mit ihm Risiken eingegangen werden können, die

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Studio-Filme der Blockbuster-Ära grundsätzlich vermeiden, dazu gehört auch die Unabhängigkeit von den Launen der shareholder (vgl. Kaufman, A. 2004: online). Niedrige Budgets im Bereich von wenigen Millionen oder besser noch darunter erlauben es eher Stoffe zu realisieren, die aus dem Raster hochkommerzieller Blockbuster-Anforderungen (leicht verständlicher plot, Fokussiemng auf Action, visuelle Effekte und Stil, Stars etc.) herausfallen, bzw. sich solcher Stoffe anzunehmen, für die man keine Referenz des Erfolgreichen und Nichterfolgreichen hat, weil der jeweilige Film schlichtweg mit ungewöhnlichen Erzählperspektiven oder einem innovativen Stil aufwarten kann. Insofern verwundert es nicht, dass in den vergangenen Jahren mehr Autoren von Independent-Filmen einen Oscar für das beste Drehbuch erhalten haben als die von Studiofilmen, wie überhaupt NichtStudiofilme auch in anderen Kategorien mehr Oscars für sich reklamieren konnten. Auch thematisch bzw. politisch können die Hersteller von Independent-Filmen etwas wagen, das sich Produzenten von Studiofilmen wohl kaum trauen würden. Da Blockbuster das globale Produkt schlechthin sind, wird nach der industriellen Maxime verfahren, lediglich solche Filme zu drehen, die politisch unverfänglich sind. Diese Entwicklung wird häufig beklagt und zeigt sich in der kontinuierlichen Kritik an der Substanzlosigkeit Action- und Spektakel-zentrierter Filme, die Hollywood Monat für Monat, mitunter Woche für Woche auf den Markt bringt. Auch die Hersteller kommerzieller Independent-Filme mit cross over-Anspruch müssen darüber nachdenken, ob bestimmte Inhalte oder eine bestimmte Ästhetik etc. zusätzliche Publikumssegmente ansprechen oder eher abschrecken. In jedem Fall sind IndependentFilmproduzenten im Grunde noch eher oder mehr angehalten, sorgfältig zu überlegen, wie man am ehesten das Publikum durch Marketing- und Werbestrategien erreicht und adressiert, von dem man glaubt, es interessiere sich für denjeweiligen Film. Dagegen gehört es ebenso zur >Identitätslogik< des Independent-Films zu provozieren, den Status Quo herauszufordern, zu kritisieren, den Marginalisierten eine (politische) Stimme zu geben, außergewöhnliche Thematiken darzustellen, die >political correctnessDingen< und >Zeichen< und auf der anderen die Beziehung zwischen >Dingen< und den ihnen entsprechenden mentalen >Vorstellungen< (vgl. ebd. ; Hall, St. 2002: 61). Repräsentation bedeutet im herkömmlichen Sprachgebrauch sowohl die Darstellung von Ereignissen, Objekten und Personen in Zeichensystemen wie Film, als auch- als mentales Konzept- die Vorstellung >realer< ebenso wie imaginärer bzw. fiktiver Objekte, Personen oder Ereignisse. Des Weiteren beinhaltet der Begriff die (politische) Bedeutung im Sinne der (Stell-)Vertretung von Objekten, Personen, Ereignissen, wiederum sowohl im Sinne der mentalen Repräsentation als auch der Repräsentation innerhalb von Zeichensystemen (wie z.B. Filme). Es gibt natürlich konkurrierende Auffassungen darüber, wie der Prozess der Repräsentation gleichsam funktioniert. Dazu gehört z.B. die Vorstellung, dass Bedeutung den Objekten, Personen, Ideen, Intentionen, Ereignissen der realen Welt gewissermaßen >innewohnt< und Sprache in der Lage ist, diese Bedeutung wiederzugeben bzw. widerzuspiegeln (vgl. Hall, St. 2002: 16ff.). Das in den verschiedenen (theoretischen) Kontexten von Kunst, Literatur, Film, Erkenntnistheorie verankerte Schlagwort der »Krise der Repräsentation« verweist auf die Problematik der Vorstellung einer solchen (adäquaten) Darstellbarkeit bzw. einfachen Wiedergabe von >Wirklichkeitinnewohnen< oder durch die individuellen Urheber mittels Sprache festgeschrieben werden können. Diese Auffassung hat nicht nur epistemologische Folgen (für den Status kultureller Texte/Produkte wie Filme) sondem auch politische Konsequenzen für alle »Szenarien der Repräsentation« (Subjektivität, Identität, Politik, etc.) (vgl. Hall, St. 1996: 443). Das Konzept »Politik der Repräsentation« bezieht sowohl die Bedeutung des Begriffs von Repräsentation im Sinne von Vertretung als auch im Sinne von Darstellung ein. Beide Bedeutungsdimensionen sind dabei zudem aus einer politisch zentrierten Perspektive eng miteinander verbunden. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Während der Mainstream-Film Hollywoods in seiner Geschichte Minoritäten wie z.B. Schwule, Lesben, Afroamerikaner oder andere >ethnische Minderheiten< meist ignoriert, marginalisiert oder stereotyp dargestellt hat (man denke an die Darstellungspraxis der black faces in Hollywood oder an Figuren wie den >edlen WildenStimmen< artikulieren können (vgl. z.B. die Praxis der race .films), wobei diese Filmpraxis vor allem in den 1980er Jahren eng mit dem aktivistischen Programm der identity politics verbunden war (vgl. Kap. 7). Dies beinhaltet also einerseits den Aspekt der Sichtbarkeit (Vertretung) und andererseits den Aspekt der (adäquaten) >Formideologischen< Praxis authentischen Repräsentationen ihrer >Identität< entgegenzusetzen glaubt, verfängt sich in essentialistischen Vorstellungen davon, was es z.B. bedeutet, >schwarz< zu sein und ignoriert die politische und kulturelle Konstruktion dieser Kategorie. 1 Entgegen eines Verständnisses des Konzepts von Identität, das auf einen stabilen, unveränderlichen, einheitlichen Kem (von Identität) rekurriert, der gewissermaßen a priori kulturelle Zugehörigkeit oder Zusammengehörigkeit bestimmt, wird hier statt dessen von einem Konzept ausgegangen, dass Identität als diskursive Konstruktion fasst; als einen prinzipiell unabgeschlossenen, kontingenten Prozess (vgl. Hall, St. 1996a: 2, vgl. Lutter, Ch./Reisenleitner, M. 1998: 96): ldentitäten formieren sich innerhalb von Diskursen und werden durch sie konstruiert, d.h. an spezifischen historischen Orten und Institutionen und durch bestimmte diskursive Formationen, Praktiken und Artikulationsstrategien, die Wissen, Bedeutung und Sinn produzieren [ ... ] ldentitäten entstehen im Rahmen von Machtverhältnissen und Klassifikationssysteme, die sozial wie symbolisch Differenz und Ausschluss markieren. ldentitäten werden durch, nicht außerhalb von Differenzen konstituiert, mehr noch die Konstruktion von Identität erfolgt immer durch Differenz, durch die Beziehung zum anderen. (Lutter, Ch./Reisenleitner, M. 1998:. 97)

U.a. gehören die Filme Spike Lees zu denjenigen, die mit einer solchen Kritik konfrontiert werden (vgl. Kap. 7.4).

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Identität kann also als strukturelle Artikulation in (symbolischer) Abgrenzung und in Abhängigkeit zum Bild des Anderen verstanden werden (vgl. Hall, St. 1994a, 45; Hepp, A. 1999: 54), wobei eine entscheidende Frage hier natürlich lautet, welche Rolle Medien wie Film (oder konkreter der Independent-Film) bei der Artikulation von Identität (und Differenz) spielen: Welche hegemonialen oder widerständigen Bedeutungsangebote kultureller ldentität(en) liefe11 der Independent-Film? Welche Probleme sind mit der Repräsentation kultureller Identität verbunden? Denn in jedem Fall besteht ein grundsätzliches Problem bzw. Dilemma der Repräsentation darin, dass jegliche Repräsentation notwendigerweise >Kosten< in Form von Ausschließungen produziert. Dies wiederum berührt auch den Aspekt von Repräsentation im Sinne der Vertretung, insofern in Filmen lediglich ein begrenztes Spektrum kultureller >ldentitäten< vertreten sein kann und ebenso das Spektrum der Darstellung der Komplexität, der Vielfalt und der Unterschiede (Differenz) von Erfahrungen und Subjektpositionen, die mit sozialen (Identitäts-)Kategorien wie race, class, gender oder sexual orientation verbunden sind, limitiert ist.

6. 2 Poststrukturalistische Repräsentationskritik: Die Instabilität von Sprache, Bedeutungen und Zeichen oder das Problem der differance Poststrukturalismus hat mit Dekonstruktivismus (Jacques Derrida), Postmodernismus (Jean-Franyois Lyotard, Jean Baudrillard), Cultural Studies (Stuart Hall, John Fiske, Douglas Kellner), Gender Studies (Judith Butler) oder diskursanalytischen Ansätzen (Norman Fairclough) gemeinsam, dass er wenngleich auf sehr unterschiedliche und mitunter gegensätzliche Weise das Denken der Repräsentation zu demystifizieren trachtet. So gehört es zu den wichtigsten Behauptungen des Poststrukturalismus' bzw. Dekonstruktivismus', die in Anschluss an die Überlegungen Jacques Derridas auch von vielen Cultural Studies-Forschern geteilt werden, dass Zeichen und Bedeutungen stets instabil sind und insofern die Idee einer zugrunde liegenden Struktur, die letztlich die Bedeutung eines kulturellen Textes (z.B. eines Filmtextes) oder einer kulturellen Praxis bestimmt, wie im Strukturalismus, abgelehnt wird (vgl. u.a. Storey, J. 1998: 60)_2 »Notably, the stability of the 2

Der Strukturalismus versteht Kultur analog zur und strukturiert wie Sprache, d.h. alle kulturellen Formen können wie Sprache analysiert werden (Barthes, R. 1964, 1967). Im Sinne des strukturalistischen Verständnisses Ferdinand de Saussures und Claude Levi-Strauss' wird Bedeutung eher durch die Regeln und Konventionen erzeugt, die Sprache (Iangue) organisieren, als durch die spezifischen Gebräuche und Äußerungen, die Individuen im Alltagsleben tätigen (parote) . Saussure war der Ansicht, dass Zeichen, die aus Signifikanten (Medium) und Signifikaten (Bedeutung) bestehen, ihren Sinn nicht qua Referenz zu Entitäten in einer äußeren, unabhängigen Welt erzeugen, sondern Bedeutung durch ihre Beziehung zueinander herstellen. Bedeutung wird in diesem Sinne als Ergebnis sozialer Konventionen aufgefasst, d.h. spezifischer kultureller Signifikationspraktiken, die die Beziehungen zwischen den Zeichen in Form kultureller Codes organisieren und regulieren. »Signs become naturalized codes and the transparency of meaning we give to words and sequences of signs are an outcome of a cultural habituation that conceals from us the practices of cultural coding" (vgl. Barker, Ch./Galasinski, D. 2001: 4-5). Bedeu-

132 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? binaries of structuralism (e.g. denotation-connotation, signfier-signified) and its claims to surety of knowledge were the subject of attack by Derrida and poststructuralism. That is, Derrida deconstructs the very notion of the stable structures of language« (Barker, Ch./Galasinski, D. 2001: 9). Im Sinne des Poststrukturalismus »[umfasst demnach] der Entstehungsprozeß einer >Repräsentation< [...] immer eine willkürliche Unterbrechung der Signifikantenkette, eine Beschränkung des fre ien Spiels der Signifikanten auf eine falsche feste Bedeutung, die dann von einem Subjekt womöglich für natürlich und unvermeidlich gehalten wird« (Eagleton, T. 2000: 227). Die Signifikanten produzieren also nicht- wie im Strukturalismus - >ihre< Signifikate, sondern immer mehr Signifikanten. Bedeutung ist im Sinne Derridas (1988) unendlich aufgeschoben, ohne Zentrum, nie vollständig anwesend, sondern stets zugleich an- und abwesend. Die so gespaltene >Natur< des Zeichens >beschreibt< Derrida mit dem Kunstbegriff der differance, der auf die Doppelbedeutung des französischen Verbs differer - »aufschieben« (zeitlich) und »sich unterscheiden« (räumlich) rekurriert bzw. verweist. Bedeutung entsteht also nur im gegenseitigen Verweis der Signifikanten aufeinander bzw. Zeichen >existieren< nur als Differenz zu anderen Zeichen und dies in einer verschiedenen raumzeitlichen Konfiguration. Auch die sprachliche Beschreibung der differance ist diesem unendlichen Verweisspiel unterworfen und insofern sprachlich-theoretisch letztlich nicht einholbar oder hintergehbar. 3

6.3 Kritik am Poststrukturalismus/ Sch l i eßu ngen de konstru ktivi stisc her Textverfahren/Zur Frage der Polysemie Diese Behauptung wird innerhalb der Cultural Studies zwar epistemologisch grundsätzlich weitestgehend akzeptiert, ohne jedoch - wie etwa Stuart Hall oder Barker und Galasinski - deren radikalen Implikationen zu folgen: »Nevertheless, we argue, though meaning is forrnally undecided, in social practice it is regulated and temporarily stabilized into pragmatic narratives or discourses.« (Barker, Ch./ Galasinski, D. 200 I: 2) Ganz ähnlich argumentiert Stuart Hall: »I use ideology as that which cuts into the infinite semiosis of language. Language is pure textuality, but ideology wants to make a particular meaning. [ ... ] I think it's the point where power cuts into discourse, where power overcuts knowledge and discourse« (Hall, St. 1994: 51)

3

tungen sind im strukturalistischen Verständnis nicht dauerhaft fixiert, sondern kulturell, sozial und historisch spezifisch. Dennoch ist die jeweilige Struktur der »symbolischen Ordnung" als ·System' von Unterscheidungen und Beziehun· gen, die die Grundlage der Produktion von Bedeutung darstellt, analytisch greifbar. Allerdings ist der Strukturalismus •synchroner, Art, indem er die Strukturen zu einem bestimmten Augenblick erfasst (vgl. ebd.). Mit der Dekonstruktion hat Derrida eine ·Strategie' vorgeschlagen, die in einer doppelten Geste, einerseits die Binaritäten/Differenzen des abendländisch philosophischen Denkens offenzulegen und andererseits gleichzeitig diese zu entkräften sucht. Die Dekonstruktion zielt darauf ab, den Konstruktionscharakter von Begriffen aufzudecken, indem Bedeutungen verschoben werden, um so das Spiel der dif{erance, d.h. die Unabschließbarkeit und Instabilität der Bedeutungen, hervorzuheben.

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Einerseits sind mediale Texte >Träger< von Mehrdeutigkeiten (Polysemien) und lassen somit - zwar keine unendliche - aber eine dennoch recht große Bandbreite unterschiedlicher Lesarten zu. Eine Vorstellung, die davon ausgeht, es gäbe in Texten einen Kern von Bedeutungen, die von einem gewissermaßen idealtypischen Leser nur entdeckt zu werden brauchen, ist grundsätzlich unzutreffend. Die Zuschauer »geben dem Film Bedeutung, sie erkennen nicht bloß die Bedeutungen, die in ihm verborgen sind« (Turner, G. 2000: 120f.) . Zu Recht verweisen viele der gegenwärtigen Cultural Studies-Theoretiker auf die soziale, kulturelle und politische Relevanz jener Perspektive, die zu erforschen und theoretisieren versucht, was die Menschen mit den Medien >machenwollen< Bedeutungen herstellen, sie wollen Sinn konstruieren, wollen Verstehen ermöglichen. Die Bedingung dafür sind die sozialen und kulturellen Konventionen, die jedem Text vorgängig sind, auf die sich der Text, sowohl bewusst als auch unbewusst, ebenso unweigerlich bezieht, genauso wie der Rezipient. Diese sozialen und kulturellen Konventionen sind keine Garantie, jedoch die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Rezeption eines Textes im Sinne 4

Auch Douglas Kellner äußert deutliche Skepsis im Hinblick auf die gegenwärtige Betonung des Zuschauers im Rahmen der Cultural Studies: »lndeed, there is the danger of the fetishism of the audience in the recent emphasis on the importance of reception and audience construction of meanings. Thus, there has been a large-scale shift in emphasis from focus on text and the context of its production to emphasis on the audience and reception, in some cases producing new dogmatism whereby the audience, or reader, alone produces meaning. The texts, society, and system of production and reception disappear in the solipstic ecstasy of the textual producer, in which there is no text outside reading - resulting in a parody of Derrida's bon mot that there is nothing outside of the text" (Kellner, D. 2001: 37; vgl. auch Johnson, R. 1999: 182).

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der Intentionen seiner Kodierung verstanden werden kann oder zumindest, dass Zuschauer überhaupt Texte und ihre Konnotationen auf ähnliche oder gar dieselbe Art und Weise verstehen oder Texte spezifische und ähnlich gelagerte Erwartungen auslösen können. Filme wie BLOW Ur (OB/I 1966, R.: Michelangelo Antonioni) oder BELLE OE JouR (F/I 1967, R.: Luis Bufiuel)5 können allein durch ihre eher unbestimmte, assoziative Erzählstruktur und ihre offene ambivalente Zeichnung der Charaktere sicherlich eine größere Bandbreite von Lesarten hervorrufen (vgl. Crane, D. 1992: 81 f.). Auch hier ist ersichtlich, dass die Mehrdeutigkeit eines Films wesentlich durch die Werkstruktur evoziert wird. Das Ergebnis der Kodierungen ist also eine >StrukturCodes< oder eine >Formation»StrukturStruktur< als spezifisches und manifestes6 Arrangement der Elemente (Codes) eines Textes determiniert zwar nicht endgültig, welche Lesarten tatsächlich zustande kommen. Sie setzt aber semantische Parameter, die weder an sich prinzipiell eindeutig, noch beliebig, in jedem Fall aber vorhanden sind und zu denen sich der Rezipient in irgendeiner Weise verhalten muss, eine Verweigerung gegenüber dem Text miteingeschlossen. Zwar betonen sowohl Stuart Hall als auch John Fiske die Rolle des Rezipienten als die relevantere Instanz in der Herstellung von Bedeutungen; sie gehen jedoch beide ebenfalls vom Konzept einer strukturierten Polysemie aus und erkennen an, dass textuelle Strukturen spezifische Lesarten im nichtdeterministischen Sinne nahe legen können (Fiske, J. 1987: 81 u. 65). Anders als Hall (1980 [1973]) in seinem encoding/decoding-Modell ist Fiske allerdings nicht der Auffassung, dass die Struktur von Fernsehtexten eine Lesart in Korrespondenz mit der dominanten Ideologie bevorzugt. Stattdessen hält Fiske es für sinnvoller, von textuellen Präferenzstrukturen zu sprechen, die einige Bedeutungen zu bevorzugen suchen, während sie andere auszuschließen trachten (ebd.: 65). »This is an elaboration of Hall's model, not a rejection of it, for it still sees the text as a structured polysemy, as a potential of unequal meanings, some of which are preferred over, or proferred more strongly than, others, and which can only be activated by socially situated viewers in a process of negotiation between the text and their social situation« (ebd.). Grundsätzlich ist John Fiske der Ansicht, dass Fernsehtexte sowohl als Träger einer dominanten Ideologie dienen als auch nicht dominante (oppositionelle) Diskurse aktivieren können (vgl. Jurga, M. 1997: 131). Entscheidend ist für ihn die Bewegung, sich von der Vorstellung ideologischer Geschlossenheit von Texten zu lösen und sich stattdessen dem Zuschauer »as the site of meaning« zuzuwenden (Fiske, J. 1987: 64). Dementsprechend schlägt er für die Analyse von (Femseh-)Texten vor, dass »[a]nalysis has to 5

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Exemplarisch sei in diesem Kontext auf eine Szene aus dem Film Bufiuels verwiesen, in der ein »Kunde« Belle De Jour (Catherine Deneuve) mit einem Kästchen konfrontiert, dessen Inhalt ein seltsames Geräusch von sich gibt. Während die beiden anderen Prostituierten den (unausgesprochenen) Wunsch des Mannes angewidert ablehnen, lässt sich Belle De Jour ohne Zögern darauf ein. Was aber nun wirklich in dem Kästchen enthalten ist, wird im Film nicht aufgelöst. Manifest insofern, als der Kommunikator I Autor seine eigenen Kodierungen (wieder· )erkennen kann.

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pay less attention to the textual strategies of preference or closure and more to the gaps and open television up to meanings not preferred by the textual structure, but that result from the social experience of the reader« (ebd.). Fiske kann aber nicht erklären, wie viel mehr der Zuschauer gegenüber dem Text an der Konstitution von Bedeutung beteiligt ist (vgl. ebd. 65). Die Grenzen der Polysemie, sowohl in textueHer Hinsicht als auch in Hinblick auf die Rezeption bleiben bei ihm unterbelichtet Darüber hinaus ergibt sich bei Fiskes Polysemie-Konzept ein weiteres methodologisches Problem: Die Diagnose, dass ein Text polysemischer ist als andere, bleibt natürlich genauso im hermeneutischen Zirkel verhaftet, insofern es sich hierbei lediglich um den textuell vorgenommenen Befund einer einzelnen interpretierenden Instanz handelt. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn Lesarten in ihrer Beziehung zum Text als »negotiated« oder »oppositional« klassifiziert werden. Angesichts dieser Argumentation wäre es konsequenter, Bedeutungen prinzipiell als >vollständige< Konstruktionsleistung von Rezipienten zu betrachten. Polysemie wäre demzufolge kein Merkmal eines Textes, sondern gewissermaßen retrospektiv allein dadurch gegeben, dass mehrere, unterschiedliche Lesarten des jeweiligen Textes vorliegen. Als radikale Konsequenz dieser Auffassung müsste der Text als Referenzgröße der Beurteilung von Rezeptionsakten fortfallen. Jedoch erfordern selbst die radikalsten Auffassungen von >interpretativer Subjektivität< zumindest die hypothetische Existenz eines Objekts oder Konzepts (vgl. Powers, St./Rothman, David J./Rothman, St. 1996: 9). Die Frage ist, welche Schlussfolgerungen sich aus den vorherigen Ausführungen für die kritische Analyse und Interpretation kultureller Repräsentationen wie Filmen und ihrer politischen Implikationen ergeben. Es bleibt zunächst noch einmal festzuhalten, dass es nicht eine einzige oder richtige Antwort auf die Frage gibt, was ein Bild, ein Text, eine kulturelle Repräsentation bedeutet. Since there is no law which can guarantee that things will have •one, true meaning', orthat meanings won't change over time, work in this area is bound to be interpretative - a debate between, not who is ·right' and who is •wrong', but between equally plausible, though sometimes competing and contesting, meanings and interpretations. The best way to •settle< such contested readings is to look again at the concrete example and try to justify one's reading in detail in relation to the actual practices and forms of signification used, and what meanings they seem to you to be producing. (Hall, St. 2002: 9)

Kritische Textanalysen müssen diese epistemologische Problematik meines Erachtens genauso akzeptieren, wie Rezeptionsstudien, die Text-ZuschauerRelationen in den Blick nehmen, d.h. insofern z.B. Medienprodukte bzw. texte als Referenzinstanz von tatsächlichen Lesarten herangezogen werden. Aber auch die >tatsächlichen Lesarten< sind natürlich ihrerseits und für sich genommen Texte, die gedeutet werden müssen. 7

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Natürlich ist es im Rahmen von Rezeptionsuntersuchungen prinzipiell möglich, die Lesarten von Zuschauern (bei Unklarheiten) genau hinsichtlich ihres intendierten Sinns zu überprüfen. Insofern ist der Interpretationsspielraum von Zuschauertexten klar limitiert, weil diese Aussagen durch das Bemühen gekennzeichnet sind, transparente Aussagen zu formulieren. Doch sobald etwa Beziehungen zwischen Aussagen unterschiedlicher Zuschauer hergestellt werden,

136 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Anders als Fiske, der vorschlägt, die Aufmerksamkeit eher von den Strukturen der Präferenz und Geschlossenheit von Texten abzuziehen und stattdessen auf die Leerstellen eines Textes zu richten, weil diese gewissermaßen die Aktivität des Zuschauers in der Herstellung von Bedeutung deutlich oder- wenn man so will- >identifzierbar< machen (vgl. Fiske, J. 1987: 64), meine ich auf Basis der vorhergehenden Ausführungen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Produkten der Medienkultur es nach wie vor erfordert, den Fokus auf diejenigen Strukturen, Merkmale, Muster, Kräfte oder semantischen Beziehungen eines Textes zu richten und zu analysieren, insoweit diese - insgesamt betrachtet - dominante Ideologien perpetuieren. Um a priori die Schließungen einer holistischen Betrachtungsweise im Sinne einer »Hermeneutik des Verdachts« (»hermeneutics of suspicion«) (Elsaesser, Th./ Buckland, W. 2002: 287) zu vermeiden, gilt es, auch jene Elemente eines Textes im Blick zu behalten, die der dominanten Ideologie widersprechen. Schließlich besteht für den einzelnen Rezipienten die Möglichkeit, anhand des Textes verschiedene Lesarten zu diskutieren und trotzdem eine bestimmte zu präferieren (vgl. Jurga, M. 1997: 135).

6.4 Diskurs und Ideologie Nach Andreas Hirseland und Wemer Schneider kann Ideologie - diskurstheoretisch vermittelt- als der Versuch verstanden werden, »die zwangsläu.fig partikulare Perspektive jeder Diskursfo rmation 8 mit dem (hegemonialen) Anspruch zu versehen, einen totalisierenden und universalisierbaren Sinnhorizont aufzuspannen, eine Darstellung der Welt zu liefern, wie sie vorgeblich >wirklich< so und nicht anders ist.« (2001: 392, Herv. i Orig.) Den DiskursBegriff hai John Fiskein seinem Buch Media Malters anschaulich konturiert. Diskurs, schreibt er, is an elusive term, for it refers both to a general theoretical notion and to specific practices within it. At the theoretical level, ·discourse• challenges the structura· list concept of •language• as an abstract system (Saussures Iangue ) and relocates the whole process of making and using meanings from an abstracted structural system into particular historical, social, and political conditions. Discourse, then , is language in social use; language accented with its history of domination, sub· ordination, and resistance; language marked by the social conditions of its use and its users: it is politicized, power·bearing language employed to extend or defend the interests of its discursive community. (1996: 3)

Wenngleich die Diskursanalyse sich insofern von der Ideologiekritik als Repräsentationskritik unterscheidet, als sie nicht auf eine >Wahrheit< (oder einen Wahrheitskem) jenseits der Vorstellung abzielt, ist beiden dennoch

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handelt es sich wieder um einen interpretativen Akt mit den oben genannten Konsequenzen. .. [.. ] discursive formations, as they are known, define what is and is not appropriate in our formulation of, and our practices in relation to, a particular subject or site of social activity; what knowledge is considered useful, rele· vant and •true· in that context; and what sorts of persans or •subjects• em· body its characteristics.. (Hall, St. 2002: 6).

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gemeinsam, dass sie einer Machtkritik verpflichtet sind (vgl. Deuber-Mankowsky, A. 2000: online). Jenseits ihrer epistemologischen Einbettung ist Macht im Sinne des poststrukturalistischen Verständnisses Michel Foucaults verstreut, pluralund dezentriert angelegt. Im Sinne von Foucault haben [w]eder die regierende Kaste, noch die Gruppen, die die Staatsapparate kontrol· lieren, noch diejenigen, die die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen treffen, [ .. ] das gesamte Macht· und damit Funktionsnetz einer Gesellschaft in der Hand. Die Rationalität der Macht ist die Rationalität von Taktiken, die sich in ihrem beschränkten Bereich häufig unverblümt zu erkennen geben - lokaler Zynismus der Macht, die sich miteinander verketten, einander gegenseitig hervorrufen und ausbreiten, anderswo ihre Stütze und Bedingung finden und schließlich zu Gesamtdispositiven führen: auch da ist die Logik noch vollkommen klar, können die Absichten entschlüsselt werden - und dennoch kommt es vor, dass niemand sie entworfen hat und kaum jemand sie formuliert: impliziter Charakter der großen anonymen Strategien, die, nahezu stumm, geschwätzige Taktiken koordinieren, deren >Erfinder< oder Verantwortliche oft ohne Heuchelei auskommen. (Foucault, M. 1983: 116)

Bei Foucault fallen Macht und Widerstand zusammen, das eine existiert nicht ohne das andere. Er geht soweit zu behaupten, dass die Machtverhältnisse nur qua einer Vielzahl von Widerstandspunkten existieren können, die im Netz der Macht allgegenwärtig sind. Foucault spricht sich deutlich gegen die Vorstellung aus, es gebe so etwas wie den >einen Ort< der großen Verweigerung, gleichsam als Kristallisationspunkt des Widerstands, stattdessen gebe es mannigfaltige einzelne Widerstände unterschiedlicher Qualität, spontane, wilde, mögliche, notwendige etc., die in Raum und Zeit unregelmäßig verstreut sind, sich mal dauerhaft(er) in Gestalt von Gruppen oder Individuen manifestieren, sich dann wieder an bestimmten Stellen des Körpers oder in Typen des Verhaltens etc. äußern (vgl. Foucault, M. 1983:ll3ff.). Wie die Sphäre Macht ist auch die Welt des Diskurses nicht auf eine dichotomische Trennung zwischen zugelassenen und ausgeschlossenen, zwischen herrschenden und beherrschten Diskursen reduzierbar. Die Diskurse ebenso wenig wie das Schweigen sind ein für allemal der Macht unterworfen oder gegen sie gerichtet. [ ... ] Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam. Desgleichen sichern das Schweigen und das Geheimnis die Macht und ihre Untersagungen; aber sie lockern auch ihre Zugriffe und schaffen mehr oder weniger dunkle Spielräume. (Ebd.: 122f.)

Foucaults Konzept der Macht und des Diskurses ist letztlich ein wesentlicher Bezugspunkt für die Zurückweisung seitens der Cultural Studies einer zu monolithischen Ideologiekritik der Kulturindustrie. Stattdessen berufen sich die meisten Cultural Studies-Autoren auf das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis, demzufolge Hegemonie verstanden werden kann, als eine Form der kulturellen, politischen, sozialen Dominanz, die keiner Klasse oder Schicht fest zugeordnet ist9 und sich nicht (allein) über die Androhung und 9

Politische Subjekte werden von Gramsei als »komplexe Kollektivwillen" konzeptualisiert, die insofern weit entfernt sind von einem leninistischen Begriff wie Klassenbündnis (vgl. Laclau, E./Mouffe, Ch. 2000: 103).

138 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Ausübung von Gewalt realisiert, sondern deren (bewegliche) Stabilität sich vor allem auch der Zustimmung und Billigung der untergeordneten gesellschaftlichen Kräfte verdankt, was ihre Nachhaltigkeit um so mehr gewährleistet. Wenngleich es eine Zustimmung ist, um die permanent gerungen, die gesichert und reproduziert werden muss und somit nach Gramscis theoretischer Konzeption auch die Bedingung der Möglichkeit von Krisen zulässt, ebenso wie einen Ansatz- oder Interventionspunkt für widerständige, gegenhegemoniale Kräfte und Subjekte. 10 Medienkultur ist einer der zentralen >Ürteklassischen< Ideologiekritik hat jedoch noch eine andere Dimension. So hat u.a. Douglas Kellner das marxistische Modell der Ideologiekritik insofern als reduktionistisch kritisiert, als Ideologie allein mit den Interessen der herrschenden Klasse und ökonomischen Interessen gleichgesetzt wurde und die Berücksichtigung von race, Geschlecht oder Sexualität im Programm Ideologiekritik ausblieb, obgleich diese sozialen Kategorien ebenfalls untrennbar mit den ideologischen Konstellationen der ökonomischen und Klasseninteressen verknüpft sind (vgl. u.a. Kellner, D. 2001: 57; hooks, b.l992). 12

6. 5 Realistische vs. diskursive Lesart medialer Charaktere In Anschluss an John Fiske (1987) kann die Repräsentation eines Charakters in einem Medientext grundsätzlich von zwei unterschiedlichen, gegensätzlichen Positionen aus analysiert und rezipiert werden: auf der einen Seite von einer Lesart aus, die in der Logik einer »realistischen Theorie von Charakteren« (»realistic theory of character« oder »realistic approach«) operiert und auf der anderen Seite von einer diskursiven oder strukturalen Lesart (ebd.: 151 ). Im Sinne des »realistischen Ansatzes« bzw. im Sinne des psychologischen Realismus wird vorausgesetzt, dass der Charakter als Repräsentation bzw. >Abbild< einer realen Person fungiert, d.h. die Merkmale, Verhaltensweisen, Äußerungen und Motivationen eines Charakters werden im Hinblick auf ihre Übereinstimmung (oder Differenz) mit einem real gedachten, individuellen Selbst interpretiert, kontextualisiert und bewertet. Die realistische Lesart operiert mit der Frage: Wie viel >Wirklichkeit< enthält die Figur bzw. der Charakter? Diese Aneignungs- und Verstehensstrategie ist nach Fiske weit verbreitet und wird als selbstverständlich, gar als natürlich wahrgenommen, because it fits so well into the ideology of individualism with its insistence an the uniqueness and consistency of the self. Like realism, individualism sees the self as the prime site for unifying and making sense of experience; a unified sense of experience produces and is produced by a unified sense of the self. This self is unique and different from other selves: its origins are rarely examined but are assumed tobe natural, or biological, rather than social. (Ebd.:152)

12 Insofern fordert u.a. Kellner zu Recht, " that ideology be extended to cover theories, ideas, texts, and representations that legitimate interests of ruling gender and race, as well as dass powers•• (Kellner, D. 2001 : 58). Kellner fasst diese Ausweitung unter dem Begriff der multikulturellen Ideologiekritik (multicultural ideological critique) zusammen . Diese beinhalte, "taking seriously struggles between men and warnen, feminists and anti-feminists, racists and antiracists, gays and antigays, and many other conflicts as well, which are seen to be as important and worthy of attention as dass conflicts by Marxian theory. lt assumes that society is a great field of struggle and that the heterogeneaus struggles are played out an the screens and texts of media culture and are the proper terrain of critical media cultural studies« (ebd.).

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Auf diese Weise wirdjedoch der soziale und politische Aspekt des jeweiligen medialen Charakters in den Hintergrund gerückt und stattdessen laut Fiske die bürgerliche Ideologie des Individuums perpetuiert, deren Ausprägung Fiske im genannten Zitat skizziert. 13 Zudem wird diese Lesart durch realistische Textstrategien, die aufnarrative Geschlossenheit, Einheit und Verständlichkeit, wie sie bereits unter Rückgriff auf David Bordwell et al. (1985) für das klassische Hollywood-Kino referiert wurden, weiter forciert. Die zweite Variante, mediale (filmische) Charaktere zu lesen, ist die diskursive Betrachtungsweise. Danach wird der Charakter als Bestandteil des Textes betrachtet, der genauso wie die anderen textuellen Elemente als Konstrukt von Diskursen und Ideologien aufgefasst wird und diese entsprechend repräsentiert. Insofern wird der jeweilige Charakter nicht um seiner selbst willen betrachtet, sondern stets im Kontext textueller oder intertextueller Beziehungen (vgl. ebd. 153). Diese Verfahrensweise hat eine explizit politische Dimension, insofern als der Charakter eine metonymische Repräsentation sozialer Normen und Wertvorstellungen verkörpert (ebd.: 154). Nach Fiske wird die realistische Lesart eher von denjenigen Rezipienten akzeptiert, die sich mit der dominanten Ideologie (des Individuums) arrangiert haben, während die diskursive Lesart eher durch jene ausgeübt bzw. überhaupt praktiziert werden kann, die sich oppositionell oder widerständig gegenüber der dominanten Ideologie positionieren, etwa durch >ethnische< Minderheiten, Frauen oder Homosexuelle (vgl. z.B. Scheer, U. 2002: 17f.).

6.6 Ideologiekritische Diskursanalyse als kritisches Verfahren und die methodische Umsetzung im Rahmen der Fallstudien In ihrer Bestandsaufnahme im Rahmen einer visuellen Methodologie unterscheidet Gillian Rose (2001) analytisch zwei Methoden der Diskursanalyse, die an die diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults anschließen: Die eine Verfahrensweise konzentriert sich vorrangig auf den Diskurs, wie er durch (visuelle) Texte artikuliert wird. Die Praktiken, die ein solcher Diskurs produziert, rücken bei diesem Verfahren jedoch üblicherweise in den Hintergrund (vgl. Rose, G. 2001: 140). Die andere richtet sich primär auf die Artikulationen von Diskursen durch bzw. in institutionelle(n) Apparaten und institutionelle(n) Technologien. Bei Letzterer geht es vor allem um Fragen der Macht, der Errichtung und Erhaltung von Wahrheitsregimen bzw. um Technologien der Diskurskontrolle. Die Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten von Diskursen spielen hierbei tendenziell ebenso eine nach- bzw. untergeordnete Rolle, wie die detaillierte Analyse visueller und verbaler Texte. Ebenso zeichnet sich der zweite Ansatz dadurch aus, dass eine Beschäftigung mit selbstreflexiven Strategien in der Auseinandersetzung mit der eigenen Methodologie unterbleibt (vgl. Rose, G. 2001: 186). Rose betont, dass es sich hierbei nicht um vollständig voneinander unabhängige Verfahren handelt, die trennscharf separiert werden können. In der diskursanalytischen Forschungspraxis konzentriere sich aber der Fokus entweder auf die eine oder die andere Methode. Da der analytische Schwerpunkt dieser Arbeit pri13 Wobei es sich hierbei um eine recht verkürzte Darstellung von bürgerlicher Ideologie des Individuums handelt.

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mär auf der ersten Variante der Diskursanalyse liegt, möchte ich im Folgenden dieses Verfahren, wie es insbesondere in den einzelnen (Fall-)studien Anwendung findet, näher erläutern. Zunächst lässt sich eine solche Diskursanalyse, die ihren Fokus auf die Artikulation von Diskursen innerhalb oder besser entlang von Filmen richtet, als gleichsam >professionelle Variante< der dargestellten diskursiven Lesart begreifen. Als zentrales Kennzeichen der kritischen Diskursanalyse (»Critical Discourse Analysis«) verweist Fairclough (1999) auf ihre textuelle Orientierung. Im weitesten Sinne wird mit der Diskursanalyse Sprache in ihrer sozialen Modalität untersucht. Die von ihr getroffenen Aussagen basieren auf der genauen Analyse (close analysis) von Diskursen innerhalb von visuellen und verbalen Texten (vgl. Barker, Ch./Galasinski, D. 2001: 62). Laut Fiske geht es jedoch in Diskursanalysen nicht darum, die Regelungen bzw. Konventionen des Diskurses als Signifikationssystem zu verfolgen: Im Gegensatz zu linguistischen Verfahren sei weniger von Bedeutung, wie Aussagen zustande kommen, im Mittelpunkt stehe stattdessen die Frage, welche Aussagen getroffen werden und welche nicht, ebenso wer diese Aussagen trifft und wer nicht (Fiske, J. 1996: 3, vgl. auch Newitz, A. 2002: 166). Insofern allerdings Diskurse, genauso wie Sprache und Kommunikation, von machtvollen Regeln beherrschte Aktivitäten sind, ist es nach wie vor erforderlich, den diskursanalytischen Fokus auch darauf zu richten, wie in Diskursen und durch Diskurse bestimmte Regeln und Prinzipien verfolgt werden, ebenso wie gegen sie verstoßen wird, sie ignoriert oder ersetzt werden (vgl. van Dijk 1997: 13f.; vgl. Barker, Ch./Galasinski, D. 2001: 63). Dies schließt ein, dass Aussagen gerade auch im Sinne einer linguistischen oder kritisch filmwissenschaftliehen Perspektive als rhetorische Strategien untersucht, d.h. entsprechend auch in ihrer formalen Dimension, d.h. im Hinblick auf ihre narrative Logik und die filmischen Codes (Montage, Kameraästhetik, etc.), sorgfältig analysiert werden sollten. Die Aussagen insgesamt, sowie die Struktur ihrer rhetorischen Organisation, sind allerdings grundsätzlich weder von den kontextuellen Bedingungen ihrer Produktion, Zirkulation und Rezeption noch von ihren komplexen intertextuellen Bezügen (Intention des Autors, Rezensionen) trennbar. Dementsprechend gilt es im Rahmen dieser Diskursanalyse beide Perspektiven, sowohl die rhetorische Organisation des Diskurses (im Sinne des textuellfilmischen bzw. innerfilmischen Diskurses) als auch die soziale Produktion der diskursiven Aussagen (außerfilmischer Diskurs), die lediglich zu analytischen Zwecken unterscheidbar sind, zu berücksichtigen. Als erkenntnisleitende Fragestellungen und analytische Strategien im Anschluss an die vorhergehenden Überlegungen werden im Rahmen der hier versuchten ideologiekritischen Diskursanalyse in der Auseinandersetzung mit den filmischen Texten folgende sich teilweise überschneidenden Perspektiven und methodologischen Überlegungen eine zentrale Rolle spielen: • Dadurch, dass Diskurse auf die Erzeugung »antagonistischer Relationen hinwirken« (ebd. 396), beinhaltet eine kritische Diskursanalyse immer auch eine Machtkritik Dieser analytische Fokus konzentriert sich darauf, wie durch eine Signifikationspraxis >bedeutungsvolle< Beziehungen als Effekte von Macht erschaffen, strukturiert, stabilisiert und umgewandelt werden. Wobei Macht, die Akteuren als Ressource zur Verfügung steht, in diesem Kontext immer als strukturierend, unabhängig davon, ob sie strukturerhaltend oder verändernd wirkt, gefasst wird und nicht als dem

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Diskursiven vorgängig verstanden wird (ebd.). Was die Auseinandersetzung mit der textuellen Ebene von Filmen betrifft, so richtet sich der kritische Blick allgemein auf die semiotischen Schließungen, Naturalisierungen und Stereotypisierungen, die sich anhand der Untersuchungskategorien von sexlgender, race/ethnicity, Klasse, Nationalität etc. identifizieren lassen, sowie auf die sich hieraus ergebenen und entlang dieser Kategorien entstehenden Asymmetrien, Hierarchisierungen und Ideologien. Ebenso gilt es aber auch jene diskursiv-textuellen Widersprüchlichkeiten zu berücksichtigen, die den hegemonialen bzw. ideologischen Strukturen der diskursiven Ordnung des Filmes zuwiderlaufen. • Indem Diskurse sich stets auf bedeutungsvolle Relationierung von Subjekt-Objekt-Regel/Praxis-Verhältnissen beziehen und ihrerseits in Kontexte involviert sind, ohne diese diversen Verweise selbst zu thematisieren, haben sie eine latente Dimension: »Sie >be-deuten< immer mehr als sie sagen, indem sie sichtbar machen, verbergen sie zugleich« (Hirseland, A./Schneider, W. 2001: 395, Distanzierung im Orig.). Es wäre nach Andreas Hirseland/ Werner Schneider die Aufgabe einer >ideologiekritischen< Diskursanalyse diese latenten Bezüge herauszuarbeiten. Ein Kernelement der Diskursanalyse ist danach die allgemeine Frage nach dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Was wird gezeigt und thematisiert und was wird verschwiegen? (vgl. Rose, G. 2001: 157). • Wichtig ist ebenso die Frage danach, mit welchen Überzeugungs- und Legitimationsstrategien der filmische Diskurs insgesamt operiert, insbesondere jedoch die Protagonisten (zum Beispiel die klassische ideologische Strategie bzw. Taktik, partikulare Interessen als allgemeine herausstellen). Als Repräsentanten von Diskursformationen sind sie wie reale Personen unabdingbar Träger von Systemen sozialer Werte und Normen. Die Konflikte des Films sind nicht nur Widerstreit materieller oder persönlicher Interessen und Bedürfnisse, sondern zugleich immer auch ein Kampf um kulturelle Bedeutungen, in denen bestimmte Figuren, Gruppen oder Institutionen Diskurshoheit besitzen und andere nicht. Hier gilt es herauszufinden, mit welchen Mitteln und Ressourcen die diskursiven Kräfte ihre hegemoniale Kontrollfunktion und Definitionsmacht erreichen, ausüben und absichern. Des Weiteren gilt es hierbei die Rolle der narrativen und textuellen Konstruktionen zu berücksichtigen und zu prüfen, inwieweit auf der ästhetisch-formalen Ebene der Signifikanten den Signifikaten eine bestimmte Konnotation verliehen wird, dem Dargestellten eine bestimmte Richtung gegeben wird, und die Beziehungen, Widersprüche und Tendenzen herauszustellen, welchen sozialen (Macht-)Interessen das diskursive Repertoire des Films entgegenarbeitet. • Nach dem klassischen Hollywood-Paradigma folgt der narrative Prozess einem Muster, in dem die filmische Welt des Gleichgewichts etabliert wird, die durch das Eintreten bestimmter Ereignisse gestört wird, um am Ende einen neuerlichen Status Quo zu konstituieren bzw. den anfänglichen Gleichgewichtszustand rekonstituieren zu können (vgl. Belton, J. 1994: 22). Aus diskurstheoretischer Sicht ist es hier relevant, die Konstruktion des textuellen Equilibriums als >natürliche< und legitime Ordnung der Dinge kritisch zu betrachten. Inwieweit ist der anfängliche Status Quo als diskursive Ordnung wirklich im Gleichgewicht und wird die eintretende Störung als untrennbar mit dem Zustand des Gleichgewichts verbunden oder eher als etwas Äußerliches oder Kontingentes konstruiert?

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• Entscheidend ist ferner die narrative Motivation der verbalen Äußerungen und Handlungen der Protagonisten. Welche Handlung und Äußerung wird explizit und auf welche Weise motiviert und welche wird schlichtweg als gegeben gesetzt? Auch hier geht es zentral um die Konstruktion einer natürlichen Ordnung der Dinge innerhalb des filmischen Diskurses. • Diskurse repräsentieren nicht nur Ereignisse auf visuelle oder verbale Art und Weise. Sie kontextualisieren diese Ereignisse auch mit anderen Ereignissen, was wiederum Bedeutungsverschiebungen zur Folge hat (Fiske, J. 1996: 5f.). Insofern diskursive Prozesse grundsätzlich kontingent sind und daher politischen Charakter haben (und inhärent durch Macht bestimmt sind), institutionalisieren diskursiv erzeugte Bedeutungsordnungen durch ihre immer schon partiellen Sinnfixierungen bestimmte Formen der Problemlösungen und schließen andere aus. Diskurse und Diskursformationen lassen sich als historisch kontigente, aber qua ihrer Durchsetzung hegemoniale Artikulationen spezifischer Interessen (und Bedürfnisse) verstehen, über die Identitäten konstruiert werden. Da diese nur über die Konstruktion eines jeweiligen >Außen< oder >Anderen< begreitbar sind, die als unartikulierter Bestandteil des jeweiligen Diskurses operiert, ist es notwendig im Rahmen der Diskursanalyse nicht nur den jeweiligen Diskurs, der den konkreten Forschungsgegenstand darstellt, zu >rekonstruierenobjektiviert< erscheint und als solcher institutionalisiert wird. Dies impliziert auch ein spezifisches Bild des >SubjektsRepräsentation< »seinerseits Objekt einer gesellschaftlichen Bearbeitung wird« (Hirseland, A./Schneider, W. 2001: 396). Diskurse stellen somit bestimmte Subjektpositionen her, sie implizieren Vorstellungen davon, wie Subjekte sein sollen, d.h. sie bieten Identifikationsangebote und Integrationsprozeduren, aber auch »Zumutungen an Subjekte und Ausschlußbzw. Ausgrenzungsprozeduren« (ebd.). Insofern aufGrundJage einer nicht vollständigen Identifikation von Subjekten mit dem jeweiligen Diskurs auszugehen ist, gilt es für die Diskursanalyse auch in dieser Hinsicht die Brüche, Gegen- und Desidentifikationstendenzen zu benennen (ebd.). Insbesondere im Rahmen der folgenden Fallanalysen spielen die genannten >Einzelperspektiven< oder analytischen Ebenen grundsätzlich eine entscheidende Rolle als erkenntnisleitende Fokussierungen oder als strategische Orientierung der Fragestellungen, wobei je nach konkretem Gegenstand einzelne dieser Perspektiven selbstverständlich unterschiedlich relevant sind. So geht es bei THE WATERMELON WOMAN beispielsweise um die diskursive Ebene der Sexualpolitik, sowie um die Ebene der >Repräsentation< afroamerikanischer Frauen in Hollywood - beides Diskurse, deren zentrale Bedeutung in diesem Fall vom Filmtext deutlich nahe gelegt wird. Diesen Diskursen gilt es nachzuspüren und ihren kontextuellen Zusammenhang aufzuzeigen, über den innerfilmischen, primär textuellen Diskurs hinaus. Dies bedeutet etwa der Frage nachzugehen, wie afroamerikanische Frauen üblicherweise in Hollywood dargestellt wurden. Die Darstellung der lesbischen Beziehung zwischen einer >Schwarzen< und einer >Weißen< im Film erfordert wiederum,

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kulturelle (hegemoniale) Diskurse zur Sexualpolitik einer solchen interracial relationship in den Blick zu nehmen, usf. Darüber hinaus gilt es aber auch die eher intratextuelle Ebene des innerfilmischen Diskurses genau zu untersuchen. Auf welche Weise steht etwa die Geschichte des Dokumentarfilmprojekts einer afroamerikanischen Filmemacherin über eine afroamerikanische Kleindarstellerin der Studioära textuell mit der sexuellen Beziehung dieser Filmemacherin zu ihrer weißen Freundin in Verbindung? Die außerfilmischen Diskurse und die innerfilmischen Diskurse müssen letztlich in ihren wechselseitigen Beziehungen betrachtet werden, was eine intensive Auseinandersetzung mit beiden analytischen Ebenen voraussetzt. Grundlage fiir eine fundierte Diskursanalyse, deren Charakteristika als Verfahren bereits ausführlich dargestellt wurde, ist in jedem Fall die genaue analytische Betrachtung der Filme selbst, was eine mehrfache Rezeption (hier: ca. 10-malige Rezeption) derselben einschließt. Darüber hinaus wurde zur methodischen Unterstützung und Orientierung der Analyse als Transkriptionsverfahren das Sequenzprotokoll eingesetzt (vgl. Korte, H. 2000: 38f.), das einen Überblick über den Handlungsverlauf als Grundlage und Illustration der Analyse zur Verfügung stellt und eine für die Analysezwecke sinnvolle Einteilung in Sequenzen (und Subsequenzen) unternimmt (ebd.: 39). Das Sequenzprotokoll erleichtert vor allem auch die Belegführung im Rahmen der Filmanalyse, weil die Bezüge zum Film durch die Angaben der Sequenzen/Subsequenzen genau verortet werden können (vgl. ebd.). Eine Filmanalyse als ideologiekritische Diskursanalyse, darauf wurde bereits hingewiesen, sollte (soweit möglich), neben einer Analyse des eigentlichen Films, eine analytische Berücksichtigung des jeweiligen Produktionsund Rezeptionskontextes beinhalten. Mit der Untersuchung des Produktionskontextes wird jener diskursive Kontext betrachtet, der vor allem unmittelbar die Entstehung und Herstellung des Films, sowie deren soziokulturell-diskursive Einbettung bzw. Verankerung, umfasst. Dies betrifft beispielsweise die Erfassung und Einordnung von Finanzierungs- bzw. Förderungsbedingungen des Films, Filmbudget, Castingabläufe, Dauer der Projektentwicklung, die unmittelbare Produktionsweise (location shoafing oder Studioproduktion, Einsatz filmischer Technik, Aufnahmeverfahren etc.), fest screenings, Vertriebs- und Auswertungsstrategien (Anzahl der Kinos, in denen der Film gestartet wird, Festlegung des Veranstaltungsorts für die Premiere), bisherige Arbeiten des Regisseurs, Stellung der Produktionsfirma etc. Mitunter stellen sich solche Informationen jedoch letztlich nicht für das jeweilige Erkenntnisinteresse einer Untersuchung als relevant heraus. In solchen Fällen ist es wenig sinnvoll, lediglich der analytischen Vollständigkeit halber, diese Informationen in die analytische Auswertung zu integrieren. Mit der Analyse des Rezeptionskontextes wird versucht, zeitgenössische bzw. historische Rezeptionsweisen des Films (wenn möglich) zu >rekonstruierentatsächliche Rezeptions weisentatsächliche< Lesarten und Aneignungsformen eines Films zulassen. Im Rahmen dieser Arbeit wurden sie allerdings schon deshalb analytisch berücksichtigt, um an geeigneter Stelle Korrespondenzen oder signifikante Abweichungen zur textuellen Analyse aufzuzeigen. Relevantes Analysematerial des Rezeptionskontextes können schließlich Interviews z.B. mit dem Regisseur, Schauspieler, Autor etc. sein, die Auskunft über die mit dem Film verbundenen intendierten Bedeutungen geben können, ferner Dokumente wie PR-Materialien oder Werbetexte (Werbespots, Filmplakate, etc.) oder auch Reaktionen beispielsweise von Politikern oder soziapolitischen Institutionen auf den jeweiligen Film in den Medien, usf. Kulturelle Texte wie Interviews oder auch PR-Materialien lassen sich prinzipiell auch als zum Produktionskontext zugehörig begreifen, nicht nur weil es sich im weitesten Sinne um Produktionsstrategien handelt, sondern insbesondere auch dann, wenn diese zeitlich vor der Premiere bzw. dem Kinostart liegen. Hier ist also eine trennscharfe analytische Unterscheidung nur schwer vorzunehmen. Wie beim Produktionskontext ist die Berücksichtigung des Rezeptionskontextes abhängig von der jeweiligen Fragestellung und Fokussierung der Untersuchung, sowie der Ergiebigkeit und Verfügbarkeit des Materials. Die Analyseebenen des Produktions- und Rezeptionskontextes werden in dieser Arbeit primär implizit und gleichsam innerhalb der textuellen Analyse miteinbezogen. Die explizite analytische Berücksichtigung als eigenständiger Analyseteil erfolgt, wie erwähnt, entsprechend der analytischen Relevanz nur an ausgewählten Stellen (vgl. z.B. Kap. 8.3.3). Abgesehen davon, liegt der Fokus dieser Arbeit klar auf der diskursanalytischen >Kontextbetrachtung< des eigentlichen Filmtextes.

6. 7 Positive/negative Image-Debatte In den verschiedenen Disziplinen und Ansätzen, die sich kritisch mit dem Medium Film auseinandergesetzt haben, wie etwa die feministische oder schwullesbische Filmwissenschaft, bestand die Repräsentationskritik vor allem im Anfangsstadium der jeweiligen Theoriebildung aus der Kritik und Zurückweisung der Darstellung negativer Stereotype, häufig verbunden mit der Forderung, dass die negativen stereotypen Darstellungen durch positive (und nicht stereotype) ersetzt werden sollen. 14 Indes ist eine solche Kritik bzw. ein solches Plädoyer nicht unproblematisch. So wurde bzw. wird damit häufig eine Vorstellung von Repräsentationen verbunden, derzufolge Ereignisse bzw. Personen entweder >realistischwahrhaftig< abgebildet werden oder eben nicht. Mediale Repräsentationen und ihre Auswirkungen, funktionieren jedoch nie so einfach, dass sich stereotype Darstellungen als an und für sich falsch oder richtig bzw. gut oder schlecht einordnen ließen, so als ob darüber Konsens herrsche (vgl. Smith, V. 1997: 4). Das heißt wiede14 Zur umfangreichen Literatur, die es seit gut 30 Jahren zum Thema Stereotype im Film gibt, zählen u.a.: Dyer, R. (1977); Hilger, M. (1986); Richards, A.C. (1992) oder Miller, R.M. & Woll, A. L. (1987). Aber auch in denneueren akademischen Diskursen ist die Auseinandersetzung mit Stereotypisierungspraktiken nach wie vor von Relevanz, vgl. dazu Halberstam (1998), White (1998) oder Smith (1997).

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rum nicht, dass Stereotype zumeist nicht tatsächlich und buchstäblich verletzend wirken. Aber negative Stereotype durch positive Darstellungen zu ersetzen, transformiert noch lange nicht das System, dass die Stereotypen produziert hat (vgl. White, P. 1998: 118). Darüber hinaus kann man Stereotype zunächst einmal so begreifen, dass sie »a particularly economic way of identifying members of a particular social group in relation to a set of quickly recognizable characteristics [repräsentieren]« (Halberstam, J. 1998: 180). Nun liegt allerdings einerseits der abwertende Charakter von Stereotypen gerade in dieser Reduktion von Heterogenität. Andererseits »the stereotype does often represent a >true< type, a type, in other words, that exist within the subculture« (ebd.) Queere Stereotype, darauf hat Judith Halberstam erneut hingewiesen, können sichtbar machen, was in der dominanten, offiziellen (Medien-)Kultur unsichtbar ist. Und nach ihrer Ansicht ist Unsichtbarkeit häufig schlimmer als Sichtbarkeit (vgl. ebd.:185). Judith Halberstam geht so weit zu behaupten, dass »[t[he darnage they do lies less in the way they depict homosexuality in relation to pathology and more in the way they render >gay< or >lesbian< as coherent terms.« Entsprechend könnte ein Beharren auf positiven Darstellungen queerer Charaktere ihrer Ansicht nach ebenfalls katastrophale Effekte haben (ebd.: 184). Ähnlich sieht dies Valerie Smith: »[ .. ] the imprecise nature of the positive/negative distinction has the potential to essentialize racial identity and deny its hegemonic relation to constructions of class, gender, sexuality, region, and so on. In certain critical contexts, the term >positive< is synonymaus with >middle class< or >heterosexualsuburban< or >working classGrenzen< einer diskursanalytisch-ideologiekritischen Repräsentationskritik? Wie geht eine solche Kritik mit jenen Repräsentationen um, die versuchen eine Diagnose der Zeit zu liefern, die sich gleichsam auf den »Einbahnstraßen des Erzählerischen« (Lenk, W. 2001) bewegt? Wie soll man mit dieser modernistischen Text- bzw. Filmpraxis verfahren, die explizit im Akt der Rezeption eine Distanz zum Dargestellten auslösen möchte, die zu erreichen sucht, dass das Unerzählte das Erzählte kritisiert? Was ist, wenn der jeweilige Film als ästhetisches Werk für eine solche Rückübersetzung des Textuelien im Dienste des Guten und Schönen, der Vernunft und Moral, nichts bereithält und stattdessen auf der Ebene der >reinen< Negation verharrt? Man erinnert sich, wie scharf Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE (GB 197 1) für seine radikal ästhetizistische Standpunktlosigkeit, für sein »Schweigen der [bösen] Bilder« kritisiert wurde (vgl. Kirchmann, K. 1995: insb. 14 und 142; Einfügung d. Verf.). Es ist offenkundig, dass die

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»Einbahnstraßen des Erzählerischen« auch für die diskurstheoretische Betrachtung eine besondere Konstellation darstellen. Im Fall von A CLOCKWORK ORANGE wäre der Vorwurf, der Film berge sexistische oder gewaltverherrlichende Implikationen auch auf der Basis einer reinen textuellen Analyse unsinnig und würde den Gegenstand verfehlen, wie Kirchmann in seiner Analyse des Films aufzeigt (vgl. ebd.: 141 ff.). Dennoch ist, oder besser kann, auch dieser Film - diskurstheoretisch betrachtet - nicht neutral sein und wäre in vielerlei Hinsicht sicher problematisierbar, beispielsweise die Darstellung von Frauen in erster Linie als Opfer. Allerdings müsste dies in einer Form geschehen, die die spezifische Erzählstrategie, gewissermaßen das ästhetische Programm des Films, auch im Rahmen einer Diskursanalyse entsprechend reflektiert.

