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German Pages 348 [355] Year 2012
Düsing Aufhebung der Tradition im dialektischen Denken
Klaus Düsing - 978-3-8467-5210-4
H EGEL F ORUM
herausgegeben von
ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT MICHAEL QUANTE ELISABETH WEISSER-LOHMANN
Klaus Düsing - 978-3-8467-5210-4
Klaus Düsing
Aufhebung der Tradition im dialektischen Denken Untersuchungen zu Hegels Logik, Ethik und Ästhetik
Wilhelm Fink Klaus Düsing - 978-3-8467-5210-4
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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT ..................................................................................... I.
LOGIK UND DIALEKTIK
1.
Identität und Widerspruch. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Dialektik Hegels ................................. Hegels Dialektik. Der dreifache Bruch mit dem traditionellen Denken ......................................................... Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik .................. Dialektikmodelle. Platons Sophistes sowie Hegels und Heideggers Umdeutungen ................................... Antinomie und Dialektik. Endlichkeit und Unendlichkeit in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre .............
2. 3. 4. 5.
II.
METAPHYSIK UND SUBJEKTIVITÄTSTHEORIE
1.
Phänomenologie und spekulative Logik. Untersuchungen zum „absoluten Wissen“ in Hegels Phänomenologie ...................... Ontologie bei Aristoteles und Hegel ................................................ Subjektivität in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Ein programmatischer Überblick .................... Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel ...................... Kategorien als Bestimmungen des Absoluten? Untersuchungen zu Hegels spekulativer Ontologie und Theologie ............................
2. 3. 4. 5.
7
11 43 55 77 93
115 131 159 183 201
III.
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
1. 2.
Politische Ethik bei Plato und Hegel ................................................ 221 Die Bestimmungen des freien Willens und die Freiheit des Begriffs bei Hegel ............................................ 265
IV.
ÄSTHETIK
1.
Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel .......................... 281
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6 2. 3.
INHALTSVERZEICHNIS
Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung ......... 297 Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik ...... 333
VERZEICHNIS DER QUELLEN ......................................................... 347 NAMENVERZEICHNIS ..................................................................... 349 SACHVERZEICHNIS ........................................................................ 352
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VORWORT
Angesichts gegenwärtig sich intensivierender Geschichtsvergessenheit droht der Verlust bedeutender Kulturgüter. Dazu gehören auch die klassisch gewordenen philosophischen Theorien der Tradition. Tiere leben allein oder in Rudeln wesentlich ohne kulturelle Tradition; seit Jahrtausenden fängt hier jedes Individuum weitgehend wieder von vorn an. Menschliche Kulturentwicklung kommt immer durch ein Wechselspiel von Tradition und Innovation zustande; und beide, Tradition sowohl wie Innovation, beruhen prinzipiell auf geistigselbstbewußter Tätigkeit. – Ein paradigmatisches Beispiel für fruchtbare Kombination von Tradition und Innovation bietet Hegels dialektisches Denken. Dies sei hier an seiner Logik, die grundlegend zugleich Ontologie und Metaphysik ist, an seiner Ethik sowie an seiner Ästhetik gezeigt. „Aufhebung der Tradition“ im Titel bedeutet im bekannten dreifachen Hegelschen Sinne: bestimmte Negation, Bewahrung und Erhebung auf eine höhere Stufe. Dies ist Hegels Anspruch, der durch sein dialektisches Denken eingelöst werden soll. Sein Denken sei hier aufgenommen, interpretiert, aber zugleich auch kritisch – mit noch weiterzuführenden Ansätzen zur Innovation – betrachtet. Der vorliegende Band enthält nur gelegentlich geringfügig veränderte Aufsätze von 1981 bis 2010 in einer Anordnung nach Hegelschem Systemdenken. Meine zugrundeliegende Konzeption ist nicht immer gleich geblieben. Die früheren Aufsätze sind stärker interpretierend; die späteren bieten darüber hinaus typologische und systematische Durchblicke. Sie sind in ganz verschiedenen Publikationsorganen erschienen; von drei bisher nur fremdsprachig veröffentlichten Aufsätzen erscheint hier erstmals die deutsche Originalfassung (s. II,1; II,3; III,2); ein deutschsprachiger Aufsatz erschien nur in einem italienischen Jahrbuch (I,1). Mein aufrichtiger und herzlicher Dank gilt den Herausgeber(inne)n des Hegel-Forums, die diese Aufsatzsammlung angeregt haben, Frau Annemarie Gethmann-Siefert, Frau Elisabeth Weisser-Lohmann und Herrn Michael Quante. Es sei mir erlaubt, die große Hilfe insbesondere von Frau GethmannSiefert, aber auch von Frau Weisser-Lohmann und für die Gestaltung des Drucks von Frau Dora Tsatoura (FernUniversität Hagen) hervorzuheben. Ohne diese wirkungsvolle Unterstützung wäre der Band wohl kaum zustande gekommen. – Ferner bedanke ich mich für freundliche Wiederabdruckserlaubnis, insbesondere bei Félix Duque, Madrid, für die Erlaubnis, die deutsche Originalfassung von Phänomenologie und Logik (II,1) hier zu veröffentlichen. – Für Rat und Tat gilt mein besonderer Dank meiner Frau Edith Düsing. Köln, im Januar 2011
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I. LOGIK UND DIALEKTIK
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Identität und Widerspruch Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Dialektik Hegels Identität und Widerspruch sind seit alters her leitende Termini logischer Axiomatik. Ein Problem können sie darstellen, wenn sie zugleich als grundlegende Begriffe einer Ontologie verstanden werden, die eine wahre Erkenntnis des Seienden selbst ermöglichen sollen; denn dann erhebt sich die Frage, ob dem Seienden als solchen und von sich her Identität oder aber Widersprüchlichkeit oder schließlich sogar beides zukommt. Schon Plato hatte als eine oberste Gattung das mit sich Identische (ôášôüí) aufgestellt, jedoch immer in Gemeinschaft mit anderen obersten Gattungen wie z.B. dem Verschiedenen (èÜôåñïí); er wendet sich von der Struktur der Mehrfältigkeit des Logos her gegen Parmenides’ Lehre, daß das Sein nur Eines, d.h. nur in sich gleich und identisch sei. Ebenso aber formuliert er als erster eine Version des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch;1 kein wahres Wissen besitzt, wer über dasselbe in derselben Beziehung und in demselben Sinne Entgegengesetztes, d.h. Widersprechendes behauptet. Heraklit hatte versucht, Widersprechendes als seiend zu denken, was nach Plato unmöglich ist. Auch Aristoteles wendet sich insbesondere gegen Heraklit bei seiner klassisch gewordenen Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch: Dasselbe kann demselben in der gleichen Hinsicht unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen.2 Dies gilt nach Aristoteles für das Seiende als solches, zu dessen Erforschung jener Grundsatz als der sicherste aufgestellt wird. Er ist also ein Grundsatz der Ontologie, von der Aristoteles selbst in dieser Frage die reine Logik nicht abtrennt. Eine solche Abtrennung erfolgt erst später. Sie wird dann von Kant prinzipiell vollzogen und begründet im Verhältnis der selbständig zu entfaltenden reinen oder formalen Logik zur Transzendentalphilosophie, die an die Stelle der alten Ontologie tritt. Der Satz vom Widerspruch gilt als allgemeines, rein logisches Prinzip für alle Urteile unabhängig von ihrer Beziehung auf Seiendes. Dennoch ist auch er für Kant in gewisser Weise Wahrheitskriterium; was sich widerspricht, kann weder sein noch erkannt werden; die Nichtwidersprüchlichkeit ist zugleich positives Kriterium der Wahrheit eines analytischen Urteils. Die Möglichkeit der Wahrheit synthetischer Urteile kann allerdings nur durch die transzendentale Deduktion der Kategorien innerhalb der Transzendentalphilosophie erwiesen werden, die selbst die Regeln der formalen Logik voraussetzt. Hegel dagegen integriert innerhalb seiner spekulativen Logik diese formale Logik unter Veränderung einiger ihrer Lehren wieder in eine Ontologie und Ontotheologie, und zwar aufgrund der Konzeption eines neuar1
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Vgl. Plato: Sophistes 230b, vgl. auch 263d, schon Resp. 436b; zur Wendung gegen Heraklit vgl. Symposion 187a-b, auch Sophistes 242d-e (nach der Stephanus-Ausgabe). Vgl. Aristoteles: Metaphysik. 1005b, 17-25 (nach der Bekker-Ausgabe).
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IDENTITÄT UND WIDERSPRUCH
tigen spekulativ-dialektischen Denkens. Hiermit stellt sich erneut die Frage, ob Identität und bzw. oder Widerspruch grundlegende, wahre Bestimmungen des Seienden selbst und als solchen sind. Hegel gelangt insbesondere mit dem Gedanken der positiven ontologischen Bedeutung des Widerspruchs zu einer anderen ontologischen Theorie als etwa Plato oder Aristoteles und in seinem eigenen Verständnis zu einer partiellen Restitution der Heraklitischen Lehre, über deren ursprüngliche ontologische Einfachheit er jedoch durch die Entfaltung des ganzen Reichtums der ontologischen Bestimmungen hinausgeht. Dieses Verständnis des Widerspruchs in seiner ontologischen Bedeutung und die Konzeption der Immanenz dieses Widerspruchs in der ebenfalls ontologisch verstandenen absoluten Identität sind nun zentral für Hegels spekulative Dialektik. Das reine spekulative Denken, das als solches nach Hegel das Seiende erkennt, verstößt gegen den logischen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, um den Widerspruch als grundlegende Bestimmung des Seienden selbst denken zu können. Formallogische Kritiker, die nur diesen Verstoß rügen, gehen an Hegels spekulativ-ontologischer Begründung vorbei. Diese findet sich am ausführlichsten in der Wesenslogik, in der auf der Grundlage des Wesens als Reflexion die Reflexionsbestimmungen von der Identität bis zum Widerspruch und zum Grund als der höheren Bestimmung der absoluten Identität in notwendigem Zusammenhang entwickelt werden. Diese Reflexionsbestimmungen erweisen sich bei Hegel zugleich als Kennzeichnungen wesentlicher methodischer Stadien im dialektischen Fortgang überhaupt. Die Argumentation Hege1s, die in der Wissenschaft der Logik von der Identität zum Widerspruch und Grund führt, ist zwar die detaillierteste und am meisten ausgebildete über diese Frage; dennoch bleibt sie teilweise dunkel und mit Schwierigkeiten behaftet, so daß in ihr die zugrundeliegende metaphysische Konzeption und Motivation nicht immer klar erkennbar ist. Diese erschließt sich jedoch einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung, die bei den Jugendschriften beginnt und bis zur Wissenschaft der Logik geht. Eine solche Betrachtung kann zeigen, was Hegel zum Hinausgehen über die traditionelle Logik und zur Begründung einer neuen Ontologie und Ontotheologie im reinen Denken veranlaßt, die zudem noch manchen Wandlungen unterworfen ist, bevor sie ihre klassische Gestalt in Hegels spekulativer Logik erhält. So sei in entwicklungsgeschichtlicher Abfolge zunächst Hegels erste Eingrenzung und zugleich Überschreitung der traditionellen Verstandeslogik und speziell des Satzes vom Widerspruch in den Frankfurter Schriften auf ihre metaphysischen Gründe hin untersucht. Dann sei innerhalb der ersten Konzeption von absoluter Metaphysik das Verhältnis von Identität und Widerspruch in der Differenz-Schrift und in der frühen Logik und Metaphysik (1801/02) sowie die Verwandlung der klassischen logischen Axiome im späteren Jenaer Systementwurf von 1804/05 erörtert. Besonders bei diesem Systementwurf ist zu klären, warum Hegel jene Grundsätze nicht schon in der Logik, sondern erst in der von ihr getrennten und auf sie folgenden Metaphysik expliziert und wie daraufhin das metaphysische, spekulative Denken von ihm bestimmt wird.
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1. LEBEN IN DEN JUGENDSCHRIFTEN
Schließlich gilt es, die Entstehung der Wesenslogik und speziell der Lehre von den Reflexionsbestimmungen anhand von Nürnberger propädeutischen Logiken zu skizzieren, um dann vor dem Hintergrund der aufgewiesenen metaphysischen Einsichten und Wandlungen Hegels die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen des Wesens und deren Bedeutung für die spekulative Ontologie sowie für die Phasenabfolge der dialektischen Methode und des dialektischen Denkens anhand der Wissenschaft der Logik in einzelnen ausgewählten Argumentationsschritten Hegels darzulegen.
1. Verstandeswiderspruch und Einheit des Lebens in Hegels Jugendschriften Die ersten Motive, über den Satz vom Widerspruch als ein Prinzip der Verstandeslogik hinauszugehen, finden sich schon in Hegels Frankfurter Schriften. Solche Motive sind ihm gemeinsam mit den Frankfurter und Homburger Freunden; insbesondere folgt er Anregungen Hölderlins. Zuvor war Hegel mit einigen Modifikationen Kantianer; durch Schellings Frühschriften und den Briefwechsel mit Schelling wird er zum ersten Mal ernsthaft mit dem Spinozismus, nämlich mit Schellings Spinozismus des Ich konfrontiert. Im Frankfurter Freundeskreis adaptiert er dann bald Hölderlins Entwurf einer pantheistischen Metaphysik des Einen und des Schönen, die zugleich ein ästhetischer Platonismus ist.3 Hölderlin legt in dem Fragment über Urteil und Sein4 dar, daß das Urteil als Ur-teilung, als Trennung insbesondere der Bestimmungen des Subjekts und Objekts voneinander schon gegenseitige Beziehung und damit ein zugrundeliegendes Ganzes und Eines voraussetze. Dies erweist sich, wie Hölderlin gegen Fichtes Theorie des Ich sagt, insbesondere für das Selbstbewußtsein. Da dieses in seinem Fürsichsein und in der Vorstellung seiner selbst in Subjekt und Objekt geteilt ist, kann es nicht höchstes Prinzip sein; ihm kommt nach Hölderlin allenfalls Identität zu, d.h. Einheit des Ich mit sich in schon unterschiedenen vorausgesetzten Bestimmungen. Aber es ist nicht ur3
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Zu den philosophischen Gemeinsamkeiten Hölderlins und Hegels vgl. vor allem J. Hoffmeister: Hölderlin und Hegel. Tübingen 1931; A. Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde. Den Haag 21969, 192 f, 215 f; O. Pöggeler: „Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm“. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg. von R. Bubner (= Hegel-Studien. Beiheft 9 [1973], 211-259); D. Henrich: „Hegel und Hölderlin“. In ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 1971, 9-40; vom Verf.: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Homburg v.d..H. in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981, 101-117 (s. vorl. Band IV, 1); Chr. Jamme: „Ein ungelehrtes Buch. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800“. In: Hegel-Studien. Beiheft 23 (1983), bes. 150-197, 317-348. Vgl. F. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von F. Beissner. Stuttgart 1961. Bd. 4/1, 216 f. Auf die fundamentale, prinzipientheoretische Bedeutung dieses Fragments, in dem sich bereits Hölderlins Vereinigungsphilosophie ankündigt, macht aufmerksam D. Henrich: „Hölderlin über Urteil und Sein“. In: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965/66), 73-96.
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IDENTITÄT UND WIDERSPRUCH
sprüngliche, in sich einfache Einheit. Diese denkt Hölderlin als dem Selbstbewußtsein und überhaupt allen Trennungen und Gegensätzen überlegenes Sein und Leben, das zugleich für alles dies der Urgrund ist. Das Eine und Ganze als wahres Sein aber ist Schönheit, wenn es als in sich einige Harmonie in der Mannigfaltigkeit und in den Unterschieden des Wirklichen aufleuchtet. Sinclair, der ebenfalls zu dem Freundeskreis gehört, ist von diesem Ansatz in seiner Fichte-Kritik bestimmt.5 Auch für ihn kann die Reflexion des endlichen Ich, die Unterscheidungen und Trennungen verhaftet bleibt, nicht selbständiges Prinzip sein; ihr vorzuordnen ist als höchstes Prinzip das einfache, voraussetzungslose Sein. Ebenso schließt Hegel sich dann in Frankfurt dieser Grundposition an. Sie bildet für ihn das Fundament für seine konkreteren Untersuchungen über die Religion, mit denen er damals vornehmlich befaßt ist; diese Position wird von ihm in der Abfolge seiner Frankfurter Entwürfe jedoch auch eigenständig weiterentwickelt. Die Unterscheidung und Trennung endlicher Bestimmungen interpretiert Hegel von Kant her als Antinomie.6 Hierbei handelt es sich für ihn also um eine Entgegensetzung, allerdings nicht von Sätzen, sondern von Begriffen. Solche Entgegensetzung ist im endlichen Bewußtsein und für dessen Reflexion unvermeidlich, ähnlich wie bei Kant die Antinomien für die Vernunft unausweichlich sind; Hegel hält sie allerdings anders als Kant für nicht auflösbar. Die Entgegensetzung oder Antinomie endlicher Bestimmungen ist in Hegels Auffassung als entgegensetzende Beziehung freilich selbst nur möglich und nur erkennbar, wenn ihr Vereinigung schon zugrunde liegt. Diese Vereinigung kann als der Seins- und Erkenntnisgrund der Antinomie und ihrer entgegengesetzten Bestandteile angesehen werden. Wie Hölderlin denkt Hegel sie als das Sein. Solches Sein als Vereinigung ist für Hegel die Grundlage aller Religion; bewußtseinsimmanent vorgestellt wird es in einem Glauben. Glauben und nicht Denken ist hier für Hegel die angemessene Weise des Fürwahrhaltens. Das Sein geht jedoch in dieser Bewußtseinsimmanenz nicht auf, sondern ist unabhängig davon, liegt an sich allem Bewußtsein und dessen Gegensätzen der Reflexion voraus. Die Präsenz des Seins oder der Vereinigung im Bewußtsein und dessen Gegensätzen ist in gewisser Weise paradox. Das endliche Bewußtsein denkt in seinem Verstand oder in seiner Reflexion nur endliche Bestimmungen, die in ihrer Bedeutung begrenzt sind; so ist ihnen das, was sie nicht sind, jeweils entgegenzusetzen. Diese Hinzufügung des jeweiligen Gegenteils nennt Hegel „Vervollständigung“.7 Aber das endliche Bewußtsein oder die Reflexion gelangt für sich nicht über diese Sphäre der Entgegensetzung hinaus. Soll das 5
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Zu Sinclairs früher Philosophie vgl. H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Frankfurt a.M. 1971, bes. 120-170, auch 47-58. Vgl. G.W.F. Hegel: Theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Tübingen 1907 (ND Frankfurt a.M. 1966), 382 f. Vgl. a.a.O. 348 ff; vgl. ebenso die Differenz-Schrift in Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, bes. 17.
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1. LEBEN IN DEN JUGENDSCHRIFTEN
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Sein als Vereinigung, das sich zugleich als göttliches Leben erweist, im endlichen Bewußtsein irgendwie vorgestellt werden, so ist es für das Bewußtsein ein Widerspruch; ihm nämlich gilt „jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte“ als „widersinnig“; der „Verstand, der es aufnimmt und dem es Widerspruch ist“, wird dadurch „zerrüttet“.8 Denn Sein und Leben sind unendlich und durch verständige endliche Bestimmungen nicht zu erfassen. Versucht der Verstand es dennoch, indem er etwa über die Einseitigkeit einer fixierten Bestimmung für Endliches durch Vervollständigung um ihr Gegenteil hinausgeht, so denkt er entgegengesetzte, einander ausschließende endliche Bestimmungen als Prädikate des Unendlichen und damit einen Widerspruch. Gemäß dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist dieser Gedanke zwar ungültig und nichtig; doch ist er zugleich unausweichlich, wenn das Unendliche, nämlich das Sein und das Leben im Bewußtsein und dessen Gegensätzen präsent sein soll. Der Satz vom Widerspruch wird hierbei in seinem Geltungsbereich auf Aussagen des Verstandes beschränkt: „Was im Reich des Toten Widerspruch ist, ist es nicht im Reich des Lebens“.9 Das „Reich des Toten“ ist das Reich der fixierten, unlebendigen, endlichen Verstandesbestimmungen. Der Satz vom Widerspruch gilt damit ontologisch nicht mehr universal; im Reich des Lebens gibt es Seiendes, das der Verstand nur in Widersprüchen zu denken vermag, das aber in eigentlicher Weise, wie Hegel im Verlaufe seiner Frankfurter Zeit dann mit Hölderlin annimmt, in „Begeisterung“ oder auch im „Gefühl“ oder aber „mystisch“ in höherer, nichtsinnlicher, also intellektueller Anschauung zu erfassen ist.10 In solcher Anschauung ist der Mensch, der sich in ihr nicht als einzelnes Bewußtsein erhält, ein „Lichtgefühl“. Mit dieser vage neuplatonisch-mystischen Auffassung, die nicht auf spezifische Vorbilder rekurriert, geht Hegel ebenso wie Hölderlin über die Position der Reflexion des Bewußtseins und seiner Entgegensetzungen hinaus. Hölderlin und Hegel supponieren hierbei als Grundlage jener Entgegensetzungen ein ursprünglich Eines und Ganzes, das das Prinzip für ihren neuspinozistischen Pantheismus des Lebens und auch für jene Auffassung vom mystischen Anschauen ist. Das Motiv für die Einschränkung der Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch auf Verstandesbestimmungen, wie insbesondere Hegel sie faktisch vornimmt, liegt also in diesem metaphysischen Ansatz des Einen und des Allebens. Diese Konzeption gehört zur Vorgeschichte der Dialektik Hegels. Das Verhältnis von Antinomie und Vereinigung, von Einigkeit in den Getrennten, wie Hegel es, wiederum in Aufnahme von Anregungen Hölderlins, in verschiedenartigen Zusammenhängen beschreibt, ist selbst keineswegs schon Dialek-
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Theologische Jugendschriften, a.a.O. 306. A.a.O. 308 f. Vgl. a.a.O. 305 f, 303, 379, 308, zum folgenden 316. Mit solcher positiven adäquaten Erfassung des Seins und Lebens geht Hegel über seine frühere Auffassung (in Glauben und Sein) hinaus, es sei nur im „Glauben“ vorstellbar.
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IDENTITÄT UND WIDERSPRUCH
tik.11 Denn die Einheit der entgegengesetzten Bestimmungen kann selbst nicht gedacht, sondern nur gefühlt oder enthusiastisch angeschaut werden; damit läßt sich auch kein methodischer Sinn des Verhältnisses jener Einheit zu den entgegengesetzten Gliedern begrifflich bestimmen. Das Prinzip der Einheit oder des einfachen Seins und Lebens als Fundament aller Gegensätze des Endlichen nimmt Hegel aber nicht lediglich von Hölderlin auf, sondern entwickelt es in den späteren Frankfurter Entwürfen auch selbständig weiter. Das Eine ist für Hegel zugleich das wahrhaft Unendliche. Gemäß dem Begriff der wahren Unendlichkeit, den Hegel schon hier konzipiert, darf dieses Eine das Endliche und dessen Gegensätze nicht außer sich haben, weil es dann selbst etwas Endliches, anderem nur Entgegengesetztes wäre; es muß die endlichen Bestimmungen und ihre Antinomien vielmehr in sich enthalten, d.h. zugleich, es muß in ihnen als belebendes Prinzip, als eine die Fixiertheit des Endlichen ebenso wiederaufhebende Macht gegenwärtig sein. Entgegensetzung und Beziehung von endlichen Bestimmungen müssen dabei selbst verbunden werden, und solche Verbindung muß mit der Nichtverbindung erneut eine Verbindung eingehen usf., so daß insgesamt das unendliche Eine als Leben alles Endliche und dessen Verhältnisse in sich faßt und durchwaltet.12 Dieses Eine ist in ontologischer Hinsicht nicht einfaches Insichsein, wie es Spinozas Substanz zukommt, sondern in sich einiger, hervorbringender und belebender Grund, aus dem alles Endliche und dessen Relationen hervorgehen und in dem sie doch verbleiben. Hegel knüpft hiermit also nicht einfach an Spinozas Substanzbegriff an. Dies wird auch daran sichtbar, daß für Hegel dieses göttliche Leben in seinem produktiven Durchwirken und Beleben alles Mannigfaltigen als solches und im ganzen – und nicht nur als Attribut – zugleich Geist ist. Die Einheit als Prinzip wird somit inhaltlich und strukturell wesentlich differenziert. Von der späteren Konzeption des Absoluten als Identität der Identität und der Nichtidentität, wie Hegel sie von der DifferenzSchrift an formuliert, trennt ihn noch die Auffassung, daß dieses Eine als Leben und auch als Geist nicht durch Denken erkennbar ist, weil das Denken nach der Konzeption Hegels in den Frankfurter Entwürfen immer nur endliche Bestimmungen aufzustellen und durchzugehen vermag. Wahrhaft erfaßt wird es nur in der Religion als der Vereinigung von Gefühl bzw. von Anschauung und Reflexion. 11
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Gegen diese oft vorgetragene Ansicht, in der Einheit der Entgegengesetzten oder in der davon bestimmten Struktur der Liebe habe Hegel zum ersten Mal seine Dialektik konzipiert, sei erlaubt zu verweisen auf das Werk des Verfs.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15 3(1995), 43 f, 50 ff. So ist Leben „die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ von weiteren Relala, vgl. Theologische Jugendschriften, a.a.O. 348; vgl. zum Verständnis dieser Passage und dieses Begriffs M. Baum: „Zur Vorgeschichte des Hegelschen Unendlichkeitsbegriffs“. In: Hegel-Studien 11 (1976), 106 f. Zum systematischen Kontext dieses Gedankens in Hegels Systemfragment vgl. L. Lugarini: Hegel dal mondo storico alla filosofia. Roma 1973, 64 ff.
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2. DIALEKTIK IN HEGELS JENAER SCHRIFTEN
Bleibt das Denken sich selbst überlassen, so kann es das ganze Reich der endlichen Bestimmungen durchgehen und diese in Gegensatzverhältnissen anordnen. Darin besteht nach diesem Ansatz Hegels die Aufgabe der von der Religion unterschiedenen Philosophie. Sie weist in allem Endlichen und dessen Gegensätzen nur Endlichkeit und damit Unvollendetheit auf, so wie der philosophische Zweifler bei Hölderlin im Endlichen nur Mangel findet, weil ihm die „mangellose Schönheit“ vorschwebt. In ähnlicher Weise setzt der Philosoph für Hegel die erfüllte Unendlichkeit als eigentliche Wahrheit voraus, die er durch Denken jedoch nicht erreichen kann, deren Erfassung vielmehr der Religion vorbehalten bleibt. Diese Bestimmung der Philosophie bildet eine Präfiguration der Konzeption der Logik in der frühen Jenaer Zeit als eines „wissenschaftlichen Skeptizismus“. In dieser Philosophie und in jener Logik kann das Unendliche und das Eine Sein und Leben nur als Widerspruch endlicher Bestimmungen untereinander gedacht werden, wodurch sich das Denken des Endlichen in seinem Anspruch auf selbständige Gültigkeit aufhebt. Da dem Unendlichen aber die endlichen Bestimmungen und deren Verhältnisse immanent sind, ist in ihm auch auf solches sich aufhebende Denken als Präsenz des Unendlichen im endlichen Bewußtsein keinesfalls zu verzichten.
2. Widerspruch und absolute Identität. Entstehung und Entwicklung der Dialektik in Hegels Jenaer Schriften 1. Vom Beginn der Jenaer Zeit an (seit 1801) konzipiert Hegel Philosophie als absolute Metaphysik, d.h. als vollständige vernünftige Erkenntnis des Absoluten in systematischer Wissenschaft, was er in seinen Frankfurter Fragmenten noch für unmöglich gehalten hatte;13 systematische und zugleich rechtfertigende Einleitung in diese Metaphysik und in ihr spekulatives Wissen ist für Hegel in seinem frühen Jenaer Ansatz die Logik, die die Aufgaben der Philosophie übernimmt, wie Hegel sie in Frankfurt bestimmte. In dieser Logik werden die reinen Bestimmungen in systematischem Zusammenhang entwickelt, die der Reflexion oder dem endlichen Denken des Verstandes als solchen immanent sind. Am Ende der Logik sieht die Reflexion ein, daß sie im Denken dieser endlichen, nach Hegel jeweils gegensätzlichen Bestimmungen selbst grundlegend dem Widerspruch unterliegt; da sie den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch beachtet, wird ihr mit dieser Einsicht die Ungültigkeit und Nichtigkeit ihrer eigenen Bestimmungen evident. Dennoch ist Erkenntnis des Absoluten nach Hegel möglich; hierzu bedarf es eines höheren Vorstellungsvermögens, als die Reflexion es ist, nämlich der intellektuellen Anschauung. In ihr, für sich genommen, wäre das Absolute jedoch nur unbewußt gegenwärtig. Die 13
Zu den Gründen dieses Wandels in Hegels Denkentwicklung sei der Verweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs. in: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“ (s. Anm. 11), 70 ff. Zum folgenden vgl. 93-108.
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IDENTITÄT UND WIDERSPRUCH
Reflexion behält für das Erkennen des Absoluten nach Hegel daher eine notwendige, wenn auch untergeordnete Bedeutung. Das Absolute kann nur gewußt und wissenschaftlich entfaltet werden im Bewußtsein und unter Berücksichtigung der Reflexionsformen des Bewußtseins. Solche Bewußtseinsimmanenz des Absoluten aber vermag sich in den endlichen Reflexionsbestimmungen lediglich als Widerspruch auszudrücken. Bei diesem Begriff der Reflexion als des endlichen Verstandesdenkens, das in der Logik seine eigenen endlichen Bestimmungen von fixierter Bedeutung erfaßt, steht für Hegel Fichtes Begriff des endlichen Ich im Hintergrund; Hegel interpretiert es – seinem Ansatz gemäß – zum logischen Ich als Prinzip der reinen endlichen Reflexionsbestimmungen um. Er setzt hiermit zugleich die Fichte-Kritik der Frankfurter Freunde und seine eigene frühere Fichte-Kritik fort. Fichtes ausgeführte Philosophie gilt ihm nur als Theorie der endlichen Reflexion, nicht als Theorie der Spekulation oder der wahren vernünftigen Erkenntnis.14 Die Reflexion – oder jenes endliche Fichtesche Ich, auf das der Grundsatz: „Ich bin Ich“ sich bezieht – ist am Ende der Logik für Hegel wesentlich bestimmt durch den Widerspruch, der nach seiner Theorie dem Ich oder der Reflexion immanent ist; dieser Widerspruch aber beruht auf dem Seins- und Erkenntnisgrund der absoluten Identität. Widerspruch und vorausgesetzte absolute Identität kennzeichnen also die Reflexion, und zwar sowohl an der Nahtstelle des Übergangs von der Logik in die Metaphysik als auch innerhalb der Philosophie des Absoluten, wo sie „philosophische Reflexion“ oder „Instrument des Philosophierens“15 ist. Diese systematische und Fichte gegenüber kritische Konzeption der Reflexion entwickelt Hegel später weiter in seiner Lehre von den Grundsätzen des Erkennens und schließlich von den Reflexionsbestimmungen des Wesens. Ebenso wird bereits in dieser Konzeption gegen den Satz vom Widerspruch verstoßen, was Hegel später in seiner Dialektik beibehält. Hegel erklärt in einer seiner Habilitationsthesen von 1801 ausdrücklich: „Contradictio est regula veri, non contradictio falsi“; denn das Absolute kann im Bewußtsein und dessen Bestimmungen, wie Hege1 in der Differenz-Schrift betont, nur so gegenwärtig werden, „daß die rein formale Erscheinung des Absoluten der Widerspruch ist“. Hiermit ist jeweils der logische Widerspruch gemeint, wie auch aus dem Skeptizismus-Aufsatz klar hervorgeht: Der sogenannte Satz des Widerspruchs ist daher so wenig auch nur von formeller Wahrheit für die Vernunft, daß im Gegenteil jeder Vernunftsatz
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Während Hegel in der Differenz-Schrift noch einen spekulativen Sinn in Fichtes Prinzip des absoluten Ich sieht, den er von der systematischen Ausführung durch die bloße Reflexion unterscheidet, ist Fichtes Philosophie für ihn in Glauben und Wissen von Anfang an Reflexionsphilosophie. Vgl. dazu und allgemein zu Hegels Fichte-Kritik vom Verf.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O. 120 ff. Hegel: Gesammelte Werke 4, a.a.O. 22, 27 sowie 16 ff. Vgl. hierzu L. Lugarini: Hegel dal mondo storico alla filosofia (s. Anm. 12), bes. 84·96.
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2. DIALEKTIK IN HEGELS JENAER SCHRIFTEN
in Rücksicht auf die Begriffe einen Verstoß gegen denselben enthalten muß.16
Hegel hat hierbei offenbar die formallogische Bedeutung des Satzes vom Widerspruch als eines negativen Grundsatzes für alle Urteile vor Augen, wie er sie aus Kants Kritik der reinen Vernunft entnehmen konnte.17 Nur endliche Begriffe, die sich auf endliche Sachverhalte beziehen, dürfen in der Urteilsverknüpfung einander nicht widersprechen wie etwa in Kants Beispiel: „Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt“. Soll das Absolute dagegen im Bewußtsein präsent sein, so müssen sich die Bestimmungen, die es zu erfassen suchen, in ihrer Endlichkeit aufheben, indem sie logisch in Urteilsverknüpfungen Widerspruchsverhältnisse bilden und damit ihren Anspruch auf selbständige Gültigkeit einbüßen. Jede spekulative Wahrheit enthält notwendig einen solchen Widerspruch endlicher Bestimmungen der Reflexion. Hegel verlangt also – entgegen vielfach geäußerter Meinung seit dem 19. Jahrhundert bis heute – das Begehen nicht nur eines ontologischen, sondern zugleich des logischen Widerspruchs,18 und zwar aus spekulativ-metaphysischen Gründen. Der Widerspruch, in dem das Absolute negativ ausgedrückt wird, kann für Hegel auch zwischen grundlegenden Sätzen bestehen wie A = A und A = B qua Non-A; die absolute Identität werde darin sichtbar, daß man trotz dieses Widerspruchs aus dem einen den jeweils entgegengesetzten Satz gewinnen könne. Diese Operation gelingt freilich nur, wenn die absolute Identität, die den Widerspruch in sich enthält, hierbei schon vorausgesetzt wird.19 16
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Das erste Zitat findet sich in K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 156, die beiden anderen Zitate in Hegel: Gesammelte Werke 4, a.a.O. 27 und 208. Vgl. Kritik der reinen Vernunft. B 190, im folgenden B 192. E. Berti zeigt für den späteren Hegel auf, daß dieser sich gegen den Satz vom Widerspruch nicht in Aristoteles’, sondern in Kants Fassung richtet; vgl. E. Berti: „Ist Hegels Kritik am Satz vom Widerspruch gegen Aristoteles gerichtet?“ In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), 371-377. Vgl. bereits ders.: “La contraddizione in Aristotele, Kant, Hegel e Marx”. In: La contraddizione. A cura di E. Berti etc. Roma 1977, bes. 16-21. Vgl. auch: „Jede echte Philosophie“ hat die „negative Seite“, daß sie „den Satz des Widerspruchs ewig aufhebt“ (Gesammelte Werke 4, 209). Die Interpreten, die bei Hegel keinen Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch sehen, suchen Hegel vor der formallogischen Kritik, wie sie prominent zuerst Trendelenburg äußerte, in Schutz zu nehmen, so schon K. Rosenkranz: Wissenschaft der logischen Idee. T. 1: Metaphysik. Königsberg 1858, 300 ff; vgl. zur Darstellung solcher Interpretationen mitsamt seiner eigenen A. Sarlemijn: Hegelsche Dialektik. Berlin 1971, 8l ff, auch 95 ff; kürzlich wurde diese These erneut vertreten von M. Wolff: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels. Königstein 1981. Vgl. Hegel: Gesammelte Werke 4, a.a.O. 25 f. Für die nähere Ausführung darf verwiesen werden auf die Darlegung des Verfs. in: „Das Problem der Subjektivität“ (s. Anm. 11), 95 f, 98 f. Zur im folgenden erwähnten These über die frühe Dialektik vgl. bes. 101 ff. Zu ähnlichen Ergebnissen wie der Verfasser in seinen näheren Ausführungen kommt R. Lauth: „Hegels spekulative Position in seiner Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie im Lichte der Wissenschaftslehre“. In: Kant-Studien 72 (1981), bes. 476 f. Ein anderes Ergebnis stellt sich bei z.T. ähnlichen Argumenten ein für B. Tuschling: „Widersprüche im transzendentalen Idealismus“. In: Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“. Hrsg. von B. Tuschling. Berlin und New York 1984, bes. 288 ff, 303 ff.
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Der rein negativ bleibende Aufweis, daß unter den endlichen Bestimmungen der Widerspruch herrscht, wird nach Hegel vom Skeptizismus erbracht; so ist die frühe Logik mit ihren Antinomien der reinen Bestimmungen der Reflexion ein „wissenschaftlicher Skeptizismus“.20 Als ihre Methode kann eine frühe, noch rein negativ bleibende Form von Dialektik eruiert werden. Sie besteht in der systematischen Aufstellung entgegengesetzter Reflexionsbestimmungen und läßt den grundlegenden Widerspruch erkennen, dem diese Bestimmungen und überhaupt die Reflexion unterliegen, aus dem selbst jedoch noch kein positives Resultat hervorgeht. Die positive Seite der Philosophie, in die die negative einleitet, enthält nach Hegel die absolute Identität, die von ihm in der Aufnahme Spinozas ontologisch und ontotheologisch als die eine und einzige Substanz gedacht wird. Diese ist für ihn durch die causa sui charakterisiert; die causa sui aber konzipiert er als absolute Identität der antinomischen Reflexionsbestimmungen der Ursache und der Wirkung. So bilden diese, auf eine und dieselbe Sache in einer Aussage bezogen, einen Widerspruch, in dem sich ex negativo die Identität der absoluten Substanz im Bewußtsein zeigt. Eine Aufstellung solcher Widersprüche und damit Dialektik findet sich also auch in der Metaphysik und ferner überhaupt im System, freilich nicht als zureichende Methode, sondern als ein untergeordneter Bestandteil der Spekulation. Diese synthetisiert in sich die intellektuelle Anschauung als unmittelbares Gegenwärtighaben des Absoluten in absoluter Identität und die Reflexion mit ihren bewußtseinsimmanenten antinomischen Bestimmungen. 2. In der späteren Systemkonzeption von 1804/05 ist diese Dichotomie von intellektueller Anschauung und Reflexion als getrennter Erkenntnisbestandteile zugunsten eines neuartigen, einheitlichen, nicht nur endlich-formalen Denkens aufgegeben. Die systematische Trennung der Logik von der Metaphysik behält Hegel jedoch in diesem Ansatz noch bei, obwohl er in die Logik grundlegende metaphysische Gehalte aufnimmt. Um so erstaunlicher ist zunächst, daß er Identität und Widerspruch, die er an die traditionellen logischen Grundsätze zurückbindet, und überhaupt die logische Axiomatik nicht in der Logik, sondern erst am Anfang der Metaphysik erörtert. Dies Vorgehen Hegels und seine Gründe dafür machen aber zugleich einen weiteren Schritt auf dem Wege zur späteren spekulativen Lehre von den Reflexionsbestimmungen des Wesens aus. Am Ende der Logik innerhalb der Konzeption von 1804/05 erkennt das Erkennen nach vollendetem Durchgang durch die ihm eigenen Bestimmungen sich selbst. Wieder steht für Hegel hierbei Fichtes Begriff des Ich im Hintergrund. Die Tätigkeit dieses Erkennens nennt er auch „Reflexion“. Sie ist das Denken bestimmter Inhalte, das schließlich zum Denken seiner selbst wird. 20
Dieser Ausdruck findet sich bei Schelling, dürfte sich aber sehr wahrscheinlich auf Hegels frühe Logik beziehen, vgl. F.W.J. Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856-61. Bd. V, 269, zur Dialektik vgl. auch 267.
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Obwohl zu den Inhalten nun metaphysische Bestimmungen wie die Unendlichkeit gehören, ist dieses Denken noch nicht das vollkommene, unendliche Denken des Geistes; es muß dazu in der Metaphysik allererst entwickelt werden. In ihr erst kristallisiert sich vollständig das Wesen des neuartigen Denkens heraus, in dem die früher getrennten Erkenntnisarten der Reflexion und der intellektuellen Anschauung ursprünglich eins sind. Am Anfang der Metaphysik weiß sich das Erkennen als das Wahre oder als das Ansichseiende, und zwar zunächst in der Bestimmung der Einheit als der einfachen Gleichheit oder Identität. Sie wird in dem Satz A = A ausgedrückt. Wesentlich soll hierbei, wie Hegel erklärt, nur die Gleichheit sein, nicht der besondere Inhalt A. Von aller Verschiedenheit soll dabei abgesehen werden; weder wird hier A mit B gleichgesetzt, noch soll die unterschiedliche Stellung der beiden A im Satz: A = A irgendeine Bedeutung haben. Hegel weist ausdrücklich darauf hin, daß „die Sichselbstgleichheit [...] hier zu einem Satze geworden“ ist;21 auf andere Weise kann sie gar nicht explizit gedacht werden. Der Satz der Identität aber hat notwendigerweise Unterschied, ja Entgegensetzung als „reinen Schein“ an sich; sie soll in jenem Satz nicht enthalten sein und ist doch in ihm als Satz unvermeidlich. In diesem Gedanken liegt der Keim zu Hegels späterem Begriff des Scheins des Wesens. Ferner ist die Identität im Satz der Identität nach Hegel „in sich reflektiert“. Sie wird nicht als einfache, unmittelbare Identität vorgestellt; vielmehr setzt das Denken sie von dem, was sie nicht ist, von ihrem Anderen ab und kehrt zu ihr zurück als nunmehr vermittelt gesetzter Identität, in deren konstanter Bedeutung zugleich die Beziehung auf ihr Anderes zu denken ist. Auch diese „Reflexion in sich“ ist im Satzcharakter der Identität enthalten, was Hegel ebenfalls später weiter ausbildet. Im Satz der Identität ist für Hegel notwendigerweise Unterschied und Gegensatz mitgesetzt, weil in A = A nicht nur explizite Gleichheit oder Identität, sondern ebenso ein davon unterschiedener bestimmter Inhalt gedacht wird. Von solchem Inhalt ist prinzipiell nicht zu abstrahieren, da sonst der Satz als Satz unmöglich wird, ohne den das reine Denken als Erkennen sich nicht artikulieren könnte. Im Satz der Identität wird also nicht nur in sich reflektierte Identität, sondern auch einfache, nicht in sich reflektierte Bestimmtheit gedacht, die das Gegenteil jenes in sich reflektierten Begriffs darstellt; so ist nach Hegel in A = A zugleich der Widerspruch enthalten; in sich reflektierte Identität und einfache Bestimmtheit als ihr Gegenteil sind gleichermaßen Sinnbestandteile des Satzes der Identität; der Satz der Identität wird zu einem 21
G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 7. Hrsg. von R.-P. Horstmann und J.H. Trede. Hamburg 1971, 131, vgl. ebd. auch im folgenden. Die Darlegung von 1dentität und Widerspruch ist hier klarer als in der Differenz-Schrift und nimmt deutlicher auf die traditionellen logischen Axiome Bezug, so daß auch Hegels Umdeutung spezifischer hervortritt. Vgl. zu Hegels Darlegung in der Differenz-Schrift und im Entwurf von 1804/05 F. Longato: “Note sul significato del ‘Principio d’identità o di contraddizione’ nella formazione del pensiero hegeliano. In: La contraddizione, a.a.O. bes. 128 ff.
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IDENTITÄT UND WIDERSPRUCH
Satz des Widerspruchs.22 Der Widerspruch ist nach Hegel hier gerade nicht zu vermeiden, sondern notwendig zu denken. Hegel verändert damit gravierend die Bedeutung der traditionellen logischen Grundsätze der Identität und des zu vermeidenden Widerspruchs. Er sucht zu zeigen, daß diese Grundsätze im reinen Denken und Erkennen nicht einfach nebeneinander stehen können, sondern daß der Satz der Identität in den des Widerspruchs übergeht und daß der Widerspruch dabei gerade unvermeidlich ist. Innerhalb der formalen Logik und im formalen endlichen Denken ist beides nicht zu erweisen. Hegel setzt hierbei voraus, daß der Identität die von ihr unterschiedene, einfache inhaltliche Bestimmtheit, ohne die sie nicht gedacht werden kann, wesentlich ist, was schon in der DifferenzSchrift angelegt war, ferner daß allgemein die Struktur der Reflexion in sich für logisch-metaphysische Bestimmungen gültig ist und schließlich, daß der Widerspruch – wie schon in der Habilitationsthese von 1801 formuliert – die Regel der Wahrheit ist. Das formale endliche Denken kann diesen Voraussetzungen nicht gemäß sein: Es kann im Begriff der Identität nicht das gerade von ihr Unterschiedene als ihr wesentlich denken; es ist zur Bewegung und Struktur der Reflexion in sich letztlich nicht in der Lage, da es in einem in sich reflektierten Begriffsinhalt notwendig die Beziehung auf dessen Anderes und daraufhin – nach Hegel – das Enthaltensein jenes Anderen in dessen Bedeutung denken müßte, was zum Widerspruch führt; und schließlich gilt ihm der Widerspruch als etwas zu Vermeidendes und von der Identität Fernzuhaltendes. In dem neuartigen spekulativen Denken als Erkennen dagegen sind Identität und Widerspruch auf die angegebene Art verbunden; Hegel faßt beide Bestimmungen sogar in Einem Grundsatz zusammen. In diesem Denken ist damit die vormalige Bedeutung der endlichen Reflexion als Denken entgegengesetzter Bestimmungen und des ihr selbst immanenten Widerspruchs mit der Bedeutung der intellektuellen Anschauung als Präsenz der absoluten Identität in der Vorstellung ursprünglich und in einem homogenen Ganzen vereinigt.23 Dieses spekulative, nicht formallogische Denken erkennt sich also auf eine erste Weise durch den Satz der Identität und des nicht zu vermeidenden Widerspruchs. Dieser Satz hat nicht formallogische, sondern metaphysische Bedeutung; das Erkennen erkennt sich darin selbst als das Ansichseiende; daher steht diese Umformung logischer Grundsätze am Beginn der „Metaphysik“. Das Erkennen ist hierbei in allgemeinem Sinne sowohl „Reflexion“ als den Gedankeninhalt bewegendes und entwickelndes Denken als auch „Reflexion in sich“ als Gedachtes, Erkanntes und damit als Ansichseiendes in der „Metaphysik“. Identität und Widerspruch sind deshalb nicht nur Gedankenbestimmungen, sondern Bestimmungen des Seienden selbst; dieses ist in sich iden22
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Vgl. die Überschrift: „Satz der Identitat oder des Widerspruchs“, in: Gesammelte Werke 7, a.a.O. 130. Vgl. dazu die Bestimmung am Ende dieser Logik, daß das Erkennen „absolute Reflexion“, nicht mehr nur endliche Reflexion, und damit zugleich „Anschauung“ ist (in: a.a.O. 124).
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tisch und ebenso widersprüchlich, da es prinzipiell von der Struktur des Erkennens, ja sogar das Erkennen selbst ist. Das neuartige spekulative Denken erkennt also sich selbst und damit das Seiende als Ansichseiendes im Horizont eines spezifischen Verhältnisses von Identität und Widerspruch. Der Satzcharakter seiner Selbstauslegung bedeutet, daß es jene Bestimmungen als „in sich reflektierte“ versteht. Doch zeigt sich in dem gekennzeichneten Übergehen der Identität in den Widerspruch noch nicht die Genese und der konstituierende Grund beider. Dies geschieht nach Hegel erst im Durchgang durch den Grundsatz der Ausschließung eines Dritten und mit Erreichung des Satzes des Grundes; auch hierbei deutet Hegel traditionelle logische Grundsätze metaphysisch um. Der Inhalt des Grundsatzes der Ausschließung eines Dritten ist nach Hegel das Viele. Hegel gewinnt es aus dem Verhältnis der Sichselbstgleichheit und der einfachen Bestimmtheit, die in jenem Satz der Identität und des nicht zu vermeidenden Widerspruchs gleichgeltend nebeneinander stehen und gleichberechtigte Bestandteile ausmachen. Von dieser Art des gleichgeltenden oder gleichberechtigten Nebeneinanderstehens ist das Viele. Dem Vielen ist nun das Eine entgegengesetzt; aber dieses ist zugleich auf das Viele bezogen, so ist es „Eins der Vielen“. Damit teilt sich das Viele insgesamt ein in ein reines Mannigfaltiges, „ein Vieles, das ein Vieles ist“, und in ein Eines, das jedoch, auf das Mannigfaltige bezogen, selbst zum Vielen insgesamt gehört.24 Alles weitere, dem Vielen insgesamt Entgegengesetzte ist ausgeschlossen. Historischer Hintergrund dürfte für Hegel hier der zweite Teil von Platos Parmenides sein, und zwar genauer das Setzen des Einen und des Vielen in Beziehung aufeinander; auch dort gibt es außer ihnen kein grundlegendes Drittes. Doch dieses Ausgeschlossene, so argumentiert Hegel nun unplatonisch, ist als das Entgegengesetzte zum gesamten Vielen wieder die Einheit; die Einheit aber oder das Eine, was Hegel hier als gleichbedeutend verwendet, ist doch einer der Bestandteile, in die das Viele insgesamt sich einteilt. Dessen „Ausschließen des Dritten hat also den Sinn, nicht daß noch Anderes außer ihm wäre; sondern es ist kein Anderes außer ihm, es ist an ihm selbst alles Andere“; das Viele 24
Vgl. a.a.O. 133. Einheit und Vielheit werden hier nicht als einfache Bestimmungen wie am Anfang der Logik, sondern als negativ aufeinander bezogene, in sich reflektierte Bestimmungen aufgefaßt. Aus solchen und ähnlichen Anspielungen (vgl. a.a.O. 129) kann man Grundzüge des verlorengegangenen Beginns dieses Systementwurfs von 1804/05 rekonstruieren. Dem Anfang der Logik müssen Erörterungen über die Erhebung des nichtphilosophischen Anschauens zerstreuter, gleichgültiger Vielheit zum philosophischen Denken von einfacher Einheit vorangegangen sein. Dies ist das erste eindeutige Zeugnis dafür, daß Hegel der Logik einleitende Untersuchungen vorausschickt, wie sie später sehr viel gehaltreicher und systematisch differenzierter die Phänomenologie ausführt (vgl. auch a.a.O. 345 ff). Die Einheit, die erreicht wird, ist der generelle Terminus für die dann zu entfaltenden logischen Einheiten, die Kategorien. Die Logik selbst begann, wie aus durchaus signifikanten Rückverweisen zu entnehmen ist, wohl bereits mit Sein und Nichts und deren Vereinigung in der qualitativen Bestimmtheit (vgl. a.a.O. 5 f, 33 f, 112; vgl. ferner K. Rosenkranz: Hegels Leben, a.a.O. 183 f, 213).