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MAKROPERSPEKTIVE: POLITIK UND IDEOLOGIE IM GEGENWÄRTIGEN

US-1 N DEPENDENT- Fl LM

Es wurde im Rahmen dieser Arbeit bereits aufgezeigt, dass dem Begriff »Independent-Film« als Signifikant kein eindeutiges Signifikat zugeordnet werden bzw. dass der Begriff keineswegs die Bezeichnung einer autonomen Filmsphäre für sich reklamieren kann, sondern dass »independent-Film« am ehesten eine hybride kulturelle Praxis zwischen Formen des avantgardistischen Films und des Mainstreams bezeichnet. Gleichwohl verhält es sich so, wie die vielfältigen diskursiven Verwendungsformen von »IndependentFilm« zeigen, dass der Begriff immer wieder konsequent- explizit wie implizit - als Bezeichnung für eine alternative Filmsphäre in Opposition zum Mainstream-Kino Hollywoods Verwendung findet, selbst dann wenn diese Bedeutung im Kontext ihrer jeweiligen Verwendung durchaus hinterfragt oder negiert wird. Brian Neve operiert beispielsweise ganz unbefangen mit einem Oppositionsverhältnis von Mainstream- und Independent-Film, wenn er sein Erkenntnisinteresse wie folgt beschreibt: While I explore the various political strands of this cinema, the intention is to ask questions about the overall impact of a body work which, by definition, claims to broaden the pluralism of American cultural politics, forcing consideration of aesthetic and social agendas that challenge those of the mainstream . Does this cinema prompt debates on issues such as race, ethnicity, feminism and sexual orientation, which are marginalised in the dominant political culture and mainstream entertainment? Has the moment gone for such a national independent cinema that is distinct from the processes and discourses of the mainstream film industry? (Neve, B. 2002: 125)

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Independent-Film hier zunächst als politisch alternative Sphäre konzeptualisiert wird, gründet sich nicht nur auf Ansprüche, die aus dem kulturellen Feld heraus artikuliert werden. Vielmehr kann Neve z.B. auf die New Hollywood-Untersuchung von Douglas Kellner und Michael Ryan verweisen, die erklären, dass »[t]he left is on the whole more alive outside Hollywood than inside« (Kellner, D./Ryan, M. 1988: 282). Seit der Untersuchung von Kellner und Ryan ist einige Zeit vergangen, was unweigerlich die Frage aufwirft, ob die genannte These tatsächlich über den Rahmen hinaus, für den sie Gültigkeit beansprucht (die 1960er und 1970er Jahre), haltbar ist. Während es nach Auffassung der genannten Autoren unabhängigen Filmemacherinnen in den 1960er und 1970er Jahren gelungen ist, wichtige politische Statements zum Ausdruck zu bringen, hängt die nachhaltige Relevanz der Unabhängigen davon ab, ob es ihnen gelingt, ihre Perspektiven genauso erfolgreich in die Mainstream-Kultur einzubringen, wie sie weiterhin erfolgreich die Entwicklung einer alternativen Kultur reprä-

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sentationaler Möglichkeiten fortschreiben. Dieses Programm ist jedoch alles andere als ein leichtes Unterfangen, denn Independent-Filmemacher hätten nach Ansicht der Autoren vor allem darüber nachzudenken, wie sie eine bessere politische Vision in eine kinematografische Praxis überführen können, die im Stande ist, eine ausreichende Anzahl von Menschen zu erreichen, um als politische Vision überhaupt effektiv zu sein (ebd.: 283). Fünfzehn Jahre nach der Untersuchung von Kellner und Ryan ist nach Auffassung von Filmkritikern und Filmwissenschaftlern gerrau das eingetreten: Der Independent-Film bedient sich der Mainstream-Erzählstrategien ungefähr in dem Maße, wie umgekehrt Hollywood, bis zum einen gewissen Grad, sich stets schon immer >alternative< textuelle Strategien einverleibt hat. 1 Hat der Independent-Film also gelernt, alternative politische Visionen effektiv darzustellen, sodass auch ein breites Publikum ihrer gewahr wird? Oder haben sich mit der Annäherung des Independent-Films an den Mainstream, Ästhetik oder Erzählstrategien betreffend, die politischen Alternativen mit aufgelöst? In welcher Weise werden die kulturellen Artikulationsmöglichkeiten des Independent-Films möglicherweise dadurch reglementiert, dass vormals institutionell oder >formal< unabhängige Produktions- und Distributionsfirmen nun zu den Major-Studios gehören, die wiederum Teil großer Medienkonglomerate sind? Liefern Independent-Filme von/über/für Minoritäten Sichtweisen, Vorstellungen, Erfahrungen kultureller Identität, die sich als signifikante Alternative gegenüber den hegemonialen Konstruktionen des kulturellen Mainstreams erweisen? Solche Fragen suggerieren, dass der Mainstream-Studiofilm per se eine hegemoniale/ ideologische kulturelle Praxis darstellt. Aber wie zu Anfang der Arbeit bereits angedeutet wurde, wäre diese Sichtweise recht einseitig und vereinfachend.

7.1 Politik und Ideologie im Mainstream-Film New Hollywoods Douglas Kellner und Michael Ryan zeigen in ihrer Studie (1988) des Hollywood-Kinos von 1967 bis Ende der 1980er Jahre auf, dass die US-amerikanische Gesellschaft und Kultur durch eine ganze Se1ie von Debatten über das Erbe der 1960er Jahre, über Fragen von Sexualität und des Geschlechterverhältnisses, über Krieg und Militarismus etc., gespalten wurde. Einerseits, so Kellner und Ryan, repräsentierten beispielsweise Filme wie RAMBO: FIRST BLOOD (1982, R.: Ted Kotcheff), RED DAWN (1984, R.: John Milius), MISSING IN ACTION (1984, R.: Joseph Zito), TOP GUN (1986, R.: Tony Scott) etc. eine signifikant aggressive und rechtskonservative Position im Hinblick auf Themen wie Krieg, Militarismus und Kommunismus, die in unterschiedlicher Ausprägung als Propaganda für den Reaganismus und einer rechtsgerichteten interventionistischen und militaristischen Agenda dienten. Andererseits gab es innerhalb des untersuchten Zeitraums stets auch Filme, die die rechte Vision eines Central America und des US-Interventionismus scharf verurteilten, indem sie US-Autoritäten und die herrschenden bürgerlichen Cliquen als >bad guys< darstellten und Rebellen und solche Figuren, die Man denke nur an die Adaption stilistischer Mittel des europäischen Autorenkinos (Nouvelle Vague) durch die Movie Brats.

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gegen den US-Imperialismus kämpfen2 , textuell positiv zeichnen. So hätten laut Kellner/Ryan-Filme wie FULL METAL JACKET (1987, R.: Stanley Kubrick), M.A.S .H . (1970, R.: Robert A1tman), CASUALTIES OF WAR (1989, R.: Brian De Palma) oder auch PLATOON (1986, R.: Oliver Stone) eine andere, kritischere Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg gezeigt als Filme wie RAMBO und andere »retum-to-Vietnam«-Filme. Ein ähnlich ambivalentes Bild zeigt sich im Bereich der Sexualpolitik So stehen Filmen mit einer deutlich antifeministischen Tendenz wie KRAMER vs. KRAMER (1979, R.: Robert Benton), AN 0FFTCER AND A GENTLEMAN (1982, R.: Taylor Hackford) oder FATAL ATTRACTTON (1987, R.: Adrian Lyne), eher feministische Filme wie GTRLFRIENDS (1978, R.: Clandia Weill), DESPERATELY SEEKING SUSAN (1985, R.: Susan Seidelman) oder WORKING GIRLS (1986, R.: Lizzie Borden) gegenüber, in denen Frauen und ihr Kampf für Gleichheit und Unabhängigkeit positiv dargestellt würden (vgl. auch Kellner, D. 2001: 102). Wenngleich laut den Autoren die >Linke< eher außerhalb als innerhalb Hollywoods existiert, ist eben doch entscheidend, dass sie das >Innere Rallywoodsreinen< Studioproduktionen bezeichnet, als keineswegs inhärent oder monolithisch ideologisch begreifen (vgl. Kellner, D./Ryan, M. 1988: 2). Mit ihrer Studie relativieren Kellner und Ryan die >traditionelle< Ideologiekritik, die davon ausgeht, dass Hollywoods repräsentationale Konventionen, die formalen wie die inhaltlichen, dazu beitragen, Ideologie(n) zu installieren, die die Interessen und Werte der Herrschenden (Kapitalismus, Patriarchat) legitimieren: So würden die formalen Konventionen Hollywoods (die Prinzipien von narrativer Logik, Einheit, Ordnung, Verständlichkeit, etc.) Ideologie dadurch installieren, dass sie die Illusion erzeugen, das Geschehen auf der Leinwand sei eine neutrale Aufzeichnung objektiver Ereignisse statt die Konstruktion eines bestimmten sozialen, politischen undJ oder auch künstlerischen Standpunkts. Während die thematischen Konventionen, wie z.B. der heroische Protagonist, die romantische Suche, die kriminellen und >rassischen< Stereotype etc., Ideologie dadurch befördern, dass sie den Realitätseindruck mit bestimmten sozialen Werten und Normen auf eine Art in Verbindung bringen, der diese als natürliche und normale Eigenschaften einer unveränderlichen Welt erscheinen lässt. Die genannten Formen von Ideologie bestimmen zwar nach wie vor auch New Hollywood, aber eben nicht vollständig. Ihnen kommt es darauf an, das Konzept einer kinematografischen Ideologie so auszudifferenzieren, dass es dabei spezifische historische Unterschiede ebenso berücksichtigt wie die unterschiedlichen repräsentationalen Strategien von Filmen und deren Effekte in variierenden sozialen Situationen (vgl. ebd.: 1). Zu einem signifikant anderen Resultat über das Verhältnis von Film und Gesellschaft bzw. Film und Ideologie im New Hollywood kommt die Studie Hollywood's America (1996) von Steven Powers, David J. Rothman und Stanley Rothman. Ihre soziologische Untersuchung verbindet zwei anspruchsvolle Teilstudien. Auf der einen Seite die Durchführung einer systematisch-quantitativen Inhaltsanalyse auf Basis eines random samplings, die die soziapolitischen Themen in den kommerziell erfolgreichsten Hollywood-

2

Wobei dieser »Kampf" durchaus auch von rechten Kräften in den USA verfolgt wird.

152 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Filmen3 im Zeitraum von 1946 bis zur Gegenwart untersucht. Auf der anderen Seite eine Studie über die politischen Einstellungen, Hintergründe und Persönlichkeiten der Hollywood-Elite im Vergleich zu anderen amerikanischen Elitegruppen (z.B. militärische, wirtschaftliche). Beide Teilstudien werden darüber hinaus in den Kontext einer Diskussion über die sozialen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft in ihrer wechselseitigen Beziehung zur amerikanischen Filmindustrie eingeordnet. Das Ziel der Studie über die Hollywood-Elite von Powers et al. besteht darin, zu verstehen, was für ein Bild von Amerika diese Elite hat und ihre Vorstellungen und Überzeugungen darüber, wie sich die Gesellschaft entwickeln sollte, zu eruieren (ebd.: 5). Während das Ziel der Inhaltsanalyse darin besteht, Typen von Repräsentationen zu identifizieren und zu untersuchen, wie diese sich mit der Zeit verändert haben (ebd.: 6). Powerset al. interessieren sich schließlich in einer >synthetischen Perspektive< für »correlations between the backgrounds, attitudes, and beliefs of this Hollywood elite and the style and content of the movies that they make« (ebd.: 1). Die Autoren betonen, dass ihre Methode und Methodologie eine genuin sozialwissenschaftliche sei, die eine antithetische Position gegenüber dem »analytischen« und »anekdotischen« Cultural Studies-Ansatz einnehme, insofern aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Beziehung zwischen Ideologie und Sozialstruktur als empirisch und mit vernünftiger Objektivität analysierbar aufgefasst wird, wohingegen viele Vertreter der Cultural Studies die Auffassung verträten, dass die analytisch einzig zugänglichen Manifestationen einer Gesellschaft kulturelle Repräsentationen seien und entsprechend wie literarische Texte analysiert werden sollten - eine Auffassung, die Powerset al. in dieser prinzipiellen Form klar ablehnen: »We maintain that a broad sociological and empirical approach to the study of social messages in motion pictures is more likely to provide us with useful insights than a subjective, symbolic analysis that assumes that the hegemony of certain ideas is embedded in symbolic representations that are to be analyzed as literary texts« (ebd.: xvi). Die Autoren machen deutlich, dass Gesellschaft zwar nur durch ihre kollektiven Repräsentationen erfahrbar sei, dies aber nicht bedeute, dass die hinter den Repräsentationen liegenden gesellschaftlichen Praktiken unzugänglich sind und es sinnvoll sei, an dem epistemologischen Projekt, die soziale Realität zu beschreiben, festzuhalten (ebd.: 195). Sie weisen ferner daraufhin, dass ihre Inhaltsanalyse natürlich keinerlei Aussagen über tatsächliche Lesarten von Zuschauern trifft. Sie sind allerdings der Ansicht, dass »the subjectivity of response, or reception, does not contradict the notion that there is an actual-art object provoking the response« (ebd.: 8). Die Ergebnisse ihrer Studie fassen sie wie folgt zusammen. Our survey indicates that, far from being conservative or reactionary forces in the society as many academics insist is the case, elite directors, writers, and producers now usually espouse liberal or leftist perspectives that became prominent in the 1960s. Further, our systematic content analysis of a random sample of motion pictures since 1945 establishes that the movies of this creative elite articulate these new attidudes, which stand in marked cantrast to those of the majority of 3

Die Autoren vereinigten immer die zehn Filme eines Jahres zu einem Sample, die die meisten Einnahmen an der inländischen Kinokasse zu verzeichnen hatten.

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the American public (and traditional elite groups) on a wider range of issues. This comes as no surprise. A very substantial majority of moviemakers explicitly affirm their believe that motion pictures should encourage social reform. (Ebd.: 3)

Nach Ansicht von Powerset al. waren die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen seit den 1960ern weitaus stärker und andauernder, als man gemeinhin glaubt. Entlang aller ihrer Untersuchungskategorien, class, race, gender, violence, religion etc., stellen die Autoren der Studie fest, dass die Filme der Nachstudioära in Hinblick auf Charakterdarstellung und p/ot-Entwicklung deutlich liberaler seien als die Filme der klassischen Ära. Sogar die Filme der Reagan-Ära seien mehrheitlich keineswegs im Sinne eines ideologischen Rückfalls in die 1940er und 1950er Jahre zu bewerten (ebd.). Die beiden genannten Studien stimmen also insgesamt mehr oder weniger darin überein, New Hollywood keineswegs als einen monolithischen >Block< zu betrachten, sondern als ein ideologisch komplexes und widersprüchliches Phänomen. Während Kellner und Ryan insgesamt eher den konservativen Tendenzen Hollywoods kritische Beachtung schenken, betonen Powers et al. die liberal-progressiven Tendenzen des Hollywood-Kinos der Nachkriegszeit, eine Einschätzung, die im Übrigen von vielen Konservativen in den USA geteilt wird, denen Hollywood ohnehin zu links ist. Die Studie von Powers et al. ist eine der nachdrücklichsten Verteidigungen Hollywoods gegen die kritische Auseinandersetzung mit New Hollywood-Filmen. Ihre Kritik an Cultural Studies im Besonderen und an der »poverty of film theory«4 im Allgemeinen sowie die geäußerte Skepsis gegenüber den Resultaten kritischer close readings einzelner New Hollywood-Filme erscheint mir jedoch unbegründet (vgl. Davies, Ph. J./ Wells, P. 2002: 6). Zunächst geht es im Sinne der (kritischen) Cultural Studies nicht darum, kulturelle Repräsentationen wie Texte zu analysieren, sondern diese als Diskurse - als Sprache im sozialen Gebrauch - aufzufassen, d.h. eine Perspektive einzunehmen, die gerade den primär textuellen Fokus zu transzendieren sucht. Es geht darum, Texte als Ausdruck von und in Verbindung mit soziokulturellen Diskursen über soziale Belange entlang solcher Kategorien wie und im Zusammenwirken von >Ethnizitätspezialisierter Märkte< in den 1980em und 1990ern unterstrich das Bedürfnis nach Konzepten und Gerüsten, mit denen die Modi und Mittel einer pluralistischen Gesellschaft unterstützt werden konnten. Pribram zufolge haben diese soziokulturellen Prozesse wesentlich zur Herausbildung des Independent-Films in den 1980ern und 1990ern als einer kulturellen Arena beigetragen, in der die Repräsentation der Unterpräsentierten und Marginalisierten nunmehr stattfinden sollte. Filme wie CHAN Is MTSSTNG (1982, R.: Wayne Wang), SHE'S GOTTA HAVE IT (1986, R.: Spike Lee), DESERT HEARTS (1986, R.: Donna Deitch) oder WORKTNG GIRLS (1987, R.: Lizzie Borden), die im engen Kontext mit den verschiedenen identity palifies standen, sollten bald wesentlich zum Aufstieg und Erfolg des amerikanischen Independent-Films beitragen (Pribram, E. D. 2002: 282). SHE'S GOTTA HAVE IT z.B. spielte in den USA über sieben Millionen US-$ ein.

7.3 Black independent voices: Blaxploitation, L.A. School, New Black Cinema Nach Brian Neve war eine der Schlüsselentwicklungen im Aufstieg des Independent-Films seit ca. 1985 der zumindest in einigen Genres stattfindende Durchbruch von afroamerikanischen Filmemachern (vgl. Neve, B. 2002: 6

Der Begriff »ethnic revival" zielt auf die Wiederentdeckung kultureller Markierungen (Kleidung, Sprache) für die Identität •ethnischer, Gruppen, wie sie in den USA besonders während der 1960er und 1970er Jahre zum Ausdruck kam .

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133). Als ein zentraler Protagonist dieses Phänomens gilt Spike Lee. SHE'S GOTTA HAVE IT war Lees erster Spielfilm und markierte den Auftakt von im guerilla-style finanzierten Filmen wie Robert Townsends HOLLYWOOD SHUFFLE (1987) oder Julie Dashs DAUGHTERS OF THE DUST (1991), die nach Ansicht von Guerrero halfen, die diskriminierenden Insider-Netzwerke und Seilschaften aufzusprengen, »that kept African Americans shut out of the production end of the movie business after the collapse of the Blaxploitation period in the mid-1970s« (Guerrero, E. 1999: 328). Wie weit diese >Aufsprengung< tatsächlich erfolgreich war, wird bis heute heftig debattiert. Einigkeit besteht darüber, dass es eine Weile dauerte und viel Mühe kostete, bis überhaupt nur ein Riss im Hollywood-Gefüge erkennbar war. Spike Lee hatte bei der Finanzierung von SHE'S GOTTA HAVE IT große Schwierigkeiten, ähnliches gilt für Julie Dashs DAUGTHERS OF THE DUST (1991). Und nach wie vor existieren derartige Schwierigkeiten für Minoritäten-Regisseurlnnen bzw. -Produzentlnnen. Gemäß Tommy L. Lott bestand das Ziel der afroamerikanischen Independent-Bewegung darin, der Hollywood-Darstellung von >Schwarzen< entgegenzuwirken und der eher radikalen ästhetischen und politischen Orientierung vieler Independent-Filme zu einer «fimction of counter hegemonic practices« zu verhelfen (Lott, T. 1998: 211). Als einer der frühesten schwarzen Independent-Filme galt BIRTHOF A RACE (1918, R.: John W. Noble), der von Ernmet J. Scott gewissermaßen als Gegenfilm zu David W. Griffiths rassistischem BIRTH OF A NATION (1915) produziert wurde. Letzterer wird damit nicht nur von Filmhistorikern und -kritikern als symbolischer Ursprung des US-Kinos betrachtet, sondern gleichermaßen auch als Inauguralmoment des African American Cinemas zur Initiierung einer gegenhegemonialen Filmpraxis behandelt(vgl. Smith, V. 1997: 1). Obgleich die frühen Filmarbeiten von Schwarzen sich, wie Lott schreibt, durch ein oppositionelles Verhältnis gegenüber Hollywood auszeichneten, waren die Produktionsweisen doch von Hollywoods Einfluss auf das schwarze Publikum beherrscht. Gelegentlich veranlasste der Wettbewerb mit den Studios sogar einen Filmemacher wie Oscar Micheaux Szenen mit blackface ministrels zu Unterhaltungszwecken einzubauen. »But if even the most negative aspects of the Hollywood image of black people are sometimes reproduced by black filmmakers in an effort to attract black audiences, the Opposition of black independents to Hollywood films seems amenable to compromise« (Lott, T. 1998: 212).

7.3.1 Blaxploitation Wie Lott weiter aufzeigt, umfasst der Begriff »independent black cinema« unterschiedliche Filmpraktiken in Amerika. Neben den Hollywood-Studios gab es das öffentliche Fernsehen oder die UCLA film school, die jeweils in den späten 1960ern und frühen 1970em Möglichkeiten für afroamerikanisches Filmemachen zur Verfügung stellten. Die Studios hatten Filme produziert, in denen sie afroamerikanische Sportler, beispielsweise berühmte foothall player wie Jim Brown (u.a. RTO CHONOS 1964, R.: Gordon Doug1as; THE DIRTY DOZEN 1967, R: Robert Aldrich) oder Fred Williamson (u.a. M.A.S.H. 1970, R.: Robert Altman), schon in der Mitte der 1960er besetzten. Damit begann ein Trend von black audience jilms, der sich allmählich mit dem Erscheinen von Filmen wie 100 RIFLES (1969, R.: Tom Gries), COTTON

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COMES TO HARLEM (1970, R.: Ossie Davies) oder WATERMELON MAN (1970, R.: Melvin Van Peebles) verstärkte (vgl. Lott, T. 1998: 213ff.). Jedoch brachte erst der Erfolg von Melvin Van Peebles' SWEET SWEETBACK'S BAADASSSSS SONG (1971) Anfang der 1970er Jahre eine Flut stereotyper Filmproduktionen hervor, die Blaxploitation-Filme, zu denen auch SHAFT (1971 , R.: Gordon Parks), SUPERFLY (1972, R.: Gordon Parks jr.) oder Foxv BROWN (1974 R.: Jack Hili) zählten. Diese Filme zeigten im Wesentlichen, wie Chris Norton schreibt, black actors in black action narratives which usually concealed subtextual themes of black nationalism and the Black Power rebellion. [ ... ] Because of [the) in· dustrial strategies, this group of films became known as blaxploitation, due both to the economic strategies of the film industry and the exploitation of the black public's desire to see black faces and themes in non·subjugational positions an the screen. (Norton, Ch. 1997: online)

Bis etwa Mitte der 1970er Jahre ste11ten allein die Major-Studio im Zuge des Erfolgs von SWEET SWEETBACK'S BAADASSSSS SONG im Durchschnitt pro Jahr ungefähr fünfzehn Action-Filme mit afroamerikanischen Hauptdarstellern her (vgl. Rhines 1995: online). Doch bereits im Januar 1974 wurde die >schwarze< Film-Explosion von Variety offiziell für beendet erklärt (Lott, T. 1998: 214). Sehr bald nach ihrem Aufkommen wurden die blaxploitation-Filme zunehmend kritisiert. Zu der bis heute virulenten Kritik gehört die stereotype Darstellungspraxis afroamerikanischer Männer in Rollen als Gangster, Zuhälter und Drogendealer, während afroamerikanische Frauen oft eindimensional als Prostituierte in Erscheinung treten. Auch in Gordon Park Juniors SUPERFLY ist der Held ein Drogendealer. Der Film, so Christopher Miller, »fails to provide a positive role model for young blacks because it applauds the exploits of a drug dealer who effec tively commits an act of genocide against his own race for profit« (Miller, Ch. o.J.: online). Die weit verbreitete Forderung nach positiven Vorbildern bezieht sich hier vor allem auf die soziapolitische Dimension afroamerikanischer Filme, die eben nicht wie die meisten Produktionen der weißen Mehrheit positive Identifikationsfiguren anboten. Der Anspruch an einen Film vorbildhafte Charaktere zu präsentieren geht einerseits von einer zweifelhaften naiven Wirkungsvorstellung aus und impliziert andererseits eine problematische Fixierung auf eine erzieherische Funktion von Filmen. Viele Blaxploitation-Filme revidierten das in Hollywood unter anderen lange vorherrschende Stereotyp des entsexualisierten, sterilen Schwarzen, um eine neue Version agressiv-sexueller schwarzer Männlichkeit an dessen Stelle zu setzen, wie sich ebenfalls am Beispiel des Films SUPERFLY studieren lässt. Allerdings ist die Figur Priest »not a sexual threat to the white woman and the purity of the white race, as Gus in Birth of a Nation, rather he has racially reversed the roles of the plantation owner and female slaves. She is one ofhis dealersand Priest is merely claiming his right to sex as her master« (ebd.). An der Darstellung von schwarzer Männlichkeit in den blaxploitationFilmen kann letztlich der Versuch eine filmische Version einer starken black consciousness zu demonstrieren, abgelesen werden- eine Form der Selbstbehauptung, trotz (und als Resultat einer) gesellschaftlichen Underdog-Position,

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was u.a. auch den Erfolg dieser Filme insbesondere beim afroamerikanischen Publikum erklären dürfte.

7.3.2 L.A. School Inhärente Kritik an den Darstellungsformen der Blaxploitation-Filme übte auch eine Gruppe von Filmemachern, die unter den Namen Los Angeles School of Black Independent Filmmakers, kurz The L.A. School, bekannt wurde. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Gruppe gehören Charles Burnett, Julie Dash, Haile Gerima und Billy Woodberry. Drawing on their own experiences in the black community and varied political and social discourses of the time including black nationalism, the Civil Rights Movement, the Women's Movement, anti-war rhetoric and Marxist doctrine, these filmmakers sought an aesthetic and mode of representation and narration that spoke to the realities of black existence and the state of the black family under a hegemonic rule of white racism and subordination. (Norton, Ch. 1997: online)

Sie wiesen jene Produktionswerte Hollywoods, die sich anzueignen von ihnen erwartet wurde, zurück, um sich mit den alternativen Filmstilen eines Sembene Ousmane aus Afrika, Sergio Giral und Pastor Vega aus Cuba, Glauber Rocha, Nelson Pereira dos Santos und Ruy Guerra aus Brasilien und Octavio Getino und Fernando Solanas aus Argentinien vertraut zu machen (Lott, T. 1998: 214). Neben dem Third Cinema gehörten die racefilms (vgl. Kap. 9), aber auch die Filme John Cassavetes' sowie der italienische Neorealismus zu den Traditionen, in denen die L.A. School stand und auf die man sich explizit berief. Julio Garcia Espinosas klassisches Essay »For an imperfect cinema« (das Manifest des Third Cinema7 movement -1969), stellte einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen die L.A.School-Fi1memacher politisch bewusste Filme herstellten und die ästhetischen Codes Hollywoods bekämpften (Lott, T. 1998: 215). Zudem machte die L.A. School deutlich, dass vor dem Hintergrund ihrer Filmausbildung ein textueHer Amateurstil (Unschärfen, wackelige Kamera etc.) keineswegs als hinreichendes Kriterium für 7

Das Konzept Third Cinema bezieht sich auf eine politische Filmpraxis der Länder der so genannten ·Dritten Welt, insbesondere Lateinamerikas, also außerhalb der industriell entwickelten Länder, als counter-cinema zum dominanten und ideologischen Kino des so genannten First Cinema (Hollywood) und Second Cinema (europäisches Autoren- und Kunstkino). Der Begriff wurde 1969 von den argentinischen Filmemachern und -theoretikern Fernando Solanas und Octavio Getino in ihrem Manifest "Towards a Third Cinema" (Neudruck in: Nichols, B. 1976) geprägt. Das Third Cinema steht für eine kulturell unabhängige, eigenständige Praxis des Filmemachens, die sowohl auf stilistischer als auch auf inhaltlicher Ebene um eine Politisierung des Kinos bemüht ist, was auch den Kampf gegen die dominanten westlichen Filmindustrien, vor allem Hollywood, ihre ästhetischen Normen und ihre ökonomischen Imperative bzw. ihren ökonomischen Imperialismus einschliesst. Jenseits der großen Unterschiede, die das Kino des Third Cinema etwa in den verschiedenen Ländern und Kontinenten kennzeichnen, gibt es dennoch Anliegen oder Themen, die für diese kinematografische Praxis charakteristisch waren und sind. Dazu gehören etwa die Auswirkungen des Kolonialismus' bzw. Neokolonialismus' sowie allgemein die Probleme von Unterdrückung und Ausgrenzung entlang solcher Kategorien wie Klasse, Kultur, Religion, race oder Sexualität (vgl. u.a. Gabriel, T.H. 1982).

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filmhandwerklichen Dilettantismus betrachtet werden darf. »The alternative style of filmmaking practiced by the Los Angeles School aimed to politicize the question of technical competence« (ebd.). Obwohl die L.A. School gleichsam der Antipode zu den Stereotypen und dem Rassismus Rallywoods wie auch in der amerikanischen Gesellschaft und Kultur darstellte, erreichten die Filme dieser Bewegung kein breites Publikum. Die Vorführung beschränkte sich weitgehend auf Museen, Universitäten oder zu sehr später Stunde im öffentlichen Fernsehen während des Black History Month (Guerrero, E. 200lb: 71). Von den wenigen Filmen mit Spielfilmlänge, die überhaupt an der L.A. School produziert wurden, konnten gegen Mitte der 1980er Jahre nur wenige kritische Aufinerksamkeit erzielen bzw. im art house-Markt Verbreitung finden, z.B. Charles Bumetts To SLEEP WITH ANGER (1990), Julie Dashs DAUGHTERS OF THE DUST (1991) oder SANKOFA (1993), Haile Gerimas wohl prominentester Film (vgl. ebd.). Obgleich die L.A. School in den 1980em viel von ihrer subversiven Wirkungskraft verloren hatte, bedeutet dies nicht das Ende des schwarzen Independent-Films, der sich weiterhin um Unabhängigkeit vom dominanten System bemüht.

7.3.3 New Black Cinema Mitte der 1980er setzte langsam ein signifikanter Wandel hinsichtlich der kulturellen Verhältnisse fiir das schwarze (lndependent-)Kino ein. Eine Generation junger afroamerikanischer Filmemacher konstituierte bald eine neue Welle, das New Black Cinema. Vorreiter dieserneuen Welle war Spike Lee mit seinem unabhängig produzierten Debüt-Spielfilm SHE'S GOTTA HAVE IT, dessen kommerzieller Erfolg erstmals seit der Ära des blaxploitation-Films afroamerikanisches Kino im US-Mainstreamfilm überhaupt nennenswert etablierte und das Feld für eine Reihe kommerziell erfolgreicher >black films< wie BüYZ N THE HüüD (1991, R.: John Singleton), STRAIGHT OUT OF BROOKLYN (1991, R.: Matty Rich), MENACE II SOC!ETY (1993, R.: Albert & Allen Hughes), JUICE (1992, R.: Emest R. Dickerson) oder NEW JACK CITY (1991, R.: Mario Van Peebles) ebnete (vgl. Johnson, L. 2002: online). Mittlerweile hat Spike Lee über 15 Spielfilme realisiert, wobei er mit seinem ersten kommerziellen Film bewies, dass eine vorwiegende Besetzung mit afroamerikanischen Schauspielern sowohl an der Kinokasse als auch bei der Kritik erfolgreich sein kann. Kommerziell erfolgreich war auch John Singletons BüYZ N THE HüüD, der für sechs Millionen US-$ hergestellt wurde und Columbia Tri-Star eine Bruttosumme von 57,6 Millionen US-Dollar einbrachte (vgl. ebd.). Als ein gemeinsames Kennzeichen des New Black Cinema, zu dem auch Robert Townsend, Hype Williams, die Hughes-Brüder, Ice Cube, Kasi Lernmons oder Rusty Cundieff gezählt werden können, führt Ed Guerrero an, dass sie etwa im Gegensatz zur Filmbewegung der L.A. School, die guerillaProduktions- und Finanzierungsweise ihrer Filme lediglich als Anfangsstrategie betrachteten, um überhaupt einen Spielfilm realisieren zu können. Their goal has been to move quickly from feature to feature, increasing budgets, audiences, profits - in short, to make many movies, address popular audiences and •to get paid•, asSpike Lee famously put it, ·like the white boys do.• This was their

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practical response to the scarcity of marketable, quality black feature films and the limited circulation that proscribed the past practitioners of independence. (Guerrero, E. 2001 b: 72).

Diese Form der Öffnung für kommerzielle Produktions- und Textstrategien ist nicht nur positiv bewertet worden. Toni Cade Bambara (1993) hat beispielsweise Vorbehalte gegen >blackjilms made in Hollywood< geäußert und zeigte sich skeptisch, inwieweit vormals schwarze Indie-Filmemacher, die nun in Hollywood arbeiten, von kommerziellen Einflüssen kooptiert wurden. Bambara verweist dabei exemplarisch auf den Umgang Hollywoods mit Bill Gunn. Gunn gehörte neben Gordon Parks zu den ersten afroamerikanischen Filmemachern, die überhaupt bei einem Studiofilm mit der Regie betraut wurden. Allerdings wurde sein RegiedebütSTOP (1970) von Wamer Bros nie veröffentlicht und war erst zwanzig Jahre später im Rahmen einer Retrospektive des Whitney Museums of American Art zu sehen. Gunns bekanntester Film GANJA AND HESS (1973) wurde, kurz nachdem er im Frühjahr 1973 in New York City angelaufen war, u.a. wegen Vertriebsschwierigkeiten und schlechter Kritiken aus den Kinos genommen; obgleich er bald darauf in Cannes 1973 während der Critic 's Week sehr erfolgreich lief und gefeiert wurde. Für den US-amerikanischen Markt kam dieser Erfolg zu spät. 1975 wurde der Film in einer vollständig umgearbeiteten Version unter dem Titel BLOOD COUPLE als Blaxploitation-Film neu veröffentlicht, erhielt aber wiederum wenig Aufinerksamkeit. Tim Lucas und David Walker haben in ihrem Aufsatz das >rip ojfGanja< is a vampire film that appears to have willfully ellipsed all its references to vampirism, while >Blood Couple< (which contains ONLY footage shot and written by Gunn) rescues from oblivion a nurnber of intense and masterful scenes, shots, and moments that any director would be proud to claim as his work« (Lucas, T./Walker, D. 1991: online). Bambara (1993: 138) bezieht sich nun auf GANJA AND HESS als eine Studioproduktion, mit der Gunn die angeblichen Erwartungen seiner Produzenten, einen Film im Blaxploitation-Stil von BLACULA (1972) zu drehen, bewusst unterlaufen habe, um die Vision eines »conscious cinema« umzusetzen, was aber letztlich in seinem Fall dazu geführt habe, dass »both films [i.e. STOP; GANJA AND HESS- der Verf.] were placed under arrest, that is, shelved in the studio vaults« (ebd.). Laut Lucas und Walker kann man nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Produzenten von GANJA AND HESS mit der Realisierung eines typischen Blaxploitation-Films gerechnet hatten: [ ... ] ·Ganja and Hess' was probably not commissioned as an exploitation picture, though its vampire theme may have been a concession to marketability. lts New York-based executive producers, Quentin Kelly and Jack Jordan, were genuinely interested in cultivating serious Black cinema. [ ... ] Had Kelly-Jordan intended "Ganja ft Hess" to be nothing more than an imitation of ·Blacula,' it is unlikely they would have hired a triple-threat man (actor-writer-director), especially not one with the extraordinary and uncompromised accomplishments of Bill Gunn; with such conspicuous laureis preceding him, it seems unlikely that Kelly-Jordan would have expected ..Ganja ft Hess" to be anything but a serious, artistic production. (Lucas, T./Walker, D. 1991: online)

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Für Bambara handelt es sich bei GANJA AND HESS auf jeden Fall um einen Film, der in ästhetischer Hinsicht weitaus eher an den Third Cinema-Stil erinnert, als die Independent-Produktionen Spike Lees oder Robert Townsends. Bambara bezieht sich auf diesen ästhetischen Unterschied, wenn sie zwischen kommerziellen Filmemachern und >conscious Black cinematistes< unterscheidet. So gehört Spike Lee ihrer Meinung nach nicht zur letzteren Kategorie, da er eine neue Generation repräsentiere, «who regard the contemporary independent sphere as a training ground or stepping-stone to the industry, rather than as a space for contestation, a liberated zone in which to build a cinema for social change« (Bambara, T.C. 1993: 137). Laut Tommy Lott ignoriert Bambara, dass Independent-Filmemacher wie Spike Lee tatsächlich glauben, >sozial bewusste< Filme zu drehen, die trotzdem die kommerziellen Erwartungen der Kinoindustrie erfüllen (vgl. Lott, T. 1998: 216). Lott ist der Auffassung, dass Bambara oder Manthia Diawara, von einer »apartheid relationship« {ebd.) zwischen Independent-Film und Mainstream ausgehen, die in Hinblick auf die gegenwärtigen Verhältnisse so nicht mehr haltbar sei. Denn einerseits hätten Indie-Filmemacher des Third Cinema-Flügels der L.A. School wie Julie Dash oder Charles Burnett längst ihre Filme im Kinovertrieb, während andererseits afroamerikanische Filmemacher wie Melvin Van Peebles oder Bill Gunn in Hollywood gearbeitet hätten, um dort gegenhegemoniale Filme zu drehen. Doch Diawara verorte eben schwarze Filmemacher - streng dichotomisch - entweder innerhalb oder außerhalb der Studios, wobei diese strikte Trennung den tatsächlichen empirischen Konstellationen eben nicht angemessen Rechung trage, so Lott (ebd.: 216f.). Die Kritik an den Filmemachern des New Black Cinema besteht jedoch nicht allein darin, dass sie für eine kommerzielle Industrie arbeiten, deren Geschichte streckenweise bis in die Gegenwart des New Hollywood durch die Erzeugung und Verbreitung rassistischer Stereotype und durch rassistische Marginalisierungspraktiken bestimmt ist. Die Kritik gründet sich vor allem auf eine textuelle Analyse der Filme, wobei diese letztlich wiederum im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen und kommerziellen Anforderungen der Industrie betrachtet wird. So handeln viele der New Black Cinema-Filme gegen Ende 1980er und Anfang 1990er von den Problemen junger schwarzer Männer in den großstädtischen Gettos in South Central LA, Watts oder Harlem und kreisen immer wieder um Themen wie Drogen, Gewalt undjugendliche Kriminalität. Blaxploitation pictures of the 1970s [ ... ] established inner cities as context, drug and gang violence as themes, and rhythm and blues as the sound track of black cinema. The new jack pictures of the 1990s- such as New Jack City [1991], Juice [1992], and Menace II Society [1993] - replaced heroin with crack, and rhythm and blues with hip hop, but reinscribed the conventions associated with their 1970s counterparts. (Smith, V. 1997: 3)

Demgegenüber ist Mary Ellison der Auffassung8, dass die genannten Filme «never came close to just being gang- and drug-obsessed action films« {Ellison, M. 2002: 159). Im Gegenteil, so Ellison:

8

Differenzierungen zwischen unabhängig produzierten bzw. finanzierten Filmen nimmt Ellison nicht vor, da sie ebenfalls davon ausgeht, dass die Grenzen zwischen Independent- und Studiofilmen perforiert sind (Ellison, M. 2002: 160).

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They all engage in debates over the relative role of families and the environment in the choices made by black youth, with hip hop providing an aggressive subtext that empowers audiences either to sublimate their fantasies of danger or to attempt to work out strategies to diminish the very real Ievels of discrimination and deprivation. These are in the front line of a struggle to overturn the dominant racial discourses that portrayed black youth as in eluctably criminalised. The high Ievel of violence is frequently purveyed as a filmic warning against succumbing to nihilism. Most of all, these are films that tussle with the nature of black male identity and the question of how to move beyond the macho posturing that snakes through hip-hop lyrics, to a fuller understanding of the dilemmas confronting black masculinity. Laurence Fishburne's positive advice to his son on the importance of responsible fatherhood in Boyz is underscored by Stanley Clarke's affirmative music, and ultimately transcends the more commercially attractive appeal of Iee Cube's despairingly angry persona and lyrics. This finds echoes in the often transformative affection shown by sons and brothers in many of the other ghetto action movies, and there seems to be an underlying awareness that, despite the violent gesturing, 'there is no single issue more crucial to the survival of people of color in this nation than the daunting challenge of turning young boys into productive, loving men who accept their responsibilitiesmanhoodschwarzes Leben< authentisch zeigen zu können, was nach Lubiano auf die typische, aber keineswegs harmlose Verwechslung von Repräsentation und Realität zurückzuführen sei. Entsprechend schreibt sie: I find the idea of Lee as a politically radical or progressive filmmaker troubling for a number of reasons: (1) the politics of race, gender, dass, and sexuality in Oo The Right Thing and School Daze are inadequate to the weight that these films and Lee carry within the discourse of political cultural work, and (2) having Lee and his work deified by the media and critical establishment, especially [ ...] by members of the leftist and African American media and critical establishment, is bad news to other African American filmics who remain overshadowed by the attention granted to Spike Lee and bad news also to the !arger possibility of more politically progressive and complex film production focused on African American culture or issues of race . (Ebd.: 103)

Ferner ist sie der Auffassung, dass jede Einschätzung der Arbeit Spike Lees als »gegenhegemonial« begründen müsse, im Verhältnis (oder Vergleich) zu welchen anderen Filmen Lees Arbeit progressiv(er) sei (ebd.). Insgesamt steht das New Black Cinema vor allem für eine Entwicklung des US-amerikanischen Films, die zwar die Präsenz afroamerikanischer

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Filmemacher, zumindest eine Zeitlang, verbessert hat. Afroamerikanische Frauen jedoch konnten an dieser Entwicklung nicht partizipieren. Nur wenige afroamerikanische Filmemacherinnen hatten wie Cheryl Dunye in den 1990em überhaupt die Chance im Independent-Filmbereich low budgetProduktionen zu realisieren (vgl. Kap. 9). Im Mainstream-Film sind sie bis heute fast nicht vertreten. Der erste Film, der von einer Arroamerikanerin realisiert und von einem Hollywood-Studio (Columbia Pictures) finan ziert und vertrieben wurde, war 1994 I LIKE IT LIKE THAT von Damell Martin (Rhines, J. A. 1996: 75). Er kostete 5,5 Millionen US-$, spielte im ersten Jahr allerdings nur 1,2 Millionen US-$ ein. Seit diesem Flop hat Damell Martin bis dato keine Studio-Produktion mehr realisiert.

7. 4 As ian American Independent- Film Während bereits in den 1970er Jahren zum Independent-Film von Afroamerikanern, Frauen und Chicano/as publiziert wurde, lag vergleichbare Literatur zum Asian American Independent Film selbst zu Beginn der 1990er Jahre kaum vor (Xing, J. 1998: 13). Dabei hat nach Xing das Asian American Cinema in den letzten drei Jahrzehnten eine regelrechte Explosion kreativer Produktivität erlebt. Asian Americans have independently produced hundreds of social·issue documen· taries, as well as experimental films, videos, and dramas dealing with various aspects of the Asian American experience in the United States. ln this short period of thirty years, they have won numerous national and international film awards, including twelve Oscar nominations from the Academy of Motion Picture Arts and Seiences and five Academy awards. (Ebd.: 15f. ).

Eine wesentliche Aufgabe seiner Studie sieht Xing darin, die Geschichte derjenigen Asian Americans, sowohl vor als auch hinter der Kamera, zu dokumentieren, die Alternativen zu Hollywoods >großen Erzählungen< geschaffen haben. Die Geschichte widerständiger, gegenhegemonialer Praktiken in der asiatisch-amerikanischen Filmgeschichte reicht bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück. James B. Leong Productions wurde beispielsweise in den 1920er Jahren gegründet, um Hollywoods Darstellung von Chinesen zu bekämpfen. Allerdings konnte sie sich aus politischen und sozialen Gründen nicht lange halten. Haworth Pictures, 1928 von dem Schauspieler Sessue Hayakawa gegründet, stellten als unabhängige Produktionsfirma immerhin 25 Filme her (ebd.: 18f.). Wie beim Black (Independent) Cinema oder beim Chicano/a Cinema (vgl. Noriega, Ch. 1992) steht auch beim Asian American (Independent) Cinema die Frage im Raum, worin sich dieses Kino von anderen (und von Hollywood) unterscheidet. Kurz: Was ist Asian American Cinema und was nicht? Und natürlich geht es auch um die Frage, ob und wozu man Kategorien oder Namen wie »Asian American« überhaupt benötigt (vgl. Xing, J. 1998: 31). Xing sieht die Notwendigkeit, eine asiatisch-amerikanische Filmpraxis aus analytischen und deskriptiven Gründen als distinkte Kinopraxis zu bestimmen.

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Asian American cinema can, therefore, be judged as a tradition in its own right, both for its unique cultural and discursive practices, and for its complex dialectical relationship with Hollywood narrative and other forms of Asian American art. Furthermore, this critical process itself would help develop a historically specific and culturally innovative framework for interpreting the political and artistic meanings of these works, thus controlling the process of self·comprehension and criticism. (Ebd: 32)

Wobei er natürlich auch die Gefahr essentialistischer Fallstricke und problematischer Authentizitätskonzepte sieht, die sich aus einem derartigen Vorhaben ergeben. Allzu oft stößt man auf jene Haltung, von Wemer Sollars in seinem Buch Beyond Ethnicity (1986) als «biological insiderism« deklariert, derzufolge die weit verbreitete Annahme existiere, dass Außenseiter keine Filme über eine >ethnische< Gruppe produzieren können, da ihr Blick auf diese Gruppe inhärent verschieden ist von der Art und Weise, wie ein zur Gruppe Gehöriger diese porträtieren würde. Xing ist von solch biologisch orientierten Definitionsversuchen weit entfernt. Ernst zu nehmen sind für ihn eher politisch begründete Definitionskonzepte, wie sie Tommy Lott (1997) in seiner paradox klingenden «no theory theory of black cinema« dargelegt hat: «[ ... ] I want to avoid any commitment to an essentialized notion by not giving a definition of black cinema. Rather, the theoretical concern of my no-theory is primarily with the complexity of meanings we presently associate with the political aspirations of black people« (Lott, T. 1997: 85). Es ist dieses politische Verständnis, das auch Xings historischen Blick auf die Geschichte des asiatisch-amerikanischen Filmernachens beeinflusst. Zudem weist er darauf hin, dass das asiatisch-amerikanische Kino von den 1970ern bis in die frühen 1980er tendenziell eher eine politische als eine kulturell- oder >ethnischverkaufenmedia watchdogs< im Namen vermeintlicher >ethnischer< Authentizität (vgl. ebd.: 188f.).

7 .4. 2 »Cultural misreadings« des »white criticism« am Beispiel des Asian American Film Im Rahmen seiner Untersuchung der Geschichte, Identitäten und Repräsentationen von Asian Americans hat Xing eine Untersuchung von Filmkritiken vorgenommen, die sich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass (weiße) Kritiker des Mainstream-Kinos asiatisch-amerikanische Erfahrungen stets >falsch< verstehen und so auch die Bedeutung des Asian American Films missdeuten und sie in vielerlei Hinsicht missinterpretieren, wofür Xing einige Beispiele anführt: So weist er u.a. darauf hin, dass Filme und Videos, die in den USA von Asiaten gemacht werden, häufig als spezialisierte Arbeiten von Fremden angesehen würden, die niemals wirklich zu Amerika gehören können. In derartigen Kritiken werden Filme von Asian Americans vor allem in Hinblick auf ihren anthropologisch-ethnographischen Wert bewertet. Beispielsweise konzentrierten sich die Kritiken zu Ang Lees HSI YEN/THE WEDDING BANQUET (Taiwan/USA 1993) auf chinesische Eherituale, »which are described as colorful, attractive, and aesthetically pleasing« (Xing, J. 1998: 191). Und selbst in den Rezensionen zu Ang Lees Jane Austen-Verfilmung SENSE AND SENS!BIUTY (USA/GB 1995) ging es den Kritikern nicht etwa um die ästhetischen Entscheidungen, sondern um die im filmischen Text aufscheinenden Beziehungen zur asiatischen Kultur. Xing vermutet, dass von asiatisch-amerikanischen Filmen lediglich erwartet wird, dass diese asiatisch-amerikanisches Leben beleuchten, statt mit künstlerischen Qualitäten zu überzeugen (ebd.: 194). Streckenweise hängt die art/culture-Dichotomisierung mit einer anderen Dichotomisierung zusammen, derjenigen zwischen so genannten »markierten« und >mnmarkierten« Kulturen, deren Konsequenzen beJI hooks anschaulich darlegt:

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No one asks a white filmmaker in the United States or Britain who makes a film with only white characters if he or she is a white supremacist. The assumption is that the art they create reflects the world as they know it, or certainly as it interests them. However, when a black filmmaker, or for that matter any filmmaker of color, makes a work that focuses solely on subjects exclusively black, or white, they are asked by critics and their audiences to justify their choices and to assume political accountability for the quality of their representation. (hooks, b. 1996: 69)

7. 5 Independent Women (Counter-) Ci nema In Hollywood waren Berufe von entscheidendem kreativem und unternehmerischem Rang lange Zeit Männern vorbehalten. Sieht man von den Anfangsjahren Hollywoods ab, als Frauen wie Alice Guy Blache, Frances Marion oder Lois Weber zahlreiche Filme realisieren konnten (Beauchamp, C. 1997), war es Jahrzehnte lang nur wenigen Frauen vergönnt, solch zentrale Positionen wie die einer Regisseurin, Drehbuchautorin, Kamerafrau oder Produzentin zu bekleiden. So sind nach Untersuchungen des Time Magazine von den 7332 Spielfilmen, die zwischen 1949 und 1979 hergestellt wurden, nur 14 Filme von insgesamt lediglich 7 Regisseurinnen umgesetzt worden (Schick!, R. 1991: 78 zit. n. Lane, Ch. 2000: 37). Zu den seltenen Ausnahmen zählten im Regiebereich etwa Dorothy Arzner in den 1930ern oder !da Lupino in den 1940ern und 1950em. Etwa seit Beginn der 1990er Jahre hat sich die Situation fur Frauen im Filmgeschäft Hollywoods geringfügig verbessert. Laut der Celluloid Ceiling Study betrug der Anteil von Frauen an allen producers-, directors-, writers-, cinematographers- und editors-Tätigkeiten an Spielfilmen mit den 100 höchsten einheimischen Einspielergebnissen des Jahres 2002 16% (Lauzen, M. M. 2003: online). Der Anteil von Frauen, die bei den 100 Top-Filmen des Jahres 2000 mit den höchsten Einspielergebnissen Regie führten, betrug 7% (Lauzen, M. M. 2002: online)Y Die genannten Zahlen, die diejenigen der Vorjahre weitgehend bestätigen, zeigen deutlich, dass die erreichten Fortschritte fur Frauen in Hollywood nur marginal sind. Von einem Zustand der Gleichberechtigung, die Realisierung von Karrieremöglichkeiten betreffend, sind die gegenwärtigen Verhältnisse weit entfernt. Weit entfernt ist auch ein Umfeld, in dem Frauen für ihre geleisteten kreativen und künstlerischen Arbeiten im Film Anerkennung finden. Dies wird nachdrücklich deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass bis dato noch nie eine Frau einen Oscar für den besten Film gewonnen hat und nur zwei Frauen j ernals nominiert wurden: Linda Wertmüller im Jahre 1976 für SEVEN BEAUT!ES und 1993 Jane Campion für THE PIANO (vgl. Goldberg, M.: 2002: online). Lediglich im Dokumentarfilm-Sektor konnte Sarah Kernochan bislang zwei Regie-Oscars gewinnen, 1973 für den zusammen mit Howard Smith realisierten Dokumentarfilm MARJOE und zuletzt für den Kurzdokumenarfilm THOTH (2002), außerdem Barbara Kopple 9

Zu den Frauen, die sich während der 1980er und 1990er mehr oder weniger erfolgreich in Hollywood behaupten konnten, nicht zuletzt weil sie kommer· ziellen Anforderungen gerecht wurden, gehören etwa Kathryn Bigelow, Martha Coolidge, Lizzie Borden, Nora Ephron, Tamra Davis, Susan Seidelman und Penelope Spheeris.

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für den Dokumentarfilm HARLAN COUNTY, U.S.A. (1976). In der Kategorie »Beste Regie« wurde erstmals bei der Oscar-Verleihung 2004 mit Sofia Coppola eine Frau für den Independent-Film LOST IN TRANSLATION (2003) nominiert, die am Ende immerhin den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhielt. Viele von den wenigen Regisseurinnen, die den Durchbruch in Hollywood während der 1980er und l990er Jahre schafften, haben im Independent-Sektor angefangen. Susan Seidelman debütierte mit dem IndependentFilm SMTTHEREENS (1982), bevor sie ihren bekanntesten Film DESPERA TELY SEEKING SUSAN (1985), ebenfalls eine Indie-Produktion, mit Madonna in einer der Hauptrollen, umsetzte. Lizzie Borden drehte nach ihrem Debütfilm REGROUPING (1976) zunächst BORN IN FLAMES (1983) und schließlich WORKING GIRLS (1986), drei unabhängige Produktionen. Gemeinsames Kennzeichen von Filmen wie WORKING GIRLS oder DESPERATELYSEEKING SUSAN ist nicht nur eine grundsätzliche Ähnlichkeit ihrer Produktionsmodi, sondern auch die Art und Weise, auf die die Filme in textueHer Hinsicht eine deutlich feministische Perspektive erkennen lassen, nicht zuletzt insofern sie Alternativen zu den Repräsentationspraktiken Hollywoods entwickeln. Theoretisch ist diese Praxis bereits Anfang der 1970er Jahre von den Vertreterinnen der so genannten zweiten Frauenbewegung vorbereitet worden. 1973 schrieb Claire Johnston den einflussreichen Essay »Women's Cinema as Counter-Cinema«. Darin tritt sie dafür ein, dass Frauen im Film auf allen Ebenen zu operieren hätten, Formen kollektiver Arbeit, sowohl innerhalb als auch außerhalb des männlich dominierten Kinos, entwickeln müssten und vor allem für ein Kino eintreten sollten, das weniger darauf basiere, die Welt >einzufangenWiderspiegelung< der Welt würde den gesellschaftlichen Status Quo des patriarchalischen Kinos lediglich affirmieren bzw. verdoppeln (vgl. Kuhn, A. 1994: 152). Tatsächlich entsprachen viele feministisch orientierte Filmemacherinnen dem, was Claire Johnston programmatisch forderte. Dazu gehören als prominente Beispiele Chantal Akerman, Yvonne Rainer oder Laura Mulvey. Wenngleich auch der Realismus des klassischen Hollywood-Texts gleichsam als >falsche Praxis< abgelehnt wurde, wendeten sich viele Filmemacherinnen dennoch dem Dokumentarfilm, insbesondere dem cimima wirite, zu, um ihre Erlebnisse und Erfahrungen festzuhalten und >weibliche Realitäten< darzustellen, wie z.B. Shirley Clarke mit PORTRAIT OF JASON (1967), was einerseits mit den politischen Forderungen der Feministinnen nach positiven Frauenbildern korrespondierte, andererseits von ideologiekritischen Filmtheoretikern wie Claire Johnston als naiver Realismus abgelehnt wurde (vgl. Johnston, C. 1976: 214; Lane, Ch. 2000: 20). B. Ruby Rich hat sich früh eingehend mit der historischen Beziehung von Film als kultureller Praxis und feministischer Kritik auseinandergesetzt In einem Aufsatz, der im Independent-Magazin »Jump Cut« 1979 erstmals erschien, schreibt sie: The great contribution of feminism, as a body of thought, to culture in our time has been that it has something fairly direct to say, a quality all too rare today. And its equally crucial contribution, as a process and style, has been women's insistence on conducting the analysis, making the Statements, in unsullied terms, in

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forms not already associated with the media's oppressiveness towards women. lt is this freshness of discourse and distrust of traditional modes of articulation that placed feminist cinema in a singular position vis-a-vis both the dominant cinema and the avant-garde in the early 1970s. (Rich, B. R. 1985: 210)

Rich nimmt damit eine Verortung des feministischen Kinos vor, die sich kaum von dem Versuch einer kulturellen Bestimmung des Independent-Films zwischen Avantgarde und Mainstream, so wie E. Deidre Pribram sie durchführt, unterscheidet. Das »dominante Kino«, also Hollywood und seine kulturellen Entsprechungen überall auf der Welt, nennt Rich auch »das Kino der Väter«. Das Avantgarde-Kino, das sie als experimentell-persönliches Kino versteht, das sich selbst als ein Kino innerhalb der Kunstwelt einschließt, nennt sie »das Kino der Söhne«. »Being a business, the Cinema of the Fathers seeks to do only that which has been done before and proved successful. Being an art, the Cinema ofthe Sons to do only that which has not been done before and so prove itselfsuccessful« (ebd.). Die binäre Ordnung von Avantgarde und Mainstream hatte sich nach Rich erschöpft, ästhetisch wie thematisch. Das feministische Kino versucht diese erstarrten Verhältnisse aufzubrechen, indem auf verschiedenen Adressierungsebenen alternative Repräsentationsformen etabliert und politische Perspektiven durchgesetzt werden sollten, die bis dahin sowohl von dem »Kino der Väter« als auch von dem der »Söhne« ignoriert und unterdrückt wurden. Zu den Inauguralmomenten feministischer Filmarbeit zählten Anfang der 1970er die Veröffentlichungen der ersten Generation feministischer Dokumentarfilme wie JANlE'S JANE, THREE LtVES (1971, R.: Louva Irvine & Susan Kleckner) oder GROWlNG UP FEMALE (1971, R.: Julia Reichert & Jim Klein), die Gründung zahlreicher Frauen-Festivals, z.B. dem New York International Festival of Women's Films (1972) sowie die Etablierung feministischer Filmmagazine, u.a. Warnen & Film oder Publikationen wie Marjorie Rosens Popcorn Venus (1973) als die vielleicht erste kritische Buchpublikation über Frauen im Film. Zahlreiche weitere Festivals, Publikationen, Magazine und Filme mit feministischem bzw. Frauen-Bezug sollten folgen. Doch längst nicht alle Bemühungen, das dominante Kino zu kritisieren und an alternativen textuellen Darstellungen zu laborieren, waren feministisch motiviert, wie Annette Kuhn in Women's Pictures hervorhebt (1994: 169ff.). Und auch nicht alle feministisch orientierten bzw. um alternative Darstellungen von Frauen bemühten Filmemacherinnen lehnten die ödipalen Narrationsprinzipien des »Kinos der Väter« kategorisch ab. Auf Seiten der feministischen Theorie hat Teresa de Lauretis am Beispiel von Yvonne Rainer diese Bewegung hin zu eher narrativen Erzählkonventionen kommentiert und begrüßt, wenn sie schreibt, dass »feminist work in film should not be anti-narrative, or anti-oedipal, but quite the opposite. It should be narrative and oedipal with a vengeance [... ]« (de Lauretis, T. 1987: 108). Christina Lane hat sich in ihrem Buch Feminist Hollywood mit den Karrieren von ausgewählten Frauen auseinandergesetzt, die seit den 1980er Jahren die Produktionsweise des Independent-Films hinter sich gelassen haben, um für die Mainstream-Industrie als Regisseurinnen zu arbeiten: Martha Coolidge, Lizzie Borden, Kathryn Bigelow, Darnell Mmtin und Tamra Davis. Als ein wesentliches Resultat ihrer Studie, die auf Filmanalysen und Interviews mit den genannten Regiseurinnen basiert, hält Lane fest, dass

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Mainstream-Filme und Gegen-Kino-Filme keine einfache Dichotomie darstellen. So hätte Lizzie Borden nach der Fertigstellung von LOVE CRIMES (1992) ihre Wertschätzung für die Produzenten des Films, Bob und Harvey Weinstein von Miramax, ausgesprochen und auch Tamra Davis beurteilte ihre Erfahrungen mit den Studios während der Produktion des Films CB4 (1993) für die Universal Studios und Imagine Entertainment als positiv. Umgekehrt hatte Borden Probleme mit den Produzenten ihres Kurzfilms in der Independent-Kollektion EROTTQUE (1994), während Tamra Davis sechs lange Jahre brauchte, um ihr low budget-Projekt GUNCRAZY (1992) durchzuführen und zu vertreiben (Lane, Ch. 2000: 222). So zutreffend Lanes Ablehnung der dichotomischen Trennung zwischen Mainstream und Independent-Film grundsätzlich auch sein mag, erscheint es mir doch etwas problematisch, sich bezüglich der Frage der relativen Autonomie, die Hollywood gewälut oder eben nicht gewährt, allein auf die Aussagen von Regisseurinnen zu stützen, die letztlich von dieser Industrie materiell abhängig sind und mitunter hart gekämpft haben, um Teil dieser Industrie zu werden. Die Wertschätzung für die Studios seitens Borden oder Davis mag vielleicht aufrichtig bzw. zutreffend sein. Genauso gut ist es aber möglich, dass eine prinzipiell gute Zusammenarbeit möglicherweise retrospektiv erfahrene Beschränkungen der künstlerischen und politischen >Autonomie< vernachlässigenswert erscheinen lässt. Skepsis ist insofern angebracht, denn öffentliche Kritik, und sei sie auch nur marginal, könnte seitens der mächtigen Produzenten auch schnell als Undankbarkeit verstanden werden. Ein Auflösen der Grenzen zwischen Mainstream und Independent-Film sieht Lane ferner darin, dass sich viele Regisseurinnen zwischen Studio und Independent-Projekten hin und her bewegen (ebd.). Spricht das aber wirklich für die Auflösung der Grenzen zwischen Independent-Film und Mainstream? Vielmehr ließe sich die Mobilität von Regisseurinnen zwischen diesen Produktionsformen als Bestätigung dafür lesen, dass die Sphäre des Mainstreams und die Sphäre des Independent-Films letztlich doch zwei unterschiedliche Arten des Filmemachens darstellen und dass die eine Sphäre etwas ermöglicht oder eher verspricht, was die andere an Möglichkeiten einer kritischen Filmpraxis oder an >Unabhängigkeit< nicht bieten kann. Im Hinblick auf die vermeintlich schwindende Kluft zwischen Mainstream- und Independent-Film widmet sich Lane schließlich auch der vieldiskutierten Frage, ob jene gegenkulturellen Techniken (jump cuts, lange Einstellungen etc.), die insbesondere seit den 1960er Jahren Rallywoods klassischem Erzählstil entgegengesetzt wurden, innerhalb der Mainstream-Industrie noch den gleichen Effekt haben. Hierzu schreibt sie: lt is difficult, therefore, to argue that distancing techniques, when deployed in commercial cinema, will always distance effectively. This is one why I have relied on the concept of multiple logics within the film system. I have attempted to highlight these kinds of avant-garde or counter-cinema techniques and to suggest that these oppositional logics run alongside more classical or dominant logics within a film. By tracing continuities across a variety of independent-to-studio-trajectories, I point out the stakes that these women have had in challenging dominant modes of representation and eliciting a critical, socially aware spectator even as they operate within Hollywood. ln other words, alternative techniques that appear in mainstream film function through the >both/and' logic advocated by Mayne. They

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offer up a trendy, differentiated product and a challenge to status quo. (Ebd.: 224)

Grundsätzlich ist Lane, was die Zukunft der Beziehung von Mainstream- und Independent-Kino betrifft, skeptisch. Obgleich Frauen in den 1970er Jahren mithalfen, einen Independent-Sektor aufzubauen, so Lane, wurden sie allmählich aus diesem Sektor ausgeschlossen, als seine kulturelle und ökonomische Bedeutung zunahm. Des Weiteren sieht Lane bei solchen Filmen, die sich gegenüber den Prinzipien der klassischen Erzählweise öffnen und mit hoch entwickelten Filmtechniken arbeiten, dass sie deutlich weniger häufig feministische Politik oder radikalere Ansichten offen darstellen (ebd.). Als positives Resultat ihrer Studie hält Lane demgegenüber fest, dass die untersuchten Karrieren von Regisseurinnen in Hollywood und im Independent-Bereich zeigen, dass sie mit Hilfe filmischer Mittel soziale Ungerechtigkeiten kommentieren können. Und dass die zahlreichen Yerfahrensweisen, mit denen das Projekt einer >Revision< - d.h. Unterstützung der Identifikation mit weiblichen Charakteren mittels subjektiver Kameraarbeit, das Parodieren der Signifikanten konventioneller Maskulinität, Verweigerung gegenüber heterosexuellen Textoptionen etc. - ausgeübt wurde, die Fähigkeit beinhalten, sowohl die Erzählkonventionen Hollywoods als auch die (kon-)textuelle Geschlechterpolitik resp. Sexualpolitik, Klassenpolitik etc. zu hinterfragen. Ferner sei es den Regisseurinnen gelungen, die klassischen Konventionen Hollywoods so zu unterwandern, auszudehnen und sie sich neu anzueignen, dass feministische Identitäten und Konversationen in den »Hollywood fold« gelangen (ebd.: 227).

7.6 New Queer Cinema Die beginnenden 1990er Jahre waren nicht nur die Zeit des Aufstiegs des New Black Cinema oder des Asian American (Independent) Films, sondern zeichneten sich auch durch das Aufkommen eines Phänomens im Independent-Film aus, das von B. Ruby Rich 1992 in der September-Ausgabe des Sight & Sound-Magazins mit der Bezeichnung New Queer Cinema bedacht wurde. Knapp zehn Jahre später schreibt dieselbe Autorin in einem Artikel, dass »[t]irst of all, from the beginning, the New Queer Cinema was a more successful term for a moment than a movement. It was meant to catch the beat of a new kind of film and video-making that was fresh, edgy, low-budget, inventive, unapologetic, sexy and stylistically daring« (Rich, R.B. 2001: 114). Zu den vielen Filmen, die dieses Phänomen (mit-)konstitutierten, gehören als prominente Beispiele TOUNGES UNITED (1989, R.: Marlon Riggs), POISON (1990, R.: Todd Haynes), MY OWN PRIVATE IDAHO (1991, R.: Gus Van Sant), PARIS Is BURNING (1990, R.: Jennie Livingston), YOUNG SOUL REBELS (GB/F/D/SP 1991, R: Isaac Julien), THE HOURS AND TIMES (1991, R.: Christopher Münch), THE LIYING END (R.: Gregg Araki, 1992), SWOON (1992, R: Tom Kalin), Go FISH (1994, R.: Rose Troche) oder ALL OVER ME (1997, R.: Alex Sichel). Bald nach seiner Einführung wurde der Begriff allgemein verwendet, um Independent-Filme vor allem mit schwullesbischem Bezug und Inhalten zu bezeichnen (vgl. Chin, D. 2003: online). Ob nur ein Moment oder eine >echte< Bewegung, fest steht, dass unter der Bezeichnung

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>Queer< oder >Queer Cinema< bis dato hunderte Filmfestivals laufen, zahlreiche Filmzeitschriften sich dem Queer Cinema widmen, Vertriebe für queere Filme existieren usf. Vor dem Revival im Independent-Kino Anfang der 1990er Jahre war außerhalb von Avantgarde- und Experimentalfilm nur selten die Rede von schwullesbischen Filmproduktionen, wobei Filme wie PARTING GLANCES (1985, R.: Bill Sherwood) oder DESERT HEARTS (1986, R.: Donna Deitch) zu den Ausnahmen zählen (vgl. Neve, B. 2002: 136). Zu den zentralen Auslösern des New Queer Cinema wird einerseits AIDS gezählt sowie andererseits die technischen Möglichkeiten der kleinfonnatigen später digitalen Videoproduktion, die es gestatteten, kostengünstig Filme zu drehen und zu vertreiben (vgl. Rich, R.B. 2001: 115). 10 Reverend Jerry Falwell, Gründer der Moral Majority, hatte AIDS als Strafe Gottes bezeichnet. Religious Rights Groups attackierten z.B. die National Endowment of the Alts (NEA), u.a. weil diese Einrichtung sich an der Finanzierung von Todd Haynes Film POISON, der im Januar 1991 den großen Preis der Jury auf dem Sundance Festival gewann, beteiligt hatte (Neve, 8. 2002: 136). Diese >schlechte Presse< sorgte jedoch, wie B. Ruby Rich resümiert, bald für >gute Presse< und darüber hinaus für respektable Einspielergebnisse an der Kinokasse (Rich, R.B. 200 I: 115). Der Erfolg des New Queer Cinema im Independent-Sektor ließ auch die Mainstream bzw. semi-mainstream-Agenda nicht unberührt, wie Filme wie BOUND (1996, R.: Andy & Larry Wachowski), CHASTNG AMY (1997, R.: Kevin Smith), PHTLADELPHTA (dessen Arbeitstitel symptomatisch People Like Us lautete) oder IN & OuT (1997, R.: Frank Oz) belegen. Außerdem konnten queere Regisseure Top-Schauspieler casten bzw. queere Filme plötzlich als attraktives Vehikel für Schauspieler fungieren. Hillary Swank erhielt für ihren >Passingqueer< work. The problern had become so acute by 1999 that Popcorn Q 10 Bereits früher entstand die ACT UP·Bewegung (AIDS Coalition To Unleash Power), die 1987 initiiert wurde und die Bewusstmachung und Bekämpfung der AIDS-Krise zum Ziel hat. ACT UP bekämpft mit künstlerischen Mitteln, die massenmedienwirksam in Szene gesetzt werden, konservative Strömungen in Politik und Kirche, die mit angstbesetzten Diskussionen um AIDS die sexualpolitische Liberalisierung zurückzudrängen bestrebt sind. Auch hier spielten neue kostengünstigere (elektronische) Medien eine ausschlaggebende Rolle (vgl. Hieber, L. 1996).

174 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? started up a first-weekend club to try to fill the seats for queer films« (ebd.: 115±). Nach Rich ist das New Queer Cinema zu einem bloßen weiteren Nischenmarkt geworden, »another product line, pitched a disceming consumer« (ebd.: 117). In ihrem ebenfalls im Sight and Sound-Magazin erschienenen Artikel »Beyond the Sons of Scorsese« hat Amy Taubin mit Blick vor allem auf drei prominente Filme- THE HOURS AND TTMES, SWOON und THE LTVING ENDargumentiert1I, dass die Beschränkungen des Queer Cinema der 1990er Jahre offenkundig darin bestünden, dass dieses Kino vor allem auf sexuelles Begehren ausgerichtet und dass jenes Begehren ausschließlich männlich sei (vgl. Taubin, A. 2001: 91 ). Taubin ist der deutlich sarkastisch konnotierten Auffassung, dass die Marginalisierung von Frauen in diesen >queeren< Filmen noch drastischer ausfalle als in heterosexuellen Filmen, da in Letzteren Frauen immerhin noch als Objekte von Begehren fungierten. TONG UES UNITED und THE L!YING END bezeichnet sie als »achtlos frauenfeindlich«. Where does the politics of Tongues United - that ·black men loving black men is the revolutionary act' - leave lesbians of any colour? l'd say high and dry. As for The Living End's inept lesbian serial killers and the woman who kills her lover when she discovers he's bisexual, a case could be made that they are no more or less stereotypical than their nerdy hetero male counterparts: all of them function as comic relief. But then what is one to make of Araki ' s claim that the woman whose symbiotic attachment to the gay hero defines here entire emotionallife is a feminist character? ln fact, this queer cinema has much more in common with the current crop of male violence films (with Quentin Tarantino's Reservoir Dogs or Nick Gomez's Law of Gravity, for example), than it does with any feminist cinema. Like Tarantino and Gomez, Araki and Kalin are also the sons of Scorsese, whose films define and critique masculinity through violence, but also make Robert De Niro a homoerotic object of desire. (Ebd.: 91f.)

7. 7 Identitätspolitik und die Grenzen des Zeigbaren: Gegenwärtige Beschränkungen des Independent-Films in der Darstellung von marginalisierten Gruppen: Fixierung von Differenz Nach E. Deidre Pribram (2002) bietet die kulturelle Arena des IndependentFilms einerseits Filmemacherinnen und deren Arbeiten Möglichkeiten und Präsenz, die andernfalls nicht unterstützt und wahrgenommen würden, andererseits argumentiert sie, dass die gegenwärtige Verfasstheit des amerikanischen Independent-Films als diskursive Formation, die Darstellung marginalisierter Gemeinschaften beschränke, und zwar in dreierlei Hinsicht. An erster Stelle benennt sie eine »it' s-been-done«-Mentalität innerhalb der Industrie und verweist auf die Tendenz, dass eine bestimmte Firma bereits ihren women 's.film, lesbianfilm, Latino/Latina.film etc. vorzuweisen hat und insofern keine Notwendigkeit bestehe, einen weiteren derartigen Film zu realisieren. Oder ein derartiger Film werde von der Industrie abgelehnt, weil 11 Ferner verweist Taubin auf POISON, PARIS IS BURNING und TONGUES UNITED (vgl. Taubin, A. 2001: 91)

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der Markt bereits mit diesem >Typ< von Filmen gesättigt sei oder er nichts Neues zum Verständnis der jeweils behandelten sozialen Kategorie hinzufüge. Zu Recht weist Pribram darauf hin, dass hier immer wieder Argumente herangezogen werden, die undenkbar wären, wenn sie auf Filme von, über und für die dominante Marktgruppe angewendet würden (ebd.: 84). Zweitens hat nach Ansicht von Pribram die Independent-Arena die Bandbreite von Repräsentationen begrenzt, weil die Industrie es nicht geschafft hat, ein ausreichend breites Spektrum spezialisierter Publika zu kultivieren. Statt neue Publika, insbesondere »the communities of origin for subcultural filmmakers« (ebd.) auszumachen und anzusprechen, verlässt sich die Industrie auf bekannte und etablierte Vorstellungen von Kunstfilm-Zuschauern - traditionell weiß, städtisch, Mittelklasse. Ferner kritisiert Pribram, dass innerhalb der Independent-Industrie eine starke Tendenz existiert, Hollywoods ideales demografisches Zielpublikum schlicht zu spiegeln: junge Männer. Die MPAA-Zuschauerstatistiken zeigen in der Tat, dass junge Zuschauer im Alter von 16 - 20 Jahren im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 8% häufiger ins Kino gehen und immerhin 17% der verkauften Kinotickets auf sich verbuchen, dass aber die Zahl der verkauften Tickets bei den 30 bis 39-Jährigen 19% ausmacht, was in etwa dem prozentualen Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung (20%) entspricht, aber dennoch einen größeren Anteil darstellt als 16 bis 20-Jährigen. Die Konzentration Hollywoods auf die jungen männlichen Zuschauer hat ferner damit zu tun, dass junge Frauen zwar in Filme gehen, die primär auf männliche Zuschauer abzielen, umgekehrt junge Männer aber selten in Filme gehen, die von, über oder für Frauen produziert werden (ebd.: 85). Drittens, »and as result of the two previous factors of singular filmic instances deemed sufficient portrayal of entire cultural formations and the invisibility of many particularized audiences, is the narrowing of the diversity of the films promoted« (ebd.). Auch Pribram schließt sich hier jenen Kritikern des New Black Cinema an, die ihm vorwerfen, es zeige schwarze >GhettoRealität< tatsächlich existiere, hält sie entgegen, dass die stereotypen Darstellungen von Afroamerikanern letztlich die stereotypen Wahrnehmungen des dominanten Publikums der Existenz von Afroamerikanern bestätigen würden, dass sie hauptsächlich in der Stadt leben, arm und von Kriminalität belastet sind. Kurz, derartige Filme würden hier von einer weißen Mittelklasse-Zuschauerposition bewertet und die entsprechenden Darstellungen seien gefiltert durch die Agenden, Interessen und Wahrnehmungen derjenigen, die sie repräsentieren, d.h. die Systeme und Mittel der Repräsentation kontrollieren. Das Problem hierbei sei aber nicht allein die Ungerechtigkeit der Ausschließung derjenigen Zuschauer, die durch derlei Repräsentationen nicht adressiert würden. Vielmehr gehe es darum, dass eine gegebene >Identität< durch die Art und Weise, auf die sie von einem Außenseiterpublikum als >das Andere< wahrgenommen wird, fixiert werde. Dies hat u.a. etwa zur Konsequenz, so Pribram, dass schwule Filme hauptsächlich mit Sex (und AIDS) beschäftigt und blackfilms lediglich racezentriert seien (ebd.: 86). Am exemplarischen Beispiel der Vertriebs- und Marketingmechanismen dreier afroamerikanischer Indie-Produktionen - DAUGHTERS OF THE DUST (1992, R.: Julie Dash), Tü SLEEP WITH ANGER (1990, R.: Charles Bumett)

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und JUST ANOTHER GiRL ON THE l.R. T. ( 1993, R: Leslie Harrisy) - illustriert und analysiert Pribram, wie bestimmte industrielle Praktiken in der kulturellen Arena des Indie-Films die Identität der Identitätspolitik formen und dazu beitragen, diese zu definieren (vgl. ebd.: 83). Pribram kommt dabei in allen drei Fällen zu dem Resultat, dass institutionelle und materielle Faktoren drastisch die Repräsentation kulturell-historischer Diskurse, hier die Darstellung verschiedener Aspekte afroamerikanischer Erfahrung beeinflussen, sowohl auf der Ebene der Vermarktung der Filme als auch hinsichtlich der Methoden der Repräsentation (Genre, Narrationsweise, Ästhetik etc.) für die Konsumption durch das Publikums (vgl. ebd.: 110). Besonders ausführlich stellt Pribram dies am Beispiel von Julie Dashs DAUGHTERS OF THE DUST heraus. Der Film hatte- wenig überraschend- zunächst große Probleme, einen Vertrieb zu finden, da man der Auffassung war, wie man der Regisseurirr erklärte, es gäbe keinen Markt. Kino, eine kleine Firma, übernahm schließlich den Vertrieb. Obgleich der Film >nur< den Kamerapreis auf dem Sundance Film Festival und eine mäßige Kritik in Variety erhielt, spielte DAUGHTERS OF THE DUST 1,7 Millionen US-$ ein, was ein durchaus beachtlicher Erfolg für einen Independent-Film ist. Den Grund für den Erfolg sieht Pribram jedoch nicht allein darin, dass der Film letztlich so gut beim Publikum ankam. Vielmehr hatte der Vertrieb Kino mit KJM3 Entertainment Group eine Promotion-Firma angestellt, die es verstand, insbesondere das afroamerikanische Publikum ins Kino zu holen, indem sie ganz gezielt Anzeigen bzw. Interviews in Medien platzierte, die vorzugsweise von Afroamerikanern gelesen werden und weitere entsprechende Marketingmechanismen umsetzte, wie etwa die Premiere des Films am Geburtstag Martin Luther Kings stattfinden zu lassen (vgl. Rhines, A.J. 1996: 64ff.). To SLEEP WlTH ANGER dagegen erwies sich trotz guter Startvoraussetzungen (u.a. sehr gute Variety-Kritik nach einer vielbeachteten Vorführung auf dem Sundance Festival) als Flop, mit einem Einspielergebnis an der Kinokasse von lediglich 325.000 US-$. Burnetts Film avancierte so zum Beleg dafür, dass ein Film, wenn er lediglich im beschränktem Umfang veröffentlicht und promoted wird, wieder aus den Kinos verschwindet, bevor er über Mund-zu-Mund-Werbung langsam ein Publikum finden kann (vgl. ebd.: 88). Tatsächlich wurde Goldwyn als Vertriebsfirma für die Strategie, den Film als specialty film (art film) herauszubringen, kritisiert. Während der Film in art houses durchaus erfolgreich lief, scheiterte er in den so genannten >black theatresethnischerLauf der Dinge< ihre Urteile über den kulturellen Wert des >Anderennatürlichen Ordnung< gehorchen, glauben rechtfertigen zu können. Jesse Algeron Rhines verweist in Black Film/ White Money (1996) auf eine generelle Problematik für (Minoritäten-)Independent-Filme, die sich aus dem gegenwärtigen Vertriebssystem Hollywoods ergibt, dessen (neues) »block-book«-System verhindert, dass die meisten Independent-Filme überhaupt in die Kinos kommen bzw. in anderer Form kommerziell ausgewertet werden können. Fast alle Independent-Filme werden nur im Rahmen von Filmfestivals vorgeführt und grundsätzlich nur in begrenztem Umfang tatsächlich im Kino gezeigt. Auch spezialisierte >ethnischAutonomie< einzig und allein durch die Anforderung begrenzt, dass die Tochtergesellschaften erfolgreich wirtschaften. Doch wie Wyatt aufzeigt, sind sowohl Miramax als auch New Line in gewisser Hinsicht sehr wohl durch die »corporate domination« beschränkt worden (Wyatt, J. 1998: 85ff.). Entgegen der oben zitierten Aussage Goidmans verweist Wyatt auf zwei Fälle, in denen Ted Turner sich durchaus in die Aktivitäten seiner Tochtergesellschaften einmischte, so beispielsweise bei CRASH (CANIUSA 1996, R.: David Cronenberg), der von Menschen handelt, die sich sexuell dadurch stimulieren lassen, dass sie mit ihren Autos Zusammenstöße herbeiführen. Nachdem Turner den Film als »geschmacklos« eingestuft hatte, verzögerte sich dessen Veröffentlichung auf dem amerikanischen Markt um fast ein halbes Jahr, lange nachdem der Film bereits in vielen anderen Ländern angelaufen war. Im Fall von Miramax führte deren Vermarktungspolitik 1995 zu Spannungen mit dem Disney-Konzern, so bei der Veröffentlichung des Films THE PRTEST (GB 1994, R.: Antonia Bird) und bei Larry Clarks KIDS (1995). Letzterer, gedreht im Stil des cinema verite, erzählt einen Tag im Leben des l7jährigen Telly, dessen Hauptbeschäftigung es ist, Jungfrauen zu verführen. Während die Handkamera Telly bei seinen aktuellen Aktivitäten begleitet, entdeckt Jennie, eine seiner früheren >EroberungenInterventionen von oben< häufiger vor, als man denkt, wie auch die Produktionsgeschichten von Filmen wie HAPPINESS (Kap. 8.3) und Michael Moores FAHRENHEIT 9/11 (s.u.) deutlich machen. Auch Naomi Klein verweist in ihrer Kritik der Supermarken und Global Players No Logo! (2001) auf ähnliche Fälle von Einflussnahmen und Eingriffen im Zusammenhang von >SynergienSynergiefähigkeit< beinahe schon notwendigerweise politischen Druck von den verschiedensten Organisationen, Gruppen und Institutionen auf sich zieht und die Konzerne derartige Kritik fürchten und alles Erdenkliche tun,

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um Kritik zu vermeiden, etwa indem sie versuchen, die Forderungen der Kritiker, nicht selten schon bevor Kritik überhaupt artikuliert wird, zu erfüllen.

7.8.2 Global Hollywood und Zensur Andererseits hat sich Hollywood in der jüngsten Vergangenheit Zensurversuchen widersetzt, deren Urheber zweifelsohne eine besonders aus kommerzieller Sicht für Hollywood wichtige Instanz darstellen - die chinesische Regierung. Westliche Medienkonzerne haben Zugriff auf den überaus lukrativen chinesischen Markt mit allein etwa l 00 Millionen Kabelfernsehnutzern, seit Den Xiaoping das Nachrichtenmonopol der Kommunistischen Partei außer Kraft setzte und sein Land sukzessive und in begrenztem Umfang für einige von der staatlichen Zensur überwachte ausländische Medien öffnete (vgl. Klein, N. 2001: 182). Letztere reagierten, indem sie »ihre Vorstellung von Freiheit der chinesischen Regierung [anpassten]« (ebd.: 183). Im Herbst 1996 hatte Hollywood den Unmut der chinesischen Regierung heraufbeschworen, als diese von Martin Scorseses Disney-Film KUNDUN (1997) über den Dalai Lama in Tibet erfuhren. Laut einem Funktionär der chinesischen Regierung würde der Film den Dalai Lama glorifizieren und stelle insofern eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas dar, weswegen die Regierung strikt gegen die Realisierung des Films sei. Als das Studio den Film dennoch drehte, verbot Peking zwei Jahre lang alle Disney-Produktionen in China. Andere Filmproduktionen mit chinesischem Themenbezug, die zu der Zeit ebenfalls gedreht wurden, waren durch den Vorfall alarmiert, darunter MGMs RED CORNER (1997, R.: Jon Avnet) oder Sonys SEVEN YEARS IN TIBET (1997, R.: Jean-Jaques Annaud). Nicht zuletzt um Disney beizustehen, brach keines der Studios laufende Dreharbeiten ab. Man bemühte sich allerdings im Vorfeld um Schadensbegrenzung, indem man mittels offizieller Erklärungen die Filme zu entpolitisieren versuchte, was allerdings im Gegensatz zu den Verlautbarungen der Akteure und Regisseure stand. Letztlich wurde auch Sony für seine Produktion SEVEN YEARS IN TIBET bestraft und seit der Veröffentlichung des Films der Handel von Sony-Produkten teilweise beschränkt. Sony hat in der Tat etwas zu verlieren, denn der Verkaufswert von Konsumelektronik in China beträgt ca. sechs Milliarden Dollar (vgl. Schamus, J. 1999: online). Hollywood zahlte für seine Unnachgiebigkeit einen recht hohen Preis. Doch immerhin konnte es sich dafür als mutiger Verteidiger von Freiheit und Demokratie feiern lassen. Umgekehrt hätte das Image Hollywoods höchstwahrscheinlich international gelitten, wenn die Konzerne aus kommerziellen Gründen gegenüber China nachgegeben hätten, was nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht potenziell auch in langfristiger Perspektive ein gefährliches Szenario hätte bedeuten können. Im Grunde hatten die Hollywood-Konzerne keine Wahl.

7.8.3 Clean Flicks- Saubere Filme? Auch in anderen Zusammenhängen hat sich Hollywood bereits gegen die Zensur selbsternannter Moralwächter zur Wehr gesetzt. Gegenwärtig läuft eine Klage von acht großen Hollwood-Studios, darunter Disney, MGM und Warner Bros. um den Verleih und Verkauf >gesäuberter< Filme verbieten zu lassen. Die Studios haben sich damit einer Klage von Filmemacherinnen an-

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geschlossen, die bereits gerichtlich gegen die Praxis von Videofirmen wie Clean Flicks aus Colorado vorgegangen sind, die sexuelle Darstellungen, Brutalität und Flüche aus Videos herausgeschnitten hatten. Der Rechtsstreit begann im August 2002 als Clean Flicks 16 prominente Regisseure (darunter Steven Spielberg und Robert Redford) verklagte, weil das Unternehmen angeblich erfuhr, dass Hollywood-Regisseure eine gerichtliche Verfügung gegen die Manipulation ihrer Filme erwirken wollten. Einen Monat darauf antwortete der Verband der Regisseure mit einer Gegenklage. Clean Flicks besitzt landesweit rund 70 Filialen, in denen sich Kunden derartig >gesäuberte< Videos ausleihen können. Der erste Videoladen mit entsprechend zensierten Filmen wurde dabei erst im Jahr 2000 im Bundesstaat Utah eröffnet. Während die Filmemacher sich in diesem Rechtskonflikt auf den verfassungsmäßig gesicherten Schutz des geistigen Eigentums berufen, stützen sich die Videoketten in ihrer Argumentation u.a. auf die Redefreiheit. Hollywood und Lehren aus der Geschichte der Zensur Der Begriff Zensur bedeutet im Kontext Film typischerweise zwei unterschiedliche diskursive Praktiken. Einerseits die vom Staat ausgeübte Kontrolle über die im Film geäußerten politischen Ansichten, andererseits die so genannte Selbstkontrolle, die von kommerziellen Filmindustrien selbst durchgeführt wird und mit der sichergestellt werden soll, dass die herrschenden sozialen, moralischen, ideologischen Konventionen und Regeln eingehalten werden. Wenngleich letztere als >Zensur des Marktes< bezeichnet wird, insofern die für die Produktion Verantwortlichen entscheiden, was hergestellt und verbreitet wird und was nicht, handelt es sich bei beiden Praktiken um Ausübungen von Macht und Überwachung von Bildern, Darstellungen und Gedanken, die in einer Kultur zirkulieren. Aufgrund der Tatsache, dass Film von Anfang an eine internationale Industrie war, existierten beide Zensurformen nebeneinander und beeinflussten und legitimierten sich gegenseitig. Doch, so Maltby, »die internationale Vorherrschaft Hollywoods machte die dort praktizierte Selbstkontrolle zur einflussreichsten Form der Zensur in der Geschichte des Films« (Maltby, R. 1998a: 215). Mit Blick auf den amerikanischen Film von 1980 bis 1992 beobachtet Charley Lyons, dass der Begriff Zensur mittlerweile jede Form kultureller Unterdrückung umfasst, »that results from official or tacit pressure from either the political left or right.« (Lyons, Ch. 1996: 277). Neben den Formen der Selbstkontrolle der Filmindustrie und staatlicher Zensur, sieht er in Protesten von >pressure groups< eine Aktivität, die zumindest potenziell die Zensur von Filmen nach sich ziehen kann (ebd.: 278). Tatsächlich hat der intensive Protest zahlloser Minoritätengruppen (Feministinnen, Asian Americans, Homosexuellen etc.) gegen die diskrimierende Repräsentationspraxis in den 1980er und 1990er Jahren nie eine sichtbare oder offiziell nachweisbare Zensur eines Films, etwa in der Form einer inhaltlichen Modifikation oder gänzlichen Entfernung vom Markt, evoziert. Doch Lyons schreibt, dass Konservative der Auffassung seien, dass linke Proteste ein Klima der Vorsicht unter Hollywood executives und Produzenten erzeugt hätten, wenn sie mit kontroversen Darstellungen beinahe jeglicher Minorität konfrontiert sind. »invoking the >PC< (political correctness) debates, they speak of >self-censorshipcensorship from the left,< and a mew McCarthyismpressure group< hat Ende der 1980er Jahre mit ihren Protesten bewirken können, dass - wie es Lyons formuliert - ein Film »indirekt zensiert« wurde, und zwar die religiöse Rechte. Mit erheblichem Protestaufwand hatte sie aufgrund seiner vermeintlich blasphemischen und antichristliehen Darstellungen zu verhindern versucht, dass der Film LAST TEMPTATION OF CHRIST (1988, R.: Martin Scorsese) der amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Während Universal nach anfänglichen Vermittlungsversuchen mit den religiösen Gruppen, sich hinter den Film stellte und an dessen Veröffentlichung festhielt, versuchten religiöse Gruppen in einigen Städten die Vorführung zu unterbinden, was in manchen Fällen gelang. Nachdem ihre Protestaktionen bereits im Vorfeld nicht nur eine Vorverlegung des offiziellen Kinostarttermins erwirkt, sondern auch dazu geführt hatten, dass Kinoketten, darunter die von James Edwards, der damals rund 150 Kinos im ganzen Land besaß, die United Artists-Kette (2000 Leinwände) und die General Cinema Corporation (1339 Leinwände), den Film nicht zeigten (ebd.: 300ff.). Lyons: While groups may wave placards and chant against any movie they choose, it is evident that protests can produce anticipated effects. Same protests, such as those from the religious right, result in recognizable acts of censorships; others, such as those from the left groups, create an environment that legitimizes suppression and encourages self-censorship. Thus, protests of all kinds risk some form of censorship. But without protest, some of our democratic ideals are crippled: groups are denied the chance to play a participatory role in cultural production, and their views are themselves censored. Permitting protests from either side of the political spectrum, regardless of their effects, is therefore a risk worth taking. (Ebd.: 311)

Regulierungen und MPAA-Rating In der Regel sehen Studioverträge die Lieferung von Filmen vor, die durch die MPAA mit »G«, »PG«, »PG-13«, oder »R« bewertet wurden. Zentraler Hintergrund dieser Vertragspolitik ist die Überlegung, dass Filme, die mit »NC-17« 12 oder überhaupt nicht bewertet worden sind, allein deshalb einen finanziellen Verlust darstellen, weil derart bewertete (oder nicht bewertete) Filme von vielen Auswertungsmöglichkeiten und Märkten ausgeschlossen sind. Blockbuster Video oder KMart nehmen Filme jenseits des R-ratings ebenso wenig in ihr Programm auf, wie viele der Kinoketten oder der nordamerikanischen Kabelsender, z.B. Movie Channel oder Showtime. Zudem ist fast auf dem gesamten asiatischen Kontinent die Vorführung amerikanischer Filme mit einem X- oder NC-17-rating nicht erlaubt. Die tonangebende Distributionslogik des globalen Hollywood besteht darin, dass seine Produkte ihr Profitpotenzial in den verschiedenen Auswertungsformen (Video, DVD, Pay-per-View, Kabel etc.) und auf den verschiedensten Märkten voll ausschöpfen, um die Bedingungen zu erftillen, die ein Zirkulieren der Ware auf den unterschiedlichen Märkten ohne Komplikationen sicher stellt (vgl. Lewis, J. 2000: 285). Diesen Überlegungen kann sich kein (am Profit orientiertes) Studio entziehen und sie stehen im deutlichen Widerspruch zu dem, 12 Die Bewertungskennzeichnung »NC-17« wurde seitens der MPAA 1990 eingeführt, um studioproduzierte adults on/y und soft-core Filme zu klassifizieren (und damit zu legitimieren). Der erste Film, der eine derartige Kennzeichnung erhielt, war Philip Kaufmans HENRY AND JUNE (1990) (vgl. Lewis, J . 2000: 296) .

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was idealtypisch als vermeintlich freiwilliges rating system konzipiert wurde, wie Lewis erläutert: The voluntary rating system was designed in part to allow filmmakers to make informed decisions as to what sort of product they would like to deliver and what sort of audience they might like to reach. But the necessity these days to produce a product that can move freely through all the various theatrical and ancillary markets has made it impossible for even the most powerful and popular auteurs to make movies independent of economically motivated corporate prohibitions on Xand NC-17-rated films. (Ebd.)

Dass es gegenwärtig nahezu unmöglich ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Kap. 4), mit einem NC-17-Film an der Kinokasse Profite zu machen, hat vor allen Dingen Paul Verhoevens SHOWGIRLS (1995) gezeigt. Trotz eines komfortablen Budgets von 45 Millionen US-$ und entsprechender Promotion im Hintergrund floppte der Film seinerzeit an der Kinokasse. Man kann davon ausgehen, dass ein Film, der mit NC-17 klassifiziert wurde 20 bis 30% seines potenziellen Publikums noch vor seiner Veröffentlichung verliert (vgl. Klein, A. 1995: 314). Lediglich in bestimmten Zusatzmärkten kann die NC-17-Markierung aus kommerzieller Sicht nützlich sein. Hierbei handelt es sich dann um die so genannten »Director's cuts« oder um »restored versions«, die häufig nur um ein bis zwei Minuten erweitert werden, um die CARA-Verantwortlichen 13 nicht über Gebühr herauszufordern. »The most important thing the NC-17 classification has done for the studios is that it has given them the opportunity to release the same product twice and claim, with a certain accuracy, that the two films are different enough to warrant a second Iook« (Lewis, J. 2000: 297).

7.8.4 MPAA-Ratings, Zensur und Independent-Film Es ist seltsam, dass nur wenige Arbeiten zum gegenwärtigen amerikanischen Independent-Film in besonderer Weise darüber nachdenken, inwieweit ein Independent-Status auch dadurch markiert bzw. >erfüllt< ist, dass ein Film kein MPAA-rating erhält (oder nur ein NC-17-rating). Am Beispiel von Miramax wurde bereits gezeigt, wie bedeutsam die rating-Frage für den Independent-Film ist. Aus kommerzieller Hinsicht ist es auch flir IndependentFilme generell natürlich vorteilhaft, sich dem rating-Verfahren zu stellen, weil nicht durch die MPAA eingestufte Filme tendenziell schwieriger zu vermarkten sind. In der Literatur zum gegenwärtigen amerikanischen Independent-Film bleiben diese Zusammenhänge seltsam unterbelichtet Weder widmet Emanuel Levy (1999) diesem Thema besondere Aufmerksamkeit noch E. Deidre Pribram (2002). Und John Pierson (1996) verweist in seiner Veröffentlichung über den amerikanischen Independent-Film nur im Kontext der Produktionsgeschichte von Spike Lee SHE'S GOTTA HAVE IT auf die MPAA hin (Pierson, J. 1996: 68). Spike Lee war durch den Vertrag mit dem Verleih dazu verpflichtet, SHE's GülTA HAVE IT so abzuliefern, dass er mindestens ein R-rating erhält. Doch aufgrund der expliziten Darstellung von Sexualität (im Film ist ein erigierter Penis zu sehen) hatte der Film seitens 13 CARA (Classification and Ratings Administration) ist die Abteilung der MPAA, die die Klassifizierung der Filme entsprechend des rating system vornimmt.

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der MPAA zunächst ein »X« erhalten, bevor er schließlich nach mehrfachen Kürzungen, die allerdings so minimal wie möglich gestaltet wurden, ein RRating erhielt. Piersan hält sich mit einer Kritik an den Praktiken der MPAA deutlich zurück: Much has been said and written about the ratings board having a bias against black sexuality and/or independent distributors like lsland Pictures. This may very well have been true then, and it may be true now. Nevertheless, they definitely da not give R ratings to studio movies in which you can see an erect penis of any color. (Pierson, J. 1996: 68)

Wenn man von einer >emphatischen< Definition von Independent-Filmen ausgeht, die lautet, dass der Independent-Film textuell, politisch oder institutionell eine alternative Filmpraxis gegenüber den Mainstream-Filmen darstellt, wird deutlich, dass eine derartige Filmpraxis mit einiger Wahrscheinlichkeit auch eher die Grenzen des Zurnutbaren der MP AA herausfordert und eher Gefahr läuft, keine Bewertung oder eine Bewertung mit NC-17 zu erhalten als Studioproduktionen. Und man darf nicht vergessen, dass die MPAA vor allem eine Organisation der Studios ist. Der Vorsitzende der MPAA Jack Valenti hält die Meinungsfreiheit offiziell zwar hoch, die Frage ist allerdings, ob die Organisation diesem Anspruch immer gerecht wird. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die MPAA Michael Moores in Cannes prämierten Dokumentarfilm-Blockbuster FAHRENHEIT 9111 (2004) lediglich mit einem R-rating bewertet hat, können Zweifel daran aufkommen, ob die Meinungsfreiheit tatsächlich derart im Mittelpunkt steht. Bei der Begründung dieser Einstufung wurde seitens der MPAA auf die wiederholte Verwendung des Wortes »motherfucker« verwiesen ebenso wie auf die drastische Darstellung von Kriegsopfern und auf das missbräuchliche Verhalten einiger Soldaten der US-Armee. Aber sind die Darstellungen so viel problematischer als die Gewalt, die z.B. THE LORD OF THE RTNGS zeigt? Wird hier ein Unterschied gemacht, weil die Gewalt von Moores Dokumentarfilm >realistischer< ist als die in Peter Jacksons Filmepos? Dessen >liberales< PG-13-rating mag darauf hindeuten, dass man bei der äußerst kostspieligen Blockbuster-Studioproduktion (New Line/Time Warner) beide Augen zugedrückt hat, wohl wissend, dass schon ein R-rating für die Kinoauswertung doch deutliche finanzielle Einbußen bedeutet hätte. Offenkundig hält die MPAA filmische Gewalt, die sich gegen monströse Fabelwesen richtet für relativ harmlos, insbesondere wenn der jeweilige Film keinen freizügigen Sex zeigt und auch sonst, aus Sicht der MPAA, politisch >unverfänglich< ist. Aber natürlich ist ein solcher >Studio-Bonus< für THE LORD OF THE RINGS schwer nachzuweisen. Und im Fall von Michael Moores Film ging es tatsächlich weniger um die Frage, ob hier eine Studio- oder Indie-Produktion betroffen ist, sondern um den politischen Stellenwert. Man kann wohl kaum davon ausgehen, dass der konservativen MPAA die Kritik von Moore an der US-amerikanischen Administration gefällt. Insofern bleibt berechtigter Zweifel, ob dieses rating tatsächlich allein auf die vulgären Ausdrücke und die explizite Darstellung von Kriegsopfern oder die problematische Darstellung der US-Armee zu-

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rückzuführen oder nicht auch politisch motiviert ist. 14 Die unabhängigen Verleihfirmen von Moores Film Lions Gate und IFC Films sowie die Fellowship Adventures Group (FAG) von Bob und Harvey Weinstein hatten vergeblich Klage gegen das Urteil eingelegt. Es ist rechtlich sehr schwierig, etwa in den Regularien der MPAA, einen Ansatzpunkt zu finden, um sich erfolgreich gegen die Einstufungspraxis zu wehren. Ursprünglich sollte die Miramax-Produktion FAHRENHEIT 9/11 überhaupt nicht in den USA gezeigt werden. Der Disney-Konzem hatte Miramax den Vertrieb des Films untersagt, woraufhin die Weinstein-Brüder die Verleihrechte an dem Film für sechs Millionen US$ zurückkauften und ihn in den Kinos starteten. Seitens konservativer Organisationen wie Move America Forward wurde zum Boykott des Films aufgerufen und auf deren Hornepage eine schwarze Liste der Kinos ausgestellt, die den Film vorführten. Dem Erfolg des Films, der sich am Ende als ein eher harmloses, überlanges Wahlkampfvideo herausstellte, hat auch diese Kontroverse nicht geschadet: Am ersten Kinowochenende konnte der Film sich als erster Dokumentarfilm überhaupt aufPlatz »1 «der US-Kinocharts platzieren. Bis Juli 2004 hat der Film laut der Internet Movie Database allein in den USA über 60 Millionen US-$ eingespielt. Tatsächlich ist er der erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten. Und dies obgleich eine Reihe von Kinos und Kinoketten wie GKC Theatres, den Film nicht ins Programm nahmen. GKC Theatres beispielsweise lehnten die Veröffentlichung des Films ab, solange sich die USA im »Krieg gegen den Terror« befanden. Die genannten Beispiele verdeutlichen, wie umkämpft die Kunstfreiheit und die freie Meinungsäußerung in Hollywood ist. Ein beträchtlicher Teil der Hollywood-Elite ist gegen Zensur und schnell alarmiert, wenn politische, soziale oder religiöse Kräfte Hollywood von innen wie von außen in irgendeiner Weise zu zensieren versuchen. Dabei geht es allerdings nicht nur um die idealistische Verteidigung amerikanischer Werte. Zensurpraktiken tangieren auch die >Freiheit< des Marktes und verhindern potenzielle Profite. Im Fall von FAHRENHETT 9/ll hat sich wieder gezeigt, dass sich der Rückkauf der Rechte an einem Film Dank der Kontroverse und der weltweiten Aufmerksamkeit, die Michael Moore vor dem Hintergrund der internationalen Kritik an der Bush-Administration genießt, für Miramax und die Weinstein-Brüder gelohnt hat. Hinzu kommt, dass Amerika hinsichtlich der Haltung im »Krieg gegen den Terror« zutiefst gespalten ist, was bedeutet, dass ein beachtlicher Anteil der US-Bevölkerung sehr kritisch gegenüber der Politik der republikanischen Regierung in Washington eingestellt ist. Mit anderen Worten: Es existiert auch ein Markt für Bush-Kritiker. Umgekehrt kann die Ausübung von Zensur ebenfalls wirtschaftlich motiviert sein, z.B. wenn der Mutterkonzern eines (Independent-)Studios Angst vor wirtschaftlichen und Prestigeschäden hat, wenn die Veröffentlichung eines skandalträchtigen Images möglicherweise Aktionäre oder die Kunden eines Kunden, auch in anderen Geschäftsbereichen, verprellt. Letztlich ist Hollywood, gerade bei größeren Produktionen, selten bereit, Risiken einzugehen, insbesondere bei solchen Filmen, von denen die Produzenten annehmen, dass sie geschäftsschädigende Kontroversen auslösen. Hollywood hat 14 Hinzu kommt, dass ein R-rating keineswegs verhindert, dass Kinder und Jugendliche den Film sehen, in Begleitung von Erwachsenen ist es ihnen durchaus gestattet.

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prinzipiell kein Interesse daran als Babylon zu gelten. Mit >harmloser Unterhaltungsware< wird es seinem obersten Prinzip, »Safety first«, noch am ehesten gerecht. Die Angst Hollywoods vor Risiken hat sich in das kollektive Bewusstsein seiner Filmschaffenden und Verantwortlichen fest eingeschrieben. Das Stichwort lautet hier »Selbstzensur«.

7.8.5 Die Macht der Selbstzensur Es gehört zum konventionellen Wissen, dass Zensur und Selbstzensur, nicht nur in der Geschichte Hollywoods, aufs engste miteinander verknüpft sind (Couvares, F.G. 1996: Sf.). Anders als die Zensur, die gleichsam als Zwang von >außen< oder >oben< waltet, ist die Selbstzensur, die >Schere im Kopfoben< oder >außen< zuvorzukommen, unabhängig davon, ob diese dann auch wirklich eintritt. Dieses Verständnis des Begriffs erscheint mir zu eng gefasst. Es geht nicht nur um die Formen von Selbstzensur im Angesicht einer drohenden äußeren Zensur. Von Selbstzensur zu sprechen scheint auch dann berechtigt, wenn die Bereitschaft vorliegt, dominante Normen, Erwartungen, Interessen zu erfüllen, aus dem einfachen Grund, weil sie dominant sind oder als dominant imaginiert werden, obgleich keine >offizielle< Sanktionsgewalt ihre Beachtung oder Erfüllung erzwingt. Und doch hat das, dem man sich so unterwirft, eo ipso den Status eines Gesetzes, dessen Nichtbeachtung bzw. die Sanktionen der Nichtbeachtung offenkundig gefürchtet werden. Als im Sinne Foucaults diskursives Regime definiert es das Sagbare und Unsagbare, das Darstellbare, das Undarstellbare, das Normale und Unnormale, das Moralische, Unmoralische etc. Dabei ist es von sekundärer Bedeutung, ob diese Konformität bewusst oder unbewusst vonstatten geht, und ob die damit verbundenen Ängste als solche selbstreflexiv erkannt werden oder nicht. Aus sozialpsychologischer Sicht hätten wir es vor allem dann mit einem typischen Fall von Ideologie zu tun, wenn man die Verhältnisse in der beschriebenen Art und Weise zwar durchschaut, sich von ihnen aber dennoch unberührt wähnt. Im Hinblick auf die gegenwärtige Independent-communiry dominiert jedoch eine andere nicht minder ideologische Haltung. Statt dass ideologisch, etwa im Stil des Third Cinemas, die Opposition zum Hollywood-Kino gesucht wird, übt man sich ganz unverschleiert in weitestgehender Konformität, deren Anschein man allein deshalb gerade noch zu vermeiden sucht, weil das Primat des individuellen Stils des potenziell >visionären Filmemacherspersönlichen Filmen< wie KAFKA (1991) oder SCHlZOPOLlS ( 1996) schließlich zu einer Auffassung gelangte, der zufolge vermeintlich unbequeme Themen wie die Hilflosigkeit der USA im Kampf gegen die Drogen in seinem 46 Millionen Dollar-Film TRAFFTC (2000) nur mit Rücksicht auf die wie auch immer antizipierten Sehgewohnheiten des Publikums transportiert werden können, was die Bereitschaft beinhaltet, gewisse ästhetische und narrative Kompromisse einzugehen. Soderbergh: Zum Beispiel hätte ich eine viel düsterere Version von Traffic drehen können. Aber ich wollte es nicht. Denn ich wollte keine 46 Millionen Dollar dafür ausgeben, dass ich genau die Leute vertreibe, die ich ja ansprechen möchte. Ich wollte, dass das weiße Mittelklassen-Amerika über das Drogenproblem nachdenkt und dass das, was sie sehen weiterwirkt, wenn sie aus dem Kino rauskommen. (Soderbergh, St. zit. n. Suchsland, Rüdiger 2001: online)

Es stellt sich die Frage, ob mit diesem Bekenntnis zur Legitimität der cross over-Strategien, zumindest bei dem Film TRAFFIC eine tatsächlich alternative Filmpraxis nicht gleich gänzlich auf der Strecke blieb, was, wie ich meine, der Fall ist (vgl. Sudmann, A. 2003: 141-156). Immerhin existieren im Bereich des Independent-Films auch noch Positionen, die diese publikumszentrierte Sicht als etwas begreifen, das nicht mit ihrem Begriff von Independent-Filmen korrespondiert. »An independent film«, sagt z.B. Mark Urman, Chef des Indie-Verleihs ThinkFilm, »is a filmthat is made independent of a sense ofthe audience« (Urman, Mark zit. n. Kotler, St. 2004: online). Bemerkenswert ist in jedem Fall das verschwindend geringe Ausmaß des Festhaltens der Filmemacher an der Idee einer dezidiert alternativen Filmpraxis, die den Status Quo - sei es ästhetisch und/oder politisch - herausfordert. Diese Beobachtung wird von den Vertretern der etablierten Independent/Hollywood community nahezu einstimmig geteilt und zumeist mit nüchternem Bedauern zur Kenntnis genommen. In den Interviews, die im Zusammenhang mit dieser Arbeit geführt worden sind, wurde diese Einschätzung nahezu einhellig vertreten. Rich Raddon, Direktor des Los Angeles Film Festival, 2003 F: ln welchem Ausmaß fordern gegenwärtige Independent-Filme den Status Quo heraus, inwieweit sind sie gegenhegemonial? A: Meinst du unabhängige amerikanische Filmemacher? F: Ja. A: Nur sehr wenige fordern den Status Quo heraus. Viele von ihnen machen die Art von Filmen, von denen sie erwarten, dass sie sie verkaufen und mit ihnen Geld machen können. Die Leute, die Ersteres machen, verfügen über einzigartige Ausdrucksformen, Leute wie David Gordon Green mit GEORGE WASHINGTON (2000) oder Paul Thomas Anderson mit seinem ersten Film HARD EIGHT aka SYDNEY (1996), ein Film, der von nichts anderen als seinen Leidenschaften handelte. Ich sollte auch betonen, dass wir einen Haufen Filme sehen, aber nur wenige von denen finden einen Vertrieb. Ich hoffe, dass mehr Vertriebsmöglichkeiten eine Öffnung bedeuten werden, gegenüber diesen kleinen Independent-Filmen, bei denen das Herz des Filmemachers nicht so sehr am Geldmachen sondern an der Kunst hängt. Dementsprechend ist es wichtig, dass dieser Typ Filmemacher versucht, seine Filme zu realisieren. Und ich hoffe, dass die Entwicklung des amerikanischen Independent-

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Films, der Independent-Szene, eine Wellenbewegung darstellt. Ich denke, dass wir uns in den letzten beiden Jahren hinsichtlich der wirklich talentierten Leute, die versuchen mit ihren Filmen den Status Qua herauszufordern, in einem Tal befan· den. Ich hoffe allerdings, dass wir da in ein paar Jahren heraus sein werden und interessante und lebendige Werke der amerikanischen Independent-Szene sehen werden, die anders sind als das, was das Studiosystem fabriziert.

7.9 Die Politik einer alternativen Filmpraxis Wenn sich auch das Verhältnis von Hollywood und Independent-Film nicht mehr auf eine simple Dichotomie von Zentrum und Peripherie reduzieren lässt, gibt es nach wie vor die Vorstellungzweier Produktionssphären, gemäß derer in der einen Dinge politisch bzw. textuell möglich sind, die in der anderen nur schwer oder ganz unmöglich sind. Als der Drehbuchautor und Regisseur Paul Sehrader im Zusammenhang mit der Prequel-Produktion zu THE ExORClST (1973, R.: William Friedkin) THE EXORClST- THE BEGlNNlNG (2004, R.: RENNY HARL1N) 15 in einem Interview gefragt wurde, ob er- nach einer Zeit, in der er vor allem IndependentProduktionen realisiert hatte - wieder Lust auf große Produktionen habe, antwortete er: »Es ist natürlich schön, wenn du einen großen Apparat zur Verfügung hast. Aber es gibt Sachen, die kannst du nur in einem kleinen Film zeigen. In AUTO Focus [2002- Anm. d. Verf.] haben wir eine wunderbare Szene, wo zwei Männer im Keller Pornovideos sehen und sich einen abwichsen. Auf so etwas möchte ich nie verzichten« (Schrader, Paul zit. in: Sturm, R. 2003: online). Dieses Zitat ist in der Tat symptomatisch im Hinblick darauf, wie der Independent-Film in Hollywood gerade aus Sicht der Filmschaffenden imaginiert wird. Die Idee einer alternativen Filmpraxis wird vor allem als künstlerischer Möglichkeitsraum, als Areal der (legitimen) Grenzüberschreitung, als Bühne des Tabuverstoßes hochgehalten und nicht etwa wegen vermeintlicher, wie auch immer vorgestellter sozial emanzipatorischer Effekte einer solchen Filmpraxis. Gleichwohl und kaum überraschend ist Schraders Diagnose zutreffend. Der low budget-Independent-Film bietet tatsächlich Optionen der Darstellung, die der kostenintensive MainstreamFilm in aller Regel nicht bereitstellt. Wichtig ist hierbei, dass Sehrader mit seiner These auf den Budget-Faktor hinweist. Die Möglichkeiten, die der Independent-Film bietet, sind nicht nur dessen Kapital, sondern auch dessen Risiko. Wobei grundsätzlich gilt: Je größer das Wagnis, das man mit einem Projekt assoziiert, desto weniger Geld ist man bereit zu investieren. Andererseits weiß man in Hollywood sehr wohl, dass der Mut zum Wagnis sich gelegentlich tatsächlich auszahlen kann. Dennoch wird versucht, so wenig Kapital wie nur irgend möglich in riskante Unternehmen zu stecken. In den 1960er und 1970er hatten sich, wie John Hess (1985) in seinem Aufsatz »Notes on U.S. Radical Film, 1967-1980« bemerkt, die Möglichkeiten für eine radikal-alternative Filmpraxis in den USA verbessert. Progressive Filme wie z.B. die Dokumentarfilme HARLAN COUNTY, U.S.A. (1976, R.: 15 Paul Sehrader hat die erste Version dieses Films für 33 Millionen US·$ rea· lisiert, die den Studioverantwortlichen bei Warner jedoch missfiel. Sehrader wurde gefeuert und durch Renny Harlin ersetzt, der den Film dann für 53 Millionen Dollar komplett neu drehte. Möglicherweise wird Schraders Version aber auf DVD veröffentlicht.

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Barbara Kopple) oder UNION MAIDS (1976, R.: Jim Klein/Miles Mogulescu/ Julia Reichert) konnten einen Oscar gewinnen bzw. wurden für einen Oscar nominiert. Radikale Filme mit explizit politischem Inhalt erhielten zudem Rezensionen in renommierten Zeitschriften und Zeitungen und liefen zunehmend im Fernsehen. Am Ende der genannten Periode führte diese Entwicklung dazu, dass immer mehr kritische bzw. politisch engagierte Filmemacher immer mehr Geld für längere und anspruchsvollere Filme ausgaben und ihre Fähigkeiten des künstlerischen Ausdrucks verfeinerten und an kreativen Erfahrungen reicher wurden. Gleichzeitig, so stellt John Hess fest, nahm jedoch die Militanz des radikalen Filmernachens im Mainstream ab. There was still no viable left or Iabor movement able to guide and sustain film· makers. There was no student movement to push them to the left. The absence of a movement, a party and a structure for film funding and distribution encouraged filmmakers to temper their politics in order to obtain a more secure basis from which to work. There also seemed to be a success syndrome (called Hollywooditis) in which filmmakers who are successful and obtain a more secure basis grow to want larger budgets in order to make grandiose films or to move into fiction film· making. By doing this they tended to move away from their political roots and to a certain extent betray their responsibility to the movement which, in great part, gave them their success. Without the women's movement, for example, GROWING UP FEMALE, UNION MAIDS, HARLAN (OUNTRY and MEN'S LIVES would never have been made. lt is usually only those filmmakers working within political collectives and women who hold themselves accountable to the women's movement who have maintained a sharp political focus and who continued to make films that engage people politically. (Hess, J. 1985: 149).

Hess' Diagnose der Entwicklung einer »radikalen Filmpraxis« kann größtenteils sicherlich auch für die nachfolgende Zeit Geltung beanspruchen, gerade im Hinblick auf das von ihm konstatierte »Hollywooditis«-Syndrom. Neben der >allgemeinen< Entwicklung der Verwässerung des Radikalen in der gegenhegemonialen Filmpraxis gilt es aber darüber hinaus festzuhalten, dass es bestimmte Formen einer politisch alternativen Filmpraxis in besonderem Maße schwer hatten und haben. Zu dieser Problematik konstatiert Hess, dass »[t]he opportunity to make films which go beyond the liberal and social democratic hope of reforming capitalism to explain capitalism as a class system and to advocate socialism was in the 1960s and still remains impossible within the U.S. film industry (that is, Hollywood)« (ebd.: 137). David E. James schreibt: »Especially after the Comintern adopted Popular Front policies, in the late 1930s many forms of populist film culture in which class politics were paramount flourished across Western Europe and the United States; but in the renewal of radical politics after the 1950s the importance of class was radically diminished, especially in the United States« (James, D.E. 1996: 15). Und Steven J. Ross ergänzt in seinem Aufsatz «Beyond the Screen: History, Class, and the Movies«: »Filmmakers were fare more concemed with class conflict during the silent era than at any subsequent time in American history« (Ross, St.J. 1996: 26). Als Gründe für diese Auflösungserscheinung verweist James u.a. auf die Erkenntnisse über Stalin, gefolgt vom Kalten Krieg, speziell dem McCarthyismus in den 1950em, die zusammen die ohnehin nur minimale >Popularitätzerstörten< (vgl. James, D. 1996: 15). Vor allem die Kommunistenjagd im

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Hollywood der 1940er und 1950er Jahre, die insbesondere von der HUAC (House Un-American Activities Committee) betrieben wurde und als trauriger Höhepunkt zu der Verurteilung und Inhaftierung der so genannten Hollywood Ten und dem Aufstellen >Schwarzer Listen< von vermeintlichen oder tatsächlichen Kommunisten führte, hatte sicherlich ein Klima der Angst in Hollywood geschaffen, sich nicht durch seine Arbeit als >Kommunist< oder als links stehend verdächtig zu machen. Die sozialen Bewegungen der 1960er Jahre, wie etwa die der Frauenbewegung oder die schwullesbische Bewegung, entwickelten sich nach James' Ansicht größtenteils eher in Opposition zum als in Übereinstimmung mit dem Marxismus (James, D. 1996: 15).

7. 9. 1 Dokumentarfilme und politischer Aktivismus Politisch ambitionierte, unabhängige Filmemacher, denen es auch um die politische Effektivität ihrer Filmarbeit geht, operieren traditionell eher im Dokumentarfilmbereich als im Bereich des fiktionalen Films (vgl. Kellner, D./ Ryan, M. 1988: 283). Hier finden häufiger jene Themen und Perspektiven Berücksichtigung, die in den fiktionalen Welten des Mainstream-Films, aber ebenso des Independent-Films unberücksichtigt bleiben oder sich dort, auch aufgrund der Unterschiedlichkeil der narrativen Modi weniger gut umsetzen lassen. PEOPLE LTKE Us (2001) von Lois Alvarez und Andrew Kolker beispielsweise untersucht explizit das amerikanische Klassensystem, nicht nur als diskrete Kategorie, sondern auch in der Beziehung zu Kategorien wie race und gender. Der Film zeigt die Exklusion des Konzepts Klasse aus nationalen Debatten und stellt dar, in welcher Weise Klassenunterschiede das Alltagsleben prägen. In SEX- FEMALE (2002), ebenfalls von Alvarez/K.olker, äußern sich >gewöhnliche< Frauen, insgesamt fünf Dutzend, quer durch verschiedene Einkommensschichten, aus unterschiedlichen >ethnischen< Gruppen, von jungen bis alten Frauen über ihre Erfahrungen mit und Vorstellungen von Sexualität. Der cimima verite-Dokumentarfilm FLAG WARS (2003, R.: Linda Goode Bryant/Laura Poitras), der über einen Zeitraum von vier Jahren in Columbus, Ohio gefilmt wurde, widmet sich den kulturellen Auseinandersetzungen, die entstanden, als weiße Schwule in eine afToamerikanisch dominierte working class-Gegend zogen. LTFE AND DEBT (2001) von Stephanie Black berichtet von den Auswirkungen der Globalisierung auf die jamaikanische Industrie und Landwirtschaft. In STORE WARS- WHEN WAL-MART COMES TO TOWN (2001, R.: Micha X. Peled) geht es um eine kleine Stadt in Virginia, die entlang der Frage gespalten ist, ob sie die Errichtung eines Wal-Mart megastores zulassen soll oder nicht. Zudem zeigt der Film auf, dass die RiesenDiscounter nicht nur auf die Einkaufsgewohnheiten der Einwohner Einfluss haben, sondern auch darauf, wie sie arbeiten und leben. Aufgeführt werden die genannten und zahlreiche weitere Filme u.a. von Independent Television Service (ITVS). ITVS hat den Anspruch mit lokalen wie internationalen Veröffentlichungen, ein anspruchvolles Programm zu verbreiten, das von unabhängigen Produzenten hergestellt wird und Themen auf kontroverse, ungewöhnliche Art und Weise mit Mut zum Risiko behandeln möchte und außerdem die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen sucht, die von den Mainstream-Medien vernachlässigt werden. Es geht ITVS darum, »to expand cultural and global awareness, advance civic participation,

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and creatively engage audiences as it brings new and diverse voices into the public discourse through programming«, wie auf der Hornepage nachzulesen ist. Dazu gehört auch, dass man sich explizit zu bestimmten Wertegrundsätzen bekennt und dabei allem voran die Bedeutung der Meinungsfreiheit betont, ebenso wie die Notwendigkeit für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, durch die »Teilnahme« ökonomisch und sozial Benachteiligter (vgl. http:// www.itvs.org/about/). Trotz eines begrenzten Gesamtbudgets finanziert ITVS selbst unabhängige Produktionen. Das Sundance Film Festival 2004 zeigte beispielsweise sieben Produktionen, die durch ITVS gefördert wurden, sechs davon waren Dokumentarfilmproduktionen. Trotz zahlreicher vorhandener Finanzierungs-, Förderungs- sowie Distributions- und Aufft.ihrungsmöglichkeiten steht der politische Anspruch, der in besonderem Maße Dokumentarfilmen zugrunde liegt, in keinem Verhältnis zu deren Verbreitung. Aus diesem Grund, andere wie den fehlenden >Ereignischarakter< müsste man hinzufügen, haben es Dokumentarfilme tendenziell schwerer, sich im kollektiven Gedächtnis der Zuschauer festzusetzen, als etwa halbwegs erfolgreiche Hollywood-Blockbuster oder preisgekrönte art films. Michael Moore Eine Ausnahme in dieser Hinsicht ist zweifellos Michael Moore, der zuletzt international mit seinen Dokumentarfilmen BOWLING FüR COLUMBTNE (2002) und FAHRENHEIT 9/11 (2004) und zudem als Autor von Werken wie Stupid White Men als Kritik am Zustand der amerikanischen Gesellschaft und seit neuerem der Bush-Administration äußerst populär wurde und über die Vereinigten Staaten hinaus, vor allem auch in Europa, zu einem regelrechten >Kult-Star< avancieren konnte. Bereits vor BOWLING FüR COLUMBINE hatte Moore mit seinem Konzept der guerilla-Dokumentarfilme mit sicherem Gespür für die >richtige Mischung< aus Pathos, Kritik und (Selbst-)Ironie Erfolg gehabt. 1989 drehte er in seiner Heimatstadt Flint/Michigan ROGER & ME, in dem er dem Chef von General Motors vorwirft, 30.000 Arbeitsplätze vernichtet und eine ganze Stadt in eine Geisterstadt verwandelt zu haben. In THE BTG ÜNE (1997) klagt Moore den Nike-Chef Phi! Knight an, dass dessen Firma in Indonesien Kinder für Hungerlöhne arbeiten lässt. Alle genannten Filme sind sich stilistisch sehr ähnlich: Michael Moore ist als Aktivist stets vor der Kamera präsent und versucht, seine medienerfahrenen >Widersacher< durch spontane Aktionen zu überrumpeln, um sie so bloß zu stellen. Dafür bedient sich Moore eines freundlichen, aber unnachgiebigen Interviewstils, der den Befragten mit unbequemen Fragen und Datenmaterial konfrontiert. Darüber hinaus arbeitet Moore mit einer sehr auf Kontrastierung und Emotionalisierung zielenden Bildsprache, deren tragisch-ernsthafter Gehalt jedoch immer wieder ironisch konterkariert wird. Problematisch insbesondere bei FAHRENHEIT 9/11 ist auf der einen Seite sicherlich, dass es Moore bei seinen plakativen Darstellungen mit den Fakten nicht so gerrau nimmt (vgl. u.a. Busche, A. 2004: 58f.). Auf der anderen Seite ist die im Film vorgenommene provokative Gleichsetzung von Bin Laden resp. Saddam Hussein mit George W. Bush mindestens abwegig. Aufgrund seiner Popularität ist Moore zweifelsohne ein Hoffnungsträger für all diejenigen, die mit Medienarbeit eine Gegenöffentlichkeit herstellen wollen. Dennoch darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinsichtlich einer aufpolitisch emanzipatorische, gegenhegemoniale Film- und Medienarbeit, abseits der sprühenden

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Energie, die ein Michael Moore verbreitet, allgemein durchaus Ernüchterung über die medial induzierten Möglichkeiten soziapolitischer Veränderungen herrscht. Der jüngste Erfolg von Dokumentarfilmproduktionen wie BOWLING FüR COLUMBINE, FAHRENHEIT 9/11, SUPERSIZE ME (2004, R.: Morgan Spurlock) oder der DVD-Hit ÜUTFOXED: RUPERT MURDOCH'S WAR ON JOURNALTSM (2004, R.: Robert Greenwald) hat immerhin gezeigt, dass eine bestimmte Form dokumentarischen Erzählens ein beachtliches kommerzielles Potential hat, wovon kurzfristig ähnliche Filmprojekte profitieren dürften (vgl. Snyder, K. 2004: online). Wie nachhaltig diese Entwicklung ist, steht auf einem anderen Blatt. Zudem sind die Gründe für den Erfolg unterschiedlich und zeitspezifisch zu betrachten. ÜUTFOXED und FAHRENHEIT 9/11 thematisieren nicht nur die einseitige Informationspolitik der US-Medien in Zeiten des Kriegs gegen den Terror, sondern sie konnten auch davon profitieren. Bei SUPERSIZE ME handelt es sich prinzipiell eher um ein gewagtes und amüsantes Experiment, das nebenbei für all jene McDonald's-Konsumenten als Indikator zu eignen schien, die sich aus gesundheitlichen oder körperästhetischen Gründen um die eigene Fast Food-Sucht sorgen machen, während sich McDonald's- und Globalisierungskritiker ein weiteres Mal in ihrer Abneigung gegen den global operierenden Konzern und seine Produkte bestätigt sehen können. Des Weiteren dürfte SUPERSTZE ME von der allgemeinen Michael Moore-Euphorie profitieren, nicht zuletzt deshalb, weil Spurlock in seinem Film ansatzweise mit ähnlichen Gestaltungsmitteln und Produktionsstrategien operiert. Man denke nur an die Präsenz des Filmemachers vor der Kamera oder an den dominanten Einsatz von Komik. Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob SUPERSIZE ME überhaupt als Beispiel einer gegenhegemonialen Filmpraxis taugt - aus der Perspektive einer naiven Antiglobalisierungsbewegung möglicherweise schon. Die Frage ist aber, ob sich die Erfolge einer gegenkultureilen Dokumentarfilmpraxis, außerhalb von Fresssucht und Terror, auf andere soziokulturell und politisch relevanten Agenden ausweiten. Noch ist davon nicht viel zu sehen.