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insgesamt ist daher „das Andere seiner selbst“,25 denn es ist zugleich die Einheit. Hegel nennt dies „Andere seiner selbst“ schärfer auch „das Gegenteil seiner selbst, [...] das, was sich selbst aufhebt“.26 Die Argumentationsfigur des Anderen seiner selbst tritt bei Hegel in diesen Jahren (ab 1803/04) zum ersten Mal auf; sie hat die Konzeption des spekulativen Denkens und die Aufhebung des Dualismus von Reflexion und intellektueller Anschauung zur Voraussetzung. Hierbei wird etwas, z.B. das Viele insgesamt als identisch mit sich gedacht, aber eben darin in seiner Bedeutung als Gegenteil in sich selbst, d.h. als sich widersprechend verstanden. So ist das Viele „an sich selbst der Absolute Widerspruch oder die Unendlichkeit, [...] als eine unteilbare, sichselbstgleiche Einheit gesetzt“.27 Was sich in sich als vollständig widersprüchlich erweist, dessen Bestimmungen heben sich auf; die Bestimmungen als Begrenzungen des Sinnes von etwas sind endliche Bedeutungen; daher ist der „Absolute Widerspruch“ als Aufheben der Gültigkeit des Endlichen das Unendliche. Als solches erkennt das spekulative Denken und Erkennen also sich selbst in metaphysischer Umdeutung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten; das als unendlich Erkannte ist zugleich das Ansichseiende. Solche Unendlichkeit des Erkennens und Erkanntseins ist nun „sichselbstgleiche Einheit“; sie wird nicht nur als ein in sich einheitlicher Begriff von inhaltlich paradoxer Bedeutung gedacht, sondern ist zugleich dasjenige, woraus Identität und Widerspruch als wechselseitig miteinander verknüpfte metaphysische Bestimmungen hervorgehen. Solche höhere Einheit, die nicht mehr nur ein Bestandteil des sich einteilenden Vielen ist, nennt Hegel „Grund“. Diese gründende Einheit ist zwar auch Widerspruch und SichAufheben des Endlichen, darüber hinaus aber als die Negation desjenigen Negativen, das das Endliche ist, das eigentliche Sein des Ansich, des Erkennens. Spinozas Gedanke, daß Endliches in gewisser Weise Negation ist und daß Unendlichkeit als Negation jener Negation daher Affirmation bedeutet, steht hier offenbar im Hintergrund.28 Auch bei der Selbstbestimmung der Erkenntnis als Grund deutet Hegel einen traditionellen logischen Satz, den Satz des Grundes, metaphysisch um. In 25
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A.a.O. 133 (Schreibweise und Interpunktion modernisiert). Die verschiedenen Stufen der Einheit als ein Bestandteil der Vielen bzw. als Entgegengesetztes zum Vielen insgesamt werden hierbei kontaminiert. A.a.O. 134. Vgl. zur Bedeutung dieser Termini und zu den systematischen Voraussetzungen ihres Aufkommens in Hegels Jenaer Entwürfen D. Henrich: „Absoluter Geist und Logik des Endlichen“. In: Hegel in Jena (= Hegel-Studien. Beiheft 20). Bonn 1980, bes. 106 ff. Ebd. Vgl. die logische Bestimmung der Unendlichkeit als „absoluter Widerspruch“ (a.a.O. 31), was Hegel hier voraussetzt. Der Widerspruch betrifft in der Metaphysik das Erkennen als Ansichseiendes insgesamt, nicht nur in sich einfache Kategorien wie an jener Stelle der Logik. Vgl. B. Spinoza: Ethika I. Propositio VIII. Scholium I. Vgl. auch Hegel: Gesammelte Werke 4, a.a.O. 324. Die Verbindung von Hegels Unendlichkeitsbegriff mit Spinozas Begriff des infinitum actu und daher mit Spinozas Substanzmetaphysik legt dar L. Lugarini: „Substance et réflexion dans la Logique et Métaphysique hegelienne d'Iéna“. In: Hegel in Jena, a.a.O. 139155, bes. 144 ff.
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2. DIALEKTIK IN HEGELS JENAER SCHRIFTEN
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dieser letzten in sich reflektierten Bestimmung der metaphysisch interpretierten logischen Axiomatik gelangt nach Hegel das Erkennen zu sich selbst. Das Erkennen als das „Ansich ist also nicht der erste noch der zweite Grundsatz, [...] sondern an sich sind sie der dritte“.29 Hegel zählt hierbei, wie dargelegt, die Formulierung von Identität und Widerspruch als Einen Grundsatz, so daß nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten der Satz des Grundes der dritte ist. In ihm sind die vorhergehenden Grundsätze als Bestimmungen des Ansichseienden vereinigt; ihnen kommt keine selbständige Bedeutung zu; sie gelten nur als integrierte Bestandteile des dritten Grundsatzes. Hegel wendet sich hiermit wohl wie in der Differenz-Schrift vor allem gegen Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 mit ihren voneinander getrennten Grundsätzen als einer Mehrzahl von Prinzipien und erfüllt in seiner eigenen Theorie die Forderung, daß in einem einheitlichen Argumentationsgang das Auseinanderhervorgehen der Grundsätze gezeigt werden muß. Sie müssen sich als untereinander zusammenhängende Momente einer prinzipiellen Einheit erweisen, die als Grund, als Pñ÷Þ zugleich hervorbringender Anfang jener Momente ist. Dieser Argumentationsgang durch die metaphysisch verwandelten Grundsätze hindurch enthält bereits entscheidende Elemente der späteren Explikation der Reflexionsbestimmungen des Wesens in der Wissenschaft der Logik. Doch fehlt im Entwurf von 1804/05 noch eine Wesenslogik. Ferner versteht sich in diesem Entwurf das in sich einheitliche, spekulative Denken noch als Überwindung des Dualismus von Reflexion und intellektueller Anschauung, ein Problem, das später für Hegel an Bedeutung verloren hat. Für das Hinausgehen über die traditionellen logischen Grundsätze zur metaphysischen Bedeutung der in ihnen enthaltenen wesentlichen Termini setzt Hegel hier freilich insgesamt den Sinn seiner Metaphysik voraus; das formallogische Denken jener traditionellen Axiomatik wird nicht immanent kritisiert, ja nicht einmal ernsthaft erörtert. In der Wissenschaft der Logik führt dann u.a. die Beachtung auch dieses Problems noch zu gewissen Veränderungen in der metaphysischen Argumentation. Deutlicher als in der frühen Jenaer Konzeption und auch als in der Entwicklung der Reflexionsbestimmungen in der Wissenschaft der Logik ist im Entwurf von 1804/05 die Subjektivitätsstruktur des Erkennens hervorgehoben. Das Erkennen erkennt sich in jenen in sich reflektierten Bestimmungen selbst als das Ansichseiende. Es unterscheidet dies erkannte Ansich noch von sich selbst als Tätigkeit des Erkennens; das Ansich ist ihm der Erkenntnisgegenstand als ein Getrenntes, als ein Anderssein; es identifiziert sich noch nicht damit. Die Identität beider ist nur „für uns“, wie Hegel hier unterscheidend hinzufügt.30 Erst im folgenden metaphysischen Entwicklungsgang wird sie 29 30
Hegel: Werke 7, a.a.O. 134. Vgl. a.a.O. 136. Der Unterschied dessen, was „für uns“ ist, von dem, was für das Erkennen ist, prägt zwar den Unterschied dessen, was „für uns“ ist, von dem, was jeweils für das Be-
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auch für das Erkennen selbst. Die vollendete Struktur des Denkens und Erkennens seiner selbst aber wird erst in der höchsten Bestimmung der „Metaphysik der Subjektivität“ erreicht, in der des „absoluten Geistes“. Diese Konzeption ist subjektivitätstheoretisch eindeutig unterschieden von dem früheren Jenaer Entwurf zur Logik und Metaphysik; in diesem kam das Denken des Widerspruchs und die Selbsterkenntnis als Widerspruch der endlichen Reflexion oder dem endlichen Ich zu, das dann aufgehoben wurde in der Vorstellung von absoluter Identität als Substanz. Ebenso ist diese Konzeption von der späteren Entfaltung der Reflexionsbestimmungen des Wesens in der Wissenschaft der Logik unterschieden; denn diese erfüllen dort, wie sich zeigen wird, noch nicht die Struktur der denkenden Subjektivität oder logisch: des Begriffs. In der Logik und Metaphysik von 1804/05 findet sich zugleich der Ansatz einer spekulativen, nicht mehr bloß negativ bleibenden Dialektik; aber dieser Ansatz kommt noch nicht demjenigen der Wissenschaft der Logik gleich. Innerhalb der Logik von 1804/05 bestimmt Hegel die Unendlichkeit als „absoluten Widerspruch“ und als „absolut dialektisches Wesen“ von endlichen Bestimmungen.31 Dialektik bedeutet also das Aufstellen und Begreifen von Widersprüchen des Endlichen. Zugleich führt Hegel hier zum ersten Mal die doppelte Negation mit positivem Resultat als Bestandteil der Methode ein; die Unendlichkeit ist nicht nur Widerspruch des Endlichen, sondern ebenso Anderssein dieses Andersseins und damit als Rückkehr zu sich affirmatives Sein; die vergleichbare metaphysische Bestimmung der Unendlichkeit bei Spinoza wird hiermit ins Methodische übertragen. So folgt methodisch auf die Phase des Denkens des Widerspruchs die Restitution der Einheit als neuer und höherer, den Widerspruch implizierender Realität. Damit hat Hegel die Konzeption der spekulativen Dialektik begründet. Obwohl die metaphysisch gedeuteten Bestimmungen der Identität und des Widerspruchs zur Charakterisierung die-
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wußtsein ist, in der Phänomenologie vor, ist aber nicht spezifisch phänomenologisch. Er kommt in vergleichbarer Bedeutung auch in der Wissenschaft der Logik vor. In der Metaphysik von 1804/05 wird mit dem „Für uns“ in der Regel eine höherentwickelte Position spekulativen, begreifenden Wissens unterschieden von einer weniger entwickelten Position des gedachten und erkannten Inhalts, der für sich erst realisieren muß, was an sich oder „für uns“ schon begriffen ist. Historisch und auch systematisch entstammt diese Unterscheidung dem Unternehmen einer systematischen „Geschichte des Selbstbewußtseins“, in der das vollständig entwickelte Subjekt das sich erst entwickelnde Selbstbewußtsein in der systematischen Genese eines mehrschichtigen Fürsichseins betrachtet. Vgl. Hegel: Werke 7, a.a.O. 31, 33 und 29, zum folgenden vgl. 34. Vgl. zu Hegels Explikation der logischen Unendlichkeit die präzisen kommentierenden, freilich noch der früheren Datierung folgenden Erläuterungen von B.M. Lemaigre: „Hegel et le problème de l’infini d’après la logique d’Iéna“. In: Revue des sciences philosophiques et théologiques 49 (1965), 336. Vgl. auch – abweichend hiervon speziell hinsichtlich der Unendlichkeit des Quantums – G. Gérard: Critique et dialectique. L’itinéraire de Hegel à Iéna (1801-1805). Bruxelles 1982, 368-383. Hegels Begriff der Unendlichkeit als Widerspruch mit der Beziehung auf Spinozas Unendlichkeitsbegriff legt dar F. Chiereghin: Dialettica dell’assoluto e ontologia della soggettività in Hegel. Dall’ideale giovanile alla Fenomenologia dello spirito. Trento 1980, bes. 343-351. Vgl. auch vom Verf.: „Das Problem der Subjektivität“ (s. Anm. 11), 150 ff, 180 ff.
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ser Dialektik erforderlich sind, ist hier in Hegels Augen die Entwicklung jener metaphysischen Grundsätze des Erkennens selbst nicht dialektisch. Denn für ihn ist die Dialektik wie zu Beginn seiner Jenaer Zeit im wesentlichen noch auf die Logik beschränkt, die von der Metaphysik getrennt ist; in der Metaphysik ist das dialektische Anderswerden der jeweiligen Inhalte zunächst aufgehoben: „Das Erkennen ist als in die Metaphysik übergehend das Aufheben der Logik selbst als der Dialektik oder des Idealismus“.32 Auch die Logik als Dialektik und als Idealismus, den Hegel als formalen Idealismus, nämlich als Fichtesche Theorie des endlichen Subjekts und seiner reinen, ihm immanenten Bestimmungen versteht, ist zu Beginn der Metaphysik aufgehoben. Andererseits zeigt sich dann, daß die Dialektik im ganzen System durchzuführen ist, wozu sich im Entwurf von 1804/05 erste Andeutungen finden. In der Wissenschaft der Logik schließlich, in der die Logik nicht mehr von der Metaphysik getrennt ist, und im späteren System wird die spekulative Dialektik ausdrücklich universal durchgeführt. In der Phänomenologie, Hegels letztem Werk in Jena, ist die spekulative Dialektik für die systematische Einleitung ebenso wie für die Logik, ja offensichtlich für das System insgesamt zumindest vorausgesetzt. Sie wird in der Phänomenologie freilich nicht eigens argumentativ entfaltet; dies ist vielmehr eine Aufgabe der Logik. In gelegentlichen Kennzeichnungen und Beschreibungen der Dialektik, wie sie sich allerdings in der Phänomenologie finden, verwendet Hegel Synonyma für Identität und Widerspruch. Die dialektische Bewegung von etwas überhaupt, die ein Ausgehen von sich, ein SichAnderswerden und eine Rückkehr zu sich bedeutet, vereinigt in sich für Hegel Sichselbstgleichheit und Negativität. Diese Bewegung ist, näher betrachtet, die Selbstbestimmung des tätigen Begriffs zu reiner denkender Selbstbeziehung; sie ist damit nicht Bewegung von etwas nur im allgemeinen, sondern spezifisch Bewegung des Begriffs. Der Begriff macht hierbei die logische Bedeutung der Subjektivität aus.33 Die dialektische Bewegung des BestimmungGewinnens von etwas in seinem Begriff ist nach Hegels Konzeption daher letztlich nur einsehbar als methodischer Prozeß der Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis des Subjekts. Das Ich darf somit, wie Hegel im Kapitel über das „absolute Wissen“ hervorhebt, nicht nur als mit sich identisch gedacht werden – wie in Fichtes erstem Grundsatz, zu dem die Entgegensetzung dann äußerlich hinzutreten muß; vielmehr muß es selbst zugleich absolute Negativität, Anderssein zur Identität, d.h. Entgegensetzung in sich und Widerspruch 32
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Hegel: Gesammelte Werke 7, a.a.O. 127. Die Konzeption der frühen Logik als eines formalen Idealismus und eines wissenschaftlichen Skeptizismus wirkt in dieser Bestimmung der Logik als Dialektik und als Idealismus fort; ohne jenen früheren Hintergrund dürften diese Bestimmungen kaum verständlich werden, auch wenn Hegel sie – nicht ganz konsequent – in seine neue andersartige Logik-Konzeption von 1804/05 zu integrieren sucht; etwas anders G. Gérard, a.a.O. 398 f, 332 ff. Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 18, 42 ff, zum folgenden vgl. 430 f.
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sein, allerdings in Vereinigung mit der Identität. Nur auf diese Weise kann das Ich oder besser: der Geist sich selbst denken. In welchem logischen Verhältnis freilich Identität und Widerspruch zur Dialektik und zur denkenden Selbstbeziehung stehen, ob sie etwa vorausgehende konstitutive Momente oder nachfolgende interpretierende Begriffe sind, läßt sich aus den Beschreibungen der Phänomenologie noch nicht eindeutig entnehmen.
3. Reflexionsbestimmungen des Wesens und dialektisches Denken in Hegels Nürnberger Logik In der Nürnberger Zeit und speziell in der Wissenschaft der Logik wird von Hegel das Verhältnis von Identität und Widerspruch zur Dialektik geklärt; Identität und Widerspruch bilden konstitutive Bestandteile der spekulativen Dialektik. Sie werden als eigene logische Bestimmungen für sich expliziert und erweisen sich dann in der Darlegung der Methode als spezifische Momente der Dialektik. 1. In den Nürnberger propädeutischen Logiken treten Identität und Widerspruch zum ersten Mal als Bestimmungen des Wesens auf. Diese Entwürfe enthalten erste Ansätze zu einer Wesenslogik und gehören somit zur Entstehung und Entwicklung von Hegels späterer ausgebildeter Logik des Wesens, In der Phänomenologie werden die Termini des Wesens, des Wesentlichen oder der Wesenheit bereits vielfach zur Charakterisierung von Bewußtseinsgestalten verwendet; es wird daraus aber noch nicht deutlich, ob sie als bestimmte Kategorien ihren eigenen Ort in der Logik haben. Eine Wesenslogik und eine Abfolge von Wesenskategorien findet sich dann in einer Logik für die Mittelklasse von 1808/09, in einer Enzyklopädie für die Oberklasse von 1808/09 mit einigen Überarbeitungen, wobei der Teil über Wesenslogik, wie aus einer Schüler-Nachschrift hervorgeht, in diese beiden ersten Nürnberger Jahre Hegels gehört, und in einer Logik für die Mittelklasse von 1810/11. Auch das Fragment einer Hegelschen Logik über Mechanismus, Chemismus etc. und Erkennen, das wohl in den frühen Nürnberger Jahren entstand,34 läßt Rückschlüsse auf eine eigene Wesenslogik zu, in der das Verhältnis von Wesen und Dasein bestimmt wurde, ein Verhältnis, das sich in Dingen konkretisiert. In der erwähnten Enzyklopädie für die Oberklasse folgt das Wesen auf die Un34
Pöggeler datiert dies Fragment auf 1809/10; vgl. Fragment aus einer Hegelschen Logik. Hrsg. von O. Pöggeler. In: Hegel-Studien 2 (1963), bes. 58 f. Die Herausgeber dieses Fragments innerhalb der Kritischen Ausgabe plädieren eher für eine Datierung auf Hegels Bamberger Zeit (1807/08), vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 331. Trotz neuer Argumente, die sie bringen, scheint mir wegen des ausgebildeten Standes einer Wesenslogik und insbesondere der Schlußlogik sowie der Ausführung der verschiedenen Arten des Prozesses eine Datierung auf die frühen Nürnberger Jahre wahrscheinlicher. Es bleibt die Frage offen, warum Hegel hier keine gesonderte Ideenlehre vorsieht.
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endlichkeit; diese und nicht – wie später – das Maß vereinigt dort Qualität und Quantität. Das Wesen hat an dieser Stelle subjektivitätstheoretische Konnotation als „Durchdringung der Selbstbestimmung und der gleichgültigen Bestimmtheit“.35 Das Wesentliche hierin ist die Selbstbestimmung; durch sie gelangt dasjenige, dem sie zukommt, in die „Freiheit des Daseins“. Das Wesen bringt seine eigene Bestimmtheit, die nach Hegel sein Dasein ausmacht, selbst hervor durch „Setzen“. Davon ist offenbar die Bedeutung des „Satzes“ hergeleitet, der der allgemeine Titel für die Wesensbestimmungen ist, zu denen Identität und Widerspruch gehören. Diese Wesensbestimmungen werden also explizit als Sätze formuliert, die zugleich Setzungen bedeuten. In der Logik für die Mittelklasse von 1808/09 schreibt Hegel den Ursprung dieser Sätze, die die klassische logischmetaphysische Axiomatik umformulieren, der Urteilskraft36 zu, was er an anderer Stelle nicht wiederholt; sie sind damit nur einzelne Sätze noch ohne die Vermittlungsstruktur der Vernunft, die in der Dialektik und der Beziehung von höherentwickelten Begriffsbestimmungen besteht. Formuliert werden sie als allgemeine ontologische Urteile über Dinge, wonach jedes Ding mit sich identisch ist, nicht zugleich sein und nicht sein kann, von einem anderen Ding verschieden ist usf.; Ding hat hier die traditionelle allgemeine Bedeutung des Seienden überhaupt. In der Enzyklopädie für die Oberklasse expliziert Hegel die Wesensbestimmungen unter dem Titel „Satz“ z.T. in deutlicherer Orientierung an der klassischen Axiomatik, interpretiert diese Sätze dann aber ebenfalls ontologisch als prinzipielle Aussagen über „Dinge“. Hierbei tritt freilich – wohl aus propädeutischen Gründen – in der Einzeldarlegung zurück, daß diese Sätze Setzungen als Tun des Wesens sind. Nur vom Satz des Grundes wird erwähnt, daß er das Setzen selbst als eine Einheit entgegengesetzter Bestimmungen ausdrücke. Die Darlegung der Wesensbestimmungen in der Logik für die Mittelklasse von 1810/11 ist schon mehr derjenigen in der Wissenschaft der Logik verwandt, obwohl auch hier Unterschiede bleiben. Das Dasein der Wesensbestimmungen ist danach nicht unmittelbar, sondern ist ein Gesetzoder Vermitteltsein. Die Wesensbestimmungen als vermittelte und gedachte nennt Hegel hier „Reflexionen“;37 darin liegt, daß sie Inhalte der Reflexion als 35
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Enzyklopädie für die Oberklasse, § 33 (diese Formulierung fehlt freilich in der SchülerNachschrift); vgl. G.W.F. Hegel: Theorie-Werkausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1970 f. Bd. 4, 17. Zum folgenden vgl. ebd. §§ 34 f. Der Begriff des Wesens in der Logik für die Mittelklasse (1810/11) ähnelt dagegen schon demjenigen in der Wissenschaft der Logik. Vgl. §§ 20 ff/52 ff, Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 89 f. Daß diese Sätze auch in diesem Entwurf Wesensbestimmungen sind, läßt sich nur erschließen. Grund wird nach Materie und Form ausdrücklich als Wesenkategorie genannt (vgl. § 11/43 und § 14/46, a.a.O. 88); dann müssen auch der Satz vom Grund und die ihm unmittelbar vorhergehenden und ihn ermöglichenden Sätze Wesensbestimmungen sein; aus der Enzyklopädie für die Oberklasse (1808/ 09) läßt sich dies deutlicher entnehmen. Logik für die Mittelklasse (1810/11), § 35, Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 172. In der Logik für die Unterklasse (1809/10) treten Identität, Verschiedenheit, Entgegensetzung und Grund im
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des reinen Denkens und Erkennens sind; und darin liegt ferner, daß sie Bestimmungen sind, die ihre konstante Bedeutung durch negative Beziehung auf Anderes erhalten. Formuliert werden die Wesensbestimmungen nach wie vor als Grundsätze in Anknüpfung an die klassische Axiomatik. Dies wird dann in der systematischen Entwicklung der Reflexionsbestimmungen innerhalb der Wissenschaft der Logik noch modifiziert. Ähnlich wie im Entwurf von 1804/05 ist für Hegel in dieser Logik für die Mittelklasse von 1810/11 der Satz des Widerspruchs nur die negative Formulierung des Satzes der Identität; er ist kein eigener Grundsatz und damit auch keine eigene Wesensbestimmung. Erst in der Wissenschaft der Logik, in der Hegel nur anmerkungsweise dieses Verhältnis der beiden Grundsätze noch einmal skizziert, legt er die bekannte Reihenfolge der Wesensbestimmungen fest, nach der der Widerspruch auf Identität und Unterschied mit dessen Differenzierung in Verschiedenheit und Gegensatz allererst folgt und in den Grund als höhere Einheit des Wesens zurückgeht. Das Verhältnis von Identität und Widerspruch beruht in der Wissenschaft der Logik also auf einem neuen Argumentationsgang in der Entwicklung der Wesensbestimmungen. 2. Die Explikation der Reflexionsbestimmungen des Wesens in der Wissenschaft der Logik soll nun in ausgewählten Argumentationsschritten vor dem Hintergrund der gekennzeichneten Entwicklungsgeschichte Hegels betrachtet werden, aus der das logische und ontologische Problem deutlicher zu ersehen ist, das dieser Lehre zugrunde liegt. In der Reflexion und den Reflexionsbestimmungen wird nicht die entwickelte Struktur der Subjektivität und ihres Sich-Denkens selbst dargelegt; die Reflexionsbestimmungen sind vielmehr konstituierende, aber einfachere Momente des komplexeren, höherstufigen Relationengeflechts der denkenden Selbstbeziehung. Dasselbe gilt für das Verhältnis jener Wesensbestimmungen zur entwickelten spekulativen Dialektik. Reine Subjektivität und Dialektik können also zwar mit Hilfe von Reflexionsbestimmungen, insbesondere mit Hilfe von Identität und Widerspruch charakterisiert werden; aber sie bleiben nicht darauf reduziert. Umgekehrt haben jene Reflexionsbestimmungen nicht als solche etwa schon Subjektivitätsbedeutung, sondern nur durch ihre Einfügung in eine Theorie, die die reine Subjektivität aus solchen einfacheren vorausgehenden Momenten entwickelt. Die Reflexionsbestimmungen setzen einen bestimmten Begriff von Reflexion voraus. Das Wesen ist nach Hegel als „Scheinen seiner in sich selbst“ zugleich in sich negative „Selbstbewegung“.38 Das ihm Gegenüberstehende, das Sein, ist durch das Wesen nicht einfach zum Schein herabgesetzt; dies Negierte gehört ihm vielmehr immanent und notwendig zu.39 Die Bewegung der
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traditionellen Rahmen der Bestimmung kontradiktorischer und konträrer Begriffe innerhalb der Begriffslogik auf (vgl. §§ 20 ff, Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 128 ff). G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 249 (Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 21934, II, 13). Diese Bedeutung des Wesens ist weit entfernt von der traditionellen Bedeutung. Hegel knüpft aber in einem Zusatz zu § 112 der Enzyklopädie (3. Aufl.) daran an; das Wesen ist nicht etwas
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Negation dieses Anderen, das doch ihm zugehört, ist die Reflexion. Die Reflexion, die das Wesen ist, erweist sich damit, „sie selbst und nicht sie selbst und zwar in Einer Einheit zu sein“. Sie enthält also Identität und Widerspruch in sich, die als eigene Bestimmungen jedoch erst im Folgenden entwickelt werden. Hier entsteht die methodische Schwierigkeit, daß zum Begreifen dessen, was Reflexion bedeutet, bereits die erst später zu explizierenden Reflexionsbestimmungen erforderlich sind. Zwar kann man in der Darlegung der Reflexionsbestimmungen des Wesens eine bloße Entfaltung und Auseinanderlegung dessen sehen, was unmittelbar im Begriff der Reflexion schon ineins gedacht wurde; aber dann ist die Lehre von der Reflexion als einer „ reinen Beziehung ohne Bezogene“40 für sich kaum verständlich. Vieles spricht dafür, daß es sich so verhält, u.a. auch dies, daß Hegel selbst später die Darstellung der substratlosen reinen Beziehung der Reflexion deutlich abkürzt, wiewohl er die dann folgenden Partien der Wesenslogik noch immer für den „schwersten“ Teil der Logik insgesamt hält.41 In dem genannten Begriff der Reflexion ist Hegels früherer Begriff der Reflexion zunächst kaum wiederzuerkennen; dennoch gibt es Verbindungslinien. So begreift sich in Hegels früher Jenaer Logik von 1801/02 die Reflexion schließlich, wie gezeigt, als Widerspruch ihrer ei-
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Unmittelbares, sondern ein in den Dingen „Bleibendes“; als solches ist es Sichselbstgleichheit und Vermittlung als Denkbestimmung. Hegel nennt es auch mit einem Anklang an das Aristotelische ôß ƒí åqíáé „vergangenes Sein“, wobei das Vergangene nicht verschwunden, sondern aufgehoben ist. Das Unmittelbare ist vergangen, daher ist dem Wesen das Negieren als ein Aufheben des Seins und Daseins immanent. Zur Erinnerung an das ôß ƒí åqíáé vgl. schon H. Marcuse: Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1932, 78 f. Zum folgenden Zitat vgl. Hegel: Gesammelte Werke 11, a.a.O. 250 (Lasson II, 14). A.a.O. 292 (Lasson II, 64). Aus Enzyklopädie (3. Aufl.), § 112 Zusatz, wird deutlich, daß Hegel für seinen Begriff der Reflexion außer auf den üblichen Sprachgebrauch speziell auf die Bedeutung der Reflexion in der Optik als Zurückgeworfenwerden der Lichtstrahlen von einer spiegelnden Fläche rekurriert. Vgl. Enzyklopädie. Heidelberg 21827, Heidelberg 31830, §§ 113 f mit teilweise unterschiedlichem Text, wobei die 2. Auflage stärker die Aufhebung des Seins im Wesen betont. Zur Lehre von der Reflexion und ihren drei Arten als setzender, äußerer und bestimmender Reflexion vgl. die subjektivitätstheoretische Deutung von M. Wetzel: Reflexion und Bestimmtheit in Hegels Wissenschaft der Logik. Hamburg 1971, bes. 50·66, den kürzeren und den ausführlicheren, die Bedeutungsentwicklung einsichtsreich hervorhebenden Kommentar von D. Henrich: Hegels Logik der Reflexion. In ders.: Hegel im Kontext, a.a.O. 95-156, neue Fassung in: Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion (= Hegel-Studien. Beiheft 18 [1978], 203-324). Vgl. ferner in demselben Band D. Dubarle: “La logique de la réflexion et la transition de la logique de l’être à celle de l’essence”, in: a.a.O. 173-202. Als neuer textnaher Kurzkommentar sei das Werk eines Autorenkollektivs genannt: J. Biard u.a.: lntroduction à la lecture de la Science de la logique de Hegel. T. II: La doctrine de l’essence (Vorwort von A. Lecrivain). Paris 1983, bes. 33-47; außerdem die Kommentierung dieser Partien der Wissenschaft der Logik in dem Werk von S. Opiela: Le réel dans la logique de Hegel. Paris 1983, bes. 52-84. Zu Veränderungen des Begriffs der Reflexion bei Hegel und speziell zur Bedeutung der äußerlichen Reflexion beim reifen Hegel vgl. W. Jaeschke: „Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion“. In: Hegel-Studien 13 (1978), 85-117. Zu früherer Literatur sei verwiesen auf Erwähnungen im Werke des Verfs.: „Das Problem der Subjektivität“ (s. Anm. 11), 215 f.
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genen Bestimmungen, der begründet ist in der vorausgesetzten absoluten Identität. In der Logik von 1804/05 erfaßt sich das Erkennen, das Hegel auch als Reflexion denkt, in satzförmig formulierten Bestimmungen wie Identität oder Widerspruch, die metaphysische Begriffe des Ansichseienden bedeuten, ferner strukturell als Reflexion in sich. Solches Sich-Begreifen der Reflexion in metaphysischer Umdeutung der klassischen Axiomatik findet sich ansatzweise auch in den Nürnberger propädeutischen Logiken, dort jedoch schon als Explikation des Wesens. So läßt sich bei aller Wandlung doch eine kontinuierliche begriffs- und problemgeschichtliche Entwicklung der Hegelschen Auffassung von der Reflexion kennzeichnen. Die Reflexion als das Wesen wird zur Reflexionsbestimmung oder zur Wesenheit, wenn sie als negative Beziehung aus sich selbst Relata ausbildet, auf die sie sich bezieht und die aufeinander als konstante und fixe Bestimmungen bezogen sind und darin Bestand haben, während die in sich einfachen Seinsbestimmungen jeweils in Anderes übergehen und nicht bestehen bleiben. Wesenheiten sind also als Wesensbestimmungen in sich Relationsbestimmungen, die spezifische Relata konstituieren, Relata freilich, die noch ganz in die Einheit ihrer Beziehung einbehalten bleiben. Die Reflexionsbestimmungen stellen Hegels ontologische Umdeutung der „allgemeinen Denkgesetze“ dar, die in Sätzen, nämlich in Grundsätzen formuliert werden; die klassische Axiomatik steht also auch in der Wissenschaft der Logik im Hintergrund.42 Einerseits enthalten für Hegel die Reflexionsbestimmungen als Beziehungen die „Form des Satzes schon in sich“. Andererseits ist für ihn hier – in Abänderung seiner früheren Auffassung – die Form des Satzes „etwas Überflüssiges“; sie legt überdies das Mißverständnis nahe, dabei werde über ein Subjekt, das bloß Seiendes darstelle, etwas ausgesagt, das lediglich als Qualität verstanden werde; beides aber ist unzutreffend. Die Beziehung als solche muß vielmehr zentraler Inhalt eines derartigen Grundsatzes sein; die Beziehung gilt dabei nicht als Qualität von Seiendem, sondern als Wesensbestimmung von etwas, das in sich Relatum ist und dem „Gesetztsein“ als Aufhebung einfachen Seins und Bestehens sowie „Reflexion in sich“ zukommt, durch die seine Beziehung auf Anderes zur Beziehung auf sich – unter Bewahrung jener Beziehung auf Anderes in seiner konstanten Bedeutung – zurückgeführt wird. So erst versteht man Reflexionsbestimmungen nach Hegel „spekulativ“. Aus dieser spekulativen Konzeption von Reflexionsbestimmungen erklärt Hegel das Zustandekommen der allgemeinen logischen und ontologischen Gesetze der Tradition als Verstandesbestimmungen. Diese „allgemeinen Denkgesetze“ sind in sich konstante, fixierte, in der Beziehung auf Anderes sich gleich bleibende Bestimmungen des endlichen Verstandes; sie sollen von allem als Gedankeninhalt gelten, vornehmlich von ontologischen Instanzen, sofern sie nicht lediglich als in sich einfache Seinsbestimmtheiten, sondern als 42
Vgl. hier und im folgenden Hegel: Gesammelte Werke 11, a.a.O. 258 ff (Lasson II, 23 ff).
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relationale Sachverhalte aufgefaßt werden. Wegen der sich gleich bleibenden, jeweils fixierten Bedeutung „erscheinen“ die wesentlichen Inhalte jener Denkgesetze im Verhältnis zueinander als „freie, im Leeren ohne Anziehung oder Abstoßung gegeneinander schwebende Wesenheiten“.43 Sie bleiben im verständigen Denken, als Aussagen formuliert, oberste unerweisliche Grundsätze, die selbst nicht in Beziehung zueinander stehen. Bei dieser verständigen Auffassung wird die Struktur einer Reflexionsbestimmung jeweils isoliert, als Denkgesetz formuliert und von dem zugrunde liegenden Vollzug der Reflexion als „Selbstbewegung“ des Wesens abgetrennt. So entstehen nach Hegels reifer Theorie endliche Verstandesbestimmungen, wie sie in der frühen Jenaer Logik (von 1801/02) der Reflexion als solcher zukamen. Hegel hat damit von seinem „spekulativen“ Verständnis der Reflexionsbestimmungen her das Zustandekommen von Verstandesbestimmungen als dem Inhalt der klassischen Axiomatik aufgezeigt und auf diese Weise ein wesentliches Erfordernis seiner spekulativen Logik erfüllt, nämlich zu zeigen, wie von ihr aus jene formalen Verstandesbestimmungen überhaupt möglich sind. Seine spekulative Lehre ist dabei freilich vorausgesetzt. Die Axiomatik der klassischen formalen Logik sowie bestimmte Grundsätze der traditionellen Ontologie sind hiermit nicht schon als überwunden erwiesen; sie werden nicht immanent als unzureichend dargetan, sondern allein von dem neuen spekulativen Denken aus. Daher gilt es, der Evidenz dieses Denkens nachzuspüren, um gegebenenfalls auch über Hegels eigene Ausführungen hinaus das kritische Verhältnis des spekulativen Denkens zum Verstandesdenken traditioneller Logik und Ontologie besser klären und beurteilen zu können. In bezug auf die klassische Axiomatik fordert Hegel zunächst, über das bloße Nebeneinanderstehen mehrerer unerweislicher höchster Grundsätze hinauszugehen. Schon in der Differenz-Schrift hatte Hegel die Möglichkeit des Nebeneinander mehrerer absoluter Grundsätze bestritten und zu zeigen versucht, daß sie im Verhältnis des Widerspruchs zueinander stehen. In der Wissenschaft der Logik wird das Verhältnis der Reflexionsbestimmungen und der ihnen entsprechenden Grundsätze differenziert; sie werden in einem einheitlichen Argumentationsgang als Momente eines notwendigen wesenslogischen Zusammenhangs entwickelt, der sich am Ende der Logik retrospektiv dann als dialektisch erweist. Die Reflexion des Wesens wird von Hegel zuerst als „einfache Identität mit sich“ bestimmt.44 Diese bedeutet das Wesen selbst und seine Reflexion insge43 44
A.a.O. 256 (Lasson II, 21 f). A.a.O. 260 (Lassson II, 26). Das Verhältnis von Identität und Widerspruch beim reifen Hegel in Anknüpfung an die Reflexionsbestimmungen des Wesens legt dar R. Kroner: Von Kant bis Hegel (1921, 1924). Tübingen 21961. Bd. 2, 319·361; als Abhebung von der „objektivistischen“ klassischen Axiomatik aufgrund eines neuen Denkens spekulativer Subjekt-ObjektEinheit wird die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen interpretiert von G. Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik (1933). Hamburg 21978, 53107. Von den Kommentierungen seien genannt G.R.G. Mure: A Study of Hegel’s Logic
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samt; sie ist insofern noch keine spezifische Reflexionsbestimmung. Sie setzt sich in ihrer Bedeutung nicht gegen Anderes ab wie die „abstrakte“ oder relative Identität, sondern enthält das für sie Andere zugleich in sich als absolute Identität. Die Identität aber als Ausgangspunkt der Reflexionsbestimmungen ist selbst eine Relationskategorie und wird damit als solche schon in einem Satz formuliert, wobei die vorerwähnten möglichen Mißverständnisse solcher Formulierung vermieden werden müssen. Der traditionelle logische Satz der Identität: A = A soll für das formallogische Denken nur reine Identität unter Absehen von aller Verschiedenheit ausdrücken, d.h. nach Hegel: abstrakte Identität. Vom neuen spekulativen Denken aus wendet Hegel hiergegen ein: Einmal wird die Identität, die von der Verschiedenheit abgetrennt sein, d.h. von dieser verschieden sein soll, dadurch selbst ein Verschiedenes. Hegel nimmt hiermit ein Argument aus Platos Sophistes auf und verändert es; so dürfte hier Platos Lehre von den obersten Gattungen, kaum mehr Fichtes Lehre von den höchsten Grundsätzen im Hintergrund stehen. Nach Plato ist jedes oberste Genos, das eine ursprüngliche, konstante Bedeutung hat, also auch etwa das Genos des Selben (ôášôüí) vom Genos des Verschiedenen (èÜôåñïí) verschieden; aber es hat nur Anteil am Verschiedenen; es hat das Verschiedene selbst keineswegs in seiner eigenen „Natur“ und Bedeutung. Nach Hegel aber hat die Identität, die vom Verschiedenen verschieden ist, die Verschiedenheit „in ihrer Natur“; sie ist sie selbst und ihr Anderes. Hegel geht dabei von einer anderen Konzeption von Identität aus, nämlich von der Identität als der in sich negati(1950). Oxford 31967, 96-105; E. Fleischmann: La science universelle ou 1a logique de Hegel. Paris 1968, 140-147; S. Opiela (s. Anm. 41), 156-165; ausführlicher und textnah J. Biard u.a. (s. Anm. 41), 57-101. Speziell Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Identität und Unterschied wird kritisch betrachtet von W. Becker: „Das Problem der Selbstanwendung im Kategorienverständnis der dialektischen Logik“. In: Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion (s. Anm. 41), 75-82. Hegels Theorie des Widerspruchs als Konsequenz aus offenen Fragen der Kantischen Antinomienlehre und als ontologische Theorie, die vereinbar mit dem formallogischen Satz vom Widerspruch sei (wie schon Rosenkranz behauptete), sucht M. Wolff vor formallogischer Kritik in Schutz zu nehmen: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels. Königstein/Ts. 1981, bes. 81-170. E. Berti (s. Anm. 17) legt dar, daß Hegel sich gegen Kants Theorie des Widerspruchs richtet. Vgl. ebenso auch die Darlegungen von F. Longato (s. Anm. 21). Die Reflexionsbestimmungen mit Betonung des Widerspruchs und ebenfalls in Abhebung besonders von Kant interpretiert R. Milan: „Il concetto di contraddizione nella Scienza della Logica di Hegel“. In: La contraddizione, a.a.O. 161-181. Zur Interpretation der Reflexionsbestimmungen mit besonderer Konzentration auf Gegensatz und Widerspruch in Abhebung von Kant vgl. ebenso B. Longuenesse: Hegel et la critique de la métaphysique. Paris 1981, 63-98, mit Bezug auf Della Volpe und Colletti, 98-105. In „Das Problem der Subjektivität“ (s. Anm. 11), 213-227, hat der Verfasser versucht, die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen des Wesens unter der – ausdrücklich unhegelschen – Perspektive eines Beweises der positiven Bedeutung des Widerspruchs gegenüber der formalen Logik kritisch zu prüfen; dies fand gelegentlich Kritik, aber m.E. keine Widerlegung. Im folgenden soll die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen im Hinblick auf die von Hegel beanspruchte immanente Evidenz spekulativ-dialektischen Denkens betrachtet werden.
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ven Beziehung der Reflexion oder von der absoluten Identität.45 Zum anderen zeigt sich für Hegel schon an der Struktur des Satzes, daß Identität ohne Verschiedenheit in ihrer Bedeutung gar nicht begreifbar ist. Hegel nimmt hierbei ein Argument aus dem Jenaer Entwurf von 1804/05, das teilweise schon in der Differenz-Schrift vorgebildet ist, wieder auf. Im Satz sind Subjekt und Prädikat sowie die Form des Satzes und der in der formalen Logik gleichgültige Inhalt unterschieden; ohne jene Unterschiede ist selbst die formale, abstrakte Identität gar nicht zu denken. Diese Bestimmungen auseinanderzuhalten, ist ein Werk der bloß äußeren Reflexion. Dem Denken der wahren Identität liegt nach Hegel jedoch die „reine Bewegung der Reflexion“46 zugrunde, die .die Momente in Einem Gedanken zusammenhält und die nicht vom endlichen, fixierenden, sondern allein vom spekulativen Denken vollzogen werden kann. Diesen Gedanken unterlegt Hegel auch der Bestimmung des Verhältnisses des formallogischen Satzes der Identität zu demjenigen des zu vermeidenden Widerspruchs. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch enthält für Hegel nur den negativen Ausdruck des Satzes der Identität. Der Satz, daß A nicht zugleich A und Non-A sein könne, besagt für Hegel, daß A nicht Non-A sei und daß damit A = A gelte; die Negation der Negation bedeutet Affirmation.47 Es ist klar, daß diese Umformulierung nicht den Sinn des traditionellen Satzes vom Widerspruch wiedergibt; doch leuchtet durch sie gerade ein, warum der so gedeutete Satz vom Widerspruch für Hegel nichts als die negative Formulierung des Satzes der Identität ist. Seine eigene Reflexionsbestimmung des Widerspruchs ist damit noch gar nicht erreicht. Die formale Logik und das fixierende endliche Denken sind, wie Hegel hervorhebt, nicht in der Lage, bei diesen beiden Grundsätzen zu zeigen, wie zur reinen Identität die Negation hinzukomme. Dies gelinge nur dem spekulativen Denken, das die Identität als die Bewegung der Reflexion begreife und daher erkenne, daß die Identität zugleich ihr Anderes in sich habe. Daher sind für Hegel auch die Wesens- oder Reflexionsbestimmungen nicht einfach Sätze wie noch in der Nürnberger Enzyklopädie für die Oberklasse (1808/09); vielmehr deutet er von der Reflexion und den Reflexionsbestimmungen aus die Grundsätze des Denkens, die damit nicht mehr als solche schon Inhalte der Wesenslogik sind. 45
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Zu Plato und Hegel sei erwähnt H.-G. Gadamer: „Hegel und die antike Dialektik“. In ders.: Hegels Dialektik. Tübingen 21980, 7-30; an Gadamer anknüpfend, aber mehr noch als dieser folgt G. Duso der Hegelschen Plato-Interpretation: „L’interpretazione hegeliana della contraddizione nel Parmenide, Sofista e Filebo”. In: Il Pensiero 12 (1967), 206-220; vgl. ebenso ders.: Hegel interprete di Platone. Padova 1969. Zu Gemeinsamkeiten, aber auch gravierenden Unterschieden zwischen Plato und Hegel in diesen Fragen sei der Verweis erlaubt auf die Abhandlung des Verfs.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 15 (1980), 95-150. Hegel: Gesammelte Werke 11, a.a.O. 264 (Lasson II, 31). Vgl. a.a.O. 265 (ebd.). Vgl. auch aus der Vorrede zur zweiten Auflage (Lasson I, 17), sowie Enzyklopädie (2. u. 3. Aufl.), § 115 Anm. Diese Auffassung läßt sich für Hegels Jenaer Zeit schwer belegen; sie tritt ansatzweise zum ersten Mal in der Logik für die Mittelklasse (1808/09) auf, vgl. dort § 21/53, Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 89.
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Hegel hebt in diesen Erläuterungen zur Identität insbesondere hervor, daß die formallogisch gedachte, abstrakte Identität keine Wahrheit sei. Das Wahre als das Konkrete, wie es auch erfahrbar sei, enthalte immer Gleichheit mit sich und Verschiedenheit des Mannigfaltigen untereinander in einer begreifbaren Einheit in sich. So kann für ihn nur die absolute Identität das Wahre sein. Der entscheidende Grund, über die traditionellen Grundsätze und das endliche Denken hinauszugehen, liegt für Hegel in dieser metaphysischen These vom Wahren, das zugleich das spekulativ Begreifbare ist. Das spekulative Denken geht somit in Hegels Argumentation über das endliche, fixierende Denken hinaus, indem es den notwendigen Zusammenhang von abstrakter Identität und Unterschied bzw. Negation konzipiert und dabei die diesen Bestimmungen zugrunde liegende Bewegung der Reflexion selbst zum kategorialen Inhalt macht. Diese Bewegung der Reflexion als Gedankeninhalt impliziert eine Mehrfältigkeit oder Mannigfaltigkeit, die in der Identität zu denken ist. Solche Mannigfaltigkeit braucht für Hegel nicht in einer vom Denken unterschiedenen Erkenntnisquelle, der Anschauung, gegeben zu sein wie etwa für Kant; sie ist ebenso wie die Gleichheit mit sich genuiner Inhalt des spekulativen Denkens, das die früher eigens von Hegel angenommene intellektuelle Anschauung in sich aufgehoben hat; so ist denn auch dieses spekulative Denken die einzige Quelle der Erkenntnis von Wahrheit. Die Möglichkeit und die Vollziehbarkeit eines solchen Denkens und Erkennens durch menschliche intellektuelle Tätigkeit hat Hegel hierbei vorausgesetzt; dies gilt auch für die Erörterung des Denkens in der „Psychologie“ innerhalb der Philosophie des subjektiven Geistes, da diese Erörterung schon basiert auf der Gültigkeit und Erkennbarkeit spekulativer Kategorien. Dem Begreifen der absoluten Identität liegt nach Hegel nun der wesenslogische Begriff der Reflexion bereits zugrunde, die sie selbst und nicht sie selbst, Identität mit sich und Unterschied in einer Einheit ist, die einen Widerspruch einschließt. Ob solche Einheit ein sinnvoller Begriff von Wahrem sein kann, wie Hegel annimmt, muß die folgende Entfaltung ihrer Bestimmungen, der Reflexionsbestimmungen, erst zeigen. Die Identität als die ganze Reflexion enthält ihr Anderes in sich und ist damit absoluter Unterschied, der sich negativ nicht auf Anderes, sondern auf sich bezieht. Negiert er sich aber, so ist er Identität. Also enthält er in sich: Unterschied und Identität als zwei verschiedene Momente. Das Verhältnis dieser Momente entwickelt Hegel, was hier nur skizziert sei, zu den Bestimmungen der Verschiedenheit und des Gegensatzes. Die Momente: Identität und Unterschied sind jeweils identisch mit sich, haben eine bestimmte, fixierte Bedeutung und sind zunächst gleichgültig gegeneinander. Dies macht ihre Verschiedenheit aus.48 Sie sind nicht durch ihre eigene jeweilige Bedeutung aufeinander bezogen, sondern nur durch eine ihnen äußere, sie auseinanderhaltende Reflexion. Diese ist es, die das mit sich Iden48
Vgl. Hegel: Gesammelte Werke 11, a.a.O. 267 ff (Lasson II, 34 ff).
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tische als Gleiches, das Unterschiedene als Ungleiches ansieht; denn der äußeren Reflexion kommt – wie bei Kant der logischen Reflexion – die Leistung des Vergleichens zu. Die äußere Reflexion wechselt mit Gleichheit und Ungleichheit als verschiedenen Hinsichten der Vergleichung in der Betrachtung von etwas außer ihr Liegendem ab. Sie selbst aber ist die Einheit der unterscheidenden Beziehung beider aufeinander. Hegels entscheidendes Argument, das ihn über die Verschiedenheit und die äußere Reflexion hinausführt, lautet nun: Die negative Einheit, die die äußere Reflexion darstellt, ist „in der Tat die Natur der Gleichheit und Ungleichheit selbst“;49 die Gleichheit hat ihre eigene Bedeutung nur durch negative Beziehung auf die Ungleichheit und umgekehrt; damit hat jedes aber zugleich das ihm Entgegengesetzte an sich selbst. Das Verhältnis der gleichgültigen Verschiedenheit wird auf diese Weise zum Verhältnis des Gegensatzes. Auch die Reflexionsbestimmung der Verschiedenheit ist für Hegel wesentlicher kategorialer Inhalt eines traditionellen Axioms, des ontologischen Grundsatzes, alle Dinge seien voneinander verschieden, oder des spezifischeren Leibnizschen principium identitatis indiscernibilium, das in negativer Formulierung lautet: Es gibt nicht zwei völlig gleiche Dinge. Der allgemeinere Grundsatz spricht nur von einer Verschiedenheit der Dinge überhaupt, die schon mit ihrer Pluralität gegeben ist; der speziellere Grundsatz behauptet die bestimmte Verschiedenheit, die sich auf spezifische Eigenschaften von Dingen bezieht. Auch den wesentlichen Inhalt dieses Grundsatzes in allgemeinerer und in speziellerer Bedeutung beansprucht Hegel, freilich ohne Leibniz’ monadologische Implikationen, in seine Wesenslogik integriert und allererst in genetischem Zusammenhang mit Identität und Unterschied entwickelt zu haben. Das erwähnte Argument Hegels, das von der Verschiedenheit zum Gegensatz führt und das für das spekulative Denken zentral ist, wird im Gegensatzverhältnis näher dargelegt.50 Die Gleichheit, die in ihrer eigenen Bedeutung die Beziehung auf ihr Anderes, die Ungleichheit, enthält, ist das Positive; die Ungleichheit, die sich als solche auf ihr Anderes, die Gleichheit, bezieht, ist das Negative. Jede dieser Bestimmungen enthält mit der Beziehung auf ihr jeweils Anderes, obwohl diese Beziehung bei beiden eine Negation ist, nach Hegel dieses Andere jeweils in sich; jede wird damit zugleich selbst das Ganze des Verhältnisses. Das Positive ist nämlich nicht einfaches, unmittelbares Sein, sondern konstitutiver Bestandteil einer Reflexionsbestimmung; es enthält daher wesentlich Negation: Es negiert dasjenige, was es nicht ist, und ist gerade darin negativ. Das Negative ist ebenfalls nicht einfaches Nichtsein, sondern konstitutiver Bestandteil einer Reflexionsbestimmung, die in sich negativ ist; gerade darin ist es identisch mit sich oder positiv. So sind das Positive und das Negative beide sowohl negativ in Beziehung aufeinander als auch in sich posi49 50
A.a.O. 269 (Lasson II, 37). Vgl. im folgenden a.a.O. 272 ff (Lasson II, 40 ff).