7.9.2 John Sayles Laut Jack Ryan (1998: 3) gehört John Sayles zu den bekanntesten amerikanischen Independent-Filmemachern. Bei seinen eigenen Independent-Filmen fungiert Sayles nicht nur als Regisseur, sondern auch als Drehbuchautor, Cutter und mitunter als Schauspieler. Regelrechte Kassenschlager waren seine Filme nicht. Immerhin gelang es Sayles, mit seiner Filmarbeit Gewinne zu erzielen und zudem von Seiten der Filmkritik gewürdigt zu werden. Sayles begann seine Karriere Anfang der 1970er zunächst als Schriftsteller. Seine Arbeit beim Film nahm wie bei vielen seiner New Hollywood-Kollegen ihren Anfang bei Roger Corman, für den er in der zweiten Hälfte der 1970er Drehbücher schrieb. Mit dem Geld, das Sayles bei Corman verdiente, konnte er seinen ersten Film THE RETURN OF THE SECAUSUS 7 (1980) finanzieren. Was Sayles nun in besonderer Weise den Status als Independent-Filmemacher verleiht, hat primär damit zu tun, dass er und seine Arbeit wie die kaum eines anderen sowohl eine Opposition gegenüber Hollywood als auch gegenüber der dominanten US-Politik repräsentiert (vgl. Neve, B. 2002: 132). Die einzig konstante Beziehung zu den Studios bestand darin, dass er

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Drehbücher für Hollywood schrieb oder als Script Doctor 16 (z.B. bei APOLLO 13 -1995, R.: Ron Howard oder MiMiC 1997, R.: Guillermo del Toro) gearbeitet hat, vor allem, um seine eigenen Filme zu finanzieren. Ansonsten hat Sayles in seinen Filmen aus den 1980er und 1990er Jahren, etwa in MATEWAN (1987) oder CiTY OF HOPE (1991), anders als in der Betonung des Mainstream-Films auf Action und Individualismus, vor allem Werte wie Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit hochgehalten, wobei seine Filme sich stets zwischen Kritik und sozialem Optimismus hin und her bewegen (ebd.: 132). Zudem nimmt Sayles nicht nur Fragen von sozialen Unterschieden ins politische Blickfeld, sondern auch damit verbundene Probleme von race und ethnicity. Tatsächlich variieren Sayles' Sujets von Film zu Film, »from the insecurity of the sixties generation to a lesbian coming-out story, from baseball's most famous corruption scandal to a children's tale to a film border culture« (Ryan, J. 1998: 4). Ein wichtiges Charakteristikum von Sayles' Filmen ist dabei nach Ryan, dass »individual will and consciousness« sich in Widerstreit mit »ideological forces« befindet wie z.B. in MATEWAN, CiTY OF HOPE oder in EiGHT MEN OUT (1988).

7.9.3 Harmony Korine Ein weiterer prominenter Filmemacher, dessen Filme nicht nur inhaltlich sondern auch formalästhetisch dem überall konstatierten Trend der Hollywoodisierung des Independent-Films offenkundig widersprechen, ist Harmony Korine. Über dessen Debütfilm GUMMO schreibt Robert Sklar: »By critical consensus, Gumma was the most reviled film ever associated with the post-1990 American independentfilm movement« (Sklar, R. 2001: 261). Ein Anlass für den beachtlichen Aufruhr, den der Film auslöste, war eine Szene, in der Jugendliche eine Katze umbringen und sie verstümmelt wie eine Trophäe der Kamera entgegenhalten. In JULlEN DONKEY-BOY (1999) ist es das Bild einer masturbierenden Nonne, die Korines Status als enfant terrible und Provokateur des US-amerikanischen Independent-Films illustriert. Doch sind es nicht allein die drastischen Szenen, die dem Film einen besonderen und nebenbei bemerkt prominenten Status verleihen. Vielmehr ist JULTEN DONKEY-BOY der erste US-amerikanische Spielfilm, der sich dem puristischen Regelwerk von Dogma 95 unterworfen hat, wenngleich JUUEN DONKEY-BOY ganz offensichtlich eine Reihe der filmischen Vorschriften ignoriert, wie die dänischen Vorbilder im Übrigen auch, wenn auch kaum so drastisch ( vgl. Sudmann, A. 2001). Eine Besonderheit von Korines Filmen ist die formalästhetische Nähe zu erzählerischen Formen des klassischen Experimentalfilms, bei gleichzeitiger Einbettung in die industrielle Vertriebsstruktur durch Firmen, die Disney oder Time Warner gehören (Sklar, R. 2001: 262). Nach Merritts Definition sind Korines Filme also >nur< semi-independent-Filme. Aber was bedeutet diese Vereinnahmung? Haben die Tochterfilmgesellschaften der großen Konzerne doch noch hinreichend Toleranz oder Spielraum, um sich einen Harmony Korine leisten zu können? Der Fall KIDS, an dem Harmony Korine als Drehbuchautor beteiligt war, lässt das Gegenteil vermuten. Wenn die industrielle Vereinnahmung ohnehin außer Frage steht, welche Optionen verbleiben dann einer kritischen Praxis? Hierzu schreibt Benjamin Halligan: 16 Allerdings handelt es sich dabei um so genannte uncredited rewrites.

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( ... ] Gummo details the destruction of Gummo. With mimesis, the film allows the perception that it has itself been ·destroyed< (and is seen to now exist without ethical consideration andin a motivationless void: the calmness of the aftermath) so as to contaminate all norms of filmmaking. Why is the impulse for this attempt at self-annihilation a necessity? Because all that is not annihilated is being assimilated into the Neo-Underground. Korine negates his film before •the bourgeois apparatus of production and publication' can do so, thus preserving in the face of late 1990s co-optation an innocence through the presentation of a devastated psychology, Gummo is Neo-Realist nuance, set in amber, and therefore distorted to those who peer into it. (Halligan, B. 2002: 160)

7.10 Zur Politik der Bilder Quentin Tarantinos Ein Kapitel, das aus einem eher makroperspektivischen Blickwinkel so etwas wie einen Überblick über die politischen und ideologischen Konfigurationen und Dimensionen des gegenwärtigen Independent-Films zu leisten versucht, kann kaum denjenigen Filmemacher ignorieren, der- spätestens mit und vor allem durch PULP FlCTlON- in den 1990er Jahren zu der Ikone des Independent-Films und Hollywoods gleichermaßen wurde: Quentirr Tarantino. Jenseits des weithin bekannten kommerziellen Erfolgs der TarantinoFilme an der Kinokasse und zahlreicher Festivalpreise, kann man die Ausmaße der Tarantinomania am ehesten an der unglaublichen Flut kultureller Texte über den Filmemacher im World Wide Web ablesen. (Körte, P. 2000: 7ff.). Allein die gigantische Anzahl dieser Seiten, viele davon mit aufWändigsten Mitteln und Features produziert, gibt Auskunft über den enormen Kultstatus Tarantinos und des Fantums, das er bzw. seine Filme auslösten. Dazu gehört natürlich insbesondere das Phänomen, dass zahlreiche Jungfilmemacher, die Tarantino Wannabees, seine Karriere und seine Filme zum Vorbild nahmen und imitierten, darunter z.B. Ti! Schweiger mit seinem Film DER EiSBÄR (D 1998). Für viele Fans, Filmemacher und Filmkritiker war Tarantino der auteur Hollywoods in den 1990er Jahren 17 und die personifizierte Verkörperung eines independent spirits schlechthin, auch dann noch, als Tarantino längst zum großen Star Hollywoods avanciert war. Natürlich haben sich sehr bald auch akademische bzw. filmwissenschaftliche (und publizistische) Studien dafür interessiert, nicht nur der immensen kulturellen Resonanz des Regisseurs und der Filme nachzuspüren oder dessen/deren ästhetische bzw. textuelle Besonderheiten und auteur-QuaIitäten herauszuarbeiten und historisch-soziokulturell zu kontextualisieren (vgl. u.a. Nitsche, L. 2002; Polan, D. 2000), sondern- häufig in Verbindung mit den genannten Perspektiven - die politischen Implikationen und Zusammenhänge mit soziokulturellen Diskursen zu beleuchten, die durch die Filme gleichsam aufgerufen werden (u.a. Botting, F./Wilson, S. 2001; Pribram, E.D. 2002; Willis, Sh. 1997, 2000). Die verschiedenen Diskurse über die >Tarantino politics< konzentrieren sich auf folgende Diskurse, die wiederum miteinander verschränkt sind: Einerseits auf die spezifische Art der Darstellung filmischer Gewalt in PULP 17 Wie u.a. Lutz Nitsche in seiner Studie .. Hitchcock - Greenaway - Tarantino. Paratextuelle Attraktionen des Autorenkinos" (2002) zu Recht betont, waren die 1990er die Jahre, in denen das amerikanische Kino seine höchste kommerzielle Entfaltung erfuhr (ebd. : vii).

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FICTION, NATURAL BORN KILLERS (Drehbuch), RESERVOIR DOGS (1992) oder KlLL BILL- VOL. 1 und KILL BILL- VOL. 2 (2003/04), die seitens der verschiedenen medialen Öffentlichkeiten breit diskutiert, gefeiert, aber auch kritisiert wurden. Ferner die politische Dimension jener Perspektive, die die Filme im Kontext postmoderner Diskursen diskutiert. Darunter fallen beispielsweise solche Lesarten, die ein zeitdiagnostisches Potenzial zu erkennen glauben, indem die Filme einfache Bedeutungsfixierungen und moralische Positionierungen vermeiden und stattdessen das pure >postmoderne Spiel< mit textuellen/kinematografischen Anspielungen und Zeichen betreiben. Schließlich als eine weitere Diskursebene, die Diskussion über die durch den Film evozierten Fragen hinsichtlich der Darstellung von race und Maskulinität. In erster Linie beziehen sich die genannten Diskurse auf PULP FICTION, der weithin als der wohl typischste Independent-Film der 1990er bezeichnet wurde (vgl. Pribram, E. D. 2002: 167). Was die komplizierte Auseinandersetzung speziell mit Gewaltdarstellungen in Spielfilmen betrifft, so gibt es unterschiedliche Argumentationsparameter bzw. Bewertungskriterien, die häufig, z.B. in Filmbesprechungen, zutiefst widersprüchlich entweder zur Legitimation der filmi schen Gewalt oder zur Problematisierung derselben herangezogen werden. Sehr oft wird dabei weder der Gewaltbegriff explizit ausgewiesen, diskutiert oder differenziert, noch wird ein erkennbarer Bezug zur umfangreichen Forschung bezüglich dieses Themas hergestellt. Zu den oft wiederkehrenden Bewertungskriterien bzw. -maßstäben der Gewaltdebatte gehört etwa die Frage danach, ob die Gewaltdarstellungen >realistisch< sind, was automatisch das komplizierte Problem aufwirft, wodurch die Gewaltdarstellung (oder der Film als Ganzes) überhaupt als realistisch klassifiziert werden kann. Des Weiteren findet man häufig als Beurteilungs- und Diskussionsebene, ob die Gewalt im Film >grundlos< auftaucht oder entsprechend durch den Handlungskontext hinreichend motiviert ist. Dies korrespondiert eng mit der Frage danach, ob die Gewaltdarstellung mit einem textuellen oder außertextuellen identifizierbaren (moralischen) Standpunkt oder einer Botschaft einhergeht, die die Gewaltdarstellung kontextualisieren und legitimieren. Eine andere ins Feld geführte Parameterebene zielt ferner auf die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Folgen von Gewalthandlungen. Grundsätzlich lassen sich diese dichotomen Bewet1ungskriterien (sichtbare/unsichtbare Gewaltfolgen, motivierte/unmotiviette Gewalt) nicht einer klaren normativen Position zuordnen, in dem Sinne, dass etwa sichtbare Gewaltfolgen stets positiv bewertet würden oder unmotivierte, >grundlose< Gewalt stets negativ. Letztlich sind mit den sehr unterschiedlichen Bewertungen von Gewaltdarstellungen immer auch implizit oder explizit Annahmen hinsichtlich der realen Wirkung von Gewaltdarstellungen verbunden. Gerade in dieser Hinsicht werden aber kaum Bezüge zu aktuellen Forschungsergebnissen hergestellt. Tatsächlich ist die Forschungslage aufgrund der enormen Anzahl empirischer Studien (man geht von ca. 5000 Studien aus) ausgesprochen unübersichtlich und die Ergebnisse der Studien lassen sich kaum zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen (vgl. Röser, J. 2000: 16), außer dass in der neueren Mediengewaltforschung der 1990er Jahre inzwischen ein kritisches Bewusstsein gegenüber monokausalen Modellen zur Erklärung und zum Verständnis von Mediengewalt durchaus vorherrscht (vgl. zur Übersicht u.a.: Kunczik, M. 1996; vgl. auch Röser, J. 2002: 34).

196 I

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

7.10.1 Zur Gewaltdebatte von

PULP FICTION

und

NATURAL

BORN KILLERS

Die Ambivalenz der Gewaltdebatte lässt sich auch am Beispiel der Filme PULP FICTION und NATURAL BORN KILLERS 18 nachvollziehen, die eine besonders umfangreiche Diskussion ausgelöst haben. U.a. hat sich E. Deidre Pribram mit der Debatte beschäftigt, allerdings beschränkt sich die Autorin darauf, anhand einiger Filmkritiken vage die unterschiedliche Rezeption und das Wirrwarr der unterschiedlichen Kriterien hinsichtlich der Bewertung der Darstellung von Gewalt in den genannten Filme zu illustrieren: Sie konstatiert aber zu Recht, dass PULP FICTTON in dieser Hinsicht tendenziell relativ gelassen rezipiert wurde, ganz im Gegensatz zu der Aufregung, die NATURAL BORN KILLERS auslöste (vgl. ebd.: 171). Pribram verteidigt NATURAL BORN KILLERS insofern, als dass Gewalt in vielen Hollywood-Actionfilmen, Horrorfilmen etc. vorherrschend sei »and the avenging of violent deed is made heroic« ( ebd. S. 172). Demgegenüber sei der Einsatz von Gewalt in NATURAL BORN KILLERS wesentlich selbstreflexiver, da der Film selbst Gewalt zum »Thema« mache und eine Welt zeige, in der alles undjeder brutal ist (ebd.). Es ist sicherlich zutreffend, dass NATURAL BORN KILLERS ganz offenkundig die Frage des Zusammenhangs von Gewalt und Medien kritisch in den Mittelpunkt rückt und insofern ein simplifizierender Vorwurf der unreflektierten Gewaltdarstellung unzureichend ist. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Filmen, der gleichzeitig vielleicht die paradoxe Unterschiedlichkeit der Reaktionen in der Filmkritik zu erklären vermag, scheint mir auch mit der unterschiedlichen narrativen Konstruktion der Filme (und Gewalthandlungen) zu tun zu haben. NATURAL BORN KILLERS lässt das Killerpaar Mickey und Mallory, die ästhetisch wie Popikonen stilisiert werden, als romantisches Paar überleben und ihre Verbrechen werden nicht gesühnt. Gleichzeitig sind alle anderen Institutionen (Polizei, Gefängnis, Medien) und die sie vertretenden Personen ebenso kriminell und korrupt wie die beiden Killer. Im Unterschied zum üblichen Mainstream-Film New Hollywoods, der regelmäßig durchaus die Korruption und den Missbrauch von Institutionen vorführt wie etwa in ENEMY OF THE STATE (1998, R.: Tony Scott), bei dem jedoch immer wieder ein Individuum, häufig der Protagonist, noch das Gute bzw. Moralische verkörpe11 und die Welt wieder in Ordnung rückt, fehlt eine solche Instanz in NATURAL BORN KILLERS völlig. Diese Quasi-Gleichsetzung zwischen dem Mörderpaar Mickey und Mallory, das für seine Taten nicht bestraft wird, und der Gesellschaft, die kaum positiver dargestellt wird, hatte mitunter wohl auch ihren Beitrag dazu geleistet, warum der Film im Unterschied zu PULP FICTION so aufgeregt rezipiert wurde. 19 Die schiere Anzahl der Gewaltakte (immerhin ca. 50 Tote), ihre drastische und exzessive Ausprägung, eingerahmt in eine Clipästhetik, ist sicherlich ein Faktor, der offenkundig eine kritische Rezeption des Films in der internationalen Öffentlichkeit begünstigt hat, zumal die 18 Diese beiden Filme wurden seitens der Diskurse zur Gewaltthematik in der Filmkritik häufig nebeneinander diskutiert, obgleich bei NATURAL BORN KILLERS nicht Tarantino, sondern Oliver Stone Regie führte. Tarantino hat sich im Übrigen von Stones Umsetzung seines Drehbuchs distanziert, während er sich mit der Umsetzung seines Drehbuchs TRUE ROMANCE (1993) durch Tony Scott durchaus identifizieren konnte. 19 So forderte der bayerische Innenminister Beckstein 1994 ein Verbot des Films.

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Gewalttätigkeit des Mörderpaares nicht im Sinne eines psychologischen Realismus' erklärt wird, trotz der wiederholten filmischen Hinweise auf die >schwere Kindheitbloße Spiegelung< (oder Zuspitzung) von Gewalt und Mediengewalt zu verstehende Ansatz ging einigen Kritikern offensichtlich nicht weit genug oder wiederum zu weit. Vor allem wurde die Obszönität des Gewalttätigen als eine Form der Gesellschaftskritik aufgeregt kommentiert. Man hatte vermutlich von einem politischen Filmemacher wie Stone im Unterschied zu Tarantino eine stärker analytische Herangehensweise erwartet. Hinzu kommt, dass im Fall von Tarantino andere Diskurse über den Tarantino-Hype und neuen Kultregisseur den Gewalt-Diskurs überlagert haben. Wenngleich die Aufregung bei NATURAL BORN KILLERS im Vergleich zu PULP FTCTTON größer war, wurde die Gewaltfrage natürlich auch bei Tarantinos eigenen Filmen ausführlich diskutiert. Tarantino hat die Gewaltdiskussion um seine Filme auch durch eine Reihe laxer Aussagen forciert, wie etwa die, dass Gewalt für ihn in erster Linie eine ästhetische Angelegenheit sei oder er sie nicht besonders ernst nehme (vgl. Körte, P. 2000: 49). Und selbstverständlich enthalten sowohl PULP FICTION als auch RESERVOIR DOGS einige Szenen, die sich im besonderen Maße für eine Diskussion über die Gewalt empfehlen. Da wäre die berüchtigte Szene in RESERVOIR DOGS, wenn der Gangster Mr. Blonde einem gefesselten Polizisten mitteilt, dass er ihn aus Gründen des persönlichen Amüsements zu Tode zu foltern beabsichtigt und im Rhythmus von Stuck In the Middle with You vor ihm herumtanzt und schließlich ein Ohr abschneidet, was jedoch nur im Kamera-Off passiert. Des Weiteren die The Gold Watch-Sequenz in PULP FTCTION, in der Butch seinen Chef Marsellus aus der Hand zweier >hillbilliesBonnie-Situation< natürlich deutlich humoristisch bzw. komödiantisch konnotiert, insofern die Killer angesichts des Reinigungsproblems ihre Coolness zu verlieren drohen, und erst Mr. Brown, als die Verkörperung von Coolness (und Autorität) schlechthin, die Situation rettet.

7.10.2 Die soziale Verankerung des Tarantino-Stils Die Etablierung von Coolness in Tarantinos Filmen wird formalästhetisch bzw. stilistisch aufWändig betrieben. Die enge semantische Verknüpfung von grotesker, exzessiver Gewalt und Coolness der handelnden Figuren und deren Sprache ist ein textuell-stilistisches Element, das fiir die diskursive Konstruktion von Tarantino als auteur eine große Rolle spielt. Jedoch, wie u.a. Sharon Willis konstatiert, verdeckt die Betonung von Stil häufig »the social and cultural situation that underwrites it« (Willis, Sh. 2000: 280). In ihrem psychoanalytisch-orientierten Aufsatz >»Styleschwarzen< Frau, was nach Willis eine parodistische Referenz zur Figur der >black mammyZU dekonstruierenSchockwerte< und das ostentative Hinwegsetzen über nicht-diskriminierende

23 Die natürlich auch sozial konstruiert sind.

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DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

Sprach-/Repräsentationspraktiken24 von gesellschaftlichen Minoritäten, um die sich vor allem der Mainstream Hollywoods in aller Regel- wie eingangs skizziert wurde - zum Teil und nur vordergründig bemüht, einen Akt der Grenzüberschreitung markiert, dessen Vergnügen kaum als provokativ oder subversiv zu verstehen ist. Vielmehr deutet die immense Popularität von PULP FICTION daraufhin, dass ein nicht unerheblicher Teil des Publikums für diese Art des Vergnügens offenkundig äußerst empfänglich war und ist. Die humoresk konnotierte Herabsetzung von Minoritäten ist wohl eher etwas, das zum ständigen und weit verbreiteten Repertoire des Alltags gerade auch des Publikums gehört, das Tarantinos Filme vor allem ansprechen: junge weiße heterosexuelle Männer, deren (potenziell vorhandenen) infantil-regressiven und pseudoprovokativen Bedürfnisse damit befriedigt bzw. >gespiegelt< werden. Dies heißt nicht unbedingt, dass Tarantino letztlich manifestem oder latentem Rassismus von Teilen seines Publikums entgegenarbeitet, vielmehr gestattet er auch solche Subjektpositionen unter seinen Zuschauern, die sich wie Tarantino selbst aus der komfortablen Position als >Insider< als Outsider imaginieren. Insgesamt fällt es sehr schwer, mit Blick auf die große Anzahl von Filmen, die in irgendeiner Weise als Indies bezeichnet werden (können) und die grundsätzlich gegebene kulturelle Vielfalt und unterschiedlichen Arten von Independent-Filmen, so etwas wie eine Zeitdiagnose der Politik und Ideologie des Independent-Films in den 1990em zu leisten. Es ist schon schwierig genug, überhaupt thematische oder ästhetische Trends innerhalb eines solchen Zeitraums ausfindig zu machen. Versuche in dieser Richtung, selbst von denen, die als Filmkritiker unzählige amerikanische Independent-Filme gesehen haben, sind recht vage und ebnen eher relevante kulturelle Unterschiede in den Filmen ein. So schreibt etwa Emanuel Levy: Charged with sex and violence, the imagery of 1990s indies is urban and multi· racial rather than rural and white. The new films flaunt a hip, comically absurd sensibility by brutality and nihilism. in the past, indie movies were noted for their candid portrayal of sex, promising the public more than they could find in main· stream fare. But in the 1990s, a wave of neoviolent movies (Reservoir Dogs, Bad Lieutenant) replaced sex with violence, providing audience with the same kind of cathartic release. in the gay milieu, sex and violence cohabited (Poison, The Living End, Swoon), and, for a short time, women directors (Guncracy, My New Gun, Mi Vida Loca) also incorporated violence, albeit in different ways. (Levy, E. 1999: 507)

Die Liste der Independent-Filme der 1990er, in denen die Darstellung physischer Gewalt vor allem als Schauwert, als production value im Mittelpunkt steht, ist zweifelsohne lang und häufig genug ist die filmische Darstellung von Gewalt gepaart mit einer besonders düsteren und nihilistisch anmutenden Weitsicht, die kein Happy End zulässt. Eine Differenzierung und Diskussion 24 Von Seiten der Konservativen in den USA wurden die soziokulturellen Bemühungen und Reformvorhaben um eine nicht-diskrimierende Sprach- und Repräsentationspraxis vor allem ab den 1990ern mit der Bezeichnung Political Correctness (PC) negativ dargestellt und diskreditiert. Ariane Manske zeigt in ihrer Dissertationschrift Political Correctness und Normalität (2002), dass es bei der PC-Diskussion in den USA um einen conservative backlash handelte, dessen Ziel darin bestand, diese gesellschaftlichen Reformvorhaben zu verhindern, um so ihre hegemoniale gesellschaftliche Position zu sichern (11 ).

MAKROPERSPEKTIVE: POLITIK UND IDEOLOGIE

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des Gewaltbegriffs findet bei Levy jedoch nicht statt. Auch die explizite Thematisierung von Sexualität in Independent-Filmen, außerhalb minoritärer Filmpraktiken oder -Strömungen wie etwa des (New) Queer Cinema, findet vielleicht tatsächlich seltener statt als noch in den 1980ern. Aber wurde deswegen Sex schon durch Gewalt verdrängt? In Independent-Filmen und semiindependent-Filmen wie HAPPfNESS, WELCOME To THE DOLLHOUSE, SECRETARY (2002, R.: Steven Shainberg) oder THTRTEEN (USA/GB 2003, R.: Catherine Hardwicke) spielt Sexualität zumindest nach wie vor eine prominente Rolle. Im Gegenteil scheint es mit Blick auf aktuelle Indie-Produktionen wie THE BROWN BUNNY (2003, R.: Vincent Gallo), THE DIRTY SHAME (2004, R.: John Waters) oder KTNSEY (2004, R.: Bill Condon) eher so, als ob die Fokussierung auf Sexualität im Sinne eines Produktionstrends wieder an Bedeutung gewinnt. Eine andere Frage ist, ob die genannten oder zukünftige Filme eine explizitere Darstellung von Sexualität wagen und auf diese Weise auch die Grenzen des Darstellbaren in diesem Bereich zu verschieben imstande sind. In jedem Fall passt die Diagnose einer Prominenz von Gewalt und Abwesenheit von expliziter Sexualität im Independent-Film natürlich sehr gut zu der These von der Mainstreamisierung des Independent-Films. Des Weiteren schreibt Levy: »Indies trends in the late 1990s run in the direction of selfconscious irony, deep cynism, and moral nihilism. Explorations of troubling material - the dark side of human nature - are motivated to shock viewers. This trend prevails in all the arts, but it's in filmthat it is most noticeable and most celebrated, threatening to take over the intellectual soul ofthe medium« (ebd.: 508). Von den fünf berücksichtigten Fallstudien, trifft Levys Beschreibung »self-conscious irony, deep cynism and moral nihilism« allerdings nur auf HAPPINESS zu. Sicherlich gibt es eine Reihe von Filmen, die Levys Bewertung entsprechen, allerdings wäre zu prüfen, ob diese Einschätzung tatsächlich eine signifikant neue Tendenz ausmacht. Nach Richard Maltby beschäftigt sich das Hollywood-Kino mit sozialen Belangen und Problemen der US-amerikanischen Gesellschaft zumeist lediglich indirekt - Fragen von Klasse, Geschlecht, Nationalität und Sexualität sind eher >Bestandteil< der Charaktere und Handlungen, als dass sie dezidiert als Themen im Mittelpunkt stehen (vgl. Maltby, R. 2003: 306). In vielen Independent-Filmen dagegen ist die Sichtbarkeit von Kategorien wie sexuelle Orientierung, race oder >Ethnizität< deutlich ausgeprägter. Allerdings werden diese sozialen Kategorien nur sehr selten in einer Form dargestellt, die das soziale Zusammenspiel dieser Kategorien und die damit verbundenen Konflikte und Probleme tatsächlich in den Vordergrund rücken. Die problematischen Seiten spätkapitalistischer Gesellschaften sind allzu häufig nur Hintergrundfolie für die individuellen Konflikte der Figuren. Das ist im gegenwärtigen Independent- oder semi-independent-Film nur unwesentlich anders als im Hollywood-Studiofilm. Maltby macht auch deutlich, dass Hollywood aus einer langen Tradition heraus nach wie vor ausgeprägte politische Kontroversen vermeidet, auch wenn insbesondere seit den 1960er Jahren, solche Filme, die sich mit »sozialen Problemen« beschäftigen, zugenommen haben. Darüber hinaus tendiere Hollywood seit dem Zweiten Weltkrieg »to subscribe to >conscience-liberalism,< a broad commitment to racial and social equality unattached to any specific political program. This is not to suggest that Hollywood movies were liberal or free from racism, but

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DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

rather to argue that when Hollywood movies overtly asserted a political position they declared to be political, that position belonged to the liberal center« (Maltby, R. 2003: 306). Der gegenwärtige Independent-Film riskiert in politischer Hinsicht zuweilen mehr und verlässt auch mal eher die liberale Agenda zugunsten einer dezidiert kritischen oder alternativen Position gegenüber dem Status Quo als der Mainstream-Film. Independent-Filme, die aber beispielsweise die strukturelle Gewalt und die Bedingungen sozialer und kapitalistischer Verhältnisse analysieren, soziale Ungleichheit hinsichtlich ihrer Ursachen beleuchten, Arbeitslosigkeit oder Armut kritisch erforschen oder Szenarien gesellschaftlicher Utopien entwerfen usf. gibt es nur sehr selten. Es wird noch diskutiert werden, inwieweit die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Fallstudien hier eine Ausnahme markieren.

8

MIKROPERSPEKTIVE: IDEOLOGIEKRITISCHE DISKURSANALYSE EXEMPLARISCHER INDEPENDENT- Fl LME

8.1 Heartland of Darkness - Fernale Masculinity, White Trash und die Strategien der Repräsentation in Bovs DoN'T CRY (USA 1999, R.: Kimberly Peirce) Within postmodern Gothic we no Ionger attempt to identify the monster and fix the terms of his/her deformity, rather postmodern Gothic warns us to be suspicious of monster hunters, monster makers, and above all discourses invested in purity and innocence. The monster always represents the disruption of categories, the destruction of boundaries, and the presence of impurities and so we need monsters and we need to recognize and celebrate our own monstrosities. (Halberstam, J. 1995: 27)

8.1.1 Handlung und Charaktere Die Handlung von Boys Don't Cry (1999, R.: Kimberly Peirce) beruht auf einem >realen< Fall: Brandon Teena, Philip DeVine und Lisa Lambert wurden am 1. Januar 1994 in Lamberts Haus nahe der amerikanischen Kleinstadt Falls City, Nebraska von John Lotter und Marvin Thomas (Tom) Nissen erschossen. Brandon Teena hatte sich im Herbst 1992 mit John und Tom angefreundet und zunächst ein Verhältnis mit Lisa Lambert begonnen, später mit Lotters ehemaliger Freundin Lana Tisdel. Philip DeVine ging mit Lanas Schwester Leslie aus. Am Weihnachtsmorgen wurde Brandon von Lotter und Nissen mehrfach vergewaltigt und zusammengeschlagen, nachdem sie herausgefunden hatten, dass Brandon kein >biologischer Mann< war, sondern Teena Brandon, ein 21-Jähriger (noch) nicht operierter female to ma/eTranssexueller1. John und Tom wurden auf Brandons Anzeige hin nicht festgenommen und nahmen sich vor, eine mögliche Aussage Brandons vor Gericht zu verhindern. Lotter und Nissen fuhren zu Lamberts Haus, erstachen und erschossen Brandon und die ledige Mutter Lisa Lambert in deren Bett und den gehbehinderten Afroamerikaner Philip DeVine im Wohnzimmer, in nach wie vor ungeklärter Reihenfolge. Der Afroamerikaner Philip DeVine und dessen Freundin, Lanas Schwester Leslie, werden in Peirce' Film ignoriert. Lisa Lambert verschmilzt mit

Diese Zuordnung der geschlechtlichen Identität des historischen Brandon dominiert den wissenschaftlichen Diskurs (vgl. u.a. Halberstam, J. 2001; Brody, J. D. 2002).

206 I

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG?

einer anderen Freundin Brandans zu der Figur Candace und in den Filmcharakter Kate lässt Peirce Züge von John Lotters Schwester Michelle einfließen. Peirce vernachlässigt die Vorgeschichte Brandans weitgehend und konzentriert sich auf die Liebesgeschichte zwischen Lana und Brandon. Brandon lernt Candace, John und Tom kennen und fährt mit ihnen nach Falls City Er beschließt, bei Candace zu wohnen. Später trifft er Lana, die in (Seq. einer Bar Karaoke singt und verliebt sich in sie (Seq. 3). Lana, die zuvor mit John liiert war, scheint zuerst nicht an Brandon interessiert, ist dann aber zunehmend von seiner Aufmerksamkeit und seinem Verständnis beeindruckt. Sie werden ein Paar (Seq. 7). Als Brandon wegen eines Autodiebstahls ins Gefängnis muss, findet Candace in seiner Abwesenheit in ihrem Haus Hinweise darauf, dass Brandon >tatsächlich eine Frau< ist und erzählt es Lana. Als Lana Brandon im Gefängnis besucht und sieht, dass er in der Frauenabteilung untergebracht ist, erzählt er ihr eine verwirrende Geschichte über seine bevorstehende Geschlechtsoperation (Seq. 10). Im betrunkenen Zustand verrät Candace Brandans Geheimnis auch an Tom und John. Als Brandon und Lana, aus dem Gefängnis wieder nach Hause zurückgekehrt sind, stellen John und Tom Brandon zur Rede (Seq. 11). Anschließend fahren sie mit ihm zu einem abgelegenen Ort, vergewaltigen ihn dort mehrfach und drohen ihm Konsequenzen an, falls er sie verraten sollte (Seq. 12). Brandon erzählt Lana und ihrer Mutter von der Vergewaltigung. Lanas Mutter überredet ihn, die beiden anzuzeigen. Der Sheriff, bei dem Brandon Anzeige erstattet, ist feindselig und mehr an Brandans >sexueller Identitätskrise< interessiert als an dem Verbrechen, das Peirce hier als Rückblenden erstmals und in drastischen Bildern zeigt. John und Tom werden nicht verhaftet. Brandon überredet Lana, mit ihm aus Falls City zu verschwinden (Seq. 13). Als er sie aber abholen will, äußert sie Zweifel an dem Vorhaben. Brandon beschließt, Falls City nicht zu verlassen und wieder bei Candace einzuziehen. John und Tom suchen Lana auf und zwingen sie, mit ihnen zu Candace zu fahren. Dort bringen sie vor Lanas Augen Candace und Brandon um (Seq. 14). Erneut weicht Peirce hier vom tatsächlichen Handlungsablauf ab; vor Gericht wurde bewiesen, dass Lana bei den Morden nicht anwesend war. Lana verlässt Falls City in einer Spiegelung der Eingangsszene (Seq. 15), in der Brandon mit einem Auto durch die Nacht fährt (Seq. 1). Wie in der nachfolgenden Analyse gezeigt werden wird, kann die Handlung von BOYS DON'T CRY nur bedingt als Rekonstruktion der >tatsächlichen Ereignisse< angesehen werden, abgesehen von der allgemeinen Problematik, reale Ereignisse >authentisch< im Rahmen einer fiktionalen Filmerzählung wiederzugeben. Erklärtes Ziel von Kimberly Peirce, Regisseurirr des Films BOYS DoN'T CRY, war es, Brandon dem Publikum nahe zu bringen. Während ein Großteil der amerikanischen Medien Brandon Teena als Betrüger und Verführer unschuldiger junger Mädchen in einer wohlgeordneten Kleinstadt im Herzen Amerikas (vgl. u.a. Cooper, B. 2002: 49), als Vergewaltiger einer quasi natürlichen geschlechtlichen und gesellschaftlichen Ordnung, darstellte, wollte Peirce bei ihrem Debütspielfilm Sympathien und Nachvollziehbarkeit, die Identifikation der Zuschauer mit Brandon erreichen. Peirce: »All you can

2l

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Die Sequenzprotokolle zu den Filmanalysen sind im Anhang beigefügt.

MIKROPERSPEKTIVE: EXEMPLARISCHE FILME

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do is make the character accessible and push the story forward. In any case, I'd say it's all emotionally true. I interviewed Lana, I interviewed her mom, I interviewed the cops, I read the trial transcripts. I spent years creating chronologies from the day Brandon was born, event by event, and then from the rape, hour by hour« (Peirce, K. zit. n. Leigh, D. 2000: 112).

8.1.2 Analyseperspektiven In Filmkritiken3 wird u.a. die subversive und im positiven Sinn verstörende Qualität von BOYS DoN'T CRY betont, die laut Brenda Cooper (2002) darin bestehe, die Heteronormativität4 traditioneller Filmerzählungen herauszufordern, indem weibliche Maskulinität privilegiert und ihre Differenz zu heterosexuellen Notmen gefeiert wird. Demgegenüber wirft Judith Halberstam (2001) Peirce vor, einen bereits erfolgreich etablierten »transgender gaze« vorzeitig zugunsten einer romantisierenden Liebesgeschichte aufzugeben. Halberstam definiert in Fernale Masculinity (1998) diejenigen Personen als transgender, deren geschlechtliche Identität weder männlich noch weiblich zuzuordnen ist, dazu gehören ihrer Auffassung gemäß auch noch nicht oder nur teilweise operierte Transsexuelle5 . Der transgender gaze in BOYS DoN'T 3 4

Vgl. z. B. Kenneth Turran (1999:online), Janet Maslin (1999:online) o. Cynthia Fuchs (1999b: online). Heteronormativität bezeichnet das binäre Geschlechtersystem, demzufolge nur zwei Geschlechter existieren, die jeweils mit ihrer sexuellen Orientierung, Rollenverhalten und Identität korrespondieren. Dementsprechend gilt es als selbstverständlich, dass Personen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen Frauen sind, die Partnerschaften mit Männern eingehen und Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen Männer sind, die Partnerschaften mit Frauen eingehen. Im heteronormativen Raum existieren beispielsweise Homosexuelle, transgender-Persönlichkeiten oder Intersexuelle nur als deviante Kategorien. »Pathologisierend begannen die Sexualwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff Homosexualität einer Normalsexualität gegenüberzustellen. Somit wurden Heterosexualität und Homosexualität als Zuschreibungen für zwei unterschiedliche und voneinander unabhängige Kategorien sexueller Akteurlnnen geprägt und ganz klar festgeschrieben, wer für Norm und wer für Abweichung steht, gestützt auf die Fiktion, dass das Normale das Natürliche darstellt. Diese Bennennung, von einer heterosexuellen Position ausgehend, konstituierte damit, nach Michel Foucault, die soziale Kategorie, die Ärzte, Psychiater, Wissenschafter, Priester und ähnliche Experten zur gesellschaftlichen Disziplinierung, Regulierung und Überwachung benötigen. Wir sprechen also von einer politischen Kategorie" (Knall, U./Fleischmann, A. 2003, online). Knall und Fleischmann schreiben weiter, dass sich die heterosexuelle Norm in alltäglichen, ganz subtilen Praktiken fortsschreibt und die Zwangsnormierung nur ein Teil der umfassenden heterosexuellen Matrix ist (ebd. ). Nach Butler bezeichnet der Begriff heterosexuelle Matrix »that grid of cultural intelligibility through which bodies, genders, and desires are naturalized [ ... ]. [Es geht darum] to characterize a hegemonic discursive/epistemic model of gender intelligibility that assumes that for bodies to cohere and make sense there must be stable sex expressed thorugh a stable gender (masculine expresses male, feminine expresses female) that is oppositionally and hierarchically defined through the compulsory practice of heterosexuality." (Butler, J. 1999: 194 (6)).

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Chris Straayer verweist auf die häufig essentialisierenden Geschlechterbilder Transsexueller und argumentiert, dass »[a] number of feminist theorists oppose the transsexual's choice of surgery as a •Solution• because it supports rather than challenges society's sex-role stereotypes. [ ... ] Arguing that transsexual's conservative attitudes about gender contribute to the problem,

208 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? CRY enthüllt ihr zufolge den ideologischen Gehalt männlicher und weiblicher Blicke und suspendiert zeitweise die aufoktroyierte Heterosexualität des romantischen Genres (Halberstam. J. 2001: 294). Der von Laura Mu1vey (1975) ausschließlich dem männlichen Protagonisten, Rezipienten und der männlich kodierten Aufnahmeapparatur zugeschriebene gaze (Blick) wird hier dem transgender-Subjekt erlaubt. Entlang der im wissenschaftlichen Diskurs, im Gegensatz zu der in den Filmkritiken nahezu ausschließlich positiven Rezeption, durchaus kontrovers geführten Debatte um Peirce' Film sollen die Darstellung und Interdependenzen von sex/gender, race, class sowie sexual orientation und white trash/ whiteness analysiert werden. Ich möchte außerdem die ästhetischen und semantischen Bezüge von BOYS DON'T CRY zu den textuellen Praktiken des Gothic Horror einerseits und den white trash-Monstern der slasher-Filme andererseits und ihre diskursiven Implikationen sowie die daraus resultierende Suspendierung der weißen, heterosexuellen Mittelklasse aus der Verantwortung für Rassismus, Homo- und transgender-Phobie aufzeigen. Dieses analytische Programm beinhaltet folgende Ebenen, die in ihrer (wechselseitigen) Beziehung zueinander untersucht werden : Die Ebene des >tatsächlichen FallsAmerica's heartlandnatürlicher< als die von John (Peter Saarsgard) und Tom (Brendan Sexton III) zur Schau gestellte gewalttätige, ausfallende Männlichkeit (vgl. ebd.: 54). Wenn Hilary Swank als Brandon sich im Film die Brüste abbindet, einen Dildo oder zusammengerollte Strümpfe als Penis-Imitation in die Hose steckt, bezeichnet Cooper dies zutreffend als die Selbst-Identifikation Brandans als Mann unterstützend (vgl. ebd.: 55). Diese Handlungen erscheinen ritualisiert, alltäglich, ästhetisch ansprechend, weniger verkleidend als sich bekleidend oder vervollständigend, niemals grotesk wie in den üblichen Hollywood-Verwechslungskomödien a Ia TOOTSTE (1982, R.: Sydney Pollack) oder MRS. DOUBTFTRE (1993, R.: Chris Columbus). Deren Höhepunkt und Ziel ist immer die Aufdeckung der >wahren< Identität des Protagonisten und in der Folge die Zusammenführung des heterosexuellen Paares. Die Verkleidung des cross dressers ist hier oft unzureichend, für den Zuschauer ist er/sie immer noch leicht als Mann/Frau identifizierbar. Und immer wieder unterlaufen ihm/ihr Fehler, fallt er/sie aus dem angenommenen Rollenmodell heraus, um das Publikum an das >tatsächlichedegenerierten white trash< den erfundenen Hintergrund des trailer trash boy Brandon entgegen, mit einem Vater in der Ölindustrie und einer Schwester, die als Model in Hollywood lebt. Annalee Newitz bemerkt in diesem Kontext, dass [t]o understand how racist discourses of the primitive work to produce a racialized whiteness, we need to look for signs of the savage in whiteness. When middleclass whites encounter lower-class whites, we find that often their class differences are represented as the difference between civilized folks and primitive ones. Lower-class whites get racialized, and demeaned, because they fit into the primitive/civilized binary as primitives. (Newitz, A. 1997: 134) Hierbei handelt es sich nicht um den von Richard Dyer zu Recht kritisierten »me-too-ism« einerneuen selbsternannten Opfer-Kaste, hauptsächlich bestehend aus heterosexuellen weißen Männern, die als Reaktion auf Feminismus, Homosexuellen- und Schwarzenaktivitismus ihre Unterdrückung beklagen. Angesichts der white male paranoia einer ungebrochen privilegierten Klasse konstatiert Dyer zutreffend: »The point of looking at whiteness is to dislodge it from its centrality and authority, not to reinstate it (and much less, to make a show of reinstating it, when, like male power, it doesn ' t actually need reinstating)« (Dyer, R. 1997: 10). Vielmehr muss eine Praxis der Diskriminierung der Armen, der Arbeitslosen, der in low wage Jobs arbeitenden Bevölkerung als Produkt kapitalistischer Politik kritisiert werden. BOYS DoN'T CRY mag am Bild des romantischen Mittelwestens kratzen, fordert aber gerade nicht dessen >durchschnittliche< Bewohner heraus, überträgt die Verantwortung nicht den >anständigen< Bürgern, sondern installiert mit der Darstellung von John und Tom zwei Outlaws im Heartland, dem Mittelwesten Amerikas, das als Heartland of Darknesi3 demaskiert wird, von denen sich jeder >normale< Bürger ohne Schwierigkeiten distanzieren kann - sie sind anders?4 Entsprechend bezeichnet auch Bronfen Homo23 ln Anlehnung an die von Joseph Conrad in seiner Novelle Heart of Darkness (erstmals publiziert 1899) auch durch den Ort der Handlung evozierte Stim-

mung von Hilf- und Ausweglosigkeit, Finsternis und Entmenschlichung. 24 Solange sich Lotter und Nissen außerhalb Falls City aufhalten, scheinen sie noch »the guy[s] everybody wants to hang out with at the bar or the pool hall" (Cavagna, E. 1999: online) zu repräsentieren. ln dem Moment allerdings, in

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phobie (sie!) in ihrem an die Analyse v on BOYS D ON'T CRY angehängten Kommentar zum Dokumentarfilm THE BRANDON T EENA STORY als typisch für den Mittleren W esten (Bronfen, E. 2003: 36) und scheint somit geradezu den Rest der >zivilisierten Welt< von dem Vorwurf auszuschließen. 25 Peirce perpetuiert die Tradition der »stories about w hite trash [that] have [ ... ] participated in a scapegoating function - displacing the ills of society onto white trash« (Sandell, J.1 997: 226)? 6 L aut M ichael Zweig m acht di ese erfolgreiche konservativ e Rhetorik die Armen für die meisten Probleme der Vereinigten Staaten v erantwortlich: They drain our pockets through welfare [ ... ]. They corrupt the nation's morals by having children out of wedlock, refusing to work, and otherwise setting a bad example. The drumbeat slogan »end welfare as we know it« summed up a twentyfive-year-long attack on the poor finally culminating in the 1996 »Welfare reform "

dem sie ihre Heimatstadt betreten, erscheint ihr Verhalten zunehmend von den typischen, von Clover so treffend beschriebenen, white trash-Klischees geprägt zu sein. Auch Brandans Cousin Lonny weist Brandon auf die Gefahr des Ortes hin. (Lonny: »ln Falls City? Da knüpfen die Schwule sofort auf. Ist dir das klar ?«) Obgleich die Bedrohung für Homo- und Transsexuelle in der weitaus größeren Stadt Lincoln (232.000 Einwohner) ebenso offensichtlich wird , als die beiden Brüder einer ehemaligen Freundin Brandans ihn bis zu Lonnys Haus verfolgen. Bruder 1: »Du gehst nirgendwohin, Dr ecksau. Bleib stehen, du Dreckskerl. Komm her, du Arsch. Verdammte Lesbe. Du Freak." Bruder 2: »Du hast meine Schwester gevögelt. Mach verdammt nochmal die Tür auf." Bruder 1: »Schwuchtet. .. Bruder 2: »Mach die Tür auf, du Arsch ... [ ... ] Brandon: ,.Qh, das sind ihre Brüder. Scheiße. •• [ ... ] Lonny: »Was hast du angestellt?•• Bruder 1: ,.Deinen schwulen Cousin knöpfe ich mir auch ... •• Lonny: ,.was soll das? Was ist eigentlich mit dir los?·· Brandon: »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wieso die sich so anstellen. •• Lonny: »Du bist kein Kerl, deshalb machen die so'n Aufstand. Du bist kein Junge.•• Brandon: »Erzähl das denen, bisher haben die gedacht, ich wär der schärfste Freund, den sie je hatten. •• 25 Im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf nutzte die Bush-Administration gezielt Vorurteile gegenüber Homosexuellen, um Stimmen zu sammeln. Bereits zu Anfang des Jahres 2004 versuchte George W. Bush ein allgemeines Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen durchzusetzen, scheiterte damit allerdings, wie auch für ihn abzusehen war, im Kongress. Diese Maßnahme diente allein dazu, sich von seinem liberaleren Rivalen John F. Kerry abzugrenzen. Die Kampagne erreichte ihren Höhepunkt, als bei der Wahl am 2. November 2004 in 11 Staaten (nicht nur im Mittleren Westen) gleichzeitig über die Kandidaten und ein von konservativen, christlichen und rechten Gruppen initiiertes Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen abgestimmt werden konnte. Das Verbot erhielt in allen 11 Staaten, darunter im wahlentscheidenden Ohio, eine Mehrheit. Auch in Deutschland wurde die Debatte um die schwullesbische Ehe kontrovers geführt. Mindestens die CSU erwog eine Unterschriftenkampagne ähnlich der gegen die Doppelte Staatsbürgerschaft zu initiieren, beschränkte sich dann allerdings 2001 auf eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die von Bayern, Sachsen und Thüringen eingereicht wurde. Jenseits aller sinnvollen Debatten um die Funktion der gleichgeschlechtlichen Ehe ziehen sich Vorurteile gegenüber Homosexuelle durch alle Gesellschaftsschichten, von rechts bis links, von unten nach oben. 26 Peirce stattet die Häuser ihrer Protagonisten allerdings nie mit den stereotypen white-trash-Devotionalen aus, wie sie beispielsweise in den Filmen John Waters zu bewundern sind, z.B. dem sprichwörtlichen Pink Flamingo. Auch Lanas Vorliebe für Kühe in allen Formen wird nur kurz thematisiert.

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legislation passed by a Republican Congress and endorsed by President Clinton. 27 (Zweig, M. 2000: 78)

Lotter und Nissen bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Autodiebstählen, und die in einer Spinatfabrik arbeitende Lana (»Um Spinat abzuwiegen muss man j a nicht nüchtern sein. «) träumt mit Brandon von einem Leben »irgendwo anders«, das so unerreichbar scheint wie ein ferner Planet (Lana: »Wir haben doch uns. Wir beamen uns einfach irgendwo hin. «). Das Paradies für Brandon und später auch Lana liegt in »Memphis, Graceland, Tennessee«, dem heiligen Ort eines der wichtigsten Bestandteile der von Jim Goad28 so bezeichneten »Holy Trinity ofWhite Trash Religion«: »Elvis is that which is. Bigfoot is that which was. Space aliens are that which will be« (Goad, J. 1997: 170). Gael Sweeney beschreibt Graceland als »a shrine as revered in its milieu as any holy place. His image has become an emblem of aspiration, excess, and immortality, especially to the reviled underclass labeled as White Trash« (Sweeney, G. 1997: 263). Ein steingewordener Traum der weißen Unterschicht Amerikas, der »[p]oor, rural whites (the original white trash) [who] have lived by dreams, [... ] and, in a perverse way, still do, albeit reacting to >broke dreams.< (Someone or some force has hijacked their country and now controls the government - Jews through the supposed >Zionist Occupation Government,< the Federal Reserve, Communists, Liberals, the United Nations, Gays and Feminists, Satan, etc.). (Dunbar, R. A. 1997: 74f.) Derartige Ansichten sind essentielle Komponenten der right wing militias, 27 Eine ähnliche Funktion erfüllte die Soldatin Lynndie England in der Berichterstattung über die Folterungen in dem irakischen Gefängnis Abu -Ghraib, bevor sich herausstellte, dass die Misshandlungen zumindest teilweise angeordnet wurden. England wurde, so Horst Pankow, »Von den Massenmedien aus durchsichtigen Gründen zur monströsen Super-Domina aufgebaut. [Sie lebte] mit ihrer Familie auf engstem Raum in einer Wohnwagensiedlung" (Pankow, H. 2004: 12). Ähnlich wie Tom Nissen versuchte sie diesen Verhältnissen durch den Eintritt in die Armee zu entkommen. Pankow: »Ein für die kapitalistische Vernutzung unnütz gewordenes (Sub-)Proletariat sieht in seiner wert- und staatsfetischistischen Verblendung keinen anderen Weg als sich dem staatlichen Souverän nur umso bereitwilliger anzudienen und dies als Akt äußersten Selbstbewusstseins zu imaginieren. Das Foto, auf dem Lynndie England einen auf dem Boden liegenden nackten Gefangenen an einer Hundeleine hält [ ... ] kann auch als politische Metapher gelesen werden: Wenn die Hoffnung auf eine Reproduktion der bürgerlichen Subjektivität so gut wie ausgeschlossen ist, bleibt immer noch der Eintritt in die bewaf fneten Formationen der Nation - und schon stellt sich die Subjektivität als eine dem Anschein nach vorbürgerliche, objektiv allerdings postbürgerliche Existenz als sadistischer Sklavenhalter in einem phantastischen lrgendwo weitwinklig fotografierter Gefängnisäume, das als Irak zu lokalisieren schon herrschaftliche Willkür offenbart, wieder her" (ebd.: 13). Die Parallelen zu der affirmativen GewaltNissensund Lotters sind evident. 28 So interessante Einblicke Goads Redneck Manifesto (1997) bieten mag, so problematisch ist der nur dürftig kaschierte Rassismus seines Buches (vgl. u.a. ebd.: 209). Ein aufschlussreiches Buch über die Kultur der rednecks biet et auch Bethany Bultmans Buch Redneck Heaven : Portrait of a Vanishing Culture dar. Goad wie Bultman schreiben, dass die redneck-Kultur eigentlich nicht rassistisch sei, dass Afroamerikaner und Weiße als unterprivilegierte Klassen nur von den Wohlhabenden gegeneinander ausgespielt würden . Nie in Frage gestellt wird allerdings die Feindseligkeit gegenüber Feministinnen oder Homosexuellen als Vertreter des liberalen Amerika. Bultman zitiert einen Redneck Bumper Sticker: " [ DON'T BREAK FOR GAYS, LIBERALS, OR ANTIGUNNERS" (Bultman, B. 1996: 3).

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der white supremacist groups, wie vermutlich auch der, der Tom Nissen angehörte. Auf der anderen Seite steht das amerikanische Mantra des pursuit of happiness, das Armut als persönliches Versagen identifiziert. Die große Schande der Unterschicht Amerikas ist Armut, that is, ·failure• within a system which purports to favor them [ ... ].So they are to blame for their failure, if not them who or what is? The system, of course. And that cannot be; even those losers themselves find blaming the system unacceptable, if not blasphemous. (Ebd.: 76).

Brandon erfindet eine Mittelklasse-Familie29 , der auch sein filmisches anorektisches Erscheinungsbild entspricht. Laura Kipnis schreibt, dass [c]linical Iiterature tells us that eating disorders are predominantly afflictions of the upper·middle-class female" , dass aber .. the experience of anorexia [also] is an embodied discourse of dass [ ... ]. The female body is used as an expressive medium, a repository of dass aspirations, identifications, rebellion, and particularly, inner dass conflicts. [ ... ] [T]he preference for extreme thinnes expresses an identification upward in terms of dass - particularly because the fat body is so heavenly burdened with downwardly mobile dass connotations. (Kipnis, L. 1997: 116)

In diesem Sinne ist auch Lanas Wunsch nach einem schlanken, schwerelosen Körper zu verstehen, angesichts ihrer ständig betrunkenen, ihr so peinlichen Mutter, der >verantwortungslosen< welfare queen, die vor 1950er Jahre Science Fiction-Filmen im Kabelfernsehen (einem weiteren Attribut der white trash-Stereotypie) einschläft. Während Lana zu Beginn des Films noch ihrer Mutter nachzueifern scheint, betrunken, Klebstoff inhalierend, wirft David Walsh dem Film vor, den komplexen Charakter Lanas zugunsten einer nunmehr allzu leicht vorhersagbaren, geglätteten Geschichte aufzugeben: »Whereas before we had bad, brazen Lana, stumbling around malls in a stupor, now she sobers up and has the stereotyped look of »a woman in love«. This is not necessarily progress« (Walsh, D. 1999: online). 30 Auf der anderen Seite ist aber Brandans unnatürlich magerer Körper auch durchaus als Symbol des Widerstands gegen Konventionen des schlanken, elfengleichen Ballerina-Erscheinungsbilds oder sportlich gesunder Schlankheit zu lesen, wie ihn Jennifer Reeder beschreibt: »[The] understanding of the anorexic experience, the knowledge that one is tuming oneselfinto a grotesque is also never very far away from the experience: it' s another aesthetic confrontation with the social normativity that proper bodies, in their own way, maintain and uphold« (Reeder, J. zit. n. Kipnis, L. 1997: 116).

29 Dies gilt sowohl für den filmischen als auch für den historischen Brandon. 30 ln der Beschreibung Jim Goads »[t]ime has not been kind to white-trash warnen. Lips as red as rubies, bruises as purple as grape. Dental algae an crocodilian teeth. Ashtray voice and vacant stare. Armpit hairs jutting out like weeds from a sidewalk crack. Translucent, microwaved crater skin, every vein visible. Track marks, beepers, and see-through fishnet blouses. Perfectly shaped body with a ninety-years-old's face. These girls must show more wear-andtear than their cartoon bimbo ancestors. They come off like Elly Mae Clampett if Unde Jed had molested her from infancy until age eighteen. Or like Daisy Duke with scabby knees, rushing in high heels to flag down a taxi for her date at the methadone dinic" (Goad, J. 1997: 142f.)

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Obwohl BOYS OON'T CRY sich in weiten Teilen überaus positiv von anderen medialen Bildern Transsexueller bzw. Homosexueller abhebt, so erscheint doch eine Äußerung Kimberley Peirce' in einem Interview zumindest bedenkenswert Sie vermutet zu Recht, dass die Vergewaltigung Brandans der Wiederherstellung der normativen Geschlechterordnung diente, führt aber weiter aus, dass »it's satisfying their [Johns und Toms- Anm. d. Verf.] own desires. And it's punishing timt thing that exposes their desire as homoerotic« (Peirce zit. in Fuchs, C. 1999a: online). In den mir zugänglichen Schilderungen der historischen Figuren gibt es keinerlei Hinweis auf homoerotische Tendenzen. Tatsächlich entspricht ihr Verhalten, auch in großen Teilen des Films, eher einem homosozialen Verhalten heterosexueller Männer, das Halberstam, nach Eve Kosovsky Sedgwick (1985), streng von den Aktivitäten einer verfolgten sexuellen Minderheit abgrenzt. Homosozialität beschreibt demnach »the social relations between men upon which a system of dominance, patriarchy, rests« (Halberstam, J. 1995: 43). Brenda Cooper schreibt, dass »the narratives of BOYS DON 'T CRY expose the bigotted mechanisms that perpetuate and maintain dominant heteromasculinity, effectively dismantling the ideals of normative masculinity and making heterosexuality- instead of transgressive sexuality - appear strange« (Cooper, B. 2002: 53) Die laut Cooper im Film eingesetzten Strategien im Sinne des, im Übrigen jederzeit zu zelebrierenden, Effekts Heteromaskulinität und Heteronormativität suspekt zu machen, müssen im Lichte von Peirce' Aussage beleuchtet werden. So kann die exzessiv performative Qualität von Lotters und Nissens Unterschicht-Maskulinität möglicherweise als Minoritäten-Maskulinität im Gegensatz zur (falschlicherweise) als nonperformativ erklärten Majoritäten-Maskulinität weißer Mittelklasse-Männer und dementsprechend als suspekt, fragwürdig und vor allem als >normdeviant< gelesen werden (vgl. Halberstam, J. 1998: 235). Jenseits der Zeichnung der Charaktere John und Tom als pathologische Außenseiter, die die Zuschauer potenziell eben nicht auf ihre eigenen Vorurteile, die Vorurteile der >normalen< Mittelschichtbürger und deren ebenso tödliche Konsequenzen aufmerksam macht, könnten Aspekte des Films als Fortschreibung >suspekter homosexueller< Mörderpaare wie zum Beispiel in Alfred Hitchcocks ROPE (1948), DIAMONDS ARE FOREVER (GB 1971 , R.: Guy Hamilton) oder im weiteren Sinne auch in COPYCAT (1995, R.: Jon Amiel) gedeutet werden, was die eigentliche Intention des Films beeinträchtigen würde. BOYS OON'T CRY ist in dieser Hinsicht textuell offen bzw. widersprüchlich. Auf der einen Seite beispielsweise die Tatsache, dass John Tom »Süßer« nennt, Tom durchaus feminisiert wird oder durch das >Selbstverstümmelungsritualals obSubgenre< lnterracial Fernale Friendship Film analysiert.