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tiv. Ihr Verhältnis zueinander ist der Gegensatz. Doch sind die Glieder dieses Gegensatzes, die beide in sich negative Relationen sind, nicht einfach austauschbar; das Positive ist seiner eigenen Bedeutung nach „das Nichtentgegengesetzte“, jedoch als „Seite des Gegensatzes“, das Negative dagegen ist als solches und von sich aus das Entgegengesetzte.51 Jede Bestimmung bezieht sich also nicht nur auf ihre je entgegengesetzte, sondern hat sie nach dieser Argumentation, wenn auch auf unterschiedliche Weise, als entgegengesetzte in sich. An dieser Argumentation, die zu einem widersprüchlichen Begriff des Positiven ebenso wie des Negativen führt, leuchtet ein, daß jede dieser Bestimmungen sich negativ auf die andere bezieht und darin ihre eigene Bedeutung bewahrt. Daß jede, sei es durch negative Beziehung auf ihr Anderes wie beim Positiven, sei es durch Beziehung auf sich wie beim Negativen, ihr jeweils Anderes in sich selbst habe, leuchtet dagegen nur ein, wenn man diese Beziehungen, die Bestandteile methodischer Bestimmung von Begriffen sind, in die spezifische Bedeutung der zu bestimmenden Begriffe selbst aufnimmt. Hierbei liegt wieder die zum kategorialen Inhalt gemachte Bewegung der Reflexion zugrunde. Denn dadurch ist „jedes [...] es selbst und sein Anderes“, Sie sind als Momente des Gegensatzes „untrennbar Eine Reflexion“;52 dies gilt auch von jedem Moment selbst, da jedes nach Hegel zugleich das ganze Gegensatzverhältnis ist. Der Gegensatz ist die „bestimmte Reflexion“, den die Reflexion als bestimmende hervorbringt.53 Das Positive und das Negative, die Glieder des Gegensatzes, die jeweils zugleich Repräsentationen des ganzen Gegensatzverhältnisses sind, lassen sich also als Bestimmungen, die ihr Entgegengesetztes in sich selbst haben, sinnvoll nur denken unter der Voraussetzung, daß der in sich widersprüchliche Begriff der Reflexion, den sie enthalten, selbst sinnvoll ist. Da aber auch dies nur eine Annahme bei der Darlegung des Wesens war, kann die Explikation der Reflexionsbestimmungen und speziell des Gegensatzes lediglich als eine immanente Erhellung und Erläuterung der Eigenart und Evidenz des spekulativen Denkens solcher Bestimmungen und ihrer Bedeutungsentwicklung, die den Widerspruch einschließt, angesehen werden. Die Reflexionsbestimmung des Gegensatzes ist ebenfalls wesentlicher Inhalt eines ontologischen Grundsatzes, nämlich des Satzes, alles sei ein Entgegengesetztes. Der formallogische Satz vom ausgeschlossenen Dritten drückt dies nach Hegel nur unvollkommen aus; Hegel formuliert den Ausschluß des Dritten ausführlicher; danach gibt es nichts, das weder A noch Non-A ist. Dies
51 52 53
Vgl. a.a.O. 274 (Lasson II, 43). A.a.O. 273 (Lasson II, 42). A.a.O. 272, vgl. 279, vgl. auch aus der Darlegung der bestimmenden Reflexion 256 (Lasson II, 40, vgl. 49, vgl. auch 21). Zur bestimmenden Reflexion als Grundlage des Gegensatzes vgl. J. Biard u.a. (s. Anm. 41), 77 f.
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aber bestreitet Hegel, indem er behauptet, es gebe doch A.54 Allerdings ist der klassische Satz vom ausgeschlossenen Dritten ein Prinzip der Urteile; A aber ist kein Urteil, sondern in der überlieferten Philosophie ein Begriff, über dessen ontologische Valenz oder über dessen Wahrheit erst in Urteilen etwas ausgesagt werden kann. Für Hegel ist das Dritte, das er für möglich hält, freilich ebenfalls kein bloßer wahrheitswertneutraler Begriff in traditionellem Sinne, sondern eigentlich die höchste Wesenseinheit, die jene entgegengesetzten Bestimmungen in sich enthält, der Widerspruch, der zur Einheit des Grundes geworden ist. Das entwickelte Gegensatzverhältnis hat sich bereits als Widerspruch erwiesen. Jede der beiden Gegensatzbestimmungen, das Positive ebenso wie das Negative, ist – wie sich gezeigt hat – der ganze Gegensatz. So enthält jede Bestimmung nach Hegels Argumentation die ihr entgegengesetzte in sich; dadurch ist sie als der ganze Gegensatz für Hegel ein Selbständiges. Zugleich aber schließt jede die ihr entgegengesetzte Bestimmung aus und schließt damit die eigene Selbständigkeit aus, die ja auf der Immanenz der entgegengesetzten Bestimmung in ihr beruht. So ist jede Gegensatzbestimmung in sich bereits Widerspruch. Da das Positive und das Negative, wie dargelegt, aber nicht einfach austauschbar sind, ist ihre Widerspruchsbedeutung verschieden. Das Positive ist lediglich „an sich“ der Widerspruch; es ist in seiner genuinen Bedeutung Identität mit sich; dies ist es allerdings nur dadurch, daß es sein Gegenteil, das Negative, negiert und damit ebensosehr das Negative ist. Das Negative dagegen ist der „gesetzte Widerspruch“;55 es ist in seiner eigenen Bedeutung ein Entgegengesetztes, ein Negatives als solches gegen das ihm Andere, das es selbst als identisch mit sich jedoch in sich hat. In dieser Widersprüchlichkeit, die jeweils dem Positiven und dem Negativen für sich zukommt, ist bereits die Einheit ihrer Beziehung aufeinander enthalten. Diese Beziehung ist selbst der Widerspruch, der zur Einheit der einander entgegengesetzten, jeweils in sich widersprüchlichen Bestimmungen des Positiven und des Negativen fortbestimmt wird. Diese Einheit ist die Einheit des Wesens oder der Reflexion; in ihr löst sich der Widerspruch nach Hegel auf und bleibt doch ebenso erhalten. Diese Einheit stellt das positive Resultat des Widerspruchs dar, der also hier – wie auch schon im Entwurf von 1804/05 – nicht das Nichts zum Ergebnis hat; sie ist die den Widerspruch implizierende Einheit des Wesens, in die die Explikation der Reflexionsbestimmungen zurückkehrt, aber eine Wesenseinheit auf höherer Stufe, die Hegel Grund nennt. Auch die positive Bedeutung der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs beruht also auf dem Wesen als Reflexion, von der als widersprüchli54
55
In der Wissenschaft der Logik findet sich die Darlegung dieses ontologischen und des formallogischen Grundsatzes erst im Abschnitt über den Widerspruch (vgl. Gesammelte Werke 11, 285 f [Lasson II, 56 ]), in der Enzyklopädie schon in den Ausführungen über Gegensatz (vgl. § 119 Anm. und Zusatz 2). Vgl. zum mathematischen Hintergrund, den Hegel hierbei u.a. vor Augen hat, M. Wolff: Der Begriff des Widerspruchs (s. Anm. 44), 88 ff. Hegel: Gesammelte Werke 11, 280 (Lasson II, 50).
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cher ausgegangen, die dann in Verhältnisbestimmungen auseinandergelegt und die nun als absolute Identität restituiert wird, welche den Widerspruch in sich aufhebt und zugleich bewahrt.56 Der Widerspruch der Reflexion findet hier also seine kategoriale Explikation, nicht als Beweis gegenüber der formalen Logik, sondern als immanente Sinnentfaltung des spekulativen Denkens; denn das „spekulative Denken besteht“ für Hegel „nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält“.57 In der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs ist nach Hegel auch der wesentliche Inhalt des ontologischen Grundsatzes begriffen, daß alle Dinge an sich selbst widersprechend seien. Dieser Grundsatz gehört Hegels eigener Ontologie an; man kann ihn in der Tradition etwa in der Heraklitischen Philosophie finden. In diesen Satz als die eigentliche Wahrheit münden die zuvor erörterten und begriffenen Grundsätze. Der formallogische Satz vom zu vermeidenden Widerspruch kann daher für Hegel keine allgemeine Gültigkeit haben, sondern gilt nur für den endlichen Verstand und dessen endliche Gegenstände. Das spekulative, das Mannigfaltige beziehende und „belebende“ Denken dagegen konzipiert den Widerspruch alles Seienden, der sowohl logischer als auch ontologischer Widerspruch ist. Der Widerspruch hat für Hegel allgemeine Bedeutung innerhalb der Ontologie und Metaphysik. So ist in der Sphäre des Seins – wie schon in der Jenaer Logik von 1804/05 – der Widerspruch endlicher Bestimmungen die Unendlichkeit.58 Ebenso haben nach Hegel die „alten Dialektiker“, insbesondere der eleatische Zeno, zu Recht Widersprüche im Begriff der Bewegung aufgewiesen; aber daraus folgt für Hegel nicht, daß Bewegung nicht sei, sondern vielmehr, daß sie „der daseiende Widerspruch selbst“ sei. Als Reflexionsbestimmung und Wahrheit des Wesens wird der Widerspruch erst in der Wissenschaft der Logik eingeführt; in den Nürnberger propädeutischen Logiken trat er noch nicht als eigene Wesensbestimmung auf. In der Wissenschaft der Logik hebt Hegel ferner ausdrücklich hervor, daß der Widerspruch auch höheren Bestimmungen wie dem Subjekt oder dem Begriff, der reines Denken seiner selbst bedeutet, als aufgelöster und zugleich bewahrter immanent ist.59 Die Reflexionsbestimmungen des Wesens als spekulative Grundlagen der logischontologischen Grundsätze vollenden sich also in der absoluten Einheit des Wesens, die den Widerspruch in sich bewahrt. Zugleich haben der Widerspruch und damit die Verhältnisbestimmungen, aus denen er hervorgeht, für Hegel universale Bedeutung. Die Entwicklung von der Identität zum Widerspruch und Grund, die Hegel in der Wesenslogik kategorial vorführt, wird zu einem Konstituens der Stadien der dialektischen Methode und des dialektischen Denkens überhaupt. 56 57 58 59
A.a.O. 281 ff (Lasson II, 52 f). A.a.O. 287 (Lasson II, 59). Vgl. hier und im folgenden ebd. Vgl. a.a.O. 289 (Lasson II, 62).
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Die dialektische Bewegung dieses Denkens führt vom Anfang, an dem eine Bestimmung in noch unmittelbarer Einheit, reflexionslogisch in Identität gedacht wird, zur ersten Negation.60 In dieser wird die unmittelbare Einheit negiert und Entzweiung oder Urteil als Ur-teilung gesetzt, was dem Unterschied entspricht. Hierin werden die Momente als verschiedene zu gegensätzlichen entwickelt. Die Beziehung dieser gegensätzlichen Momente ist dann selbst in sich gegensätzlich, enthält ihr Anderes in sich „und ist somit als der Widerspruch die gesetzte Dialektik ihrer selbst“.61 Dieser Widerspruch ist nach Hegel der „Wendungspunkt“ der Bewegung des Denkens, die speziell wegen des Widerspruchs „dialektisch“ heißt. Konzipiert man die Widerspruchsbeziehung als Einheit, so wird die Negation der ersten Negation gesetzt und eine neue höhere Unmittelbarkeit und Einheit erreicht, die der Einheit des Grundes entspricht. Somit sind die entscheidenden Stadien der dialektischen Methode durch die Reflexionsbestimmungen und deren Abfolge vorgeprägt. Was sich in der dialektischen Methode in Verhältnisbestimmungen entwickelt, ist freilich nicht mehr einfaches Relatum von Wesensbestimmungen, sondern Bestimmung des realisierten, sich selbst als Wahrheit denkenden Begriffs. Ferner ist die Beziehung, die sich in der dialektischen Methode entfaltet, nicht mehr nur Reflexion und Reflexionsbestimmung, sondern höherstufige, komplexe denkende Selbstbeziehung der Subjektivität. Das dialektische Denken übersteigt also das formallogische endliche Denken und beansprucht, als solches schon ontologische und schließlich ontotheologische Erkenntnis zustande zu bringen. Es verstößt dabei, wie gezeigt wurde, gegen den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, an den nur das endliche Denken gebunden ist; denn es denkt und erkennt Unendliches. Im Unendlichen hebt sich das sich widersprechende Endliche auf und bleibt doch zugleich darin bewahrt. Diese Unendlichkeit, die für das endliche Denken einen Widerspruch darstellt, wird – wie Hegel in den Frankfurter Schriften andeutet und in der frühen Jenaer Zeit ausdrücklich erklärt – als höhere Einheit intellektuell angeschaut. Von der frühen Jenaer Zeit an setzt Hegel dabei voraus, daß das Absolute und Unendliche vernünftig erkennbar sei. Solche intellektuelle Anschauung integriert er in den späteren Jenaer Entwürfen in das reine spekulativ-dialektische Denken; dadurch erst wird eine dialektische und spekulative Bewegung möglich, die den Widerspruch endlicher Bestimmungen in einem einzigen Argumentationsgang entwickelt, aufhebt und in höherer absoluter Iden60
61
Vgl. hier und im folgenden Hegel: Gesammelte Werke 12, a.a.O. 241 ff (Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 21934, II, 490 ff). A.a.O. 245 (Lasson II, 496). Zur umfangreichen Literatur über Hegels Dialektik vgl. z.B. A. Dürr: Zum Problem der Hegelschen Dialektik und ihrer Formen. Berlin 1938, oder A. Sarlemijn (s. Anm. 18); vgl. außerdem den Sammelband Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg. von R.P. Horstmann. Frankfurt a.M. 1978. Zur dialektischen Methode als Idee und Subjektivität sei erlaubt zu verweisen auf die Darlegungen des Verfs. in: „Das Problem der Subjektivität“ (s. Anm. 11), 313 ff.
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tität bewahrt. Mit diesem entwicklungsgeschichtlichen Aufweis der Genese des spekulativ-dialektischen Denkens wird zugleich systematisch der Herkunftsbereich dieses Denkens und des dialektischen und spekulativen Hinausgehens über das endliche formallogische Denken aufgezeigt. Erkenntnistheoretisch kommt das spekulativ-dialektische Denken zustande durch Verschmelzung von intellektueller Anschauung – unter Beibehaltung ihres Erkenntnisanspruchs – und endlicher Reflexion zu einem neuen, einheitlichen Denken; metaphysisch kommt es zustande durch den Erkenntnisinhalt der Unendlichkeit als affirmativer, realer Bestimmung, die den Widerspruch alles Endlichen in sich aufhebt und bewahrt. Auf dieser Grundlage, die das Fundament der weiteren, differenzierenden Versuche der Selbstausweisung des spekulativen Denkens darstellt, entwickelt Hegel die Bestimmungen von der Identität bis zum Widerspruch und Grund, sei es in Grundsätzen metaphysischen Erkennens, sei es nach Aufstellung einer Wesenslogik in Reflexionsbestimmungen des Wesens. Ein spezifischer, spekulativer, zugleich in sich widersprüchlicher Sinn von Reflexion des Wesens ist, wie sich zeigte, in der späteren, wesenslogischen Darlegung vorausgesetzt. Von dieser spekulativen Konzeption aus erklärt und kritisiert Hegel die traditionelle logisch-ontologische Axiomatik. Die für sich explizierten Reflexionsbestimmungen als Phasen einer einheitlichen spekulativ-logischen Entwicklung erweisen sich zugleich als Vorprägungen der Schrittfolge der dialektischen Methode; ja sie bilden einfachere konstitutive Momente der dialektischen Bewegung des spekulativen Denkens. Im Denken seiner Bestimmungen aber denkt dieses nur sich selbst. Denn spekulatives Denken und Erkennen, dessen Reflexionsstruktur und Vollzugsart hier immanent aufgewiesen und vom formallogischen Denken abgehoben werden sollte, ist in Hegels Idealismus eigentlich Sich-Denken und Selbsterkenntnis der absoluten Subjektivität.
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Hegels Dialektik Der dreifache Bruch mit dem traditionellen Denken Für Hegels Denken, nämlich für dessen Argumentationsweise ebenso wie für dessen metaphysische Inhalte, ist die spekulative Dialektik repräsentativ. An ihr kann man das Paradigma studieren, nach dem der reife Hegel in allen seinen Systemteilen vorgeht. Hegels Dialektik, die wirkungsmächtig ist bis in heutige philosophische Ansätze,1 gibt jedoch viele Rätsel auf. Sie wird von ihren Anhängern emphatisch gefeiert, von ihren Sympathisanten immerhin als epochales Methodenvorbild anerkannt, von ihren Gegnern und Feinden aber wegen ihres überzogenen Erkenntnisanspruches oder gar wegen ihrer Verstöße gegen Grundregeln der traditionellen und modernen formalen Logik abgelehnt bzw. abgeurteilt. Was den einen wie ein achtes Weltwunder erscheint, erscheint den anderen als hohle Nuß, hart zu knacken, aber leer.2 So muß man sich fragen, wie es zu dieser Polarisierung kommt, die Hegels Denken und seine bis heute fortwirkende Dialektik auslösen. Nun wirkt Hegels ausgebildete spekulative Dialektik wie ein erratischer Block. Sie erschließt sich am ehesten, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie keineswegs mit einem Schlage, sondern erst in mehreren Entwicklungsschüben entstanden ist. Sie bildet sich zu ihrer reifen und spekulativen Gestalt – dies ist hier die im folgenden darzulegende These – in drei Entwicklungsphasen mittels eines dreifachen, jeweils gesteigerten Bruchs mit dem traditionellen logischen Denken aus, der jedesmal unterschiedliche Gründe hat. So soll nun in einem ersten Teil anhand von Hegels Jugendschriften aus seiner Frankfurter Zeit (1797-1800) der erste Bruch mit dem traditionellen Denken und dessen metaphysische Begründung aufgezeigt werden als eine wesentliche Vorbereitung für Hegels spätere Dialektik. In einem zweiten Teil sei eine frühe Form von Hegels Dialektik aus dem Beginn seiner Jenaer Zeit (1801/02) dargelegt. Hegel konzipiert hier zum ersten Mal eine Dialektik, die aber noch negativ bleibt; sie ist Bestandteil eines neuen Ansatzes zur Logik und Metaphysik, der einen weiteren, einen zweiten Bruch mit dem traditionellen Denken impliziert. Schließlich soll in einem dritten Teil gezeigt werden, wie und warum Hegel diese frühe Dialektik zur spekulativen Dialektik fortentwickelt, worin er erneut – über seine bisherigen Distanzierungen hinausgehend – mit 1
2
Vgl. den neuen grundlegenden Ansatz von E. Heintel: Grundriß der Dialektik. 2 Bde. Darmstadt 1984. Vgl. die Forschungsberichte zur Interpretation und Aufnahme der Hegelschen Dialektik bei A. Dürr: Zum Problem der Hegelschen Dialektik und ihrer Formen. Berlin 1938, 1-40; A. Sarlemijn: Hegelsche Dialektik. Berlin und New York 1971, passim. Vgl. auch die Aufsatzsammlungen: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg. und eingeleitet von R.-P. Horstmann. Frankfurt a.M. 21989, sowie: Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1986.
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HEGELS DIALEKTIK. BRUCH MIT TRADITIONELLEM DENKEN
dem traditionellen Denken bricht und welche methodische und metaphysische Bedeutung diese spekulative Dialektik besitzt, die für Hegel endgültig ist. Dabei sei zumindest ein Ausblick skizziert auf das Verhältnis von Dialektik und Subjektivität.
1. Endliche Reflexion und unendliches Leben in Hegels Frankfurter Entwürfen Nach der gemeinsamen Tübinger Zeit und der dann folgenden Trennung traf Hegel Anfang 1797 Hölderlin in Frankfurt am Main wieder. Diese Wiederbegegnung wurde für Hegel zu einem bedeutenden Innovationsschub. Angeregt durch Hölderlins damaligen ästhetischen Platonismus und Pantheismus sucht Hegel nun zum ersten Mal nach einer metaphysischen Begründung für seine religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Untersuchungen. In seiner Darlegung der Herausbildung der christlichen aus der jüdischen Religion stellt Hegel sich die prinzipielle Frage, wie Gott eigentlich verstanden werden muß, wenn er Grundlage dieser Religionen, speziell der christlichen, ist und wenn er das Fundament des menschlichen Daseins und des menschlichen Ethos bildet. Hegels Antwort lautet: Gott muß verstanden werden als unendliches Sein und Leben; Hegel fügt auch die Bestimmung hinzu, Gott sei unendlicher Geist, ohne daß sie für ihn schon – wie später – prävalierende Bedeutung erlangt. In diesen Bestimmungen ist Hegel sich mit Hölderlin einig, auch darin, daß dieser Gott kein welttranszendentes Wesen ist, sondern pantheistisch verstanden werden muß. Partiell anders als Hölderlin beantwortet Hegel die Frage, wie denn dieser Gott, dies unendliche Sein und Leben im menschlich-endlichen Bewußtsein gegenwärtig ist. Hegels Antwort klingt zunächst traditionell: Gott ist Inhalt eines Glaubens. Aber solcher Glaube wird ungewöhnlich von Hegel bestimmt; er gilt ihm als „reflektiertes Sein“3; d.h. Glauben ist für ihn als ein freies Fürwahrhalten ein Vollzug der endlichen Reflexion, der jenes Sein als wahr voraussetzt. Eigentlich wird das göttliche Sein und Leben allerdings für Hegel im Gefühl präsent, speziell im Gefühl der vereinigenden Liebe, in der göttliche Einigung gegenwärtig wird. In den letzten Aufzeichnungen der Frankfurter Zeit hält Hegel auch ein mystisch verstandenes intellektuelles Anschauen des einigenden Gottes und Lebens für möglich.4 Hinter allen diesen Bestimmungen steht Hegels damalige Auffassung, daß Gott, das Absolute oder das unendliche Sein und Leben nicht durch unser Denken erkannt werden kann. Da3
4
Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Tübingen 1907. Nachdruck Frankfurt a.M. 1966 (im folgenden – auch im Text – angegeben mit Sigle: N), 383. Vgl. N 315 f; vgl. generell zu Hegels „mystischem Pantheismus“ schon W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. In ders.: Gesammelte Werke. Bd. IV. Hrsg. von H. Nohl. Göttingen 3 1963, bes. 138-157, 180 ff.
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1. FRANKFURTER ENTWÜRFE
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her ist diese Theorie Hegels noch frühidealistisch; sie nimmt zwar ein Absolutes als Grund und Fundament des endlichen Selbstbewußtseins an, hält dies aber für unerkennbar. Wie verhält sich nun die endliche Reflexion oder der trennende Verstand zu diesem in sich einigen unendlichen Sein und Leben? Da jede Bestimmung, die dem Verstand immanent ist, an ihrer logisch entgegengesetzten ihre Grenze findet, kann sie nur als endliche Bestimmung gedacht werden. Die Beziehung dieser Bestimmungen und damit das Denken der endlichen Reflexion untersteht nach Hegel dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch; dieser ist also für den Verstand oder die endliche Reflexion gültig. Die Philosophie bleibt in dieser frühen Phase Hegels darauf beschränkt, nur den Durchgang durch die Bestimmungen der endlichen Reflexion zustande zu bringen. Dabei ergibt sich nach Hegels damaliger Konzeption kein Widerspruch. Wenn nun aber die endliche Reflexion das unendliche Sein und Leben oder Gott zu erfassen sucht – etwa im Glauben –, so muß sie notwendig scheitern. Hegel erklärt: „Jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte [ist] widersinnig“; „der Verstand, der es aufnimmt und dem es Widerspruch ist“, wird „darum zerrüttet“ (N 306). Ein Widerspruch widerfährt dem Verstand also nicht im Durchdenken der eigenen endlichen Bestimmungen; dies gelingt ihm nach Hegels Frankfurter Ansatz vielmehr widerspruchsfrei; in einen Widerspruch gerät er erst, wenn er Göttliches und Unendliches zu denken sucht. Aber dies Göttliche und Unendliche gilt ihm deshalb nicht als sinnlos, wie man es nach dem Satz vom Widerspruch erwarten sollte; der Verstand wird darin nach Hegel vielmehr seines eigenen Scheiterns inne. Hierin nun liegt Hegels erster Bruch mit dem traditionellen logischen Denken; der Satz vom Widerspruch gilt ihm nicht universal; er gilt in seiner traditionellen Bedeutung nach Hegel nicht für den Versuch der Erfassung des Göttlichen und Unendlichen. Da die endliche Reflexion zentrales Vermögen des endlichen Ich oder des endlichen Selbstbewußtseins ist und da das endliche Selbstbewußtsein sich nicht für sich isolieren kann, sondern notwendig eine Beziehung zum einigenden lebendigen Grund von allem aufnehmen, daran „glauben“ muß, wird es notwendig in einen Widerspruch gestürzt und “zerrüttet“; es gerät nicht willkürlich, sondern notwendig in die Paradoxie, wenn in ihm das Unendliche gegenwärtig werden soll. Eine Konkretisierung dieses Grundgedankens findet sich in Hegels Untersuchung der Satzstruktur der ersten Sätze des Johannes-Prologs.5 Sätze oder Urteile als Ausdrucksformen der endlichen Reflexion sind für Hegel wie für Fichte antithetisch und synthetisch; im einfachen, kategorischen Urteil etwa wird ein Subjektausdruck von einem Prädikatbegriff getrennt, d.h. ihm logisch entgegengesetzt und zugleich mit ihm verbunden. In dieser Weise aber dürfen 5
Vgl. zu Hegels Interpretation des Johannes-Prologs bes. A. Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde. Den Haag 21969, 177 ff; zur Trinitätsspekulation des jungen Hegel im Anschluß an Johannes vgl. die grundlegende Darlegung von E. Heintel: „Der Begriff des Menschen und der ’spekulative Satz’“. In: Hegel-Studien 1 (1961), bes. 223 ff.
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für Hegel Sätze wie: „Gott war der Logos“ nicht verstanden werden; denn nun ist der Inhalt das Unendliche und Lebendige. Der an der Prädikatstelle befindliche Ausdruck: „Logos“ darf kein vom Verstand festgelegter, fixierter Allgemeinbegriff sein und nicht dem Subjekt entgegengesetzt werden; er muß selbst „Lebendiges“ bedeuten, wie es nach Hegel schon im Subjekt gedacht wird (vgl. N 306). Daß dies in „thetischen“ Urteilen geschehen könne, die Hegel ebenfalls von Fichte aufnimmt, dürfte wohl eine Ausflucht der Verlegenheit sein, zumal da die beschriebene Urteilsstruktur in jenen ersten Sätzen des Johannes kaum aufrechterhalten werden kann und man nicht sieht, was an ihre Stelle treten soll. Grundlinien von Hegels späterer Theorie des „spekulativen Satzes“ sind hiermit vorgeprägt. Generell läßt sich aus dieser Erörterung der Satzstrukturprobleme des Johannes-Prologs entnehmen, daß die endliche Reflexion mit ihren getrennten, fixierten Bestimmungen und sprachlichlogischen Formen den Inhalt des unendlichen, göttlichen Lebens nicht fassen kann. Sie müßte unendliche Einheit denken, die entgegengesetzte, ja einander widersprechende Bestimmungen in sich faßt, z.B. Gott als Einzelnes und Allgemeines in ursprünglicher Einheit, und darin muß sie einen Widerspruch begehen. Der Widerspruch endlicher Bestimmungen, die von demselben Seienden gelten sollen, aber zeigt für Hegel schon die negative Präsenz des Unendlichen im endlichen Bewußtsein an. Konsequenter innerhalb dieses Ansatzes als die Flucht in die „thetischen“ Urteile ist Hegels Gedanke, den er mit Hölderlin teilt, daß über Göttliches allenfalls in „Begeisterung“ (N 305), im Enthousiasmos geredet werden könne oder auch in mystischen oder dichterischen Analogien. Das genuine Erleben des Göttlichen und Unendlichen, sei es im Gefühl, sei es in mystisch verstandener intellektueller Anschauung, muß als solches eigentlich stumm bleiben. Nun sind Hegels eigene Äußerungen über das Göttliche und Absolute in den Frankfurter Schriften aber weder enthusiastisch noch dichterisch oder mystisch, sondern rational und den Reflexionsformen gemäß, und Hegel erhebt Anspruch auf Wahrheit für diese Äußerungen. Solche Wahrheit kann also die Verwendung von Reflexionsformen nicht ausschließen. Ferner ist der endliche menschliche Geist dem göttlichen Geist nicht fremd oder inkommensurabel, sondern sogar in ihm; so bildet Hegel offenbar schon ganz zu Ende seiner Frankfurter Zeit die Auffassung aus, das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen und damit auch des endlichen Geistes zum unendlichen Geist müsse in einer Metaphysik6 expliziert und das Absolute als Prinzip eines Systems7 erkannt und ausgeführt werden. Diese Konzeption bringt Hegel ansatzweise nach Jena mit. 6
7
Vgl. N 146. Zur Entstehung von Hegels neuem Ansatz einer absoluten Metaphysik schon am Ende seiner Frankfurter Zeit mag der Hinweis erlaubt sein auf die Darlegung des Verfs. in: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I.P.V. Troxler. Hrsg., eingeleitet und mit Interpretationen versehen von K. Düsing. Köln 1988, 110 ff. Vgl. Hegels Ankündigung eines Systems in seinem Brief an Schelling vom 2.11.1800; s. Briefe von und an Hegel. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 1952-1960. Bd. I, 59.
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2. FRÜHE DIALEKTIK IN JENA
2. Die frühe Form der Dialektik in Hegels ersten Jenaer Entwürfen Zu Beginn des Jahres 1801 geht Hegel nach Jena und trifft dort Schelling wieder. Es kommt zu einem offensichtlich für beide Seiten fruchtbaren und anregungsreichen Wirken. Hegel geht – ähnlich wie Schelling zur gleichen Zeit – über die frühidealistische Konzeption hinaus und hält nunmehr eine vollständige, vernünftige Erkenntnis des Absoluten und Unendlichen in einem philosophischen System für möglich, ja notwendig; so entstehen die ersten Systemskizzen und Systementwürfe Hegels. Grundlage dafür ist die These, daß das Absolute und Göttliche nicht innerlich nur im Gefühl erlebt oder mystisch angeschaut wird, ohne daß eine adäquate sprachliche und begriffliche Artikulation möglich wäre, sondern daß es gedacht, begriffen und sprachlich-logisch entwickelt werden kann und muß. Diese Metaphysik als Wissenschaft des Absoluten ist von unüberbietbarem Erkenntnisanspruch, so daß sie sinnvoll auch als absolute Metaphysik angesehen werden kann. An diesem Erkenntnisanspruch hält Hegel seither fest. Doch kann man mit solchem Wissen des Absoluten nicht einfach anfangen. Die zeitgenössischen philosophischen Theorien beharren mehr oder minder dezidiert auf der Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis, der das Absolute verschlossen sei, oder erklären – wie die skeptischen Theorien – sogar, der menschliche Verstand bringe es nicht einmal auf dem Felde des Endlichen zu gesicherten Erkenntnissen. Gegen diese Theorien und ihr Prinzip, die endliche Reflexion des endlichen Ich, wendet Hegel sich in seinen kritischen Schriften der frühen Jenaer Zeit. Dies Prinzip und seine ihm immanenten reinen Bestimmungen werden von Hegel idealiter und unabhängig von den Zufälligkeiten faktisch aufgetretener Theorien in seiner frühen Logik entwickelt. Diese Logik legt systematisch die reinen Gedankenbestimmungen der endlichen Reflexion dar; sie ist damit noch nicht spekulativ, noch keine Erkenntnis des Absoluten, sondern nur systematische Einleitung in die Metaphysik des Absoluten. Mit der Entfaltung dieser Bestimmungen soll sie zugleich die Hindernisse beseitigen, die die isolierte Reflexion der Spekulation als der Erkenntnis des Absoluten in den Weg legt. Auf diese Weise soll sich die Möglichkeit und Notwendigkeit der Vernunfterkenntnis des Absoluten erweisen. Die Methode dieser Logik ist nun offenbar dialektisch, soweit wir dies aus den wenigen Zeugnissen eruieren können. Es wird durch Thesis eine Gedankenbestimmung gesetzt, z.B. die Realität; sie wird um die ihr entgegengesetzte „vervollständigt“,8 wie Hegel sagt, nämlich um dasjenige Gegenteil, das inhaltlich zu derselben Gattung gehört wie die zuerst gesetzte Bestimmung, also in dem von Hegel wenig später (1804) ausgeführten Beispiel: die qualitative Negation (Mangel); sie gehört zu derselben Gattung wie die Realität, nämlich 8
So drückt Hegel sich in der Differenz-Schrift aus; s. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke (im folgenden – auch im Text – abgekürzt mit GW). Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 17, vgl. 26, 29 u.ö.
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zur Qualität und stellt diejenige Nichtrealität dar, die selbst Qualität ist.9 Sie wird durch Antithesis gegen die Realität gesetzt. So entsteht eine „Antinomie“, eine Entgegensetzung von Begriffen, nicht von Urteilen wie bei Kant, und zwar eine konträre Entgegensetzung. Wenn nun beide entgegengesetzten Begriffe ohne Hinsichtenunterscheidung von demselben gelten sollen, etwa vom Seienden, das qualitativ bestimmt ist, so ergibt sich ein Widerspruch. Die Aufstellung solcher konträren Gegensatzverhältnisse, die zu einem Widerspruch führen, bedeutet für Hegel: Dialektik. Im Naturrechtsaufsatz (1802) erklärt er z.B. kurz und kryptisch: „Daß das Verhältnis überhaupt nichts an sich ist, hat (...) die Dialektik zu erweisen (...)“ (GW 4, 446). Das „Verhältnis“ besteht für Hegel aus einer gegensätzlichen Beziehung endlicher Bestimmungen, die der endlichen Reflexion angehören; sie haben kein Bestehen und Gelten an sich; solches Ansichsein kommt nur dem Unendlichen und Absoluten zu, das Hegel damals wie Spinoza als die Eine Substanz versteht. Die Logik verfährt also dialektisch, wenn sie solche Gegensatzpaare oder Antinomien von reinen endlichen Bestimmungen aufstellt. Vorbild ist für Hegel außer Kants Antinomienlehre, die dies nur an vier Beispielen zeigt, vor allem Platons Parmenides in seinem zweiten Teil, der nach Hegel alle grundlegenden Gegensatzbestimmungen der endlichen Reflexion darstellt und deren Paradoxien aufweist.10 Zwar gelangt Hegel in seiner frühen Logik auch zu einer Synthesis der entgegengesetzten reinen Gedankenbestimmungen; aber diese bleibt – wie bei Fichte – der endlichen Reflexion verhaftet und bringt keine spekulative Einheit zustande. Das Resultat der dialektischen Entgegensetzungen bleibt daher negativ; die Dialektik selbst ist noch eine negative Dialektik. In der Aufstellung dieser Gegensatzpaare und in der Erkenntnis, daß das durch sie jeweils Bezeichnete einen Widerspruch enthält, begeht Hegel nun einen zweiten Bruch mit dem traditionellen logischen Denken. Der erste Bruch mit diesem Denken bestand in den Frankfurter Entwürfen darin, daß die endliche Reflexion in Widersprüche geriet, wenn sie das Unendliche zu denken versuchte, das dadurch aber nicht sinnlos wurde; die endliche Reflexion blieb dabei in ihrem eigenen Gebiet der endlichen Bestimmungen in sich konsistent. Nunmehr aber erkennt die endliche Reflexion im Durchgang durch ihre eigenen ihr immanenten Bestimmungen, wie es in der Logik geschieht, daß die sich ergebenden Antinomien ihre eigenen sind, daß sie damit selbst in sich widersprüchlich ist. Diese Logik ist ein „wissenschaftlicher Skeptizismus“, wie Schelling sie treffend charakterisiert hat.11 Aber dieser philosophische 9
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Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 7. Hrsg. von R.-P. Horstmann und J.H. Trede. Hamburg 1971, 3 ff; vgl. auch Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (TroxlerNachschrift, s. Anm. 6), 68; zum Terminus: „dialektisch“ s. dort 63,70. Hegels Deutung des zweiten Teils von Platons Parmenides im Skeptizismus-Aufsatz (von 1802) als „echter Skeptizismus“ ist negativ; doch werde die „positive Seite“ der Philosophie darin unmittelbar vorausgesetzt, wenn auch nicht ausgesprochen; vgl. GW 4, 207 f. Diese Charakterisierung findet sich in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803); s. F.W.J. Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856-1861. Bd. V, 269. Schelling kann hier nicht seine eigene Logik gemeint haben; seine Logik-Skizze im Dialog: Bruno (1802) hat eine ganz andere Gestalt und Zielsetzung. Eine Logik, die als „Kunstlehre“ zugleich „Dialektik“ ist, „existiert noch nicht“
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Skeptizismus führt nicht zum Agnostizismus. Die endliche Reflexion erkennt mit der ihr immanenten Widersprüchlichkeit nach Hegel nur, daß sie, für sich genommen, kein geeignetes Vermögen der Erkenntnis des Wahren ist. Damit aber wird für Hegel gerade das entscheidende Hindernis solcher Erkenntnis überwunden, das darin besteht, daß sich die Reflexion als das zentrale oder gar einzige Erkenntnisvermögen ansieht. Die Widersprüchlichkeit und Paradoxie der endlichen Reflexion, die sich ihr im Durchgang durch ihre immanenten Bestimmungen ergibt, bedeutet für Hegel in metaphysischer Hinsicht, daß darin bereits das Unendliche in negativer Weise gegenwärtig ist. Die Widersprüche endlicher Bestimmungen lösen deren prätendierte selbständige Geltung auf; dies entspricht noch dem Satz vom Widerspruch; aber gerade in dieser Auflösung des für sich Geltung beanspruchenden Endlichen liegt nach Hegel die negative Macht und Bedeutung des Unendlichen. Die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch wird insofern nicht nur bezüglich des Unendlichen, sondern auch des Endlichen zwar nicht in formallogischer, wohl aber in metaphysischer Hinsicht aufgehoben; die der Reflexion immanente Widersprüchlichkeit indiziert nicht völlige Sinnlosigkeit, sondern negative Präsenz des Unendlichen. Durch eine solche negative Präsenz des Unendlichen im Endlichen wird nun eine intellektuelle Anschauung des Unendlichen und Absoluten, wie Hegel sagt, „postuliert“, in der es in seiner eigenen positiven Bedeutung erfaßt werden kann. Es bedarf also des Rekurses auf eine andere Erkenntnisquelle, als es die Reflexion ist, um zur positiven Bedeutung des Absoluten zu gelangen. Dies Absolute kann nach Hegel jedoch nur systematisch in einer Metaphysik entfaltet werden, wenn es nicht nur in unbewußter Anschauung erlebt, sondern auf der Grundlage intellektueller Anschauung in Übereinstimmung mit den logischen Formen der endlichen Reflexion und des endlichen Ich „konstruiert“ wird. Diese Metaphysik, die die positiven Bestimmungen des Absoluten systematisch expliziert, beruht in ihrer Methode also auf einem Dualismus von Erkenntnisquellen, der grundlegenden intellektuellen Anschauung, die Hegel ohne Erörterung für menschenmöglich hält, und der unter ihrer Bedingung Wahrheitsfunktion erhaltenden Reflexion mit ihren entgegengesetzten Bestimmungen.
3. Spekulative Dialektik und Selbsterkenntnis der absoluten Subjektivität beim späteren Hegel Hegels Grundproblematik bleibt auch in seiner späteren Zeit, wie und in welchen Bestimmungen die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen gedacht werden könne und müsse. In der Fortentwicklung dieses Problems und seiner Lösung bildet Hegel später – im Vergleich zum frühen Jenaer Ansatz – diffe(V, 269); Schelling hat sie auch später nicht ausgeführt. Diese Bestimmungen aber passen auf Hegels frühe Logik, die nicht veröffentlicht war.
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renziertere inhaltliche Bestimmungen und eine komplexer strukturierte, aber in sich einheitliche dialektische Methode aus. Schon im Jenaer Systementwurf von 1804/05 beseitigt Hegel prinzipiell den Dualismus der Erkenntnisquellen, nach dem die Erkenntnis des Widerspruchs endlicher Bestimmungen in der Reflexion nur „postulieren“ kann, daß eine Vorstellung höherer, ja absoluter Identität in einer anderen Erkenntnisquelle, der intellektuellen Anschauung, zustande komme. Der neue methodische Ansatz besagt, daß sich nunmehr aus der Entwicklung des Widerspruchs endlicher Bestimmungen selbst das Begreifen der ihn begründenden höheren, absoluten Einheit ergibt, die ihn in sich bewahrt. So wird in einem und demselben Argumentationsgang eine Bestimmung gesetzt, eine ihr konträr entgegengesetzte ihr gegenübergesetzt, dieser inhaltlich bestimmte Gegensatz zum Widerspruch eines zugrunde liegenden Ganzen fortbestimmt und schließlich der Gedanke dieses fundierenden Ganzen als der höheren, absoluten Einheit entwickelt. Das positive Resultat der höheren Einheit ergibt sich hierbei aus der Begründung des Widerspruchs selbst, und zwar in einem in sich einheitlichen methodischen Fortgang; dieser Fortgang ist dialektisch in der Aufstellung von Gegensatz und Widerspruch der Bestimmungen; er ist spekulativ in der Gewinnung des positiven Resultats der höheren Einheit. Diese neue Qualität der dialektischen Methode, die ein positives Resultat spekulativ erzielt, wird methodisch erreicht durch eine Negation der Negation. Nach Setzung einer Gedankenbestimmung ist die Sphäre der ersten Negation die des Gegensatzes zwischen jener Gedankenbestimmung und ihrem konträren Gegenteil sowie des daraus sich ergebenden Widerspruchs. Die Negation dieser Negation führt positiv zurück auf das zugrunde liegende Ganze, das aber nun reicher entwickelt ist und jenen Gegensatz und Widerspruch in sich bewahrt. Ein Beispiel aus Hegels Ästhetik, das konkreter ist als Beispiele von Kategorienverhältnissen, mag dies verdeutlichen. Hegel interpretiert den von Sophokles in der Antigone geschilderten tragischen Konflikt mit diesem seinem Konzept dialektischen Fortgangs. Für ihn ergibt sich durch Entzweiung der Polis-Wirklichkeit Thebens, daß einerseits Kreon als Herrscher der Vertreter der öffentlichen Gesetze und des Rechts der Polis ist und daß andererseits Antigone gegen ihn auftritt als Vertreterin der „unteren Götter“ und der Familiensittlichkeit, da sie ihren getöteten Bruder Polyneikes begraben will. So entsteht nach Hegel, was freilich kaum Sophokles’ Intention entspricht, der Konflikt zweier gleichberechtigter sittlicher Mächte, des Rechts der „oberen“ Götter und des Zeus, nämlich des Rechts der öffentlichen Ordnung, und des Rechts der „unteren Götter“, der Totenwelt und der Familiensittlichkeit. Beide sittlichen Mächte werden jeweils von Heroen vertreten, die die Verwirklichung ihrer sittlichen Macht und ihres sittlichen Ethos als den wesentlichen Zweck ihres Daseins ansehen. Die einander entgegengesetzten, einseitigen sittlichen Mächte stellen den widersprüchlichen Zustand der Polis Theben dar. Sie arbeiten einander ab, was konkret bedeutet, daß beide Heroen untergehen müssen; Antigone stirbt, aber auch Kreon steht nach Hegel am Ende vernichtet da. Was
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sich über diesem notwendigen tragischen Untergang zeigt, ist, wie Hegel in der Phänomenologie sagt, das Aufgehen des „allmächtigen und gerechten Schicksals“.12 Der dialektische Fortgang ist hier gut zu verfolgen: Aus einer früheren unmittelbaren Einheit, der Polis-Wirklichkeit Thebens, gehen im Konflikt die konträr einander entgegengesetzten, gleichberechtigten sittlichen Mächte hervor. Sie bilden den Gegensatz und Widerspruch der PolisWirklichkeit. Als Negation dieser Negation und d.h. als positives Resultat tritt jenes „allmächtige und gerechte Schicksal“ auf, das dem Zuschauer Einsicht in die Notwendigkeit des tragischen Untergangs der Heroen verschafft, deren gleichberechtigte sittliche Mächte in dieser höheren Einheit aufgehoben und bewahrt sind. Dies ist die spekulativ-dialektische Standard-Abfolge, die sich mit inhaltlich begründeten Modifikationen in nahezu allen kategorialen und realen Entwicklungen bei Hegel findet. In dieser dialektischen Abfolge zeigt sich auch, daß Hegels Bruch mit dem traditionellen logischen Denken nicht nur zweifach, sondern in gestaffelter Weise dreifach ist. Als erstes ergab sich, daß das Denken des Unendlichen die endliche Reflexion in Widersprüche stürzte, ohne daß der Vorstellungsinhalt des Unendlichen dadurch für Hegel sinnlos wurde. Als zweites hat sich für Hegel erwiesen, daß die endliche Reflexion auch im Durchdenken ihres eigenen Gebiets, ihrer eigenen inneren Bestimmungen notwendig auf Widersprüche stößt und sich selbst infolgedessen als widersprüchlich erkennt; zwar wird in logischer Hinsicht dadurch die Gültigkeit dieser entgegengesetzten, einander widersprechenden Bestimmungen und des Denkens solcher Bestimmungen aufgehoben; aber diese Bestimmungen und das Denken dieser Bestimmungen werden damit nicht etwa sinnlos; gemäß Hegels metaphysischer Fundierung ist in solcher Widersprüchlichkeit der endlichen Reflexion bereits das Unendliche in negativer Weise gegenwärtig. Drittens schließlich entfällt auch noch dieser eigene Bereich der endlichen Reflexion und ihrer Bestimmungen, in dem der Satz vom Widerspruch noch logisch, freilich nicht mehr ontologisch bzw. metaphysisch galt, so daß der Satz vom Widerspruch nicht mehr festlegte, das Widersprüchliche könne nicht sein. Nunmehr wird in der in sich einheitlichen dialektischen Methode mit spekulativem Resultat auch jener letzte Restbestand an Geltung des Satzes vom Widerspruch verabschiedet. Der Widerspruch endlicher Bestimmungen stellt keinen eigenen Bereich mehr, sondern nur noch eine transitorische Phase in einer dialektischen Entwicklung dar; er wird, wie dargelegt, jeweils in einer höheren Einheit begründet und bewahrt; er treibt nach Hegel methodisch sich selbst notwendig zu solcher Einheit fort. So gilt von solcher spekulativen Dialektik erst recht, was Hegel schon im Skeptizismus-Aufsatz (1802) sagt: „Der sogenannte Satz des Widerspruchs ist daher sowenig auch nur von formeller Wahrheit für die Vernunft, daß im Gegenteil jeder Vernunftsatz in Rücksicht auf die Begriffe einen Ver12
G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 256.
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stoß gegen denselben enthalten muß“ (GW 4, 208). Was kaum deutlicher und anstößiger als so formuliert werden konnte, bleibt bis in Hegels Spätzeit in Kraft.13 Das traditionelle logische Denken ist somit zugunsten eines spekulativ-dialektischen Denkens verabschiedet, was man am deutlichsten aus der Außerkraftsetzung des Satzes vom Widerspruch entnehmen kann. Hegels Dialektik entwickelt sich also erst über einen dreifach gestaffelten Bruch mit dem traditionellen logischen Denken in drei Entwicklungsstufen zu ihrer reifen Gestalt. Diese deutet sich, wie erwähnt, zum ersten Mal schon im Systementwurf von 1804/05 an und wird auf dieser Grundlage später mit inhaltlichen Differenzierungen in den unterschiedlichen Fortgangsschemata von Sein, Wesen und Begriff entfaltet. Der Fortgang der Seinskategorien ist danach ein „Übergehen“ einer einfachen Kategorie in eine andere; der Fortgang von Wesenskategorien ist ein „Scheinen“ einer Relationsbestimmung in einer anderen; der Fortgang von Begriffsbestimmungen ist „Entwicklung“ höherer, in sich bleibender Einheit als Grundlage solcher Relationen. Die Dialektik differenziert sich also bei gleichbleibendem Grundmuster, wie es geschildert wurde, in unterschiedliche komplexe Abfolgeweisen. Im Frankfurter Ansatz des jungen Hegel konnte die Präsenz des Unendlichen im Endlichen nur im Gefühl oder in der Anschauung erlebt, aber nicht in Aussagen systematisch expliziert werden. Solche systematische Explikation beansprucht Hegel in seinem frühen Jenaer Ansatz durch Synthesen von intellektueller Anschauung und Reflexion. Doch bleibt die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung für uns und ihrer Synthesis mit der Reflexion eine bloße Hypothese. Eigentliche Aussage und systematische Explikation solcher Gegenwart des Unendlichen und Absoluten im Endlichen gelingt nach Hegels späterer Theorie erst in der entwickelten spekulativen Dialektik. Nun fragt es sich, ob die spekulative Logik, die selbst reine Metaphysik des Absoluten ist, nach Hegels Lehre vom „spekulativen Satz“ nicht aus gewöhnlichen, wohl aber aus spekulativen Sätzen besteht. Die entscheidende Stelle, die diese Lehre vom „spekulativen Satz“ darlegt, nämlich eine Passage aus der Vorrede der Phänomenologie, belehrt uns eines anderen.14 Hegel unterscheidet dort den gewöhnlichen Satz, wie wir ihn in alltäglicher Rede verwenden, nämlich den 13
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Vgl. z.B. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke (Wissenschaft der Logik. Bd. 2). Hamburg 1981, 245 f. – Gegen die formallogische Kritik an Hegels Logik und Dialektik seit A. Trendelenburg (Logische Untersuchungen. 2 Bde. Leipzig 31870, s. Bd. 1, 36 ff) versucht schon Rosenkranz eine Verteidigung Hegels dadurch, daß er die von Hegel aufgewiesenen Widersprüche als ontologisch-metaphysische, nicht als logische Widersprüche auffaßt (vgl. K. Rosenkranz: Wissenschaft der logischen Idee. T. 1: Metaphysik. XXII ff, auch 300 ff). Diese Auffassung ist bis heute oft wiederholt worden; aus Hegels eigener Theorie ist sie schwerlich zu entnehmen. Zu Hegels Lehre vom spekulativen Satz in der Phänomenologie vgl. E. Heintel: „Der Begriff des Menschen ...“, (s. Anm. 5), bes. 220 ff. Vgl. auch R. Heede: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Diss. Münster 1972, 205-254, und G. Wohlfart: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin und New York 1981, bes. 184-221.