8.2.3 Produktions- und Rezeptionskontext THE WATERMELON WOMAN, dessen Budget einerseits durch Spenden von Freunden der Regisseurirr sowie durch eine geringfügige Förderung des National Endowment for the Arts (NEA)39 zustande kam, wurde beispielsweise in der New York Timesund Los Angeles Timesausnehmend positiv besprochen und auf einigen zentralen US-Filmfestivals mit Preisen bedacht. Wie bei vielen anderen Independent-Veröffentlichungen hatte dies jedoch keinerlei positiven Effekt auf das Kinoeinspielergebnis. Der Film erwies sich als Flop, was zum Teil den mangelhaften Werbemaßnahmen und der zögerlichen Veröffentlichungspraxis von New Line anzulasten ist (McHugh, K. 200 I: 275). Immerhin, so Kathleen McHugh, ( ... ] THE WATERMELON WOMAN has certainly been seen by many more people than have ever seen any of Cheryl Dunye's short autobiographical art films. ln what may

39 Staatliche Einrichtung zur Förderung der Kunst, die bereits seit ihrer Etablierung unter Lyndon B. Johnson im Jahre 1965 mit Widerstand in erster Linie von konservativer Seite konfrontiert wurde. Seit der Unterstützung der NEA für eine Ausstellung von 1989, in der Serranos Fotografie "Piss-Christ''• die Dar· stellung eines Plexiglasbehälters mit einem Kruzifix in einer gelben Flüssigkeit, gezeigt wurde, wurde die NEA von der religiösen Rechten und anderen Konser· vativen als eine Institution, die ·unmoralische< Kunstwerke fördere, wahrge· nommen. Die rechte, religiöse Christian Coalition hatte es sich zu Beginn der 1990er zur Aufgabe gemacht, die Vergabepraxis der National Endowment for the Arts mit Anzeigen in Tageszeitungen und Zeitschriften wie der Washington Post und USA Today scharf zu attackieren. Ziel dieser Kampagnen waren in erster Linie homoerotische oder ·blasphemische' Kunstwerke. Ralph Reed, ei· ner der führenden Intellektuellen der Christian Coalition, bezeichnet die Ak· tionen gegen beispielsweise die Förderung einer Robert Mapplethorpe-Ausstellung als auslösenden Faktor für die zunehmende öffentliche Wahrnehmung der Christian Coalition (vgl. Reed, R. 1996: 133; vgl. auch Kap. 8.4.6).

234 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? offer something of an object lesson, Dunye's film has been most successful on television. Having run on the Sundance channel for a couple of years now, it has just been contracted to show on BET. Though its commercial release legitimated its placement on television, the number of people who will see it on TV will certainly be much greater than those who saw it in film theatres. (Ebd.)

Trotz der Tatsache, dass der Film von einer afroamerikanischen Regisseurin realisiert wurde, was nicht nur innerhalb, sondern eben auch außerhalb Hollywoods fraglos eine Seltenheit darstellt, wurde er von der afroamerikanischen community nicht unterstützt.40 Auf Seiten konservativer Afroamerikaner erlebte der Film ausgesprochen feindselige Reaktionen. Beispielsweise wurde in einem Artikel der Washington Times die Frage gestellt, »how can the NEA blaspheme the black community with this gay stuff?«. Wobei der Verfasser auf einen Zuschuss in Höhe von 31.500 US-$ Bezug nimmt, den Cheryl Dunye erhielt, um den Film fertig stellen zu können (Levy, E. 1999: 478). Als die Kontroverse über die Förderung von THE WATERMELON WoMAN durch die NEA im U.S.-Repräsentantenhaus 1996 diskutiert wurde und 1997 erneut aufflammte, verteidigten Politiker wie Sheila Jackson Lee und Filmstars wie Alec Baldwin ihn in der Öffentlichkeit und im Kongress. Wie Kathleen McHugh beschreibt, kam jedoch niemand während der Debatte auf die Idee, z.B. die Regisseurin Dunye in dieser Angelegenheit um ihren Kommentar zu bitten. »Their absence from the public debate and life of the film uncannily mirrored the subject ofthe film itself« (McHugh, K. 2001: 275) Wie Jacqueline Bobo herausgearbeitet hat, reichen die kreativen Werke afroamerikanischer Filmemacherinnen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, wenngleich sie von der offiziellen Kultur und der Filmgeschichtsschreibung weitgehend ignoriert wurden. So verweist der Archivar und Filmwissenschaftler Pearl Bowser darauf, dass es bereits während der 1920er Jahre eine große Anzahl Afroamerikanerinnen gab, die unabhängige Filme herstellten (Bobo, J. 1998: 6f.). Zu ihnen gehörte beispielsweise Madame C.J. Walker, eine der ersten afroamerikanischen Millionärinnen, die ihr Geld mit der Manufaktur und dem Vertrieb von Kosmetik- und Haarpflegeprodukten für schwarze Frauen verdient hatte. Zusätzlich zum Kerngeschäft besaß Walker das Walker Theater in Indianapolis und produzierte Trainee- und Industriefilme für ihr Kosmetikunternehmen (ebd.:7). In jüngster Zeit wurde lediglich der afroamerikanischen Filmemacherin Julie Dash ein gewisses Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil, deren Film DAUGHTERS OF THE DUST ( 1991) insbesondere auf dem Sundance Festival 1991 als große Entdeckung gefeiert, für die Kameraarbeit mit einem Preis ausgezeichnet und für die Regieleistung von der Filmkritik gefeiert wurde. Der Erfolg des Films und seine Würdigung erinnern aber zugleich daran, wie sehr das afroamerikanische Independent-Kino bis dahin von der offiziellen Kultur ignoriert wurde. Denn wie u.a. Toni Cade Bambara konstatiert, war Julie Dash zu dem Zeitpunkt alles andere als eine Neuentdeckung unter den Regisseurinnen. Vielmehr gehörte sie zu einer Gruppe afroamerikanischer UCLA-Studentlnnen, die schon in den 1970ern den unterschiedlichen Er40 Cheryl Dunyes Kommentar dazu: "1 've given up my life for the last four years and would have hoped that more progressive folks an those kind of communities of Iabels of identity politics and race politics, etc. would have made it out to the film or helped with the film or supported the film, but they haven't so there's a Iot of work to do« (Haslett, T. / Abiaka, N. 1997: online).

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scheinungsformen des Rassismus in Hollywood entgegentraten (vgl. Bambara, T.C. 1993: 119; Rocchio, V.F. 2000: 173). Nach Bambara hat sich Dash klar gegen die Marktmöglichkeiten entschieden, die sich fUr Afroamerikaner nach dem Erfolg Spike Lees eröffneten und wies dessen cross overRepräsentationsstrategien zurück (vgl. Bambara, T.C. 1993: 137). Auch Cheryl Dunye gehört zu den afroamerikanischen Filmemacherinnen, die einen ähnlich ambitionierten Ansatz wie Dash verfolgen und deren Filme textuell eben nicht nahe legen, dass sie gewissermaßen filmische Vorübungen für das große Hollywood-Kino betreiben. Dafür ist die Abweichung von den narrativen und ästhetischen Prinzipien des klassischen Hollywood-Kinos einfach zu groß. Andererseits teilt Cheryl Dunye als Filmfigur im Gespräch mit ihrer Freundin und Arbeitskollegin Tarnara auch mit, dass sie Ambitionen hat, Hollywood zu erobern (» ... unser Ticket nach Hollywood, Baby.« - Seq. 1), wobei natürlich fraglich ist, ob diese Aussage der Figur Cheryl Dunye hier als stellvertretend fUr die reale Regisseurirr Dunye gelten darf.

8.2.4 lntertextualität und Genrebezüge: lnterracial female friendship films. Seltene Geschichten In ihrer Untersuchung von Contemporary Fernale Friendship Films analysiert Karen Hollinger THE WATERMELON WOMAN als Beispiel für den so genannten »interracial female friendship film«, eine Kategorie von Filmen, die sie sowohl im Independentbereich als auch im Hollywood-Kino zu Recht als selten klassifiziert. Doch wie Hollinger ebenfalls bemerkt, wurde das Thema lesbische Beziehungen zwischen unterschiedlichen >Ethnizitäten< in letzter Zeit durchaus und gerade im Independent-Film thematisiert, so in THE INCRED!BLY TRUE ADVENTURES OF Two GiRLS IN LOVE (1995, R.: Maria Maggenti), BOYS ON THE SJDE (USA/F 1995, R.: Herbert Ross) und eben in THE WATERMELON WOMAN (1996), wobei TWO GIRLS TN LOVE und BOYS ON THE SIDE im Gegensatz zu Dunyes Film »introduce[s] minority characters and then proceed[s] to ignore the issue ofrace entirely« (Hollinger, K.l998: 181). Und Judith Halbersiam schreibt, dass Maggenti in dem Versuch, die stereotype Charakterisierung von Schwarzen als arm und unterprivilegiert zu vermeiden, die Afroamerikanerin Evie in THE INCREDIBLY TRUE ADVENTURES OF Two GiRLS IN LOVE mit Wohlstand, Sicherheit und Bildungsniveau geradezu überlade. Sie bevorzugt Opern, isst zusammen mit ihrer Mutter Sushi und reist um die Welt, während das weiße Mädchen Randy in der Schule versagt, riot grrrl-Musik von Team Dresch hört und mit ihrer Tante, die einen Autoreparaturservice fUhrt, in einem armseligen Häuschen wohnt (vgl. Halbersiam, J. 1998: 226). Die 1998 nach wie vor überwiegend benachteiligte Situation schwarzer Familien wird hier vollständig ignoriert und die kommentarlose Umkehrung traditioneller Rollen kann somit üblicherweise auch als Beschwichtigung weißer Schuldgeftihle gelesen werden (vgl. Kap. 8.5).

8.2.5 Race, sexuelle Orientierung, Repräsentation In Dunyes Film wird weder die Kategorie race noch sexuelle Orientierung ignoriert, sondern im filmischen Diskurs explizit als politisches Thema diskutiert. Im Mittelpunkt stehen zwei afroamerikanische lesbische Frauen, die im

236 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Filmgeschäft arbeiten. Die eine als Independent-Filmemacherin, die andere als schwarze Schauspielerin in kleinen Nebenrollen. Die eine ist >realnur< Erfindung. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Identität als afroamerikanische Frau und Lesbe im Filmgeschäft untrennbar verbunden ist mit den dominanten kulturellen Konstruktionen und Bedeutungen, die Hollywood oder die offizielle weiße, heterosexuelle (amerikanische) Mainstream-Kultur, im Hinblick auf race, Geschlecht oder etwa sexuelle Orientierung historisch errichtet, verbreitet und reproduziert hat. Eine Geschichte, die überwiegend sexistisch, rassistisch und homophob war und ist (vgl. Davies, J./Smith, C.R. 2001). Sicherlich hat sich Hollywood in seiner Geschichte hinsichtlich seiner Konstruktionen von race, >Ethnizitätechte< feministische Wissenschaftlerin als Expertin interviewt (Seq. 17) oder in einem Archiv Fotos von Fae Richards aufstöbert und sie beweiskräftig in die Kamera hält (Seq. 22). Zu der Konstruktion des Dokumentarischen trägt außerdem entscheidend bei, dass die Kamera ständig auf die Protagonistin fokussiert bleibt und der Zuschauer damit auch keinerlei Informationen zur Verfügung gestellt bekommt, die die Protagonistin/Filmemacherin nicht hat.

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Andererseits richtet aber die durchgängige Adressierung des Zuschauers bzw. die Interaktion mit der Kamera zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf die filmische Konstruktion des Dargestellten und transzendiert dadurch die Geschlossenheit der Diegese bzw. negiert die Transparenz der Signifikatebene. Abbildung 4: Brian Freeman in der Rolle des race fi/m-Experten Lee Edwards (Seq. 8)

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Einer solchen dokumentarischen Erzählstrategie wird häufig weihevoll das Attribut >selbstreflexiv< verliehen, da die Instanz des Filmischen und der

240 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? technischen Apparatur diegetisch gleichsam sichtbar gemacht und so die Vorstellung einer filmischen Repräsentation von Welt und Wirklichkeit, die nicht durch eine Instanz der Repräsentation (z.B. die filmische Apparatur) beeinflusst worden ist, textuell negiert wird. Dennoch operieren auch die selbstreflexiven Dokumentarfilmstrategien implizit mit der Vorstellung, dass es eine außerfilmische Referenz gibt, auf die sich der filmische Text, trotz seiner Offenlegung als Konstruktion, beziehen kann. Es stellt sich die Frage, inwieweit die außerfilmische >Realität< im Fall von THE WATERMELON WOMAN - quasi >vollständig< als Imagination dekonstruiert wird. Werden durch das aufrichtige Bekenntnis zur >Unaufrichtigkeit< all die mühevoll gesetzten Marker eines selbstreflexiven Dokumentarismus gewissermaßen textuell als obsolet dechiffriert? Hat man es hier mit einer vollständigen Dekonstruktion dokumentarischer Strategien zu tun, die selbst die Zurücknahme des Anspruchs auf Repräsentation von Wirklichkeit qua selbstreflexiver Narrationsstrategien als leere Geste entlarvt? Die Waterrnelon Woman ist eine Erfindung, die Regisseurin Martha Page ist erdacht und auch die innerhalb der Diegese erwähnten Filme wie »Plantation Memories« sind Fiktion. Aber natürlich hat es die stereotypen Hollywood-Filme mit den black mammies gegeben, ebenso die racejilms, und natürlich existiert Spike Lee, über den sich Cheryl, Tamara, Yvette und Stacey in einem Szene-Club unterhalten (Seq. 3), ebenso wie die afroamerikanische, lesbische Filmemacherin Cheryl Dunye selbst. Der >race .films-Experte< ist wiederum eine Erfindung, der von dem Theaterregisseur Brian Freeman gespielt wird, genau wie die Filmplakate und Filmtitel, die allerdings auf eine >empirisch vorfindbareechter< intertextueller und außertextueller Bezüge zu tun. Eine gewisse Kennerschaft wird textuell vorausgesetzt, um diese Ebenen auseinander halten zu können. Die cameo-Auftritte, die den pseudodokumentarischen Charakter des Films ebenfalls leicht entlarven würden, sind textuell nicht unbedingt so leicht als solche identifizierbar. Für ein bestimmtes Kern- bzw. Insider-Publikum natürlich. Und selbstverständlich gibt es etwa im Internet genügend spoiler, die den unwissenden Zuschauer über die cameo-Auftritte wie auch über das mockumentary-Konzept aufklären. Aber wer (er-)kennt schon Camille Paglia? Oder die New Yorker Schriftstellerin, Bühnenautorin und Journalistin Sarah Schulman (u.a. After Deiares 1988), die im Film die Archivarin im C.L.I.T. spielt? Camille Paglia ist zudem auch im realen Leben Wissenschaftlerin (wie im Film), Sarah Schulman aber keine Archivarin. Der Film destabilisiert damit die Grenzen zwischen Realität und Irrealität nachhaltig, was sich zugleich als eine textuelle Strategie der Verunsicherung aber auch der Erweckung von Neugierde für den Rezipienten deuten lässt. In gewisser Weise initiiert der Film eine Spiel- bzw. Quizsituation entlang der Frage: Welche Referenz ist nicht bloß erfunden? Die cameo-Aufritte von Paglia, Schulman, Cheryl Clarke oder Brian Freeman verlagern ähnlich wie in Waters' PECKER das üblicherweise heteronorrnative Zentrum an den Rand und verleihen beispielsweise queeren Zuschauern überlegene Kennerschaft und somit Bedeutung, wodurch auch die üblicherweise maßstabsetzenden Publikumssegmente in den Status von Außenseitern versetzt werden (vgl. Kap. 8.4).

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8.2.9 Black Cinema und blackness Valerie Smith (1998: 89f.) argumentiert, dass die Geschichte des Kinos afroamerikanischer Filmemacherinnen, wie die Geschichte der afroamerikanischen Filmkritik als Suche nach einem authentischen schwarzen Subjekt gelesen werden kann. So arbeiteten viele der kommerziell erfolgreichen Filme afroamerikanischer Regisseure wie Spike Lee (Do THE RIGHT THING, 1989), John Singleton (Bovz N THE Hooo, 1991) oder Matty Rich (STRAIGHT OuT OF BROOKLYN, 1991) mit Authentizitätsmarkern, die sich auf ein externes überprüfbares >wahres Leben< beziehen und sich als vermeintlich authentische >schwarze Dokumente< ausweisen. Demgegenüber sieht Smith in Filmen wie Marlon Riggs' TONGUES UNITED (1990), James V. Hatchs FTNDTNG CHR!STA (1991), aber auch den Kurzfilmen von Cheryl Dunye (SHE DoN 'T FADE, 1991 und THE POTLUCK AND THE PASSION, 1993), Beispiele für eine selbstreflexive Praxis des Dokumentarfilms bzw. des Pseudodokumentarischen, die sie dem essentialisierenden Authentizitätsdiskursen eines Spike Lee oder John Singleton gegenüberstellt. Whether they centrally concern black gay men, black lesbians, black mothers, or absent black fathers, the documentaries on which l focus [...] sidestep issues of racial representativeness and accuracy or inaccuracy altogether and presuppose that black subjectivity is a site of contested negotiations. As texts on the boundary of fact and fiction that explore the tensions among constructions of race, gender, class, and sexuality, they lend themselves readily to an intersectional analysis of form, of content, and of relations between the two. (Smith, V. 1998: 89f.)

THE WATERMELON WOMAN negiert ebenfalls Konzepte einer authentischen Form der Repräsentation von blackness, genauso wie die Signifikanten des selbstreflexiven Dokumentarfilms als potenziell illusionäre Form eines Aufrichtigkeitsdiskurses filmisch dekonstruiert werden. Letztlich macht Dunyes Film deutlich, dass solche Strategien wie die direkte Adressierung des Zuschauers (hier gedacht: als idealer Betrachter) auch nur ein Authentizitätsmarker (unter vielen) sind, trügerische Zeichen, die alleine noch keine Garanten, weder von >Wahrheit< noch von >Wahrhaftigkeitistdocumentary< ofblack women's stories testifies to the truth oftheir

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representational absence in history, in industry cinema, in mainstream cultural narratives more forcefully than any >truthful< account could have dorre« (McHugh, K. 2001: 274). Die mockumentary verweist somit noch einmal nachdrücklich auf eine Leerstelle, die von der dominanten (Film-)geschichtsschreibung weißer heterosexueller Männer hinterlassen wurde. Geschichte wird hier erfolgreich als Erfindung einer hegemonialen Kultur entlarvt.

8.2.10 Zur Sexualpolitik von

THE WATERMELON WOMAN

Cheryl Dunye in einem Interview mit Tim Haslett und Nimmy Abiaka: »There's so many complexities in having a sex scene that...having the National Endowment for the Arts being attacked by the christian right and congress. Would I do it again? I don't know, but sexuality has had a real thing in my life, or the life that I chose to Iead, that how can I hide it or make it invisible. That's not what my agenda is« (Haslett, T./Abiaka, N. 1997: online). Neben der textuellen Verhandlung der Repräsentation afroamerikanischer Frauen im Kontext von Geschichte und Begehren ist die Frage der sexuellen Orientierung jene Kategorie, die als Identitätsmarker und soziale Kategorie filmisch explizit verhandelt wird. Mit der Aufdeckung der sexue11en Orientierung der fiktiven Schauspielerirr wird gewissermaßen die >Spiegelungskonstruktion< zwischen der Watermelon Woman und Cheryl Dunye vollendet. Als wäre der Zusammenhang damit noch nicht offenkundig genug, kommentiert die Regisseurirr im voice over: »ich denke, wir haben ein oder zwei Dinge gemeinsam, Mrs Richards- Filme und Frauen.« Die Parallelen zwischen Fae Richards und Cheryl Dunye in Bezug vor allem auf die Identitätsmarker race und sexuelle Orientierung werden dabei entlang der Dichotomien von privat und öffentlich, real und fiktiv, Gegenwart und Geschichte verhandelt. Aufschlussreich in Hinblick auf die filmische Konstruktion von sexueller Identität ist selbstverständlich die explizite Thematisierung und Repräsentation von Sexualität, ein Thema, das in den vergangenen zwei Dekaden in den lesbisch-schwulen communities intensiv hinsichtlich seiner politischen Implikationen und sozialen Definitionen diskutiert wurde (vgl. Straayer, Ch. 1996: 190), sowie ferner die mit dem Körper und durch den Körper in Verbindung stehenden Konstruktionen von race und Sexualität. Am Ende ihres einflussreichen Essays »Se11ing Hot Pussy« ste11t be11 hooks folgendes Postulat auf: When black women relate to our bodies, our sexuality, in ways that place erotic recognition, desire, pleasure, and fulfillment at the center of our efforts to create radical black female subjectivity, we can make new and different representations of ourselves as sexual subjects. To do so we must be willing to transgress tradi· tional boundaries. We must no longer shy away from the critical project of openly interrogating and exploring representations of black female sexuality as they ap· pear everywhere, especially in popular culture. (hooks, b. 1992: 76)

Dieses hat sich Cheryl Dunye zweifelsohne zu Eigen gemacht. Die Sexszene zwischen Diana (Guinevere Turner- u.a. Go FTSH 1994, R. : Rose Troche) und Cheryl Dunye wurde in der Vermarktung von THE WATERMELON WoMAN mit dem Hinweis beworben, es handele sich um eine der aufregendsten lesbischen Sexszenen der letzten Jahre. Diese Aussage darf man getrost als Übertreibung werten. Sieht man einmal vom Wesentlichen ab, dass hier

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interracial und lesbian sex dargestellt wird, ist die Sexszene selbst nach Hollywoods Maßstäben als recht durchschnittlich einzustufen. Alles was hier musikclipartig fragmentiert gezeigt wird, sind die nackten, sich aneinander schmiegenden Körper der Liebenden, Zungenküsse und Küsse auf Brüste (Seq. 15). Ein nennenswerter Unterschied zu Hollywood-Liebeszenen etwa zwischen Kelly McGillis und Tom Cruise in TOP GUN (1986, R.: Tony Scott) ist, auch und gerade im Hinblick auf die Ästhetik, dabei kaum feststellbar (s. Abb. 5). Abbildung 5: THE: WATE:RME:LON WOMAN- Cheryl und Diane (Seq. 15)

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Auch ein Film wie BASIC INSTINCT (1992, R.: Paul Verhoeven) hat, allerdings mit einer deutlich konservativen Botschaft, offensivere Formen weiblicher heterosexueller und lesbischer Sexualität gezeigt. Diese Offenheit, verdichtet im viel zitierten Bild der Großaufnahme von Catherine Tramells (Sharon Stone) entblößter Scham, hat freilich ihren Preis. Denn allzu häufig gilt für Hollywood: Dort wo explizite Sexualität sichtbar ist, hat sie sehr oft eine denunzierende Funktion im Gesamtzusammenhang der Narration, meist zum Nachteil von Frauen und/oder Lesben. Dafür ist BASIC INSTLNCT, wie zahlreiche Filmwissenschaftlerinnen überzeugend argumentiert haben, ein signifikantes Beispiel (vgl. u.a. Willis, Sh. 1997; Davies, J./Smith, Carol R. 200 I). In allgemeiner Hinsicht lässt sich behaupten, dass lesbische Sexualität im gegenwärtigen Hollywood immer noch allzu oft buchstäblich unsichtbar ist oder dort, wo sie explizit sichtbar ist, häufig dämonisiert und bestraft wird. Damit setzt Hollywood mutatis mutandis die institutionalisierte Unterdrückung unliebsamer Bilder, wie sie etwa durch den Hays Hollywood Production Code verkörpert wurde, fort: Von 1932 bis 1962 waren nach dem Hays Production Code Darstellungen >sexueller Perversionen< auf der Leinwand verboten. Es galt, dass >>no picture shall be produced which willlower the moral Standards of those who see it. Hence the sympathy of the audience shall never be thrown to the side of crime, wrongdoing, evil or sin« (Gardner, G.C. 1987: 207-212 zit. n. Halberstam, J. 1998: 177). Aufgrund dieser Zensurmaßnahme wurde sichergestellt, dass zwischen 1934 und 1962, Darstellungen von Schwulen und Lesben »always appear under the cover of strict and often almost impenetrable codes« (ebd.). Doch konnte das Verbot lesbischer und schwuler Darstellungen queere Themen und Erzählungen nicht vollständig unterdrücken (ebd.). Wie Chon Noriega anhand von Film-

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kritiken aus dieser Zeit aufzeigt, umfassten die Zensurbestimmungen nicht das gedruckte Wort. Daher konnten bei Verfilmungen von Büchern oder Theaterstücken mit explizit homosexuellem Inhalt die Kritiker diesen homosexuellen Kontext in ihren Besprechungen der Filme wiederherstellen (Noriega, Ch. 1990:20-39 zit. n. Halberstam, J. 1998: 177). Der Production Code verbot aber nicht nur die Repräsentation lesbischer und schwuler Sexualität, ebenso waren vor 1960 die Möglichkeiten erotischer Interaktion durch Apartheid-ähnliche >ethnische< Codes stark eingeschränkt. Laut Ela Shohat gab es hierbei jedoch entscheidende Unterschiede: Hollywood could project mixed love stories between Anglo·Americans and Jews or even Hispanics and Arabs - especially if incarnated by white American actors and actresses such as Valentino in The Sheik (1921), Dorothy Lamour in The Road to Morocco (1942), or Natalie Wood in West Side Story (1961)- but was inhibited in relation to African-American or Native·American sexuality« (Shohat, E. 1991: 233). Explizit stand in den Bestimmungen des Production Codes of the Motion Picture Producers of America, Inc. (1930-34) »miscegenation (sex relation between the white and black races) is forbidden« (ebd.). Eine Beziehung zwischen Fae Richards und Martha Page wäre gerade bzw. selbst als Fiktion aufgrund der Production Code-Restriktionen unmöglich gewesen, von einer Liebesszene wie der zwischen Diana und Cheryl ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund ist es eben nicht unerheblich, dass THE WATERMELON WoMAN lesbischen Sex zwischen schwarzen und weißen Frauen zeigt. Aber auch hinsichtlich gegenwärtiger kultureller Stereotypisierungspraktiken ist ein Vergleich der populärkulturellen Darstellungspraktiken von weißen und schwarzen Lesben relevant. Nach Judith Halberstam fällt diesbezüglich auf, dass schwule Männer tendenziell mit exzessiver Sexualität assoziiert werden und weiße Lesben mit Frigidität und Gespenstigem in Verbindung gebracht werden, and white lesbian desire becomes entwined with suffusive eroticism rather than overwhelming sex drives. But lesbians of color tend to be stereotyped along racial, as well as sexual, lines: the black lesbian, for example, is often stereotyped as the butch bulldagger or as sexually voracious, and so it makes no sense to talk about such a construction in terms of invisibility and spectrality. (1998: 114). Halberstam folgt hier Anna Marie Smith, die deutlich macht, dass »[i]t is simply not true that all lesbians are equally >invisibleweiblich< bzw. >lesbisch< markiert. Dass Cheryl sowohl beim Flirten als auch in der Sexszene mit Diana durchaus einen aktiven Part innehat (Seq. 15), kann als Beleg dafür gelten, dass Cheryls sexuelle Identität und ihr Begehren durchaus komplex und ambivalent angelegt sind. Eine andere Auffassung von Sexualität hat Cheryls Freundin Tamara. Ständig redet sie über Sex, hat häufig wechselnde Partnerschaften und schaut sich >schwarze Pornografie< an (Seq. 2), auch offenkundig solche, die für ein heterosexuelles Publikum bestimmt ist, um sich Frauen mit Schamhaarrasur ansehen zu können, wie sie Cheryl erklärt, als sich herausstellt, dass sie diese Filme für sich im Namen anderer Kunden bestellt hat (in diesem Fall Diana). Aufschlussreich in diesem Kontext ist auch folgender Dialog zwischen Cheryl und Tarnara (Seq. 6): Tamara: »Na, wer ist die Hübsche?« Cheryl: »Eine Kundin.« Tamara: »Sie ist gut gebaut für eine Weiße. Glaubst Du, sie gehört zur Familie?•• Cheryl: ..warum musst Du eigentlich konstant Frauen anmachen?« Tamara: »Wir sind schließlich Lesben [ ... ] Seit wann hast Du keine mehr gehabt?••

Tarnaras offensive, aktive und nicht-monogame Sexualität wird im filmischen Diskurs jedoch nicht verurteilt oder am Ende des Films bestraft, wie es die meisten Mainstream-Filme mit weiblichen, sexuell offensiven Charakteren vorzugsweise tun - im Gegenteil: Am Ende scheitert nicht Tarnaras Auffassung von Sexualität, sondern die romantisch eingefarbte Liebe zwischen der schwarzen und der weißen Frau, zwischen Cheryl und Diana. Mit anderen Worten: Die Hollywood-Version einer glücklichen, die Parameter sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz (race, Klasse, Geschlecht etc.) transzendierenden Beziehung zwischen de facto >Ungleichen< aufgrund dieser strukturellen Parameter, scheitert. Allerdings wird die Sexualität Tarnaras nur verbal thematisiert und nicht explizit gezeigt, obgleich Sexualität ihr offenkundig viel wichtiger ist als Cheryl. Den Grund hierfür mag man darin sehen, dass Tarnara eben nur eine Nebenfigur, nur die Freundin der Protagonistirr ist und eine Sexszene zwischen Tarnara und ihrer Freundin den Fokus zu sehr von der Parallelkonstruktion Cheryl Dunye/Fae Richards abgezogen oder zerstreut hätte. Eine andere, weniger wohlwollende Lesart, könnte so aussehen, dass Tama-

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ras offene, freizügige Sexualität für eine explizite Darstellung im Sinne dominanter Schönheitsideologien schlichtweg zu exzessiv wäre, wo schließlich doch die letztlich gezeigte Variante wesentlich romantischer, konventionell gesehen ästhetischer und damit publikumsgerechter ist, als explizite Sexdarstellungen >devianter< Körper, zu denen Tarnaras Körper vor dem Hintergrund geseJischaftlich dominanter Körperkonstruktionen zweifelsfrei gehört. Hinsichtlich der Sexualpolitik von THE WATERMELON WOMAN ist schließlich relevant, dass eine Erklärung für das Ende der Beziehung mit Diana seitens Cheryl, die sonst alles genau kommentiert, ausbleibt. Implizit lassen sich hierzu textuell verschiedene, konkurrierende Begründungen ableiten. Ein Grund könnte etwa sein, dass Diana tatsächlich, wie die Freundin von Tarnara im Film mutmaßt, lediglich »into chocolate« gewesen sei (Seq. 21 ), also die Beziehung in sexueller Hinsicht als >exotische< Abwechslung betrachtete. Nach dieser textuell induzierten Deutung wäre Cheryl für die gelangweilte Künstlerin Diana in erster Linie ein Inspiration versprechendes Abenteuer, in den Worten bell hooks »[ ... ] a movement out into a world of difference [... ]«41 (hooks, b. 1992: 23). Interessanterweise wird in der Personenkonstellation von Cheryl und Diana die stereotype Konnotation weiß = sexuell unschuldig, unwissend etc.; schwarzl>ethnisch< = »more life experience, more worldy, sensual, and sexual« umgekehrt (ebd.). Denn Diana wird als kosmopolitische und weit gereiste Frau, längst erfahren im Umgang mit kultureller Differenz dargestellt, zumindest wenn man sich an das hält, was Diana Cheryl und ihren Freundinnen beim Abendessen mitteilt. 42 Ein anderer Grund für das Ende der Beziehung mag darin liegen, dass Diana tatsächlich kein Verständnis dafür aufbringt, dass Cheryl zu Lasten ihrer Beziehung so viel Zeit in ihr Filmprojekt investiert, obgleich sie eben aufgrund ihres Werdegangs als angebliche Filmstudentin eigentlich die Leidenschaft Cheryls für ihr Filmprojekt verstehen sollte. Eine weitere Lesart wäre, dass Cheryl möglicherweise zu sehr auf ihre Arbeit fixiert gewesen ist und ihrerseits zu wenig Verständnis für die Bedürfnisse Dianas hatte, die sich erklärtermaßen gerade von den Anstrengungen ihrer zurückliegenden kreativen Arbeit in Philadelphia zu erholen beabsichtigt. Der Verzicht auf eine explizite Erklärung Cheryls, warum ihre Beziehung scheitert, und damit wer oder was die Verantwortung für dieses Scheitern trägt, bedeutet jedoch nicht, dass der Text in dieser Frage als mehr oder weniger neutral eingestuft werden kann. Z.B. erfolgt unmittelbar im Anschluss an die Verlautbarung Cheryls, dass ihre Beziehung mit Diana vorbei sei, der Hinweis, dass die Beziehung zu ihrem >Kumpel< Tarnara sich wieder verbessere (Seq. 26). Zuvor artikulieren Cheryls Freundinnen deutlich ihre Skepsis gegenüber Diana, obgleich Cheryl sie zu diesem Zeitpunkt noch verteidigt. Auch wenn Cheryl zufällig auf sie trifft, noch bevor sie ein Liebespaar werden, erzeugt Diana kaum den Eindruck, dass sie besonders viel Interesse an ihren Mitmenschen zeigt. Inso41 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bell hooks hier eigentlich darstellt, wie weiße Studenten race und •Ethnizität• als sexuelle Selektionskategorien begreifen und den Beischlaf mit Nicht-Weißen als ein Ritual der Transzendenz auffassen, als Bewegung in die Welt der Differenz, aus der sie •erfahrener• und •erwachsener• hervorgehen. (Ebd.) 42 Wobei hier allerdings auch eine erwartungsgemäße, vorwiegend heterosexuelle, erzählerische race-/Klassen-Konstruktion zum Tragen kommt: Naive (•ethnisch· markierte) ·Unterprivilegierte• wird verführt von erfahrenerem Mann und letztendlich fallen gelassen.

248 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? fern gibt es textuelle Hinweise dafür, dass Dianas und Cheryls Beziehung als letztlich inkompatibel charakterisiert wird, ohne dass dies tatsächlich im Film ausgesprochen würde. Eine explizite Beurteilung der Beziehung zu Diana bleibt aus. Neben den Parallelen in Bezug auf race, sexuelle Orientierung und auch in Hinblick auf Klasse ist das Scheitern ein weiteres Spiegelungsmoment der Beziehungen zwischen Cheryl und Diana auf der einen und Martha Page und Fae Richards auf der anderen Seite, womit eine enge Relation von Vergangenern und Gegenwärtigem hergestellt wird. Die Geschichte der Watermelon Woman zeigt die Möglichkeit des Unmöglichen- als Imagination, als Utopie des V ergangenen. Eine lesbische Beziehung zwischen einer Hollywood-Regisseurin und einer afroamerikanischen Schauspielerin hat es >offiziell< nicht geben dürfen und vielleicht auch nie gegeben. Das Scheitern einer solchen Beziehung ist also - so könnte man es letztlich deuten - nicht nur notwendig oder stringent, sondern auch authentisch. Es dekonstruiert die Imagination des Vergangenen im Sinne des >Es hätte so gewesen sein könnenRealitätsgehaltrealLesbeSchwarze< gehören zum allgemeinen Vokabular einer Kultur, die nach wie vor durchdrungen ist von Rassismus, Homophobie und sozialen Ungleichheiten und werden von Unterdrückten wie Unterdrückern gleichermaßen verwendet (vgl. Straayer, Ch. 1996: 160). Es ist zweifellos richtig, dass die Bedeutung solcher Begriffe immer durch Ausschließungen hergestellt wird. Es ist richtig, dass solche Begriffe, um als Identitätsbegriffe zu funktionieren, politische oder sexuelle Vielfalt ausschließen und allzu schnell problematische Vorstellungen eines mit sich selbst identischen Kollektivs hervorbringen können, indem das Konformistische das Emanzipatorische auslöscht. Doch für die politischen Implikationen von Signifikationspraktiken ist eben der Handlungs- und Bedeutungskontext entscheidend, der die Bedingung der Möglichkeit zur Verfügung stellt, um die Negation von Differenz entlang politisch relevanter Identitätsbegriffe aufzufangen und kritisch zu reflektieren. Dies ist bei THE WATERMELON WOMAN der Fall. Cheryl sagt gegen Ende des Films, dass Fae Richards ihr Hoffnung, Inspiration, Möglichkeiten und Geschichte gegeben habe. Und »das Wichtigste, was ich verstanden habe, ist, dass ich es sein werde, die sagt, ich bin eine schwarze, lesbische Filmemacherin, die gerade erst angefangen hat« (Seq. 26). Und Cheryl Dunye kündigt an, dass sie noch viel zu sagen hat und weitere Filme plant. Es ist anzunehmen und auch zu hoffen, dass diese Aussage über den diegetischen Rahmen hinausweist.

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HAPPINESS-

family sitcom from hell

(USA 1998, R.: Todd Solondz)

«Welcome to my happy world - now take your shit and leave. l'm happy, l'm good, l'm - l'm outa here - screw you." (Liam Lynch - Happy Song)

8.3.1 Handlung und Charaktere HAPPTNESS beginnt in einer klassischen Aufblende mit der Großaufuahme einer brünetten Frau um die 30. Joy (Jane Adams), hat ihrem Freund Andrew (Jon Lovitz) soeben offenbart, dass sie sich von ihm trennen will. Auf seine Frage: »Gibt es jemand anderen?« antwortet sie unverhohlen: »Nein, es liegt nur an dir.« Andrew überreicht ihr eine Aschenbecher-Replika. Obgleich sie nicht raucht, nimmt sie das Geschenk an. Doch Andrew hat keineswegs die Absicht, Joy den Aschenbecher zu überlassen, denn dieser sei für die Frau bestimmt, die ihn wirklich liebt, wie er sagt, und er wolle sie nur wissen lassen, was ihr entgehe. Er wirft ihr vor, dass sie denke, er sei nichts wert und hässlich. Dabei sei sie »Scheiße«. »Und bis zum Tag, an dem du stirbst, wirst du und nicht ich Scheiße sein.« (Seq. 1). Wie für Independent- und semi-independent-Filme durchaus typisch konzentriert sich HAPPTNESS nicht auf einen einzelnen Charakter, sondern auf eine Gruppe von Leuten, die alle in Beziehung zueinander stehen. Im Zentrum der filmischen Figurenkonstellation stehen die Schwestern Joy, Trish (Cynthia Stevenson) und Helen Jordan (Lara Flynn Boyle). Joy ist die Jüngste. Ihre Schwester Trish behandelt sie wie ein unreifes Kind und offenbart ihr, dass sie sie genau wie der Rest der Familie immer für eine Verliererin gehalten habe. Bald darauf erfahrt Joy während ihrer Arbeit in einem Call Center vom Selbstmord ihres Ex-Freunds. Dieser Nachricht folgt der hasserfüllte Anruf der Mutter des Verstorbenen, die Joy für dessen Tod verantwortlich macht: »Ich hoffe, dass du verfluchte Scheiße noch mal in der Hölle verrotten wirst« (Seq.8). Um auf andere Gedanken zu kommen kündigt sie ihren Job und fängt in einer Sprachschule für Immigranten an. Ihre Schüler akzeptieren sie nicht. Allein Vlad, ein russischer Einwanderer, setzt sich für sie ein. Nachdem Vlad Joy getroffen hat und sie zum Haus ihrer Eltern, bei denen sie noch immer wohnt, fahrt, schlafen sie miteinander. Joy hofft auf eine Beziehung mit Vlad. Dieser allerdings erscheint am nächsten Tag nicht zu ihrem Unterricht. Stattdessen taucht eine eifersüchtige Frau auf und greift Joy an. Als Joy Vlad besucht, kommt sie zu der Erkenntnis, dass er an einer Beziehung mit ihr kein Interesse hat. Stattdessen will er sich eine größere Summe Geld von ihr leihen, die sie ihm gibt, obgleich er sie zuvor bestohlen hat. Trish ist Hausfrau und Mutter von drei Kindern. Sie ist scheinbar glücklich verheiratet mit Bill, einem Psychiater. Allerdings schlafen sie kaum noch miteinander. Bill wird als liebevoller Vater, eine father-knows-best-Figur, gezeigt. 43 Seinem elfjährigen Sohn Billy, der voll und ganz mit seiner aufkeimenden Sexualität beschäftigt ist, steht er für alle Fragen zur Verfügung, 43 vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen zum Sitcom-Charakter von HAPPINESS.

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beantwortet sie offen und detailliert und beruhigt ihn, dass es überhaupt nicht schlimm sei, dass er noch nicht ejakuliert (Seq. 5, Seq. 11). Billy ahnt nicht, dass sein Vater pädophil ist. Selbst seinem Psychiater verschweigt Bill sein Geheimnis und berichtet stattdessen von nächtlichen Amokfantasien. Bill kommt seinem sexuellen Drang nach, indem er mit Hilfe eines Magazins für kleine Jungen onaniert (Seq. 4). Als er Billys Schulfreund Johnny beim Baseball zuschaut, beginnt er offensichtlich den Jungen zu begehren. Nach dem Spiel vertraut sich der Trainer, Johnnys Vater Joe, Bill mit der Vermutung an, dass sein Sohn Johnny eine »Schwuchtel« sei und bittet ihn um Rat. Ob etwa eine »Professionelle« die Johnny »zureiten« würde, helfen könne. Als Bill bemerkt, dass Johnny gerade elf sei, antwortet er: »Du hast recht. Es ist zu spät. Er ist, was er ist.« (Seq. 11). Schließlich übemachtet Johnny bei Billy. Bill wird die Gelegenheit nutzen, den Freund seines Sohnes zu vergewaltigen, nachdem er seiner Familie und ihm heimlich ein Betäubungsmittel verabreicht hat (Seq. 11). Er vergewaltigt noch einen weiteren Schulfreund Billys, bevor ihm die Polizei auf die Spur kommt (Seq. 19). Nachdem Trish und ihre beidenjüngeren Kinder aus dem Haus geflüchtet sind, will Billy von seinem Vater wissen, was er mit den Jungen gemacht hat. Bill sagt ihm, er habe sie »gefickt«. Ob er es noch mal machen würde? Ja, das würde er. Ob er auch ihn vergewaltigen würde, fragt Billy seinen Vater mit Tränen in den Augen. Nein, sagt er, er würde nur onanieren (Seq. 19, Abb. 6). Helen ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die Bücher über Missbraucherfahrungen schreibt (»Rape at eleven«, »Rape at twelve« ... ). Sie beklagt sich bei Trish über die immense Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird und dass sie trotzdes Sex' mit gut aussehenden Männem unglücklich sei (Seq. 9). Abbildung 6: Vater und Sohn. Das Geständnis (Seq. 19)

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252 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Allen (Philip Seymour Hoffman), Helens Wohnungsnachbar, ist ein ständig schwitzender Büroangestellter, der sich nicht traut, Frauen anzusprechen und sie stattdessen mit obszönen Anrufen terrorisiert, während er dabei onaniert (Seq. 7). Auf diese Weise gerät er auch an Joy, die ihn anfanglieh mit einem Mann verwechselt, von dem sie glaubt, dass er auf Veranlassung ihrer Schwester Trish anruft. Helen ist jedoch das wahre Objekt seiner Begierde und Gegenstand seiner sexuellen Fantasien. Seinem Psychiater, Bill Maplewood, gesteht er, was er Helen selbst niemals sagen könnte. Als er sich jedoch nach dem Gespräch mit Bill vornimmt, Helen anzusprechen, bekommt er nur ein »Wie geht's?« über die Lippen. Obgleich sich Allen selbst als unattraktiv und langweilig einschätzt, ist eine andere Nachbarin, Kristina (Camryn Manheim), durchaus an ihm interessiert. Als sie zum ersten Mal bei ihm klingelt, erzählt sie ihm, dass Pedro, der Nachtportier, in seinem Apartment zerstückelt aufgefunden wurde, sein Penis werde vermisst. Kristina will Allen einladen, was der jedoch brüsk ablehnt. Als er Helen von seinem Büro aus anruft, um sie zu beleidigen (»Du bist ein Nichts. Du bist ein schwarzes Loch und ich werde dich so hart ficken, dass es dir zu den Ohren raus kommt«), gelingt es ihr, den unbekannten Anrufer zurückzuverfolgen (Seq. 13). Zunächst fragt sie nach seiner Identität. Als er sie fragt, was sie will, raunt sie ihm zu: »ich will, dass du mich .fickst.« (Seq. 13). Als Allen sich wieder bei ihr meldet, teilt Helen ihm mit, dass sie ihn unbedingt treffen will. Eingeschüchtert legt er auf. Bevor er erneut wählen kann, klingelt Kristina. Allen entschuldigt sich und lädt sie zum Ausgehen ein. Sie offenbart ihm, dass sie es gewesen sei, die den Nachtportier umgebracht hat, nachdem dieser sie vergewaltigte. Detailgenau berichtet sie von den Ereignissen und wie sie schließlich Pedro nach der Vergewaltigung bat, sie noch einmal zu küssen, bevor sie ihm den Hals umdrehte. Auf die ängstliche Frage Kristinas, ob er sie jetzt ftlr ein Monster halte, antwortet Allen: »Ä.hm, ich schätze schon. Ich meine, wir alle haben, du weißt schon, unsere Vorteile und Nachteile« (Seq. 17). Später sucht Allen Helen auf. Sie weist jedoch seinen Annäherungsversuch schroff zurück. Allen geht zu Kristina. Er legt sich bekleidet zur ihr auf das Bett (Seq. 17). Mona (Louise Lasser) und Lenny (Ben Gazzara) sind die Eltern der Jordan-Schwestem. Nach vierzig Jahren Ehe entscheidet sich Lenny für die Trennung von seiner Frau, nicht unbedingt, weil er eine Geliebte oder konkrete Vorstellungen von einem Leben ohne seine Ehefrau hätte, sondem weil er seine Ruhe haben will. Indes leidet Mona unter der bevorstehenden Trennung. Als sie sich bei einer Maklerinnach einer Wohnung erkundigt, bricht sie in Tränen aus und beschwert sich bei ihrem Mann darüber, dass sie sich aufgrundder Trennung schon wieder liften lassen müsse (Seq. 12). Am Ende des Films treffen sich die Schwestern bei ihren Eltern, Helen hat vor Joy mit Allen zu verkuppeln und Billy ejakuliert zum allerersten Mal angesichts einer dürftig bekleideten Blondine am Rande eines Schwimmbeckens.

8. 3. 2 Analyseperspektiven Im Rahmen dieser Arbeit ist die Veröffentlichungsgeschichte von HAPPTNESS von besonderem Interesse, da hier einer der relevanten Diskurse um den gegenwärtigen amerikanischen Independent-Film sein Material findet. Die zentrale Frage ist, wie autonom »the corporate-owned IndieWood studios« tatsächlich sind (vgl. Kaufman, A. 1998: online). Dieser Diskurs steht in en-

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gern Zusammenhang mit den Grenzen des Darstellbaren im major-independent-Film, die hier entlang des Films und insbesondere anhand der Darstellung des pädophilen Bill Maplewood thematisiert werden. Gezeigt werden soll, wie der Film versucht, das Monströse als >Normalität< (und >die Normalität< als monströs) zu konstruieren, indem der Zuschauer dazu veranlasst wird, über weite Strecken zumindest die visuelle Perspektive eines pädophilen Vergewaltigers zu adaptieren. Außerdem wird untersucht, inwiefern Solondz sich der Genre-Strategien der Family Sitcom bedient, um den in der amerikanischen Verfassung verankerten Anspruch auf den Pursuit of Happines und die weiße amerikanische Mittelklasse zu demontieren.

8.3.3 Produktionskontext Von Anfang an wurde HAPP!NESS als brisanter Stoff gehandelt. 1996 stellte Regisseur Todd Solondz das Script der New Yorker Indie-Produktionsfirma Good Machine vor, die den Film zusammen mit Killer Film (die Firma der renommierten Independent-Produzentin Christine Vacchon) koproduzieren sollte. Die damaligen Inhaber James Schamus, Ted Hoe und David Linde waren von der Geschichte ausgesprochen angetan. Good Machines hauseigene International Safes Company sollte den Film finanzieren. Damit der Film in den amerikanischen Kinos gezeigt werden konnte, war es jedoch außerdem notwendig, einen amerikanischen Verleiher für das Projekt zu gewinnen. Die meisten Vertriebsfirmen wurden aufgrund des Inhalts des Films, der neben der Darstellung von Selbstmord, die Porträtierung eines pädophilen Familienvaters vorsah, der die Freunde seines Sohnes vergewaltigt, abgeschreckt. Vor allen Dingen der >Pädophilie-plot< gestaltete auch das Casting recht kompliziert, denn - so ließen die talent agents verlauten - die Zeichnung Bill Maplewoods (Dylan Baker), des pädophilen Vergewaltigers, sei »too sympathetically«. Das Abschreckungspotenzial des Drehbuchs ging laut Schamus sogar derart weit, dass der Casting-Prozess faktisch boykottiert wurde (vgl. Schamus, J. 1999: online). Good Machine musste seine Verkaufsstrategie schließlich deutlich revidieren. Statt wie bisher die Geschichte und Charaktere zu vermarkten, stellte man nun die >Philosophie< des Films heraus. Schamus: The film, we said, was about the crisis of overproduction in America today. ·Overproduction?, the perplexed film executive would ask. ·Yes, the overproduction of desire,' we would explain. ·You see, each year America spends about one-third of its gross national product on advertising and marketing, in a frantic attempt to create and sustain enough desire in people that they'll want to buy all the crap we and the Chinese and everyone else is producing so that we can continue to despoil the environment and hasten out demise through global warming. Now, it takes an enormaus industrial effort to produce that much desire, so that the old boundaries and limits for its expense-monogamous hetero marriage, etc., etc.,-just aren't cutting it anymore. The average American has to much desire to know what to do with, and it is in the disposition of this excess desire, in the inability of the social structure to absorb it properly, that trouble starts on suburbia. And that's what Happiness is about.' (Ebd.)

Während der Filmfestspiele in Cannes 1997 gelang es der Produktionsfirma, October Films flir die Übernahme des Filmvertriebs zu interessieren. Im Sommer 1997 ging der Film in Produktion und wurde rechtzeitig vor seiner

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internationalen Premiere in Cannes 1998 fertig gestellt, wo er den Preis der internationalen Kritik für den besten Film gewann. Während die Universal executives sich durch die überaus positiven Reaktionen auf HAPPINESS in Cannes zufrieden gestellt zeigten, beunruhigte die Nachricht vom kontroversen Inhalt die Muttergesellschaft Seagram, mit Hauptsitz in Montreal, deren primäre wirtschaftliche Aktivitäten zum damaligen Zeitpunkt auf den Konsumgüter-Sektor (in diesem Fall den Alkoholgetränkemarkt) konzentriert waren. Den Grund hierfur erläutert Schamus wie folgt: With significant regulatory legislation pending in the United States, and with a stock share price deflated by worries on business (Seagram had partially inanced its purchase of MCA/Universal with the sale of stock in DuPont-stock that subsequently skyrocketed in value while Universars value stayed relatively flat), executives were feeling vulnerable to the possibility that right-wing and Christian organizations might target the company"s products for a consumer boycott should the film incite much controversy. The negative publicity generated by such a Situation could have far-reaching consequences for many of Seagram·s core businesses (Schamus, J. 1999: online).

Wie die bereits in Kapitel 7 aufgezeigten Beispiele nahe legen, war die Besorgnis des Konzerns Seagram nicht unbegründet. Während October als Tochterfirma von Universal bereits mit den Vorbereitungen für die Veröffentlichung des Films im Herbst beschäftigt war, baten die executives bei Universal nach dem Cannes-Erfolg um einscreeningdes Films in Los Angeles. Nach der Vorfuhrung war den Studioverantwortlichen klar, dass der Film letztlich ein zu großes Risiko fur die Muttergesellschaft darstellte. Am liebsten hätte man sich des Films entledigt, was jedoch nicht möglich war. Universal wollte keinesfalls den Eindruck einer Zensur erwecken, die man als backlash gegen Hollywoods >kreative Gemeinschaft< hätte interpretieren können, so Schamus. Außerdem beschloss Universal, dass Seagram not become enmeshed in a political controversy over what could be an explosively received film. And to top it off, they certainly couldn"t allow the film to go to one of their ruthless competitors, as anyone who took the film of their hands would make hay of them in the press for moral cowardice and business idiocy, especially if the film, aided no doubt, by the attendant controversy, did well at the box office. (Ebd.)

Letztlich wurde entschieden, dass Good Machirre den Film selbst vertreiben sollte. Damit Universal nicht bloßgestellt wurde, musste >Goliath< einen Deal mit >David< abschließen. Schamus will nicht über die vertraulichen finanziellen Übereinkünfte sprechen, die dies ermöglichten, am Ende jedoch »we had a film that benefited in the marketplace by being both suppressed and promoted by one and the same system« (ebd.). Und lässt somit keinen Zweifel daran, dass in jeder Phase der Realisierung des Films die Logik des Marktes die notwendigen Entscheidungen und Transaktionen der Produktion determinierte. Letztendlich allerdings, so Schamus, fand sich Good Machine in einer im Filmgeschäft äußerst seltenen Situation wieder, nämlich einen Film von Anfang bis Ende selbst zu kontrollieren. Todd Solondz kommentierte die Umstände nicht ohne Ironie:

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[A] part of me loves the idea that I got to make a movie dealing with such subject matter, that anyone gave me the money, and that, in fact, it came from UniversaL They paid for it. lt gets wonderful attention at Cannes and so forth, and then they give it back to me. Really, I can't complain. I think things might work out for the bestspecialty arm< der Universal Studios zu Vivendi Universal Entertainment (VUE), der Film-, TV- und Freizeitabteilung des derzeit zweitgrößten Medien- und Kommunikationskonzern der Welt. Vivendi Universal entstand, als im Dezember 2000 Vivendi mit Seagram und Canal+ fusionierte. Führungsduo von Focus Features sind die ehemaligen Firmeninhaber von Good Machine James Schamus und David Linde. Als Good Machine letztendlich den Verleih von HAPPTNESS selbst übernahm, entschieden sich die Verantwortlichen, den Film nicht dem ratingVerfahren der MPAA auszusetzen, wo er mit Sicherheit ohne entsprechende Kürzungen ein NC-17 -rating erhalten hätte. Den Film ohne rating herauszubringen wäre größeren Firmen wie Miramax oder October aufgrund des Widerspruchs von Elternkooperativen nicht möglich gewesen. Miramax hatte bereits zuvor Larry Clarkes KIDS (1995) nur via der eigens für den Film gegründeten Vertriebsfirma Shining Excalibur erfolgreich ohne rating herausgebracht. Trotz allem ist es in kommerzieller Hinsicht vorteilhaft, wenn ein Film von der MP AA bewertet wird und keinesfalls ein >strengeres< rating als »R« erhält, da sich ungefähr 85% der Kinobesitzer in den USA an die MPAA-Empfehlungen halten und typischerweise keine »NC-17« oder unbewertete Filme zeigen (vgl. Kaufman, Anthony 1998: online). Letztlich wurde der Ausstieg auch von Todd Solondz nicht als völlige Katastrophe gesehen, obgleich er sich sehr wohl um die Auswirkungen derartiger Entscheidungen Sorgen machte: When Universal made the announcement that they were dumping my movie, there was a Iist of about 20 other distributors who wanted to pick it up. So, it's not that a movie like mine can't get released. The concern is that if the movie doesn't fare weil at the box office, it will make it more difficult for other filmmakers to find financing for films with disturbing subject matter.' ln conclusion Solondz adds, ·And as long as we live in this repressive culture, there will always be filmmakers like myself responding to it in this way. (Solondz, T. zit. in: Kaufman , Anthony 1998: online)

Vor dem Hintergrund, dass Universal/October sich aus dem Verleih von HAPPTNESS zurückgezogen hatte, fragt E. Deidre Pribram, warum im Fall von AMERTCAN BEAUTY die Pädophilie-Geschichte nicht zu einer ähnlichen Reaktion geführt hat: What then makes American Beauty not only acceptable for its studio, Dreamworks, but also applauded by the conservative Academy and widely patronized by the

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viewing public, as was demonstrated by its earning $ 130 million at the box office? ln terms of the entire American slate for 2000, as John Gibsan noted on MSNBC the day after the Oscar ceremony, the principal awards went to •a dysfunctional family, a crossdresser, and an abortionist• (the latter two being Hillary Swank, Best Actress for Boys Don't Cry and Michael Caine, Best Supporting Actor in The Cider Hause Rules). (Pribram, E.D. 2002: 199f.)

Gleichsam als Erklärung der konträren Beurteilungen verweist Pribram auf die textuellen Unterschiede zwischen den beiden Filmen. So hätte im Gegensatz zu Dr. Bill Maplewood in HAPPLNESS beispielsweise Lester Bumham (Kevin Spacey) in AMERLCAN BEAUTY keinen Sex mit dem Objekt seines Begehrens. »[ ... ] Lester's last second is due to his discovery that Angela (Mena Suvari) is a virgin and not a >slut« as he had assumed and fantasized previously« (ebd.). Ein andere signifikante Differenz sieht Pribram zu Recht in dem Umstand, dass der Pädophile am Ende des Films im Sinne der klassischen Auflösung des realistischen Kinos stirbt, während Bill Maplewood lediglich verhaftet wird und diese Verhaftung sehen wir nicht einmal (ebd.). Der Rückzug Universals bzw. Octobers aus dem Verleih verschaffte HAPPTNESS zweifellos ein nicht unerhebliches Maß an Publizität. In der Folge bewarb Samuel Goldwyn Films die Neuverfilmung von LOLITA (1997) mit dem Slogan: »If you like boys, see Happiness. If you like girls, see Lolita!«. Als die New York Post den Regisseur Adrian Lyne zu der Werbung befragte, bemerkte dieser: »I wasn't aware of it. It's not the ad I would have chosen«. Auch hier schien es kein Verleiher zu wagen, den Vertrieb für den amerikanischen Markt zu übernehmen. Aufgrund dieser faktischen Boykott-Situation und der hohen Produktionskosten von 58 Millionen US-$, wurde LOLITA, trotz seiner Konzessionen (insbesondere der Anhebung des Alters der Protagonistirr im Vergleich zur Vorlage Nabokovs) zu einem kommerziellen Desaster.