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Satz, besser: die Aussage, in der wir von einem Subjekt zu einem Prädikat als Allgemeinem übergehen und dann weitere Prädikate anreihen, von einem philosophischen Wesenssatz, in dem wir im Prädikat denken, was das Subjekt ist. So können wir z.B. vom Menschen im gewöhnlichen Denken sagen, er sei zweibeinig, ungefiedert, ein Säugetier usf., und gehen dabei an den Prädikaten fort. Erst wenn wir ihn – der Tradition gemäß – in seinem Wesen als „animal rationale“ bestimmen, erfassen wir im Prädikat, was das Subjekt ist. Die Philosophie macht nun zum eigentlichen Inhalt eines Wesenssatzes den reinen Begriff, d.h. für Hegel zugleich das reine Denken und dessen Vollzugssubjekt. Das logische Subjekt muß damit inhaltlich „das wissende Ich selbst“ werden, das „das Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt“ ist (GW 9, 43). Es findet im Prädikat nichts anderes als sich selbst vor, wird in seinem Denken somit zum logischen Subjekt zurückgeführt und ist in diesem Denken seiner selbst ebendiese Bewegung, die die Identität mit sich und den Unterschied zusammendenkt. Aber diese Bewegung, die Hegel als dialektisch qualifiziert, bleibt bloß innerlich, sie kann in einem Satz gar nicht angemessen ausgedrückt werden; der spekulative Inhalt zerbricht vielmehr die Struktur des Satzes oder Urteils. Es gibt somit keinen spekulativen Satz als logischgrammatischen Satz oder als Urteil. Gleichwohl muß der spekulative Inhalt formuliert werden können. Der interne Zusammenhang von Identität einerseits und Unterschied, ja Gegensatz und Widerspruch andererseits sowie die inhaltliche Bedeutung des „Ich denke“ als Begriff, wie Hegel sie konzipiert, können nach seiner in der Phänomenologie nur angedeuteten, später explizierten Auffassung nur in einem spekulativen Schluß, ja nur in einem Zusammenhang von spekulativen Schlüssen dargestellt und ausgedrückt werden.15 Die Logik und die dialektische Entwicklung in allen Systemteilen ist somit nach Hegel spekulativ-syllogistisch; auch seine eigene dialektische Methode stellt er in der Wissenschaft der Logik als zusammenfassenden spekulativen Schluß dar.16 Die systematische Explikation des Absoluten und Unendlichen, das im Endlichen präsent ist, gelingt nach Hegel also nur in der dialektischen Bewegung, die sich spekulativ-syllogistisch artikuliert. Der metaphysische Inhalt dieser Dialektik und spekulativen Syllogistik ist, wie sich schon in der Lehre vom „spekulativen Satz“ andeutete, das weiterentwickelte Unendliche und Absolute als reines, seine Bestimmungen hervor15
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Vgl. GW 9, 45, GW 12, 90-126. Hierzu und zum folgenden mag es gestattet sein, auf die Darlegungen des Verfs. zu verweisen in: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 21984, 198 ff, 266-288, 313 ff, sowie: „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“. In: Hegels Wissenschaft der Logik (s. Anm. 2), 15-38. Vgl. GW 12, 239 ff. Dieser Schluß besteht im Verhältnis erfüllter Begriffsbestimmungen, nicht lediglich aus drei Urteilen. In der ersten „Prämisse“ wird das anfängliche Allgemeine zum Besonderen fortbestimmt. In der zweiten „Prämisse“ wird zum erreichten Besonderen das entgegengesetzte Besondere hinzugesetzt und als Einheit beider das Einzelne erreicht. Die Conclusio hebt hervor, daß dies Einzelne das fortentwickelte Allgemeine des Anfangs ist. Die Hegelsche Bewegung des Begriffs, der sich selbst begreift, ist somit spekulativsyllogistisch strukturiert.
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bringendes Denken und Wissen seiner selbst, als Subjektivität, die unbegrenzt in allem ihrer selbst gewiß ist, die also absolute Subjektivität ist. Das denkende Ich, das spekulativ expliziert wird, ist somit zuerst die absolute denkende Selbstbeziehung des Subjekts, realphilosophisch gesagt, das göttliche Selbstbewußtsein oder der göttliche Geist. Hier erhält – anders als in den Jugendschriften – der Begriff des Geistes einen Vorrang vor dem des Lebens. In der spekulativen Logik heißt dies Prinzip genauer: Idee, die nicht nur Gedankeninhalt, sondern auch selbstbezügliches Vollzugssubjekt ist, also die Idee, die rein sich selbst denkt. Hegel erinnert damit an Aristoteles’ göttliche Noesis Noeseos. Fragt man nun, was denn diese Idee inhaltlich denkt, indem sie sich selbst denkt, so lautet Hegels Antwort: die reinen Gedankenbestimmungen oder Kategorien der Logik als jeweilige Momente ihrer selbst. So denkt sich die Idee als Sein, aber auch als Wesen, als Unendlichkeit, als Substanz, aber darüber hinaus als selbstbezüglichen Begriff usw., um nur einige Bestimmungen zu nennen. Diese reinen Gedankenbestimmungen stehen aber nicht in ewig vorgegebener, fixierter Bedeutung nebeneinander wie Platonische Ideen; sie werden vielmehr vom reinen Denken erst spontan hervorgebracht, und zwar als bestimmte Stadien und Phasen der Bewegung des Denkens seiner selbst. Der produktive Durchgang durch sie ist die spekulativ-dialektische Methode; sie ist es letztlich, als die nach Hegel die Idee sich selbst denkt. Hegel versucht hiermit, Theologie ohne Abstriche vollständig in Philosophie zu überführen. So entsteht eine Metaphysik der Idee oder der absoluten Subjektivität von nicht mehr zu überbietendem Erkenntnisanspruch. Auch für diejenigen aber, die diesen Erkenntnisanspruch nicht teilen, erwies sich und erweist sich Hegels grundlegende Theorie als wirkungsmächtig. Dies gilt – abgesehen von besonderen Wirkungen einzelner Systemteile wie der Rechtsphilosophie oder der Ästhetik – insbesondere für die Anregung zahlreicher verschiedenartiger Dialektik-Konzeptionen, die Dialektik teils fundamentalphilosophisch, teils als Vorgehen in Geisteswissenschaften zu begründen suchen.17 Es gilt aber auch für Ansätze zu einer Theorie der endlichen Subjektivität, die anknüpft an die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel und dabei Hegels subjektivitätstheoretische Problemstellungen und seine Strukturbestimmungen von denkender Selbstbeziehung transformierend aufgreift. 17
Vgl. hierzu die fruchtbare Verwendung Hegelscher Dialektik für die eigene Hermeneutik durch H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 31972, bes. 439 ff, auch ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen 21980, bes. 63 ff. Aus dem Spektrum des modernen Linkshegelianismus und Marxismus sei nur verwiesen auf Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966. – Eine umfassende und grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem dialektischen und historischen Materialismus leistet E. Heintel in: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Bd. 1. Wien und München 1968, bes. 663-892; zu seiner eigenen Dialektik-Theorie vgl. 256-302, sowie ders.: Grundriß der Dialektik (s. Anm. 1). Vgl. zur Umwandlung Hegelscher Dialektik ebenso H.-D. Klein: Vernunft und Wirklichkeit. 2 Bde. Wien und München 1973. Bd. 1, 268-307.
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Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik Hegel räumt der Schlußlehre in seinen verschiedenen Konzeptionen der Logik jeweils eine herausragende Bedeutung ein. Die stiefmütterliche Behandlung von Hegels Syllogistik in der Literatur steht dazu in bemerkenswertem Kontrast. Seine Darlegungen zur Schlußlehre werden, wenn man sie überhaupt beachtet, zumeist summarisch behandelt; nur gelegentlich werden sie einer ausführlicheren Untersuchung gewürdigt.1 Seit Trendelenburgs Kritik gilt Hegels Lehre von den logischen Schlüssen als formallogisch dubios. Ferner scheint Hegels spekulative Schlußlehre der Dialektik keine neuen Momente hinzuzufügen, sondern lediglich der Versuch zu sein, die Dialektik, die schon an anderen logischen Bestimmungen ausgebildet und bewährt wurde, auch auf diesem klassischen Gebiet traditioneller formaler Logik durchzuführen. Daher hat man das Verhältnis von Hegelscher Schlußlehre und dialektischer Methode nicht gründlicher untersucht; Hegel selbst äußert sich hierzu nur in Andeutungen. Eine Erörterung und rekonstruktive Bestimmung dieses Verhältnisses ist jedoch zur Klärung der Frage, worauf Hegels variantenreich durchgeführte logische Methode beruht, von grundsätzlicher Bedeutung. Spekulative Syllogistik und Dialektik könnten z.B. konkurrierende, einander ausschließende Methodenansätze sein; sie könnten sich jedoch auch als zwei unterschiedliche, aber kompatible Ansätze erweisen oder schließlich als Grundbestimmungen einer und derselben Methode. 1
Summarisch wird Hegels Schlußlehre z.B. dargestellt in H. Marcuse: Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1932, 147 ff; B. Lakebrink: Die Europäische Idee der Freiheit. T. 1: Hegels Logik und die Tradition der Selbstbestimmung. Leiden 1968, 422 ff. H. Lenk (Kritik der logischen Konstanten. Berlin 1968) konzentriert sich auf die Erörterung der Urteilslehre im 18. und 19. Jahrhundert; vgl. zur Schlußlehre 323 f, 375 f. Kritische Untersuchungen zu Hegels Schlußlehre liefert A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. 2 Bde. Leipzig 31870. Bd. 2, 360-380. Systematische und historische Kurzkommentierungen der Schlußlehre finden sich bei J. und E. McTaggart: A Commentary on Hegel’s Logic. New York 1964 (zuerst 1910), 221-240; G.R.G. Mure: A Study of Hegel’s Logic. Oxford 1967 (zuerst 1950), 206-227; E. Fleischmann: La science universelle ou la logique de Hegel. Paris 1968, 266-279; A. Léonard: Commentaire littéral de la logique de Hegel. Paris – Louvain 1974, 390-433. Ausführlicher kommentieren und interpretieren Hegels Schlußlehre auf ihre Metaphysik und Dialektik hin J. van der Meulen: Hegel. Die gebrochene Mitte. Hamburg 1958, bes. 9-97, W. Krohn: Die formale Logik in Hegels Wissenschaft der Logik. Untersuchungen zur Schlußlehre. München 1972, und G. Jarczyk: Système et liberté dans la logique de Hegel. Paris 1980, 89-148. Zur Programmatik der Hegelschen Schlußlehre und zu signifikanten einzelnen Schlüssen vgl. auch E.R. von Diersburg: „Hegels Methode gemessen an der Methode des Aristoteles“. In: Archiv für Philosophie 10 (1960), 323; vgl. dazu ebenso vom Verf.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 31995; die folgenden Darstellungen in Abschnitt I und II basieren vielfach auf diesem Buch und bilden z.T. Weiterführungen; vgl. zur Entwicklung der Schlußlehre in der Jenaer Zeit 88 ff, 112 f, 172-176, zur Entwicklung der Dialektik in Jena 93-108, 179-189, zum spekulativen Satz und Schluß 198-204, zur Schlußlehre in der Wissenschaft der Logik und der Enzyklopädie 266-288.
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SYLLOGISTIK UND DIALEKTIK IN HEGELS SPEKULATIVER LOGIK
Im folgenden soll dieses von Hegel zwar angeschnittene, aber nicht ausgeführte Problem des Verhältnisses von spekulativer Syllogistik und Dialektik eigens dargelegt und von Hegels Ansatz aus eine Lösung umrissen werden. Der Terminus: „Syllogistik“ wird hierbei synonym mit „Schlußlehre“ gebraucht und in bezug auf Hegel nicht auf die nur formallogische Bedeutung eingeschränkt. Erstens soll nun der systematische Standort der Schlußlehre in Hegels Jenaer Logik-Entwürfen bis hin zur Lehre vom „spekulativen Satz“ in der Phänomenologie bestimmt werden. Zweitens ist Hegels spekulative Syllogistik in der Wissenschaft der Logik und in der Enzyklopädie in ihrer ontologischen und subjektivitätstheoretischen Bedeutung und in Abhebung von der überlieferten formallogischen Syllogistik zu charakterisieren. Als Beispiele für seine Auffassung seien der Schluß des Daseins und der disjunktive Schluß erörtert. Dabei ergibt sich zugleich die Frage, ob in Hegels Schlußlehre eine zuvor ausgearbeitete Dialektik fortgesetzt wird oder ob die Dialektik durch sie eine weitere Entwicklung erfährt. Im dritten Abschnitt soll dann untersucht werden, welche Bedeutung Hegels Schlußlehre für seine Konzeption einer spekulativen Dialektik hat. Aus seiner Darstellung der absoluten Methode in der Wissenschaft der Logik, die nicht nur deskriptiv, sondern auch argumentierend verfährt, ist der Hinweis zu entnehmen, daß die dialektische Methode als solche in wesentlichen Abschnitten spekulativ-syllogistisch zu explizieren ist. Dies ermöglicht eine Rekonstruktion zentraler Konstituentien der dialektischen Methode aus den spekulativ-syllogistisch zu erfassenden Verhältnissen von Begriffsbestimmungen.
1. Schlußlehre in den Jenaer Logik-Entwürfen Schon in der ersten uns faßbaren Konzeption einer selbständigen Logik Hegels zu Beginn der Jenaer Zeit (1801/02) erhält der Schluß einen Vorrang vor den anderen logischen Formen und Bestimmungen. In seinem Logik-Programm aus dieser Zeit ist eine zweifache Erörterung des Schlusses vorgesehen. Einmal bildet der Syllogismus für Hegel den Abschluß im „Stufengang“ der subjektiven Formen des endlichen Denkens; Begriff und Urteil gehen voraus. Hier wird nur der formale Schluß betrachtet, mit dem nach Hegel der Verstand die Vernunft nachzuahmen sucht; die Verbindung von Ober- und Unterbegriff, die über einen dritten, mittleren Begriff formal-syllogistisch zustande gebracht wird, ist für Hegel als relative Identität nur ein unvollkommenes Nachbild der absoluten Identität. Zum anderen wird im letzten Teil dieser Logik die „spekulative Bedeutung der Schlüsse“ dargelegt. Hierbei denkt Hegel daran, daß die absolute Identität, die im Urteil als ursprünglicher Teilung sich entzweit, im spekulativen Schluß wiederhergestellt wird. Dazu aber ist ein Mittelbegriff erforderlich, der nicht nur als dritter Terminus neben und außer den beiden anderen fungiert, sondern der als spekulative Mitte die beiden anderen, die einander entgegengesetzt sind und nach Hegels damaligem Sprachgebrauch inso-
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SCHLUSSLEHRE IN JENAER LOGIK-ENTWÜRFEN
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fern eine „Antinomie“ bilden, in sich vereinigt und auf diese Weise selbst die absolute, den Gegensatz in sich enthaltende Identität repräsentiert.2 Dadurch ist zugleich das endliche Denken und Erkennen überwunden; die Beseitigung der Hindernisse, die dem spekulativen Denken durch die sich für autonom haltende Reflexion im Wege stehen, und somit die Ermöglichung spekulativer Erkenntnis ist in Hegels frühem Jenaer Ansatz die wesentliche Aufgabe einer Logik, die systematisch in die Metaphysik einleiten soll.3 – Eine derartige spekulative Bedeutung des Schlusses dürfte Hegel auch bei einer seiner Habilitationsthesen vor Augen haben: „Syllogismus est principium idealismi“.4 „Idealismus“ kann in Hegels früher Jenaer Auffassung einmal die Theorie der Idee bedeuten und erstreckt sich dann über Logik und Metaphysik. Er kann aber auch identisch nur mit der Logik sein, die systematisch die Kategorien und Formen der endlichen Reflexion expliziert und aufzeigt, wie deren selbständige Gültigkeit schließlich aufgehoben wird. Die zweite, engere Bedeutung dürfte in der Habilitationsthese über den Schluß gemeint sein. Am Ende dieser Logik als Idealismus zeigt sich die grundlegende Argumentationsstruktur der Erkenntnis des Wahren, der Schluß in seiner spekulativen Bedeutung, zu dem 2
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Vgl. Glauben und Wissen in: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 328, 330; vgl. ferner die Mitteilung des Logik-Programms von 1801/02 durch K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 190 ff. Das wiedergefundene Original hierzu wird ediert in: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hrsg. von M. Baum und K.R. Meist. Hamburg 1998, 271 ff. (Für die Einsicht in den Umbruch danke ich den Herausgebern.) Zur doppelten Bedeutung dieser Logik als systematische Einleitung in die Metaphysik und als wesentlicher Bestandteil der Metaphysik vgl. M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik beim Jenaer Hegel. In: Hegel in Jena (= Hegel-Studien. Beiheft 20). Bonn 1980, 119138), und vom Verf.: „Idealistische Substanzmetaphysik“, in: a.a.O. bes. 32 ff. In diesem Logik-Entwurf (vgl. Rosenkranz, a.a.O. 190-192, und die vorherige Anm.) sind Logik als Einleitung und Metaphysik als erster Systemteil eindeutig geschieden. Ebenso sind noch in dem ausgeführten Entwurf von 1804/05 Logik und Metaphysik systematisch klar voneinander getrennt. In einem anderen Vorlesungsmanuskript von 1801/02 spricht Hegel in einem grammatisch nicht korrekten, komprimierten Randzusatz davon, daß die Logik als Wissenschaft der Idee Metaphysik sei (Ms. S. 1 Rückseite, Gesammelte Werke. Bd. 5, 263). Dies bedeutet m.E. nicht, daß die Logik in Inhalt und Erkenntnis der Metaphysik gleich sei, sondern nur, daß der Inhalt der Logik, die bloßen Formbestimmungen der Idee, und einige Erfordernisse der Erkenntnis, die der Reflexion, in Logik und Metaphysik gleich sind. Die Metaphysik zeigt nach Hegel kritisch auf, daß die logischen Formen der Reflexion nicht schon die absoluten Formen der Idee selbst ausmachen. Zur metaphysischen Erkenntnis der Idee ist zugleich nach Hegels damaliger Theorie intellektuelle Anschauung erforderlich. Systemimmanent ist die Logik untergeordneter, aber notwendiger Bestandteil der Metaphysik und der anderen Systemteile. – Zur ersten ausführlichen Rekonstruktion dieser Logik vgl. H. Kimmerle: „Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ’System der Philosophie’ in den Jahren 1800-1804. In: Hegel-Studien. Beiheft 8. Bonn 1970, 48-66. Es folgte eine Diskussion hierüber zwischen ihm, Horstmann und Trede, die fortgeführt wird vom Verf.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O. 76-108. S. bei Rosenkranz: Hegels Leben, a.a.O. 157. Die folgende Erläuterung stammt mit Sicherheit von Rosenkranz und nicht von Hegel. Der Sinn dieser These ist aus Hegels gleichzeitigen Schriften und Manuskripten aber zu erschließen. Zu den Bedeutungen von „Idealismus“ vgl. Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O. 400, und Bd. 5, a.a.O. 263, auch Gesammelte Werke. Bd. 7. Hrsg. von R.P. Horstmann und J.H. Trede. Hamburg 1971, 127.
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offenbar die Kategorien und Formen des endlichen Denkens als lediglich transitorische Momente hinführen. Die zentrale Bedeutung, die dem Schluß für die Methode der Entfaltung der Metaphysik und des Systems damit im Prinzip zufällt, hat Hegel zunächst nicht realisiert. Die erste ausgeführte Logik Hegels, die überliefert ist, stammt aus den Jahren 1804/05. Noch immer wird sie systematisch der Metaphysik vorausgeschickt, obwohl sie bereits extensiv metaphysische Inhalte wie z.B. die Unendlichkeit als Seinsbestimmung entwickelt. Zugleich ist sie – sogar eindeutiger als die Logik der endlichen Reflexion von 1801/02 – in diesem Systementwurf „Instrument“ oder Organon der Philosophie. Die Lehre vom Schluß bildet in dieser Logik nach der Darlegung von Begriff und Urteil die letzte Stufe in der Entwicklung der Verhältnisse des Denkens. Die Systematik der Deduktion der einzelnen logischen Schlüsse folgt dem Prinzip, die formale Mitte, die nur in einem dritten, von den Extremen getrennten Terminus besteht, zu erfüllen durch die spekulative Mitte; als diese soll der Mittelbegriff die beiden anderen Begriffe, den Ober- und Unterbegriff, in sich enthalten und somit die abstrakte Trennung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem in der konkreten Allgemeinheit aufheben. Für einen solchen Schluß ist nach Hegel die Formulierung in drei verschiedenen Urteilen nicht wesentlich. Die Schlußlehre in dieser Logik erreicht aber nach Hegels eigener Darstellung das Ziel der genetischen Deduktion der spekulativen Mitte, d.h. die konkrete Allgemeinheit nicht; es wird seiner Auffassung nach erst in der folgenden Explikation verschiedener Methoden der Erkenntnis wie Definition, Einteilung, Konstruktion, Beweis und Deduktion und damit letztlich erst im sich selbst erkennenden Erkennen erreicht, das in dieser Selbstbezüglichkeit Subjektivität ist. Hegel kommt hier freilich nur in Anspielungen darauf zurück, daß ein solcher spekulativer Mittelbegriff das Ziel der zuvor dargelegten Schlußlehre war. Eine entscheidende Funktion in der Durchführung des Systems erhält der spekulative Schluß als Argumentationsstruktur im Systementwurf von 1805/06. Die verschiedenen realphilosophischen Syllogismen, die Hegel hier darlegt, erlauben Rückschlüsse auf seine Auffassung vom spekulativlogischen Schluß. Schon in diesem Entwurf konzipiert Hegel den Wechsel der Termini in der Funktion des Mittelbegriffs; Allgemeines, Besonderes und Einzelnes können jeweils in der Stellung des Mittelbegriffs auftreten. Dies Programm führt Hegel später im einzelnen als Teil des Weges zur konkreten Allgemeinheit durch. Vor allem aber charakterisiert er die subjektivitätstheoretische Bedeutung des nicht nur formalen, sondern spekulativen Schlusses. In der Geistesphilosophie ist für Hegel die Intelligenz, der Wille oder auch die Liebe jeweils von der Struktur eines Schlusses, d.h. einer absoluten Identität von einander entgegengesetzten Termini als Begriffsbestimmungen. Das Verbindende, der Mittelbegriff, der nach Hegel die Gleichheit ebenso wie die Entgegensetzung der Extreme enthält, in dem diese also Andere füreinander
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und doch einander gleich sind, ist das Ich.5 Denn für das Ich ist definitiv, sich selbst vorzustellen, d.h. sich zum Anderen, zum Gegenstand zu machen und darin doch nur sich selbst in Inhaltsgleichheit zu erfassen. Dies Ich, das realphilosophisch z.B. Intelligenz oder Wille ist, wird logisch und grundlegend als Begriff, der sich selbst denkt, oder als reine Subjektivität aufgefaßt. Darin ist kein Psychologismus enthalten; die reine Subjektivität ist kein existierendes, erlebendes Selbstbewußtsein, sondern Prinzip der logischen Formen und ontologischen Inhalte, das selbst reine Tätigkeit ist und strukturell als denkende Selbstbezüglichkeit gedacht wird. – Hegel skizziert in diesem Systementwurf zum ersten Mal die Konzeption einer spekulativen Logik, die in sich zugleich Metaphysik ist; die Metaphysik bildet keinen eigenen Systemteil mehr, sondern ist in die spekulative Logik eingegangen. Diese Logik führt zu dem Ziel, die Subjektivität in ihrer höchsten Bestimmung als „Wissen des Geistes von sich“ darzulegen.6 Zentral dafür dürfte die spekulativ-syllogistische Erfassung der Subjektivität, d.h. die Entfaltung des Begriffs in seine Bestimmungen und die Rückkehr zu seiner selbstbezüglichen Einheit sein, die den Unterschied und Gegensatz in sich enthält. Über das Verhältnis dieser spekulativen Syllogistik zur Dialektik äußert sich Hegel in der damaligen Zeit nicht. Auch die Dialektik wird von Hegel in Jena in verschiedenen Konzeptionen erst entwickelt. Nachdem sie für ihn zunächst negativ blieb, so daß aus dem Widerspruch gesetzter Bestimmungen nicht selbst ein positives Resultat hervorging, fügt er in der Logik von 1804/05 durch die Verwendung der bestimmten Negation das positive Resultat hinzu, das sich nach seiner dort entwickelten Auffassung aus jenem Widerspruch selbst ergibt. Andeutungen über das Verhältnis der spekulativen Dialektik mit positivem Resultat zum Urteil und indirekt auch zum Schluß kann man nun aus Hegels Theorie des spekulativen Satzes in der Vorrede der Phänomenologie entnehmen. Der spekulative Satz ist bekanntlich zunächst ein philosophischer Wesenssatz, in dem das Prädikat den Wesensbegriff (das Aristotelische ôß ƒí åqíáé) des Subjekts (der ersten ïšóßá) enthält. Die Inhalte von Subjekt und Prädikat stehen danach in logisch-definitorischer und ontologischer Einheit; diese Identität soll aber nach Hegel keine Tautologie sein, sondern zugleich den Unterschied in sich bewahren. Das logisch und ontologisch verstandene Subjekt, dessen Wesen im Prädikat ausgesagt ist, wird hierbei von Hegel inhaltlich gefaßt als das „wissende Ich selbst“;7 das sich denkende Subjekt selbst 5
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7
Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 8. Hrsg. von R.P. Horstmann unter Mitarbeit von J.H. Trede. Hamburg 1976, 103, 197, 200, 202 f, 208 ff. u.ö. Zur Schlußlehre in Hegels späterer Jenaer Zeit vgl. H. Schmitz: Hegel als Denker der Individualität. Meisenheim a.G. 1957, 133 ff. Gesammelte Werke. Bd. 8, a.a.O. 286. Vgl. auch ebd.: „In der Philosophie ist es Ich als solches, welches Wissen des absoluten Geistes ist ...“. Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 61952, 50. (= Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 43). Eine ausführliche und gründliche Interpretation des spekulativen Satzes mit Berücksichtigung vielfältiger Lite-
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oder der reine Begriff ist nicht nur substantieller Träger seiner Akzidenzien; vielmehr bringt das denkende Subjekt seine Prädikate, nämlich die Bestimmungen seines Wesens, in denen es sich erfaßt und dadurch zu sich zurückkehrt, denkend hervor. Dies ist die Selbstbewegung des Begriffs; in ihr sieht Hegel dessen eigene Dialektik. So läßt sich das viel diskutierte Problem, worin die Selbstbewegung des Begriffs besteht, im Prinzip dadurch lösen, daß der Begriff als sich bestimmende und sich denkende, reine Subjektivität aufgefaßt wird. Dessen Dialektik wird in der Vorrede der Phänomenologie nur angedeutet. Der Begriff muß danach als reine Tätigkeit, um für sich werden zu können, sich ein Anderes, für Hegel: sein Gegenteil werden; da er somit er selbst und sein Gegenteil ist, stellt er einen Widerspruch in sich dar. Das Andere, das Gegenteil aber ist zugleich seine Wesensbestimmung, das Wassein seiner als des Subjekts; er erkennt sich darin selbst und gewinnt ein positives Resultat des Widerspruchs durch die Rückkehr zu sich. Diese dialektische Bewegung darf jedoch nicht nur innerlich bleiben und durch intellektuelles Anschauen innerlich vollzogen werden; sie muß vielmehr ausgedrückt werden und logische Gestalt gewinnen. Der spekulative Inhalt, die dialektische Bewegung des Begriffs, zerstört nun die Form des Satzes oder Urteils, das z.B. immer nur positiv oder negativ sein kann. Einen spekulativen Satz in der Form eines Satzes kann es daher nicht geben; deshalb behält Hegel später die Lehre vom „spekulativen Satz“ nicht bei. Außer der Identität des denkenden Subjekts und seiner Wesensbestimmung muß auch der Unterschied und Gegensatz sowie die Vereinigung, die den Gegensatz in sich enthält, ausdrücklich formuliert werden. Dazu sind, worauf Hegel hinweist, mehrere Verbindungen in Aussagen über dies denkende Subjekt oder den reinen Begriff erforderlich. Der logisch notwendige Zusammenhang solcher verschiedenen Aussagen und ihrer verschiedenen Begriffsbestimmungen aber wird – was auch Hegels Auffassung ist, die er anderweitig dargelegt hat – durch den Schluß (bzw. einen Polysyllogismus) hervorgebracht. Denn der spekulative Schluß verbindet die Extreme durch einen Mittelbegriff, der selbst Identität und Gegensatz in sich vereinigt. Diese Vereinigung ist nach Hegel zwar das Wesentliche des Schlusses und nicht dessen Formulierung in drei Sätzen oder Urteilen; aber er muß doch artikuliert und explizit gemacht werden, sollen die Begriffsverhältnisse nicht dem inneren Anschauen vorbehalten bleiben. Dazu sind Urteile, nicht als selbständige Geltungseinheiten, wohl aber als unselbständige Bestandteile eines syllogistischen Zusammenhangs erforderlich, wobei die Anzahl der Urteile in diesem Schluß wiederum ohne Bedeutung ist. So darf man wohl interpretieren, daß für Hegel der logische Ausdruck der sonst nur innerlich vorgestellten dialektischen Bewegung des Begriffs, der darin ratur hierzu gibt R. Heede: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Diss. Münster 1972, 205-254. Vgl. auch ders.: „Die Dialektik des spekulativen Satzes“. In: HegelJahrbuch 1974. Köln 1975, 280-293. Vgl. neuerdings G. Wohlfahrt: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin – New York 1981, bes. 184221.
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sich selbst denkt, der spekulative Schluß ist. Schon im Systementwurf von 1805/06 hatte Hegel das Selbst, das Ich oder den sich denkenden Begriff spekulativ-syllogistisch dargestellt. – Die Artikulation der dialektischen Begriffsbewegung, die im spekulativen Schluß zustande kommt, unterscheidet Hegel aber vom traditionellen Beweis in Schlußform; der traditionelle Beweis setzt unbewiesene Gründe und Prämissen voraus, für deren Beweis erneute unbewiesene Prämissen erforderlich sind usf. ins Unendliche. In der Wissenschaft der Logik bemüht sich Hegel, durch seine Darlegung der syllogistischen Figuren zu zeigen, daß der Prämissenbeweis nicht notwendig ins Unendliche führt. In der Phänomenologie sucht er die schlechte Unendlichkeit des traditionellen Beweises durch den Hinweis auf den in diesen Sätzen identischen Inhalt zu vermeiden, d.h. auf den Begriff als im Anderen sich selbst denkendes Subjekt,8 so daß der Inhalt der Sätze und Prämissen nicht immer wieder etwas Verschiedenes sein kann. Die Darstellung der Dialektik des Begriffs oder der reinen Subjektivität kommt nach diesen Überlegungen also spekulativ-syllogistisch zustande. Der Schluß in spekulativer Bedeutung ist damit die Form, die der Inhalt, nämlich der dialektisch sich auf sich beziehende Begriff, sich selbst in seiner Artikulation gibt. Es bleibt aber noch offen, ob die für die Dialektik spezifischen Bestimmungen, nämlich der Begriff in seiner ursprünglichen Einfachheit, seine Selbstentzweiung in entgegengesetzte Momente als immanenter Widerspruch des Begriffs und die Rückkehr des Begriffs zu sich durch bestimmte Negation dieses Widerspruchs, allein im Schluß zur Einheit zu verbinden sind, oder ob die Dialektik auch unabhängig davon und grundlegend für den Schluß Bedeutung hat.
2. Schlußlehre in Hegels reifer Logik Die Wissenschaft der Logik und die Enzyklopädie enthalten Hegels endgültige Lehre vom spekulativen Schluß. Die darin dargelegte Konzeption Hegels soll nun anhand seines Begriffs des Schlusses und zweier Beispiele analysiert werden. Die subjektive Logik ist nicht nur eine systematische Darstellung von Denkformen; sie legt vielmehr zugleich den apriorischen Inhalt dieser logischen Formen dar, den Begriff in seinen verschiedenen Bestimmungen. Bei der Explikation der Schlußlehre werden die formalen Momente des Ober-, Mittel- und Unterbegriffs selbst zum Inhalt des Schlusses als Allgemeines, Besonderes und Einzelnes. Die spekulative Logik ist somit keine formale Logik, da sie zugleich einen spezifischen Inhalt bestimmt; aber sie enthält Bestandteile der formalen Logik als Formen, die der Begriff sich selbst gibt, in sich. 8
Vgl. Phänomenologie, a.a.O. 53 (Gesammelte Werke. Bd. 9, 45).
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Die spekulative Syllogistik bildet den Abschluß der Logik des Begriffs oder der Subjektivität, insofern diese noch von der Objektivität unterschieden wird. Hegel legt dabei seinen Begriff des Begriffs zugrunde. Begriff bedeutet für ihn ebensowenig wie schon in der Phänomenologie Merkmal als analytische Identität von sonst vielfältig Verschiedenem, sondern reine, spontan tätige, zugleich in sich negative Beziehung auf sich selbst. Diese kommt nur dem reinen Selbstbewußtsein oder der reinen Subjektivität zu. Mit dem Begriff des Begriffs, wie er dem Begriff als solchem in engerem Sinne, nämlich als unmittelbarer Einheit von Begriffsbestimmungen, dem Urteil und dem Schluß zugrunde liegt, nimmt Hegel nach eigener Aussage Kants Begriff der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption auf, die auch bei Kant Prinzip der logischen Formen ist. Wie bei Kant die reine Apperzeption durch notwendige, logisch regelhafte Synthesis den Gedanken des Objekts oder der objektiven Einheit erst hervorbringt, so bringt für Hegel der Begriff sein Anderes, seinen „Gegenstand“, in dem er doch nur sich selbst denkt und erkennt, erst hervor. Hegel verändert damit aber die Kantische in der transzendentalen Deduktion der Kategorien vorgetragene Lehre von der Objektkonstitution überhaupt zu einer Theorie der Selbstobjektivation der reinen Subjektivität oder des Begriffs. Insbesondere verlangt er gegen Kant, daß die Mannigfaltigkeit dem Denken nicht einfach vorgegeben sein dürfe, sondern von diesem selbst erst hervorgebracht werden müsse.9 Der Begriff ist somit reine, denkende Selbstbeziehung, nicht mehr nur seiende oder wesentliche Beziehung auf sich, wie sie nach Hegel einzelnen Seins- oder Wesenskategorien eigen ist. Sein Denken seiner selbst darf nicht als psychische Leistung verstanden werden; es ist vielmehr innerhalb der spekulativen Logik eine reine, spontane Tätigkeit und Aktuosität, wie sie nach Hegel schon der Substanz zukommt, aber von komplexerer Vermittlungsstruktur, nämlich von einer Identität, die sich zugleich negativ auf sich als ihr Anderes, das sie doch selbst ist, bezieht. Der Begriff in dieser Bedeutung ist Resultat der Entwicklung der Wesenskategorien, die Relationskategorien darstellen. Die Substanz, z.B. eine der höherentwickelten Relationskategorien, ist die positiv bestehende, beharrende Identität in Beziehung auf ihre Akzidenzien, ihre wechselnden Bestimmungen, die sie aus absoluter Macht setzt und wiederaufhebt; diese wechselnden Bestimmungen sind selbst im wesentlichen ineinander scheinende Relationsbestimmungen. Der Begriff ist nun nicht nur solche positiv bestehende Identität, die sich in ihren Akzidenzien manifestiert, sondern zugleich negative, nämlich 9
Vgl. Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 21934. T. 2, 227, vgl. 221 ff. (= Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 22 f, 17 ff). Zu weiteren, einschneidenden Veränderungen der Kantischen Lehre vgl. H. Marcuse, a.a.O. 24-43, 132 ff, 186 ff; ebenso N. Rotenstreich: From Substance to Subject. Den Haag 1974, bes. 20 ff, 61 ff; auch G. Maluschke: „Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 13. Bonn 1974, 82-105. Ausführlicher ist meine kritische Auffassung zu Hegels Auseinandersetzung mit Kant dargelegt in: „Das Problem der Subjektivität“, a.a.O. 233-243, 109-120.
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sich negativ auf sich beziehende Identität in Beziehung auf ineinander scheinende Relationsbestimmungen, deren eigene Gültigkeit jedoch aufgehoben ist.10 Diese Einheit jener Bestimmungen setzt sich selbst als Anderes, als Gegenteil und ist darin erst eins mit sich. Dies ist für Hegel die Struktur der in sich negativen Selbstbeziehung. Sie kommt nur im Hinblick auf die unerschiedenen Beziehungskomplexe zustande, in denen sie sich selbst als deren die Unterschiedenheit wahrende Einheit, und zwar als in sich negative Selbstbeziehung manifestiert. Der Begriff ist also in ontologischer Hinsicht auch Substanz, aber zugleich als in sich negative Selbstbeziehung Subjekt. Im Gedanken dieser in sich negativen Identität und Selbstbeziehung als solcher ist implizit der Widerspruch als wesentliches Kennzeichen der Dialektik enthalten, wie er für sich in der Folge der Reflexionsbestimmungen dargelegt wurde. Im Begriff wird also eine dialektische Bestimmung gedacht, die in der Logik anscheinend unabhängig von ihm schon vorher entwickelt wurde. Dieser Begriff in seinen Bestimmungen ist der Inhalt der Schlüsse in der spekulativen Logik. Die subjektivitätstheoretische und metaphysische Konzeption dieses Inhalts, wie Hegel sie bei der prinzipiellen Erörterung des Begriffs in der Einleitung in die subjektive Logik, nicht mehr bei der Explikation der Schlüsse in der Wissenschaft der Logik, eigens hervorhebt, bildet die allgemeine Grundlage von Hegels systematischer Darstellung der Details der Syllogistik. Der Begriff entfaltet sich in seinen Bestimmungen des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen; jede dieser Bestimmungen ist nach Hegel der ganze Begriff. Sie gehen aus dem Begriff als solchem noch unmittelbar hervor, und er ist ebenso ihre unmittelbare Einheit. Auch das Selbstverhältnis des Begriffs ist hierbei noch unmittelbar. Darin ist aber noch kein Sich-Gegenstandsein möglich. Dies kommt erst mit dem Urteil des Begriffs zustande, das Hegel auch in seiner späteren Zeit noch als ursprüngliche Teilung versteht. Der „reine Begriff“ ist „die absolute Beziehung auf sich selbst ..., welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstande macht“.11 Gegenstand bedeutet innerhalb der Logik nicht das Gegenüber eines Bewußtseins, sondern das selbständige Anderssein des Begriffs für den Begriff. Da der Begriff das reine, denkende Subjekt im angegebenen spekulativ-logischen Sinne ist, muß er sich von sich unterscheiden, um im Anderssein als gedachtem sich selbst denken zu können. Der Inhalt der Urteile in der spekulativen Logik besteht also in getrennten Begriffsbestimmungen, die jeweils den ganzen Begriff repräsentieren und die nur 10
11
Vgl. Wissenschaft der Logik, a.a.O. 204 f, 240, 242 u.ö. (Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 409; Bd. 12, a.a.O. 33, 34 f), zur Substanz vgl. a.a.O. 185 ff (Gesammelte Werke. Bd. 11, 394 ff). Wissenschaft der Logik, a.a.O. 432, vgl. 437 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 194, vgl. 198). Für den unmittelbaren Übergang von der Begriffsbestimmung des Einzelnen zum Urteil verwendet Hegel das Argument des immanenten Sich-in-sich-Unterscheidens (vgl. T. 2, 263 f; Gesammelte Werke. Bd. 12, 52), dessen Resultat erst die Gegenüberstellung der Begriffsbestimmungen ist.
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durch die in sich einfache, für sich bedeutungsleere Copula aufeinander bezogen sind. Die Copula ist für Hegel Zeichen der Inhaltsgleichheit, die jedoch im Urteil noch nicht erreicht wird. Erfüllt wird die Copula erst durch das Hervortreten des Mittelbegriffs im Schluß; der Mittelbegriff ist die logische Verbindung der getrennten und selbständigen Begriffsbestimmungen. In ihm als spekulativer Mitte sind nach Hegel die einander entgegengesetzten Extreme eins; er erweist sich als die im Anderssein erkannte Subjektivität, die dasselbe wie die erkennende ist. Diese Bedeutung der spekulativen Mitte hat der Mittelbegriff nach Hegel freilich nicht von vornherein; sie muß im Laufe der Schlußlehre erst erreicht werden. Eine solche Mitte muß ein Begriff sein, der die entgegengesetzten Begriffsbestimmungen in sich enthält; er muß somit für Hegel konkrete Allgemeinheit sein. Die systematische Darlegung der Schlüsse folgt dem Prinzip, den Mittelbegriff von der abstrakten Allgemeinheit, die ihm als getrenntem Terminus noch zukommt, zur konkreten, die anderen Begriffsbestimmungen einschließenden Allgemeinheit zu entwickeln. Die Schlußlehre stellt Hegels differenziertesten Versuch dar, die logische Begreifbarkeit der konkreten Allgemeinheit zu erweisen. Der Schluß und die konkrete Allgemeinheit, zu der dieser nach Hegels Auffassung gelangt, haben zugleich ontologische Bedeutung; die absolute Substanz ist hierin aufgehoben und erhalten. Hegel erklärt: „Alle Dinge sind der Schluß“;12 d.h. ihre Existenz beruht wesentlich auf dem in seinen Verhältnissen syllogistisch entfalteten Begriff und damit zuletzt auf der konkreten Allgemeinheit. Alles, was existiert, ist daher nicht nur Substanz oder das ihr Zugehörige, sondern syllogistisch entwickelter Begriff. Die Schlußlehre ist vollendet im Selbsterkennen des Begriffs, der sich in seiner eigenen Wirklichkeit oder genauer: in derjenigen Weise von Unmittelbarkeit oder Sein, die ihm angemessen ist, d.h. in seiner „Objektivität“ erkennt; diese Argumentation gilt Hegel als der eigentliche ontologische Gottesbeweis, den er glaubt, auf diese Weise erneuern zu können.13 Hegels spekulative Ansprüche an die Schlußlehre müssen in der Durchführung bewährt werden; sie sei anhand zweier Beispiele skizziert. Besonders in der ersten Klasse der Schlüsse, dem Schluß des Daseins, sucht Hegel die traditionelle formale Syllogistik umzugestalten. Er orientiert sich dabei – mit Abänderungen – an den aristotelischen Schlußfiguren; in seiner eigenen vierten Figur ist die von ihm kritisierte traditionelle vierte Schlußfigur, die Aristoteles noch unbekannt war, nicht mehr wiederzuerkennen. Dennoch zeigt diese mo12
13
Wissenschaft der Logik, a.a.O. 314 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 95). Vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 71969, § 181 und Anm. Die Weisen der Unmittelbarkeit oder des Seins richten sich nach dem, was etwas ist. Dinge z.B. existieren; die Substanz ist wirklich; der Begriff ist objektiv. – Zu Problemen von Hegels Ontotheologie vgl. vor allem D. Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 21967, 189-219.
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difizierende Aufnahme aristotelischer Syllogistik, daß Hegels logische Schlüsse als Verhältnisse von Begriffsbestimmungen in aristotelischen Schlüssen formuliert werden können.14 Im Schluß des Daseins, dem qualitativen Schluß, haben die Begriffsbestimmungen als Inhalt des Schlusses nun lediglich die Bedeutung von in sich einfachen oder qualitativen und insofern abstrakten Bestimmungen. So ist die Verbindung des Einzelnen über das Besondere mit dem Allgemeinen eine Verbindung getrennter, abstrakter Termini. Hegel legt in zweifacher Argumentation die Vorläufigkeit dieses qualitativen Schlusses hinsichtlich der Erkenntnis und Wahrheit dar; der Schluß wird dabei nicht auf seine logische Form, sondern auf seine Erkenntnisbedeutung hin betrachtet. Einmal ist es zufällig, welches Besondere vom Einzelnen als Eigenschaft ausgesagt wird, da es viele Eigenschaften hat, unter denen beliebig auszuwählen ist; ebenso ist es zufällig, welche Allgemeinheit vom Besonderen ausgesagt wird, da es viele Allgemeinheiten als Eigenschaften hat, von denen man wiederum nach Belieben eine bestimmte herausgreifen kann. Daher ist die Konklusion zwar formallogisch notwendig, sachlich aber ganz zufällig; sie kann inhaltlich sogar falsch sein. Das Besondere und das Allgemeine sind nämlich noch keine Wesensbestimmungen des Einzelnen, die es in seinem eigenen Wassein und in seiner durch dieses bestimmten Existenz, d.h. in seinem Begriff zu erkennen geben. – Die Besonderheiten als abstrakte, willkürlich zu wählende Termini sind nun verschieden voneinander; dasselbe gilt von den Allgemeinheiten als abstrakten, getrennten Inhalten der möglichen Prädikate. Die jeweiligen Bestimmungen können aber in der gleichgültigen Verschiedenheit nicht verbleiben; nach Hegels Logik der Reflexionsbestimmungen geht die Verschiedenheit notwendig in den Gegensatz und den Widerspruch über. Diese Entwicklung ist ihre Dialektik; ihr unterliegen nach Hegel auch die abstrakten Begriffsbestimmungen im qualitativen Schluß; sie wird hierfür also vorausgesetzt. Allerdings bleibt dieser Gedanke Hegels in der Entwicklung der Daseinsschlüsse ein blindes Motiv. Die andere Vorläufigkeit des Daseinsschlusses besteht nach Hegel darin, daß wegen der bloß qualitativen Bedeutung der Begriffsbestimmungen zunächst nur die Konklusion vermittelt ist. Erhält dieser Schluß eine aristotelische Form, etwa: B – A, E – B, also E – A,15 so sind die Prämissen nur Aussagen mit getrennten Begriffsbestimmungen und der unmittelbaren Beziehung durch die Copula. Diese Unmittelbarkeit entspricht aber nicht den Anforde14 15
Vgl. hierzu W. Krohn (s. Anm. 1). Wie Leibniz und Ploucquet verwendet Hegel die Anfangsbuchstaben der Termini als Abkürzungen. Abkürzungen verwandte schon Aristoteles, ebenso die Kurzformel des Schlusses durch die Angabe der drei Termini. Aristoteles suchte freilich Individualbegriffe in der Syllogistik zu vermeiden. – In ausführlicher Formulierung lautet dieser Schluß: Das Besondere ist Allgemeines; das Einzelne ist Besonderes; also ist das Einzelne Allgemeines. Hegel abstrahiert von den Quantitäten der Urteile; er denkt jedoch implizit bei allen drei Urteilen an allgemeine, so daß dieser Schluß dem Modus barbara folgt.
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rungen des Schlusses. Die Prämissen müssen daher bewiesen, d.h. selbst als Konklusionen aufgezeigt werden. Dieser Beweis darf nicht zur Voraussetzung immer neuer, unbewiesener Prämissen führen, wie Hegel schon in der Phänomenologie forderte; diese schlechte Unendlichkeit sucht er durch die Konstruktion eines Kreises von Prämissen und Konklusionen zu vermeiden, so daß schließlich alle vorkommenden Prämissen bewiesen sind. Dazu ist der Durchgang durch drei syllogistische Figuren erforderlich, die – mit Änderung der Reihenfolge – den aristotelischen entsprechen. Diesen Durchgang betrachtet Hegel als notwendige Fortentwicklung oder als „dialektische Bewegung“ des qualitativen Schlusses.16 Zur näheren Bestimmung dessen, was „dialektische Bewegung“ hier bedeutet, seien die wesentlichen Schritte dieses Durchgangs in Hegels Sinne gekennzeichnet. Dieser erweist sich freilich nur dann als der intendierte Kreis, wenn man, was die formale Logik nicht erlaubt, von den unterschiedlichen Quantitäten und teilweise auch den unterschiedlichen Qualitäten der verwendeten Urteile absieht. In der ersten Vermittlung des Daseinsschlusses ist der Mittelbegriff das getrennte Besondere, unter das das Einzelne subsumiert wird und das selbst unter das Allgemeine subsumiert ist: E – B – A. Diese erste Figur Hegels entspricht der formallogischen ersten Figur: B – A, E – B, also E – A. Doch müssen hierin die Prämissen bewiesen, d.h. syllogistisch vermittelt werden. Dies führt zur Entwicklung weiterer Figuren. Die Prämisse B – A muß durch E vermittelt werden. So entsteht Hegels zweite Figur B – E – A in der Notation der Wissenschaft der Logik. Sie entspricht der formallogischen dritten Figur: E – A, E – B,17 also B – A. Denn das Einzelne kann logisch immer nur als Subjekt auftreten; in der dritten formal-syllogistischen Figur steht der Mittelbegriff in beiden Fällen an der Stelle des Subjekts. So ist die formallogische dritte Figur für Hegel die zweite. In ihr ist die Prämisse E – A schon von der ersten Figur her bewiesen. Unbewiesen ist von der ersten und der zweiten Figur noch die Prämisse: E – B. Sie muß durch A vermittelt werden. Damit ergibt sich die Figur: E – A – B nach der Notation der Wissenschaft der Logik. Da das Allgemeine logisch immer Prädikat ist, unter das das Einzelne und das Besondere zu subsumieren sind, lautet die traditionelle Umformulierung: B – A,18 E – A, 16 17
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Wissenschaft der Logik,. a.a.O. 327, 330, 310 f (Gesammelte Werke. Bd. 12, 106, 108, 92). Hegel formuliert diese Prämisse zwei Mal als „B – E“, ein anderes Mal auch als „B – E oder E – B“ (a.a.O. 320, 322; Gesammelte Werke. Bd. 12, 100 f). Im folgenden gibt er die ausführliche Formulierung: „E ist B“, was man als partikuläres Urteil aufzufassen habe. Die Umkehrung zu B – E betrifft vielleicht schon die Rückführung dieser Figur auf die erste Figur; vielleicht folgt Hegel damit aber auch nur der Reihenfolge der Termini in der Notation der Figur mit B – E – A. Die sachlich korrekte Konjektur in Gesammelte Werke. Bd. 12, 101,32, rückt diese Probleme in den Hintergrund und macht den Text nicht konsistent, da die anderen Stellen mit B – E als Prämisse belassen werden. Hegel gibt diese Prämisse einmal mit „A – B” an (Wissenschaft der Logik, a.a.O. 324; Gesammelte Werke. Bd. 12, 103, konjiziert „B – A”; vgl. auch vorige Anm.). Auch diese Formulierung dürfte schon die Rückführung auf die erste Figur betreffen oder von der Notation der Figur mit E – A – B angeregt sein; Hegel denkt an ein negatives Urteil. – Daß sich der Kreis
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also E – B. Dies entspricht der formallogischen zweiten Figur, in der der Mittelbegriff in beiden Prämissen Prädikat ist. Somit ist auch E – B vermittelt und bewiesen, und zwar aus Prämissen, die selbst vermittelte Schlußsätze der ersten und zweiten Figur darstellen. Erst mit der Hegelschen dritten Figur im Zusammenhang mit den beiden anderen ist die Bedeutung des Schlusses erreicht, nämlich die vermittelte Beziehung von Begriffsbestimmungen. Die erste und die zweite Figur enthalten, für sich genommen, noch unmittelbare Urteile. In der dritten Figur aber sind beide Prämissen vermittelt; so sind durch die zweite und dritte Figur die noch unmittelbaren Prämissen der ersten Figur bewiesen. Alle drei Schlüsse zusammen ergeben erst die vollständige syllogistische Vermittlung. Dies jedenfalls ist Hegels Beweisziel bei der Darlegung der drei Figuren. Die Notwendigkeit des Fortgangs von der ersten Figur zu den weiteren Figuren liegt dabei zwar – in traditioneller Formulierung – im Prämissenbeweis. Das eigentliche Movens dieser „dialektischen Bewegung“ ist für Hegel aber der sich entfaltende und sich in seinen Bestimmungen mit sich vermittelnde Begriff. Ihm sind unmittelbare Prämissen inadäquat. Das „Dialektische“ an diesem Fortgang ist zunächst das notwendige Übergehen einer Figur in die andere. Hegel deutet die Parallelität dieser dialektischen Bewegung abstrakter, qualitativer Bestimmungen mit dem „Übergehen“ als spezifischer Dialektik der Seinskategorien an.19 Freilich zeigt er hier nicht klar die Ausbildung eines Gegensatzes und Widerspruchs auf, die sonst zur Dialektik erforderlich sind. Ferner wird das Übergehen von Begriffsbestimmungen nicht mehr ausdrücklich vom Übergehen in der Sphäre der Seinskategorien unterschieden. Die Grundlage der „Bewegung“ des Daseinsschlusses ist der Begriff selbst. Jede der abstrakten Bestimmungen des Daseinsschlusses hat in den Figuren jede Stelle im Schluß einmal durchlaufen, wie es Hegel schon im Entwurf von
19
von Prämissen und Konklusionen nicht schließt, läßt sich durch genauere Ausführung der Schlußmodi zeigen. Hegels Darstellung entspricht am ehesten folgendem Schema, in dem in Klammern die traditionellen Buchstaben zur Bezeichnung der Quantität und Qualität der Urteile verwendet werden: B – A (a) 1. E – B – A E – B (a) barbara E – A (a) E – A (a) darapti 2. B – E – A E – B (a oder i) oder datisi (A – E – B) B – A (i) B – A (e) 3. E – A – B E – A (a) cesare (B – A – E) E – B (e) Auch in den anderen Schlußmodi der traditionellen zweiten oder der Hegelschen dritten Figur (camestres, festino, baroco) schließt sich der Kreis von Prämissen und Konklusionen nicht. Die logische Formulierung der Schlüsse gibt ganz ähnlich G. Jarczyk an: Système et liberté (s. Anm. 1), 139 f, auch 108 ff. Vgl. Wissenschaft der Logik, a.a.O. 323 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 102). Zum „Übergehen“ als Charakteristikum der Dialektik von Seinsbestimmungen vgl. z.B. Enzyklopädie, a.a.O. § 84.
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1805/06 vorschwebte.20 Dies weist auf die wahre Mitte hin, die nicht ein getrennter mittlerer Begriff zwischen zwei Extremen, sondern die bestimmte Totalität der Termini sein soll, also ein Allgemeines, das Besonderes und Einzelnes in sich selbst hat. Diese Idee des Mittelbegriffs wird jedoch weder im Daseinsschluß noch auch in der zweiten Schlußart, dem Schluß der Reflexion, in dem die Termini schon in sich selbst Beziehungen sind, sondern erst im Verlauf der Explikation des Schlusses der Notwendigkeit und seiner einzelnen Schlüsse realisiert. Die Vollendung der Entwicklung der Schlüsse stellt für Hegel der disjunktive Schluß dar. In ihm ist der Obersatz ein disjunktives Urteil; es formuliert nach Hegel die Einteilung der wesentlichen Allgemeinheit oder der Gattung in ihre Arten. Dabei bezieht sie sich auf die Arten, die selbst als Begriffsbestimmungen aufzufassen sind, positiv oder negativ; diese Beziehung wird mit „sowohl – als auch“ und mit „entweder – oder“ angegeben. Formal kommt diese doppelte Möglichkeit der Beziehung der modernen Adjunktion nahe. Hegel begründet sie allerdings spekulativ; das „entweder – oder“ der Arten bedeutet für ihn nicht, daß nur eine Art der Gattung zukäme; vielmehr kommen sie ihr alle zu, die ausgeschlossenen jedoch mit dem Index der Negativität; das bedeutet für Hegel, die Gattung bezieht sich in ihren einander ausschließenden Arten als in sich negative Ganzheit auf sich selbst. Da ihr deshalb jeweils eine Art und ihr kontradiktorisches oder auch konträres Gegenteil zukommt, verstößt Hegel hier gegen den Satz vom Widerspruch, indem er demselben Subjekt einander entgegengesetzte Prädikate ohne Hinsichtenunterscheidung zuschreibt. Dies gehört für ihn notwendig zur Dialektik. Schon in der Jenaer Zeit forderte er für jede spekulative Erkenntnis den Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch als einen Satz, der nur für endliches Erkennen gilt.21 Dieser Verstoß wird von Hegel metaphysisch begründet mit der These von der Wahrheit und der Erkennbarkeit der absoluten Identität, die den Widerspruch impliziert. Die Gattung enthält also als sich mit sich identifizierende negative Selbstbestimmung ihre einander entgegengesetzten Arten und ist deshalb dialektisch. Diese Bedeutung des disjunktiven Urteils ist hier vorauszusetzen, obwohl Hegel in der Wissenschaft der Logik in der Formulierung des disjunktiven Schlusses nur die traditionelle Form angibt; aus den dortigen Erläuterungen und aus der Darstellung in der Enzyklopädie wird jedoch deut20
21
Der regelmäßige Wechsel der Termini ist in der Enzyklopädie (1830) und im Fragment über die Schlüsse (1809) der Grund des Fortschritts von Figur zu Figur und der Grund ihrer Notation, die von der der Wissenschaft der Logik in der Angabe der Extreme abweicht (vgl. im Schema von Anm. 18 die in Klammern angegebenen Figuren); in der Wissenschaft der Logik werden zu den Prämissen jeweils Mittelbegriffe aufgestellt. – Historisches Vorbild für den Wechsel der Termini könnte das „schöne Band“ der Analogie aus Platos Timaios (31c- 32a) sein, das Hegel schon in der Differenz-Schrift erwähnt (Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O. 65). Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O. 208. Vgl. die Habilitationsthese: „Contradictio est regula veri, non contradictio falsi“ (K. Rosenkranz, a.a.O. 156). Vgl. auch Wissenschaft der Logik, a.a.O. 496 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 246): „Das Denken des Widerspruchs“ ist „das wesentliche Moment des Begriffes“.
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lich, daß der erörterte Sinn des disjunktiven Urteils für den Obersatz des disjunktiven Schlusses gültig ist.22 Dieser Obersatz besagt also, daß der Gattung die Arten, spekulativ: die Bestimmungen des Begriffs, das Allgemeine oder das Besondere oder das Einzelne, in ihrer gegenseitigen Ausschließung jeweils zukommen und daß die Gattung darin negativ mit sich identisch ist. Der Untersatz sagt aus, daß sie dadurch, daß sie eine dieser Arten, dieser Begriffsbestimmungen durch positives Zusprechen oder durch Ausschließen der anderen ist, zugleich Besonderheit ist; und der Schlußsatz sagt das wesentlich Allgemeine als Einzelnes aus, weil das Einschließen einer Bestimmung den Ausschluß der anderen impliziert und umgekehrt und weil damit das Allgemeine negative Einheit als Begriffsbestimmung oder Einzelheit ist. So wird dies Allgemeine als Einheit des Begriffs gedacht, der in seiner negativen Selbstbeziehung identisch mit sich ist. Das Allgemeine, das in allen drei Urteilen dieses Schlusses die Stelle des Subjekts einnimmt, ist damit als in sich konkretes entwickelt; diese Allgemeinheit ist nicht mehr abstrakte, getrennte Bestimmtheit wie noch im Schluß des Daseins; sie ist auch nicht mehr nur Wesensallgemeinheit als Gattung, sondern enthält das Besondere und Einzelne in sich, ist also die erfüllte, syllogistisch vermittelte Einheit der Begriffsbestimmungen. Diese Einheit ist freilich in sich widersprüchlich und dialektisch. Der Widerspruch, den Hegel in den Reflexionsbestimmungen des Wesens bereits für sich dargelegt hat, erweist sich hier somit als konstitutives Moment der entwickelten Einheit des Begriffs. Das Formelle des Schlusses, die Vermittlung der Extreme durch einen von ihnen unterschiedenen Begriff, ist nach Hegel auf diese Weise überwunden. Der Begriff ist hier in seinen Bestimmungen und ihren Beziehungen zueinander vollständig entwickelt; er ist selbst die konkrete Allgemeinheit. Erst im vollendeten Schluß wird also die vermittelte, denkende Selbstbeziehung des Begriffs expliziert. Der Begriff, dessen Bestimmungen im Urteil andere füreinander sind, der sich im Urteil zum „Gegenstand“ macht, erkennt erst im entwickelten Mittelbegriff des Schlusses die Identität der Extreme und damit sich selbst. Diese Selbsterkenntnis ist ebensowenig wie das Sich-Denken hier eine psychische Leistung; sie bedeutet die spontane, reine Aktuosität von spekulativ-syllogistisch entwickelter Selbstvermittlungsstruktur. Der Begriff oder das Subjekt weiß sich darin nach Hegel zugleich wieder als Einfaches, als „Seiendes“ vom Range des Begriffs oder als „Objektivität“, die er als Dasein Gottes zu erkennen beansprucht. Hegels Auffassung von der Genesis der Objektivität weicht somit von einer Theorie der Objektkonstitution durch das reine endliche Selbstbewußtsein, wie sie z.B. Kant aufstellte, in zwei gravierenden Beweisstücken ab: Konstituiert wird einmal nicht der Begriff vom Objekt 22
Vgl. Wissenschaft der Logik, a.a.O. 349 ff, vgl. 297 ff, bes. 299 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 124 ff), vgl. 80 ff, bes. 81 f); vgl. Enzyklopädie, a.a.O. § 191. Vgl. G. Jarczyk (s. Anm. 1), 129 f. Die traditionelle Form lautet: A ist entweder B oder C, nun ist es B, also ist es nicht C, bzw.: A ist entweder B oder C, nun ist es nicht B, also ist es C.
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überhaupt, sondern das Objekt, das Begriff in seinen Bestimmungen oder reines Selbst ist; dies in der Selbstobjektivation konstituierte Objekt ist zum anderen nicht nur Gedanke, sondern hat die ontologische Bedeutung eines „Seienden“ auf der dem Begriff angemessenen Stufe.
3. Dialektik als spekulativer Schluß Mit dem disjunktiven Schluß ist nur das formelle Schließen aufgehoben; Hegel legt auch in den folgenden Ausführungen zur Objektivität und zur Idee in der Wissenschaft der Logik ausdrücklich spekulative Schlüsse dar. Insbesondere bestimmt er die absolute Idee, nämlich die dialektische Methode, in der Organisation eines Schlusses; denn „was die Methode ... ausmacht, sind die Bestimmungen des Begriffes selbst und deren Beziehungen“;23 die vermittelte Beziehung der Begriffsbestimmungen aufeinander aber ist syllogistisch. Hegels resümierende Darstellung der allgemeinen dialektischen Methode in der Wissenschaft der Logik ist also nicht nur deskriptiv, sondern wenigstens dem Ansatz nach auch argumentierend. Hiermit stellt sich das fundamentale Problem des Verhältnisses von dialektischer Methode und Syllogistik, das über Hegels Andeutungen hinaus, aber seiner Konzeption gemäß, rekonstruktiv einer Lösung näher gebracht werden soll. Der dialektische Entwicklungsgang beginnt mit dem Gedanken von etwas als Anfang. Dies gilt nicht nur für das Sein als den Anfang der Logik überhaupt, sondern auch für Wesen und Begriff oder für andere Kategorien, die in noch speziellerem Sinne Anfänge sind. Dadurch, daß ein kategorialer Inhalt methodisch als Anfang verstanden wird, gilt er in Beziehung auf die folgende Entwicklung jeweils als unbestimmt und unmittelbar. Dieser als Anfang gesetzte Inhalt wird gedacht als Kategorie und damit als Begriff. Auch das Sein als Anfang der Logik ist Begriff, freilich nach Hegel „der Begriff nur an sich“,24 dessen Vermittlung und Selbstvermittlung noch nicht entwickelt sind und der daher noch einfache Unmittelbarkeit ist. Der anfängliche Inhalt wird infolgedessen in einer spezifischen Begriffsbestimmung gedacht, die nicht in ihm schon „gesetzt“ ist, sondern ihm nur „an sich“ zukommt und die, für sich genommen, zur Methode überhaupt gehört; er gilt als ursprüngliche Allgemeinheit, die noch nicht fortbestimmt und insofern noch abstrakt ist. 23
24
Wissenschaft der Logik, a.a.O. 487 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 239). Die Bestimmung der dialektischen Methode als spekulativer Schluß ist in den zahlreichen Untersuchungen zu Hegels Dialektik viel zu wenig beachtet worden. Vgl. aber die syllogistische Skizzierung innerhalb der ausführlichen und gründlichen Interpretation der dialektischen Methode Hegels bei H.F. Fulda: „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise“. In: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg. von R.-P. Horstmann. Frankfurt a.M. 1978, 154 ff; vgl. ebenso H. Kimmerle: „Die allgemeine Struktur der dialektischen Methode“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979), 196 ff; vgl. auch vom Verf.: „Das Problem der Subjektivität“, a.a.O. 326 f. Enzyklopädie, a.a.O. § 84.
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Der Anfang ist Anfang in Beziehung auf den Fortgang. Dieser bringt das zunächst Unbestimmte zur Bestimmung und erreicht schließlich die Selbstbestimmung des ursprünglichen Allgemeinen. Hegel setzt dabei voraus, daß der anfängliche kategoriale Inhalt für sich keine bestimmte Bedeutung hat, sondern daß diese erst im Laufe des Fortgangs erzeugt und im weiteren Fortgang verändert wird. Es gibt für ihn keine feststehenden Bedeutungen, die durch Relationen zu anderen Bestimmungen nur eingegrenzt würden; die Bedeutung einer Kategorie wird vielmehr erst hervorgebracht durch Setzung von Negation im ursprünglich Unbestimmten, damit also durch Bestimmen und zugleich Beziehen auf andere Bestimmungen, deren Bedeutungen ebenfalls erst konstituiert oder aber modifiziert werden in den ihnen zukommenden Beziehungen. Daher wird sich auch jene zuerst konstituierte Bedeutung einer Kategorie wieder ändern müssen. Dieser Prozeß des Hervorbringens und Veränderns bestimmter Bedeutungen in der kategorialen Entwicklung im Ausgang vom ganz Unbestimmten kommt bei Hegel dadurch zustande, daß er im Fortgang Momente der Methode in den Inhalt der folgenden Kategorien aufnimmt und diese somit bestimmt; was zuvor nur „an sich“ an Kategorien vollzogen wurde, ist dann auch in Kategorien „gesetzt“. Die Erzeugung bestimmten Sinnes und bestimmter Bedeutungsveränderung im Fortgang folgt prinzipiell dem Bewegungsmodell des „Sichbestimmens des Begriffs“.25 Dies kann in der Seins- und Wesenslogik freilich nur proleptisch verwendet werden; die dortigen Bewegungen sind „Übergänge“ einfacher Kategorien in andere oder „Scheinen“ relationaler Bestimmungen ineinander als rudimentäre oder privative Vorstufen jener Selbstbestimmung des Begriffs. Im allgemeinen dürfte der Fortgang durch folgende Argumente geregelt sein, die Hegel allerdings nicht eigens entwickelt: Das unbestimmte Allgemeine des Anfangs wird gedacht und damit unterschieden von dem, was es nicht ist. So ist es schon ein Bestimmtes nach dem Satz: „Omnis determinatio est negatio“. Dies Bestimmte ist anderem entgegengesetzt, das als Entgegengesetztes ebenfalls Bestimmtes ist. Hegel nimmt in dieses entgegengesetzte Bestimmte nun jeweils einen spezifischen Inhalt auf und verwandelt damit – wofür er seit Trendelenburg oft getadelt wurde – de facto das kontradiktorisch Entgegengesetzte in ein konträr Entgegengesetztes.26 Dieser zusätzliche Inhalt,
25
26
Wissenschaft der Logik, a.a.O. T. 1, 109 (nur in der zweiten Aufl.). Vgl. zum Programm der Konstitution und Modifikation von Bedeutungen in der kategorialen Entwicklung H.F. Fulda: „Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik“. In: Seminar, a.a.O. 44 ff. – Geschichtlich betrachtet gibt Hegel damit dem Platonischen Apeiron oder der Aristotelischen Hyle in logischem Sinn eine rein methodische Bedeutung als Unbestimmtheit, in der nur durch Negationen bestimmte Kategorien gewonnen werden können; Kategorien werden für Hegel durch methodische Handlungen des Bestimmens erst konstituiert und sind dem Denken somit nicht vorgegeben wie etwa die Platonischen Ideen. Vgl. A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Bd. 1, a.a.O. 43 ff; zur Auseinandersetzung mit Trendelenburgs Vorwurf z.B. N. Rotenstreich: From Substance to Subject, a.a.O. 90 ff. Vgl. zur Exemplifikation des hier allgemein dargestellten Vorgehens durch bestimmte
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der im konträr Entgegengesetzten gedacht wird, ist jedoch weder erschlichen noch etwa aus der Anschauung entnommen; es ist der Inhalt der allgemeinen Sphäre des Anfangs, von der ausgegangen wurde und die sich im Fortgang einteilt; als entgegengesetzt und mit dem Index der Negation versehen, ist er selbst ein bestimmter, spezifischer Inhalt. So wird z.B. dem bestimmten Etwas als Bestimmung des Daseienden oder des Etwas überhaupt dasjenige NichtEtwas entgegengesetzt, das selbst Daseiendes ist: Anderes. Der Fortgang führt also vom noch Unbestimmten, vom ursprünglichen Allgemeinen, zur Sphäre des Bestimmten mit der Entgegensetzung von inhaltsvollen Bestimmungen. Sie ist das „erste Negative“ zum Anfang. Da dieser als Allgemeines gedacht wurde, ist das erste Negative als die Sphäre des Besonderen anzusehen.27 Das ursprüngliche Allgemeine wird also als Gedachtes unterschieden von dem, was es nicht ist; dies Nicht-Allgemeine aber wird selbst als Begriffsbestimmung gedacht und ist dann das Besondere. Denn das ursprüngliche Allgemeine geht in seiner Bestimmung nicht nur in das bestimmte Allgemeine, sondern ebenso in dessen Gegenteil, in das Besondere ein und teilt sich damit in diese Bestimmungen. Da die entgegengesetzten Bestimmungen begriffslogisch aber je Besonderheiten sind, stellt dieser Fortgang die Sphäre des Besonderen mit zwei einander entgegengesetzten Bestimmungen dar. Diese Entwicklung ist für Hegel die erste Prämisse des Schlusses der dialektischen Methode. In ihr wird das ursprüngliche Allgemeine des Anfangs durch den Fortgang als Besonderes bestimmt, so daß also „das Allgemeine als ein Besonderes ist“;28 in Kurznotation lautet diese Prämisse: A – B. Man darf diese Verbindung freilich nicht als einfaches Urteil verstehen mit einer einfachen, unmittelbaren Beziehung getrennter Bestimmungen durch die Copula, die dann entweder positiv oder negativ wäre. Vielmehr bedeutet sie das Sichbestimmen des ursprünglichen Allgemeinen, das sich in entgegengesetzte Begriffsbestimmungen als seine eigenen entzweit; in dieser Entwicklung zum Besonderen ist das Allgemeine nach Hegel aufgehoben und zugleich bewahrt. Der methodische Fortgang führt über dieses erste Negative hinaus durch eine nähere Bestimmung des Verhältnisses, in dem die einander entgegengesetzten Bestimmungen innerhalb der Sphäre des Besonderen stehen. Hegel rekurriert dabei auf die von ihm dargelegte Abfolge der Reflexionsbestimmungen des Wesens von der Verschiedenheit bis zum Widerspruch. Die zunächst bloß als verschieden, d.h. als gleichgültig gegeneinander erscheinenden Bestimmungen sind vielmehr einander entgegengesetzt wie das „Positive“ und das „Negative“. Diese aber sind nach Hegel nicht nur negativ auf ihr je Entgegengesetztes
27 28
Seinskategorien vom Verf.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 15 (1980), 144 ff; auch ders.: „Das Problem der Subjektivität“, a.a.O. 316, 248 u.ö. Vgl. Wissenschaft der Logik, a.a.O. T. 2, 494 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 244). Ebd., vgl. auch 497 (Gesammelte Werke, 245 f). Die Prämisse ist insofern „analytisch“, als es sich um eine immanente Bestimmung des Allgemeinen handelt. Hegel spricht auch von der „Mitteilung“ des Allgemeinen; es teilt sich den entgegengesetzten Besonderheiten mit, geht in sie ein (vgl. auch 365 f. u.ö.; Gesammelte Werke. Bd. 12, 137 f).
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bezogen, sondern haben es sogar in sich; das Positive ist nicht das Negative und ist in dieser Negation gerade das Negative; das Negative hat eine eigene, für sich geltende Bedeutung, indem es das Positive nicht ist, und ist darin gerade das Positive. So hat jedes das Entgegengesetzte in sich, das es doch ausschließt, und ist damit in sich widersprüchlich. Diese Argumentation, die hier nur genannt, aber nicht kritisch überprüft werden kann, entwickelt Hegel an den Reflexionsbestimmungen des Wesens. Sie gilt ebenso und für Hegel sogar primär innerhalb der Methode, in der die Relata nicht nur Wesens- oder Relationskategorien, sondern Begriffsbestimmungen sind, die sich in der Beziehung auf anderes jeweils auf sich selbst als konsistente Einheiten beziehen; der Begriff in seinen Bestimmungen ist ja die höhere Entwicklung und zugleich der Grund der Reflexionsbestimmungen und ihres Zusammenhangs. Damit ist der für die Dialektik zentrale Widerspruch erreicht; jede der einander entgegengesetzten Bestimmungen „schließt ... ihr eigenes Andre in sich und ist somit als der Widerspruch die gesetzte Dialektik ihrer selbst“.29 Jede hat das negierte Entgegengesetzte in sich, ist in sich widersprüchlich und bezieht sich negativ auf sich selbst; die in sich widersprüchlichen Bestimmungen und ihr Verhältnis, nämlich der Widerspruch der ursprünglichen Allgemeinheit, erweisen sich als dieselbe negativ sich auf sich beziehende Einheit, die begriffslogisch als das Einzelne zu bestimmen ist. Hiermit ist nun das erste Negative, die Sphäre der Entzweiung des ursprünglichen Allgemeinen in besondere Bestimmungen, selbst negiert; dies „zweite Negative“ hebt als Negation der Negation das erste Negative und damit auch den erwähnten Widerspruch als für sich selbst gültigen auf und stellt die Einheit wieder her. Darin liegt für Hegel der „Wendungspunkt der Bewegung des Begriffes“. Die bisher erörterte Bewegung ist eine Selbstbestimmung des Begriffs vom Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen; sie kann als diese Selbstbestimmung nicht über das Einzelne hinaus fortgeführt werden. Denn hierin ist erkannt und entwickelt, was der Begriff eigentlich ist: „der innerste Quell aller Tätigkeit lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele“ als das Wahre; genauer ist der Begriff als Einzelnes die negativ sich auf sich beziehende, spontan tätige Einheit im vermittelten Setzen und Aufheben ihrer eigenen Bestimmungen; er ist „Subjektivität“.30 Diese ist hier über die Objektivität „übergreifende Subjektivität“,31 die sich in der Selbstobjektivation als die Objektivität hervorbringende und daraus zu sich zurückkehrende, nicht mehr einseitige, sondern absolute Subjektivität weiß und begreift. – Mit dieser Einzelheit ist die zweite Prämisse des Schlusses der dialektischen Methode erreicht; die Sphäre des Besonderen mit den einander entgegengesetzten Bestimmungen erweist sich als das Einzelne; in Kurznotation muß diese 29 30
31
A.a.O. 496 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 246). Ebd. „Das Resultat“ ist „das Einzelne, Konkrete, Subjekt“ (499; Gesammelte Werke. Bd. 12, 248); es ist das „Konkreteste und Subjektivste ..., die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ... alles in sich befaßt“ (502; Gesammelte Werke, 251). Enzyklopädie, a.a.O. § 215 Anm., vgl. § 213 Anm., §236 u.ö.
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Prämisse lauten: B – E; sie ist wiederum nicht als einfaches Urteil, sondern als komplexe Entwicklung der Einzelheit innerhalb dieses methodischen Ganges zu verstehen.32 Aus diesen Prämissen A – B und B – E ergibt sich die Conclusio von selbst, nämlich: E – A. Nach Erreichen des Wendungspunktes in der Einzelheit bildet das Aufstellen des Resultats, die immanente Rückkehr zur Allgemeinheit und die Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit auf höherer Stufe, für Hegel einen eigenen methodischen Schritt. Die Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis des Begriffs vollendet sich in der negativen Selbstbeziehung des Einzelnen, das jedoch nichts anderes als das ursprüngliche, aber nun entwickelte Allgemeine ist. Dieses „geht durch alle Momente des Schlusses hindurch“,33 ist also als Allgemeines konkret; jeder Terminus hat vielfältige Vermittlung in sich, wie schon am Ende der Schlußlehre dargelegt wurde; das Allgemeine als Resultat ist die Identität dieser seiner Momente und darin nach Hegel erneute Unmittelbarkeit oder ein Seiendes auf dem Niveau des sich erkennenden, aus der Objektivität sich herstellenden Begriffs oder der sich denkenden Idee. So wird in der Conclusio dieses Schlusses erkannt, daß das Einzelne, die vollständig sich erkennende Subjektivität, in sich das konkrete, in den verschiedenen Begriffsbestimmungen identische Allgemeine ist. Die dialektische Methode wird in der Abfolge ihrer Schritte also als spekulativer Schluß dargestellt. In Kurznotation erhält er die Gestalt: A – B – E. Sie entspräche bei Vertauschung der Außenbegriffe der ersten Figur; ohne solche Vertauschung würde sie in ausgeführter Form (1. A – B, 2. B – E, 3. E – A) der traditionellen vierten Figur entsprechen, die Hegel nicht als selbständige Figur anerkennt. Die Abbildung dieses Schlusses auf eine bestimmte Figur ist für Hegel aber wohl kaum von Bedeutung; denn einmal gilt die Lehre von den syllogistischen Figuren bei Hegel spezifisch für den Schluß des Daseins, dessen Termini noch in sich einfachen, qualitativen Sinn haben; zum anderen sind diese Figuren Grundschemata der verschiedenen Schlußgattungen, deren stufenartige Explikation erst die Ausbildung in sich vermittelter und konkreter Begriffsbestimmungen zum Ziel hat, die hier innerhalb der dialektischen Methode als schon vollständig entwickelte zur Verfügung stehen. Diese syllogistische Darstellung der dialektischen Methode, wie sie, Hegels Ansätzen und Ausführungen folgend, hier rekonstruktiv dargelegt wurde, ist jener Methode nun nicht äußerlich. Der Schluß ist dabei weder ein methodisches Konkurrenzmodell noch auch nur ein anderer Aspekt der Methode neben dem dialektischen. Der spekulative Schluß in Hegels Verständnis enthält vielmehr erst die Begründung für das methodische Fortschreiten vom Anfang 32
33
Hegel erklärt, diese Prämisse sei „durch die Einzelheit bestimmt“; das, was als Einzelheit bestimmt wird, kann nur die zuvor gesetzte Sphäre der Besonderheit sein (vgl. Wissenschaft der Logik, a.a.O. 497; Gesammelte Werke. Bd. 12, 246), so daß sich die Formulierung: B – E ergibt. Diese Prämisse heißt „synthetisch“ (ebd.), insofern verschiedene, ja gegensätzliche und widersprechende Bestimmungen in ihr aufeinander bezogen und zur Einheit verbunden werden. Wissenschaft der Logik, a.a.O. 499 (Gesammelte Werke. Bd. 12, 248).
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zum ersten und zweiten Negativen sowie – vom Wendungspunkt an – für die Rückkehr zum Ersten. Denn dieser Schluß als die vermittelte Beziehung von in sich schon konkreten Begriffsbestimmungen ist nichts anderes als die Entfaltung der Selbstbestimmung des Begriffs. Da nach Hegel keine feststehenden Bedeutungen vorauszusetzen sind, ist diese seine Entfaltung zugleich die Produktion seines eigenen Sinnes im Ausgang vom Unbestimmten. Das als Anfang Gedachte wird von Hegel insgeheim als noch unbestimmte Totalität konzipiert; diese geht aber nicht in einseitiger Bestimmung, in einem bestimmten Allgemeinen auf, sondern bestimmt sich ebenso zu dessen entgegengesetztem Besonderen. Hiermit wird die Methode dialektisch; denn dadurch ist, wie gezeigt, der Widerspruch unvermeidlich. Das Dialektische dieser Methode der Selbstbestimmung des Begriffs besteht also in der Notwendigkeit des Widerspruchs; es besteht außerdem für Hegel darin, daß dieser Widerspruch selbst spezifisches immanentes Verhältnis einer absoluten Einheit ist, die durch ihn nicht aufgelöst wird, sondern ihn in sich enthält, so daß er in seiner selbständigen Gültigkeit aufgehoben, aber zugleich bewahrt ist. Diese Einheit erweist sich als das Einzelne, als das der Begriff sich in dieser Selbstentwicklung begreift und das in sich allgemein ist. Die dialektische Methode ist als dessen Selbstentwicklung der spekulative Schluß, dieser aber die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis des Wahren. Hegel steht dadurch – freilich mit grundlegenden Abänderungen – in der Aristotelischen Tradition, nach der die wissenschaftliche Erkenntnis des Wahren die Apodeixis, der beweisende Schluß ist, dessen Mittelbegriff den realen Beweisgrund darstellt. Für Hegel darf das Schließen selbst jedoch nicht von der Sache abgetrennt werden, als sei es ein formales Tun; ferner muß die zu erkennende Sache sich als sich bestimmender Begriff erweisen, dem in diesem Vorgang die Dialektik immanent ist. Diese gehört für Hegel – anders als für Aristoteles – zu solcher Apodeixis.34 So ist die dialektische Methode die Methode der wahren Erkenntnis. Die dialektische Methode gilt auch für die Entwicklung von Seins- oder Wesenskategorien, die jeweils der Selbstbestimmung des Begriffs mit dem Durchgang durch die verschiedenen Begriffsbestimmungen gemäß ist. Doch wird der Begriff in Seinskategorien nur als einfach bestehender und seine Bewegung als einfaches „Übergehen“ gedacht; in Wesenskategorien wird sein relationaler Charakter für sich dargelegt und seine Bewegung als „Scheinen in Anderes“ verstanden. Daß der syllogistisch sich bestimmende Begriff mit seiner ihm immanenten Dialektik jeweils das Movens der Entwicklung ist, läßt sich thematisch erst aufgrund der Explikation des Begriffs und seiner Selbstvermittlung darlegen und begreifen. So geht also zwar die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen des Wesens und speziell des Widerspruchs der 34
Hinsichtlich der Methode als spekulativer Schluß setzt Hegel die Aristotelische, hinsichtlich der Dialektik als Wahrheitserkenntnis nach eigenem Verständnis dagegen die Platonische Tradition fort; vgl. zu Hegels Aufnahme und Deutung der Dialektik Platos z.B. vom Verf.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“ (s. Anm. 26).
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Schlußlehre und der absoluten Idee voraus und wird dort wiederaufgenommen; aber die Reflexionsbestimmungen und insbesondere der Widerspruch bilden nur unselbständige, partielle Konstitutionsmomente der Selbstbewegung des Begriffs. Die entgegengesetzten, d.h. negativ aufeinander bezogenen Reflexionsbestimmungen und deren widersprüchliche Beziehung und Einheit sind fundiert in der Einheit als denkender, in sich negativer Selbstbeziehung, die als deren Grund erst jene Beziehungen und negativen Vermittlungen aus sich als ihre eigenen Unterschiede und Momente in dem ihnen zukommenden Zusammenhang hervorgehen läßt und sich darin zuletzt selbst in erfüllter Struktur erkennt. So ist die Dialektik der Wesensbestimmungen in ihrer sachlichen Notwendigkeit erst aus dem komplexeren Kontext vor allem der Schluß- und der Ideenlehre wahrhaft verständlich. Voraussetzung für diese Methode der Erkenntnis bleibt freilich die Erkennbarkeit der absoluten Identität, die den Widerspruch in sich enthält, und des Absoluten als Begriff und Idee, die jeweils solche dialektische Identität in höherer Bestimmung sind. Dies ließ sich auch in der hier dargelegten Rekonstruktion nicht emendieren. Darin liegen Ansatzpunkte für eine begründete immanente, nicht von außen herangetragene Kritik des metaphysischen Fundaments der dialektischen Methode, wie Hegel sie konzipiert. Erweist sich die Kritik dieses Fundaments als erfolgreich, so wird sie auch diese Dialektik, die den positiven Sinn des Widerspruchs impliziert, zum Einsturz bringen.
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Dialektikmodelle Platons Sophistes sowie Hegels und Heideggers Umdeutungen Der Gebrauch von „Dialektik“ ist heute weitgehend diffus geworden; Befürworter und Kritiker reden oft nicht mehr von der gleichen Methodenkonzeption. Insbesondere die Befürworter von „Dialektik“ knüpfen implizit oder explizit und mehr oder weniger präzise an Hegels Dialektik an, sei es an Hegels Dialektik selbst, sei es an Positionen ihrer Wirkungsgeschichte. Zur Wiedergewinnung eines deutlich konturierten Begriffs von Dialektik ist daher der Rückgang auf Hegels Theorie erforderlich. Innerhalb dieser Theorie taucht jedoch ein noch anderer Grundtypus von Dialektik auf, mit dem Hegel sich vielfach auseinandersetzt und den er z.T. als konstitutiv für die Ausbildung seiner eigenen Dialektik ansieht, die Dialektik Platons. Hegel stuft sie schließlich nur als unvollendet gebliebene Vorstufe seiner eigenen Dialektik ein; demgegenüber dürfte sich zeigen, daß insbesondere der späte Platon eine Dialektik entwickelt hat, die zwar im Grundcharakter der Hegelschen ähnlich ist, die aber in ihrer eigenen Argumentationsstruktur und in ihrem methodischen Fortgang ein anderes Dialektikmodell darstellt als das Hegelsche. Diese spätplatonische Dialektik, die zugleich Grundlegungsbedeutung für die Philosophie hat, ist am reinsten im Sophistes ausgebildet. Sie wird von Hegel spekulativ umgedeutet. – Eine andere produktive Auseinandersetzung mit Platons Dialektik speziell im Sophistes, die von derjenigen Hegels wesentlich abweicht, findet sich in Heideggers Vorlesung Platon: Sophistes vom Wintersemester 1924/25, die erst kürzlich veröffentlicht wurde.1 Heidegger konzipiert hier in seiner Sophistes-Auslegung und –Umdeutung den Ansatz eines eigenen, neuen Dialektikmodells, nämlich einer phänomenologisch-hermeneutischen Dialektik, wie sie genannt werden kann, durch das offenbar partiell auch Gadamers Hermeneutik-Auffassung vorgeprägt und fundiert ist. So lassen sich anhand der Auseinandersetzungen Hegels und Heideggers mit Platons Sophistes drei exemplarische Dialektikmodelle in ihrem Zusammenhang und ihrer Abhebung voneinander aufzeigen, die spätplatonische Ideendialektik, die spekulative Dialektik Hegels und Heideggers Entwurf einer phänomenologisch-hermeneutischen Dialektik; alle drei haben Grundlegungsbedeutung für die Philosophie; sie sind jeweils konzipiert als Methode einer Ontologie, die freilich je verschieden spezifiziert ist. Daher gilt es erstens, unabhängig von den Deutungsvorgaben Hegels oder Heideggers eine eigenständige Auffassung von Platons genuiner DialektikKonzeption im Sophistes im Rahmen der von ihm entworfenen ersten reinen Ontologie zu gewinnen. Zweitens soll dann Hegels Sophistes-Interpretation in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, die spekulative Anver1
Vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 19. Hrsg. von I. Schüßler. Frankfurt a.M. 1992.
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wandlung mehrerer oberster Gattungen des Sophistes und ihrer Verhältnisse zueinander in Hegels Seinslogik und die Transformation der spätplatonischen Ideendialektik in Hegels spekulative Dialektik aufgezeigt werden. Drittens sei Heideggers detaillierte Sophistes-Interpretation an ihren markanten Stellen untersucht und seine spezifische Umformung der Platonischen Dialektik in phänomenologisch-hermeneutische Dialektik mit Bezügen auf Sein und Zeit dargelegt. Am Schluß seien aufgrund dieser Dialektikmodelle Voraussetzungen der Dialektik skizziert.
1. Dialektik und Ontologie in Platons Sophistes Die Dialektik entsteht bei Platon aus der Kunst der Gesprächsführung. Doch löst sich die erste ausdrückliche Konzeption von Ideendialektik, wie Platon sie im Liniengleichnis innerhalb der Politeia skizziert, bereits vom konkreten dialegesthai, vom Sich-Unterreden ab und bestimmt rein den vernünftig erkennenden Durchgang durch die Ideenwelt als Dialektik; dabei wird ein Aufstieg zum ersten Prinzip und ein Abstieg zu dem durch es Begründeten angedeutet, was später zu den Formen einer dialectica ascendens und einer dialectica descendens führte. Eine andere Form von Dialektik bildet Platon mit der Methode der Dihairesis seit dem Phaidros und besonders in Spätdialogen aus. Die spezifizierende Einteilung führt danach von einem allgemeinen Eidos über immer spezifischere zum gesuchten atomon, nicht mehr einzuteilenden Eidos, das definiert wird; das berühmteste Beispiel hierfür ist die Dihairesis, die die Definition des Angelfischers im Sophistes zum Ergebnis hat; auch der Sophist soll auf diese Weise bestimmt werden. Ist die Einteilung sachgemäß, so erfolgt sie, wie Platon im Politikos (286e)2 betont, nach Ideen; auch die Dialektik als Dihairesis erörtert also Ideenverhältnisse. Doch hat solche Dialektik keine Grundlegungsbedeutung für die Philosophie; sie gilt gerade der Bestimmung spezifischerer Ideen im Abstieg von allgemeineren. Eine weitere Form von Dialektik findet sich in der dialektischen Übung im zweiten Teil des Dialogs Parmenides, die über grundlegende ontologische Fragen handelt. Doch ist die Interpretation sehr umstritten. Folgt man nicht der metaphysischen und positiven neuplatonischen Deutung, und zwar wegen der zahlreichen von Platon dargelegten oder implizierten Widersprüche, so endet dieser dialektische Durchgang mit einem aporetischen Resultat, das offenbar ex negativo Platons eigene Ontologie vorbereiten soll.3 Die dabei ausgeübte 2
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Die Seitenangaben richten sich hier und im folgenden nach der Plato-Ausgabe von Henricus Stephanus von 1578. Als griechischer Text liegt zugrunde: Platonis Opera. Recognovit etc. I. Burnet. T. 1. Oxford 1900. Nachdruck 1961. Erlaubt sei zu dieser Deutung und zu ihrer Position innerhalb der verschiedenen Richtungen der Interpretation von Platons Parmenides der Hinweis auf die Abhandlung des Verfs.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 15 (1980), 95-150; vgl. auch
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Methode schildert Platon als diejenige Zenons (vgl. 135d); sie stellt Paradoxien auf, aber in gegenüber Zenon verfeinerter, zugleich universalisierter und systematisierter Weise sowie nicht im Bereich des Sinnlichen, sondern der reinen Gedanken. So handelt es sich hier offensichtlich um weiterentwickelte eleatische Dialektik, die man aber von Platons eigener Dialektik ontologischer Ideen noch unterscheiden muß. Diese skizziert Platon erst im Sophistes mit der Entfaltung von fünf obersten Gattungen. Die dialektische Darlegung jener obersten Gattungen und ihrer Beziehungen zueinander ist eine Explikation der „ôï™ –íôïò ... käÝá“ (Sophistes, 254a), die der Philosoph erforscht als lichtvolle Gegengestalt zum Sophisten, der sich im Dunkel des Nichtseienden verbirgt. Was der Sophist ist, kann nur bestimmt werden, wenn es gelingt, den Schein des Sophisten als eine Art Dasein von Nichtseiendem zu begreifen. Dazu aber ist erstens erforderlich, den Satz des Parmenides zu überwinden, Nichtseiendes sei nicht und könne auch nicht gedacht werden;4 zweitens ist dazu erforderlich, einen neuen Begriff des Nichtseienden zu entwerfen im Kontext der obersten Gattungen; es erweist sich als Verschiedenes von anderem, das es nicht ist; solches Nichtseiende als Verschiedenes aber kann durchaus sein und gedacht werden. Dies bildet die Grundlage der Bestimmung des Scheins. So gelangt Platon dazu, zur Bestimmung des Sophisten zunächst eine Skizze seiner Ontologie zu liefern, die der Philosoph entwickelt und deren ausführlichere Darstellung nach Platons ursprünglicher Planung wohl dem Dialog Philosophos vorbehalten bleiben sollte, der dann vermutlich nicht zustande kam. Die Ontologie, die Platon hier entwirft und deren Methode die Dialektik ist, erweist sich als die erste reine Ontologie; alle vorhergehenden Lehren vom Seienden bei den Vorsokratikern vermischten die Bestimmungen des Seienden mit konkreteren qualitativen oder quantitativen Bestimmungen; und selbst Parmenides denkt es nach dieser Darlegung Platons nicht rein als solches, sondern vermischt es mit kosmologischen Bestimmungen, indem er es als Ganzes, d.h. als den ganzen Kosmos denkt. Die Bedeutung des Seienden als solchen muß aber den Bedeutungen des Seienden etwa in Kosmologie oder Ethik vorausgehen und sie fundieren; da die rein ontologische Bedeutung des Seienden sich infolgedessen nicht aus höheren Begriffen ergeben kann, läßt sie sich nur in einem Geflecht oberster Gattungen eruieren, deren Bedeutungen wechselseitig aufeinander verweisen. Dies Geflecht oberster Gedankenbestimmungen der Ontologie als Explikation der reinen käÝá ôï™ –íôïò zu entwickeln, ist Aufgabe der „dialektischen Wissenschaft“ (253d). Diese verbindet in Aussagen weder alle Gattungen untereinander noch hält sie sie alle getrennt voneinander, indem sie – wie Antisthenes – nur Selbstprädikationen zuläßt;
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ders.: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, bes. 55-96; vgl. diese Darlegungen auch im folgenden. Vgl. hierzu die Darlegung mit ausführlicher Forschungsauseinandersetzung von K. Bormann: Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten. Hamburg 1971.
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denn beides führt zu keiner Erkenntnis; sie verbindet vielmehr einige und trennt einige nach höheren, Verbindung bzw. Trennung erst ermöglichenden methodischen Begriffen (vgl. 253b-c) wie Teilhabe oder Gegensatz, was sich dann in der Durchführung genauer zeigt. Platons Schema des Dialektikers (vgl. 253d-e) geht hiervon aus, bleibt aber wohl mehrdeutig;5 so kann die Dialektik der reinen Ontologie eindeutig nur von ihrer Durchführung an fünf obersten Gattungen aus bestimmt werden. Platon beansprucht für diesen dialektischen Durchgang keinerlei Vollständigkeit; in der Tat sind die fünf erörterten Gattungen nur eine Auswahl aus in Platons späterer Zeit immer wiederkehrenden allgemeinsten Bestimmungen des Seienden. Bewegung und Ruhe haben sich als gleichursprüngliche oberste Gattungen schon in der Auseinandersetzung mit den Ideenfreunden gezeigt; gegen deren These, das ideale Seiende sei lediglich als Beständiges, als Konstantes seiend, wurde erwiesen, daß es ebensosehr Bewegung in der intelligiblen Welt, nämlich Erkenntnisbewegung gibt. Bewegung und Ruhe aber sind inhaltlich ganz entgegengesetzt; sie bleiben unverbindbar miteinander (vgl. 250a, 252d), auch in einem einfachen Logos. Hieran muß man festhalten; die Explikation anderer oberster und selbständiger Gattungen setzt diese Unverbindbarkeit voraus. Bewegung und Ruhe aber sind; sie lassen sich im Logos mit dem Seienden (–í) verbinden, das nur etwas Drittes außer ihnen sein kann; denn wäre es ein innerer, inhaltlicher Bedeutungsbestandteil von Bewegung und Ruhe, wären diese nicht mehr ganz entgegengesetzt, sondern verbindbar. Gleichwohl läßt sich Seiendes von beiden aussagen; sie haben jeweils daran teil, ohne es in ihrer inhaltlichen Bedeutung zu haben. Hier zeigt sich zum ersten Mal der zentrale Sinn der Methexis in der Verbindung sonst getrennter Gattungen, somit einer Methexis, die nicht das Verhältnis von Sinnendingen und Ideen, sondern von Ideen, ja höchsten Gattungen untereinander betrifft. Nun ist jede dieser drei Gattungen: Bewegung, Ruhe, Seiendes mit sich identisch und von den anderen jeweils verschieden. In dieser Charakterisierung werden die Gattungen des Selben (ôášôüí) und des Verschiedenen (èÜôåñïí) verwendet, die Platon in eigenen Argumentationsgängen ebenfalls als oberste Gattungen erweist. Der entscheidende Gedanke besteht dabei darin, daß das Selbe bzw. das Verschiedene, das für Platon hier immer ein Verschiedenes von anderem, nie ein Verschiedenes an oder von sich selbst ist, keine internen Bedeutungsbestandteile von Bewegung, Ruhe oder Seiendem darstellen können, da sonst etwa Bewegung und Ruhe wieder partiell identisch würden, sondern daß das Selbe und das Verschiedene ihnen als Gattungen nur von außen zukommen, sie an ihnen jeweils lediglich teilhaben können.
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Vgl. hierzu z.B. F.M. Cornford: Plato’s Theory of Knowledge. The Theaetetus and the Sophist translated with a running commentary (1935). Nachdruck London 1973, 262 ff; H. Meinhardt: Teilhabe bei Platon. Freiburg – München 1968, 37-87; R. Marten: „Die Methodologie der Platonischen Dialektik“. In: Studium Generale 21 (1968), 235 ff u.a.
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Damit hat Platon fünf oberste, für sich selbständige Gattungen aufgestellt: Bewegung, Ruhe, Seiendes, das Selbe und das Verschiedene. In welchen Verhältnissen sie zueinander stehen, wird von Platon in einem eigenen dialektischen Durchgang entwickelt. Der Fremde aus Elea als Gesprächsführer zeigt diese Verhältnisse am Beispiel der Bewegung auf, die ja im Eleatismus ein besonderes Problem darstellt, wie wir aus Aristoteles’ Schilderung der Zenonischen Bewegungsparadoxien wissen. Soll Bewegung nicht Schein sein, müssen solche Paradoxien aufgelöst werden können. Der Fremde formuliert nun mehrfach zunächst solche Paradoxien oder Widersprüche und zeigt dann, wie sie vermieden werden können. Es ergeben sich folgende Sätze in anderer Reihenfolge als bei Platon: 1. Bewegung ist nicht Ruhe.6 2. Bewegung ist das Selbe; und sie ist nicht das Selbe. 3. Bewegung ist das Verschiedene; und sie ist nicht das Verschiedene. 4. Bewegung ist Seiendes; und sie ist nicht Seiendes. Die Paradoxien in den Sätzen 2-4 löst Platon auf durch Hinsichtenunterscheidung; die positive und die negative Aussage gelten nicht auf gleiche Weise (ïš ... ¿ìïßùò, 256a, 11 f). Das „ist“ in der jeweiligen positiven Aussage bedeutet: „hat teil an ...“; die Bewegung hat somit teil am Selben, am Verschiedenen, am Seienden. Das „ist nicht“ in der jeweils negativen Aussage bedeutet: bildet keinen inhaltlichen Bedeutungsbestandteil oder ist nicht inhaltlich gleich mit der Bedeutung von Bewegung; so sind das Selbe, das Verschiedene oder das Seiende nicht im Begriff der Bewegung enthalten oder ihm inhaltlich gleich; denn sie sind eigene oberste Gattungen. Durch solche Unterscheidung der Bedeutungen von „ist“ wird der formulierte Widerspruch vermieden. Aufgrund dieser Argumentation wird nun auch eine neue Konzeption des Nichtseienden möglich, das gleichwohl da ist, nämlich wenn Nichtseiendes als Verschiedenes gedacht wird, das in einem Logos mit der Formulierung „ist nicht“ ausgedrückt wird, z.B. Bewegung ist nicht das Selbe; sie ist verschieden von dem Selben als eigener Gattung, und zwar weil sie teilhat am Genos des Verschiedenen. Gleichwohl kann sie dabei durchaus ein Seiendes sein, nämlich wegen ihrer Teilhabe am Seienden. Sie ist kein schlechthin Nichtseiendes. Ähnliches gilt, wie hinzugefügt sei, z.B. von dem Selben, mit sich Identischen; es ist nicht Bewegung oder Ruhe usf., weil es verschieden von 6
Die Stelle, an der Platon scheinbar doch eine Verbindung von Bewegung und Ruhe zugibt, ist m.E. – mit Heindorf – lückenhaft (256b, 6-9). Platon behauptet nicht, es gebe eine solche Verbindung, sondern er erwägt eine solche Möglichkeit. Die Antwort des Theaetet geht darauf nicht spezifisch ein; sie erinnert nur daran, man sei darin übereingekommen, daß einige Gattungen sich verbinden, andere nicht. Welche dann getrennt bleiben, wenn sogar Bewegung und Ruhe sich verbinden, ist schwerlich auszumachen. Eine Verbindung aber von Bewegung und Ruhe war vorher mehrfach ausgeschlossen worden; die Darlegung, daß das Selbe und das Verschiedene eigenständige oberste Gattungen sind, beruht zudem auf der Getrenntheit von Bewegung und Ruhe. – So dürfte diese Stelle lückenhaft sein; Theaetets Antwort gilt nicht der Bestätigung des Gedankenspiels, ob Bewegung und Ruhe sich eventuell verbinden (vgl. zu dieser Stelle auch die Literaturangaben in der Abhandlung des Verfs.: „Ontologie und Dialektik“ [s. Anm. 3], 118 Anm. 44).
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ihnen ist; es hat somit teil am Verschiedenen als Genos, hat es aber nicht in seiner eigenen Bedeutung. Gleichwohl ist es seiend wegen seiner Teilhabe am Seienden. Diese Verhältnisse werden sich bei Hegel ganz anders darstellen. Der entscheidende Grund der Möglichkeit solcher Verbindung der obersten Gattungen untereinander – mit Ausnahme von Bewegung mit Ruhe – ist die Teilhabe der Gattungen aneinander, ohne daß eine in der anderen bedeutungsmäßig enthalten oder gar ihr gleich wäre. So entsteht das Geflecht der Verknüpfung dieser Gattungen, durch das sie sich wechselseitig in ihren Verhältnissen erhellen; jede für sich kann nur noetisch-unmittelbar gefaßt, aber nicht definiert, d.h. aus höheren Bestimmungen begriffen werden. Nur in einem solchen Geflecht von Verhältnissen ist die grundlegende käÝá ôï™ –íôïò explizierbar. – Diese dialektische Entwicklung der Verhältnisse der Gattungen untereinander als der allgemeinsten Ideen vermittels der methodischen Konzeption der Methexis vermeidet Paradoxien und Widersprüche. Zweimal formuliert Platon im Sophistes de facto den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als Prinzip sinnvoller Gedanken und Aussagen (vgl. 230b, 263d), die jedoch ganz im Horizont der reinen Ontologie bleiben. Die Dialektik der Methexis folgt also strikt den unterschiedlichen Hinsichten in der Verbindung und Trennung der Gattungen, im „ist“- und „ist nicht“-Sagen. Die dialektische Verbindung und Trennung der Gattungen erfolgt im Logos, in der Aussage, was Heidegger später akzentuiert. Angemerkt sei, daß Methexis sicherlich ein entscheidender, und zwar inhaltlich bestimmter Grund der Verknüpfung und Trennung im Logos ist, daß sie aber nicht den einzigen Grund darstellt. Eine theoretische Reflexion auf andere Arten der Verbindung und Trennung dürfte zugleich, was nicht in Platons Horizont lag, eine Unterscheidung von ontologischen und rein logischen Verknüpfungsarten in Aussagen erforderlich machen und damit eine Klärung des Verhältnisses von Ontologie und Logik.