8.3.4 Family sitcom from hell Todd Solondz sah als Kind und in seiner Jugend leidenschaftlich soap operas und sitcoms im Fernsehen (vgl. Feldvoss, M. 1999: online). Und es ist vor allem das uramerikanische TV-Format der situation comedy, das HAPPINESS formal wie inhaltlich geprägt hat. Jane Feuer spricht davon, »that the sitcom, is literally child's play« (Feuer, J. 2001: 69). Nach John Hartley (2001) lassen sich zwei grundsätzliche Formen von sitcoms unterscheiden: »the drama of family comportment (often mixed with sibling rivalry) and the drama of sexual exploration. The former was routinely set in a home environment, the latter in the workplace« (66; vgl. auch Hartley, J. 1999). Wie Jane Feuer (200 1) bemerkt, erfordern sitcoms generell die Existenz einer »quasi familial structure in order to satisfy the needs of the viewer«, was sich daran ablesen lässt, dass auf der Produktseite längst nicht mehr nur die nuclear family im Mittelpunkt steht, sondern alle möglichen Konstellationen >quasi-familiärer< Gemeinschaften, von Single-Eltern mit Kindem und Patchwork-Familien bis zu schwulen Paaren. Entsprechend weist Feuer zu Recht darauf hin, dass die Bezeichnung >family sitcom< eigentlich redundant sei. Sie stellt die Frage, ob sitcoms, die nicht auf einer nuclear family (Kemfamilie) basieren, zugleich diese damit als soziale Institution kritisch betrachten, mit anderen Worten, ob sitcoms, die Alternativen auf der Ebene der Repräsentation der nuclearfamily

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anbieten, auch als »social alternatives to the nuclear family status quo« fungieren (ebd.: 69). In diesem Sinne ließe sich etwa The Cosby Show- neben Fragen der Repräsentation von race - als ideologischer Rückschritt zu den >Father Knows BestModell< (etwa family values vs. Single-Dasein) textuell oder kontextuell langfristig (z.B. auf eine gesamte Staffel von Folgen bezogen) positiv oder pejorativ konnotiert wird. Als wahrhaft populäre Größe der offiziellen Kultur ist die sitcom jedenfalls aus politischer Sicht alles andere als belanglos, was sich etwa 1992 zeigte, als US-Vizepräsident Dan Quayle die Serie Murphy Brown (1988- 1998) wegen der Befurwortung von singleparenthood kritisierte, was von Candice Bergen, der Darstellerirr der Murphy Brown, in der darauf folgenden Staffel kommentiert wurde und auch Ellen (1994 - 1998) löste eine kontroverse Debatte um schwullesbische Sexual- und Repräsentationspolitik aus (vgl. Spigel, L. 2001: 4; vgl. Hartley, J. 2001: 66). In der Repräsentation der Familienwerte dient die white suburban middle class-family in HAPPlNESS kaum als ein sozial erfolgreiches, Glück stiftendes LebensmodelL Allerdings bietet auch das Single-Dasein hier keine verheißungsvolle Alternative: Am Ende des Films sieht man die Familie zum ersten Mal gemeinsam zum Essen versammelt, weiß aber inzwischen längst, wie trügerisch diese >Einheit< ist. Glückliche Paare haben sich- entgegen der typischen Mainstream-Auflösung-am Schluss des Films nicht gebildet (vgl. Seq. 20). Nach Feuer zeichnet sich die sitcom durch ideologische Flexibilität aus, die auch die Langlebigkeit des Formats erklären könnte. Sie sei das perfekte Format flir ideologische Konflikte und gleichzeitig unterhaltend (Feuer, J. 2001: 69). Unter ideologischer Flexibilität ist hier das Aufeinandertreffen scharfer ideologischer Gegensätze gemeint, die sich die sitcom zu Nutze macht, etwa wenn in The Beverly Hillbillies (1962-1971 ) eine Familie von hillbillies auf Öl stößt und in die reichste Gemeinde der USA zieht (ebd.). Auch HAPPINESS arbeitet mit derartigen Gegensätzen. Jede der JordanSchwestern steht fur einen spezifischen Lebensentwurf: Helen als attraktive Schriftstellerin, als kosmopolitische Single-Frau in der Großstadt, >sexuell unabhängig und aktiv< und in ihrem Beruf sehr erfolgreich, aber ständig über ihre misslingenden Beziehungen jammernd, die durchaus eine der Protagonistinnen in Sex and the City (1998- 2004) sein könnte und erst in der Konfrontation mit ihren Schwestern als deren Karikatur identifiziert wird. Trish, als treue Ehefrau, Hausfrau und Mutter der white suburban middle class, und

258 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Joy, die im Call Center arbeitet, noch bei ihren Eltern wohnt und davon träumt, Sängerirr zu werden. Während das Rohmaterial vieler TV-sitcoms die seltsamen, skurrilen Seiten des Alltags einer Vorstadtfamilie (oder Ersatzfamilie) sind, so bewegt sich HAPPINESS mit seiner Fokussierung auf die >düsteren< Seiten einer Vorstadtfamilie sicherlich auf einer völlig anderen narrativen Ebene, auf der andere erzählerische Töne anklingen, als man sie von der amerikanischen sitcom üblicherweise gewohnt ist. Vor allem sind es die unbewegte Kamera, deren ästhetischer oder analytischer Eingriff gerade einmal als einfacher close up daherkommt, die Beschränkung des Szenarios auf wenige und alltägliche Orte (Baseballplatz, Büro, Restaurant, etc.), die episodische Struktur, die ohne Varianten gleichsam abgespult wird, die Einfachheit und Wiederholung der dargestellten Situationen, die Dominanz des gesprochenen Wortes, die HAPPINESS - neben der Bedeutung des Komischen - formal in die Nähe der sitcom rücken (vgl. Feuer, J. 2001: 69f.). Diese sitcomhafte Armut der narrativen Architektur ist es auch, die den Charakter und dessen komisches Talent zum wesentlichen Movens der filmischen Diegese macht, wenn nicht gar erzwingt. Hierbei handelt es sich nicht nur um das komische Potenzial der schauspielerischen Darbietung im Sinne der >reinen< Performanz, sondern auch um das komische Potenzial der ausgestellten Körper. Kathleen Rowe (1995) hat als >Subtyp< der .family sitcom die Komödie der unruly woman identifiziert, die angefangen mit I Love Lucy (1951-1957) bis Absolutely Fabulous (GB 1992-) eine ständige Drohung darstelle, wobei der Typus unruly woman insbesondere von Rowe auf die Serienfigur Roseanne und ihr Bild als domestic goddess appliziert wurde. Nach Rowe bezeichnet der Begriff unruly woman eine groteske Frau, deren Exzesse soziale Grenzen brechen, während sie zugleich durch einen Körper bestimmt sei, der nicht nur exzessiv, sondern »loose« sei. Was als exzessiv gilt, ist in Rowes Konzeption recht umfassend gedacht - beispielsweise zählen Roseannes laute Stimme und ihr >fetter< Körper dazu, aber auch ein bestimmter exzessiver Drogenkonsum wie in Absolutely Fabulous oder einfach die Überschreitung der Normen von >Weiblichkeit< zu der Zeit, in der der jeweilige Charakter populär war. HAPPTNESS ist geradezu überladen mit exzessivem weiblichen Verhalten und entsprechenden Körpern. Zu fragen bleibt, ob diese auch in subversiver Weise soziale Grenzen unterminieren. Fünf Frauen spielen in HAPPINESS eine prominente Rolle und sie alle zeichnen sich durch exzessive Körper aus. Die drei Schwestern, Helen, Trish und Joy sind anorektisch, was im filmischen Diskurs allerdings nicht thematisiert wird. Mona, ebenso wie ihre Rivalin Diane, ist vor allem Dingen durch ihr Alter markiert und Kristina ist an Medienbildern gemessen stark übergewichtig. Sowohl das Alter als auch die Körperfülle werden von den Charakteren selbst als Bedrohung ihrer sexuellen Attraktivität gewertet. Mona und Kristina erscheinen ansatzweise masochistisch in ihrem Bestreben an Männem festzuhalten, von denen sie schlecht behandelt werden. Dominante Körperdiskurse und -bilder werden also keineswegs kritisch gewendet, im Gegenteil. Cynthia Stevensan als Trish spielt hier nahezu die gleiche Rolle, die sie schon als Joanne Larson in HOME FüR THE HOLIDAYS (1995, R.: Jodi Foster) verkörperte, eine >normaleAnomalität< um sie herum hysterisch reagierende, überforderte Hausfrau, die in ihrer Rolle allzu eifrig, zu perfektionistisch aufzugehen versucht. Sie verachtet Joy, wie Jo-

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anne Larson in Posters Film ihren schwulen Bruder Tommy (Robert Downey Jr.) verachtet und hasst und bewundert zugleich Helen, wie Joanne ihre Schwester Claudia (Holly Hunter) ebenso sehr bewundert wie hasst. J oy ist eindeutig in den späten 1960em oder frühen 1970ern stehen geblieben. Als Sängerirr versucht sie sich an Liedern im Stile Wendy & Bonnies oder einer an Cat Stevens Interpretationen angelehnten Version von REMs Happiness (»Happiness, where are you. I haven't got a clue«). Als Vlad sie besucht, greift er zur Gitarre und singt die Inkarnation des Kitschlieds schlechthin für sie: Debbie Boones You Light up my Life (»And you light up my life. You give me hope to carry on. Y ou light up my days. And fill my nights with songs«). Woraufhin Joy ihn erstens überrascht verzückt anstarrt und zweitens auf der Stelle mit ihm schläft, im Glauben eine verwandte Seele entdeckt zu haben. Der Untertitel eines Artikels im Mojo-Magazine über den Soft Rock der späten 1960er lautet durchaus ironisch: »Forget LSD and pot, if you were a real cool kid in the '60s you were getting high on the sunshine vibes of soft rock.« (Stanley, B. 2002: 168). Dieser Droge, auch sunshine pop, bubblegumoder toytown psych genannt (vgl. ebd.), ist Joy hoffnungslos ergeben und sie hält sich mit ihrer Hilfe die brutale Realität erfolgreich vom Hals. Melanie Sofkas niederschmetternde Erfahrung bleibt ihr erspart: »Look what they've done to my song, ma. Look what they've done to my song. Weil, it's the only thing that I could do half right and it's turning out a11 wrang, ma.« Von den Schwestern ist es am ehesten noch Helen, die mit ihrer deutlich artikulierten Sexualität und Promiskuität von der gesellschaftlich dominanten Vorstellung weiblicher Sexualität abweicht. Während sie mit einer ihrer Schwestern telefoniert, sieht man auf ihrem Bett einen kaum bekleideten Gewichte stemmenden, muskulösen Afroamerikaner liegen, von dem allerdings nur der Körper und nicht der Kopf gezeigt wird. Die hier unverhohlen in Szene gesetzte Reduzierung des schwarzen Körpers auf sexuelle Kompetenz wird hervorgehoben durch Helens Betonung ihres zwar körperlich aber nicht geistig erfüllten Sexuallebens. Indes bewertet sie ihr freizügiges, aktives Sexleben genau wie ihren beruflichen Status selbst als unaufrichtig und hält es stattdessen für authentischer und aufregender, sich einem anonymen Anrufer als Objekt seiner Vergewaltigungsphantasien zur Verfügung zu stellen. Diese >weibliche< Phantasie ist jedoch das Gegenteil der Subversion sozialer Grenzen im Sinne >weiblicher< sexueller Handlungsmächtigkeit Letztlich erwartet sie durch die Vergewaltigungserfahrung eine Aufhebung ihrer inneren Leere, Sinngebung und den Nimbus des hilflosen weiblichen Opfers, der so nicht existiert. Derart wird ihre Autonomie gnadenlos denunziert und letztlich nur wieder das altbekannte Klischee der aufgrund ihres Erfolgs im Beruf und ihrer Unabhängigkeit unglücklichen Frau perpetuiert, die sich heimlich einen aggressiv-dominanten Mann herbeisehnt, der sie beschützt und auf die eine oder andere Weise aus der Sinnlosigkeit des Single-Lebens errettet. Exzessiv, aber nicht subversiv ist auch die Inszenierung der Vergewaltigung Kristinas durch den Pförtner. Diese wird nicht zuletzt dadurch, dass ihr der Pförtner körperlich offenkundig weit unterlegen ist, in erster Linie zu einer bizarr-komischen Szene. Dass sie ihren Vergewaltiger auffordert sie zu küssen, bevor sie ihn tötet, zerstückelt und seinen Penis in den Kühlschrank legt, macht sie hier weniger zu einer >leidenschaftlichen Fraumenschlichen MonsterMenschliche Monster< wie Hannibal Leetor bleiben monströs, hinterlassen ein Unbehagenangesichts einer sympathisierenden Darstellung, gerade wenn man sie als >kultiviert< bzw. >zivilisiert< zeigt. Einerseits weil ihre Monstrosität keine phantastische Fiktion ist, sondern >wirklich< im Sinne von möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, ist. Das Monströse ist bei >menschlichen Monstern< allerdings auch deshalb nicht durch einen humanistischen Blick vollständig authebbar, weil auch bereits das Menschliche hinter oder neben dem Monströsen als Maskerade Teil des Monströsen ist. Die Untrennbarkeil von Menschlichem und Monströsem hat etwas sehr Verstörendes. Zu fragen ist, warum die humane bzw. humanisierende Repräsentation >realer MonsterAnderen< unbedingt im Außen oder vielleicht gerade noch >an den Rändern< 44 Wobei bereits der Roman der erst 19jährigen Mary Wollstonecraft Shelley Frankenstein: Or, the Modern Prometheus (erstmals anonym erschienen 1818, in der endgültigen Fassung 1831) das Motiv des Menschen als Schöpfer und dann Verfolger des Monströsen bereits in sich birgt. Während Bram Stokers Dracula (erstmals erschienen 1897) das Monster als das vollkommen Böse und Andersartige zeichnet, was erst in filmischen Umsetzungen (erste Verfilmung als NosFERATU von F.W. Murnau, D 1922, erste US-amerikanische Verfilmung 1931, R.: Todd Browning), insbesondere der Francis Ford Coppolas, streckenweise aufgelöst wurde.

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von Kultur und Gesellschaft wissen wollen. Dass dieses >Andere< Teil des Mainstreams und keine identifizierbare bzw. abtrennbare Randerscheinung der Menschheit ist, wird auch in der Filmkritik Roger Eberts als etwas Unheimliches mit entsprechend verstörender Wirkung gedeutet: Todd Solondz"s ·Happiness·· is a film that perplexes its viewers, even those who admire it, because it challenges the ways we attempt to respond to it. ls it a portrait of desperate human sadness? Then why are we laughing? ls it an ironic comedy? Then why its tenderness with these lonely people? ls it about depravity? Yes, but why does it make us suspect, uneasily, that the depraved are only seeking what we all seek, but with a lack of ordinary moral vision? ln a film that looks into the abyss of human despair, there is the horrifying suggestion that these characters may not be grotesque exceptions, but may in fact be part of the mainstream of humanity (Ebert, R. 1998a: online).

In HAPPINESS ist das Monströse also nicht nur als >getarnte< Normalität und deswegen unentdeckt >mitten unter unswahre Glück< gehört zum Standard-Repertoire Hollywoods und es ist auch in Zeiten von New Hollywood nicht ungewöhnlich, dass das vermeintlich wahre Glück, auf der Basis etwa von Einsicht, Mut oder aufgrund glücklicher Umstände am Ende tatsächlich gefunden wird. In Zeiten des gegenwärtigen (New) Hollywood kann ein Filmtitel wie HAPPINESS jedoch nur misstrauisch machen. Zwar ist in Hollywood eine solche optimistische Korrespondenz zwischen Signifikant und Signifikat möglich, läuft aber eben Gefahr, als Kitsch denunziert zu werden oder irgendwie verdächtig zu wirken. So plump ist Hollywood nicht. Selbstverständlich ist es niemals nur der Titel allein, der die Erwartungen bezüglich eines Films präformiert. Im Falle des vorliegenden Films steht aber bereits der Name des Regisseurs Todd Solondz (WELCOME To THE DOLLHOUSE 1995) dafür, dass affirmative Glücksideologien unwahrscheinlich sind. Solondz entziffert den Pursuit ql Happiness nicht als Happiness ql pursuit, weder im affirmativ-religiös-calvinistischen, noch im kritischen Sinn. Das Streben und die Vorstellung von Glück wird textuell als etwas verhandelt, das weder mit Streben im Sinne einer Anstrengung zu tun hat oder mit religiösem Eifer und Hoffnungen auf ein jenseitiges Glück, noch mit Konsum, Reichtum und Fülle. Die Frage von Glück oder Unglück des Einzelnen wird in HAPPINESS vorrangig zur Sphäre des Privaten und Sexuellen gehörig verhandelt. HAPPINESS arbeitet sich nicht so sehr daran ab, die Glücksaspekte des offiziellen und öffentlichen Lebens im Sinne eines Entfremdungsdiskurses zu demontieren, damit am Ende der Narration die bürgerlich-romantische Liebe oder die family values - die private Seite gewissermaßen als Kontrast - als die Erfüllung des American Dream um so heller erstrahlen können. In gewisser Weise kann man sagen, dass HAPPTNESS nicht die Erreichbarkeil des American Dream in Frage stellt, sondern den American Dream an sich. Nicht die Möglichkeit der Erltillung, sondern der Wert der Erfüllung selbst wird in Frage gestellt. Es gehört noch immer zu den selteneren Begebenheiten, dass Hollywood wie in AMERICAN BEAUTY (1999, R.: Sam Mendes) die Dysfunktionalität einer white (suburban middle-class) family vorführt und nicht ihre unerschütterliche Funktionalität. Wenn wir einen solchen Dysfunktionalitätsdiskurs vorfinden, dann vor allem an den Rändern der Traumfabrik, im amerikanischen Independent-Film. Solondz geriert sich allerdings auch nicht als Fassadeneinreißer des bürgerlichen Scheins. In HAPPTNESS, der zu Beginn noch wie eine Woody Allen-Komödie daherkommt, wird nicht die Enthüllung einer Ibsenschen Lebenslüge vorgeführt. Die filmische Welt ist bereits vielmehr von Anfang aus den Fugen geraten und bleibt es auch (über das Ende des Films hinaus). Der permanente Zustand der Dysfunktionalität ist der Zustand der Normalität. Keiner der Figuren ist es vergönnt, Glück zu erfahren oder zu empfinden. Es ist diese allumfassende und permanente Dysfunktionalität, die der filmischen Erzählung einen zutiefst grotesken Charakter verleiht. Und es gibt keine textuelle Instanz, die diese Erfahrung stellvertretend für den

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Zuschauer artikuliert, was dem Film ein zusätzliches verstörendes Moment verleiht. Einzige Ausnahme im andauernden Unglück stellt der sub plot zwischen Vater und Sohn dar, insofern als dieser in einem grotesken Happy End nach einigen Sorgen bezüglich seiner sexuellen Reifung schließlich stolz, triumphal, ohne jegliches Schamgefühl der versammelten Familie seinen ersten Samenerguss verkündet: »ich bin gekommen!« Wenn die Familie dann zum ersten Mal vereint ist (nur Dr. Bill Maplewood ist aus nahe liegenden Gründen nicht dabei), steht dieses Zusammensein nicht für den Neuanfang nach der großen Krise. 45 Die Kommunikationslosigkeit, die Dysfunktionalität der Familie sind nach wie vor vorhanden. Die familiäre Einheit wirkt geradezu wie eine Farce. Und tatsächlich ist die Fadenscheinigkeit des glücklichen Beisammenseins nur allzu offenkundig: Am Ende sagt Helen zu Joy: »Ich lache dich nicht aus. Ich lache mit dir.« Joy: »Aber ich lache nicht.« Dieser Dialog ist in der Tat emblematisch. Es gelingt Solondz in diesem Film jedoch niemals, so grundlegend zu verstören wie Mike Leigh beispielsweise mit ALL ÜR NOTHING (GB 2002); zu sehr ist er bemüht (ganz anders als John Waters46), eine Freakshow vorzuführen, in der >anomale< Charaktere nur dazu dienen, ein groteskes Szenario zu bevölkern. Dies gilt letztlich auch für Bill Maplewood. Und Solondz illustriert nicht dessen sexuelle Fantasien, sondern seine Amoklauf-Tagträume in den einzigen >schönen< Bildern des Films, wo das Glück nun eben doch vorkommt, aber dann in derart überzogenen Bildern, dass es wie eine Karikatur seiner selbst anmutet. Maplewood wandert durch eine romantische Parkszenerie, in der sympathische Figuren in Zeitlupe flanieren, junge Mädchen, alte lächelnde Menschen, ein glücklich lächelndes, Händchen haltendes schwules Paar. Er zieht seine Waffe und mähtalldie glücklichen Menschen nieder. Selbst die Homosexuellen sind angekommen in der Welt der Anerkannten, Geliebten und Begehrten, so wird hier u.a. suggeriert, nur er nicht, der >perverse PädophileBeziehungen< zu kleinen Jungen definitiv nicht auf Gegenseitigkeit beruhen und es sich somit fraglos allein deshalb schon um eine Gewalttat handelt, das Maplewoods Exklusion nachvollziehbar macht, ist der Schachzug, einen aktiven pädophilen Vergewaltiger als sympathischen Charakter darzustellen, nicht gerade originell oder eben nur originell. Letztlich erschöpft sich der plot in der Idee und Bill Maplewoods Menschlichkeit geht am Ende in der provokativen Geste unter und in den karikaturhaft gezeichneten anderen Protagonisten. Die durchaus interessante Perspektive der >menschlichen< Darstellung des >Monströsen< scheitert auch daran, dass das >menschliche Monster< eben nicht um seiner selbst Willen in den Fokus gerückt wird, sondern in erster Linie der Dekonstruktion fast aller anderen, vor allem der weiblichen Cha45 ln gewisser Weise erinnert die Schlussszene an Thomas Vinterbergs Film FESTEN (DK 1998). Beide Filme behandeln ein sexuelles Verbrechen, dessen Auf· deckung einen zwiespältigen Zustand der ·Auflösung' markiert und das am En· de nicht mehr thematisiert werden soll. 46 Dessen ästhetischer Methoden er sich bedient, wenn er den gesamten Film mit elevator music unterlegt, gipfelnd in Barry Manilows Engtanzhit Mandy. Waters hat in SERIAL MOM Manilows Optimismushymne Daybreak wesentlich pointierter eingesetzt, als Lieblingslied der serienmordenden Mutter (Kathleen Turner).

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raktere, als grotesk, pathologisch oder monströs dient. Auch der dritte Sympathieträger neben Maplewood und seinem Sohn ist männlich und derart unauffällig und typisch gezeichnet, dass man seine Sympathieträgerschaft auf den ersten Blick kaum bemerkt: Lenny Jordan, den Solondz an die klassische sitcom-Figur des angesichts weiblicher Hysterie hilflosen und erduldenden Familienvaters anlehnt; ein von seiner Arbeitgeberin Angela Bower (Judith Light) und seiner Tochter Sam (Alyssa Milano) überforderter Tony Micelli in der Fernsehserie Who 's the Boss (1984-1992) oder ein durch seine überdrehten weiblichen Familienmitglieder abgestumpfter Al Bundy (Ed O'Neill) in der sitcom Married... With Children (1987-1997). Beispiele gibt es viele und häufig wird angedeutet, dass die selten rational oder angemessen reagierenden weiblichen Charaktere eine nicht unerhebliche Mitschuld an der Misere der männlichen Figuren tragen, so auch in HAPPINESS: Trish ist vollständig darauf konzentriert eine perfekte Hausfrau zu sein und nicht in der Lage Bill Maplewood zuzuhören, Mona fällt konfrontiert mit Letmys Ehezweifeln nichts anderes ein, als sich liften zu lassen. Solondz versagt seinen Charakteren Mike Leighs offensichtliche aufmerksame Anteilnahme an seinen Figuren, über die man zwar oft lachen mag, die einem das Lachen aber umso effektiver im Hals stecken lassen. Auch das große erschreckende Panorama, das Robert Altman in SHORT CUTS (1993), seiner Great American Novel, entworfen hat, wird nicht erreicht. Und der erste Satz in Tolstois Anna Karenina »Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche Familie aber ist auf ihre eigene Art unglücklich« löst sich auf in einem diffusen Jammertal, in dem jedes Unglück nur noch unterschiedslos grotesk anmutet. In einem Film, in dem so ziemlich alle Widrigkeiten vorkommen, die einer Familie zustoßen können, der eben doch nur eine Parodie auf sitcoms ist, ähneln alle unglücklichen Familien plötzlich einander.

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8.4 »Happiness ls to Help Each Other•• •Queering the Neighborhood• in PECKER (USA 1998, R.: John Waters) Uncle Billy: ,.lsn't it wonderful? So many faces! Mary did it, George! Mary did it! She told some people you were in trouble and then, they scattered all over town collecting money. They didn't ask any questions- just said: ·lf George is in trouble count mein.«< (IT'S A WONDERFUL LIFE (USA 1946, R.: Frank Capra))

8.4.1 Handlung und Charaktere Pecker (Edward Furlong) lebt bei seinen Eltern in einem Arbeiterstadtteil Baltimores. Seine kleine Schwester Little Chrissy ist hyperaktiv, von Süßigkeiten abhängig und quält Würmer. Die ältere Schwester Tina (Martha Plimpton) arbeitet in einer Stripbar für Schwule. Peckers bester Freund Matt (Brendan Sexton III) ist Ladendieb und sein Vater Jimmy Inhaber einer schlecht laufenden Kneipe, namens The Claw Machine. Die Mutter Joyce besitzt einen Second Hand Shop und seine Großmutter Memama verkauft selbstgemachte Sandwiches an einem Straßenstand, wenn sie nicht gerade ihre >sprechende< Marienstatue vorführt. Pecker (deutsch: in etwa Vögelchen, Piepmatz, inklusive der sexuellen Konnotation) arbeitet als Aushilfe in einem Imbiss und fotografiert in seiner Freizeit die Menschen in der Nachbarschaft: seine Freundin Shelley (Christina Ricci) (Seq. 4), die einen Waschsalon leitet, Matt beim Klauen (Seq. 3), die Unterkörper der Stripper in der Schwulenbar (Seq. 8) und die Schamhaare der lesbischen Stripperin (Maureen Fischer) in einem Club (The Pelt Room) (Seq. 8), dessen Publikum ältere heterosexuelle Männer sind, die von seiner Mutter günstig eingekleideten Obdachlosen (Seq. 5) oder sich die Beine rasierende Frauen im Bus, Kakerlaken auf Pommes Frites, sich sexuell betätigende Ratten und so weiter. Als Pecker seine Fotos in dem Imbiss ausstellt, werden sie von der New Yorker Galeristin Rorey (Lili Taylor) entdeckt (Seq. 9). Sie organisiert eine Ausstellung seiner Bilder in New York (Seq. 10). Bereits im Verlauf der Vernissage prallen die Kulturen aufeinander. Tina outet Homosexuelle, Joyce lädt Obdachlose zum anschließenden Essen in einem teuren Restaurant ein, Cindy Sherman (als sie selbst) trifft auf die Süßigkeiten verschlingende Little Chrissy (»Willst du eine Valium, Kleine?«), Shelley nervt ihre Tischnachbarin (Patricia >Patti< Hearst) mit ihrer Sehnsucht nach und ihrer Sorge um ihre Waschmaschinen. Zurück in Saltimore wird die Gemeinschaft mit ihrem plötzlichen amerikaweiten Ruhm konfrontiert (Seq. 11). Sie sind der Aufmacher überregionaler Zeitschriften, die Village Voice krönt Shelley zur »Fleckengöttin«, die daraufhin obszöne Anrufe erhält. Das Haus der Familie wird ausgeraubt (Seq. II). Little Chrissy gerät in die Fänge einer städtischen Psychologin, die sie auf der Stelle auf Ritalin setzt (Seq. 12). Die lesbischen Besitzerinnen des Pelt Room werden wegen Zurschaustellung von Schamhaaren verhaftet (Seq. 15). Memamas sprechende Maria wird von fundamentalistischen Katholikinnen als Betrug entlarvt (Seq. 15). Der Fotograf Greg Gorman (als er selbst) sucht den Second Hand Shop der Mutter heim und kleidet sie und ein Obdachlosenpaar in Outfits von Comme des Gar9ons: »Er

268 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? ist arm, er ist weiß, aber er ist sicher kein Abschaum.« (Seq. 14). Mr. NeUbox, der Inhaber der Schwulenbar, kündigt Tina, die zuvor noch so glücklich darüber war, dass sie auf MTV zu sehen ist (»Jetzt sind wir alle berühmt, wie die Jackson Family.« Vater: »Sag so was nicht, Tina.«), da nun plötzlich auch heterosexuelles Publikum Einlass in seinen Club begehrt (Seq. 16). Matt kann nicht mehr in Ruhe klauen, weil sein Gesicht zu bekannt ist und muss als Stripper arbeiten. Als alle sich von ihm abzuwenden scheinen, ist Pecker verzweifelt (»Diese Fotos verwandeln sich aufeinmal in Scheiße.«) und fasst den Entschluss, Roreys Angebot einer weiteren, noch größeren Ausstellung in New York nicht anzunehmen und statt dessen selbst eine Ausstellung in der Kneipe seines Vaters zu organisieren und die New Yorker Künstlerwelt zu sich nach Hause einzuladen (Seq. 19). Diese wird nun mit den Fotos konfrontiert, die Pecker auf der Vernissage von ihnen gemacht hat, Karikaturen, die wesentlich entlarvender sind als die letztendlich liebevollen Porträts, die Pecker in seiner Nachbarschaft fotografiert hat. Am Ende feiern dann alle miteinander in einer Orgie der Versöhnung: >Heteroandersartigdeviant< oder >pervers< so einfach nicht mehr angewendet werden können. Waters bringt derart viele Anspielungen in seinen Filmen unter, die ein heteronorrnatives Publikum einfach nicht verstehen kann, dass er es automatisch schafft, das Zentrum an den Rand zu verdrängen und diejenigen, die üblicherweise die Maßstäbe setzen, kurzerhand zu Außenseitern zu erklären. Waters' Charaktere >starren zuiück< wie die drag king- und butch-Portraits Catherine Opies, was nach Judith Halberstam eine interessante Dynamik zwischen dem Fotografen und dem Modell erzeugt: The power of the gaze in an Opie portrait always and literally rests with the image: the perpetual stare challenges the spectator's own sense of gender congru· ity, and even self, and it does indeed replicate with a difference the hostile stares that the model probably faces every day in the street. [ ... ] The stare of the spec· tator is forced to be admiring and appreciative rather than simply objectifying and voyeuristic. (Halberstam, J. 1998: 35)

Und wenn Pecker in den Kritiken als das normalste Familienmitglied bezeichnet wird ( vgl. u.a. Ebert, R. 1998b: online), so hebt Waters gerade mit der Figur Pecker Normalität auf. Als Chronist seiner Umgebung fotografiert er eben nicht das ft.ir ihn Groteske, Abstoßende oder Bizarre, sondern das in seinem Leben Alltägliche, Schöne, Beeindruckende (»Mann, durch diese Linse sieht einfach alles toll aus.This is our power,< we are saying, and the power is ours to do what we please« (Bronski, M. 1999: 64). Diese Öffentlichmachung arbeitet einer staatlichen Praxis der Unterdrückung und Zensur von Bildern entgegen, von der insbesondere queere Sexualitäten betroffen sind. John Greyson verweist auf den Zusammenhang von der Überwachung des öffentlichen Raums u.a. mit Kameras (die auch in Deutschland ausgiebig und zunehmend praktiziert wird) und Zensurmaßnahmen. Während die Überwachung z.B. öffentlicher Toiletten ein Bild Homosexueller als pathologisch, deviant, gefahrlieh und krankhaft erzeuge, versuche Zensur jegliche autonom von Schwulen und Lesben selbst produzierten Bilder (siehe die öffentlichen Kontroversen um Mapplethorpe, Riggs, Haynes, Miller, Hughes und dergleichen) zu unterdrücken (Greyson, J. 1993: 391). Wobei gerade sexuelle Minderheiten, die, anders als die Abbildungen heterosexueller Praktiken, kaum zugänglichen Bilder queerer Sexualität benötigten, da die Personen auf diesen Bildern, wie Warner die Erkenntnis seiner eigenen Homosexualität beschreibt, nicht nur taten, was er tun wollte, sondern es in Anwesenheit eines Zeugen, der Kamera, taten (Warner, M. 1999: 184). Insbesondere mangelt es an der öffentlichen Repräsentation selbstbewusster lesbischer Sexualität jenseits Teilzeit-lesbischerAbziehbilder wie t.A.T.u, die dann doch nur zu gerne auf den Show-Charakter ihrer somit aufgehobenen Homosexualität verweisen. Ähnliches gilt mehr oder weniger für das, durch den unerwarteten auch kommerziellen Erfolg des russischen Duos t.A.T.u ausgelöste, inflationäre Küssen amerikanischer Popstars und Schauspielerinnen in der Öffentlichkeit, von Pink und der TERMINATOR 3Darstellerin Kristanna Laken bis Madonna, Britney Spears und Christina Aguilera, deren Darstellung bei den MTV Music Awards 2003 wenigstens noch durch das von MTV eingeblendete, gequält gleichgültige, unübersehbar

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aber irritierte, fast verärgerte Gesicht Justin Timhertakes an Brisanz gewinnen konnte. Die öffentlich ausgelebte Heterosexualität des Großteils der Protagonistinnen verleiht dem Auftritt wiederum die Aura von Harmlosigkeit, die er tatsächlich verdient. So sehr man selbst die Andeutung von sichtbarer lesbischer Sexualität begrüßen mag oder ihr auch im Falle, dass sie ausschließlich von Männern für einen männlichen Markt produziert worden sein sollte, die Möglichkeit abweichender Lesarten zuschreiben kann, muss man mit Halberstam darauf hinweisen, dass man dem Foucaultschen Imperativ, sich darauf zu konzentrieren zu analysieren, wie Homosexualität in den Diskurs gestellt werde, zwar folgen mag, gleichzeitig aber die ausgeübte Repression nicht übersehen darf. Letztlich, so Halberstam, könne »no single strategy [... ] exhaust the possibilities of queer reception, and as we construct atypical histories of queer imagery, we must deploy many strategies, methods, and technologies of spectatorship« (Halberstam, J. 1998: 177). Waters' butch-Lesbe T-Bone (Maureen Fischer) in PECKER bietet eine ausdrucksvolle und trotz aller Verspieltheit und ironischen Anlegung, eine patriarchalische Ansprüche an weibliche Verfügbarkeit zurückweisende, bedrohliche Darstellung lesbischer Sexualität in Anlehnung an die butch-Charaktere des amerikanischen Kinos zur Zeit des Production Code. Halberstam: Before there were lesbians there were butches. The masculine woman prowls the film set [ .. . ] as a marker of sexual disorder. She wears the wrong clothes, expres· ses aberrant desires, and is very often associated with clear markers of a distinctly phallic power. [ ... ] She is tough and tragic, she was a tomboy, and she expresses a variety of masculinities. The history of the butch dyke in film [ ... ] has long been regarded by gay and lesbian film historians as the history of cinematic homophobia; however, the butch does not simply function within a negative register. Before the emergence of an independent lesbian cinema, the butch was the only way of registering sexual variance in the repressive environment of Hollywood cinema. lndeed, much of what we call »independent" film in this country has been queer, and the history of film production out of the studio system has everything to do with the development of a queer cinema. (Ebd .: 186)

Halberstam beklagt den filmischen Untergang der butch-Lesbe, auch als Vertreterirr weiblicher Maskulinität, im zwar oft unabhängig produzierten, jedoch eher am Mainstream und dementsprechend an dessen vornehmlich heterosexuell definiertem Publikum orientierten >lesbischen< Kino der 1980er, in dem sie nur als geglättete, verharmloste Version agieren dürfe (ebd.: 187). Und Halberstam fragt sich, warum weibliche Maskulinität als derartiges Stigma gilt, dass viele Frauen nahezu alles tun würden, um das Label butch zu vermeiden. Warum fühlten wir uns wohl dabei, an Männer als Mütter zu denken, aber zögen Frauen niemals als Väter in Betracht? Gender, so scheine es, sei nur in eine Richtung reversibel, und dieses, so Halberstam, habe sicherlich mit der immensen sozialen Macht, die sich um Männlichkeit herum akkumuliert, zu tun. Maskulinität, so müsse man annehmen, sei für Menschen mit männlichen Körpern reserviert und werde Menschen mit weiblichen Körpern tätig verweigert (ebd.: 269). Maureen Fischer als Protagonistirr »T-Bone« ist alles andere als tragisch oder geglättet. Sie trägt ihre Homosexualität wie ihre Maskulinität und ihre Energie zu Markte, benutzt sie, um ihre Unabhängigkeit zu beweisen oder ihr männliches Publikum zu beleidigen. T-Bone: »Was glotzt ihr denn so, ihr Wichser? Gefällt euch wohl 'ne Lesbe anzuglotzen, ihr Säcke? Und ihr

280 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? glaubt tatsächlich, ihr Männer habt das, was Frauen wirklich brauchen? Aber da täuscht ihr euch, denn diese herrliche Pussy kommt ohne euch aus.« (Seq. 6) Das ist zwar auch eine Show, die die zumeist älteren männlichen Zuschauer durchaus amüsiert, aber eben auch erkennbar die Wahrheit, wenn T-Bone den Kurator des New Yorker Museums Jed Coleman (Scott Morgan) antreibt: »Reite mich. Du sollst mich reiten als wärst du eine Leckschwester,« und er außer Atem resignieren muss: »Damit kann ich aber nicht konkurrieren.« (Seq. 19) Trotz der Tatsache, dass sie für ein männliches Publikum strippt, hat man nicht das Gefuhl, sie würde sich ausbeuten lassen oder sei in irgendeiner Hinsicht kompromissbereit. Ihre aggressive, ironischfeindselige, aber auch verstehend herablassende Haltung gegenüber ihren Zuschauern, die mit ihrem Bedürfnis nach verbalen Demütigungen und humorvoller Auseinandersetzung vollständig anders als die typische Kino- oder Fernseh-Stripclub-Klientel daherkommen, überlässt ihr uneingeschränkt die Definitionsmacht über die Situation. Und erst Pecker beraubt T-Bone ihrer Autonomie, unter anderem dadurch, dass er ihre Performance aus dem Zusammenhang reißt. (T -Bone: »Hey, Fecker, mit meinem Pelz mache ich Geld und nicht du. «) (Seq. 6) Dass T -Bone in diesem Club nicht für andere Frauen strippt, verweist nebenbei auf die u.a. von Wolfe beschriebene Problematik, dass lesbische Subkultur noch weitaus versteckter ist als die schwuler Männer, insbesondere aufgrund ihres niedrigeren verfugbaren Einkommens. So hätten Lesben weniger Geld, um damit lesbisch orientierte Unternehmen zu fuhren oder zu unterstützen und kulturell wie historisch seien öffentliche bzw. halböffentliche soziale Orte, wie Kneipen oder Clubs, gerade die der Mittel- und Oberklassen, größtenteils eine männliche Domäne (Wolfe, M. 1992 zit. n. Rothenberg, T. 1995: 168). Ein von Lesben für Lesben gemachter Stripclub mag in einem Vorort von Saltimore einfach nicht genug zahlungskräftiges Publikum anziehen. Tamar Rothenberg führt weiter aus, dass, gleichgültig ob von Außenseitern bereits als lesbisch identifiziert, Lesben im Gegensatz zu homosexuellen Männern sowieso bereits mit Verfolgung in der Öffentlichkeit allein aufgrund ihrer Weiblichkeit konfrontiert seien (ebd.). Auch im nahezu heiligen Ernst, mit dem Peckers Vater die Verbannung von Schamhaar aus dem öffentlichen Blickfeld fordert, sich auf einen ominösen Artikel » 12/203« der »Verordnung zum Ausschank von Spirituosen« berufend, gemäß dem »Schamhaare [... ] nicht gestattet [sind]« (Seq. 5) findet sich wieder die Angst vor einer >losgelassenen WeiblichkeitOut there< of heterosexual culture that the

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world of the play and its characters are up against. As a result the Operations of heterosexuality as an institution are made visible by the unrelenting and rather jolting presumption that heterosexuals do not exist« (Davy, K. 1994: 131). Auf der einen Seite steht T-Bones provokatives Selbstbewusstsein im Kontext lesbischer Kunst im öffentlichen Raum wie der amerikanischen »D.A.M.!«-Initiative, die von ihren Initiatorinnen wie folgt beschrieben wird: ln 1996 DAM! went slumming D.A.M. S.C.U.M., creating severallo-tech incendiary devices sure to offend just about everyone. Our multifaceted project - consisting of matchbooks, wallet cards, and a magazine page, all promoting an interactive phone line - envisions a lesbian militia of which Valerie Solanas would have been proud. Male callers are offered the chance to Iisten to the S.C.U .M. Manifesto, a female caller a description of DAM! 's self-defense products for the »Separatist-onthe-go." The magazine portion of D.A.M. S.C.U.M. debuted in the September 1996 issue of Art Journal. Over the summer, tenthousand wallet cards and matchbooks appeared at ATMs, bars, and building foyers. [ ... ]. [The projects] must be oppositional and seductive. To appeal to the lesbian viewer, the poster must refer to elements of lesbian culture from an insider's perspective, but at the same time be empowering to the lesbian observer by placing those images within the vocabulary of "the world," thereby not re-creating the obscurity of her existence. (Moyer, C./Dyke Action Machine 1997: 445)

Auf der anderen Seite ist ihre aggressive Anzüglichkeit Ausdruck, sich gegen die von einer heteronormativen Gesellschaft immer wieder eingeforderte Homokonformität richtender Bewegungen wie Gay Punk. Was Gay Punks, so Matias Viegener, am rigorosesten ablehnen, sei die >netteErfinder< der PunkÄsthetik im London der Mitt-Siebziger, ähneln John Waters dann womöglich mehr als jeder Filmemacher und konnten immer noch Geld damit machen, dass sie der britischen Jugend vormachten, wie das Prinzip »Anyone can do it« funktioniert. Und wie Waters' Filme war Punk immer schon auch die Verschmelzung von Exploitation und Underground. Jeder, so Viegener, mit einer Gitarre, einem Bass und einem Schlagzeug konnte eine Band gründen, jeder mit einem Kopiergerät, einem Magie Marker und einem Cutter ein Magazin herausgeben. Jeder mit einer Kamera kann ein Filmemacher sein (ebd.: 118). Undjeder mit einem, egal was Ttir einem Körper kann einen Stripclub aufinachen. Für Viegener birgt dies einige recht radikale und ermächtigende Implikationen, die insbesondere mit dem Ursprung der Punk-Idee im Anarchismus verbunden sind, wenn die Barrieren zwischen Künstler und Publikum aufgehoben werden. In L.A. und San Francisco mag eine derartige Bewegung Clubs (Club Fuck, Cafe Hag, Sissy Club, Uranus etc.) hervorrufen, in denen »in-house videos (found footage, numbers from old musicals set to new music), local bands, as weil as offbeat sixties and seventies records and, often, live dancers [... ] [or] scantily clad boys and girls »chained« in little cages, climaxing in a striptease, a drag, or a domination scene with bizarre paraphemalia« (ebd.) gezeigt werden. In John Waters' kleinem, ver-

282 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? steckten und vor allem verarmten Hampden, Baltimore entsteht ein exklusiver Club mit einer mutigen, wilden und schönen Stripperin. Wie Waters' Filme provozieren Gay Punk-Filme und Videoproduktionen Fragen nach der Korrektheit der Darstellung von Schwulen und Lesben, wenn sie, wie Viegener beschreibt, einen Mikrokosmos >unannehmbarer< homosexueller Charaktere abseits vom Mainstream bieten: Narzissten, Kriminelle, sich selbst verabscheuende Nihilisten, Sadisten, Masochisten und trotzige Kinder. 55 Jenseits der Tatsache, dass es sich hierbei um Filme von Homosexuellen über und für Homosexuelle handelt, deren Recht es ist, sich selbst so darzustellen, wie sie es möchten (ebd.: 118f.), handelt es sich eindeutig um Repräsentationen queerer Sexualitäten im Sinne Warners. Selbst in Waters' späteren, angeblich harmloseren Filmen ist das heterosexuelle Paar niemals wirklich straight, auch da, so Straayer, das idealisierte und entsprechend legitimisie1te Paar nicht nur heterosexuell, sondern auch weiß, ökonomisch bevorzugt, jung, gesund und attraktiv ist. Gemäß Straayer ist straightness, im Gegensatz zu Heterosexualität, ein Diskurs, der nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in juristischen, medizinischen und anderen >kulturellen< Institutionen geprägt wird. Straightness sei ein Ideal, das fette Menschen ausschließt, so wie körperlich oder geistig Behinderte, nicht>weiße< Menschen, arme Menschen, ältere Menschen, obdachlose und anders ungebundene Menschen und viele mehr. Letztlich sei tatsächliche Assimilation das Vorrecht einiger weniger Privilegierter (Straayer, Ch. 1996: 180). In Waters' Filmen geht es immer wieder um die Rebellion der nicht privilegierten Unterklassenschönheit gegen »the norms of the dominant order that seeks to control the Iitera! body as it controlls the body politic. Obsession with food and excess in White Trash Culture become an unconscious but graphic protestagairrst marginalization« (Sweeney, G. 1997: 257). Sei es die Besetzung aller seiner frühen weiblichen Hauptrollen mit Divine, in HAIRSPRA Y dann mit der damals, an den gesellschaftlichen Forderungen gemessen, noch stark übergewichtigen Ricki Lake als Tracy, dem >dicken MädchenAbweichung< darstellt. Unzutreffend ist meines Erachtens ganz gewiss auch die Annahme, dass seine heterosexu55 Waters in einem Interview: " Gay people need to use humor as terrorism. ACTUP began using that. We need gay terrorists like the yippies, or that sort of thing, to humiliate their enemies. [ ... ] I don't want to get married or have children. I know you have to fight for it, but I personally don't want it. I don't get it. I mean I never wanted to be like everybody else. I don't think gay people should. I liked it when the public was afraid of gay people, when families ran at the sight of a drag queen. Gay culture seems to want to say: "We're just like everybody else." l'm not. Speak for yourself« (John Waters zit. in: Ramlow, T. R., PopMatters, o.J.: online).

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ellen Paare, insbesondere deren weiblicher Part aufgrund seiner persönlichen Homosexualität notwendigerweise absurd und abwegig erscheinen müssen, was bereits Jack Babuscio an Molly Haskells (1974) Bewertung der Filme, Romane und Stücke Tennessee Williams' kritisiert. Haskell behauptet beispielsweise, die Frauenfiguren Williams seien Produkte of the writer's own ·baroquely transvestised homosexual fantasies•. By no stretch of the imagination, she argues, can they conceivably be seen as •real• women. Hence, Vivien Leigh's Blanche DuBois in A Streetcar Named Desire and Karen Stone in The Roman Spring of Mrs Stone; [ ... ] and Deborah Kerr's Hannah Jelkes in The Night of the lguana ; Elizabeth Taylor's Flora (Sissy) Goforth on Boom!, etc., etc. All these characters, Haskell argues, are ·hermaphrodites• who flow from out •the palpable fear and self·pity, guts and bravura of the aging homosexual•; the gay author, seething with repressed desires, dons his female mask [ .. . ] and hungrily heads [ ... ] for a host of fantasy males of his own creation: Stanley Kowalski/ Marlon Brando, Paolo/Warren Beatty, Chance Wayne/Paul Newman, etc. The •cultured homosexual• (Williams) is thus seen as being compelled, •often maso· chistically and against his taste• (Haskell, M. 1974: 249), to Iove brutes and beachboys, natives and gigolos, primitives and peasants - as well as all the other unavailable prototypes of uninhibited sensuality. (Babuscio, J. 1999: 131 f.)

Babuscio attestiert Williams nun zwar einen gewissen Konservatismus, führt diesen aber in erster Linie auf dessen gesellschaftlich erzwungene Verleugnung seiner Homosexualität zurück, woraufhin Williams' Homosexualität ihren Ausdruck in der Form weiblicher Verkleidung finde. All diese weiblichen Charaktere präsentierten demnach des Autoren >Unannehmbare< Gefühle als schwuler Mann und erst mit ihnen sei er in der Lage, mit den Spannungen, die ihn quälten und ausmachten, zurechtzukommen. Wichtiger noch ist allerdings sein Verweis auf die Fähigkeiten j edes Künstlers sich in einer feindlichen Umgebung derartiger Akte der Vorstellungskraft als Überlebensstrategien zu bedienen (ebd.: 132). Natürlich, so Babuscio, sei es wahr, dass Schwule eine einzigartige Wahrnehmung der Welt entwickeln, wie dies bei allen Angehörigen von Minderheiten der Fall sei, die in ausschlaggebenden Momenten als Außenseiter behandelt wurden. Die Frage sei also: Welche besonderen Einsichten kann ein homosexueller Künstler bieten angesichts dieser einzigartigen Situation? Wenn man gay sensibility definiere, sei es wichtig zu berücksichtigen, dass Schwule Angehörige einer Minderheit sind und dass Minderheiten immer eine Form von Bedrohung für die Mehrheit dargestellt haben. Entsprechend seien Schwule immer mit Angst, Misstrauen und Hass betrachtet worden. Das Wissen um diese Haltung habe ein einzigartiges Repertoire an Perspektiven und Auffassungen dessen, wie die Welt ist und wie man mit ihr umgehen kann, geschaffen. lt is true that gay artists may at times protect themselves from the social pressures imposed upon them by our cultural contradictions and social prejudices. Hence, it may be that fantasies of revenge are sometimes transformed into art as a way of allowing vicarious play to erotic wishes renounced in the interests of social acceptance; resentments are expressed over treatment received; appeals for sympathy are made through the demonstration of darnage wrought by continued injustice and oppression; psychic wounds are recorded, [ ... ] charades enacted; false identities assumed. But are not such forms of expression, such ·deceptions•, everywhere the rule? (Ebd.: 133)

284 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Und ist es nicht gerrau dies, was man von einem >Künstler< üblicherweise erwartet: die >einzigartige< Sicht, die Aufklärung über eine bestimmte Sichtweise, die Eröffnung neuer Perspektiven, die Erkenntnis, dass hinter der selbst wahrgenommenen Welt unzählige weitere warten, die erst vor dem Hintergrund besonderer Erfahrungen überhaupt sichtbar werden können? Bei Waters sind das unter Umständen auch die einzigartigen Frauenfiguren, die so gar nicht Produkte einer oft zitierten >schwulen Misogynie< sind. Auf der einen Seite repräsentieren sie den Freak, als den Waters sich selbst immer inszeniert hat, beispielsweise bei seinem Auftritt als hysterischer Psychiater in HAIRSPRAY. Auf der anderen Seite gelangt man im Verlauf der Filme zu der Erkenntnis, dass sie die tatsächlichen Schönheiten sind (Hatchet-Face in CRY-BABY: »There's nothing wrang with my face. I got character«), neben denen die konventionell hübschen Figuren immer blass erscheinen müssen. Ohne einen Film wie HA!RSPRAY wäre wohl eine Folge der MTV-DokuSoap Made56 gar nicht vorstellbar, in der eine nach konventionellen Maßstäben übergewichtige, eindeutig nicht attraktive Andrea Smith mit ein wenig MTV-Unterstützung und vor allem ohne abzunehmen oder sich weiteren Standards wie passender Kleidung oder >weiblicher< Attitüde anzupassen, letztendlich zur Homecoming Queen gewählt wird. Ihre Botschaft ist nicht mehr: Jede kann es schaffen. Diese (nicht zutreffende) Botschaft verbreiten Filme wie SHE' s ALL THAT (1999, R.: Robert Iscove), die ihren Protagonistinnen ein demütigendes Mimikry-Ritual abverlangen, generell beginnend mit Brille absetzen, Haare schneiden, Wimpern formen, Schminkritualen und auf hohen Absätzen herumstolpern. Andreas wie Tracys Botschaft aber lautet: Ich bin einzigartig. Ich bin trotzdem und gerade deswegen schön und klug und das seid ihr auch, ihr anderen Verlierer, Außenseiter und Freaks. Und schön sind sie tatsächlich, ohne Einschränkungen und mit dem angemessenen Waters-Pathos. Ähnlich demontieren Waters und Maureen Fischer als T-Bone in PECKER die Hochglanz-Varianten der drag kings in den Mainstream-Magazinen, in denen beispielsweise Demi Moore im Anzug und mit aufgeklebtem Bärtchen posiert, nur um am Ende der Fotoreihe ihr Hemd aufzureißen und ihre Brüste zu zeigen und somit die Erwartungen oder Hoffungen des (männlichen heterosexuellen) Lesers zu befriedigen, dass »even though girlswill be boys, they will eventually return to being very attractive girls« (Halberstam, J. 1998: 261). Halberstam beschreibt, dass während drag queens in Clubs, Theatern, Filmen und im Fernsehen mittlerweile einen wichtigen Platz im Drama um die Instabilität von gender besetzt haben, drag kings bis vor kurzem auffällig wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Wie überhaupt die Geschichte der öffentlichen Anerkennung weiblicher Maskulinität überwiegend durch erschreckende Ignoranz gekennzeichnet sei. Und die Abwesenheit jeglicher Neugier gegenüber den Möglichkeiten von drag king-Darstellungen liefere ausreichend Beweismaterial für eben diese weitverbereitete Gleichgültigkeit. In der Definition Halberstams ist ein drag king (üblicherweise) eine Frau, die ein erkennbar männliches Kostüm trägt und in dieser Verkleidung dramatisierend auftritt. Während der male impersonator, der das Genre in den letzten zweihundert Jahren geprägt hat, versuche, eine plausible Vorführung von Männlichsein zu produzieren, zeige ein drag king eine häufig parodistische

56 dt. Erstausstrahlung: 09.01 .2004

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Darstellung von Maskulinität und mache die Zurschaustellung der Performati vität von Männlichkeit zum Hauptbestandteil seiner Show (ebd.: 231 f. ). Einem Großteil der derzeitigen Repräsentation maskuliner Aspekte von Frauen in den Medien begegnet Halberstam mit Skepsis, denn während sich in New Yorker, Londoner oder San Franciscos Clubs eine lebendige, vielfältige drag king-Szene entwickeln konnte, seien die meisten drag king-Darstellerinnen in den Massenmedien nach wie vor Supermodels mit Schnurrbart (ebd.: 265). Ein Striptease am Ende der Performance wie der Demi Moores bestätige dann letztendlich, dass sich unter der männlichen Verkleidung ein hübsches Mädchen mit einer unbedrohlichen >intakten< Weiblichkeit befinde und nur solange dies bestätigt würde, sei das Mainstream-Publikum mit einer derartigen Aufführung zu interessieren oder zu faszinieren (Halberstam, J./ Volcano, D. G. 1999: 111). Eine Infragestellung der Geschlechtergrenzen oder der Versuch männliches Terrain zu besetzen, ist nicht akzeptabel. Was also, fragt Dei Grace Volcano, wenn sich unter der Verkleidung kein hübsches Mädchen verbirgt, sondern eine butch-Lesbe (ebd. : 111)? Wenn sie mitreißend ist und attraktiv für lesbische wie für heterosexuelle Frauen. Dann, so Halberstam im Interview mit den drag kings Silas Flipper, Rarriet Dodge und Jenni Olson »those same audiences get rather nervous.« Und Silas Flipper antwortet: »It's true, and obviously this is really threatening to your average heterosexual man. In Tribe 8, we have a song that feeds right into that fear, it goes: »l'm checking out your habe, so what! I' m checking out your habe, she's hot.« (ebd.: 138). In der Schlussszene von Pecker strippt TBone, die sich als drag king zu der Vernissage in die Bar von Peckers Vaters geschlichen hat, und unter ihrer Verkleidung kommt keine nette, hübsche junge Dame zum Vorschein, sondern die >gefürchtete< butch-Lesbe, aggressiv und energiegeladen (Seq. 19, s. Abb. 9). Rarriet Dodge schreibt, dass sie als Jurorirr zu einem drag king-Wettbewerb in San Francisco eingeladen wurde und dachte, dass die butch-Lesben die besseren drag kings sein würden und sollten. Sie dachte auch, dass diese gewinnen sollten, da butch-Lesben niemals irgendetwas anderes gewinnen würden und man sie auch sonst nirgendwo sähe. «Since we can never be movie stars, we should at least win the Drag King competitions!« (Ebd.: 133f.) Maureen Fischer als butch-Lesbe T-Bone fordert in PECKER energisch ihren Platz als Filmstar ein und sie bekommt ihn. Fischers Auftritt als drag king ist an ihre Rolle Mo B. Dick angelehnt, als der sie bis vor kurzem in ihrem eigenen Club auftrat, ein sexistischer, homophober (»I ain't no homo!«), misogyner Mann mit blonder Tolle und Koteletten. Halberstam bezeichnet Fischers alias Mo B. Dicks Manipulation einer performativen und theatralischen Maskulinität als die Aufmerksamkeit nicht nur auf den performativen Aspekt von Männlichkeit lenkend, sondern auch auf die Orte, an denen Nonperformativität ideologische Implikationen innewohnen. Indem die schmierige männliche Aufmerksamkeit gegenüber Weiblichkeit als inszeniert enthüllt wird, weise der drag king jegliche Konstruktion von Misogynie als natürliche Ordnung der Dinge zurück (Halberstam, J. 1998: 30).

286 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Abbildung 9: Maureen Fischer als drag king ' T-Bone• (Seq. 19)

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Drag kings verstören die angenommene nichtperformative Natur von Männlichkeit. Wenn, so Halberstam weiter, Maskulinität >natürlicherweise< und unausweichlich an Männer gebunden ist, dann kann sie nicht imitiert werden. Und wenn die Nonperformität Teil dessen sei, was weiße männliche Maskulinität definiere, dann höben sich alle performativen Maskulinitäten als suspekt und in Frage zu stellen ab. Dies gelte für u.a. homosexuelle wie für schwarze Maskulinität, aber auch, wenn auch weniger offensichtlich, für weiße Rockstars. Denn für einen >weißen< drag king, der konventionelles heterosexuelles Mannsein aufführe, müsse Männlichkeit erst sichtbar und vorfuhrbar gemacht werden, bevor sie auf die Bühne gebracht werden kann. Masculinity of color and gay masculinities, however, have already been rendered visible and theatrical in their various relations to dominant white masculinities, and the performance of these masculinities presents a somewhat easier theatrical task. Furthermore, although white masculinity seems to be readily available for parody by the drag kings, black masculinities or queer masculinities are often performed by drag kings in the spirit of hommage or tributerather than humor. (Ebd.:

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Nachdem sich die Männlichkeitsforschung der letzten Jahre, deren Auswirkungen auch in den Mainstream-Medien widergespiegelt werden, auf ein neu gewonnenes Bewusstsein männlicher Maskulinität oder ihrer vermeintlichen Verletzlichkeit57 gestürzt hat, und, wie Halberstam ihr zu Recht vorwirft, nicht einmal auf den Gedanken kam, weibliche Maskulinitäten mit einzubeziehen (ebd.:l3), führen drag kingsdie Performativität männlicher Erscheinungen vor und können, solange sie nicht wie die »Supermodels mit Schnurrbart« am Ende die Geschlechtergrenzen wieder zurechtrticken, erfolgreich Maskulinität für Frauen beanspruchen. drag kings, butch-Lesben, transgender-Männer oder maskuline Frauen fordern männliches Hegemoniedenken und heteronormative Konstruktionen heraus. Dei Grace Volcano: »There are some who accuse me of betraying >womanity< by inhabiting what Iooks and sounds like a male body. BOLLOCKS tothat I say! I'm a Gender terrorist, a walking, talking bomb in The Boys Club. Tick Tock. Tick Tock« (Halberstam, J.Nolcano, D.G. 1999: 21).