2. Dialektik in Hegels spekulativer Sophistes-Deutung Platons Dialektik7 war für Hegel in den verschiedenen Phasen seines Denkens von zentraler Bedeutung. Insbesondere der Platonische Parmenides war Grund7
Platons Lehre von den obersten ontologischen Gattungen und von ihrem dialektischen Verhältnis zueinander im Sophistes wurde in der weiteren Geschichte der Philosophie mehrfach aufgenommen und umgewandelt. Vgl. die Skizze der wesentlichen Etappen dieser Geschichte bis zum Ausgang des Mittelalters von K. Bormann: Platon. Freiburg – München 21987, 64 ff. Für Plotin sind die obersten Gattungen des Sophistes Ideen und zugleich Momente des göttlichen Nous, der sich selbst denkt. Die Verschiedenheit oder Andersheit aber bedeutet dabei nicht mehr spezifisch Nichtseiendes wie bei Platon, da sie im wirklichen sich denkenden Nous als der Einheit dieser höchsten Ideen enthalten ist. Proklos nimmt dies auf und ordnet das Selbe, die Identität, der Verschiedenheit oder Andersheit vor. Die Schule von Chartre aus dem 12. Jahrhundert nimmt die Verschiedenheit oder Andersheit aus dem göttlichen Intellekt heraus und setzt sie als Prinzip des geschaffenen veränderlichen Seienden an. Nikolaus Cusa-
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lage der Ausbildung seiner eigenen frühen Dialektik; ihn sah er dann in der Phänomenologie als „wohl das größte Kunstwerk der alten Dialektik“ an; und noch in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie spricht er von diesem Dialog als dem „berühmtesten Meisterstück der Platonischen Dialektik“.8 In diesen Vorlesungen und in der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik beurteilt er die Dialektik im Parmenides jedoch kritischer als in der Phänomenologie; er betrachtet sie im wesentlichen als bloß negativ bleibende Dialektik, die eine positive Ergänzung erforderlich mache. Nicht nur negativ bleibt für Hegel dagegen Platons Dialektik ontologischer Gattungen im Sophistes. Auf diesen Dialog geht Hegel erst in seiner späteren und späten Zeit in Berlin ein. Er sieht zwar keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der verfeinerten eleatischen Dialektik im Parmenides und Platons eigener Ideendialektik im Sophistes; aber er erkennt, daß der Sophistes über eine negative Dialektik hinausgeht. Hegel deutet dabei einerseits die Dialektik im Sophistes sogleich von seiner eigenen spekulativen Dialektik her; Platons dortige Ontologie der obersten Gattungen wird ihm andererseits zum Anlaß, eine Abfolge bestimmter Seinskategorien in der Umarbeitung für die zweite Auflage der Wissenschaft der Logik neu zu gestalten und dabei Platons Entwicklung jener Gattungen im Sophistes spekulativ zu verwenden. Hegel deutet in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an, daß Platon sich gegen die Lehre des historischen Parmenides vom absolut einfachen Sein wenden mußte, sollte das Seiende im Logos differenzierter entfaltet werden können. Eine solche differenziertere Ontologie mit höherentwickelten Kategorien und Kategoriengruppen sieht Hegel als den wesentlichen Fortschritt Platons gegenüber den einfacheren Lehren der Vorsokratiker an, die etwa in Hegels Deutung das reine Sein als Prinzip ansetzten wie Parmenides oder das Werden wie Heraklit. Platon erkannte nach Hegel im Sophistes, daß auch Nichtseiendes ist und daß Seiendes mit einer Negation behaftet ist. Dies interpretiert Hegel spekulativ als „Identität des Seins und Nichtseins“, die für
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nus schließlich konzipiert in De coniecturis die Verschiedenheit oder Andersheit als Prinzip der Unterscheidung der Seins- und Einheitsstufen, so daß mit zunehmendem Abstieg in die Vielheit jeweils Andersheit zunimmt. – Bei Hegel wird sich zeigen, daß in der logischen Abfolge zwar das Selbe als einfache Beziehung auf sich vorausgeht, daß aber die Negativität des Anderen oder des Verschiedenen als eigene Gedankenbestimmung notwendig folgt und daß sie im spekulativen Gedanken des in sich negativen „Anderen an ihm selbst“ konstitutive Bedeutung für die Ontologie und Ontotheologie ebenso wie für die Dialektik erhält. Hegel beachtet dabei freilich nicht die skizzierte Vorgeschichte; seine Aufnahme und Umwandlung der Platonischen Lehre von der Dialektik oberster Gattungen erfolgt unmittelbar und autochthon. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 48; ferner G.W.F. Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 19, 79. Vgl. hierzu und zum folgenden H.-G. Gadamer: „Hegel und die antike Dialektik“. In ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen 21980, 7-30; vgl. auch vom Verf.: „Formen der Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel und die antike Dialektik. Hrsg. von M. Riedel. Frankfurt a.M. 1990, bes. 185 ff.
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ihn schon zur „höchsten Form“9 Platonischer Dialektik gehört, da hier Entgegengesetzte vereinigt werden. Solche Einheit von Sein und Nichts sowie die dazu gehörigen obersten Gattungen, insbesondere das Selbe und das Verschiedene, stellen für Hegel nicht mehr das einfache Werden dar, sondern entsprechen den höherstufigen Kategorien des Daseins, wie er sie in seiner Logik entwickelt. Daß Hegel das Spezifikum der Platonischen Dialektik im Sophistes, die Methexis der Gattungen aneinander, nicht erkennt, sondern Platons Dialektik sogleich in seinem spekulativen Sinn umdeutet, sieht man an einer berühmt gewordenen Fehlübersetzung eines zentralen Passus über das Selbe und das Verschiedene. Platon legt dar, es sei schön zu betrachten, „wenn einer ein Verschiedenes irgendwie für dasselbe erklärt und ein Selbiges für ein Anderes, und zwar in der Beziehung und dem gemäß, was einem von beiden nach seiner Aussage zukommt“ (259c-d).10 Hegel aber „übersetzt“, es sei „zu zeigen, daß das, was das Andere (fôåñïí) ist, Dasselbe ist, und was Dasselbe ist (ôášô’í –í), ein Anderes ist, und zwar in einer und derselben Rücksicht“.11 Hegels „Übersetzung“ wird verständlicher, wenn man die lateinische Übersetzung von Marsilio Ficino hinzuzieht, die Hegel in der zweisprachigen Zweibrücker Platon-Ausgabe mit vorlag und nach der es heißt: „... sive quod alterum est, idem, sive quod idem, alterum, atque id eadem utrumque ratione esse convincens“.12 Hegel nimmt also – im Gefolge von Marsilio Ficino – gerade nicht die Hinsichtenunterscheidung vor, die für Platon zur Vermeidung des Widerspruchs wesentlich ist. Für Hegel ist das Verhältnis des Selben zum Verschiedenen spekulativ; als Entgegengesetzte sind sie eins in höherer absoluter Identität. – Wenn Hegel also im Sophistes „die Hauptbestimmung der eigentümlichen Dialektik Platons“13 findet, zu der er auch Begriffspaare wie Eines und Vieles aus dem Dialog Parmenides hinzufügt, dann ist diese Dialektik immer schon von Hegels Konzeption spekulativer Dialektik aus gedeutet; nach ihr gehen aus einer unmittelbaren Einheit systematisch entgegengesetzte Bestimmungen hervor, deren Widerspruchsverhältnis erkannt werden muß und die schließlich in eine höhere Einheit als positives Resultat jenes Widerspruchs einmünden. Geradezu im Gegensatz zu Platons Dialektik muß in He-
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Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 74. Platon: Der Sophist. Übersetzt von O. Apelt, neu bearbeitet von R. Wiehl. Hamburg 1967, 138. Der Text lautet: „”ôáí ôÝ ôéò fôåñïí –í ðw ôášô’í åqíáé ö† êár ”ôáí ôášô’í —í fôåñïí, dêåßíw êár êáô’ dêåsíï ” öçóé ôïýôùí ðåðïíèÝíáé ðüôåñïí“ (Platonis opera. Ed. I. Burnet. Bd. 1. Oxford 1900). Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 72. Die Nachschriften bestätigen diese „Übersetzung“ (vgl. vom Verf.: „Hegel und die Geschichte der Philosophie“, a.a.O. 91). Auf die Fehlübersetzung machte schon aufmerksam C.L.W. Heyder: Kritische Darstellung und Vergleichung der Methoden Aristotelischer und Hegelscher Dialektik. Bd. 1. Erlangen 1845, 99 f. Platonis philosophi quae exstant. Bd. 2. Zweibrücken 1782, 287; dort heißt es am Schluß dieses Passus: „... ôïýôv ðåðïíèÝíáé ðüôåñïí“. Theorie-Werkausgabe (s. Anm. 8), a.a.O. 75.
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gels Dialektik also der Widerspruch begangen und unter Wahrung des Widerspruchs spekulativ eine höhere Einheit daraus entwickelt werden. Die Verwandlung Platonischer Dialektik oberster Gattungen oder Ideen in Hegelsche Dialektik von Seinsbestimmungen läßt sich im Detail am besten an Hegels Aufnahme und Transformation oberster Gattungen des Sophistes an einer in der zweiten Auflage umgearbeiteten Stelle der Wissenschaft der Logik studieren, nämlich an der neu gefaßten Logik des Daseienden. Innerhalb dieser neuen Darstellung nimmt Hegel die Gattungen von –í, ôášôüí und èÜôåñïí in seiner Entwicklung des Etwas oder des Daseienden überhaupt, von Etwas und Anderem sowie des Anderen an ihm selbst auf. Er geht hierbei aus vom Seienden, das eine Negation enthält, nämlich vom Daseienden oder Etwas überhaupt, was dem Platonischen –í entsprechen soll. Es bildet die Sphäre der unmittelbaren Einheit und Allgemeinheit, die in der folgenden Entwicklung bestimmt wird. Es ist jedoch – anders als bei Platon – nicht oberste Gattung, sondern geht hervor aus Sein, Nichts, Werden und Dasein, reinen Bestimmungen substratloser, noch freischwebender Seinsweisen; aus ihnen ergibt sich erst das erste und einfachste Substrat, das Daseiende in seiner bereits komplexen und deshalb herzuleitenden Bedeutung, die Sein, Negation und einfache Beziehung auf sich enthält; darin ist es – ebenfalls unplatonisch – für Hegel „der Anfang des Subjekts“.14 Dies Etwas überhaupt muß nun bestimmt werden; so wird es unterschieden von dem, was es nicht ist, nach dem Satz: „Determinatio est negatio“. Damit wird es ein bestimmtes Etwas, das identisch mit sich ist, was dem Platonischen ôášôüí entspricht. Dieses bestimmte Etwas unterscheidet sich von dem, was es nicht ist, zunächst dem kontradiktorisch entgegengesetzten NichtEtwas. Dieses wird aber, so kann man Hegel ergänzen, ein inhaltlich bestimmtes, konträr Entgegengesetztes, wenn in es der Inhalt der allgemeineren Sphäre, von der ausgegangen wurde, aufgenommen und – als entgegengesetzter – bestimmt wird; so ist das dem bestimmten Etwas entgegengesetzte NichtEtwas, das selbst ein Daseiendes, und zwar ein entgegengesetztes bestimmtes Daseiendes oder Etwas ist, das Andere. Dasjenige Nicht-Etwas, das entgegengesetztes Daseiendes ist, ist das Andere. Damit sind bestimmtes Etwas und Anderes einander entgegengesetzt.15 Sie bilden die Sphäre einander entgegengesetzter besonderer Bestimmungen.
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G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke (= GW). Bd. 21: Wissenschaft der Logik. 2. Aufl. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1985, 103. Trendelenburg (Logische Untersuchungen. Leipzig 31870. Bd. 1, 43 ff) kritisiert – wie viele spätere Hegel-Kritiker – Hegels Verwandlung kontradiktorischer in konträre Gegensätze und moniert, der jeweils hinzukommende Inhalt sei nicht gerechtfertigt. Aus der aufgezeigten Entwicklung läßt sich entnehmen, daß Hegel hier und auch sonst in das kontradiktorische Gegenteil nur den Inhalt der allgemeinen Ausgangssphäre aufnimmt und als entgegengesetzten bestimmt. So werden nur ganz bestimmte Gegensätze in der dialektischen Entwicklung zugelassen.
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Beide bestimmten Daseienden sind jeweils Etwas; beide sind aber als einander entgegengesetzte zugleich und wesentlich Andere füreinander. Es bleibt insofern kein einfaches Etwas zurück. So entsteht der Gedanke des Anderen, das sich negativ nur auf sich selbst bezieht, das in sich jeweils Anderes ist, oder des Anderen an ihm selbst. Hierbei verweist Hegel ausdrücklich auf „ô’ fôåñïí des Plato, der es als eins der Momente der Totalität dem Einen entgegengesetzt und dem Andern auf diese Weise eine eigne Natur zuschreibt“.16 Daß hier das „Eine“ dem „Anderen“ entgegengesetzt wird, dürfte nur sprachlich bedingt sein; das Etwas als ôášôüí ist offenbar gemeint.17 Mit den „Momenten der Totalität“ werden offenkundig die von Platon entwickelten obersten Gattungen als ein Ganzes aufgefaßt; daß das Verschiedene eine eigene „Natur“ hat, greift Platons Bestimmung im Sophistes auf, das Verschiedene habe eine eigene Natur und sei seine eigene Idee (vgl. Sophistes 255d-e). So dürfte Hegel sich an dieser Stelle auf den Sophistes beziehen. Platon hatte dort freilich – anders als im Parmenides – das Verschiedene immer in bezug auf Anderes konzipiert, nie auf sich selbst; denn der Begriff eines in und von sich selbst Anderen, das es selbst und nicht es selbst ist, enthält in seiner Einheit einen Widerspruch. In ebendieser Weise aber faßt Hegel auch, wie gezeigt, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie das Selbe und das Verschiedene in einer widersprüchlichen Einheit. Mit diesem einen Widerspruch in sich enthaltenden Begriff des Anderen an sich selbst, dem für Hegel genuin ontologische Bedeutung zukommt, kehrt der dialektische Entwicklungsgang zum Etwas zurück; dieses vertritt nun als entwickeltes und bestimmtes, mit seinen entgegengesetzten Bestimmungen angereichertes Etwas begriffslogisch gesehen die Sphäre des Einzelnen als Begriffsbestimmung, d.h. des Einzelnen als entwickelter, insofern konkreter Allgemeinheit. – So hat Hegel unter Verwendung Platonischer ontologischer Gattungen eine neue spekulativ-dialektische Entwicklung von Seinsbestimmungen vorgeführt. Gemeinsam ist Hegel mit Platon das systematische Programm einer reinen Ontologie, die dialektisch expliziert wird. Es wird von Hegel jedoch wesentlich anders durchgeführt. Abgesehen von einzelnen Veränderungen, wie sie soeben skizziert wurden, nimmt Hegel folgende grundsätzlichen Umwandlungen vor: Die Kategorien des Daseienden sind keine obersten Gattungen, sondern werden eigens hergeleitet; die Systematik der Ontologie ist somit eine andere. Sie orientiert sich freilich sowenig wie diejenige Platons grundsätzlich an Aussage- oder Urteilsformen, wie dies etwa bei Aristoteles oder Kant geschieht. Der methodische Fortgang ist vielmehr dialektisch; er wird jedoch 16 17
GW 21, 106. Vgl. ebenso in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie. In: Theorie-Werkausgabe, a.a.O. 76. Auch Heidegger setzt gelegentlich das „Eine“ und das „Andere“ einander gegenüber (vgl. M. Heidegger, a.a.O. 566). – Vielleicht ist eine Bedeutung von fí aus Platons Parmenides mitgemeint, da Hegel ja Eines und Vieles in die obersten Gattungen des Sophistes miteinbezieht. Gestattet sei auch der Verweis auf weitere Details in der Darlegung des Verfs.: „Ontologie und Dialektik“ (s. Anm. 3), 136 ff (mit Anm. 90 f).
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nicht wie bei Platon von einer Dialektik der Methexis unter Vermeidung von Widersprüchen bestimmt, sondern von einer spekulativen Dialektik, die bestimmte Widersprüche geregelt begeht und höhere, sie bewahrende Einheiten aufstellt. Die Seinsbestimmungen werden ferner zwar auch von Hegel für sich als prinzipielle Bestimmungen entwickelt; sie erweisen sich aber – anders als bei Platon – im weiteren dialektischen Fortgang als in sich einfache Präfigurationen des Sinnes von Subjektivität, als Momente der sich denkenden Subjektivität, die sich erst am Ende des Durchgangs durch solche Bestimmungen erfaßt. Sie gelten nicht als ewig vorgegebene wie die Platonischen Ideen, sondern werden im Denken allererst konstituiert. Hegel bildet daher eine idealistische Ontologie aus, in der Seinsbestimmungen nur insofern Gültigkeit und Bedeutung haben, als sie sich als spontan konstituierte Momente der sich denkenden, für Hegel absoluten Subjektivität oder der sich denkenden Idee erweisen. Hegel nimmt hiermit die Einheit von Logik und Ontologie auf, die bei Platon noch unmittelbar war; sie wird von Hegel nach der Trennung beider insbesondere durch Kant in eine redintegrative Einheit von Logik und Ontologie bzw. Ontotheologie verwandelt.
3. Die phänomenologisch-hermeneutische Dialektik in Heideggers Sophistes-Interpretation Heideggers Auseinandersetzung mit Platons Sophistes in der Vorlesung des Wintersemesters 1924/25 erfolgt autochthon und ohne Berücksichtigung von Hegels spekulativer Umdeutung. Diese ist ihm damals offenbar nicht bekannt.18 Heidegger scheint sich zudem erst im Laufe der Vorlesung ein eigenes Bild von Platons Ontologie und Dialektik im Sophistes zu verschaffen; seine Einschätzung speziell der Platonischen Dialektik wandelt sich im Laufe der Vorlesung. Zunächst betrachtet er diese Dialektik im Sophistes im Lichte von Aristoteles’ Begriff der Dialektik als der Logik wahrscheinlicher Argumentationen. Dialektik gilt ihm nur als Vorbereitung des íïåsí als der wahren Erkenntnis dessen, was eigentlich ist, und darüber verfüge Aristoteles, Platon jedoch nicht. Diese Herabstufung der Dialektik und diese Platon-Kritik behält Heidegger im Laufe detaillierter Sophistes-Interpretationen mit Recht nicht bei. Heideggers Interpretationen des Sophistes, die vielfach auch ausführliche Kommentierungen einzelner Stellen enthalten, verfolgen das Ziel, Platons On18
Auch Hegels Logik scheint ihm inhaltlich wenig bekannt zu sein; vgl. z.B. Martin Heidegger: Gesamtausgabe, a.a.O. 223, 449, 561, auch 198. Im folgenden ist diese Ausgabe gemeint, wenn im Text in Klammern Band- und Seitenzahl angegeben werden. Vgl. zu Heideggers damaligen Hegel-Stellungnahmen und zur Vorlesung von 1924/25 O. Pöggeler: „Hölderlin, Schelling und Hegel bei Heidegger“. In: Hegel-Studien 28 (1993), bes. 344 ff, auch 358 ff. Über Heideggers Stellungnahme zu Platons Idee des Guten vgl. W. Beierwaltes: „Epekeina. Eine Anmerkung zu Heideggers Platon-Rezeption“. In: Transzendenz. Hrsg. von L. Honnefelder und W. Schüßler. Paderborn u.a. 1992, 39-55.
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tologie und die Methode ihrer Entwicklung, die Dialektik, aus dem Horizont hermeneutisch-phänomenologischen Verstehens des Daseins zu erhellen; die Dialektik wird im Logos begründet und erhält – in einer Umdeutung Platons – eine phänomenologisch-hermeneutische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erscheinen das Verhältnis von Verstehen, Auslegung und Aussage in Sein und Zeit (§§ 32 f) sowie Grundzüge von Gadamers Hermeneutik im Horizont einer Verstehens-Dialektik in neuem, geschärftem Licht. Dialektik ist für Heidegger in dieser Vorlesung zunächst dialegesthai im Sinne des Besprechens und Sich-Unterredens; Heidegger weist auf Gemeinsamkeiten mit Schleiermachers Dialektik-Begriff hin (vgl. Bd. 19, 310 f); das Sich-Unterreden aber gelange nicht zum íïåsí, zum reinen Erkennen selbst (vgl. a.a.O. 197, anders 410). Diese gegenüber Platon kritische Ansicht beachtet offensichtlich die Ideendialektik nicht. Im Sophistes ist grundlegende Dialektik dann für Heidegger die Entwicklung der Koinonie der obersten Gattungen im Logos als Explikation der reinen Ontologie, wie sie Platon in Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern, insbesondere mit Parmenides konzipiert. Der ontologische Sinn der Dialektik liegt für Heidegger darin, daß sie „das Sein des Seienden sichtbar“ mache (Bd. 19, 523). Dadurch werden nach Heidegger die Heutigen an die Seinsfrage erinnert, die ins „Vergessen“ geraten sei (a.a.O. 447); hierin liegt ein Vorklang der späteren universalisierten These von der Seinsvergessenheit der Metaphysik. Der phänomenologisch-hermeneutische Charakter dieser Dialektik wird angedeutet mit dem Gedanken, sie mache sichtbar und decke auf, was der Seinssinn des Seienden als solchen von sich her bedeute und wie er sich – als vorgegebener – darbiete und zu verstehen sei. Er wird nicht erst – wie bei Hegel – erzeugt durch die reine Subjektivität, die sich in solchen Momenten selbst konstituiert und denkt. Diese Dialektik bestimmt Heidegger mit Platon im Fortgang der Vorlesung als Episteme, als Wissenschaft (vgl. Bd. 19, 526), während er sie zunächst nur als eine Art Unterredungskunst ansah (vgl. a.a.O. 197 f, auch 409). In dieser dialektischen Wissenschaft werden grundlegende Ideen in ein Verhältnis gebracht; die allgemeinen Möglichkeiten dieser Dialektik schildert Heidegger in detaillierter Platon-Interpretation. Solche Verhältnisbestimmungen beruhen, wie Heidegger betont, auf der Koinonie der obersten Gattungen und stellen diese nicht erst her (vgl. a.a.O. 513). Nicht nur die Ideen als oberste Gattungen oder „Stämme“, wie Heidegger dann etymologisierend sagt (a.a.O. 536 u.ö.), auch deren Koinonie ist demnach dem erfassenden Betrachten vorgegeben, zeigt sich ihm von sich her. Was nun die Explikation der Koinonie der Gattungen betrifft, so hebt Heidegger zu Recht die Zweistufigkeit ihrer dialektischen Entwicklung bei Platon hervor; zuerst werden sie als je ursprüngliche und oberste aufgestellt und erwiesen; sodann werden ihre Verhältnisse untereinander entfaltet. Zwar erwähnt Heidegger auch die Methexis der Gattungen aneinander; aber daß sie gerade die grundsätzliche Lösung eleatischer Paradoxien bedeutet und zentral
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für Platons Dialektik oder obersten Gattungen ist, bleibt unbeachtet. Doch erkennt Heidegger in der Darlegung dieses Geflechts der obersten Gattungen Platons reine Ontologie und die Entfaltung des sich darbietenden Sinns von Sein des Seienden im Logos. Dabei wird nach Heidegger solches Sein, insbesondere dasjenige der ïšóßá als Anwesenheit eines beständigen Vorhandenen gedacht, genauer als gegenwärtiges beständiges Da- und Vorhandensein (vgl. Bd. 19, 466 ff). Gegenwart wird von Heidegger in Sein und Zeit als Modus der Zeit des bloß Vorhandenen konzipiert, der abkünftig ist, während sich als der ursprüngliche der Augenblick erweist. Mit der Bestimmung des Seins der ïšóßá als gegenwärtigen Da- und Vorhandenseins präludiert Heidegger seine eigene Theorie von Seins- als Zeitbestimmungen. Zum mehrfältigen, in den obersten Gattungen ausgedrückten Seinssinn des Seienden gehört auch die Bestimmung eines seienden Nichtseienden, die die entscheidende Voraussetzung für den Begriff des Scheins des Sophisten darstellt. Heidegger erklärt, hier habe Platon eine neue Fassung von Negation entdeckt. Diese interpretiert Heidegger phänomenologisch; das „Nicht-“ in diesem Gedanken des Nichtseienden habe nicht ausschließende, sondern entdeckende und offenbarende Bedeutung (vgl. Bd. 19, 560 f); es werde darin ein Seiendes aufgedeckt, dem etwas Bestimmtes nicht zukommt, z.B. ein Seiendes, das nicht schön ist. Auch diese Negation also ist apophantisch. Ihr Sinn geht nach Heidegger letztlich aus der dialektischen Koinonie der Gattungen hervor. Die ontologische Dialektik der Gattungen, die phänomenologisch-hermeneutische Bedeutung hat, ist für Heidegger nun fundiert im Dasein als In-derWelt-Sein. Das verstehende Dasein entdeckt und vernimmt den Seinssinn des Seienden, das sich von sich her zeigt. In solchem Verstehen gründet Auslegung und Dialektik. So geht es in der „dialektischen Fundamentalbetrachtung“ in Platons Sophistes nach Heidegger eigentlich um die „Existenz des Menschen“ (Bd. 19, 574). Die Untersuchung bleibt jedoch auf dem Boden der antiken Ontologie, die nur Vorhandenes betrachtet. Heidegger definiert diese fundamentale Platonische Dialektik als „Aufweisung der Möglichkeiten des Miteinander-Anwesendseins im Seienden, sofern es im ëüãïò begegnet“ (a.a.O. 530). Das „Miteinander-Anwesendsein“ ist der Seinssinn der obersten Gattungen in ihrer Koinonie. Diese aber wird in Logoi ausgesagt. Der Logos, die Aussage ist in der traditionellen Ontologie die leitende Weise, wie Seiendes und der Seinssinn des Seienden als solchen vom auslegenden Verstehen des Daseins gefaßt wird. Heidegger liefert hier eine phänomenologische Transformation von Platons Logos-Lehre im Sophistes (vgl. a.a.O. 583). Hierbei bedeutet Phänomenologie für ihn – anders als für Husserl – „ansprechendes Aufdecken, Aufweisen des Seienden, des SichZeigenden, im Wie seines Sich-Zeigens“ (a.a.O. 586). Dies gilt in besonderem Maße für den Logos. Die Phänomenologie hat somit grundlegend ontologische Bedeutung. Platons Bestimmungen am Ende des Sophistes deutet Heidegger nun in dreierlei Hinsicht (vgl. a.a.O. 601, ebenso 593-601, vorläufig
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auch 201): 1. Platon trennt zwischen –íïìá und ¼yìá; aber erst die Verbindung beider ergibt einen Satz. 2. Ein Logos, eine Aussage hat immer ein „Worüber“, ist ëüãïò ôéíüò, richtet sich intentional auf etwas. 3. Jede Aussage legt etwas als etwas aus. – Ein so bestimmter Logos ist aufdeckend und offenbar machend oder delotisch (von äçëï™í: offenbar machen). Wenn ihm dies gelingt, ist er wahr. Jede Aussage stellt solchen Wahrheitsanspruch. Auch für Heidegger ist also, sofern Seinsverständnis sich im Logos, in der Aussage artikuliert, der Ort der Wahrheit die Aussage. In Sein und Zeit (§ 33) fügt er hinzu, daß die damals weit verbreitete Rede von Geltung und Gültigkeit der Urteile mehrdeutig und unpräzise sei und die Wahrheitsfrage enthalte, die er selbst deutlicher stelle. Allerdings liegen die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Aussagen im wesentlichen nicht in diesen Aussagen, sondern gehen ihnen voraus. Sie liegen für Heidegger in dem sich zeigenden und offenbar werdenden Seienden und sind somit nur phänomenologisch angebbar. Sofern in Aussagen aber ein Seiendes verdeckt wird, sind solche Aussagen falsch. Wahrheit ist also nicht etwa willkürlich Aussagen zuzusprechen, sondern nur aufgrund des Verstehens des sich von sich her Zeigenden und der delotischen Aussage darüber.19 Daß der frühe Heidegger nicht ursprünglich antik-griechisch dachte und nur durch Husserl vom griechischen Pfade der Tugend abgebracht wurde,20 ersieht man aus Heideggers über Platon hinausführender daseinsanalytischer Fragestellung, die prinzipiell subjektivitätstheoretische Bedeutung hat, nämlich für wen das Seiende sich zeigt und wer es versteht, auslegt und Aussagen darüber trifft. Es ist, wie Heidegger schon in dieser Sophistes-Vorlesung betont und wie er dann in Sein und Zeit ausführt, das Dasein als verstehendes In-derWelt-Sein. Solches Dasein, das sich als in der Welt seiend versteht, ist konkrete Subjektivität,21 die auslegend weltlich Seiendes versteht und darüber Aussagen trifft. Dies geschieht auf traditionellem ontologischem Boden noch in be19
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Dieser Teil der Sophistes-Interpretation stellt eine Ergänzung und Klärung sowie einen weitreichenden Hintergrund zu den Ausführungen über Auslegung und Aussage in Sein und Zeit dar. Tugendhats Kritik an Heidegger müßte somit auch vor dem Hintergrund der SophistesVorlesung abgeändert werden. Heidegger folgt zwar nicht der Adaequatio-Theorie der Wahrheit; vielmehr kann seine Wahrheitslehre als delotisch-phänomenologisch bezeichnet werden; gleichwohl muß auch in ihr die Aussage solcher Wahrheit angemessen sein; das Verstehen oder Nicht-Verstehen des sich von sich her Zeigenden stellt das allgemeine Kriterium für Wahrheit oder Falschheit der Aussagen dar, das also nicht fehlt. Vgl. E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Berlin 21970, bes. 321 ff, 328-362. Anders als Tugendhat und unter umfassender Würdigung von Heideggers eigener Wahrheitsauffassung im Kontext von dessen Logik-Kritik und im Horizont der Zeitlichkeitskonzeption interpretiert D.O. Dahlstrom Heideggers Lehre: Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger. Wien 1994, bes. 265-295. Zu dieser interessanten These, der Gadamer zuneigt, vgl. O. Pöggeler, a.a.O. 355. Erlaubt sei hier der Verweis auf die Abhandlung des Verfs.: „Selbstbewußtseinsmodelle. Apperzeption und Zeitbewußtsein in Heideggers Auseinandersetzung mit Kant“. In: Zeiterfahrung und Personalität. Hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt a.M. 1992, 89-122.
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zug auf Vorhandenes für theoretisches Erkennen, das, bezogen auf das sich von sich her zeigende Seiende, primär Anschauung ist. Heidegger folgt hier dem phänomenologischen Intuitionismus. Innerhalb seines eigenen Ansatzes von Sein und Zeit bezieht sich die verstehende Auslegung zunächst und zumeist auf Zuhandenes, und alle Auslegung von sich in dieser Weise Zeigendem gründet nach Heidegger im ursprünglichen Sich-Verhalten des Daseins als In-der-Welt-Seins. In den delotischen Aussagen oder Logoi, die vorhandenes und gegebenes Seiende auslegen, realisiert sich freilich nur traditionelles Seinsverstehen des Daseins als theoretisches Erkennen. Heidegger bleibt in seiner Platon-Deutung und –Weiterführung auf dem Boden der überlieferten Ontologie der Vorhandenheit, die nach seiner Auffassung eigentlich abkünftig ist. Solches Verstehen von vorhandenem Seienden, das sich in delotischen Aussagen artikuliert, gründet in ontologischem Verstehen von Grundbestimmungen des Seinssinns des vorhandenen Seienden überhaupt; und diese werden als Bestimmungen des generell sich von sich her zeigenden Seienden – in Aufnahme Platons – in dialektischem Zusammenhang entwickelt. Solche Dialektik hat zu ihren Elementen Logoi. Sie ist fundiert im ontologischen, phänomenologischhermeneutisch charakterisierten Seinsverstehen des Daseins überhaupt, das darin zugleich horizonthaft ein Selbstverständnis mit gegenwärtig hat, d.h. im konkreten, nämlich in der Welt seienden, zugleich Seins- und Selbstverständnis grundlegend ausbildenden Subjekt. Ontologie und Dialektik gründen also in solcher konkreten endlichen Subjektivität. Schluß: So haben sich drei grundlegende Modelle ontologischer Dialektik gezeigt, erstens die Platonische Ideendialektik, die innerhalb der ersten reinen Ontologie das Verhältnis der obersten, nicht aus höheren Bestimmungen ableitbaren Gattungen widerspruchsfrei durch Teilhabe und wechselseitige Erhellung bestimmt, zweitens die spekulative Dialektik Hegels, die aus Gründen des metaphysischen Begreifens der absoluten Identität den Widerspruch begeht, den Platon gerade vermeidet, und die die methodische Explikation einer idealistischen Ontologie darstellt, nach der die Grundbestimmungen des Seienden nicht als ewig vorliegende betrachtet, sondern allererst im Zusammenhang spontan konstituiert werden von der sich in diesen Bestimmungen selbst denkenden Subjektivität, die Hegel als absolute konzipiert, und drittens die phänomenologisch-hermeneutische Dialektik, die sich im Ansatz aus Heideggers Sophistes-Weiterführung ergibt und in der die obersten ontologischen Gattungen und deren Verhältnisse als Gründe aufdeckender, delotischer Logoi im Zusammenhang entwickelt werden; solche Dialektik ist fundiert in einem Seinsverständnis ausbildenden, in der Welt seienden Dasein als konkreter endlicher Subjektivität. Jeder dieser klassischen Lösungen muß der Grundcharakter eines auch heute noch bedeutsamen Problems erhalten bleiben. Da das Problem der Dialektik als Methode einer reinen Ontologie hochkomplex ist, kann es keine einfachen, unmittelbaren Auflösungen geben. Als Voraussetzung muß zunächst das Ver-
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hältnis von Logik und Ontologie geklärt werden; und hierbei gilt es, der formalen Logik und den formalen Logik-Kalkülen – anders als es in jenen klassischen Theorien geschieht – systematische Eigenständigkeit zuzuerkennen. Ein Übergang zur Ontologie wird möglich, wenn solche formalen Kalküle auf logisch wahrheitswertdefinite Aussagen restringiert werden und daraufhin das Verhältnis logisch wahrer Aussagen zu ontologischen Grundbestimmungen des Seienden im allgemeinsten Sinne bestimmt wird. Jene ontologischen Grundbestimmungen werden als je ursprüngliche verbunden, wie es schon bei Platon und auch bei Hegel konzipiert war, ohne daß eine in der anderen analytisch enthalten ist, d.h. – wie man präzisieren könnte – in synthetischen Urteilen a priori. Voraussetzung für sie und ihre Zusammenhänge ist, daß sie alle im reinen Denken enthalten sind, das in ihnen, in ihrer Gültigkeit und in der Überprüfung ihrer Gültigkeit sich rein auf sich bezieht, das aber – wenn dies als These hinzugefügt werden mag – weil es nicht kreativ ist und weil es nicht als solches, nämlich rein als Denken schon reales Seiende erkennt, nur endlicher Subjektivität zukommt. Der geregelte genetische Übergang von einer ontologischen Gedankenbestimmung zur anderen innerhalb solcher synthetischen Urteile a priori im reinen, letztlich selbstbezüglichen Denken aber dürfte dann dialektisch sein; und hierzu läßt sich vieles aus Platon und Hegel, auch aus Heidegger lernen.
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Antinomie und Dialektik Endlichkeit und Unendlichkeit in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre Die Metaphysik ist im Laufe ihrer langen Geschichte bis heute in sehr verschiedenartigen Gestalten aufgetreten; dementsprechend vielgestaltig war auch die jeweilige Metaphysikkritik. Immer aber ging die Metaphysik in einer bestimmten Gestalt solcher Kritik voraus und prägte in ihren besonderen Argumentationen und Einsichten die Form der Kritik an ihr vor. Daher gilt es zuerst, in die Vielfalt der metaphysischen Ansätze so weit wie möglich eine grundlegende typologische Anordnung zu bringen. Eine Grundform der Metaphysik besteht in der Theorie eines einzigen höchsten Prinzips alles Seienden, von dem aus das Seiende begriffen wird; dies Prinzip wird mehrfach als das ‘Absolute’ bezeichnet. Innerhalb dieser Grundform lassen sich nun drei generelle Typen, das Absolute zu erfassen, unterscheiden. Das Absolute kann zum einen grundlegend als das Gute und Vollendete begriffen werden, das alles endliche Seiende bestimmt, demgegenüber aber das so bestimmte Seiende defizient bleibt. Das Absolute kann zum anderen als das vollkommen transzendente, unbegreifbare, ja unaussagbare ursprüngliche Eine konzipiert werden, das jenseits alles bestimmten und damit endlichen Seienden liegt. Schließlich kann das Absolute als das Unendliche gedacht werden, das als Allumfassendes nicht dem Endlichen gegenübersteht, sondern alles Endliche in sich begreift; diesen dritten Grundtypus vertritt in exemplarischer Weise Hegels Theorie. Jene Grundtypen der Metaphysik des Absoluten unterscheiden sich hinsichtlich ihres primären Konzepts des Absoluten; setzt man dies jeweils als Fundament voraus, so können durchaus andere Bestimmungen des Absoluten, z.B. Leben oder Geist, hinzutreten, wie sich ebenfalls signifikant an Hegels Philosophie zeigen läßt. Gerade hinsichtlich des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen aber muß Hegel sich mit einer vorangehenden prominenten Theorie auseinandersetzen, die seine eigene Konzeption des Absoluten unmöglich zu machen droht, nämlich mit Kants Lehre von den kosmologischen Antinomien und ihrer Auflösung. Diese enthalten, gegliedert nach kategorialen Reihen, jeweils die gleichberechtigten, aber entgegengesetzten Behauptungen über Endlichkeit oder Unendlichkeit des räumlich-zeitlichen Weltmannigfaltigen. Eine solche Antithetik der kosmologischen Ideen ist für Kant ein Skandal; sie zeigt nach seiner Auffassung ganz offenkundig den unhaltbaren Zustand der Metaphysik; schon Kants Darstellung dieser Positionen der Metaphysik ist Metaphysikkritik – noch vor der Darlegung der erkenntniskritischen Auflösung der Antinomien. Soll Hegels Konzeption des Absoluten als des Unendlichen, das alles Endliche in sich enthält, gegenüber dieser gestaffelten metaphysikkritischen Konzeption Kants Bestand haben können, so muß die Aufstellung der Anti-
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nomien anders begründet werden und die Auflösung eine höhere Einheit des Unendlichen und des Endlichen aufzeigen können. – So soll nun in einem ersten Teil die Entwicklungsgeschichte von Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre und die Entstehung von Hegels erster Konzeption einer noch negativ bleibenden Dialektik in Aufnahme dieser Kantischen Antinomien skizziert werden. Ein zweiter Teil soll Kants erste kosmologische Antinomie, ein dritter Teil Hegels detaillierte Stellungnahme dazu in der Wissenschaft der Logik darlegen. Ein vierter Teil gilt Kants zweiter kosmologischer Antinomie und ein fünfter Hegels detaillierter Kritik an ihr ebenfalls in der Wissenschaft der Logik. Dabei sollen sich, wie der „Schluß“ resümiert, die Eigenart von Hegels Metaphysikkritik gegenüber derjenigen Kants, die Bedeutung der Kantischen Antinomienlehre auch für Hegels spätere Dialektik und Hegels Konzeption des Absoluten als des wahren Unendlichen, aber auch seiner darüber hinausführenden Bestimmungen zeigen.
1. Antinomie und Dialektik in Hegels Denkentwicklung Die erste selbständige Konzeption von „Antinomie“ findet sich in einem Fragment Hegels von Ende 1797 oder Anfang 1798, dem der Herausgeber Hermann Nohl den Titel: Glauben und Sein gab.1 Hegel geht hier von Kants Antinomie-Auffassung in der Kritik der reinen Vernunft aus, in der dieser den juristischen Terminus: „Antinomie“ als Entgegensetzung gleichberechtigter juridischer Sätze auf die Entgegensetzung kosmologischer Ideen in Thesen und Antithesen übertrug. Für Hegel bedeutet „Antinomie“ jedoch nicht mehr Entgegensetzung von Sätzen, sondern von Begriffen, auch schon vornehmlich von reinen Begriffen der endlichen Reflexion, was er später ausführt. Von Kant weicht er ferner mit dem Entwurf einer der Entgegensetzung vorausgehenden Beziehung und Einheit ab; auch dies führt er später fort. Doch wird, was spezifisch zu seiner damaligen frühidealistischen Konzeption gehört, die Entgegensetzung wesentlich als Zerrissenheit gefühlt; und die vorausgehende Einheit ist als das Sein und Leben nicht adäquat begrifflich zu erkennen; sie kann in der Vorstellung nur geglaubt bzw. in ihrer unmittelbaren Präsenz im Menschen als Liebe gefühlt werden. Doch ändert sich mit Hegels neuer Konzeption der Metaphysik als vollständiger, vernünftiger Erkenntnis des Absoluten von 1801 an dieser Charakter des Verhältnisses von Entgegensetzung und Einheit. In Glauben und Wissen (1802) erörtert Hegel im Rahmen seiner neuen Metaphysik ausdrücklich 1
Vgl. Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. Von H. Nohl. Tübingen 1907, Nachdruck Frankfurt a.M. 1966. 382 ff. Hegel hatte spätestens mit seinem Manuskript über Psychologie und Transzendentalphilosophie (1794), vermutlich der Abschrift einer Nachschrift von Flatts Vorlesung über dieses Thema in Tübingen, Kenntnis von Kants Antinomienlehre, vgl. Hegel: Gesammelte Werke (= GW). Bd. 1. Hrsg. von F. Nicolin und G. Schüler. Hamburg 1989. 190ff.
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1. ANTINOMIE UND DIALEKTIK IN HEGELS DENKENTWICKLUNG
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Kants Antinomien,2 vernachlässigt allerdings ihren kosmologischen Gehalt und hebt aus ihnen die Entgegensetzung reiner Begriffe der endlichen Reflexion hervor. Dabei hat er offensichtlich den Ansatz seiner frühen Logik (1801/02) vor Augen,3 in der reine logische und kategoriale Bestimmungen der endlichen Reflexion oder des endlichen Verstandesdenkens in Antinomien, nämlich in Entgegensetzungen systematisch aufgestellt werden. Solche Entgegensetzung nach dem Vorbild der Kantischen Antinomien und ebenso nach dem Vorbild der Hypotheseis im zweiten Teil des Platonischen Parmenides ist offenbar gemeint, wenn Hegel in dieser Zeit von „Dialektik“4 spricht. Diese ist für ihn also nicht wie für Kant Logik des Scheins und der Fehlschlüsse, sondern Aufstellung notwendiger Entgegensetzungen endlicher reiner Begriffe der Reflexion; und sie stellen als besondere Bestimmungen der Reflexion unvermeidlich deren Widersprüche dar. Der Anspruch aber dieser endlichen Bestimmungen auf selbständige Gültigkeit wird nach dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der gerade für sie gilt, aufgehoben. Solche Ungültigkeit und Nichtigkeit der endlichen Bestimmungen in der negativ bleibenden Dialektik ist nun für Hegel schon die negative Präsenz des Unendlichen im Endlichen; das Unendliche ist in dieser Nichtigkeit des Endlichen bereits in negativer Weise gegenwärtig. Die Antinomien der endlichen Reflexion beruhen somit auf einer höheren Einheit; diese gilt in Hegels neuer Metaphysik-Konzeption auch in ihren positiven Bestimmungen als vollständig erkennbar, nämlich durch eine Synthesis von intellektueller Anschauung, die Hegel dabei als für uns möglich voraussetzt, und Reflexion, und zwar in der Spekulation. Die Antinomie oder die negative Dialektik endlicher Bestimmungen hebt sich nach Hegel in dieser durch Spekulation positiv erkennbaren höheren Einheit, die letztlich das wahre Unendliche und Absolute ist, selbst auf.5 In dem folgenden Jenaer Systementwurf von 1804/05 beseitigt Hegel jenen Dualismus der Erkenntnisquellen von intellektueller Anschauung und Reflexion zugunsten einer einheitlichen Vernunfterkenntnis. Dadurch wird die Konzep2
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Vgl. GW 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 337f. Vgl. dazu kritisch M. Baum: Die Entstehung von Hegels Dialektik. Bonn 21989, 210 ff, positiver insbesondere E. Berti: Contraddizione e dialettica negli antichi e nei moderni. Palermo 1987, bes. 186 ff, 218 f. Vgl. dazu Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I.P.V. Troxler. Hrsg., eingeleitet und mit Interpretationen versehen von K. Düsing. Köln 1988, bes. 63-77, zur Interpretation auch 157-178. Vgl. a.a.O. 63, 70, zur Interpretation 159 f, 171 f, vgl. bes. GW 4, 446, auch GW 5. Hrsg. von M. Baum und K.R. Meist unter Mitarbeit von Th. Ebert (Verfasser des Anhangs K.R. Meist). Hamburg 1998, 310. Zu Antinomie und Identität in der frühen Jenaer Zeit vgl. L. Lugarini: Orizzonti hegeliani di comprensione dell’ essere. Rileggendo la „Scienza della logica“. Napoli – Milano 1998, 49-63. Zur ausführlicheren Darlegung dieser Zusammenhänge vgl. R. Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. In: Hegel-Studien. Beiheft 45. Hamburg 2001, bes. 1-90. Ferner möge der Hinweis auf die Schrift des Verfassers erlaubt sein: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 31995, bes. 76-108, auch 389 ff (zu neuerer Literatur).
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tion einer spekulativen Dialektik möglich, die nicht mehr auf die negativ bleibende Dialektik, nämlich Antinomik endlicher Bestimmungen der Reflexion und deren Sphäre beschränkt bleibt; nunmehr erlaubt es ein und derselbe methodische Durchgang, von der Entgegensetzung endlicher Bestimmungen zur höheren Einheit fortzuschreiten. Damit aber verändert sich erneut Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre. In den Nürnberger Schullogiken nimmt Hegel, was hier nur erwähnt sei, mehrmals zu dieser Lehre Stellung, z.T. ohne genaue Integration in seine eigene, nunmehr metaphysische Logik, womit er offenbar pädagogischen Rücksichten folgt;6 er betrachtet sie dort als eine ontologische, nicht kosmologische Lehre der Entgegensetzung des Endlichen und des schlechten Unendlichen. Die eigentliche Stellungnahme des späteren und späten Hegel zu Kants Antinomienlehre aber enthält die Wissenschaft der Logik (1812ff, 1831/32); Hegel bezieht sich mehrfach generell darauf und erörtert im Detail in der Seinslogik die erste und die zweite Antinomie; in der Begriffslogik skizziert er die dritte Antinomie und fügt die Antinomie der teleologischen Urteilskraft hinzu; in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie streift er auch die vierte Antinomie.7 Generell rühmt Hegel mehrfach, daß Kant gerade in seiner Antinomienlehre „die Dialektik wieder als der Vernunft notwendig anerkannt“8 habe. Auch der späte Hegel hebt diese Lehre, die die Präfiguration seiner eigenen frühen Dialektik bildet, als berechtigtes Moment in der entwickelten spekulativen Dialektik hervor. Diese Kantische Antinomienlehre war es, die nach Hegel „vornehmlich ... den Sturz der vorhergehenden Metaphysik bewirkte“.9 Hegel akzeptiert also die Metaphysikkritik in Kants Darstellung des Widerstreits gleichberechtigter kosmologischer Ideen. Doch bedeutet für Hegel diese Antinomik nicht wie für Kant, daß sich die Metaphysik als Wissenschaft deshalb in einem unhaltbaren Zustand befinde, sondern daß die vormalige Metaphysik vor allem undialektisch verfahren sei und daß man die Antinomik und damit die negative Dialektik reiner Kategorien in ihr erst eigens entwickeln müsse. 6
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Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 4, 93-102, 184-192. Die Behandlung der Kantischen Antinomien war im Bayerischen ‘Normativ’, einer Art Lehrplan, vorgesehen. Zur Erörterung der Antinomien in den Nürnberger Schullogiken sei der Hinweis auf die Skizze des Verfs. gestattet: „Hegels Metaphysikkritik, dargestellt am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre“. In: Denken unterwegs. Festschrift für H. Kimmerle zum 60. Geburtstag. Amsterdam 1990, 109-125, bes. 113 f. In diesem Aufsatz wird im Detail nur Kants erste Antinomie und Hegels Stellungnahme dazu untersucht. GW 11. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 113 ff, 147 ff; GW 21. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1985, 179 ff, 228 ff; GW 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 157 f; Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). Bd. 20, 357 f; vgl. zur vierten Antinomie auch in der Logik für die Mittelklasse (1810/11), a.a.O. Bd. 4, 190 ff. GW 12, 242. Vgl. GW 11, 26/GW 21, 40 (die Zitate werden in Orthographie und Interpunktion normalisiert). GW 11, 114/GW 21, 179 f.
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1. ANTINOMIE UND DIALEKTIK IN HEGELS DENKENTWICKLUNG
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Deshalb bilden gerade die Antinomien für Hegel den „Hauptübergang“ in die „neuere“, nämlich letztlich seine eigene spekulative Philosophie, weil sie die „Nichtigkeit der Kategorien der Endlichkeit“ inhaltlich aufzeigen, „was ein richtigerer Weg ist als der formelle eines subjektiven Idealismus“.10 Der subjektive Idealismus in Kants Erkenntniskritik und in Fichtes frühen „Wissenschaftslehren“ begründet die Kategorien nur formell im reinen, endlichen ‘Ich denke’, dem ein Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung oder ein Nicht-Ich gegenüber stehen bleibt. Die Kategorien werden damit nach Hegel nicht in ihrem ontologischen Inhalt und nicht dialektisch aus dem Prinzip des reinen Denkens entwickelt. Offensichtlich hat Hegel mit dem Erweis der „Nichtigkeit der Kategorien der Endlichkeit“, den er Kants Antinomien zuweist, seine eigene frühe Logik und ihre negative Dialektik vor Augen; denn sie zeigt inhaltlich in dieser „Nichtigkeit“ der endlichen Kategorien die negative Anwesenheit des Unendlichen auf und eröffnet damit den Weg zur spekulativen Erkenntnis auch der positiven Bestimmungen des Unendlichen. Was sich schon in dem Frankfurter Fragment über Glauben und Sein sowie in der Jenaer Abhandlung: Glauben und Wissen andeutete, wird hier fortgeführt: die Kantischen Antinomien sind für Hegel erstens nicht Entgegensetzungen von Sätzen, sondern von Begriffen; zweitens sind für Hegel diese Entgegensetzungen nicht von kosmologischer, sondern von rein kategorialer oder ontologischer Bedeutung. Beides fügt er, wie sich noch zeigen wird, in der Wissenschaft der Logik in die Konzeption einer eigenen, entschieden von Kant abweichenden Metaphysikkritik ein. Bei allem Lob dafür, daß Kant mit seiner Antinomienlehre die Dialektik wieder als der Vernunft notwendig zugehörig erwiesen habe, erhebt Hegel gegen diese Lehre Kants drei generelle Vorwürfe: Erstens habe Kant nur vier Antinomien aufgestellt; man müsse Antinomien aber an allen reinen Gedankenbestimmungen als Dialektik des Endlichen aufzeigen; der antike philosophische Skeptizismus oder auch Zenon von Elea mit seinen Paradoxien,11 den Aristoteles deshalb als „Erfinder der Dialektik“ bezeichnet, haben nach Hegel schon inhaltlich reichhaltiger derartige Antinomien aufgestellt; dies gilt erst recht für das große Vorbild eines solchen echt philosophischen Skeptizismus, wie Hegel es im Skeptizismus-Aufsatz vorstellt, nämlich für Platons Parmenides, den er damit negativ deutet.12 Zweitens bleibe Kant – ebenso wie jene antiken Theorien – bei der nur negativen Dialektik stehen. Speziell Kant sucht zwar eine Position, die darüber hinausführt, in der Auflösung der Antinomien; er gelangt aber nach Hegel zu einer bloß subjektiv-idealistischen Auflösung, 10
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GW 21, 180 (die letzten beiden Anführungen sind Ergänzungen der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik). Vgl. GW 21, 180 (nur in der zweiten Auflage); vgl. GW 11, 120/GW 21, 187; vgl. Hegels Schreiben an Niethammer vom 23.10.1812 in Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). Bd. 4, 414, vgl. auch 407. – Zum folgenden Aristoteles-Zitat vgl. Aristotelis fragmenta selecta. Hrsg. von D.W. Ross. Oxford 1955, 15. Vgl. GW 4, 207; vgl. auch GW 11, 26/GW 21, 40.
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ANTINOMIE UND DIALEKTIK
die die Welt vom Widerspruch befreie und ihn in den menschlichen subjektiven Geist zurücknehme; Kants Erkenntniskritik und deren Berechtigung als Grundlage der Auflösung der Antinomien untersucht Hegel dabei nicht. Aus diesem zweiten ergibt sich von selbst der dritte Vorwurf, daß Kant in der Antinomienlehre nicht zu der „positiven Seite“ der höheren Einheit vordringe, daß er die Entgegensetzungen des Endlichen und des Unendlichen nicht bis zur Erkenntnis des wahren Unendlichen und Vernünftigen fortführe, obwohl gerade das Vernünftige doch das Unendliche sei;13 solche Erkenntnis des wahren Unendlichen ist freilich wiederum mit Kants Erkenntniskritik schwerlich vereinbar. Hierin wird das Motiv auch des späten Hegel für eine intensive Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre deutlich; die vier Kantischen Antinomien bilden Weisen der Entgegensetzung des Endlichen und des Unendlichen. Kants darin enthaltene Metaphysikkritik muß nun nach Hegel spekulativ überwunden werden, indem jene Entgegensetzungen als Weisen negativer Dialektik gedeutet werden, die Kants eigene Auflösung nur subjektiv mache, über die man aber hinausgelangen müsse zur spekulativ-dialektischen Erkenntnis des wahren Unendlichen als der höheren Einheit. Es ist leicht zu sehen, daß diese Erkenntnis selbst metaphysisch sein muß. Diese Rezeption und Kritik der Kantischen Antinomienlehre stellt Hegel in den Gesamtkontext seiner eigenen Konzeption von Metaphysikkritik; deren positive Folie bleibt immer die von ihm geforderte spekulative Erkenntnis des wahren Unendlichen. Wie nun diese Metaphysikkritik zur Kantischen speziell in der Antinomienlehre steht und wie die Erkenntnis des wahren Unendlichen in seinen Bedeutungsdifferenzierungen im Detail zustande kommen soll, wird sich in den folgenden Einzeluntersuchungen zu Kants erster und zweiter Antinomie und zu deren ausführlicher und detaillierter Kritik und Weiterführung in Hegels Wissenschaft der Logik zeigen.
2. Kants erste kosmologische Antinomie Die kosmologischen Ideen der Metaphysik sind für Kant Weisen der Vorstellung des ganzen Weltmannigfaltigen in Raum und Zeit. Dies kann nach Kant in vier grundlegend kategorial bestimmten Reihen nach den vier Titeln der Kategoriengruppen vorgestellt werden. Die Antinomie entsteht jeweils dadurch, daß das Unbedingte einer solchen Reihe entweder als endlich und bestimmt durch ein erstes Glied oder aber als das Unendliche der ganzen Reihe selbst angesehen wird. Die erste Antinomie betrachtet nun das räumlichzeitliche Weltganze kategorial quantitativ, d.h. der Größe nach. Entweder ist die Welt als das Ganze des Mannigfaltigen in Raum und Zeit hinsichtlich ihrer Größe begrenzt und hat einen zeitlichen Anfang und eine räumliche Grenze, wie die Thesis erklärt, oder sie ist der Größe nach räumlich und zeitlich un13
Vgl. GW 11, 27/GW 21, 40.
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2. KANTS ERSTE ANTINOMIE
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endlich, wie die Antithesis behauptet.14 Beide Behauptungen werden nach Kant mit gleicher Berechtigung bewiesen, und zwar apagogisch oder indirekt, d.h. durch Widerlegung des Gegenteils nach dem Satz vom Widerspruch. Hierbei werden in Thesis und Antithesis räumliche und zeitliche Endlichkeit bzw. Unendlichkeit jeweils einander entgegengesetzt; nicht in dieses Schema paßt z.B. Aristoteles’ Auffassung von der räumlichen Endlichkeit, aber zeitlichen Unendlichkeit bzw. Ewigkeit des Weltganzen. Die Thesis beweist Kant nun dadurch, daß er die Annahme der quantitativen Unendlichkeit des räumlich-zeitlichen Weltganzen widerlegt. Dann müßte nämlich 1. in der sukzessiven Synthesis der Ereignisse und Zustände des zeitlichen Weltmannigfaltigen eine unendliche Reihe bis zum gegenwärtigen Jetztpunkt abgelaufen sein. 2. Ein gleichartiges Argument gilt für den Raum; wäre der Weltraum als die Ordnung des gleichzeitig Existierenden, was eine Zeitbestimmung enthält, unendlich, dann müßte in der Durchzählung aller Teilräume eine unendliche Synthesis bis zum Jetztpunkt abgelaufen sein. Da dies aber unmöglich, nämlich widersprüchlich sei, sei das Weltganze in Raum und Zeit endlich. Die Schwierigkeiten dieses Beweises, der hier nur skizziert wurde, liegen, ganz unabhängig von formallogischen Problemen ebenso wie von Hegels Kritik, auf der Hand. Zum einen läßt sich sehr wohl eine Reihe denken, die, wie in geometrischer Vorstellung ein Strahl, nach einer Seite, z.B. im Jetztpunkt begrenzt, nach der anderen Seite aber unendlich offen ist. Zum anderen ist der in der sukzessiven Synthesis erreichte Jetztpunkt ja nicht die absolute Grenze der Welt, sondern nur Durchgangspunkt zu einer zukünftigen Zeitreihe. Die Frage eines zukünftigen Weltendes oder Immerwährendseins der Welt, die durchaus eine kosmologische Frage ist, läßt Kant hier offen, da es ihm nur auf die regressive Synthesis hinsichtlich vergangener Weltzustände ankommt. – Das Argument gewinnt jedoch an Evidenz, wenn man die Anisotropie der Zeit hinzunimmt, die letztlich auf physikalischer Kausalität beruht; im Beweis für die Antithesis nimmt Kant ausdrücklich die Kausalität in die Argumentation auf. Dann ergibt sich der gegenwärtige Weltzustand nicht nur sukzessiv, sondern auch kausal aus vorherigen Ereignissen, und es entsteht wie in der dritten Antinomie die Frage nach dem letzten zureichenden Grund. Dieser kann nach 14
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von R. Schmidt. Leipzig 21930. Nachdruck Hamburg 1960, B (21787) 454-461. Vgl. hierzu z.B. J. Ebbinghaus’ apologetische Darstellung: „Kants Beweis von der Anfangslosigkeit der Welt in der ersten Antinomie“. In: Mélanges Joseph Maréchal. 2 Bde. Brüssel/Paris 1950. Bd. 2, 396-407. Vgl. den einführenden Kommentar von H. Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. T. 2. Berlin 1967, 220-227, 321-323; zu den historischen Hintergründen vgl. ders.: „Zeitliche Weltunendlichkeit und das Problem des Anfangs. Eine Studie zur Vorgeschichte von Kants Erster Antinomie“. In ders.: Studien zur Philosophiegeschichte. Köln 1961, 269-292. Zur Ausbildung der kosmologischen Antinomien bei Kant und zur Rekonstruktion der logischen Argumentation der ersten Antinomie vgl. B. Falkenburg: Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2000, 135-175, 218-227.
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ANTINOMIE UND DIALEKTIK
dem dortigen Beweis für die Thesis nur in einer ersten Ursache liegen, die, übertragen auf die erste Antinomie, den zeitlichen Anfang der Welt herbeiführt. Bei der so ergänzten Argumentation wird freilich die kategoriale Gliederung der Antinomien aufgeweicht; in der ersten Antinomie bleibt dann die Quantität nur primäre, aber nicht alleinige Hinsicht der Betrachtung des Weltganzen. Der Beweis für die Antithesis sucht die Behauptung der Thesis, die Welt sei in Raum und Zeit begrenzt, zu widerlegen. Wäre sie zeitlich endlich, so ginge ihrem Anfang eine leere, absolute Zeit voraus, in der es keinen unterscheidenden Grund dafür gäbe, daß die Welt eher zu diesem als zu jenem Zeitpunkt entstünde; hier bezieht Kant, wie oben angedeutet, die Kausalität in die Argumentation ein. Wäre ferner die Welt räumlich begrenzt, so hätte das reale Weltmannigfaltige nicht nur untereinander, sondern auch zum leeren absoluten Raum, d.h. zu einem räumlichen Nichts ein reales Verhältnis. Beides aber ist unbegründet; und daher ist das räumlich-zeitliche Weltganze nicht endlich, sondern unendlich. Im Hintergrund dieser Argumentation steht die Auseinandersetzung zwischen Leibniz, der die Position der Antithesis vertritt, und dem Newtonianer Clarke, der die Position der Thesis einnimmt. Leibniz wendet ein, daß ein begrenztes Universum im absoluten Raum und in der absoluten Zeit umherwandern könne und keine begründete Stelle habe. Er lehnt damit zugleich Newtons Lehre von der Realität des absoluten Raums und der absoluten Zeit ab und optiert nur für empirische Vorstellungen von Raum und Zeit. Kant weist wie Leibniz die Theorie der Realität von absolutem Raum und absoluter Zeit zurück, ohne doch den Empirismus in der Raum-Zeit-Lehre zu übernehmen. Obwohl die Antinomien und ihre Beweise eigentlich nur metaphysische Positionen schildern sollen, fügt Kant in der Anmerkung zur Antithesis seine eigene Lehre von der apriorischen, aber bloß subjektiven formalen Anschauung des Raumes hinzu.15 Als Ermöglichungsgrund zu eindeutiger Bestimmung von sonst bloß relativ bleibender Bewegung nimmt Kant die „Idee“ eines absoluten Raumes als reiner Anschauung an, aber nicht dessen Realität. Hinzugefügt sei, daß für Kant der dreidimensionale euklidische Raum der Weltraum ist, da seine Theorie zeitlich vor der Lehre von gekrümmten Räumen, vor der Lehre vom vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum und vor der Relativitätstheorie liegt. Seine eigene wissenschaftsgeschichtlich hochbedeutsame frühere Kosmologie in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels mit der
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Vgl. B 457 Anm. Zu diesen Raumtheorien sei in Auswahl verwiesen auf E. Cassirer: „Newton und Leibniz“. In ders.: Philosophie und exakte Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1969, 132164; Fr. Kaulbach: Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant. In: Kant-Studien. Ergänzungsheft 79. Köln 1960; U. Rameil: Raum und Außenwelt. Interpretationen zu Kants kritischem Idealismus. Diss. Köln 1977, bes. 1-41, zu innerem und äußerem Sinn in Kants späterer Theorie D. Heidemann: „Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus“. In: KantStudien. Ergänzungsheft 131. Berlin 1998, bes. 214-232.
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3. HEGELS KRITIK AN KANTS ERSTER ANTINOMIE
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sogenannten Kant-Laplaceschen Weltentstehungstheorie steht freilich dieser Position der Antithesis nahe. Kant unterscheidet in diesen Argumentationen mehrere Unendlichkeitsbegriffe. Er geht nicht von dem widersprüchlichen Begriff des Unendlichen als eines quantitativen Maximum aus, sondern legt den „mathematischen“ Begriff des Unendlichen als einer „Menge ..., die größer ist als alle Zahl“, zugrunde.16 Dies weist die Thesis für den Weltraum und die Weltzeit zurück, während die Antithesis die quantitative aktuale Unendlichkeit der Welt behauptet. – Kants Auflösung zeigt, daß beide kosmologischen Aussagen mehr behaupten, als wir wissen können. Für unsere Erkenntnis erreichbar ist nur die quantitative sukzessive Synthesis des Verstandes, die Räumliches und Zeitliches als bloße Erscheinungen, d.h. unsere sinnlichen Anschauungen zusammenfaßt, und zwar in indefinitum; ob die Welt selbst – auch unabhängig von dieser Synthesis unserer Anschauungen – endlich oder unendlich ist, bleibt dadurch gänzlich unausgemacht. Diese Auflösung läßt den Widerspruch nicht im subjektiven Vorstellen bestehen, wie Hegel meint, sondern löst ihn auf. Der darin verwendete Unendlichkeitsbegriff kongruiert mit dem „transzendentalen“ Begriff der Unendlichkeit als der Unvollendbarkeit der quantitativen sukzessiven Synthesis;17 das auf diese Weise gemäß der Auflösung in indefinitum zu Synthetisierende, nämlich unser subjektives Anschauungsmannigfaltiges in Raum und Zeit, wird dabei als potentiell Unendliches gedacht.
3. Hegels Kritik an Kants erster kosmologischer Antinomie Hegel setzt sich detailliert und kritisch mit der Kantischen Darstellung und Auflösung speziell der ersten und der zweiten kosmologischen Antinomie in der Wissenschaft der Logik auseinander; die zweite Auflage dieses Werks bringt hierin zur ersten Auflage noch einige Ergänzungen hinzu. Hegel kritisiert vor allem, daß Kants Beweise verschroben und im Grunde überflüssig seien. Die verschrobenen Beweise hielt Kant nach Hegel deshalb für nötig, weil ihm der eigentliche Grund der Entgegensetzungen offenbar nicht klar war; er verhüllte sie in konkrete Vorstellungssubstrate wie das räumlichzeitliche Weltmannigfaltige; in Wahrheit zeigen sie sich nach Hegel an der Struktur von Raum und Zeit selbst, ja sie erweisen sich grundlegend als dialektische Bestimmungen einzelner Kategorien. Auf dieser Basis kritisiert Hegel hinsichtlich der ersten Antinomie die Thesis-Beweise, die Zeit und Raum des Weltganzen betreffen und dieses als end-
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Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 460 Anm. Vgl. ebd.; Kant fügt diesen Begriff schon in die Explikation des Thesisbeweises ein, ohne daß er das Thesis-Argument, eine unendliche Reihe könne nicht in einem Jetztpunkt abgelaufen sein, hinreichend unterstützte.
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ANTINOMIE UND DIALEKTIK
lich oder begrenzt ansehen.18 Den Beweis für die Endlichkeit des Raumes führt er auf den Beweis für die Endlichkeit der Zeit zurück, da in beiden dasselbe Argument der Unvollendbarkeit einer sukzessiven Synthesis ins Unendliche vorgebracht werde, die daher nicht in einem Jetzt vollendet sein könne. Hegel beachtet dabei den apagogischen Charakter der Beweisführungen und der darin verwendeten Aussagen nicht. Er ist der Auffassung, der Beweis wiederhole im Grunde nur die Thesis, daß in einer sukzessiven Zeitreihe ein Jetztpunkt als Grenze gesetzt werde; ob dieses Jetzt Anfang einer ihm folgenden Reihe oder Ende einer vergangenen Reihe und Durchgangspunkt für eine folgende Reihe bedeute, sei gleichgültig. In der Kosmologie ist dieser Unterschied höchst bedeutungsvoll; aber von ihr sieht Hegel gerade ab. In der Zeit als solcher, sofern sie quantitativ verstanden wird, gibt es keine qualitativen Grenzen, die einen qualitativen Anfang oder Abbruch einer Reihe bedeuteten, sondern nur quantitative Grenzen, die Gleichartiges voneinander trennen. So ist das Jetzt nur, wie schon Aristoteles sagte, Grenze zwischen einem zeitlichen Früher und einem zeitlichen Später, die jeweils gleichförmige Phasen im Nacheinander sind. Die Zeit ist, wird sie nur quantitativ gefaßt, eine nivellierte Folge von Phasen, in denen Jetzt-Punkte gesetzt und wieder überschritten werden. Der eigentliche Grund dieser Auffassung von Zeit ist nach Hegel die kategoriale Setzung einer quantitativen Grenze in einem Kontinuum, das zugleich wieder die Aufhebung dieser Grenze notwendig macht. Auch den Beweis für die Antithesis hält Hegel für überflüssig; er wiederhole im Grunde nur deren Behauptung. Hierfür muß Hegel, selbst wenn er nun gelegentlich vom „Dasein“ oder „weltlichen Dasein“19 spricht, den spezifisch kosmologischen Gehalt vernachlässigen. Ebenso spielt für ihn auch hier die 18
19
Vgl. GW 11, 147-150/GW 21, 228-232. Sehr kritisch beurteilt Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre M. Gueroult: „Hegels Urteil über die Antithetik der reinen Vernunft“. Übers. von M. Schwab. In: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg. von R.-P. Horstmann. Frankfurt a.M. 1978, 261-291 (zuerst ders.: „Le jugement de Hegel sur l’antithétique de la raison pure“. In: Études sur Hegel. Paris 1931, 137-163. Stärker geht auf Hegel ein F. Bosio: “Le antinomie kantiane della totalità cosmologica e la loro critica in Hegel”. In: Il Pensiero 9 (1964), 39-104. Hegels Einwände gegen Kant kritisiert unter gleichzeitiger Beachtung von Hegels Theorie G. Maluschke: „Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 13. Bonn 1974, bes. 126-145; vgl. ebenso die Kritik an Hegel unter Würdigung seiner Theorie bei G. Funke: „La théorie des antinomies dans la critique de Kant par Hegel“. In: Les Études philosophiques (1981), 413-428, sowie bei A. Stanguennec: Hegel critique de Kant. Paris 1985, bes. 151-165, und bei K. Ameriks: „Hegel’s Critique of Kant’s Theoretical Philosophy“. In: Philosophy and Phenomenological Research 46 (1985/86), bes. 26 ff. Mehr an Hegel orientiert sind mit unterschiedlichen Nuancen die Darlegungen von F. Peddle: Thought and Being. Hegel’s Criticism of Kant’s System of Cosmological Ideas. Washington D.C. 1980, bes. 140-170, B. Burkhardt: Hegels Kritik an Kants theoretischer Philosophie, dargestellt und beurteilt an den Themen der metaphysica specialis. München 1989, bes. 150-180, und S. Sedgwick: “Hegel’s Strategy and Critique of Kant’s Mathematical Antinomies”. In: History of Philosophy Quarterly 8 (1991), 423-440. Erlaubt sei auch der Verweis auf die Darlegung des Verfs.: „Hegels Metaphysikkritik ...“ (s.o. Anm. 6), die speziell die erste Antinomie betrifft. GW 11, 149/GW 21, 231.
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3. HEGELS KRITIK AN KANTS ERSTER ANTINOMIE
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apagogische Beweisart keine Rolle. Deshalb nimmt er an, im Beweis für die Antithese gehe es nur – wie in dieser selbst – um die Setzung einer zeitlichen oder räumlichen Grenze in einem Jetzt oder in einem Raumpunkt und um ein Hinausgehen darüber. Hiermit greift er auf das Kantische Argument zurück, daß die Welt, wenn sie endlich wäre, sich mit ihrem zeitlichen Anfang auf eine vorangehende leere Zeit beziehen müßte, in der es keinen unterscheidenden Grund für eine Weltentstehung zu diesem oder zu jenem Zeitpunkt gäbe, und daß die Welt, wäre sie räumlich endlich, ein reales Verhältnis zu einem leeren Raum oder räumlichen Nichts haben müßte. Den kosmologisch entscheidenden Unterschied zwischen erfülltem Weltraum und leerem Raum, zwischen erfüllter Weltzeit und leerer Zeit nimmt Hegel nur begrifflich auf. Wenn es aber gerade auf die Struktur des Raumes und der Zeit selbst ankommt, dann wird hier in der Tat nur ein Jetzt und ein Raumpunkt gesetzt und jeweils darüber hinausgegangen; der Zeit- und der Raumpunkt „kontinuieren“ sich in ihr gleichartiges Anderes. Diesem Gedanken der Raum-Zeit-Struktur liegt auch unabhängig von Raum und Zeit rein kategorial der quantitative unendliche Progreß zugrunde. Dieser enthält die Dialektik der Setzung einer quantitativen Grenze in einem quantum continuum und der Aufhebung dieser Grenze, was sich faktisch auch schon in Hegels Auseinandersetzung mit der Thesis der ersten Antinomie zeigte. Auch Raum und Zeit sind nur konkrete Beispiele für diesen kategorialen Sachverhalt. – Hegel deutet also die erste Antinomie im Prinzip rein kategorial und erblickt in ihr die Dialektik von Setzung und Aufhebung der quantitativen Grenze sowie deren höhere, den Widerspruch bewahrende Einheit in der Kategorie des quantitativen unendlichen Progresses, worin eine potentielle quantitative Unendlichkeit gedacht wird.20 Diese Klärung und dieser Erkenntnisfortschritt aber wird erkauft mit der Abblendung der kosmologischen Grundprobleme. Die ganze Auseinandersetzung zwischen Leibniz und dem Newtonianer Clarke mitsamt der Kantischen Stellungnahme über Endlichkeit und Unendlichkeit des Universums und über die Theorie des absoluten Raumes und der absoluten Zeit sind in diesem Kontext nicht mehr gegenwärtig. Kants Auflösung der Antinomien, also auch der ersten Antinomie mißt Hegel keine spekulative Bedeutung bei. Kant lege hier erstens seinen transzendentalen Idealismus mit dem Dualismus von Erscheinung und Ding an sich zugrunde, und zweitens nehme er den Widerspruch von den Dingen selbst hinweg und verlege ihn in den menschlichen Geist; darin sieht Hegel „eine zu große Zärtlichkeit für die Welt“;21 denn nach Hegel sind „alle Dinge ... an
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Angemerkt sei, daß Kants Antithesis der ersten Antinomie eigentlich die aktuale Unendlichkeit der Welt behauptet. – Kants subjektiven Begriff des quantitativen unendlichen Progresses der Synthesis nimmt Hegel an anderer Stelle der Wissenschaft der Logik kritisch auf, vgl. GW 11, 156 f/GW 21, 239 f. GW 21, 232; vgl. Enzyklopädie 21827, 31830, § 48 Anm., s. GW 19, 63/GW 20, 84.
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sich selbst widersprechend “.22 Kants Erkenntniskritik als Grundlage der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich und die Vermeidung des Widerspruchs in der Auflösung der Antinomien zieht Hegel nicht näher in Betracht. Dabei steht Kants Grundgedanke der Auflösung der ersten Antinomie, nämlich die Konzeption eines quantitativen Regresses in indefinitum und damit einer potentiellen Unendlichkeit, Hegel nicht fern; aber nach Hegels Dialektik liegt eben darin der perennierte Widerspruch zwischen quantitativem Endlichen und Unendlichem. Daher muß aus seiner Sicht auch in Kants Auflösung der Widerspruch erhalten bleiben, und zwar als Dialektik in reinen kategorialen Bestimmungen.
4. Kants zweite kosmologische Antinomie Ebenso detailliert und kritisch wie die erste behandelt Hegel in der Wissenschaft der Logik Kants zweite kosmologische Antinomie. Kant ordnet jedoch die in der zweiten Antinomie betrachtete Weltreihe in Raum und Zeit einer ganz anderen Kategorie als Hegel zu, nämlich der Qualität und genauer der bestimmten Realität der Materie oder des Einfachen. Galt die erste Antinomie der Frage, ob die Welt in Raum und Zeit unendlich groß oder aber begrenzt sei, so gilt die zweite Antinomie sozusagen der anderen Seite der Unendlichkeit oder Endlichkeit, nämlich der Frage, ob die materielle Welt ins unendlich Kleine geteilt sei oder ob die Teilung endlich und begrenzt sei und beim ursprünglichen realen Einfachen ende. Die Welt besteht dann letztlich entweder aus einfachen Substanzen, wie die Thesis behauptet, oder sie besteht nur aus zusammengesetzten Dingen, deren Teilung ins endlich Kleine geht, wie die Antithesis erklärt.23 Kants Beweise sind wieder apagogisch und erfolgen über die Widerlegung des Gegenteils. Der Beweis für die Thesis ist besonders gewunden und bleibt rein begrifflich; von der Form her stellt er ein Dilemma24 dar. Wenn es, wie die Antithesis behauptet, zusammengesetzte Substanzen ohne einfache Teile als ihre Elemente geben soll, wenn also deren Teilung ins unendlich Kleine gehen soll, dann existiert entweder bei Aufhebung aller Zusammensetzung gar nichts 22
23 24
GW 11, 286. Vgl. hierzu und zum ‘Widerspruch’ als Reflexionsbestimmung J. Biard, D. Buvat, J.F. Kervegan, J.-F. Kling, A. Lacrois, A. Lécrivain, M. Slubicki: Introduction à la lecture de la ‘Science de la logique’ de Hegel. Bd. II.: La doctrine de l’essence. Paris 1983, 84-101; L. Lugarini: Orizzonti hegeliani … (s. Anm. 4), 288-307; M. Wolff: „Über Hegels Lehre vom Widerspruch“. In: Hegels „Wissenschaft der Logik“. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1986, 107-128; V. Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. 2 Bde. Hamburg 1987. Bd. 1, 161-179; gestattet möge auch der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. sein: „Identität und Widerspruch. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Dialektik Hegels“. In: Giornale di Metafisica N.S. 6 (1984), 315-358 (s. vorliegenden Band I, 1). Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 462-471. Vgl. in Kants Logik, wie Jaesche sie herausgab, § 79 (Kants gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Bd. IX, 130 f).
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4. KANTS ZWEITE ANTINOMIE
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mehr, weder das Zusammengesetzte noch irgend etwas Einfaches, was paradox ist; oder die Zusammensetzung dürfte nicht aufgehoben werden, wäre also notwendig; aber dann wäre dasjenige, was durch die Zusammensetzung verbunden wird, nichts Substantielles, selbständig Existierendes; denn bei Substanzen ist solche Verbindung zufällig; auch diese zweite Möglichkeit ist also paradox. Da also die disjunktiven Folgerungen aus der Antithesis paradox sind, ist sie selbst unzutreffend, und es gilt die Thesis, daß die Elemente der zusammengesetzten Substanzen einfach sind und daß sie das eigentlich Existierende darstellen.25 Dieser Beweis setzt zusammengesetzte Substanzen in der Welt von der Art der substantia extensa Descartes’ voraus; er entspricht freilich keinem der Leibnizschen Beweise für die Annahme individueller Substanzen oder Monaden. Leibniz schließt, um drei zentrale Argumentationen zu nennen, entweder von den physikalisch erforschbaren „forces dérivatives“ auf immaterielle „forces primitives“ und von ihnen auf zugrunde liegende einfache Substanzen; oder er schließt von der Realität des Zusammengesetzten, da dessen Realität letztlich auf der Realität desjenigen beruht, woraus es zusammengesetzt ist, auf die Realität des zugrunde liegenden substantiellen Einfachen, oder schließlich vom Wahrheitsgehalt kategorischer Urteile auf die Existenz des ihnen Zugrundeliegenden, der individuellen Substanzen. Solche Argumentationen werden angesichts der Antithesis noch bedeutsam sein. – Obwohl Kant auf derartige Beweisführungen im Thesis-Beweis nicht rekurriert, vertritt die Thesis eine Position der Monadologie. Kant unterscheidet hierbei zu Recht die Auffassung Wolffs, daß das letzte Zugrundeliegende, für Wolff: das Naturatom, nur Element des Zusammengesetzten in der Natur sei, von Leibniz’ Auffassung, der individuelle Substanzen auch unabhängig davon annahm, ob sie Elemente des Zusammengesetzten sind oder nicht. Kant legt dabei zugrunde, daß Wolff von diesen einfachen Elementen des materiell Zusammengesetzten keine inneren Bestimmungen angeben wollte, während Leibniz erklärte, daß diesen immateriellen, unräumlichen individuellen Substanzen nur innere Eigenschaften wie letztlich perceptio und appetitus zukommen können, so daß er sie grundsätzlich offenbar nach dem Modell von Selbstbewußtsein dachte. Kant selbst war in der Frühschrift: Monadologia physica (1756) Anhänger der Monadenlehre in der Fortsetzung Wolffs und konzipierte Monaden als unausgedehnte, aber physikalisch wirksame Kraftzentren. Kants Beweis für die Antithesis ist ebenfalls apagogisch, und er ist zweistufig; zunächst soll nachgewiesen werden, es gebe keine einfachen Elemente des 25
Kritischer fällt die logische Rekonstruktion – ohne Verweis auf die dilemmatische Struktur – bei B. Falkenburg aus: Kants Kosmologie (s. Anm. 14), 227-239. Zu den historischen Hintergründen der zweiten Antinomie vgl. die ausführliche Darlegung von H. Heimsoeth: Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung (zuerst: 1960). In: Studien zur Philosophie I. Kants II. Kant-Studien. Ergänzungsheft 100. Bonn 1970, 133-247, auch F. Kaulbach: „Atom und Individuum“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 17 (1963), 3-41.
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Zusammengesetzten, und dann darüber hinaus, es gebe überhaupt nichts Einfaches in der Welt. Das entscheidende Argument besteht darin, daß alles Räumliche aus immer kleineren Teilen zusammengesetzt ist, weil der Raum ein quantum continuum bildet. Gäbe es nun einfache Elemente im Raum, wie die Thesis behauptet, so müßten sie jeweils ausgedehnt sein, dann aber wieder aus Teilen bestehen und d.h. zusammengesetzt sein, was ein Widerspruch wäre. Also ist alles Räumliche ins Unendliche, d.h. ins unendlich Kleine geteilt; es gibt keine Atome, Elementarteilchen oder letzte Bestandteile der Materie. Den weitergehenden Beweis, es gebe überhaupt nichts Einfaches in der Welt, führt Kant dogmatisch-empiristisch; etwas Einfaches könne im Raum nicht wahrgenommen werden; also gebe es dies auch nicht. Eine eigene Beweisführung für die Nichtexistenz eines Einfachen wie der denkenden Seele oder des Ich in der Zeit liefert Kant hier nicht; seine Anmerkungen bleiben z.T. kryptisch; man kann als sein Argument nur erschließen, daß ein konkretes denkendes Individuum, das zugleich leiblich-räumlich existiert, sich nicht als Einfaches erfahren könne. In den Paralogismen wurde zwar dargelegt, daß das ‘Ich denke’ sich nicht als einfache, unzerstörbare Substanz durch reines Denken erkennen könne; aber diese Darlegungen sind kritisch,26 nicht dogmatisch-empiristisch wie die Antithesis, die aus der Nichtwahrnehmbarkeit die Nichtexistenz des Einfachen folgert und damit wieder mehr behauptet, als wir wissen können. Diese Position und diesen zweistufigen Beweis erkennen aber die Monadenlehrer nicht an. Wenn sie dabei die mathematischen Bestimmungen des Raumes und – wie man hinzufügen muß – ebenso der Zeit als quanta continua, in denen nichts Einfaches vorkommt, in Zweifel ziehen, ist ihre Argumentation nach Kant vergeblich. Wenn sie aber rein metaphysisch argumentieren und die Lehre von Raum und Zeit, vom Räumlichen und Zeitlichen als quanta continua unangetastet lassen, sind sie von Seiten der Antithesis schwer widerlegbar. Hier ergibt sich die angesichts der Antinomie der Teilung verwirrende Situation, daß eine Position der Monadenlehre, speziell die Leibnizsche, durchaus die Argumentation der Antithesis anerkennen und doch einfache, immaterielle Substanzen oder Monaden annehmen kann, und zwar sogar auf der Basis jener Argumentation. Insbesondere das o.g. zweite Leibnizsche Argument zeigt dies signifikant auf: Alles im Raume real Zusammengesetzte empfängt seine Realität aus demjenigen, woraus es zusammengesetzt ist, den Teilen, die als ausgedehnte, wieder zusammengesetzt sind. Da nun der Raum ein kontinuierliches Ganzes ist, geht die Teilung ins Unendliche. Das räumliche Materielle ist daher ins unendlich Kleine geteilt. Diese Argumentation ist ontologisch; es kommt in ihr nicht darauf an, ob man die Teilung auch physikalisch durchführen kann. Da man im Raume also auf keine einfachen Grundsubstanzen trifft, ist alles Räumliche imaginär, ein wohlfundierter Sinnenschein. Das letzte zugrunde liegende Reale, da es ja zusammengesetztes Reales laut Voraussetzung gibt, muß etwas unräumliches und immaterielles Einfaches sein, die 26
Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 471.
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5. HEGELS KRITIK AN KANTS ZWEITER ANTINOMIE
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individuelle Substanz oder Monade. Hierbei wird der Raum als quantum continuum und das Räumliche als empirisch gegeben aufgefaßt wie in der Antithesis und gleichwohl auf die Thesis geschlossen. – Gegen diese differenzierte Theorie kann die Antithesis nur einen dogmatischen Empirismus setzen; differenzierte Argumente dagegen bringt erst die kritische Philosophie und ihre Erkenntnisrestriktion bezüglich der Monaden vor; aber dies führt über die kosmologischen Positionen der zweiten Antinomie schon hinaus, die ja behaupten, es gebe einfache Elemente oder Monaden, an denen die Teilung ende, oder es gebe sie nicht, die Teilung gehe ins unendlich Kleine. Gerade solche dogmatischen Aussagen vermeidet Kant in der Auflösung dieser Antinomie. Raum und Zeit, Räumliches und Zeitliches, sind nach Kants erkenntniskritischer Lehre nur unsere sinnlichen Anschauungen. Die Frage, ob in ihnen eine Teilung immer weiter geht bis ins unendlich Kleine oder irgendwo vielleicht doch ihre Grenze findet, stellt nur eine Aufgabe dar für die Durchführung der Synthesis der Dekomposition. Ob das Raum und Zeit Erfüllende ins Unendliche geteilt ist oder nicht – auch unabhängig von diesem Actus der Synthesis -, können wir nicht wissen; wir können nur erkennen, daß sich im Fortgang der Erfahrung die Teilung ins Unbestimmte fortsetzt, Raum und Zeit, Räumliches und Zeitliches als Erscheinungen also unbestimmt weiter teilbar sind, da sie, soweit die Teilung geschieht, quanta continua darstellen. Auch hier löst Kant die Antinomie also wie die erste Antinomie auf durch die Konzeption der subjektivierten potentiellen Unendlichkeit, und zwar diesmal in der Synthesis der Dekomposition; darin bleibt kein Widerspruch bestehen.
5. Hegels Kritik an Kants zweiter kosmologischer Antinomie Auch an der zweiten kosmologischen Antinomie kritisiert Hegel die Beweise; sie seien verschroben, und der apagogische Charakter sei überflüssig. So faßt Hegel sie neu als direkte und einfachere Beweise, die für ihn selbst nur analytische Explikationen von Thesis und Antithesis darstellen. Der Beweis für die Thesis, dessen formale Struktur Hegel als „Dilemma“27 erkennt, setzt eigentlich nur das Andere zu zusammengesetzten Substanzen, das Einfache in einer Pluralität. Hegel geht hier nicht auf die Tradition und Geschichte der Monadologie ein; er sieht an dieser Stelle der zweiten Antinomie nur die Behauptung des einfachen Eins oder des Atomon, das freilich nicht – wie besonders in der späteren Atomistik – als körperlich verstanden werden darf. Hinsichtlich des Raumes und ganz unabhängig von dem kosmologischen Problem, ob die Teilung des materiellen Realen in einem Einfachen seine Grenze finde oder nicht, 27
GW 11, 117/GW 21, 183. Zur Interpretationsliteratur über Hegels Kritik der Kantischen Antinomien vgl. oben Anm. 18. Speziell zu seiner Stellungnahme zur zweiten Antinomie vgl. auch A. Moretto: “Il primato logico della matematica”. In: Filosofia e scienze filosofiche nell’ „Enciclopedia“ hegeliana del 1817. A cura di F. Chiereghin. Trento 1995, bes. 79 ff.
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erklärt Hegel, mit der Thesis und ihrem Beweis werde eigentlich das Moment des quantitativen diskreten Eins gesetzt. – Auch in der Auffassung und Umdeutung der zweiten Antinomie zeigt sich also, daß Hegel vom kosmologischen konkreten Problemgehalt absieht, die Entgegensetzung an Raum (und Zeit) selbst aufzeigt, dabei aber als wesentlichen Grund der Antinomie die Entgegensetzung rein kategorialer Momente konstatiert; das eine Moment, das der Thesis entspricht, ist für Hegel das quantitative diskrete Eins. Er ordnet damit die zweite Antinomie bestimmten Momenten der Kategorie der Quantität zu und nicht wie Kant der Qualität und bestimmten Realität, gerade weil er vom kosmologischen Gehalt des realen Einfachen oder des materiellen unendlich Kleinen absieht. Als Gegenstück zur Thesis erblickt Hegel in der Antithesis, wenn sie in ihrer eigentlichen Bedeutung aufgefaßt werde, das Moment des quantum continuum des Raumes (und der Zeit) oder rein kategorial das Moment der quantitativen Kontinuität. Der Beweis für die Antithesis zeige ohne apagogische Umwege nur, daß das Zusammengesetzte im Raum, da dieser nicht aus einfachen Teilen bestehe, ins unendlich Kleine gehe. Hegel erkennt zutreffend, daß Kant die Vorstellung des Raumes als eines quantum continuum zugrunde legt. Er scheint ferner das verwirrende Problem der Antithesis zu bemerken, nämlich daß sie bei aller Argumentation für die Teilung ins unendlich Kleine im Raum die monadologische Position zulassen muß, die unräumliche, immaterielle Einfachheiten oder Monaden annimmt.28 Schließlich erkennt Hegel auch, daß Kant zur Verstärkung der Position der Antithesis gegen die Monadologen kritische Argumente über Raum und Zeit als Erscheinungen als das einzig uns Erkennbare einsetzt; sie dürften aber eigentlich in den Beweisen für Thesis und Antithesis noch nicht enthalten sein. Kants Auflösung auch der zweiten Antinomie ist für Hegel ganz unspekulativ; sie rekurriert auf den Dualismus von Erscheinung und Ding an sich und die Erkenntnisrestriktion, die Hegel auch hier ohne nähere Untersuchung zurückweist; vor allem schiebe sie, wie Hegel meint, den eigentlichen Inhalt der zweiten Antinomie beiseite. – Sinnreicher erscheint Hegel die „objektive Dialektik“29 in Zenons Paradoxien der Bewegung in Raum und Zeit, die für Hegel zugleich die Natur von Raum und Zeit selbst betreffen. Hegel rühmt Aristoteles’ Auflösung dieser Paradoxien durch den Gedanken der bloß möglichen Teilung in der quantitativen Kontinuität des Raumes und der Zeit.30 Die Materie in Raum und Zeit sei daher nur unendlich teilbar, nicht ins Unendliche geteilt. Daß gerade dies prinzipiell Kants Auflösung der zweiten Antinomie entspricht, der sie nur in der
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Hegel deutet diese Möglichkeit an: „Aus jenem Grunde eben sollten die Substanzen nicht in den Raum gesetzt worden sein.“ (GW 21, 185, nur in der zweiten Auflage) Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). Bd. 18, 303 ff, auch GW 11, 120/GW 21, 187 f. Vgl. GW 21, 188 f (Ergänzung der zweiten Auflage); vgl. in Hegels Vorlesungen über Geschichte der Philosophie die gleichartige Darlegung: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 18, 308.
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sukzessiven Synthesis der Dekomposition subjektiviert, scheint Hegel nicht zu bemerken. Doch anders als Aristoteles’ und Kants Lösung, wonach in der unendlichen Teilbarkeit widerspruchsfreie potentielle Unendlichkeit gedacht wird, bleibt Hegels Lösung dialektisch. Auch die quantitative Kontinuität, sei es des Raumes, sei es der Zeit, impliziert im Gedanken der unendlichen Teilbarkeit die Möglichkeit der Setzung diskreter quantitativer Einheiten, ebenso wie die Setzung solcher gleichförmigen quantitativen Einheiten als Pendant den Gedanken der Kontinuität erfordert;31 eine quantitative Einheit kontinuiert sich in die gleichförmig ihr folgende Einheit. Kants zweite Antinomie zeigt für Hegel also an Raum und Zeit die kategorial entgegengesetzten Bestimmungen der Diskretion und der Kontinuität auf; die Auflösung, die Aristoteles und Kant in der potentiellen Unendlichkeit der Teilbarkeit innerhalb eines Kontinuierlichen sahen, besteht für Hegel in der Erkenntnis, daß die Kategorie der Quantität sich in diese ihre entgegengesetzten Momente entzweit und in deren höherer Einheit sich vollendet. Hierbei nimmt die Diskretion die Stelle quantitativer Endlichkeit, die Kontinuität die Stelle quantitativer Unendlichkeit ein. Schluß: Hegel deutet, wie sich im Detail wohl gezeigt hat, Kants Antinomien und deren Auflösung um. Diese Umdeutung folgt einer grundlegenden Konzeption Hegels zur Metaphysikkritik. Kants Darlegung der Antinomien gehört inhaltlich zur Metaphysik, speziell zur Kosmologie. Hegel kritisiert nun an der vormaligen Metaphysik vor allem zweierlei:32 Erstens hüllt die frühere Metaphysik (als metaphysica specialis) und auch Kants Exposition der kosmologischen Antinomien reine kategoriale Bestimmungen in Vorstellungssubstrate ein; sie betrachtet kategoriale Verhältnisse nur an konkreten Vorstellungsinhalten, hier am Weltmannigfaltigen in Raum und Zeit. Deshalb muß nach Hegels Konzeption der Metaphysikkritik der reine kategoriale Gehalt eigens erst hervorgehoben, von den Vorstellungssubstraten, d.h. hier von den spezifisch kosmologischen Inhalten aber abgesehen werden. Zweitens gelingt der vormaligen Metaphysik, was sich vornehmlich aus dieser Einhüllung der Kategorien in Vorstellungsinhalte ergibt, in der Regel keine dialektische Entwicklung ihrer Gedankenbestimmungen. Kant stellt zwar kosmologische Antinomien der reinen Vernunft auf, wie Hegel rühmt; aber deren Auflösungen beweisen für 31
32
Das Problem des unendlich Kleinen und der kontinuierlichen und diskreten Größe stellt sich Hegel erneut in seiner umfangreichen Auseinandersetzung mit der Infinitesimalrechnung in der Wissenschaft der Logik. Vgl. GW 11, 32/GW 21, 48 f, auch Enzyklopädie (2. und 3. Aufl.), §§ 26-36, GW 19, 5155/GW 20, 69-74. Vgl. zu Hegels Metaphysikkritik generell M. Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a.M. 1978. Vgl. ebenso A. Peperzak: „Hegels Kritiek van de Metafysiek“. In: Algemeen Nederlands Tijskrift voor Wijsbegeerte 73 (1981), 75-93. Erlaubt möge auch der Verweis auf die Darlegung des Verfs. sein: „Hegels Metaphysikkritik ...“ (s.o. Anm. 6). Zu Hegels Konzeption der spekulativen Logik angesichts der Kritik der vormaligen Metaphysik vgl. R.B. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfaction of Self-Consciousness. Cambridge etc. 1989, bes. 175 ff.
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ANTINOMIE UND DIALEKTIK
Hegel, daß Kant den notwendigen dialektischen Charakter der Kategorien und Kategorienentwicklung nicht erkennt. Darin besteht freilich die von der vormaligen Metaphysik nicht bewältigte Aufgabe, nämlich die Kategorien in ihrer Reinheit dialektisch und damit systematisch zu entwickeln.33 – Kants eigene, über die Darstellung der Antinomien hinausführende Metaphysikkritik, die in seiner Theorie der Erkenntnisrestriktion gründet, ist von gänzlich anderer Art; sie ist Hegel, der immer an der Erkenntnis der Dinge an sich durch Denken festhielt, offensichtlich fremd geblieben. Hegel erkennt jedoch das grundlegende, gerade durch Kants Lehre von den Antinomien und deren Auflösung sich stellende Problem, daß das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit anders bestimmt und die Antinomien anders aufgelöst werden müssen, wenn man nicht an Kants Dualismus von Erscheinung und Ding an sich und an Kants Erkenntnisrestriktion festhalten will. Hegel zeigt an zwei Beispielen entgegengesetzter kategorialer Momente, nämlich an der Diskretion und der Kontinuität sowie an der Setzung einer quantitativen Grenze und deren Überschreitung im quantitativen unendlichen Progreß, die für ihn die kategorialen Grundlagen der zweiten und der ersten Antinomie darstellen, antinomische reine Gedankenbestimmungen von Endlichem und Unendlichem im Bereich der Quantität auf. Die dialektische Struktur dieser Verhältnisse muß rein für sich eruiert und als vernunftimmanent, damit aber auch als unaufhebbar erkannt werden. Es ist für Hegel keine Auflösung durch Reduktion auf die endliche Subjektivität, ja überhaupt keine Auflösung des Widerspruchs solcher Bestimmungen möglich; vielmehr muß das dialektische Verhältnis und der Widerspruch der Bestimmungen als notwendiger Momente einer Kategorie beibehalten und gerade „in seiner positiven Seite“ aufgefaßt werden; diese „innere Negativität“, die sich als deren „sich selbst bewegende Seele“34 erweist, repräsentiert die höhere Einheit jener entgegengesetzten kategorialen Bestimmungen; diese zu erkennen und zu explizieren, ist Aufgabe der spekulativen Philosophie. Die detaillierte Auseinandersetzung mit Kants erster und zweiter Antinomie zeigt die Gewinnung solcher höheren, positiv begreifbaren Einheit nur im Bereich der Quantität auf. Die systematische Kategorienentwicklung Hegels aber kennt auch andere, auch höhere Formen des Gegensatzes und der positiven Einheit von Endlichem und Unendlichem. Insbesondere das wahre Unendliche, das das Endliche in sich faßt, gibt Veranlassung, über diese Bestimmun33
34
Daß die Durchführung dieser Aufgabe in der spekulativen Logik „die eigentliche Metaphysik“ sei, erklärt Hegel selbst ausdrücklich (s. GW 11, 7/GW 21, 7). Seine Kritik an der vormaligen Metaphysik dient also der Hervorhebung dieser „eigentlichen Metaphysik“. GW 11, 27/GW 21, 40. Zu Endlichkeit und Unendlichkeit im Bereich von Einem und Vielem vgl. V. Verra: „‘Eins und Vieles’ nel pensiero di Hegel“. In: L’Uno e i molti. A cura di V. Melchiorre. Milano 1990, 405-419. Zur Bedeutung Hegels, speziell seiner Theorie von Widerspruch und Einheit, für gegenwärtige Philosophie, die von Konzeptionen der Endlichkeit beherrscht wird, vgl. F. Chiereghin: „Wozu Hegel in einem Zeitalter der Endlichkeit?“ (Übers. von B. Faber) In: Hegel-Studien 33 (1998), 191-207.
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gen hinauszugehen. Wenn Hegels Modell des Absoluten im Unterschied zu anderen grundlegenden Modellen nach dem Paradigma des wahren Unendlichen konzipiert wird, das alles Endliche in sich enthält, so handelt es sich hierbei um eine basale Bestimmung, die weiterzuentwickeln ist. Auch die Substanz z.B. als Totalität ist solches wahre Unendliche, erst recht die höchste reine Bestimmung des Absoluten, die absolute Idee als „innerster Quell aller Tätigkeit lebendiger und geistiger Selbstbewegung“,35 als absolute Subjektivität, die in ihrer wahren, vollendet entwickelten und begriffenen Unendlichkeit in den dialektischen Kategorienfolgen als ihren Momenten sich selbst denkt und erkennt.
35
GW 12, 246. Vgl. Enzyklopädie. 2. und 3. Aufl. § 215 Anm.; sie ist über die Objektivität „übergreifende Subjektivität, Denken, Unendlichkeit“ (GW 19, 169/GW 20, 218).
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II. METAPHYSIK UND SUBJEKTIVITÄTSTHEORIE
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Phänomenologie und spekulative Logik Untersuchungen zum „absoluten Wissen“ in Hegels Phänomenologie Von der Gesamtkonzeption der Phänomenologie dürften zum einen der „sich vollbringende Skeptizismus“, zum anderen der Ansatz einer Pluralität von Wissensweisen gegenwärtigen philosophischen Bestrebungen am ehesten verwandt sein und entgegenkommen. So scheint keine der vorläufig bleibenden Wissensweisen oder Weisen des Fürwahrhaltens vor einer anderen grundsätzlich einen Vorzug zu verdienen; sie alle scheinen mit gleichem Recht oder Unrecht nebeneinander zu bestehen, und keine von ihnen ist anscheinend als gültige und wahre zu erweisen. Daraus ergibt sich, so scheint es, des Weiteren ein genereller Skeptizismus, nach dem alle diese Weisen des Fürwahrhaltens lediglich Vermeinungen bestimmter Art sind, deren Bezug auf reale Dinge skeptischer Urteilsenthaltung unterliegt. So scheinen z.B. sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstandesdenken und andere Weisen des Fürwahrhaltens bloß subjektive intentionale Vermeinungen ohne gegenständliche oder objektive Bewährung zu sein; bei solchem Anschein lediglich subjektiven Vermeinens muss es bleiben, da eine Behauptung, subjektives Vermeinen beziehe sich tatsächlich nicht auf reale Dinge, dogmatische Gültigkeit beanspruchen würde. Ein konsequenter subjektiver Skeptizismus kann über solchen bloßen Anschein nicht hinausgelangen und muss daher auch mit der Möglichkeit rechnen, dass es vielleicht doch Erkenntnis realer Objekte gebe. Ein konsequenter, definitiver, theoretisch unwiderlegbarer Skeptizismus ist daher offensichtlich nicht durchführbar. Eine ähnliche Auffassung war Hegel prinzipiell schon aus der pyrrhonischen Skepsis insbesondere des Sextus Empiricus vertraut, mit dem er sich im Skeptizismus-Aufsatz (1802) bereits intensiv auseinandergesetzt hatte.1 Solcher Skeptizismus ist ferner hinsichtlich des Inhalts des zu Bezweifelnden auf zufällig Vorgegebenes angewiesen, das er nicht systematisch entwickeln, sondern als Vorgefundenes jeweils nur aufgreifen kann und das er dann immer wieder der gleichen Nichtigkeit des bloßen Vermeinens überführt. Wissenschaftlicher oder „sich vollbringender Skeptizismus“ wird er erst, wenn die Weisen des Fürwahrhaltens, die skeptisch bezweifelt werden, in einem systematischen und notwendigen Zusammenhang entwickelt werden. Dieser aber muss eigens begründet werden können und am Ende der langen Kette der skeptisch bezweifelten Wissensweisen prinzipiell als standhaltendes Wissen 1
Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke (= GW). Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 197-238. Vgl. dazu D. Heidemann: Der Begriff des Skeptizismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung. Berlin 2007. – Grundsätzlich kann solcher pyrrhonische Skeptizismus nicht sagen, „alles ist zweifelhaft“, sondern nur, „es scheint mir, dass alles zweifelhaft ist“; aber damit kann man die Möglichkeit wahrer Erkenntnis nicht definitiv ausschließen.