8.4. 7 Zur Repräsentation von class Ähnlich unzulänglich wie der Vergleich PECKERs mit THERE' S SOMETHING ABOUT MARY ist der Vergleich PECKERs mit white trash-Komödien wie THE BEVERLY HILLBILLIES (1993, R.: Penelope Spheeris). Waters antwortet in einem Interview, dass er an Peckers Familie nicht als an rednecks denke. Er ließe sie kein inkorrektes Englisch sprechen und lehne eine herablassende Haltung ihnen gegenüber ab. Er denke, sie seien eine großartige Familie. »Pecker is a movie about class, but that's not something I would say in my pitch. It doesn't sound commercial! [ ... ] Titanic has the same message: people like to have sex with the class they're not« (Waters, J. zit. in Peary, G. 1998: online). Wie im white trash-Horror treffen in PECKER >liberale< Großstadtmenschen auf eine ihnen fremde Kultur, die sie glauben belächeln und bevormunden zu können, allerdings mit völlig anderen Konsequenzen als im herkömmlichen slasher-Szenario (vgl. Kap. 8). Greg Gormans Aussage über den Obdachlosen, den er in Designer-Kleidung ablichtet: »Er ist arm, er ist weiß, aber er ist sicher kein Abschaum« erweist sich als Quintessenz des Films, wenn es am Ende die Bewohner Hampdens sind, die eine Vereinigung von Baitimare und New York, von Oberschicht und Arbeiterklasse zu ihren Bedingungen erreichen. In PECKER ist Hampden!Baltimore trotz aller kleinlichen Streitigkeiten eine idyllische, funktionierende Arbeiterklasse-Gemeinschaft. In Joyce' Second Hand Shop beispielsweise werden keine modebewussten Teenager der Mittel- oder Oberschicht eingekleidet, sondern Obdachlose und Junkies, die sich selbst Kleidung aus Supermärkten wie Wal Mart tatsächlich nicht leisten können und von Joyce liebevoll umsorgt werden. In ihrer Studie über die Funktion der ragmarkets und Second Hand Shops im Großbritannien der späten 1970er beschreibt Angela McRobbie, dass Läden wie der »Sex Shop« von Maleolm MacLaren und Vivienne

57 Annalee Newitz diskutiert ausführlich die Tatsache, dass die Helden der ,male sensitivityAuthentizität< zu befördern, von der das Vernissagen-Publikum in PECKER so begeistert ist. In England galt ein ähnliches Phänomen während der Brit Pop Battle zwischen »Blur (Essex/London, middle class, art school)« und »Üasis (Manchester/Northern, working class)« (Lury, K. 2000: 101). Lury beschreibt weiter, dass die filmische Repräsentation einer bestimmten Gemeinschaft dazu bestimmt sei, eine meist idealisierte örtliche Kultur jenseits und weit fort von dem kommerziellen Beigeschmack und der Inauthentizität, die London repräsentiert, zu schaffen (ebd.). Und statt sich mit seinen Fotografien aus der vermeintlichen Enge einer bedrückenden Vorstadt zu befreien, die Flucht zu wagen, in eine Welt, die Ruhm und Freiheit verspricht, verbündet sich Pecker mit seiner Gemeinde gegen die >falsche< glitzernde Großstadt, in der sich offensichtlich nicht einmal Homosexuelle zu erkennen geben dürfen. Wie in den britischen Filmen ist die Rettung der Gemeinschaft das Produkt kollektiver Aktion und einer Idee, die nur gemeinsam umgesetzt werden kann. BRASSED ÜFF und THE FULL MONTY, so John Hili, böten einen gewissen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten kollektiver Aktionen. Mit den Seifenopern des Fernsehens (beispielsweise Coronation Street GB, seit 1960) hätten diese Komödien eine Repräsentation von Arbeiterklassenleben im Sinne einer geografisch gebundenen Gemeinschaft, in der jeder jeden zu kennen scheine, selbst in einer Stadt von der Größe Sheffields, gemeinsam »they celebrate the recovery, in a post-industrial context, of the collective spirit that such communities have traditionally stood for even if the shared experience of work which they originally grew out of has disappeared« (Hili, J. 2000: 183). Dies gilt offensichtlich ebenso für PECKER. Während die britischen Arbeiterklassefilme der 1990er jedoch zumeist die Männlichkeit in der Krise und mit den Verlust des Arbeitsplatzes den Verlust der Identität als Mann in den Mittelpunkt rücken, die mit dem Zusammenbruch der sozialen Rolle des Mannes als Ernährer und Familienoberhaupt einhergingen (ebd.), demontiert Waters derartige Klischees weiterhin ungeniert und intelligent. Sein Mann in der Krise, Peckers Vater, steht nicht im Mittelpunkt des Films und es ist nicht seine Vorstellung von einer >heilen Weltinneren Werten< aller Helden, auf Gutmütigkeit und Gottvertrauen, die treuen tollpatschigen Helden und patenten Frauen, der >ehrliche, gute< Humor, die >Vorzüglichkeit< scheinen eine Camp-Lesart geradezu zu verbieten. Wenn Pecker in der Eingangssequenz mit dem Bus nach Hampden fährt, ist am Ortseingang ein überdimensionales Schild zu sehen, auf dem steht: »HAPPIN ESS IS TO HELP EACH OTHER«. Jeffrey Richards führt Capras Filme auf populistische Strömungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, die ein Gegenmittel gegen die rücksichtslose Philosophie des reinen sellhelp einforderten. Dieses wurde von populistischen Mittelklasse-Autoren, die in erster Linie für Zeitschriften arbeiteten, geliefert, als sie den Grund für die amerikanische Misere in dem Verschwinden gutnachbarlicher Beziehungen ausmachten. Ihre Antwort lautete also, dass die, denen es besser ging, denen helfen sollten, denen es weniger gut ging, mit anderen Worten: self-help mit Hilfe von Humanität zu zähmen. In ihren Augen war nichts grundlegend falsch am Land, und wenn sich nur Freunde zusammenfanden und die Menschen sich gegenseitig liebten und sich halfen, würden alle Probleme ohne die Einmischung von Behörden und Regierung gelöst werden können. ln this way they could restore that •world of the day before yesterday'. Thus a new dimension was added to populism, good neighbourliness. [ ... ] These then are the elements of Populism: equality of opportunity, self-help tempered by good neighbourliness, leadership by decent men, opposite to Big Business Complexes, Political Machines, the lntellectualism obtrusive centrat government. These are the elements from which Capra was to fashion at least half a dozen film masterpieces. (Richards, J. 1976: 67)

Auch in PECKER geht es um das Konservieren eines Zustands in einer durchaus glücklichen Gemeinde, die erst durch externe Einflüsse aus dem gewachsenen Gleichgewicht geworfen wird. Und Pecker selbst ist den CapraHelden ähnlich, die Jeffreys als Kombination aus der klassischen Figur des selbstlosen Einfaltspinsels, ohne Verbündete außer Gott und keinem Schutz außer seinem eigenen Gutsein, der tatsächlich jeden und alles liebt und common sense (ebd.: 68) beschreibt. Ihnen wohne ein Element uneingeschränkter Jungenhaftigkeit inne, die ihre Unschuld reflektiere: Deeds, der das Geländer seines Hauses herunterrutscht und George Bailey (in IT' S A WONDERFUL LTFE), der seinem Mädchen vorschlägt, barfuß durch das Gras zu laufen, den Mount Bedford zu besteigen und durch den Pool zu schwimmen (ebd.: 70). Oder eben Pecker, der Shelley seine Weltsicht zu erklären versucht: Pecker: »Kunst ist überall.« Shelley: »Ja, in einer Wanne voller Dreckwäsche. « Pecker: »Ja, ist sie, wenn du darüber nachdenkst.« Shelley: »Das zarte Gelb eines verpissten Lakens.« Pecker: »Ja, ja, mach weiter, alles das, was du j eden Tag siehst.« (Seq. 4) Shelley entspricht zwar nicht unbedingt in allen Punkten den im Stadtdschungel abgehärteten Mädchen, die vor dem unverhohlenen Gutsein und der Unschuld des Capra-Helden dahin schmelzen (ebd.: 69); ihre Ruppigkeit und ihr Misstrauen jedoch lassen sie Pecker anfangs ebenso überlegen erscheinen, bis sich seine Naivität und Vorurteilslosigkeit als überlegene Eigenschaften herausstellen. Auch ist ihre Schönheit ähnlich kantig wie die beispielsweise Barbara Stanwycks. Im Vergleich zu Capra zwar deutlich gemäßigt und meist nicht absichtlich sind aber auch in PECKER die Feinde dieser >liebenswert naiven Weitsicht< zu Beginn die Intellektuellen,

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the patronizing, jargon-ridden, ivory tower dweller, isolated from the common people. lt is the lntellectuals who is blamed for all the ills of society, for bringing in innovations, for adulterating the American philosophy with outlandish ideologies (Darwinism, Freudianism, Communism), >isms' which al smack of Europe, Decadence and impiety, the very things the Pilgrim Fathers had sailed to the New World to escape. (Ebd. 70)

Und wie bei Capra gibt es auch in PECKER keinerlei Zweifel, wo die gute Nachbarschaft überlebt hat: Smalltown, U.S.A. Hampden, >Small-suburbiaParalleluniversumSünde< gelten konnte. Insbesondere verleihen die Behörden konservativen Ansichten ein Gewicht, das diese vorher nicht hatten, weil alle Bewohner Hampdens sich gleichermaßen machtlos fühlen konnten. Nun jedoch ist der Artikel 12/203 (das Schamhaarverbot) mit polizeilicher Gewalt durchsetzbar (Seq. 15). Hier treffen sich so radikal unterschiedliche Charaktere wie Henry David Thoreau, Charles Mansan (von dem Waters erklärtermaßen fasziniert ist), Frank Capra, der Una Bomber Theodore Kaczynski oder der Attentäter auf das Oklahoma City Building Timothy McVeigh in ihrer Ablehnung staatlicher Behörden und Organisationen. Waters nutzt die dem Pursuit of Happiness innewohnende Sentimentalität aus, um ein so ursprünglich nicht vorgesehenes, glückliches Amerika zu propagieren und das gesellschaftliche Wertesystem auf den Kopf zu stellen, indem er diejenigen feiert, so Stephen Brophy, die am Rande der Gesellschaft leben, während er das Verhalten derjenigen, die die gesellschaftliche Mitte besetzt halten, gnadenlos karikiert, was dazu fuhre, dass seine Filme je nach Standpunkt ausgesprochen warmherzig oder eben boshaft erscheinen können. (Brophy, St. 1998: online). So schafft es Waters, wie es Judith Halberstam auch in BABE (1995, R.: Chris Noonan) beobachtet, gleich reihenweise »denaturalisierte Identifikationen« zu eröffnen: (A] great example of denaturalized identification was featured as a comic device in the 1995 movie Babe. This film tells the story of the little pig who wants tobe a sheepdog partly because he realizes that pigs get eaten on the farm and dogs don' t, and partly because all his primary connections and identifications are with dogs. Babe depicts the triumph of function over form when the pig, Babe, proves to be a better sheepdog than a sheepdog. The success of Babe's dog performance depends on assumptions of the rote 'dog' with a difference. Babe does not merely mimic the chief sheepdog or try to Iook like a dog; he appropriates dogness, learns dog functions, and performs them. Whereas the master sheepdog presumes his superiority over the sheep, Babe refuses to construct a new hierarchy or to pre-

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serve natural hierarchies; instead he proves his willingness and ability to herd and shows proper respect for the sheep and above all takes pleasure in his dogness. The film remarks on the comic disarticulation of dogness from dogs and suggests that the logic of the unnatural allows for pigs to be dogs, and in a moving subplot, it even allows ducks tobe cocks or roosters. (Halberstam, J. 1998: 255)

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8.5 Inner City Blues 61 - Weibliche Promiskuität und Moralvorstellungen im Amerika der 1990er in SuE (USA 1997, R.: Amos Kollek)

··Verlieren Sie Ihr Herz niemals an etwas Wildes, Ungezähmtes, Mr. Bell•• riet ihm Holly. ··Das war Doks Fehler. Immer brachte er sowas mit heimgeschleppt. Einen Habicht mit geknicktem Flügel. Einmal eine ausgewachsene Wildkatze mit einem gebrochenen Bein. Aber man soll sein Herz nicht an solch wildes Zeugs verlieren je mehr man das tut, desto stärker werden die. Bis sie stark genug sind, um da· vonzulaufen, fort in den Wald. Oder auf einen Baum fliegen. Dann einen höheren Baum. Dann den Himmel. So wird's zum Schluß ausgehen, Mr. Bell. Wenn Sie Ihr Herz an solch ein wildes Tier verlieren. Dann schauen Sie zum Schluß nur hinauf in den Himmel.•• (Truman Capote, Frühstück bei Tiffany (1988:60)) Als ich jung war, dachte ich, ich würde nie aus New York wegziehen, aber es kam der Tag, da konnte ich es nicht mehr ertragen, dass ich alle kannte. (Sarah Schulman, Schimmer (2001 :9))

8.5.1 Handlung und Charaktere Amos Kolleks Sue (Anna Levine Thomson) lebt im New York Rudolph Giulianis. Sie hat vor einiger Zeit ihre Stelle als Anwaltsgehilfin verloren und kann seit Monaten ihre Miete nicht mehr bezahlen. Zu Beginn des Films wird ihr von ihrem Vermieter freundlich aber bestimmt eine vierzehntägige Frist zur Begleichung ihrer Schulden gestellt. Sue begibt sich auf Arbeitssuche, wird aber ebenso freundlich und bestimmt regelmäßig abgelehnt (Seq. 1, 5, 8). Ihr Werdegang erscheint suspekt, ein Abschluss in Psychologie und Kurse in modernem Tanz, danach hat sie zwölf Jahre als Angestellte in einer Anwaltskanzlei gearbeitet. Ihr Auftreten ist unbeholfen, überängstlich und zugleich übereifrig, dann wieder stolz und abweisend. Ihre Kleidung ist zwar stilvoll, aber nicht zeitgemäß, irgendwann in den 1980er Jahren stehen geblieben, mit Reminiszenzen an Audrey Hepburn als Holly Golightly in BREAKFEAST AT TTFFANY'S (1961, R.: Blake Edwards). Immer wieder schläft sie mit Fremden, die sie in Galerien oder im Kino anspricht (Seq. 4, 8, 11 ). Meist sucht sie diese Kontakte bewusst, lässt sich aber auch auf Zufallsbekanntschaften ein. Sie kommuniziert über Sex, so sagt sie, reden fällt ihr schwer (Seq. 8). Sue leidet unter Depressionen und Angstzuständen, die sie mit Alkohol und Zigaretten zu bekämpfen versucht. Sie ist sich ihres psychischen Zustands durchaus bewusst; aber mit dem Verlust ihrer Arbeit hat sie auch den Anspruch auf medizinische Leistungen verloren. Ihre an Alzheimer erkrankte Mutter, die in einem Heim weit weg von New York lebt, kann sich am Telefon nur selten an sie erinnern. Und in ihrer Einsamkeit beginnt Sue eine Unterhaltung mit der Gesprächsvermittlung (Seq. 8). Im Verlauf des Films trifft Sue die für sie relevanten Personen jeweils zweimal - scheinbar zufällig, was in New Y ork geradezu unmöglich ist:

61 aus Marvin Gayes Album •·What's Going On« (1971)

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Willie (Robert Kya-Hill), einen afroamerikanischen Rentner, der sie auf einer Parkbank anspricht und sie erst darum bittet ihr bei seinem Kreuzworträtsel zu helfen und danach, ihm ihre Brüste zu zeigen, was sie tut (Seq. 2); Lola (Tahnee Welch), eine drogensüchtige Prostituierte, mit der sie eine zeitlang ihre Wohnung teilt (Seq. 5); Linda (Tracee Ellis Ross), eine Psychologiestudentin aus Los Angeles, die in der Bar ihres Vaters arbeitet (Seq. 6) und Ben (Matthew Powers), den geschiedenen Reisejoumalisten, der sich in sie verliebt (Seq. 5, 7). Sue freundet sich mit Linda an (Seq. 6), beginnt ein Verhältnis mit Ben (Seq. 7) und bekommt schließlich eine Stellung in einer Anwaltskanzlei (Seq. 9), die ihr allerdings schon nach kurzer Zeit ohne Angabe von Gründen gekündigt wird (Seq. 12). Ben muss nach Indien fliegen (Seq. 10) und Linda zurück nach Los Angeles (Seq. 9). Lola wird überfahren, nachdem sie Sue, ohne sie zu erkennen um einen Dollar angebettelt hat. Und Willie findet sich nicht mehr auf der Parkbank ein (Seq. 13, 14). Sue nimmt einen schlecht bezahlten Job als Kellnerin an. Sie wird aus ihrer Wohnung geworfen und übernachtet vorübergehend in einem Stundenhotel, in dem sie die Prostituierte Lisa trifft (Seq. 13). Als Ben zurückkehrt und Linda ihr erneut anbietet, ihr Geld zu überweisen, ist sie bereits psychisch und physisch derart von ihrem täglichen Überlebenskampf gezeichnet, dass sie nicht mehr in der Lage ist zusammenhängend zu kommunizieren. Das Schlussbild zeigt sie in sich zusammengesunken aufeiner Parkbank sitzend (Seq. 14).

8. 5. 2 Analyseperspektiven Vorherrschender Tenor in den Kritiken zu Amos Kolleks Sue war, dass hier eine bis zuletzt würdevolle Frau gezeigt wird, die an ihrem Lebenswandel, der Anonymität und der Entfremdung in der Großstadt New York, an der Einsamkeit und ihrer Bindungsunfahigkeit scheitert (vgl. u.a. Feldvoss, M . 1999: online ). Die Prämisse dieser Einschätzungen bedeutet jeweils, Sue ihre Entscheidungsfahigkeit und Autonomie abzuerkennen, zu ignorieren, dass sie möglicherweise die Anonymität der Großstadt und die Bindungslosigkeit suchte, um ein Leben fiihren können, Ttir das sie sich selbst bewusst entschieden hat. Björn Vosgeraus Kritik ist überschrieben mit der Zeile »Kollek entwirft keinerlei Gesellschaftskritik« (ebd.). In dieser Analyse soll untersucht werden, ob in Kolleks Film in der Kontextualisierung mit den politischen Umständen im New York und Amerika der späten 1990er nicht doch durchaus gesellschaftskritische Aussagen auszumachen sind. Darüber hinaus werden die Repräsentationen von race, gender, class und die Darstellung der Großstadt in Sue analysiert, problematisiert und mit anderen filmischen Beispielen kontextualisiert. Die Frage ist, ob Sues Promiskuität als pathologisches Phänomen gedeutet werden muss oder als eine legitime selbst gewählte Form sexueller Präferenz einer >autonomen< Persönlichkeit. Womit ihr Lebenswandel nicht mehr eine Reaktion auf Depression oder Angststörungen wäre, sondern eine Konstante in ihrem Leben, die erst durch den Verlust ihrer finanziellen Absicherung gravierend bedroht wird.

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8.5.3 Kontext: Amerkan & New York Welfare PolWes Der ehemalige republikanische Senator J ohn Ashcroft62 schrieb 1995 im St. Louis Dispatch über die Innenstädte Amerikas, dass sie die Stätte »wild wuchernder Unrechtmäßigkeit und Ehelosigkeit« seien, ein »disziplinloser Raum« (Ashcroft, J. 1995 zit. n. Adair, V. C. 2002: 462). Vivyan C. Adair weist darauf hin, dass für Ashcroft nicht die materielle Armut den Verfall der Städte bewirke, sondern ein Anspruchssystem, das es armen, außer Rand und Band geratenen Frauen erlaube, die traditionelle patriarchalische Autorität, Werte und Grenzen zu verstören. (Adair, Vivyan C. 2001: 462). Amos Kolleks Sue ist eine dieser armen Frauen im >disziplinlosen Raum< New York, die die von Ashcroft eingeforderten Werte durch ihren Lebenswandel in Frauge stellt und sie letztlich unterminiert. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1996 entbrannte eine Diskussion um das amerikanische Wohlfahrtssystem, in deren Verlauf von Seiten konservativer Politiker der moralische Verfall Amerikas beklagt wurde. Unverheiratete Mütter, so genannte welfare queens, die schamlos auf Kosten der Gesellschaft lebten, der Verlust elterlicher und schulischer Autorität, Gewalt und hemmungslose Sexualität in den Medien, sexuelle Perversionen und Promiskuität; all dies sei zurückzuführen auf ein ausuferndes Wohlfahrtssystem, das die traditionelle Familie untergrabe, u.a. indem es Frauen ein ungebundenes Leben ermögliche, und auf die sexuelle Revolution der l960er. »if the state has usurped some of the functions of the family, the sexual revolution has subverted the very conception of the traditional family« (Himmelfarb, G. 1999: 54). Ein Großteil der Vertreter der religiösen Rechten, der moral conservatives und der intellektuellen Vordenker der Konservativen sahen in Bill Clinton einen der Verantwortlichen dieser Entwicklungen in den 1990ern, »as someone at the pinnacle of power whose sexual behavior and social policies had contributed to the continuing moral corruption and decay of the country« (Berman, W.C. 2001: 91). Clinton jedoch, der sich bereits früh von seinen progressiv liberalen Wurzeln losgesagt hatte, wollte nach dem rechten backe lash des Jahres 199463 mit dem Slogan »end welfare as we know it« und der Ankündigung einer grundlegenden Umstrukturierung des Wohlfahrtssystems politisch Punkte machen, indem er der in Amerika mittlerweile weit verbreiteten Ansicht, dass Geld an Menschen verschwendet wurde, die es nicht verdienten, Rechnung trug (ebd.: 64). Aufgrund von Vorbehalten innerhalb seiner eigenen Partei war er nicht in der Lage, ein eigenes Programm durchzusetzen, unterzeichnete aber letztendlich ein ähnliches, von den Republikanern eingereichtes Programm, das die Unterstützung für Arbeitslose und Kranke weitgehend einschränkte und den Bundesstaaten größere Freiheiten im Umgang mit Hilfsbedürftigen gewährte. In New York ersetzte Bürgermeister Rudolph Giuliani we(fare- durch workfare-Programme, die Empfänger staatlicher Zuwendungen dazu verpflichten im Gegenzug für die Stadt zu arbeiten, was heißt, jeden angebotenen Job anzunehmen und meist entsprechend auffällige Uniformen zu tra62 John Ashcroft wurde im Jahr 2001 von George W. Bush zum Justizminister der USA berufen . 63 Als die Republikaner bei den Wahlen zum Kongress erdrutschartige Siege errangen.

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gen. 64 Diese Entwicklung gipfelte darin, dass seit 1998 selbst körperlich oder psychisch erkrankte Menschen an derartigen Programmen teilzunehmen haben. [ ... ] Mayor Rudy Giuliani, riding a welfare reform machine that is bulldozing the paar across the United States, has decreed that every New Yorker, regardless of physical and/or mental disability, must work in exchange for city aid. (.. . ] So, under a new welfare-to-work program, [... ] 35,000 [... ] disabled people risk having their benefits slashed or stopped if they refuse to accept a city-ordered job [... ] [A woman] [... ]lost all benefits because she needed time from work to go to doctors' appointments for treatment for a long-term mental disability (Kenna, K. 1998: online). Bis zum Jahr 2000 hatte Giuliani die Zahl der Wohlfahrtsempfänger um die Hälfte reduziert, indem er mehr als 640.000 Menschen aus der Abhängigkeit vom Staat >befreite< und ihnen somit das vermittelte, was er als die »Würde der Selbstgenügsamkeit« beschrieb (Jones, Ch. 2001: online). Giuliani hatte bereits kurz nach Amtsantritt alle bis auf eine Zulassungsbehörde schließen lassen und die Bedingungen für Unterbringung in einer städtischen Unterkunft verschärft. Und während die Mieten unablässig stiegen, weigerte er sich, Geld für billigeren Wohnraum zur Verfügung zu stellen (vgl. Santos, F./ Ingrassia, R. 2001: online). Gleichzeitig wurde aufgrund einer gewinnorientierten Immobilienpolitik die Anzahl billigerer Wohnungen und Single Room Occupancy Hotels, in denen sich bis dahin viele Obdachlose aufgehalten hatten, dezimiert (vgl. Ledermann, R. 1999: online). Giulianis Ziel einer >sauberen< Stadt, das er u.a. mit der Entfernung von Sexshops, Sexclubs und adult bookstores aus Einkaufsgegenden, dem Verbot analer und vaginaler sexueller Aktivitäten an öffentlichen Treffpunkten65 , der Vertreibung der Obdachlosen aus der Innenstadt, und vor allem mit der von seinem Polizeichef William Bratton entwickelten »zero-tolerance«-Politik zu erreichen versuchte, resultierte darin, dass New York City seit 1995 in FBI-ratings zur >sichersten< Großstadt Amerikas erklärt wurde. Auf der anderen Seite partizipierte die N ew Y orker Bevölkerung weniger an dem Mitte der 1990er Jahre langsam einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung als ein Großteil der übrigen Staaten Amerikas. Anders als während der Rezession von 1981-82 waren in den fiiihen 1990ern neben Arbeitern vor allem Angestellte von Arbeitslosigkeit betroffen. Mit ihrer Arbeit verloren diese oft auch ihre Krankenversicherung, die an den jeweiligen Arbeitgeber gebunden war. Bis 1997 wurden zwar 10 Millionen neuer Arbeitsstellen geschaffen, diese allerdings überwiegend im Niedriglohnsektor und ohne Vorsorgeleistungen, was dazu führte, dass viele Amerikaner mehrere Jobs 64 Derartige Programme werden auch in Deutschland angedacht bzw. wurden be-

reits vor den Hartz IV-Reformen und danach umso rigoroser umgesetzt. 65 Vorgeblich aus Gründen der AIDS-Bekämpfung, nur dass ebenso sexueller Ver-

kehr auch trotz der Verwendung eines Kondoms verboten wurde. »New York City's war against sex has the support of conservative gay »Ieaders" who are alarmed by rising HIV rates, praised by Giuliani & Co. for saving promiscous, diseased gay men from themselves. Though Giuliani may be popular with assimilationists, he's soundly criticized by queer activists who believe in sexual freedom, both for its own sake and as the basis for lesbian / gay/bisexual/ transgender Iiberation. (What use is the right to marry if a »Sodomy law« "forbids« you from doing anything an your honeymoon?)" (Monteagudo, J. 1997: online)

302 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? annehmen mussten, um ihre Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Trotzdem galten die Jahre von 1993 bis 2000 als Jahre des wirtschaftlichen Booms ( vgl. Parrott, James/Meaker, Alice/Nowakowski, Zofia 1999: online).

8.5.4 lntertextualität: John Cassavetes, Ken Loach Amos Kollek sagt, dass er viele schöne, intelligente, allein stehende Frauen aus unerfindlichen Gründen in ein selbstzerstörerisches einsames Leben habe abrutschen sehen und dies sei es, was er in dem Film habe untersuchen wollen (o.V., Filmmaker Magazine ProductionUpdate 1997: online). Seine >Untersuchung< scheint sich auf den ersten Blick eher der Mittel eines John Cassavetes als derer eines Ken Loach zu bedienen. Cassavetes' >verwirrte< Frauenfiguren müssen sich am Ende ihrem >wahren Ich< stellen, sich öffnen für Verletzungen und Einflüsse. Sie sollen, zumindest laut Ray Carney ( 1994), im Gegensatz zu den männlichen Protagonisten, die sich der Öffnung verweigern und darunter letztendlich zu leiden haben, danach streben vollkommen expressiv zu werden, indem sie sich nach außen vervielfältigen und sich j eglieher Begrenzungen eines einheitlichen Selbst in Wellen von Mitgefühl und Vorstellungskraft entledigen. Auf der anderen Seite, so Carney, werden sie vollkommen erwidernd, indem sie die Bedürfnisse und Gefühle der Anderen in ihr Auftreten integrieren und in beiderlei Hinsicht das Ich über das individuelle Selbst hinausbewegen und mit anderen verschmelzen. They knock down the walls of the self and make their identities fluidly responsive to ebbs and flows of energies, both those that originate inside themselves and those outside. The self becomes only a kind of permeable membrane through which impulses pass in both directions. Endlessly affering and receiving intimacies, it shows itself capable of energetically reforming itself in multiple, shifting identities. To change the metaphor, the self becomes an open-ended conduit. lt is no longer a package of attributes but a line of fluid communication back and forth, in and out. (Carney, R.1994: 241) Ein derartiger Ansatz betont, trotzaller positiver Bewertung des Weiblichen, wieder einmal nur die Dichotomie von männlich - weiblich als männlich = fester Aggregatzustand und weiblich = flüssiger oder gasförmiger Aggregatzustand. In Cassavetes' Shadows66 (1959) heißt dies, dass Lelia, die sehr oberflächlich gesehen, Sue gleichen mag (sie lebt in New York, flirtet viel mit verschiedenen Männern), nach einer Enttäuschung durch den Mann, der sie entjungferte, lernen muss sich durch diese Enttäuschung nicht zu verhärten, kein falsches Selbst vorzutäuschen und weiterhin ft.ir >echte< Beziehungen offen zu bleiben. Lelias Bruder Ben dagegen verschließt sich nach wie vor jeglicher Intimität und Nähe. Laut Ray Carney »[h]is >like a rolling stone< pose dooms him to go through life alone« (ebd.: 40). Aber in Ben bzw. den männlichen Figuren Cassavetes' und nicht in Lelia bzw. den weiblichen 66 Carney berichtet, dass Cassavetes sich häufig darüber beschwerte, dass die Tatsache, dass Lelia und Ben Afroamerikaner sind, die allerdings meist für Weiße gehalten werden, als Hauptproblematik des Films ausgemacht wurde und somit die Frage von race sein eigentliches Thema überspiele. Im Rahmen dieser Analyse spielt diese Frage tatsächlich keine Rolle. Sie sollte allerdings mit Blick auf das Ende des Films, während ihr Geliebter weiß war, ist der Mann, bei dem sie ·zur Vernunft kommt· schwarz, nicht vorschnell beiseite ge· schoben werden.

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Figuren findet Sue ihre Entsprechung. Fraglich ist überdies, ob Genseits der konservativen Rollenverteilung) das so gezeichnete zukünftige Leben Bens tatsächlich im Vergleich zu dem Lelias in einer festen heterosexuellen Beziehung mit einem offenkundig autoritären Mann als >Verdammnis< bewertet werden kann. In der Lesart Cameys ist Cassavetes' Ansatz unpolitisch, insofern als er die Verantwortlichkeit von Systemen und Gesellschaft vollständig negiert. Ganz anders Ken Loach, dessen Filme in erster Linie die Auswirkungen ungerechter gesellschaftlicher Strukturen auf das Individuum zum Thema haben. Loachs CATHY COME HOME (GB 1966) beispielsweise behandelt wie SUE weibliche Obdachlosigkeit, setzt aber wesentlich leichter lesbare politische Akzente und protestiert, so Jacob Leigh, gegen Obdachlosigkeit und die Methoden, mit denen im Großbritannien der 1960er mit ihr umgegangen wurde. CATHY COME HOME kombiniert Bilder und Geräusche, die die wirklichen Lebensumstände, mit denen obdachlose Menschen konfrontiert werden, zu dokumentieren scheinen. Dadurch, dass der Film sich auf eine Person, Cathy, fokussiere, die sich allein gegen eine ungerechte Verfolgung durch ein ideologisches System (Legislative, örtliche Behörden und klassenbedingte Vorurteile) wehren muss, qualifiziere sich CATHY COME Horne als melodrama ofprotest. Eine Sichtweise, die letztlich durch die Darstellung der W ahnungsamtangestellten als rigoros und unsympathisch und die schnelle Abfolge der Episoden, die Cathys Verfall beschreiben, unterstützt wird (Leigh, J. 2002: 46). Ziel ist das Erkennen gesellschaftlicher Strukturen, die selbst exekutierende Elemente, wie die parteiischen und ungerechten Sozialarbeiter in dem auf einem tatsächlichen Fall beruhenden Film LADYBIRD, LADYBIRD (GB 1994, R.: Ken Loach) zu Instrumenten eines Systems von Regeln und Codes machen, wodurch individuelle Schuldzuweisungen schwierig werden (ebd.: 155). Letztlich erscheinen die gegen Maggie ergriffenen, oft unplausiblen Maßnahmen als ein allein der weiteren Repression bereits Unterdrückter dienendes Regelwerk, mit dem ausschließlich Machterhalt gewährt wird und klare Grenzen zwischen >Unten< und >Üben< garantiert werden können. Laut Leigh sind dies im Rahmen eines >Melodramas des Protests< Aktionen eines Feindes gegen einen Unschuldigen (ebd.). In Kolleks SUE ist der Vermieter eigentlich >nett und rücksichtsvollKunst mit Botschaft< weitestgehend verpönt ist, kaum verwunderlich. Auf der anderen Seite wurde wiederholt kritisiert, dass er Sue nicht mit einer Vergangenheit ausgestattet habe (vgl. Vosgerau, B. o.J.: online). Tatsächlich bietet der Film oberflächlich gesehen zwei mögliche Lesarten zum Verständnis von Sues Verhalten an. Die erste könnte besagen, dass in einer Welt, in der die Familie ihren Wert verloren hat, Einsamkeit und Verfall vorherrschen müssen. Dass die Wertvorstellungen allein stehender Frauen pervertiert sind, weibliche Einsamkeit in den Wahnsinn und weibliche Promiskuität unweigerlich zum Tod führt und Frauen nur in einer monogamen heterosexuellen Beziehung ein glückliches und erfülltes Leben führen können. Hierfür spräche, dass Sue, die Bens quasi Antrag ausschlägt, und Lola, die sich prostituiert, sterben oder zumindest verarmen und leiden müssen und Linda, die einen familiären Rückhalt hat und vielleicht einen Freund

304 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? in Los Angeles, finanziell abgesichert überleben darf. Eine Bestätigung der konservativen These, dass das soziale Netz und die sexuelle Revolution, deren Kind Sue selbsterklärtermaßen ist, verheerende Konsequenzen nach sich ziehen. Andererseits stattet Kollek Sue eben doch mit einer Vergangenheit aus, nicht als geschlossene Erzählung, sondern als Fragmente, die in einzelnen Gesprächen wie beiläufig erwähnt werden. So kristallisiert sich langsam eine im Verlauf der folgenden Analyse entwickelte Auffassung heraus, die Sue weitaus mehr (sexuelle) Autonomie und Würde gewährt als die erste. Häufig >missverstanden< wurde Sues Einsamkeit als Pamphlet gegen die Großstadt. Der Film wartet mit einem entsprechend suggestiven, fast allzu nahe liegendem Bild auf: Sues Abhängigkeit von ihrem alten, ständig kaputten Fernseher. Sven, der Elektrotechniker, der ihr einen neuen schenken will, trifft sie auf der Treppe zu ihrer Wohnung, aus der sie bereits herausgeworfen wurde. Diesen neuen, viel zu schweren Apparat schleppt sie, sichtlich überanstrengt, noch die Stufen zu ihrem Hotelzimmer hoch. Darüber hinaus leidet Sues Mutter an Alzheimer und wohnt in einem Pflegeheim in Seattle. In einem Telefonat mit ihr ist Sue fürsorglich und bittet sie, sich keine Sorgen zu machen. Sie verspricht ihr, sie zu Weihnachten in ihrem Heim zu besuchen: »[D]ann machen wir zwei es uns gemütlich, nur wir zwei al/eine, okay?« (Seq. 12) Obwohl sie vermutlich weiß, dass das nicht möglich sein wird. Und manchmal, wenn Sue anruft, erinnert sich ihre Mutter nicht an sie, legt einfach auf. Es gibt sonst niemanden mehr aus ihrer Vergangenheit. Als sie die Telefonnummer ihrer Mutter vergessen hat, versucht sie in ihrem Kommunikationsbedürfnis ein Gespräch mit der Vermittlung anzufangen. Sue: »Legen, legen Sie noch nicht auf Ich will nur, ich will nur "ne Minute mitjemandem sprechen. Sie klingen so sy mpathisch.« (Seq. 2) Dem Bild einer kalten, rücksichtslosen Großstadt wird keine traute Familienidylle auf dem Lande, keine miteinander vertraute Gemeinschaft entgegengesetzt. Es gibt sonst keinerlei Bindungen, die sie sich bemüht aufrecht zu erhalten, nur zwei weit voneinander entfernte einsame Frauen und die vage Andeutung, dass Sue den Kontakt selbst zu ihren eigenen Kindem abgebrochen hat. Linda: »Du musst doch Freunde haben.« Sue: »Nein.« Linda: »Was heißt nein?« Sue: »Weißt du, irgendwie hab' ich sie aus den Augen verloren. Freunde, Familie, Kinder. Jeder geht den eigenen Weg, sucht sich 'nen Job.« Heimat existiert nicht. Wie der Melancholiker in Charles Baudelaires L 'Etranger ist sie eine »radikale Fremde« (Neumeyer, H. 1999). Wie er hat sie weder Familie noch >richtige< Freunde und scheint nie eine wirkliche Heimat besessen zu haben. Der Fremde »kennt [ ... ] keinen besonderen Verlust, sondern lediglich eine Reihe von Werten, die Gegenstand seiner Liebe hätten sein können, die ihm aber allesamt verloren gegangen sind« (ebd.: 128). Baudelaires Fremder liebt nur die flüchtigen Wolken, heimatlos und »die Kette der Verluste in einem permanenten Verlieren artikulieren[d]« (ebd.). In Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne (1999) deutet Harald Neumeyer diese Liebe zu den Wolken als Liebe zu dem endlos wiederkehrenden Entzug, als Liebe zum Grund seiner Melancholie, letztlich halte er an ihr »als dem, was ewig wiederkehrt fest« (ebd.). Ähnlich mag man Sues Verlangen nach flüchtigen Beziehungen, nach Unverbindlichkeit interpretieren. Wobei die »Liebe zum Symptom« (Slavoj Zizek) meist eher fragwürdig ist. Hier angesichts der Tatsache, dass erst der Verlust ihrer finanziellen Unabhängigkeit, wie später noch zu untersuchen

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sein wird, ihren Lebenswandel zum gravierenden Problem macht, einen Lebenswandel, den die >Anonymität< der Großstadt erst gewährt. In SuE kommt die tatsächliche Größe der Stadt nur noch in den Geräuschen zum Ausdruck, im nicht abbrechenden Lärm des Straßenverkehrs. Sue: »Wo kriegst du denn sonst so eine Geräuschkulisse?« Aber Sues New York ist klein geworden, keine Wolkenkratzerimpressionen, kein glitzernder menschenüberfluteter Moloch, gerade so groß, wie ihre Angstzustände und Depressionen es erlauben. Es ist so klein wie das New York in You'VE GoT MAlL (1998, R.: Nora Ephron), jedoch ohne dessen süßliche Idylle. Leonard Quart schreibt, dass [w]hat one remembers after watehing this film [You'vE GoT MAlL, Anm. d. Verf.] are the affluent, smart·looking people sitting in cafes; [... ] beautiful smallstores opening on a sunlit morning; and the streets filled with handsome brownstones and blossoming trees. There are no homeless people camped on the sidewalks, just a glistening, pedestrian-filled, brightly coloured urban neighbourhood that anybody in the audience who likes cities would want to live in. (Quart, L. 2002: 102)

8.5.5 Zur Produktionsweise SuEs und der filmischen Repräsentation der Großstadt Der aus Israel stammende, in Amerika filmende Regisseur Amos Kollek, der neben einem Dokumentarfilm über seinen Vater, den ehemaligen Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek, in erster Linie Filme über Frauen am Rande der Gesellschaft macht (arbeitslose Frauen, Prostituierte, Kellnerinnen, Emigrantinnen), drehte SUE innerhalb von zwei Wochen im Winter mit einem kleinen Team. Bei seinem Nachfolgefilm FtONA (1998), ebenfalls mit Anna Thompson in der Hauptrolle, waren am Set nur die Schauspieler und der Kameramann Ed Talavera mit einer 16mm Handkamera anwesend, während Kollek selbst für Ton und Licht verantwortlich war. Das Licht in SuE ist kalt, die Musik ist auf ein Minimum reduziert und unterstreicht die Melancholie unaufdringlich. Die Menschen sind grau, blass und verfroren. Meist halten sich an den Orten, die Sue aufsucht, nur wenige Personen auf, halbleere Bars, der Schnellimbiss an der Ecke, dessen Atmosphäre sicherlich nicht zufällig an Edward Hoppers millionenfach kopiertes Nighthawks erinnert, der Park, der wegen der Kälte gemieden wird. Die Ablehnung allerdings, die Sue erfährt, geht von Individuen aus, nicht von der anonymen Masse des gewalttätigen Molochs. In Giulianis New York kann sie unbehelligt mit der U-Bahn fahren. In der >sichersten< Großstadt der Vereinigten Staaten können allein stehende Frauen des Nachts ohne Furcht Spazieren gehen. Die Stadt ist sauber und nicht länger Zentrum des Lasters. Die »attack-first, ask-questions-later«Mentalität der Polizei hat die Kriminalität aus der Innenstadt verdrängt und andere Gewaltstrukturen sichtbar gemacht. Und auch diese hegemonialen Strukturen sind feindlich gegen Menschen wie Sue. Es ist nicht mehr die Stadt, die Martin Scorsese in TAXI DRIVER (1976) beschrieben hat, in der »Gewalt die Sprache der chaotischen Gesellschaft ist« (Cagin, S./Dray, Ph. 1994: 197). [T]he city is an inferno: ln the film's opening image, Travis's bright yellow taxi slowly emerges from a column of smoke that rises out of the street. And then we

306 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? see his world, through the taxi windscreen, distorted by raindrops and the slap of his windshield wiper, ever shifting as he glides past scene after scene of gaudy street life. [ ... ] Every night, he writes in his diary, he has to remove the blood and semen from the back seat of the cab. (Ebd. : 195)

Die dystopische Stadt, das »verzweifelte Schlachtfeld, von menschlichen Monstern an der Grenze zum Wahnsinn bevölkert«, findet man, so Colin MacArthur, u.a. auch in den Filmen John Carpenters, beispielsweise in EsCAPE FROM NEW YORK ( 1981) (MacArthur, C. 1997: 3 1). Zu dieser Kategorie gehören sicherlich ebenso Ridley Scotts BLADE RUNNER (1982), Joel Schumachers FALUNG DOWN ( 1993) und 8MM (1999), David Finchers SE7EN (1995), David Lynchs MULHOLLAND DR. (2001) und eventuell Quentin Tarantinos PULP FlCTlON (1994). Ähnlich wie von Jane Augustine in der Literatur beobachtet, manifestiert sich die Stadt hier als Unterdrücker, als anti-individuell, die brutaleren, irrationalen und aggressiven Aspekte von Menschen zur Schau stellend. Die Stadt, so Augustine, führe Krieg gegen die Individuen, überwältige sie und treibe sie in den Wahnsinn. Und eine große Anzahl wahnsinniger Individuen ergebe eine wahnsinnige Stadt, womit sich ein Teufelskreis schließe (Augustine, J. 1991: 85). Sues New York ist auch nicht das Frank Sinatras, die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten: »I want to wake up in a city that never sleeps, and find I'm A-number-one, top of the Iist, king of the hill«67. Und nicht das gewalttätige, verdreckte, cracksüchtige Ghetto der Rapper Grandmaster Flash and The Furious Five: »Broken glass everywhere, People pissin' on the stairs, you know they just don't care, I can't take the smell, can't take the noise [... ] Rats in the front room, roaches in the back, Junkies in the alley with a basebaU bat.«68 Dieses Ghetto, so Leonard Quart, existiert weiterhin, trotz der radikalen Reduktion von Gewalt in Giulianis New York, »in a Bronx neighbourhood where assaults, street robberies, drug-dealing, and livery cab stick-ups remain an integral part of daily life« (Quart, L. 2002: 91).

8.5.6 Race & sex in the city Nach wie vor sind Armut und Obdachlosigkeit eine Frage von race. In New Y ork besitzen überwiegend Afroamerikaner und Latinos keine Unterkunft oder leben jenseits der Armutsgrenze (vgl. Lederman, R. 1999: online). Entsprechend haben diese beiden Bevölkerungsgruppen am meisten unter den gewalttätigen Übergriffen der Polizei zu leiden. Diese Polizei wird in SuE nicht gezeigt, wie auch die auftretenden Afroamerikaner nicht dem Drogendealer-/welfare queen-Kiischee entsprechen: Willie, dem Sue ihre Brüste zeigt69, ist Rentner und verheiratet. Bis auf den Wunsch, ihre Brüste zu sehen, belästigt er sie nicht sexuell und selbst dieser Wunsch erscheint kaum sexuell motiviert. Nachdem Sue sie ihm mit einer Geste eher des Mitleids gezeigt hat, bedankt er sich mit einem wehmütigem Seufzen und stellt keine weiteren Forderungen (Seq. 2). Schon aufgrund seines Alters, so denkt er, 67 Aus dem Song " New York, New York" (Kander, Ebb), ursprünglich gesungen von Liza Minelli im gleichnamigen Film von Martin Scorcese (1977). 68 Grandmaster Flash and The Furious Five, "The Message" (Glover, Robinson, Flecter, Griffin) von dem Album The Message (1982). 69 Eine Szene, die Kollek wohl tatsächlich beobachtet hat (Feldvoss, M. 1999: online) .

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kommt er für Sue nicht als Sexpartner in Frage. Willie: »ich wünschte, ich wäre noch jung, Sue. Und wir wären uns begegnet, als ich in Ihrem Alter war.« Sue: »Nein, dann wären wir uns niemals so nah wie jetzt.« (Seq. 9) Nur deshalb scheint er als männlicher Gesprächspartner in Frage zu kommen. Für sie repräsentiert er nicht die Ansprüche, die eine sexuelle oder PaarBeziehung an sie stellen könnte. Er ist alt, harmlos, ein asexueller Freund ganz entgegen dem Klischee des omnipotenten Schwarzen. Jun Xing verweist darauf, dass üblicherweise die Annahme, dass Schwarze sexbesessen sind, dazu diene, ihre Unterdrückung zu rechtfertigen (Xing, J. 1998: 69). Allerdings ist im Verlauf des Films keiner der Männer, mit denen Sue schläft, Afroamerikaner, Asiate oder Latino. Ihre >Zielgruppe< sind eindeutig weiße, vornehmlich wohlsituierte Männer. Auch kann das Alter nicht das einzige Ausschlusskriterium sein, denn als ein älterer Geschäftsmann sie anspricht, schläft sie auch mit diesem (Seq. 11 ). Ähnlich erscheint Sues Verhältnis zu Linda, hier scheint Kommunikation möglich, weil sie eine Frau ist. Sue: »ich kommuniziere nur durch Sex. [... ] Ich bin nicht lesbisch oder so« (Seq. 8). Der Gedanke an etwaige homosexuelle Beziehungen Sues wird somit von vorneherein kategorisch ausgeschlossen. Im gesamten Film gibt es darüber hinaus keinerlei Andeutungen homosexueller Neigungen oder homosexuelle Figuren, allerdings auch kein Beispiel einer funktionierenden monogamen heterosexuellen Beziehung als Gegenentwurf zu Sues Promiskuität. Anders als Lola und Sue, die ein ausschweifendes Sexualleben führen und regelmäßig ihre immer schlechter bezahlten Jobs verlieren, lebt Linda in geordneten Verhältnissen, scheint erfolgreich zu studieren und hat einen offensichtlich wohlhabenden Vater, der ihr ein Studium an der UCLA finanzieren kann. Entsprechend ist sie in der Lage Sue anzubieten, ihr die ausstehende Miete zu bezahlen. So scheinen die vorherrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse einfach umgekehrt zu werden. Während die weißen Frauen Lola und Sue am Rande des Existenzminimums leben, ist die schwarze Frau Linda verhältnismäßig wohlhabend. Die Situation sah 1996 allerdings immer noch so aus, dass das Durchschnittseinkommen der typischen weißen Familie das Doppelte eines typischen schwarzen Haushalts betrug (vgl. Berman, W. 2001: 106). Mit der Vermeidung des einen Klischees wird jedoch möglicherweise ein anderes evoziert, mit Lindas selbstloser Bereitschaft, Sue finanziell zu unterstützen, ihrer mütterlichen Attitüde Sue gegenüber, die u.a. in belehrenden Ratschlägen und Weisheiten zum Ausdruck kommt und in ihrer moralischen Autorität. Auf Sues Frage, warum Ben ihre Miete bezahlen solle, sagt Linda, das er, wenn er >der Mann< für sie sei, dies einfach tun werde, aus einem Gefühl für Gemeinsamkeit, Liebe und Verantwortung. Sue antwortet darauf: »Nein, nein, das könnt' ich nicht.« Linda: »Meine Nummer in Santa Monica. Linda McNeal. Ruf mich an, wenn was ist, egal was.« [Seq.9] Während der Körper schwarzer Frauen in vielen Filmen der sexualisierte Körper ist, »in other films the black woman functions not only as the sexual other, but as the matemal body, a psychic surrogate for the white mother- in short, as >MammyAsians had gatten the brain power,' my friend asserted, >but not the raw physical ability, according to the popular mind' . (Xing, J. 1998: 14)

Häufig werden Asiaten eingesetzt, um die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein des weißen Protagonisten (vor allem, wenn er mit einer Gruppe nicht verstehender, fragend bis feindselig blickender Asiaten konfrontiert wird) oder Sprachlosigkeit bzw. Missverstehen zu illustrieren. Durch die oft dargestellte Unfähigkeit asiatischer Filmcharaktere, mit den Protagonisten sinnvoll zu kommunizieren und/oder ihre >Undurchschaubarkeit< erscheinen Situationen absurd oder gefährlich wie beispielsweise in COPYCAT (1995, R.: Jon Amiel). Dem Bild des undurchschaubaren, geheimnisvollen Orientalen stehen heute die Klischees der überangepassten model minority, aber auch der >seelenlosenButterfly< oder >GeishaGeishas< (Seq. 13, vgl. Abb. 11, E 06). 72 Auch die Ver70 Die Oper Puccinis erzählt die Geschichte von Cho·Cho·San, die in Nagasaki den US·Soldaten Pinkerton heiratet. Während sie ihn aufrichtig liebt, nimmt er die (von ihm vorgetäuschte) Ehe leicht und verlässt sie. Kurz darauf gebiert sie seinen Sohn. Drei Jahre muss Cho-Cho·San auf ihn warten. Da sie sich noch immer an ihn gebunden fühlt, schlägt sie das Heiratsangebot eines Fürsten aus. Als Pinkerton schließlich nach Japan zurückkehrt, schmückt sie für ihn das Haus. Doch sie muss erfahren, dass er in Amerika erneut geheiratet hat und nur kommt, um seinen Sohn zu holen. Sie willigt schließlich ein, begeht aber kurz vor der Ankunft Pinkertons Selbstmord. »Wilkinson traces Butterfly stories back to Julien Viaud['s] [ ... ] novel, Madam Chrysanthemum." (Marchetti, G. 1993: 80) John Luther Lang übernahm das Thema 1900 zusammen mit David Belasco für die Bühne und Giacomo Puccini verwendete den Stoff für seine Oper Madame Butterfly. Marchetti verweist darauf, dass Puccini das Verdienst zugeschrieben wird, aus der ursprünglichen »pathetic story of a simple, igno· rant girl, treated as a doll-like object speaking comically mangled English" eine "grand tragedy with Butterfly as the noble defender of her honor brought down by the cruelties of her fateUnmännlichNiedergang< der >weißen Mittelklasse< seit den 1980er Jahren. Durch Reagans massiven Ausbau des Militärs und Steuersenkungen, die in erster Linie Wohlhabenden zugute kamen, stieg das jährliche Defizit um einige Milliarden, wodurch die ökonomische Sicherheit der Mittel- und Arbeiterklasse stark gefährdet wurde. William Berman beschreibt, wie Tausende von Arbeitsplätzen einfach verschwunden zu sein schienen, aufgrund einer Firmenpolitik des massenhaften Stellenabbaus73 in Amerika und der Automatisierung bzw. Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer, die u.a. den Wert dieser Unternehmen an den Börsen steigerte. Seit 1989 sanken die durchschnittlichen Einkommen, während die Gesundheitskosten rapide stiegen (vgl. Berman, W. C. 2001: llff.). Tatsächlich betrafen diese Einschnitte aber vor allem Frauen. Der Prozentsatz von Frauen in der Armutsstatistik wuchs im Verlauf der Reagan-Bush-Präsidentschaften, viele von ihnen waren unverheiratet oder geschieden, oft mit Kindern. Und während beispielsweise der >durchschnittliche< Obdachlose nach wie vor nicht-weiß, männlich und mittleren Alters war, erhöhte sich der Anteil obdachloser Frauen und Kinder (vgl. Levy, P. B. 1996:292 u. 197). Schumachers William Foster (auch O-Fens genannt), gespielt von Michael Douglas, ist ein Vertreter der white male paranoia, der selbsterklärten Opfer von Bürgerrechtsbewegungen und Feminismus, die ihnen einerseits die Arbeitsplätze und andererseits die Frauen wegnähmen (Dyer, R. 1997: I 0). Ein >durchschnittlichen weißer Mann, dessen Probleme von den Medien weitgehend ignoriert werden, der neue »Invisible Man« (Ralph Ellison). 74 Wie auch Schumacher zu Beginn des Films Foster auf einen wie ihn gerade entlassenen, gerrau wie er gekleideten Afroamerikaner treffen lässt, der protestierend von der Polizei abgeführt wird und Foster zuruft, ihn nicht zu vergessen. Das unausgesprochene Verständnis zwischen den beiden scheint sie zu verbinden, auf eine Stufe zu stellen. Die white male paranoia des Films allerdings propagiert, dass die Probleme des Schwarzen, das ihm zugefügte Unrecht, sehr wohl wahrgenommen und öffentlich diskutiert bzw. verurteilt werden, die des Weißen aber nicht, was notgedrungenermaßen in die Katastrophe führen muss. Jude Davis und Carol R. Smith (2001) argumentieren zutreffend, der Film impliziere, dass Afroamerikaner durch den Kampf gegen Rassismus und Bürgerrechte einen Diskurs entwickelt hätten, der es ihnen ermögliche, ihre Unterdrückung zu verstehen und gegen sie anzukämpfen. O-Fens dagegen 73 Dies war auch möglich, weil Gewerkschaften kaum noch eine Rolle spielten. 1986 gab es nur noch 17 Millionen organisierte Arbeiter in den USA, 18% der gesamten Arbeiterschaft. Die Gründe für »Iabor movement's demise were multiple, but nearly all analysts agreed that President Reagan's policies played a part. They noted that Reagan set the tone for Labor-management relations very early in his presidency by firing striking air controllers, members of the Professional Air Traffic Controllers Organization (PATCO). Reagan stacked the National Labor Relations Board with probusiness appointees. He also blamed Labor for the United States economic travails. [ ... ] Reagan described organized Labor as a large, selfish, special interest group that sought to unravel the economic recovery .. (Levy, Peter B. 1996: 228). 74 Ellisons Roman (1947) über einen namenlosen schwarzen Jungen aus den Südstaaten, der sich in New York als Anstreicher verdingt, dann zum Prediger und schließlich Sprecher einer marxistischen Gruppierung wird. Am Ende verschwindet er in einem strahlend hellen Kellerloch und erklärt sich angesichts einer weißen Gesellschaft, die ihn nicht anerkennen will, für unsichtbar.

312 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? habe keinerlei Erfahrung, die es ihm erlaubt, seine eigene Situation zu verstehen. Statt sich mit Respekt in einer Geschichte von Unterdrückung und Widerstand lokalisieren zu können oder mit anderen in einer ähnlichen Situation zu solidarisieren, erfährt O-Fens den Verlust seiner Arbeit, seines Heims, seiner Frau und seiner Tochter als unerklärliche Schikane, gegen die er sich weder wehren noch sie in Worte fassen kann. Auf dieser Ebene könne FALUNG DOWN als ein Plädoyer arbeitsloser weißer Männer gelesen werden, das nahe legt, dass ihnen der Zugang zu Opferschaftsdiskursen gewährleistet sein muss, und dass, sollte man ihnen diesen verwehren, sie aus den oben genannten Gründen gewalttätig werden (ebd.: 34). Die Stadt, die Foster auf seinem Weg >nach Hause< durchquert, ist ihm feindlich gesonnen, beherrscht von Gangs, bevölkert von >PerversenOriginären Rolle< als Ehefrau nachzukommen. So entsteht eine Welt, in der Minderheiten und Frauen, wie die Fosters oder die seiner filmischen Spiegelung, dem Polizisten Prendergast, das Sagen haben. Prendergast ist es auch, der letztlich zumindest in seinem häuslichen Bereich ein Stück Ordnung wiederherstellt, indem er seiner depressiven und angstgestörten Frau gegenüber endlich wieder bestimmend und patriarchalisch auftreten kann, nachdem er die offensichtlich katastrophalen Auswirkungen des Verlusts weißer männlicher Autorität auf Foster wie auf die Gesellschaft beobachten konnte. Hier ist die Botschaft des Films unmissverständlich. Prendergasts agoraphobische Frau könnte Kolleks Sue als verheiratete Frau sein. Eine Sue, die Bens Angebot einer dauerhaften Beziehung angenommen hat, am Ende gerettet durch männliche Autorität, überlegenes Verständnis und Kompetenz, gerettet durch jemanden, der ihr >die Richtung weist< . Und sollte sich Prendergasts Strategie durchsetzen, so signalisiert der Film, könnte man mit ihr ganz Amerika retten. Die von Schumacher eingesetzten Beschwichtigungsstrategien und zahlreichen vagen Bemühungen um eine oberflächliche political correctness, beispielsweise der O-Fens angeblich so ähnliche Afroamerikaner, laufen ins Leere: Die Latino-Jugendlichen sind Ghetto-Klischee, feige, wenn sie auf

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einen >richtigen Mann< (O-Fens) treffen. Die zuerst noch recht >sympathischenbesseremehr Sicherheit< neu eröffnete Raum, der erweiterte Radius, ist durch ihr mangelndes Selbstbewusstsein eingeschränkt. Mary Ann Caws verweist auf einen Artikel in der New York Times, in dem beschrieben wird, dass der typische Mann die Straßen der Stadt mit schwingenden Armen entlang geht und sich so selbst den Platz schafft, den er benötigt, während Frauen die Arme dicht an sich pressen, um so wenig Raum wie möglich einzunehmen (Caws, M. A. 1991: 5). Sue wird für die Nichtbeachtung dieser Konvention abgestraft, als sie in einem seltenen euphorischen Moment einen Passanten anrempelt (»Pass auf, wo du hintrittst, du blöde Fotze«) (Seq 9). 75 Laut Gillian Rose impliziert die traditionelle Kodierung des öffentlichen Raums als männlich die Unsichtbarkeit von Frauen im urbanen Raum, ihre Präsenz sei hier immer problematisch und regelverletzend (Rose, G. 1993: 36). Diese Beschränkungen gelten selbst dann noch, wenn die >Straßen sicherer gemacht< wurden und die Gefahr für Leib und Leben geringer ist. Als Sue auf einer Verkehrsinsel wartet, wird sie von einem Geschäftsmann automatisch für eine Prostituierte gehalten. Die endgültige Entmachtung Fosters in FALLTNG DOWN wird eingeleitet durch Immobilität. Als er im Stau von der Fahrt aus der Vorstadt nach Los Angeles stecken bleibt, verlässt er entnervt seinen Wagen und macht sich zu Fuß auf den Weg mach Hauseemanzipierten< Frau Hillary in die Regierungsgeschäfte schienen Zeichen zu setzen. Clinton aber, der sowohl 1992 als auch 1996 vornehmlich von Frauen gewählt worden war, vollzog auch hier letztendlich eine Rechtswende und betonte zunehmend Familienwerte vor der Emanzipation von Frauen. Analog erlebten die 1990er Jahre zwar die Wiedergeburt des so genannten Frauen-Films, dessen Heldinnen allerdings für ihre >Selbstverwirklichung< selten belohnt wurden. Diese Filme, so Carol R. Smith, suggerieren, dass nur »so long as you act married, help someone else act married, or participate in a public ceremony which is as near as you can get to marriage, you can be part of the American family« (Smith, C. R. 2002: 88). Sie verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf MY BEST FRTEND' s WEDDING (1997, R.: P.J. Hogan) und analysiert treffend die Dichotomie der beiden weiblichen Protagonistinnen Julianne (Julia Roberts) und Kimmy (Cameron Diaz), die beide in Michael (Dermot Mulroney) verliebt sind. Julianne ist mit achtundzwanzig Jahren immer noch nicht verheiratet und erfolgreich in ihrem Beruf. Sie raucht, trinkt Alkohol und verabscheut Sentimentalitäten in der Öffentlichkeit. Kimmy ist blondiert, bereit das College abzubrechen, damit Michael seinen Beruf ungestört ausüben kann und singt vor Publikum sentimentale Liebeslieder für ihn. Julianne wendet alle Mittel an, um die Hochzeit von Kimmy und Michael zu verhindern, doch »[f]aced with 1950s femininity and 1990s career woman; Michael picks the 1950s and true love« 80 (ebd.: 85). Trotz eines vorgeblich versöhnlichen Endes für Julianne, die die Hochzeit schließlich doch unterstützt hat, wird unverheiratete bzw. nicht zu verheiratende Weiblichkeit hier nach wie vor als >das Problem< dargestellt (ebd. 86). Weitgehend als konservative und einengende Strategie anerkannt, so Smith, sei die Hochzeitserzählung im Diskurs der Familienwerte aber ebenso mit dem 1990er backlash gegen die Forderung amerikanischer Frauen nach Gleichberechtigung, von Seiten sowohl der Linken als auch der Rechten, verbunden (ebd.). In Robert Zemeckis' FüRREST GUMP (1994) muss Jenny (Robin Wright Penn), als Stellvertreterin einer ganzen Generation81 flir deren >Sünden
Sumpf< moralischer Resignation zu retten, den ihrer Meinung nach die Clinton-Präsidentschaft verursacht hatte. Laut Melling bezeichnete Newt Gingrich, einer der prominentesten Vertreter der neuen Rechten, die Clinton-Administration als Hort des nihilistischen Hedonismus' der Gegenkultur, dessen Merkmale Heimlichtuerei und Promiskuität seien und die Art von Unzuverlässigkeit, die die Rechte mit AIDS assoziiere (Melling, P. 2002: 1999). 82 Seit Beginn der 1990er bestimmten in erster Linie die Christian Coalition und andere Vertreter einer religiösen Rechten oder >moralisch< motivierte Konservative die Politik der Republikaner. Die Christian Coalition finanzierte homosexuellenfeindliche Kampagnen und kämpfte gegen Abtreibung und Gleichberechtigung von Frauen (vgl. Brock, D. 2002: 133). In »Active Faith: How Christians Are Changing the Soul of American Politics« schildert Ralph Reed, einer der fUhrenden Intellektuellen der Christian Coalition, dass [t]he Christian Coalition did not become a factor in national politics until June 1990, when we took out full-page ads in the Washington Post and USA Today calling for an end to taxpayer-funded pornography sponsored by the National Endowment for the Arts. The agency had sparked a furor by funding the controversial Andres Serrano exhibit portraying Christ immersed in a jar of urine, and the Robert Mapplethorpe exhibit, featuring graphic homoerotic photographs (Reed, R. 1996: 133).

Laut Gertrude Himmelfarb resultierten derartige Diskussionen und Kampagnen Ende der 1990er in einer beginnenden >moralischen Erneuerung< Amerikas. Obwohl die Menschen durch wiederholte und lästige Erscheinungsformen von Vulgarität, Gewalt und Promiskuität abgestumpft seien, gebe es doch Hinweise auf eine Reaktion. So zeigten sich beispielsweise an den Universitäten, einem Zentrum der dominanten (sprich: linken - Anm. d. Ver:l) Kultur Zeichen von Aufsässigkeit, zumindest auf Seiten der Studenten. Professoren beklagten, gemäß Himmelfarb, ein zunehmendes Desinteresse der Studentenschaft an solch politisch korrekten Dingen wie Feminismus und affirmative action. Außerdem ließe die sexuelle Freizügigkeit der Studenten nach: »In 1990, 51 percent of college freshmen approved of casual sex: in 1998, 40 percent did. In 1990, 62 percent thought that abortion should be legal; in 1998 (perhaps as a result of the controversy over partial-birth

New Yorker Freiheitsstatue, an Germania und an Jeanne D' Are" (Elsaesser, Th. 2001b: 163). 82 Die Republikaner hatten früh begonnen, die Moral Bill und Hillary Clintons in Frage zu stellen. Die Anschuldigungen reichten von den nicht bewiesenen Vorwürfen rund um die Troopergate-Affäre, in deren Verlauf offenbar bezahlte state trooper aus Arkansas u.a. behaupteten, sie hätten Clinton diverse Frauen für ,Sexspie[e, zuführen müssen, bis zu Kenneth Starrs Untersuchungen und den veröffentlichten Verhören Clintons im Rahmen der Lewinsky·Affäre.

318 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? abortions), 50 percent did. Students are also becoming more religious« (Himmelfarb, G. 1999: 128f.). Amos Kolleks SuE spielt vor dem Hintergrund der Forderung nach einer >moralischen Erneuerung< Amerikas, der Angriffe auf den in den 1960er Jahren ausgelösten >Verfall der SittenMacho Buddy Film< ist, eine Projektion männlicher Wunschvorstellungen oder reine Umkehrung der Bedürfnisse von Männem und Frauen, wie Lucy Fisher mit Blick auf den tatsächlich reaktionären Film RICH AND FAMOUS (1981, R.: George Cukor) andeutet, wenn Frauen in der Weltgeschichte herumvögeln (Fisher, L. 1989: 232 zit. n. Hollinger, K. 1998: 67). Anders als beispielsweise in Ally McBeal (1997-2002) scheinen die Protagonistinnen, bis auf eine, die dann auch in der Hochzeitsnacht enttäuscht wird, hier nicht unbedingt auf der Suche nach einem (Ehe-) Partner fürs Leben zu sein.83 Laut Jane Arthurs sieht es so aus, als ob in Sex And the City die masochistischen Positionen der Frauen in patriarchalischen Strukturen des Begehrens durch Hedonismus und Narzissmus ersetzt worden seien. in this economy of desire the city streets have lost the danger of a sadistic or reproving masculine gaze. lnstead of intimating the dark dangersthat kept respec· table women off the streets, New York is shown to be a place of freedom and safety - the warst that can happen is that their clothes might be splashed by a passing car [ ... ]. These women move freely araund the cafes and boutiques, with a confident sense of possession, enjoying the multiple pleasures of consumption in the company of other women and gay men. (Arthurs, J. 2003: 93) Der Autoerotizismus, so Arthur weiter, böte, legitimiert durch den narzisstischen Blick der Konsumentenkultur, beispielsweise wenn in einer Folge Vibratoren als Weg zu sexueller Befriedigung angepriesen werden, die Möglichkeit überhaupt aufMänner zu verzichten (ebd.: 93f). Andererseits sind die Protagonistinnen eben doch wieder auf der Suche nach dem >richtigen Mannermächtigende< Produktreihen und entsprechende Verkaufsstrategien umgesetzt werden. Die quasi Gleichsetzung von konsumierender Sexualität und Warenkonsum impliziert bereits die Einschränkungen sexueller Freiheit, die daraus resultieren, dass die Freiheit des Einzelnen zu konsumieren mit tatsächlicher politischer Macht verwechselt wird. Von ihr sind nahezu alle ausgeschlossen, die nicht wie Carrie in Sex And the City weiß, heterosexuell (trotz einer homoerotischen Phase einer der Figuren und der Camp-Staffage in der Serie), schlank (anorektisch), halbwegs attraktiv und wohlhabend und entsprechend privilegiert bzw. unsichtbar sind. Allein die Sichtbarkeit u.a. schwarzer, hispanischer, asiatischer, jüdischer, homosexueller oder in einem anderen Kontext >auffälliger< bzw. unterprivilegierter Frauen bedeutet meist schon den Ausschluss von oder Einschränkungen dieser Freiheit. Bereits

84 Mit Blick auf MYSTIC PIZZA (1988, R.: Donald Petrie) kritisiert Karen Holtinger eine filmische Darstellung von Frauen in einer Arbeitswelt, in der die femi· nistischen Forderungen nach Gleichberechtigung bereits durchgesetzt zu sein scheinen: »[T]he film neutralizes its affirmation of a woman's right to equal opportunity by connecting this message with the concept of a fully reformed status quo that allows women to do whatever they want. lt suggests that wo· men's struggle for equal rights and opportunities is over on a societal Ievel and now exists only a personal one. Each young woman must simply decide for herself which career or personal goal she wants to pursue, and the way is open for her to achieve success. This conception of women's experiences hardly accords with the reality of many women's experiences. Rather, it is a utopian picture of the advances women have made in the public sphere, a picture that in its optimistic celebration of women's glorious attainment of social equality can be very seductive to a young female audience" (Hollinger, K. 1998: 102f.) ln diesem Kontext schreibt Deborah Rhode, dass »[t]he •no problem• problem prevents Americans from noticing that on every major measure of wealth, power, and status, women still are significantly worse off than men . More than 95 percent of corporate executives and 85 percent of elected officeholders are male; more than two thirds of poor adults are female. For too many women, too many problems are not getting better. Sexual violence, occupational inequalities, and the feminization of poverty remain pervasive, and reproductive freedom is available only to those who can afford it•· (Rhode, D. L. 1997: 1f.).

320 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? (w]omen who stray too far from accepted norms risk social isolation, public ridicule, and employer discrimination. Women who fear these consequences live in a constant struggle against excess pounds, encroaching wrinkles, unwelcome odors, unruly hair, and fashion blunders. The failure - real or imagined - to meet cultural expectations is often a profound source of anxiety, depression, guilt, and self-denial. ln one representative poll of more than a thousand women, body image emerged as women's greatest source of dissatisfaction. ln another survey, over 90 percent of formerly obese individuals reported that they would rather become blind than regain their weight. (Rhode, D. L. 1997: 77)

8.5.8 Allein in New York: Weiblichkeit und Alter, Arbeit und Armut Sue fehlt der stützende Hintergrund einer Frauenclique. Sie ist arbeitslos, sichtbar krankhaft unterernährt, kommunikationsunfähig und hat psychische Probleme. Sie kann nicht konsumieren. Es gibt im gesamten Film nur eine einzige Einkaufsszene, als sie sich ein rotes Kleid kauft, und die ist von ihren deutlich sichtbaren Schuldgefühlen überschattet. Sie hat ihre Arbeit als Anwaltsgehilfin, die sie zwölf Jahre lang offensichtlich kompetent und vertrauenswürdig ausübte, verloren, weil ihr Arbeitgeber verstarb. Es trifft sie also keinerlei >Schuld< am Verlust ihres Jobs. Aber sie wird nun mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, der völlig neuen Gesetzen gehorcht. Was früher für sie gesprochen hätte, spricht nun auf einmal gegen sie: Sie hat Erfahrung. Außerdem ist sie weit über dreißig. Richard Sennett verweist darauf, dass die Bedingungen im heutigen Geschäftsleben voller Vorurteile gegen das Alter stecken, dass sie den Wert der Erfahrung negieren. Die moderne Unternehmenskultur gehe davon aus, dass Menschen mittleren Alters risikoscheu seien (Sennett, R. 2000: 12lf.). Sue ist auch nicht in der Lage, die entsprechenden »Masken der Kooperativität [... ] - diese Fenster der sozialen Fähigkeiten, deren »»Hypertext« ein gewinnendes Lächeln ist« (ebd.: 151) zur Schau zu stellen, die, so Sennett, heutzutage der einzige Besitz seien, den ein Arbeitnehmer von Firma zu Firma mitnimmt. Von Sue werden entsprechend nicht mehr langjährig erworbene Kenntnisse verlangt, sondern eine optimistische und risikofreudige Haltung und Ausstrahlung. Nicht umsonst erhält sie den einzigen ernst zu nehmenden Job in einer ihrer eher manischen Phasen. Nachdem der Personalleiter ihr die Stelle zugesagt hat, erwähnt er, während er ihren Körper mustert, u.a. dann doch ihre Erfahrung. Personalleiter: »Schön, Miss Calanovsky. Sue, wenn Sie erlauben. Sie haben ja offenbar umfassende Erfahrung und alles, worauf wir ansonsten in unserem Hause Wert legen. Also, ich gratuliere Ihnen. Schön, dass Sie bei uns sind.« Aber im vorangehenden Gespräch der beiden gibt es eine Leerstelle, einen Schnitt, der eine längere Pause suggeriert, in der wir sie nicht mehr beobachten können. Und ein Wortwechsel zwischen Sue und einer Mitbewerberin legt nahe, dass die Auswahlkriterien hier ganz andere sind, nämlich weibliche Attraktivität und womöglich sexuelle Bereitwilligkeit darüber hinaus. Ein Grund für ihre bald darauffolgende Entlassung wird nicht angegeben. Sues nächster Job ist typisch für die von Clinton geschaffenen Millionen Arbeitsplätze: Bedienung in einem Cafe. Die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich, die im Selbstversuch eine zeitlang im Niedriglohnsektor arbeitete, beschreibt die finanziellen Umstände:

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in Key West verdiente ich 1039 Dollar pro Monat, denen Ausgaben von 517 Dollar für Essen, [ ... ] Telefon und sonstige Nebenausgaben gegenüberstanden. Aber der entscheidende Ausgabenposten war die Miete. Hätte ich mein 500-Dollar-Billigquartier behalten, wären mir nach Zahlung der Miete noch 22 Dollar in der Tasche geblieben [ ... ]. [ ... ] [F]rüher oder später wären Ausgaben für Arzt und Zahnarzt dazugekommen, oder für irgendwelche Medikamente, die über meine lbuprofenTabletten hinausgehen. (Ehrenreich, B. 2001: 201)

Sues Wohnung mag mit 400 US-$ flir New Yorker Verhältnisse äußerst günstig sein, ist für sie aber unter diesen Umständen nicht mehr finanzierbar. Natürlich beinhalten solche Jobs keine Krankenversorgung. 85 Der Verlust ihrer Arbeit in der Anwaltskanzlei bedeutet für Sue zwangsweise den Verlust ihrer Krankenversicherung. 1998, so William Berman, hatten mindestens vierzig Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung, »while many others were often at the mercy of uncaring and insensitive health maintenance organizations.« (Berman, W. 2001: 82). Weitere vierzig Millionen Amerikaner waren unterversichert, da ihre Versicherungen nur unzureichenden Schutz im Falle einer schweren Krankheit boten (vgl. Skocpol, Th. 1996: 25). So resigniert durch die permanenten Schuldzuweisungen, durch die öffentlichen Verlautbarungen (die im Film nicht explizit geäußert werden, sondern nur in abschätzenden bis abfälligen Blicken und Abwehrgesten ihren Ausdruck finden), in denen ihnen vorgeworfen wird, wer arbeitslos sei, sei selbst schuld daran, sei nicht flexibel genug und dergleichen mehr, sind die Frauen in Kolleks Film, dass nicht einmal mehr verbale Attacken gegen die offensichtlich an ihrer Misere Schuldigen möglich sind, geschweige denn eine Solidarisierung über private Freundschaft hinaus. 86

85 Über die Auswirkungen derartiger Arbeitsumstände schreibt Ehrenreich weiter, dass Armut akute Entbehrung bedeute. »Das gilt für eine Krankheit oder eine Verletzung, die bedeutet, daß man mit zusammengebissenen Zähnen >durcharbeiten' muß, weil es keine Lohnfortzahlung und keine Krankenversicherung gibt und weil der Ausfall eines Tageslohns heißt, daß man am nächsten Tag nichts einkaufen kann . Solche Erfahrungen sind nicht Teil einer ,erträglichen' Lebensweise, die trotz aller täglichen Entbehrungen und der ständigen kleinen Nackenschläge immer noch eine Art Leben bietet. Solche Erfahrungen sind wie immer man das Existenzminimum definiert - akute Notstandssituationen" (Ehrenreich, B. 2001: 219f.). 86 Richard Sennett verweist darauf, dass die Scham der Arbeitslosen praktische Folgen hat: »Sie untergräbt das gegenseitige Vertrauen und die Verpflichtung auf ein gemeinsames Ziel, und das Fehlen dieser sozialen Bindungen bedroht die Funktion jeder kollektiven Unternehmung. Die Erschütterung von Vertrauen nimmt zwei Formen an; in der einen fehlt das Vertrauen einfach, in der anderen gibt ein verschärftes Mißtrauen anderen gegenüber. Wenn Menschen sich ihrer eigenen Bedürfnisse und ihrer Abhängigkeit schämen, fallen sie oft der zweiten Form zum Opfer. [ ... ] Der eisige Ton, in dem gegenwärtig über Fragen des Wohlfahrtstaates, über Sozialhilfe und Sicherheitsnetz diskutiert wird, hat viel mit verletztem Stolz dieser Art zu tun. Auf der einen Seite stehen die Andeutungen von gesellschaftlichem Parasitismus, auf der anderen die Wut der Erniedrigten. Je mehr man sich seiner Abhängigkeit schämt, desto näher liegt einem dieser Zorn der Hilflosigkeit. Zum Vertrauen zu anderen zurückzufinden ist ein reflexiver Akt; er fordert vor allem, die Furcht vor Verletzung in einem selbst zu überwinden" (Sennett, R. 2000: 194ff).

322 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Lola: »Ich war mal Zahnarzthelferin. Aber nach Clintons Wiederwahl hab' ich die Stellung verloren.'' Sue: "Was hatte Clinton und seine Wiederwahl denn damit zu tun?'' Lola: "Gar nichts, aber so war's. Damals isses passiert, aber egal, die meisten stin· ken ja doch aus dem Mund''· Sue: "Ich hatte seit Jahren nichts mit den Zähnen. Soweit es die Zähne angeht, kann ich mich wirklich nicht beschweren." Lola: " Ich geh sowieso nie zu Ärzten, wenn ich Schmerzen kriege, saufe ich sie mir weg. Gerade hab ich die Wohnung verloren und es ist 'ne richtige Befreiung.'' (Seq. 5)

Tatsächlich aber wurden nach Clintons Wiederwahl die staatlichen Ausgaben für Medicare und Medicaid erneut massiv heruntergefahren, u.a. weil er der Forderung der Republikaner, die 1994 die Mehrheit im Kongress gewonnen hatten, nach einem ausgeglichenen Budget nachkommen musste. Neben den Beeinträchtigungen der Krankenversorgung hatte dies ebenso Auswirkungen auf die Angestellten im Gesundheitsbereich, wo nun entsprechende Sparmaßnahmen ergriffen wurden, die natürlich auch die Personaldichte betrafen. Sue hätte ärztliche Hilfe unbedingt nötig. Neben der offensichtlichen Dystrophie, die im Film nie wie ein angestrebtes Schönheitsideal daherkommt, sondem finanziell und psychisch bedingte Mangelernährung suggeriert, leidet sie unter diversen Angststörungen und Depressionen (eventuell mit manischen oder hypomanischen Phasen). Und mit einem abgeschlossenen Studium der Psychologie ist sie sich ihres Zustands durchaus bewusst. Sue: "Was studieren Sie?" Linda: »Klinische Psychologie." Sue: "Trifft sich gut. Dann werde ich in ungefähr zwei Monaten Ihre Hilfe dringend brauchen." Linda: " Ich hoffe nicht. Ich bin frühestens in, warten Sie, zwei Jahren fertig. " Sue: " Qh, nein, bis dahin lieg ich schon bei der Gerichtsmedizin« (Seq. 6).

8.5. 9 Sex, gender & »social female friendship film« Sue wird Linda nicht um weitere therapeutische Hilfe bitten und auch keinen anderen Psychologen aufsuchen. Eine auf therapeutischen Gesprächen basierende Freundschaft zwischen Linda und Sue hätte dem Film vermutlich eine kathartische Lösung beschert, in der eine psychische Erkrankung Sues als das eigentliche Problem der Erzählung zugnmde gelegt wird. Die Botschaft wäre dann klar, einfach und geradezu fernsehkompatibeL Und obwohl Linda nach wie vor bereit ist, Sue finanziell zu unterstützen, wird das von ihr angestrebte therapeutische Idealziel deutlich: Die Öffnung Sues für die >wahre LiebeHeilung< durch einen (männlichen) Therapeuten erfüllen. Sues Intelligenz und Kenntnis ihres Zustands bewahren sie vor dem Schicksal der von Hollinger beschriebenen »female hysteric« (wobei >hysterischhysterische< Protagonistin ein >Geheimnissecret< and persuading her to accept it« (ebd.: 129). Sue könnte mit vielen entsprechenden >GeheimnissenMännlichkeitmännliche< Abenteuerlust als leicht manipulierbares Element, das nun Eingang gefunden hat in die Management-Propaganda, in der das tägliche Eingehen von Risiken glorifiziert wird (vgl. ebd.: 109). Lolas Freund Eddie, der, gerade aus dem Gefängnis entlassen, auf der Suche nach Lola bei Sue vorbeikommt, illustriert eine weitere Facette von >Männlichkeitdeviante< welfare mothers jetzt öffentlich sichtbar gemacht und erniedrigt werden. Workfare und Learnfare, zwei angeblich erfolgreiche Maßnahmen, erzwängen die Unterrichtung von Vermietern, Lehrern und Arbeitgebern über den »2. Klasse Status« der nunmehr öffentlichen Körper. Ultimately, we come to recognize that our bodies are not our own, that they are rather public property. State·mandated blood tests, interrogation of the most pri· vate aspects of our lives, the public humiliation of having to beg officials for food and medicine, and the loss of all right to privacy, teach us that our bodies are only useful as lessons, warnings, and signs of degradation that everyone loves to hate. (Ebd. 460)

In zeitgenössischen Erzählungen, so Adair weiter, stelle man sich welfare women als gefährlich vor, weil sie sich weigerten ihr Verlangen zu opfern und legal sanktionierte, heterosexuelle Verbindungen einzugehen. Ihre Sexualität werde entsprechend als selbstsüchtig, unnatürlich und unreif gelesen. Ihr angenommenes bedrohliches Potenzial als Trägerinnen perverser Gelüste resultiere daraus, dass sie sich männlicher Kontrolle bedrohlich weit entzogen hätten. Diese Frauen würden als Bedrohung einer Kultur, die auf dem Fundament unantastbarer männlicher Autorität und deren uneingeschränkter Privilegierung in der öffentlichen wie der privaten Sphäre beruhe, verstanden und bestraft (ebd.: 46lt). »The representations position welfare mother's bodies as sites of destruction and as catalysts for a culture of depravity and disobedience; in the process they produce a reading of the writing on the body of the poor woman that calls for further punishment and discipline« (ebd.: 465).

330 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Laut Adair werden in New York City >faule< arme Frauen gezwungen einen Job anzunehmen- irgendeinen Job- was auch bedeuten kann für die Stadt zu arbeiten und aussortierte orangefarbene Gefängniskleidung zu tragen, während man für einen Stundenlohn von 1,10 US-$ auf dem Highway oder in den Parks Müll einsammelt. Bridefare-Programme in Wisconsin gewährten promiskuitiven Frauen, die einen Mann heiraten- irgendeinen Mann - und ihre Wandlung in Regionalzeitungen feierlich bekannt geben, zusätzliche Vorteile. 88 Und Tidyfare-Programme quer durch die USA erlaubten es staatlichen Angestellten die Häuser armer >schlampiger< Frauen zu betreten, zu inspizieren und diejenigen Familien finanziell zu sanktionieren, deren Heime nicht angemessen aufgeräumt erscheinen (ebd.; vgl. auch Dreier, P. 1999; Dresang, J. 1996). Armut macht sichtbar, nicht im Sinne einer Sichtbarkeit, die Identifikation schaffen kann, sondern im Sinne von angreifbar machender, gefährdender Sichtbarkeit. Die Privatsphäre wird öffentlich und damit freigegeben für Demütigungen. Die Frage, warum Sue sich nicht um Unterstützung durch die Wohlfahrt bemüht, scheint somit bereits beantwortet. Doch auch als der >Retter< naht, ein sympathischer, relativ wohlhabender, rücksichtsvoller Mann, ein guter Liebhaber und verständnisvoller Zuhörer, ein Mann, den sie offensichtlich mag, weigert sie sich, bis auf unverbindliche hundert Dollar, ihn um finanzielle Hilfe zu bitten. Sie weist den >heldenhaften Ritter< zurück, der, in der Beschreibung Gina Marchettis, romantischen Mittelalter-Erzählungen entspringt und nun die Rettung vor jeglichem Kummer verspricht, sei es der bloße Mangel an Selbstvertrauen, Langeweile, sexuelle Frustration, Armut, Unterdrückung oder das beengende Korsett der Familie. Der >weiße Ritter< erblickt sie, findet sie seiner würdig und sackt sie ein. Sie braucht keinen Finger zu rühren (Marchetti, G. 1993: 114). Hollywood setzt ihn üblicherweise im so genannten woman 's film ein, in der Annahme, er entstamme einer >typisch weiblichen< Fantasievorstellung. Diese, so Marchetti weiter, repräsentiere das Verlangen, aus einer sexlosen (was fur Sue natürlich nicht gilt), alltäglichen Existenz herausgerissen zu werden und alle seine Probleme von einem stärkeren Willen lösen zu lassen, der Armut und Verzweiflung durch die Vermittlung eines männlichen Helden zu entkommen (ebd.: 117). Marchetti verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf Filme wie LOVE Is A MANY-SPLENDORED THING oder THE WORLD OF SUZTE WoNd 9, in denen die Protagonistinnen so auch vor der potenziell entfeminisierenden Bedrohung durch ökonomische Unabhängigkeit bewahrt werden (vgl. ebd.: 116). Derartige Filme werden nach wie vor gemacht, man denke nur an die >Errettung< Kathleen Kellys (Meg Ryan) durch Joe Fox (Tom Ranks) in You'vE GOT MAlL: Nachdem er ihren Buchladen durch die Errichtung einer seiner Filialen, in der er Bücher natürlich wesentlich billiger verkaufen kann, in dessen unmittelbarer Nähe ruiniert hat, darf sie seine Freundin bzw. Frau werden und perfiderweise sogar seine Kinderbuchabteilung nach ihrem Gutdünken gestalten. Einer derartigen Perspektive (Kathleen/Prendergasts Frau 88 Michael Warner verweist darauf, dass .. sex has a politics of its own. Hierarchies in sex sometimes serve no real purpose except to prevent sexual variance. They create victimless crimes, imaginary threats, and moralties of crueltY'' (Warner, M. 1999: 24). 89 Wobei Sue in ihrer überbetont zerbrechlichen, leidenschaftlichen, fast •exotisch< anmutenden Femininität einige Parallelen zu entsprechenden Protagonistinnen aufzuweisen scheint.

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in FALLING DowN) entzieht sich Sue im Wissen um die Konsequenzen. Ihr »!eh bin zu alt und zu festgefahren« deutet nicht notwendigerweise auf Resignation hin oder gar den Wunsch, ihre Promiskuität aufzugeben, sondern ebenso auf ein berechtigtes >!eh will das nicht mehr ändernsündhaften< Vergangenheit ersparen möchte. Die Annahme von Lindas Angebot offenbart den Wunsch, das Bedürfnis, ihre Unabhängigkeit zu wahren, sei es auch nur für eine Übergangsfrist. Das Angebot Bens ist wesentlich längerfristiger gedacht, nimmt ihr aber für einen womöglich längeren Zeitraum ihre finanzielle und für vermutlich immer ihre sexuelle Autonomie. Das >glückliche Ende< ginge wieder einmal aufKosten weiblichen Begehrens. 90 Sue bleibt bis zum Ende bedrohlich, unkontrollierbar und widerständig. Mit Blick auf die Filme Dorothy Arzners bemerkt Claire Johnston, dass deren Grenzen missachtende Frauen zwar daran scheitern, ihr Verlangen dem dominanten Diskurs aufzuzwingen, ihre Stimme aber, anders als im üblichen >Frauen-Melodrama< der 1930er und 40er Jahre, das weibliche Selbstaufopferung und Märtyrertum einfordert91 , trotzdem nicht ausgelöscht werden kann und wir in ihrer fortdauernden Anwesenheit als Ausschreitung über das filmisch Erzählte hinaus das Beharren des Frauen-Diskurses als einen Triumph über die Nicht-Existenz sehen (Johnston, C. 1988:44 zit. n. Thornham, Sue 1997: 29). Wie Thelmas und Louises Selbstmord kann auch Sues >Tod< letztlich als endgültige Weigerung, sich männlicher Kontrolle zu fügen, gelesen werden. Und auch der >Tod< Sues weist Parallelen zu Thelmas und Louises im Flug eingefrorenen Absturz auf, der ein endloses Weiterfliegen andeutet: Sue sitzt mit gesenktem Kopf auf der Bank. Wir vermuten, sie sei gestorben, doch wirklich klärt dies der Film nicht auf, obwohl dieser 90 John Hili schreibt über Ken Loachs MY NAME 15 JoE (GB 1998), dass im Gegensatz zu den britischen Arbeiterklassen-Komödien, die die Romanze als »redemptive possibilities, providing characters with the opportunity to change or to discover new aspects of themselves« einsetzen. »Loach avoids celebrating Iove as a form of humanist triumph over social obstacles by dramatising how its success or failure also depends upon economic and political factors. " (Hili, John 2000: 181) 91 Ein Beispiel neueren Datums ist Lars von Triers BREAKING THE WAVES (DK 1996). Bess (Emily Watson), die auf Wunsch ihres gelähmten Mannes mit unterschiedlichen Männern schläft, um ihm später davon zu erzählen, bewirkt mit ihrem brutalen Tod seine wundersame Heilung und darf dafür in den Himmel aufsteigen. Trotz aller kontroverser Lesarten und gleichgültig, wie sehr man die künstlerische Umsetzung des Themas bewundern mag, finden sich hier im Kern alle Elemente passiven weiblichen Masochismus' , der Selbstaufopferung und des Märtyrertums. Weibliche Sexualität wird nun als Opfer dargebracht. Nachdem wir gesehen haben, wie sehr sie den Sex mit Jan (Stellan Skarsgärd) genießt, wird sie später für Sexualiät bestraft, mit Selbstekel, öffentlicher Demütigung und Erbrechen, bis zu Vergewaltigung und Tod. Und all dies versetzt sie noch in das Verzücken, dass daraus resultiert ·Gutes• zu tun. Allein dass Bess' Tod ein Sinn gegeben wird, unterminiert bereits die filmische Kritik an der prüden, restriktiven Gemeinde, in der sie lebt und deren Strukturen sie als Lebende mit ihrem eigenen Wahnsinn und durchaus intelligent zu unterwandern wusste.

332 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? ursprünglich den Titel »Sterben in New York« tragen sollte. Aber der Titel wurde eben nicht verwendet. Und niemand erklärt Sue für tot; sie sackt nicht endgültig in sich zusammen. Sie könnte ebenso gut gerade nur schlafen. Und beim Postamt Times Square wartet das Geld von Linda auf sie.

9 SCHLUSSBETRACHTUNG

Wenn man die derzeitige Explosion der Diskurse über das unabhängige Filmemachen in den USA beobachtet, kann man schnell den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein relativ junges Phänomen. Tatsächlich verhält es sich so, dass die unabhängige Produktion von Filmen nicht nur von Anfang an Teil der Hollywood-Industrie war, vielmehr wurde das spätere Studiosystem Hollywoods ursprünglich sogar von >Unabhängigen< Filmschaffenden hervorgebracht. Weder ist gegenwärtig noch war der Independent-Film historisch grundsätzlich, ebenso wenig wie das Hollywood-Mainstreamkino, eine einheitliche kulturelle Praxis. Tatsächlich steht der Begriff, wie einleitend beschrieben wurde, als Klammer für eine Vielzahl unterschiedlicher, sich teilweise überschneidender Kinoformen, von denen die meisten traditionell und tendenziell eher außerhalb der Produktionsweisen und/oder textuellen Praktiken der Hollywood-Majors einzuordnen sind: von art hause-Filmen, UndergroundKino, Exploitation-Filmen, Avantgarde-Filmen, Dokumentarfilmen bis hin zu Mainstream orientierten (Indie-)Filmen, die wiederum kaum oder nur bedingt als >außerhalb< des Mainstreams angesiedelt gelten können. Grundlage des hier zugrunde liegenden Verständnisses von IndependentFilmen war daher eine offen konzipierte Definition, derzufolge der Independent-Film als hybride kulturelle Filmpraxis zwischen den Polen des Avantgarde- und Mainstream-Kinos betrachtet werden kann (vgl. Pribram, E.D. 2002). Als symbolische Praxis (oder Vorstellung) bezeichnen sowohl Avantgarde- als auch Independent-Film ein Verhältnis des >UnabhängigseinsAndersseins< und der Abgrenzung gegenüber dem Mainstream-Film, wobei der Avantgarde-Film in diesem Zusammenhang das gleichsam radikal Andere (Unabhängige), sei es in inhaltlicher, formaler oder politischer Hinsicht, verkörpert. Der Mainstream-Film als dominante Filmpraxis ist also sowohl für den Avantgarde- als auch für den Independent-Film derzeit der entscheidende Bezugspunkt und Gradmesser des >Anderseins< und dient nicht zuletzt als primäre Referenz der Selbstvergewisserung der einen wie der anderen kulturellen Praxis. Auch aus diesem Grund stand im Rahmen der vorliegenden Studie vor allem die Beziehung des Independent-Films zum Mainstream im Vordergrund der Untersuchung. Je deutlicher sich der Independent-Film jedoch vom Mainstream als alternative kulturelle Praxis unterscheidet, umso näher rückt der Independent-Film an den Pol der Avantgarde als tatsächliche oder nur vorgestellte Verkörperung der radikalen (ästhetischen, inhaltlichen, politischen, etc.) Opposition gegenüber dem Mainstream. Die Beziehung zum Avantgarde-Film ist daher für eine Auseinandersetzung mit dem Independent-Film keinesfalls irrelevant. Im Rahmen dieser Studie interessierte jedoch nicht, inwieweit der gegenwärtige Independent-Film eine (in politischer Hinsicht) alternative oder abgrenzbare kulturelle Praxis gegenüber dem Avantgarde-Film, sondern gegenüber dem Mainstream markiert.

334 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Die hier behandelten Fallanalysen oszillieren in unterschiedlich ausgeprägter Form zwischen den genannten Polen Avantgarde und Mainstream, was sich textuell etwa in der Nähe bzw. Distanz zu den Erzählkonventionen des >klassischen< Hollywood-Kinos ausdrückt. Amos Kolleks SuE und Cheryl Dunyes THE WATERMELON WOMAN sind beispielsweise Independent-Produktionen, deren Narration und Ästhetik deutlich vom üblichen Hollywood-Stil abweichen, während etwa BOYS DoN'T CRY eine prinzipielle Nähe zum Classical Hollywood Style einhält. Hinsichtlich der Politik ihrer Repräsentation/Artikulation unterscheiden sich die untersuchten Filme grundlegend. Und was auf den ersten Blick harmlos und angepasst erscheinen mag, stellt sich bei genauer Analyse als manchmal weitaus brisanter heraus als vordergründig widerständige und herausfordernde Filme. BOYS DoN'T CRY gehört sicherlich zu den am ausführlichsten diskutierten Independent-Filmen der letzten Jahre, obgleich der Film hinsichtlich des Produktionshintergrunds lediglich als semi-independent-Film eingestuft werden kann. In Hinblick vor allem auf sein Sujet und seine Repräsentationspolitik wurde er jedoch stets als >echter< Independent-Film aufgefasst. In der Tat hat die textuelle Analyse von BOYS DoN'T CRY gezeigt, dass Peirce' Film sich in der Konstruktion von Brandans Passing zunächst deutlich von Hollywood-Mainstream-cross dressing-Filmen unterscheidet, deren Ziel und Klimax die Offenbarung der >natürlichen< ldentität 1 und damit meist verbunden die >Vereinigung< des romantisch-heterosexuellen Paares ist, und stattdessen überwiegend Brandons Selbstbild seiner Identität filmisch unterstützt (vgl. Cooper, B. 2002: 55). Entsprechend hat Judith Halberstam Peirce' Film zugestanden, dass über weite Strecken ein glaubwürdiger und eindrucksvoller transgender gaze etabliert wird, der die Heteronormativität traditioneller Filmerzählungen herauszufordern scheint. Doch wie die hier vorliegende Analyse bestätigt, wird der transgender gaze letztlich zugunsten einer romantisierenden Liebesgeschichte aufgegeben. Während Halberstam die Verwandlung Brandans von einem female-to-male transgender in eine Frau im Moment des letzten Beischlafs mit Lana ansiedelt und dies als radikalen Bruch mit der bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Narration ansieht, wurde aufgezeigt, dass der Abbruch des transgender gaze sich filmi sch wesentlich eher im Verlauf nachweisen lässt. Die Regisseurin opfert aber nicht nur die Komplexität von Brandans >Identitätdurchschnittliche Bürger< letztlich nicht herausgefordert, statt seiner werden zwei pathologische Outlaws installiert, von denen sich jeder >normale< Bürger problemlos distanzieren kann. John und Lotter widerfährt dabei die für white trash-Figuren typische Rassisierung. Sie sind wie die männlichen redneckMonster der slasher-Filme, unzivilisiert, ungepflegt, >andersartig< und vor allem eben monströs. Demgegenüber steht - so aus der Sicht Johns und Toms, die sich als Monsterjäger berufen fühlen, diese Bedrohung zu vernichten - Brandon, der als Gothic monster, als fremdartiges Wesen, das geschlechtlich nicht mehr zuzuordnen ist, in eine kleine friedliche Kommune eindringt und sich der unschuldigen Frauen bemächtigt. Bereits Filme wie Jack Arnolds CREA TURE FROM THE BLACK LAGOON (1954) oder Coppalas DRACULA (1992) haben eindrucksvoll dargelegt, dass die Monsterjäger oft >Unmenschlicher< als das Monster selbst sind. Anders als bei Waters, Dunye oder auch Kollek, die das MittelklassePublikum nicht aus der Verantwortung für Intoleranz, Missstände und Gewalt entlassen, werden in BOYS DON'T CRY weder strukturelle Gewalt noch die Strategien der Exklusion hegemonialer Diskurse offen gelegt oder verantwortlich gemacht. Die »Banalität des Bösen«, die in der Lebensgeschichte des historischen Brandon durchaus erkennbar ist (vgl. Jones, A. 1996), wird zugunsten einer publikumsfreundlicheren Erzählung vernachlässigt, wenn nicht ignoriert. Dennoch muss auch die explizit ernsthafte und sichtbare Etablierung einer lesbischen Beziehung, die Heteronormativität hier nachdrücklich herausfordert, in einem eher Mainstream-orientierten Film eindeutig gewürdigt werden. Der amerikanische Kabelsender HBO produzierte im Jahr 2002 einen Film über den Mord an dem homosexuellen Studenten Matthew Shephard in der Kleinstadt Laramie in Wyoming (THE LARAM!E PROJECT, 2002, R.: Maises Kaufman). Ebenfalls im American Heartland angesiedelt, untersucht der auf einem Theaterstück des Regisseurs und einer Gruppe von Studenten basierende Film das Verbrechen jedoch explizit hinsichtlich der >Normalität< der Täter und des gesellschaftlichen Gebots des Verschweigens von Homosexualität anhand von über 200 Interviews, die mit den Einwohnern Laramies geführt wurden. Erschreckend ist vor allem die mehr oder weniger ausgeprägte Homophobie der >normalenandersartigdeviant< oder >pervers< keine verlässliche Anwendung mehr finden können, das Verhältnis der Binarität Zentrum/Rand umgekehrt wird und diejenigen, die üblicherweise im Mittelpunkt stehen, zu Außenseitern erklärt werden. Auch Pecker ist nicht das >normale Mitglied< einer seltsamen Gemeinde, sondern eine Person, die mit ihrer Fotografie gerade das vermeintlich Normale aufhebt, indem sie das seitens der dominanten Kultur als hässlich, grotesk und deviant definierte zu etwas Schönem, Begehrenswertem erklärt. In PECKER, wie schon in Waters' früheren Filmen, wird zudem der heteronormativ besetzte öffentliche Raum so umgedeutet, dass das heterosexuelle Elternpaar Joy und Jimmy darin >fremdartiger< erscheint als die butch-Lesben und trade stripper. Waters zeigt aber auch, wie verletzlich dieser queere Raum ist. Die selbstbewussten queeren Protagonisten wie »TBone«, die Waters in diesem Film feiert, erfüllen nicht zuletzt jene basale Forderung Michael Bronskis (1999) nach der »Materialisierung von Verlangen«, derzufolge das Hineintragen sexueller Fantasien in das öffentliche Sichtfeld ein mitreißendes politisches Statement ist. Waters hat PECKER als einen Film »about class« bezeichnet, wenngleich er darauf hinweist, dass eine solche Klassifizierung der Vermarktung kaum dienlich sei. Schließlich gibt es nur wenige Mainstream-Filme, in denen Klassenunterschiede und Arbeitslosigkeit als gesellschaftlich-strukturelles Problem thematisiert werden. Hampden, Saltimore ist bei Waters eine idyl-

340 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? lische funktionierende Gemeinschaft, keinesfalls eine Brutstätte des white trash-Horrors wie in slasher-Filmen. Entsprechend sieht Pecker auch keine Veranlassung angesichts seines plötzlichen Erfolgs als Fotograf der bedrückenden Vorstadt gen Großstadt, die vermeintlich Ruhm, Reichtum und Freiheit verspricht, zu entfliehen. Vielmehr verbündet sich Pecker mit seiner Gemeinde gegen die hier weitaus restriktiver gezeichnete Großstadt. Wie in den britischen working class-Filmen der 1990er, beispielsweise BRASSED OFF oder THE FULL MONTY, ist die Rettung der Gemeinschaft das Produkt kollektiver Aktion, ohne sich jedoch wie die beiden britischen Filme dem Projekt der Restauration der Männlichkeit in der Krise zu verschreiben. Schlussendlich, so hat die Fallstudie gezeigt, hebt Waters sein Projekt der Camp-Ästhetisierung von white trash vordergründig auf. Allerdings muss man sich fragen, ob Waters' white trash-Ikonographie tatsächlich immer als Camp im Sinne Susan Santags aufzufassen ist oder ob er nicht sowohl Camp als auch white trash (im Sinne einer kulturellen Ausdrucksform) wesentlich ernster nimmt, als es auf den ersten Blick anmuten mag. Auch indem Waters Camp und white trash kommunizieren lässt, eröffnet er neue Deutungsmöglichkeiten und Freiräume für seine Protagonisten, die so befähigt werden, heteronormative Räume und Selbstverständlichkeiten erfolgreich zu untermimeren. Alle in den Fallstudien diskutierten Filme setzen Außenseiter bzw. Figuren, die durch ihren soziokulturellen minoritären Status markiert sind, prominent in Szene. Sei es Sue als allein stehende und promiskuitive Frau, Cheryl Dunye als afroamerikanische Lesbe, Brandon Teena alsftm-transgender oder die drag kings in PECKER; wobei sich Dr. Bill Maplewood als homosexueller Pädophiler in HAPPINESS, wie beschrieben wurde, in Funktion und Darstellung deutlich von den vorhergehenden Beispielen unterscheidet. Die sichtbare Fokussierung auf Minoritäten gehört zweifelsohne zu den traditionellen Merkmalen des Independent-Films, insbesondere in Abgrenzung zum Mainstream-Kino, das bis heute, trotz einiger Fortschritte, Minoritäten zumeist ignoriert oder noch immer auf stereotype Art und Weise darstellt. Aber auch die wenigen Hollywood-Studiofilme wie etwa PHILADELPHIA, die sich überhaupt mit den Problemen und Diskriminierungen von >Minderheiten< auseinandersetzen, lassen sich nur bedingt als progressive Artikulationen auffassen (vgl. Kap. 7). Demgegenüber liefert die >Mehrheit< der hier verhandelten Fallbeispiele, jeweils auf ganz spezifische oder >individuelle< Art und Weise, tatsächlich beachtliche gegenhegemoniale Artikulationen, die die dominanten Vorstellungen, sei es hinsichtlich Geschlecht, Sexualität oder race signifikant herausfordern oder hegemoniale Konstruktionen durch ihre Offenlegung entlarven. Während THE WATERMELON WüMAN, SUE oder PECKER gerade im Zusammenhang dieser verschiedenen Ebenen von race, Geschlecht oder sexueller Orientierung als gegenhegemoniale Artikulationen >funktionierenOppositionsverhältnis< zurückfanden. Anlass war eine im September 2003 bekannt gegebene und von den großen Hollywood-Studios gebilligte Entscheidung der MPAA, die Versendung so genannter Screeners im Vorfeld der Oscar-Verleihung zu verbieten. Screeners sind Filmkopien, die an Jury-Mitglieder von Filmwettbewerben geschickt werden. Vermutlich wurden diese in den letzten Jahren häufig dazu verwendet Raubkopien herzustellen. Zumindest hat die MPAA dies als Begründung für die Entscheidung des Verbots angegeben. Zumal da aufgrund der Awards der Prozentsatz von Filmveröffentlichungen gegen Ende des Jahres besonders hoch liegen würde (vgl. Dunkley, C. 2003: online). In der Independent community hat das Verbot zu massiven Protesten von nahezu allen relevanten Filmorganisationen und Independent-Firmen geführt, darunter auch seitens solcher Firmen, die Tochtergesellschaften der großen Major Studios sind. Sie weisen die Entscheidung der MPAA mit der Begründung zurück, dass der Screeners-Versand für sie bei der gegenwärtigen Marktlage die einzige Chance sei, noch auf sich aufmerksam zu machen und überhaupt Chancen auf den Gewinn des Oscars zu haben. Es wurde jedoch von vielen >Beobachtern< der Debatte vermutet, dass die wahren Gründe für

SCHLUSSBETRACHTUNG

I 349

die ursprüngliche Entscheidung eigentlich nichts mit der Bekämpfung der Filmpiraterie zu tun hätten, sondern ihr Zweck lediglich darin bestehe, die Aufmerksamkeit der Jury wieder auf die >klassischen< Studiofilme zu lenken (Rooney, D. 2003: online). Letztlich konnte sich die MPAA bislang nicht mit ihrem Verbot der Screeners durchsetzen, das ein Bundesgericht am 5. Dezember 2003 aufhob. Zumindest in diesem Fall war der Independent-Film erfolgreich >widerständigEvidence A. Please read this article...you said here!« (Gore, Ch. 2002: online). Eines macht der Film implizit auf jeden Fall deutlich: Er zeigt, wie klein der Raum eines radikalen Kinos letztlich geworden ist, wenn dessen Errettung nur dadurch imaginiert werden kann, wie einst JetT Daniels in Woody Allens THE PURPLE ROSE OF CAIRO (1985) gleichsam aus der Leinwand herauszutreten und die filmische Fantasie nunmehr in Form von Terror und Zerstörung in die Wirklichkeit zu tragen.

10

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Angaben zu den Interviews Telefonisches Interview mit Rich Raddon vom 5.09.2003 Interview mit Rick Schmidt via e-mail vom 28.08.2003 Telefonisches Interview mit Debra Zimmerman vom29.09.2003 Interview mit Richard Kern via e-mail vom 15.11.2003

ANHANG

A Filmische Daten zu den Fallstudien (Quelle, wenn nicht anders angeben: us.imdb.com)

Boys Don't Cry (USA 1999) deutscher Verleihtitel: BOYS DüN'T CRY Verwendete Fassung: DVD RC-2 Spielfilm-Laufzeit: ca. 114 Minuten (DVD) Independent-Status (nach Merritt, G 2000, xii): semi-independent MPAA-Rating: »Rated R for violence including an intense brutal rape scene, sexuality, language and drug use«. FSK Deutschland: 16 Budget1 : 2 Millionen US-$ (geschätzt). US-Kinoeinnahmen (grosses): ca. 11,5 Millionen US-$ (bis 21. Mai 2000) Regie: Kimberly Peirce Buch: Kimberly Peirce und Andy Bienen Cast (u.a.): Hillary Swank Chloe Sevigny Peter Sarsgaard Erendan Sexton III Alicia Goranson Alison Folland Jeanetta Amette Rob Campbell Matt McGrath Cheyenne Rushing

Teena Brandon/Brandon Teena Lana Tisdel John Lotter TomNissen Candace Kate Lanas Mutter Brian Lonny Nicole

Produzenten:

Jeffrey Sharp, John Heart, Eva Kolodner, Christine Vachon, Morton Swinsky (Koproduktion), Bradford Simpson (associate producer)

Bei den Budget-Angaben wird nicht klar ausgewiesen, ob sie nur die Herstellungkosten (negative costs) beinhalten oder auch die so genannten P&AKosten.

376 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Herstellungsleitung/ ausführendeProduzenten (executive producer): Carotine Kaplan Pamela Koffler Jonathan Sehring John Sloss Originalmusik Kamera: Schnitt: Casting: Ausstattung: Künstlerische Leitung: Kostümdesign: Visuelle Effekte: Spezialeffekte: Sound Department

Nathan Larson Jim Denault Tracy Granger, Lee Percy Kerry Barden, Billy Hopkins, Jennifer McNamara, Suzanne Smith Michael Shaw Shawn Caroll Victoria Farrell Mark Domfeld Jack Bennett u.a.: Lewis Goldstein (supervising sound editor), Allan Zaleski (music editor)

Produktionsfirmen: Hart-Sharp Entertainment (US) Independent Film Channel (US) Killer Films (US) Verleih/ Vertrieb (nur USA und Deutschland): Fox Searchlight Pictures (USA-Kinoverleih) 20th Century Fox Horne Entertainment (USA-DVD) 20th Century Fox Deutschland

The Watermelon Wo man (USA 1996) Verwendete Fassung: VHS (OmU), Salzgeber & Co. Medien GmbH Laufzeit: ca. 85 Minuten (VHS) Independent-Status (nach Merritt, G 2000, xii): independent MPAA-Rating:FSK Deutschland: 16 Regie und Buch:

Cheryl Dunye

Cast (u.a.): Cheryl Dunye Guinevere Turner Valarie Walker Lisa Marie Bronson Cheryl Clarke Irene Dunye Brian Freeman Camille Paglia

Cheryl Diana Tarnara Fae >The Watermelon Woman' Richards June Walker Herself Lee Edwards Herself

ANHANG

I 377

Sarah Schulman Shelley Olivier Emmy Collins Kat Robertson

CLIT Archivist Annie Heath Video Browser Yvette

Produktion: Kamera: Schnitt:

Alexandra Juhasz, Barry Swimar, Cate Wilson (Koproduzentin) Michelle Crenshaw Cheryl Dunye

Produktionsfirma: US-Vertriebsfirma:

Dancing Girl First Run Features (1997)

HAPPINESS (USA 1998) Spielfilm-Laufzeit: ca. 134 Minuten (DVD) Verwendete Fassung: Fernsehaufzeichnung, 2-Kanal-Ton, 28.08.2002, ARD Independent-Status (nach Merritt, G 2000, xii): semi-independent MPAA-Rating: Rating surrendered; previously rated NC-17. FSK Deutschland: 16 Budget: 3 Millionen US-$ (geschätzt) US-Kinoeinnahmen (grosses): ca. 2,7 Millionen US-$ Buch/ Regie: Todd Solondz Cast (u.a.): Jane Adams Jon Lovitz Philip Seymour Hoffman Dylan Baker Lara Flynn Boyle Justin Elvin Cynthia Stevensou Lila Glantzman-Leib Gerry Becker Rufus Read Louise Lasser Ben Gazzara Camryn Manheim Arthur J. Nascarella Molly Shannon Ann Harada Douglas McGrath Jared Harris DanMoran Evan Silverberg

Joy Jordan Andy Kombluth Allen Bill Maplewood Helen Jordan Timmy Maplewood Trish Maplewood Chloe Maplewood Psychiatrist Billy Maplewood Mona Jordan Lenny Jordan Kristina Detective Berman Nancy Kay Tom Vlad Joe Grasso Johnny Grasso

378 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Marla Maples MattMalloy Elizabeth Ashley Marina Gaizidorskia Jose Rabelo

Arm Chambeau Doctor Diane Freed Zhenia Pedro

Produktion: Ted Hope (producer), Pamela Koffler (lineproducer), David Linde (executive producer), James Schamus (executive producer), Christirre Vachon (producer) Originalmusik:

Robbie Kondor Eytan Mirsky (Titelsong)

Kamera: Schnitt:

Maryse Alberti Alan Oxman

Produktionsfirmen: Verleih (nur USA u. Deutschland):

Good Machine, Killer Films

PECKER

Good Machine, Trimark Pictures (video)

(USA 1998)

Verwendete Fassung: DVD RC-2 (englische Importfassung) Spielfilm-Laufzeit: ca. 86 Minuten (DVD-Angabe) Independent-Status (nach Merritt, G. 2000: xii): semi-independent MPAA-Rating: »Rated R for sexuality, graphic nudity, language and brief drug use.« FSK Deutschland:? Budget: 6 Millionen US-$ (geschätzt) US-Kinoeinnahmen (grosses): ca. 2,3 Millionen US-$ (bis 20. Dezember 1998) Buch/ Regie: John Waters Cast (u.a.): Edward Furlong Christina Ricci Bess Arrnstrong Mark Joy Mary Kay Place Martha Plimpton Erendan Sexton III Mink Stole Lili Taylor Patricia Hearst

Pecker Shelley Dr. Klompus Jimmy Joyce Tina Matt Precinct Captain Rorey Wheeler Lynn Wentworth

ANHANG

Jean Schertier Lauren Hulsey Mo Fischer Donald Neal Carolyn Stayer Alan J. Wend! Anthony Roger Bryan J. Thomas Tim Caggiano Betsy Ames Scott Morgan Cindy Sherman Greg Gorman Ty ler Miller Sloane Brown

Memama Little Chrissy T-Bone Mr. Bozak Miss Betty Mr. Nellbox Billy Heckman, >Death Row Dave< Larry the Lughead (as Brian Thomas) Lester Hailbrook Venetia Keydash Jed Coleman Herself Hirnself Randy, Blind Photographer Herself- Channel 45 Anchor

Produzenten: Mark A. Baker John Fiedler Mark Tarlov

producer producer producer

Originalmusik Kamera: Schnitt:

Stewart Copeland Robert M. Stevens Janice Hampton

Produktionsfirma: Verleih/ Vertrieb (nur USA/ Deutschland):

Polar Entertainment Fine Line Features (USA), Concorde Filmverleih (Deutschland)

SuE (USA 1997) deutscher Titel: Sue- eine Frau in New York Verwendete Fassung: Fernsehaufzeichnung, Arte v. 26.02.2001 Spielfilm-Laufzeit: ca. 91 Minuten Independent-Status (nach Merritt, G 2000, xii): independent MPAA-Rating:FSK Deutschland: US-Kinoeinspielergebnis (grosses): 54,585 US-$ Buch/ Regie: Amos Kollek Cast (u.a.): Anna Levine Thomson Matthew Powers Tahnee Welch Tracee Ellis Ross John Ventimiglia

Sue Ben Lola Linda Larry

I 379

380 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Edoardo Ballerini Matthew Faber Robert Kya-Hill Austin Pendleton Tom Cappadona Alice Liu Dechen Thurman Joshua Kaplan Lazaro Perez Jim Mulholland Semadar Levi Joan Price Rahav Sarah Zhang Sylvia Wong Phi! La Rocco

Eddie Sven Willie Bob Stanley Lisa lnterviewer/Officer Manager Sydney Pedro/Phil Man in Cinema (as James Mulholland) Ist Interviewer 2nd Interviewer Chinese Takeout Lady #1 Chinese Takeout Lady #2 Hotel Receptionist

Produzenten:

Amos Kollek, Rene Bastian (Koproduzent) und Linda Moran (Koproduzent)

Originalmusik Kamera: Schnitt: Ausstattung: Ton:

Chico Freeman Ed Talavera Elizabeth Gazzara Charlotte Bourke JeffFormosa (supervising sound editor), Theresa Radka

Produktionsfirma: US-VertriebNerleih:

AMKO Productions Inc. Castle Hili Productions (1998)

ANHANG

I 381

B Sequenzprotokolle zu den Filmanalysen Sequenzprotokoll 1: BOYS DoN'T CRY (1999, R.: Kimberly Peirce) Zeitstruktur

Nr.

Sequenzbeschreibung

0:00:00-

1

Produktionsvorspann; Autofahrt bei Nacht; Einführung Brandon Teenas im Wohnwagen ihres Cousins Lonny; Brandon in der Roller-Disco mit Freundin; Ende Vorspann

0:05:07-

2

Brandon wird verfolgt, versteckt sich bei Lonny; Schlägerei in einer Bar in Lincoln: Einführung Tom, John und Candace; sie verlassen gemeinsam Lincoln; am nächsten Morgen: Brandon wacht bei Candace in Falls City auf

0:12:43 -

3

Bar in Falls City: Brandon lernt Lana kennen - Lana singt »The Bluest Eyes in Texas" John, Tom, Brandon, Lana, Candace und Kate fahren zum »bumper skiing" (Pick Up-Surfen)

0:20:57-

4

Brandon hat ihre Menstruation, reinigt ihre Jeans; stiehlt Tampons in der Tankstelle, trifft dort auf die betrunkene Lana, kauft Bier, stiehlt einen Ring für sie, sie unterhalten sich - Brandon bringt Lana nach Hause: Ihre Mutter schläft auf dem Sofa; Brandon bringt Lana ins Bett, hinterlässt ihr den Ring

0:27:51 -

5

Am nächsten Morgen: Brandon wacht bei Candace auf, sie hat Frühstück gemacht - bei Lana zu Hause: Ihre Mutter und John spielen Karten, die Mutter dreht die Musik auf und tanzt - Lana wird wach und beschwert sich - Brandon nach dem Duschen, führt sich den Tampon ein und bindet sich die Brüste ab; Candace und Brandon fahren zu Lana; John und Brandon unterhalten sich vor dem Haus, später: Alle sehen fern - abends: Brandon und Lana kommen sich näher, er fotografiert sie

0:35:55-

6

Brandon fährt Lana und Kate zur Arbeit; unterwegs: Autorennen, sie werden von der Polizei angehalten, obgleich die Sache glimpflich ausgeht, regt sich Tom über Brandon auf, wirft Brandon, Tom und Candace aus dem Wagen und fährt mit Lana und Kate weiter

0:43:16-

7

Tom und Brandon am Lagerfeuer: Tom zeigt Brandon seine sich selbst zugefügten Schnittwunden und fordert Brandon auf, es auch auszuprobieren, was er ablehnt; Brandon erhält gerichtliche Vorladung, Brandon und Lana küssen sich ; bei Lonny im Wohncontainer; vor Gericht: Rückblenden Autodiebstähle

0:51:09-

8

Brandon beobachtet und fotografiert Lana bei der Arbeit in der Fabrik, sie lieben sich, Lana erzählt es am nächsten Tag ihren Freundinnen (Rückblende auf die Nacht)

0:58:01 -

9

Brandons Geburtstag; John unterhält sich mit Lana; John unterhält sich mit Brandon

1:03:16-

10

Lana erzählt Brandon von ihrer Kündigung; Brandons Verhaftung; Brandon im Gefängnis; Candace entdeckt Brandons Geheimnis; Candace erzählt es Lana; Lana geht zum Gefängnis, Brandon klärt sie auf, sie verlassen das

382 I DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG? Gefängnis; Tom und John befragen Candace; Brandon und Lana lieben sich im Auto

1:11:58-

11

Tom und John erzählen Lanas Mutter von Brandans •falscher Identität' , sie durchsuchen seine Sachen in Lanas Zimmer; Lana und Brandon kommen ins Haus - sie verhören und ·untersuchen, unter Anwendung von Gewalt

1:20:38 -

12

Lana und Mutter auf der Polizeiwache, Brandon wird verhört, Rückblende: Vergewaltigung und Flucht

1:29:10-

13

Brandon beim Arzt- Verhör bei der Polizei; Brandon geht zu Candace; unter der Dusche; Lanas Mutter spricht mit John über die Vergewaltigung; die Polizei meldet sich am Telefon und will John sprechen; Lana und Brandon lieben sich; sie wollen gemeinsam verschwinden

1:39:45-

14

Lana packt ihre Sachen, Tom taucht mit einer Waffe auf, Lana verschwindet durch das Fenster, trifft auf John sie fahren gemeinsam zu Brandans Aufenthaltsort; Tom und John töten Brandon und Candace

1:46:01-

15

Der nächste Morgen : Lana wacht neben dem toten Brandon auf; Lana verlässt mit dem Auto Falls City; Abspann

Sequenzprotokoll 2·

THE WATERMELON WOMAN

(1996 R..· Chery/ Dunye)

'

Zeitstruktur

Nr.

Sequenzbeschreibung

0:00:00-

1

Cheryl und ihre Freundin Tarnara drehen ein Hochzeitsvideo als Auftragsproduktion, Diskussion über die Honorarverteilung; Autofahrt, Blick durch die Videokamera, Voice Over Cheryl Dunye - Hinweis auf das Watermelon Woman-Projekt; Cheryl Dunye filmt sich und stellt ihr Projekt vor; Ausschnitt aus dem Film »Plantation Memories" ; Einblendung: Filmtitel

0:06:32-

2

ln der Videothek: Tarnara und Cheryl diskutieren über Filmgeschmack, Cheryl thematisiert Tarnaras Interesse an »black porn"

0:08:25 -

3

Cheryl und Tarnara sitzen mit Yvette und Stacey in einem lesbischen Szeneclub: Karaokeveranstaltung Yvette singt

0:11:35-

4

Philadelphia, Center City: Straßenbefragung: »Kennen Sie die Watermelon Woman?"

0:13:11 -

5

Wynnfield, Philadelphia: Cheryl bei ihrer Mutter: Sie durchstöbert den Keller der Mutter, in der Hoffnung etwas über die Watermelon Woman zu finden; Interview mit der Mutter

0:16:14-

6

Videothek: Cheryl berät Diana, eine Kundin bei der Filmauswahl; Cheryl und Tarnara streiten sich wieder. Sie werden vom Chef ermahnt; Cheryl erklärt Annie, einerneuen Arbeitskollegin, was zu tun ist

0:20:06-

7

Cheryl und Tarnara tanzen auf dem Dach eines Hochhauses

0:20:49-

8

Germantown, Philadelphia: Cheryl und Tarnara besuchen

ANHANG

I 383

den »race films«-Experten Lee Edwards; verschiedene historische Aufnahme von Kinos und Clubs, den »places to be" der 1920er und 1930er Jahre; Cheryl imitiert in entsprechender Verkleidung ein »schwarzes Hausmädchen" aus den Hollywood-Filmen der 1930er Jahre 0:25:03-

9

Cheryl kauft bei einem Straßenhändler Gemüse, trifft zufällig auf Diana

0:26:01 -

10

Cheryl und Tarnaras Recherche in der Bibliothek

0:28:15-

11

Cheryl hält Fotos von schwarzen Darstellern in die Kamera

0:28:56-

12

·South PhillyMonsterjäger.; " Denkst du, sie erkennen sie noch wieder, wenn wir ihr Kopf und Hände abtrennen?•• (E 26, Seq. 14) Abbildung 4: Brian Freeman in der Rolle des race film- Experten Lee Edwards (Seq. 8) Abbildung 5: THEWATERMELONWOMAN- Cheryl und Diane (Seq. 15) Abbildung 6: Vater und Sohn. Das Geständnis (Seq. 19) Abbildung 7: Der pädophile gaze (Seq . 11) Abbildung 8: Tea Bagin' (Seq. 8) Abbildung 9: Maureen Fischer als drag king ·T-Bone• (Seq. 19) Abbildung 10: Demaskierung des Vernissagenpublikums (Seq. 19) Abbildung 11: Sue im Stundenhotel (Seq. 13) Abbildung 12: Sue und Lola als nThelma and Louise•• (Seq. 5)

36 62 85 86 89 90 90 116 117 213 216 229 239 243 251 261 276 286 291 310 324

DANKSAGUNG Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2005 von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen angenommen wurde. Zahlreiche Institutionen und Personen standen bei der Verwirklichung dieser Studie unterstützend zur Seite, denen ich an dieser Stelle dafür herzlich danken möchte. Mein Dank gilt zunächst und insbesondere Prof. Dr. Helmut Korte (Universität Göttingen) und Prof. Dr. Lutz Hieber (Universität Hannover), die als Erst- bzw. Zweitgutachter die Arbeit engagiert betreut und unterstützt haben sowie Prof. Dr. Bernd Schmidt (Universität Göttingen), der im Rahmen meiner Disputation als Drittprüfer zur Verfugung stand. Das Promotionsvorhaben wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Graduiertenförderung des Landes Niedersachsen finanziell und ideell unterstützt. Für diese Auszeichnung und Förderung bin ich der Kommission für Stipendienangelegenheiten des Senats der Universität Göttingen sehr zu Dank verpflichtet, ebenso der Forschungsabteilung der Universität Göttingen, insbesondere Erich Schneidereit und Dr. Dorothea Mey, für die im Rahmen der Förderung stattgefundene Betreuung. Wertvolle Ratschläge, Hinweise und Korrekturvorschläge bei der Lektüre einzelner Kapitel verdanke ich Dr. Wolfgang Lenk (Berlin), Peter Kramer (Norwich), Sven Cavalcanti (Hannover) und Marko Püschel (Bielefeld). Thora Jahn und Birgit Franke haben die mühevolle Aufgabe übernommen, das Manuskript in seiner ursprünglichen Länge von rund 440 Seiten Korrektur zu lesen. Auch ihnen danke ich dafur herzlich. Ich danke ferner Debra Zimmerman von Warnen Make Movies (New York), Rick Schmidt (Port Townsend, Washington), Richard Kern (New York) und Rich Raddon (Los Angeles Filmfestival), dass sie im Rahmen dieser Studie als Gesprächspartner zur Verfugung standen sowie meinen Kollegen am Zentrum für interdisziplinäre Medienwissenschaft - u.a. Christian Hißnauer, Michael Eckhardt, Claudia Riesmeyer, Ralf Stockmann, Bernhard Többen, Regina Wandrey, Daniel Drewitz, Anja Ellenberger, Jana Hardt, Julia Hummelsiep, Christian Manke und Nikola Vagt - fur die ausgesprochen gute Zusammenarbeit, durch die sich der Forschungsprozess deutlich erträglicher gestaltete. Uta Scheer möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben, weil sie von Beginn an eine wichtige Diskussionspartnerin war und zentrale Impulse für die inhaltliche Richtung dieser Arbeit geliefert hat. Schließlich bin ich Dr. Karin Werner und Gero Wierichs vom transcript-Verlag fur die ausgesprochen gute Zusammenarbeit sehr verbunden. Vor allem danke ich Erika und Werner Sudmann fur ihre fortwährende Unterstützung und Kirsten Jahn (teenage kicks are hard to beat1). Göttingen, im September 2005 Andreas Jahn-Sudmann

The Undertones, John O' Neill, 1977

Weitere Titel zum Film:

Henry Keazor. Thorsten Wübbena Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen November 2005. 472 Seiten, kart., ca. 200 Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-383-6

Joanna Barck. Petra Löffler Gesichter des Films September 2005, 388 Seiten, kart .. zahlr. Abb., 28.80 €, ISBN: 3-89942-416-6

Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie August 2005. 304 Seiten. kart., zahlr. z. T. farb. Abb .. 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume. Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005. 254 Seiten, kart .. 26,8o €. ISBN: 3-89942-342-9

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

Michael Lommel. Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme zwischen Surrealismus und Existentialismus 2004, 334 Seiten. kart., 28,8o € , ISBN: 3-89942-279-1

Matthias Uhl. Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €. ISBN: 3-89942-183-3

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almod6vars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004. 260 Seiten. kart .. zahlr. Abb., 25,80 € , ISBN: 3-89942-269-4

Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung 2004, 3 70 Seiten. kart., zahlr. Abb., 28,8o € , ISBN: 3-89942-239-2

März 2005. 314 Se iten, kart .. 27,80 €. ISBN: 3 -89942-341-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Weitere Titel zum Film: Michael Lommel. Isabel Maurer Queipo, Nan ette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten , kart .. 19,80 € . ISBN: 3-89942-181-7

Kerstin Kratochwill. Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge 2004. 196 Seiten. kart., 23,80 € , ISBN: 3-89942-180-9

Wolfgang Kabatek lmagerie des Anderen im Weimarer Kino 2003, 226 Seiten. kart.. zahlr. SW-Abb.. 25,80 €. ISBN: 3-89942-116-7

Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002. 224 Seiten. kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, I SBN : 3-89942-104-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de