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PHÄNOMENOLOGIE UND SPEKULATIVE LOGIK
explizierbar sein. Damit ist nach Hegel das „absolute Wissen“ erreicht, das den Skeptizismus überwindet. – So soll nun in einem ersten Teil Hegels Konzeption der Phänomenologie als systematische, idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins umrissen und mit der von Hegel skizzierten Auffassung von realer Geschichte korreliert werden. In einem zweiten Teil sei Hegels Bestimmung des „absoluten Wissens“ als Bestandteil einer Subjektivitätstheorie untersucht. Der dritte Teil soll dann die Korrespondenz der notwendig aufeinander folgenden Gestalten des Bewusstseins, Selbstbewusstseins und Geistes sowie der vollendeten Geistesgestalt mit Kategorien der Logik erörtern. Der vierte Teil gilt daraufhin dem schwierigen Übergang dieser letzten hochkomplexen Geistesgestalt der Phänomenologie in die ersten, ganz einfachen Gedankenbestimmungen der Logik. Der Schluss verweist angesichts bescheidenerer Wissens- und Selbsterkenntnisansprüche, als Hegel sie vertritt, auf neue, mögliche subjektivitätstheoretische Auseinandersetzungen mit dem Skeptizismus.
1. Idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins und reale Geschichte in Hegels Phänomenologie Die am höchsten entwickelte Geistesgestalt, die die Abfolge von Bewusstseins-, Selbstbewusstseins- und Geistesgestalten vollendet, das „absolute Wissen“, lässt sich nur auf der Basis der grundlegenden Konzeption der Hegelschen Phänomenologie (1807) angemessen erfassen. Die systematische Organisation dieser Gestalten beruht zwar auf Kategorien der Logik, worauf noch einzugehen ist; aber dadurch wird der vielfältige, besondere Gehalt jener Gestalten und ihrer konkreten Abfolge noch nicht hinreichend erklärt. Dies gelingt erst, wenn man die Phänomenologie grundsätzlich als eine Fortführung und Modifikation der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins begreift. In der „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“, wie Hegel sein Unternehmen programmatisch nennt, wird dargelegt, wie das „Bewusstsein“ als allgemeines Subjekt der verschiedenen Weisen des Fürwahrhaltens die Erfahrung macht, dass jeweils eine Art des Fürwahrhaltens nach der anderen skeptisch der Nichtigkeit anheim fällt, dass es darüber jeweils in „Verzweiflung“ gerät, dass es aber gerade über diesen stufenreichen Weg der „Verzweiflung“ schließlich zum wahren Wissen vordringt. Deshalb ist dieser Weg für Hegel die „Geschichte der Bildung des Bewusstseins selbst zur Wissenschaft“.2 Da2
Hegel: Phänomenologie des Geistes. GW 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 56, s. ebd. auch Hegels Rede von der „Verzweiflung“. Zur Bildungsgeschichte, auch zur idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins bei Hegel vgl. J. Hyppolite: Genèse et structure de la Phénoménologie de l’esprit de Hegel. Paris 1946, bes. 9-53; O. Pöggeler:
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1. GESCHICHTE DES SELBSTBEWUSSTSEINS
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mit nimmt Hegel – mit bedeutsamen Veränderungen – den Ansatz einer systematisch durchzuführenden idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins auf, wie er sich maßgeblich bei Fichte und Schelling findet. Diese Geschichte des Selbstbewusstseins vollendet sich in einem erfüllten Begriff von Subjektivität, den Fichte im sittlichen Willen, Schelling im künstlerischen Genie, Hegel aber im „absoluten Wissen“ sieht. Generell verfolgt die systematische, idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins bei Fichte und deutlicher noch bei Schelling zwei Aufgaben: Sie legt zum einen gegen die empiristische oder bloß klassifizierende und rubrizierende Aufklärungspsychologie und auch gegen die statische apriorische Anordnung der Vermögen bei Kant eine systematische, ideale Entwicklung der verschiedenen Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes dar, und zwar geleitet von einer Konzeption von Subjektivität, die am Ende in erfüllter Weise selbst thematisch wird. Die Geschichte des Selbstbewusstseins zeigt zum anderen in ihrer stufenartigen Entwicklung auf, wie sich das intentionale Korrelat oder der vorgestellte Gegenstand solcher mentalen Tätigkeiten und Leistungen immer mehr mit Inhalten der Subjektivität anreichert, bis schließlich das vollständig entwickelte Ich-Objekt erreicht ist, in dem sich die tätige Subjektivität unverhüllt als sie selbst erkennt. – Diese Konzeption einer systematischen, idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins prägt nun wesentlich konkrete Inhalte und Entwicklungsfolgen der Phänomenologie von 1807; Hegel nimmt jedoch deutliche Abänderungen an dieser Konzeption vor. Solche Abänderungen sind in Hegels grundsätzlichem Programm einer systematischen Einleitung in die spekulative Logik begründet; in dieser Einleitung soll gegenüber radikaler Skepsis auf verschiedenen Stufen die Position des eigentlichen, wahren Wissens generiert und gerechtfertigt werden. Anders als in der Geschichte des Selbstbewusstseins bei Fichte und Schelling werden in der Phänomenologie als Einleitung in das rein logische Wissen erstens nicht die Fähigkeiten und Leistungen des menschlichen Geistes als solche systematisch und genetisch expliziert, sondern die ihnen entsprechenden Weisen des Fürwahrhaltens. So legt Hegel z.B. am Anfang dieser Entwicklung nicht – wie es bei Fichte und Schelling geschieht – die Empfindung „Die Komposition der Phänomenologie des Geistes“ (1966). In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Hrsg. von H.F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt a.M. 1973, 329390, bes. 375 ff; W. Marx: „Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In ders.: Schelling: Geschichte, System, Freiheit. Freiburg und München 1977, 63-99; W. Bonsiepen: „Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels“. In: Hegel-Studien. Beiheft 16. Bonn 1977, bes. 127-141; U. Claesges: „Darstellung des erscheinenden Wissens“. In: HegelStudien. Beiheft 21. Bonn 1981, bes. 25 ff; F. Chiereghin: Dialettica dell’ assoluto e ontologia della soggettività in Hegel. Trento 1980, bes. 256 ff (mit Beziehung auch auf Platons Bildungsbegriff); D. Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und Schellings „Freiheitsschrift“. München 2006, bes. 62 ff. Ferner sei der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt: „Hegels Phänomenologie und die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins“. In: Hegel-Studien 28 (1993), 103-126.
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PHÄNOMENOLOGIE UND SPEKULATIVE LOGIK
selbst, sondern die durch sie konstituierte Art des Fürwahrhaltens, die sinnliche Gewissheit, dar; und Vergleichbares gilt für alle Stufen des Fürwahrhaltens, auch etwa für das künstlerische oder das religiöse Fürwahrhalten. Hegel untersucht nicht das Verstehen von Kunst oder aber die Hervorbringung von Kunst durch das Genie, das für den jungen Schelling die Vollendung der Subjektivität darstellt, sondern das entsprechende ästhetische Fürwahrhalten, das für Hegel einer skeptischen Prüfung nicht standhält; und ebenso wird nicht das daseinsfundierende religiöse Verhalten als solches wie z.B. beim frühen Schleiermacher betrachtet, sondern die darin liegende Wahrheitsbedeutung, die nach Hegel trotz hoch entwickelter Geistigkeit noch überstiegen werden muss zum „absoluten Wissen“. Hegels Phänomenologie als eine solche Einleitung in das logische Wissen ist zweitens „sich vollbringender Skeptizismus“.3 Auch damit unterscheidet sich Hegels Konzeption vom Ansatz einer idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins bei Fichte oder bei Schelling, die solchen systematischen Skeptizismus darin nicht vorsehen. Jede Weise des Fürwahrhaltens – bis auf die letzte – wird bei Hegel in der skeptischen Prüfung nichtig und treibt das entsprechende fürwahrhaltende Bewusstsein jeweils in „Verzweiflung“; dieses verbleibt nämlich in einer bestimmten Gestalt seines Fürwahrhaltens, z.B. des Wahrnehmens oder des Verstandesdenkens, die jeweils untergeht, und sieht nicht darüber hinaus. Der systematische und notwendige Zusammenhang in der Abfolge solcher Arten des Fürwahrhaltens, die sich als ungültig erweisen, ist nicht für das Bewusstsein, sondern wird, wie noch zu erörtern ist, vom Philosophen hergestellt. Aber über alle diese Stufen des Zweifels und der Verzweiflung erreicht das darin sich bildende Bewusstsein schließlich das rein logische oder „absolute Wissen“. Auf der Grundlage dieser beiden Abänderungen der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins ergibt sich eine dritte: Auf jeder Stufe des Fürwahrhaltens muss das jeweilige Bewusstsein in der skeptischen Prüfung „dialektische“ Erfahrungen durchmachen (GW 9, 60). Diese finden sich in Fichtes und Schellings Ansatz einer Geschichte des Selbstbewusstseins nicht. Das Bewusstsein als Subjekt des jeweiligen Fürwahrhaltens erfährt, dass sich das Gegenteil dessen, was es für das Wahre hielt, als das Wahre erweist. Darin besteht die „dialektische Bewegung“ (ebd.) in seiner Erfahrung, und daraus gehen dann jeweils ein neuer Gegenstand und eine neue Art des Fürwahrhaltens hervor. Diese drei Abänderungen gegenüber der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins bei Fichte und Schelling beruhen grundsätzlich auf Hegels Konzeption der Phänomenologie als einer systematischen Einleitung in das 3
GW 9, 56. Vgl. dazu R. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfaction of Self-Consciousness. Cambridge u.a. 41999, bes. 91 ff, 96 ff; D. Heidemann, a.a.O. (Anm. 1); zur SkeptizismusAuseinandersetzung bei Hegel im allgemeinen vgl. auch M. Biscuso: Hegel, lo scetticismo antico e Sesto Empirico. Napoli 2005.
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1. GESCHICHTE DES SELBSTBEWUSSTSEINS
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logische Wissen durch den Erweis der Nichtigkeit endlicher Wissensweisen.4 Gleichwohl bleiben Grundstrukturen dieser idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins erhalten. So werden in systematischer Genese stufenartig immer komplexer werdende Bestimmungen der tätigen, fürwahrhaltenden Subjektivität aufgestellt; ebenso werden im intentionalen Korrelat der Arten des Fürwahrhaltens immer reichhaltigere Bestimmungen der Subjektivität gewonnen, bis sich die hochkomplexe tätige, fürwahrhaltende Subjektivität mit sich als entwickeltem Ich-Objekt identifiziert. Aus dem skeptischen Entwicklungsgang der Weisen des Fürwahrhaltens, der schließlich zum wahren Wissen führt, kann sich die vollendete Subjektivität wie Phönix aus der Asche erheben, weil sie selbst für Hegel in ihrer genuinen Bedeutung nur Skepsis überwindendes, reines Wissen als entwickeltes Wissen ihrer selbst ist. – Zur philosophischen Durchführung dieses Entwicklungsgangs aber ist die grundlegende methodische Unterscheidung erforderlich, die sich ebenso bei Fichte und Schelling findet, in einerseits diejenigen Bestimmungen, die auf jeweiliger Stufe für das Bewusstsein oder für das Subjekt sind, wie es sie z.B. als wahrnehmendes, als verständiges und dgl. erfasst, und andererseits die grundlegenden notwendigen Bestimmungen, wie sie für uns, die Philosophen sind, die sich bereits im Status des reinen Wissens befinden. Erst am Ende und in der Vollendung dieses Entwicklungsgangs erweist sich, dass, was „für uns“, die Philosophen ist, auch für das fürwahrhaltende Bewusstsein, nämlich als reines, unverhülltes Sich-Wissen ist. Diese Geschichte des Selbstbewusstseins ist keine reale Geschichte; sie ist vielmehr die systematische Darlegung der idealen Genese der Subjektivität, und zwar über die jeweils skeptisch bezweifelten Weisen des Fürwahrhaltens bis hin zu jenem reinen Wissen seiner selbst. Hierbei werden zwar auch historische Inhalte etwa der Antike oder der Aufklärung verwendet; deren systematische Bedeutung besteht freilich zunächst nur darin, spezifische Positionen des Fürwahrhaltens und seiner intentionalen Korrelate zu repräsentieren. Darüber hinaus aber ist Hegel der Auffassung, dass bestimmten Positionen des Fürwahrhaltens und ihrer Abfolge bestimmte Phasen in der realen Geschichte als der Historie in der Zeit entsprechen. Diese unterliegen zwar geschichtlichen Zufälligkeiten, dokumentieren aber die Ausrichtung von Intuitionen und Haltungen sowie den geistigen Nährboden, d.h. für Hegel den Geist einer Periode, in der ein bestimmtes Furwahrhalten entstand. Seine eigene Zeit betrachtet Hegel als Umfeld und Präparation der philosophischen Wissenschaft, nachdem sich in einer „weitläufigen Umwälzung“ (GW 9, 15), einer Revolutio, ein neuer Geist angekündigt hat; in dieser Zeit ist eine derartige Wissenschaft die „Krone einer Welt des Geistes“ (ebd.); wie eine Baumkrone 4
Es sei nur darauf hingewiesen, dass sich diese drei Abänderungen auch nicht in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie“ finden; Phänomenologie und Psychologie sind dort als systematische, idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins ohne das Programm einer Einleitung in die Logik konzipiert; vgl. auch vom Verf.: „Hegels Phänomenologie …“, a.a.O. (Anm. 2), 124 f.
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PHÄNOMENOLOGIE UND SPEKULATIVE LOGIK
stellt sie für Hegel die vollständige Ausbildung und Entfaltung der neuen geistigen Periode in der realen Geschichte dar. Anders als in seiner späteren Konzeption, nach der das wissenschaftlich-philosophische Begreifen einer Epoche erst in ihrer Verfallszeit auftritt und gar ihr Ende beschleunigt, bezeugt Hegel in der Phänomenologie für seine Philosophie offenbar einen lebenskräftigen Gegenwartsoptimismus. – Die ideale Geschichte des Selbstbewusstseins und seiner Momente als deren „begriffene Organisation“ (GW 9, 434) und die reale Geschichte mit ihren Zufälligkeiten in der Zeit werden nach Hegel vereinigt in einer „begriffenen Geschichte“ (ebd.);5 in dieser sollen offenbar über die Zufälligkeiten hinweg innerhalb der realen Geschichte die fundamentalen geistigen Positionen und Errungenschaften aufgewiesen werden, die dann in den philosophisch begriffenen idealen Erscheinungsweisen des Geistes und in den Arten des Fürwahrhaltens eigens und rein erfasst werden. Diese Geschichtssynthesis aber ist bei Hegel Programm geblieben.
2. Absolutes Wissen und Subjektivitätstheorie Das absolute Wissen als die einzig standhaltende Weise des Fürwahrhaltens folgt auf das religiöse Fürwahrhalten in der offenbaren, nämlich der christlichen Religion. Inhalt dieses religiösen Fürwahrhaltens ist schon der absolute, sich auf sich auch im menschlichen Bewusstsein beziehende Geist. Aber dieser Inhalt wird noch in der Weise des bloßen, bildlichen Vorstellens gewusst. Dieses muss in die Form des begreifenden Wissens erhoben werden, wodurch auch der göttliche Geist in anderer, höherer Weise bestimmt wird. In der christlichen, d.h. für Hegel, wie er seit seinem dritten Jenaer Systementwurf von 1805/06 erklärt, in der wahren Religion wird der Eine Gott als Geist vorgestellt, nämlich als unendlicher, absoluter Geist, der nicht mehr zerstreut ist in die Vielfalt endlicher selbstbewusster, geistiger Wesen, wie es bei den griechischen und römischen Göttern der Fall ist. Die christliche Religion ist für Hegel die wahre aus rein philosophischen, genauer: subjektivitätstheoretischen Gründen; in ihr wird Gott vorgestellt als „sich selbst wissender Geist“ (GW 9, 419). In jenem dritten Jenaer Systementwurf von 1805/06 erklärt Hegel deutlicher, dass der christliche Gott „die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes ist“, dass hier „das Tiefe, das zu Tage herausgetreten – dies Tiefe ist das Ich“,6 das letztlich als sich begrifflich erfassendes Selbst zu verstehen ist; und ähnlich heißt es in der Phänomenologie, dass der Geist „den Gedanken seiner inner5
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Vgl. zu den Geschichtsbegriffen in der Phänomenologie O. Pöggeler: „Hegels Phänomenologie des Selbstbewusstseins“. In ders.: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg – München 21993, bes. 292-298; ebenso G. Baptist: „Das absolute Wissen. Zeit, Geschichte, Wissenschaft“. In: G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Reihe: Klassiker auslegen.) Hrsg. von D. Köhler und O. Pöggeler. Berlin 1998, 243-259, bes. 248 ff. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Unter Mitarbeit von J.H. Trede hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1976 (= GW 8), 280 f.
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2. ABSOLUTES WISSEN UND SUBJEKTIVITÄTSTHEORIE
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sten Tiefe“ herauskehrt und „das Wesen als Ich = Ich“ ausspricht (GW 9, 430). Die christliche ist danach also die wahre Religion, weil in ihr der Eine Gott als unendlicher Geist und dieser als absolute, sich selbst spontan erfassende Subjektivität angesehen wird. Was in der christlichen Religion noch bildliche, konkrete Vorstellung und Gegenstand der Verehrung bleibt, z.B. das natürliche Verhältnis von göttlichem Vater und göttlichem Sohn in der Trinitätsvorstellung, muss philosophisch begriffen werden im „absoluten Wissen“. Hegels Lehre vom absoluten Wissen ist somit nicht zu verstehen ohne jenes religiöse Fürwahrhalten, das selbst rein subjektivitätstheoretisch begründet wird und das es in Begriffsform und reines philosophisches, standhaltendes Wissen zu verwandeln gilt. Dies absolute Wissen7 ist innerhalb der Phänomenologie die letzte Gestalt des fürwahrhaltenden Bewusstseins (in allgemeinem Sinne) und zugleich ein reines Wissen seiner selbst, das nach Hegel nicht wieder einem Zweifel oder einem Schein ausgesetzt ist. Denn was hier gewusst wird, ist „der sich in Geistesgestalt wissende Geist“ (GW 9, 427, vgl. 433, 441), wie er im absolut wissenden Bewusstsein als dessen eigene Geistigkeit präsent ist. Diese subjektive Gewissheit ist reine Wahrheit nicht eines fremden Gottes, sondern seines eigenen, es beseelenden Geistes geworden. Daher nimmt Hegel Bezug auf Fichtes Prinzip der Philosophie, das sichselbstgleiche Ich. Aber diese Sichselbstgleichheit darf nicht als bloß abstrakte Identität aufgefasst werden; sie muss vielmehr zugleich Unterschied und absolute Negativität enthalten, die sich nicht auf anderes, sondern auf das Ich selbst bezieht. Dadurch ist es unendlicher Geist, dem auch der „Schmerz“ des Negativen immanent ist. Ebenso muss dieser Geist als absolute Subjektivität begriffen, d.h. in Begriffsbestimmungen gefasst werden, was Hegel erst später z.B. in der Religionsphilosophie ausführt. Das absolute Wissen begreift also seine eigene Geistigkeit, indem es den Subjektivitätscharakter des unendlichen Geistes, nämlich das
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Zum „absoluten Wissen“ vgl. insbesondere J. Hyppolite, a.a.O. (Anm. 2), 553-583; vgl. darüber hinaus die detaillierte, aufschließende Darlegung von L. de Vos: „Absolute Knowing in the Phenomenology“. In: Hegel on Ethical Life, Religion and Philosophy. Hrsg. von A. Wylleman. Leuven 1989, 231-270; vgl. ebenso G. Baptist, a.a.O. (Anm. 5), 243-259; T. Rockmore: Cognition. An Introduction to Hegel’s Phenomenology of Spirit. Berkeley u.a. 1997, 179-194; L. Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar. Frankfurt a.M. 2000, 244-258; allgemeiner zu Bewusstseinsgeschichte und spekulativer Logik H.F. Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels „Wissenschaft der Logik“. Frankfurt a.M. 1965, bes. 263 ff, 273 ff. – Über die Dunkelheit des Kapitels vom „absoluten Wissen“ wird vielfach geklagt. In der Tat entsprechen insbesondere die rückblickenden Übersichten nicht genau dem vorherigen Entwicklungsgang. Ferner bleibt das Verhältnis dieses absoluten Wissens zum religiösen Fürwahrhalten thesenhaft, lässt sich aber durch die Religionsphilosophie aufhellen. Thesenhaft bleiben schließlich die Übersichten über das geplante System und die Geschichtsbegriffe. Zu diesem Kapitel entwarf Hegel teilweise eine Vorstufe: „C. Die Wissenschaft“ (GW. 9, 438-443), die wieder andere Zusammenhänge benennt. Vgl. dazu J.H. Trede: „Phänomenologie und Logik. Zu den Grundlagen einer Diskussion“. In: Hegel-Studien 10 (1975), 173-209.
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spontane intellektuelle, in sich unterschiedene Sich-selbst-Erfassen als seine eigene Selbstbeziehung rein begrifflich erkennt. Was das absolute Wissen erkennt, kann vorläufig als Subjekt-ObjektIdentität angesehen werden; hierbei muss man das Verhältnis und am Schluss die Einheit von Wissen und Gegenstand als solche Subjekt-Objekt-Beziehung und Subjekt-Objekt-Einheit interpretieren. Hegel selbst bestimmt den Gehalt des absoluten Wissens im Wesentlichen begrifflich anders und entschieden differenzierter. Dass der Gegenstand nichts Äußeres mehr ist, sondern dem Fürwahrhalten des Selbst immanent bleibt, ist schon beim endlichen „Selbstbewusstsein“ erreicht; die weiteren Entwicklungen zeigen ständig komplexer werdende Strukturen solcher Einheit von Wissen und Gegenstand oder von Subjekt und Objekt auf, bis schließlich im absoluten Wissen die reine, sich selbst als selbstbezüglicher Geist wissende Einheit von Wissen und Gegenstand hervortritt. Weder stellen die vorangehenden Weisen des Fürwahrhaltens jeweils symmetrische Subjekt-Objekt-Beziehung oder Subjekt-Objekt-Einheit dar, da sie ja gerade wegen der Inkongruenz von Wissen und Gegenstand jeweils nichtig werden, noch ist das absolute Wissen eine solche einfache, statische symmetrische Einheit; das reine Sich-Wissen des Geistes muss vielmehr weiterhin entwickelt werden, wie sich dann zeigt, nämlich in einer komplexitätssteigernden Genese von logischen Kategorien. Im Hintergrund dieses Begreifens des göttlichen Geistes als solches Denken und Wissen seiner selbst dürfte ansatzweise – wie später ausdrücklich und emphatisch ausgeführt – Aristoteles’ Lehre vom göttlichen Nous und dessen Noesis Noeseos als Denken seiner selbst stehen.8 Dies gilt auch für die Wesensbestimmung des Gottes der offenbaren, nämlich christlichen Religion, allerdings eindeutig in subjektivitätstheoretischer Fortbestimmung. Gott als der unendliche Geist ist für Hegel solches Denken seiner selbst, und zwar in der spontanen und autonomen Konstitution des reinen Wissens von sich in vollendet entwickelter Selbstbezüglichkeit. Dies wird von Hegel freilich erst in späterer Zeit expliziert. In diesem entfalteten Wissen von sich, zu dem zuletzt die „Bildung des Bewusstseins selbst zur Wissenschaft“ (GW 9, 56) führt, ist die wissende Subjektivität ganz bei sich; aller Zweifel ist nach Hegel hier von ihr abgetan, der immer eine Differenz von Wissen und vermeintlich Gewusstem betrifft. Im „sich vollbringenden Skeptizismus“ schält sich über die vielfältigen Stationen des Fürwahrhaltens schließlich dies reine, denkende Wissen seiner selbst heraus. Dabei ist freilich die argumentative Konsistenz einerseits der Zweifelsgründe bei der Betrachtung der verschiedenen Positionen des Fürwahrhaltens, 8
Hegel spielt in der Vorrede darauf in weiterem Sinne zweimal an, vgl. GW 9, 20, 40; auf S. 40 schreibt er dem „Nus“ zu, was er im „absoluten Wissen“ vom Ich = Ich erklärt (430), nämlich, dass dessen „Sichselbstgleichheit … ebenso Negativität“ enthalte. Hegel hat offenbar in der Zeit von 1805/06 intensiv Aristoteles studiert; vgl. Gablers Bericht in H. Kimmerle: „Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801-1807)“. In: Hegel-Studien 4 (1967), bes. 70 f.
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3. GESTALTENFOLGE UND KATEGORIEN DER LOGIK
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andererseits des als notwendig begriffenen Zusammenhangs dieser Positionen untereinander vorausgesetzt; nur dann kann das absolute Wissen als zweifelsfrei erwiesen gelten. Speziell dieser notwendige Zusammenhang aber ist nicht für das fürwahrhaltende Bewusstsein, sondern nur für uns, die spekulativ denkenden Philosophen. So ist dieser notwendige Zusammenhang nicht einer Zweifelsbetrachtung unterworfen worden.
3. Gestaltenfolge, vollendete Geistesgestalt und Kategorien der Logik Die vielfältigen konkreten Gestalten des Bewusstseins, Selbstbewusstseins und Geistes haben sich in ihrer Abfolge als organisiert und systematisch verknüpft erwiesen durch eine modifizierte idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins. Diese Gestalten sind Weisen des Fürwahrhaltens, die in einem „sich vollbringenden Skeptizismus“ jeweils dem Zweifel unterzogen werden. Da hierbei also nicht, wie dargelegt, die Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes als solche entwickelt werden, kann deren notwendiger Zusammenhang auch nicht in einer philosophischen Psychologie etwa durch ein Zentralvermögen – wie z.B. die produktive Einbildungskraft oder Dichtungskraft – hergestellt werden, aus dessen Ausübungsweisen sich dann die anderen Vermögen und Tätigkeiten des Subjekts in geordneter Folge ergeben. Hegel hat vielmehr zwei andere Gründe des notwendigen Zusammenhangs dieser Bewußtseins-, Selbstbewusstseins- und Geistesgestalten und ihres jeweiligen Fürwahrhaltens vor Augen. Zum einen ermöglicht die „bestimmte Negation“ (GW 9, 57, vgl. auch 42), wie schon angedeutet, dass der Zweifel und der Erweis der Nichtigkeit eines Fürwahrhaltens nicht auf ein bloßes, leeres Nichts hinauslaufen wie z.B. im pyrrhonischen Skeptizismus, sondern dass sich daraus ein positives Resultat ergibt; dies ist allerdings nur für uns und die philosophisch-spekulative Einsicht begreifbar, nicht für das fürwahrhaltende Bewusstsein, das auf seiner jeweiligen Stufe verbleibt. So hält z.B. die sinnliche Gewissheit das sinnliche Diese für das Wahre; im mehrfachen prüfenden Durchgang erweist es sich aber als sinnlich Allgemeines. Die sinnliche Gewissheit, die am sinnlichen Diesen als ihrer Wahrheit festzuhalten sucht, geht an diesem Aufweis zugrunde, wird nichtig. Wenn aber das sinnliche Diese und die sinnliche Allgemeinheit denkend synthetisiert werden, so entsteht daraus ein neuer Gegenstand, das Ding mit seinen Eigenschaften, und eine neue Weise des Fürwahrhaltens, die Wahrnehmung. Dies positive Resultat jener Negation und Nichtigkeit der sinnlichen Gewissheit ergibt sich als eigens begriffenes nur für uns. Die Möglichkeit und Stringenz solcher bestimmten Negation und ihres positiven Resultats ist demgemäß letztlich nur in der spekulativen Dialektik beweisbar, d.h. in der spekulativen Logik. Die Gültigkeit solcher Verknüpfung der Bewußtseins-, Selbstbewusstseins- und Geistesgestalten durch bestimmte Negation muss in der Phänomenologie somit im Prinzip vorausgesetzt werden. – Zum anderen „entspricht“ nach Hegel „jedem … Mo-
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mente der Wissenschaft eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt“ (GW 9, 432); d.h. die „Gestalten des Bewusstseins“ sind in ihrer Konkretion der Fürwahrhaltensweisen Inkarnationen der Momente des „ganzen Reichs der Wahrheit des Geistes“ (a.a.O. 61); mit diesem „Reich der Wahrheit“ wird auf die spekulative Logik angespielt; was hier noch mit „Geist“ bezeichnet wird, heißt später – zur Vermeidung von Verwechslungen mit dem realen und geschichtlichen Geist: Idee. Den vielfältigen „Gestalten des Bewusstseins“ liegen also als nicht weniger vielfältige, rein gedankliche Momente die Kategorien bzw. Kategoriengruppen der spekulativen Logik zugrunde; und auch diese sind nur für uns, die Philosophen, nicht für das konkret fürwahrhaltende und jeweils skeptisch widerlegte Bewusstsein. Nun ist vielfach untersucht worden, welche Kategorienfolgen in welchem Hegelschen Logik-Entwurf hier diesen „Gestalten des Bewusstseins“ zugrunde liegen.9 Zwar dürfte für diese Zusammenhänge der Phänomenologie ein ihr eigenes Logik-Konzept im Hintergrund stehen, das nicht einfach identisch mit einem der früheren oder späteren Logik-Entwürfe Hegels ist; aber dies LogikKonzept lässt sich nicht hinreichend eindeutig aus der Folge der Bewusstseinsgestalten eruieren. So bleibt zur Rekonstruktion der logischen Substruktur dieser Gestaltenfolge nur der Rekurs auf einen ausdrücklichen, dem LogikEntwurf der Phänomenologie am nächsten stehenden Entwurf Hegels. Da für eine solche Rekonstruktion ein Logik-Entwurf aus der Nürnberger Gymnasialzeit (1808/09) Härten mit sich brächte – z.B. der Korrespondenz von Selbstbewusstsein mit bestimmten Relationskategorien –, bleibt nur die Skizze der „spekulativen Philosophie“ oder Logik gegen Ende der Jenaer Systementwürfe III von 1805/06. Das „absolute Sein, das sich anderes (Verhältnis) wird“,10 liegt dem bloßen Sein des Diesen in der sinnlichen Gewissheit sowie dem Ding im Verhältnis zu seinen Eigenschaften in der Wahrnehmung und den gesetzmäßigen Kräften im Verhältnis zu ihren Äußerungen, wie der Verstand sie erfasst, zugrunde. Die folgenden rein logischen Momente: „Leben und Erken9
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Vgl. hierzu H.F. Fulda, a.a.O. (Anm. 7), 140 ff (mit der Option für einen frühen Nürnberger Logik-Entwurf); vorsichtiger ders.: „Zur Logik der Phänomenologie von 1807“ (1966). In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Hrsg. von H.F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt a.M. 1973, 391-425, bes. 418 ff; O. Pöggeler: „Die Komposition der Phänomenologie des Geistes“, a.a.O. (Anm. 2), 329-390, bes. 359 ff (mit der Option für die Logik-Skizze am Ende der Jenaer Systementwürfe III von 1805/06); vgl. auch – zurückhaltender – ders.: „Hegels Phänomenologie des Selbstbewusstseins“, a.a.O. (Anm. 5), 269 ff; vgl. ebenso – detaillierter – ders.: „Selbstbewusstsein als Leitfaden der Phänomenologie des Geistes“. In: Reflections on Various Problems of Modern Western Philosophy. Hrsg. von Tetsugaku-Kai. Tokio 1989. Vol. CIV, Nr. 776, 218-210. Vgl. ferner J.H. Trede, a.a.O. (Anm. 7), 195 ff (folgt O. Pöggeler); anders dagegen H. Schmitz: Hegels Logik. Bonn 1992, 300 ff. Pöggelers Entsprechungsthese verteidigt D. Köhler, a.a.O. (Anm. 2). 66 f; vgl. auch die unten folgende Anordnung. – Zu Hegels verschiedenen Logik-Konzeptionen und deren Entwicklung sei auch der Hinweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 31995. GW 8, 286; bei Hegel steht irrtümlich: „…(Verhältnis wird) …“ – hier in normalisierter Schreibweise wiedergegeben. Im Folgenden wird die Fortsetzung dieser Stelle zitiert.
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3. GESTALTENFOLGE UND KATEGORIEN DER LOGIK
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nen“ bilden die Basis für das Leben des Selbstbewusstseins auf seinem Wege zum Anerkennen. Das sich anschließende rein spekulativ-logische „wissende Wissen“ ist nicht leicht zuzuordnen, liegt aber augenscheinlich dem „Vernunft“-Kapitel zugrunde, das mit dem die Vernunftpositionen begründenden Prinzip des Idealismus, dem wissenden Ich einsetzt. Das spekulativ-logische Moment des „Geistes“ stellt offensichtlich das Fundament für das „Geist“Kapitel in der Phänomenologie dar; und das spekulativ-logische „Wissen des Geistes von sich“ ist die Grundlage evtl. schon für das religiöse Bewusstsein, vor allem aber für die vollendete Bewusstseinsgestalt am Ende der Phänomenologie, nämlich das absolute Wissen. Dieses ist, was die enge Verwandtschaft von spekulativ-logischem Moment und letzter Bewusstseinsgestalt plastisch hervorhebt, wie erwähnt, „der sich in Geistesgestalt wissende Geist“ (GW 9, 427) oder auch „der sich als Geist wissende Geist“ (a.a.O. 433, vgl. 441). – Mit diesen „Entsprechungen“ wird das logische Fundament der Großgliederung der Phänomenologie erhellt; logische Details bleiben offen; erst recht werden dadurch die jeweiligen Konkretionen der verschiedenen Bewusstseinsgestalten oder Weisen des Fürwahrhaltens nicht erklärt; diese ergeben sich nur aus der von Hegel modifizierten idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins. Das absolute Wissen als standhaltendes Wissen des Wahren ist das Erkennen und Wissen des selbstbezüglichen Geistes nicht von etwas anderem, sondern rein von sich selbst. Es ist somit für Hegel das nicht mehr bezweifelbare Wissen der sich vollständig in ihrem Erkennen durchsichtigen Subjektivität. Die Skala der vorläufigen Wissensweisen und ihrer Subjektbestimmungen mündet in diese absolut klare und deutliche, denkende, selbstbezügliche Einsicht des Geistes oder der absoluten Subjektivität. Sie ist die letzte, die vollendete Bewusstseinsgestalt als Resultat und Aufhebung der vorangehenden Bewusstseinsgestalten. Aber dies absolute, wahre Wissen ist als reines, intellektuelles, selbstbezügliches Wissen, als „Wissen des Geistes von sich“ (GW 8, 286), wie es in der Gliederung der „spekulativen Philosophie“ oder Logik von 1805/06 hieß, zugleich rein spekulativ-logisches, vollendetes Erkennen und Selbsterkennen der absoluten Subjektivität. Dieses Erkennen enthält prinzipiell und inexplizit die in eine einzige Einsicht kontrahierte Vielfalt der reinen logischen Gedankenbestimmungen oder Kategorien und der bestimmten Negation als Bestandteil der spekulativen Dialektik in sich. In diesem Erkennen und Wissen der Subjektivität von sich selbst sind damit auch die zuvor als Grundlagen des notwendigen Zusammenhangs der Bewusstseinsgestalten verwendeten Kategorien sowie die bestimmten Negationen unentwickelt in einem in eins zusammengezogenen reinen Gedanken enthalten. Sie finden also innerhalb der Phänomenologie in dieser letzten Bewusstseinsgestalt, die zugleich spekulatives Wissen von sich ist, zumindest virtuell und prinzipiell ihren Platz. Aber diese Kategorien und bestimmten Negationen müssen in ihrem eigenen Zusammenhang rein gedanklich, d.h. spekulativ-logisch ausdrücklich und
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PHÄNOMENOLOGIE UND SPEKULATIVE LOGIK
detailliert entwickelt und begründet werden. Dies geschieht in der auf die Phänomenologie folgenden Logik. Damit ergibt sich aber das Zirkelproblem,11 dass Hegel schon den Bestand und die Gültigkeit spekulativer, nicht lediglich traditioneller logisch-ontologischer Kategorien sowie der Dialektik in der Phänomenologie voraussetzen muss, obwohl diese in die spekulativ-logischen Kategorien und in deren Methode der Verknüpfung doch eigentlich erst einleiten und sie rechtfertigen soll. Dieses Beweisproblem ergibt sich offensichtlich daraus, dass Hegel der Phänomenologie von 1807 zu viele grundlegende Aufgaben zugleich aufgebürdet hat. Sie soll rechtfertigende Einleitung in die spekulative Logik sein, ebenso modifizierte idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins und „sich vollbringender Skeptizismus“, der dialektische Erfahrungen des Bewusstseins darlegt, dies alles aber in einem systematisch notwendigen, letztlich spekulativ-logisch fundierten Argumentations- und Entwicklungsgang. Diese divergierenden Aufgaben lassen sich nicht allesamt zugleich erfüllen; so ist das Unternehmen der Phänomenologie hyperkomplex.
4. Subjektivität und Sein. Der Übergang der Phänomenologie in die Logik Wenn die reinen Gedankenbestimmungen oder Kategorien12 eigens thematisch in der Logik expliziert werden sollen, so stellt sich die Frage, welche unter ihnen an das absolute Wissen oder das Sich-Denken und Sich-Erkennen der reinen Subjektivität anzuschließen ist. Nun begann die Logik von 1805/06 mit dem „absoluten Sein“; und der Hegel-Biograph Karl Rosenkranz berichtet, dass Hegel in seiner Vorlesung über Phänomenologie und Logik (wohl vom Sommer 1806) „aus dem Begriff des absoluten Wissens unmittelbar zu dem des Seins überging“.13 Doch hierbei ergibt sich das Problem, ob nicht die hochdifferenzierte Struktur des reinen Denkens und Wissens des Geistes oder der Subjektivität von sich selbst in dieser ersten und einfachsten Kategorie der Logik, dem bloßen Sein, völlig verloren geht. Rosenkranz zitiert Hegels Dar11
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Solche Zirkel im Beweis sind, worauf Kant in seiner „Logik“ aufmerksam macht, keine simplen Fehler; sie werden „gerade da gemeiniglich am häufigsten begangen, wo die Beweise schwer sind“, s. Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd. IX, 135. Zur zirkelhaften Argumentation Hegels in der Phänomenologie vgl. z.B. H.H. Ottmann: Das Scheitern einer Einleitung in Hegels Philosophie. Eine Analyse der Phänomenologie des Geistes. München und Salzburg 1973, bes. 185 ff. Hegel verwendet für seine spekulativ-logischen Bestimmungen auch den Aristotelischen Terminus: Kategorien; für ihn ist dabei aber spezifisch deren reiner semantischer Gehalt wesentlich, nicht notwendig deren logisch-grammatische Position in einem Urteil, auch wenn er diese Bedeutung nicht zurückweist; vgl. Wissenschaft der Logik (= GW 11). Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 259. K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 214, s. GW 5. Unter Mitarbeit von Th. Ebert hrsg. von M. Baum und K.R. Meist (Anhang von K.R. Meist). Hamburg 1998, 474.
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4. SUBJEKTIVITÄT UND SEIN
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legung darüber in dieser Vorlesung: „Dem Wissen als der Einheit des allgemeinen und einzelnen Selbstbewusstseins ist eben dies sein Element und Wesen selbst der Gegenstand und Inhalt seiner Wissenschaft und muss daher auf gegenständliche Weise ausgesprochen werden. Und so ist der das Sein.“14 Was hier noch als die Einheit von allgemeinem und einzelnem „Selbstbewusstsein“ angesprochen wird, ist am Ende der Phänomenologie der selbstbezügliche wissende „Geist“ in der Einheit seiner begrifflichen Bestimmungen. Dies Selbstbewusstsein oder der Geist haben sich selbst im „absoluten Wissen“ zum noematischen oder „gegenständlichen“ Inhalt ihrer Wissenschaft, nämlich ihres rein logischen Selbsterkennens. Die erste, einfachste und gänzlich unmittelbare Bedeutung aber solchen noematischen oder „gegenständlichen“ Inhalts ist nach Hegel „das Sein“. Diese reine Gedankenbestimmung ebenso wie unmittelbar folgende reine Gedankenbestimmungen trennt das Selbstbewusstsein, der Geist oder die denkende Subjektivität nicht von sich ab; es findet kein Rückfall in den Bewusstseinsgegensatz statt. Vielmehr ergibt sich in der „freien Selbstbewegung“ der logischen Gedanken – gemäß Hegels Darlegung in jener Vorlesung – „wie das Sein … sein Wesen, Geist zu sein, entwickelt …“.15 Das vollständige Sichselbst-Denken und Sich-selbst-Erkennen der absoluten Subjektivität im „absoluten Wissen“ geht also in die ganz einfache und unmittelbare logische Gedankenbestimmung des Seins und der dann folgenden Seinskategorien über. Was in dieser Vorlesung und in der Phänomenologie schon angelegt ist, zeigt Hegel später in der Wissenschaft der Logik auf: Für sich betrachtet, sind diese reinen, in sich einfachen Seinsbestimmungen und auch die sich anschließenden Wesens- oder Relationskategorien nur ontologische Gedankenbestimmungen; sie erweisen sich nach einem langen kategorialen Weg aber dann in der Explikation der reinen Bestimmungen denkender Selbstbeziehung innerhalb der Begriffslogik als Momente im reinen Denken seiner selbst, die die Subjektivität autonom und spontan, d.h. aus eigener Aktivität konstituiert. In Analogie zu Fichtes Prinzip des „Ich bin“ schreibt sie sich z.B. Sein und Dasein zu, ebenso auch die anderen Kategorien als Momente ihrer selbst. Am Ende der Logik wird somit in detaillierter dialektischer Entfaltung erreicht, worauf in kontrahierter, unentwickelter und embryonaler Weise am Ende der Phänomenologie im „absoluten Wissen“ nur hingewiesen werden konnte, nämlich das aus der Kategorienentwicklung hervorgehende reine Sich-Denken und Sich-Wissen der absoluten Subjektivität, das, wie sich schließlich zeigt, die vollständige Kategorienentwicklung selbsttätig und autonom erst hervorbringt. Daher denkt es in diesen ontologischen Kategorien, auch denjenigen
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A.a.O. 213, GW 5, 473. Hierzu und generell zum Übergang der Phänomenologie in die Logik sei der Verweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O. (Anm.9), 205 ff. K. Rosenkranz, a.a.O. 213, GW 5, 474.
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des Seins und Daseins, als seinen eigenen Momenten sich selbst.16 – Die hoch differenzierte Struktur des absoluten Wissens und Sich-Wissens der Subjektivität am Ende der Phänomenologie wird also mit der in sich ganz einfachen logisch-kategorialen Bestimmung des Seins und mit den einfachen ersten Seinskategorien nur scheinbar verlassen, nämlich dann, wenn man diese Kategorien als ontologische Bestimmungen nur für sich betrachtet. Berücksichtigt man dagegen, dass sich in der weiteren kategorialen Entwicklung in der Logik das reine Sich-Denken und Sich-Erkennen der Subjektivität notwendig ergibt, die auch jene anfänglichen ontologischen Gedankenbestimmungen als Momente ihrer selbst allererst konstituiert, so wird jene hohe Differenziertheit der Subjektivitätsstruktur des absoluten Wissens keineswegs verlassen, sondern in der spekulativen Logik erst explizit entfaltet.
Schluss Der Erkenntnisanspruch des absoluten Wissens als Abschluss der skeptischen Prüfung der verschiedenen Weisen des Fürwahrhaltens wird heute vielfach als Überforderung der menschlichen Erkenntnis angesehen. Die vollkommene intellektuelle Selbstdurchsichtigkeit und Selbsterkenntnis eines durch sinnliche Äußerlichkeiten, durch unbewusste oder durch bildhafte Vorstellungen nicht mehr beeinträchtigten Subjekts gilt gegenwärtig aufgrund von Erkenntnissen in Physik, Psychologie oder Gehirnforschung als unerreichbar; und erst recht bezweifeln dies – wissenschaftlich fundiert oder nicht – relativistische oder skeptische Richtungen. Solche Kritiken sind in der Regel nicht immanent und gehen am Aprioritätsanspruch der reinen, logischen Erkenntnis vorbei. Doch auch gegen die logische Erkenntnis in Hegelscher Version richten sich ernste Einwände, die nur genannt seien; zum einen wird Hegels Auffassung als undurchführbar bezweifelt, man müsse bestimmte Widersprüche des Endlichen begehen, um aus ihnen positive Resultate für eine Erkenntnis von Unendlichem zu folgern; zum anderen wird die Erkenntnis konkreter, auch vielerlei Besonderes und Einzelnes in sich enthaltender Allgemeinheit als schwerlich realisierbar für menschliche Erkenntnis angesehen.17
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Vgl. hierzu z.B. Wissenschaft der Logik (= GW 12). Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 246; zur Logik als Theorie der absoluten oder unendlichen Subjektivität möge der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. gestattet sein: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O. (Anm. 9), bes. 228-346, zu Ontologie und Subjektivitätstheorie auch vom Verf.: „Kategorien als Bestimmungen des Absoluten?“ In: Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongress 2005. Hrsg. von R. Bubner und G. Hindrichs. Stuttgart 2007, 164-181. Zu ausführlichen Argumentationen hierzu mag der Hinweis auf die Darlegungen des Verfs. erlaubt sein: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O.; zu den im Folgenden erwähnten Selbstbewusstseinsmodellen s. vom Verf.: Selbstbewusstseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997.
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SCHLUSS
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Doch auch wenn man solche Kritiken am absoluten Wissen und der darauf aufbauenden spekulativen Logik partiell oder sogar im Wesentlichen akzeptiert, bleibt die „Phänomenologie“ in ihrer systematischen Erörterung der Pluralität von Weisen des Fürwahrhaltens und der dazugehörigen Skala von Subjektbegriffen für eine gegenwärtige Auseinandersetzung insbesondere mit Richtungen des Relativismus oder Skeptizismus von besonderer Bedeutung. Ohne die Annahme eines Subjekts etwa von Wahrnehmungen, von bildhaften Vorstellungen, von willentlichen Entschlüssen zu Handlungen sowie von logisch-wissenschaftlichen Argumentationen dürften Relativismus oder Skeptizismus sich selbst über entsprechende Weisen des Fürwahrhaltens kaum prüfend äußern können. Dies zeigt sich auch und gerade an Argumentationen, die relativistisch oder skeptisch ausgeführt werden sollen; hierbei ist es offensichtlich notwendig, den Bestand und die Gültigkeit der Gesetze der formalen Logik sowie allgemein-kategorialer Inhalte selbstbewusstseinsimmanent anzunehmen, damit aber auch, was schwerlich zu leugnen ist, deren jeweils ermöglichendes Prinzip, das denkende Subjekt. Auch für die anderen erwähnten Vorstellungsweisen wird man kaum umhinkommen, jeweils Subjektbegriffe von unterschiedlicher modellhafter Bedeutung anzunehmen, da ohne entsprechendes Subjekt solche Vorstellungen gar nicht vollzogen werden könnten; und in paralleler Weise gründen die verschieden gestuften Weisen des Fürwahrhaltens, die in solchen Vorstellungsweisen ausgeführt werden, in gleichartig gestuften einfacheren oder komplexeren Selbstbewusstseinsmodellen. Dadurch bleiben die skeptisch betrachteten Weisen des Fürwahrhaltens nicht pluralistisch und relativistisch einfach nebeneinander bestehen, sondern werden in die Ordnung einer differenzierenden Skala von sie ermöglichenden Selbstbewusstseinsmodellen gebracht. Durch solche Subjektivitätstheorie, die die Grundlagen darlegt, auf deren Boden überhaupt erst Arten des Relativismus und Skeptizismus argumentieren können, gelangt man offenbar eben darüber hinaus. Dafür aber hat die „Phänomenologie“ als Geschichte des Selbstbewusstseins und „sich vollbringender Skeptizismus“ vorprägende Bedeutung.
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Ontologie bei Aristoteles und Hegel Die Lehre von den grundlegenden Bestimmungen des Seienden als solchen, die erst im 17. Jahrhundert den Namen: „Ontologie“ erhielt, wurde seit der klassischen griechischen Antike in vielfältigen Gestalten entworfen und durchgeführt. Ein Einblick in die wandlungsreiche Geschichte der OntologieKonzeptionen zeigt, daß sich mehrere Grundtypen von Ontologie herausgebildet haben, die teilweise einander ausschließen und teilweise miteinander kombinierbar sind. So läßt sich hinsichtlich des inhaltlichen Verständnisses des grundlegenden oder eigentlichen Seienden eine Substanzontologie von einer Ereignis- oder Prozeßontologie unterscheiden. Hinsichtlich der Weise der Erkennbarkeit des Seienden, es mag nun Substanz oder Prozeß sein, läßt sich eine Gegebenheits- von einer Konstitutionsontologie oder – traditioneller gesagt – eine realistische von einer idealistischen Ontologie unterscheiden; Seiendes in seinen Grundbestimmungen gilt dabei entweder als vorgegeben und wird, wie es sich von sich her darbietet oder zeigt, vom Seinsverständnis aufgenommen; oder es wird in seinen grundlegenden Bedeutungen vom Denken allererst konstituiert. Hinsichtlich der methodischen Entwicklung schließlich kann eine Ontologie einerseits von Urteilsfunktionen als Weisen, ’ist’ zu sagen, ausgehen und ihnen gemäß ontologische Grundbestimmungen oder Kategorien aufstellen; andererseits kann sie eine eigene originäre Methode des Denkens zur Aufstellung und Verknüpfung der Grundbestimmungen des Seienden entwickeln, die Dialektik, und so dialektische Ontologie werden. – Die jeweils entgegengesetzten Positionen schließen einander aus; aber je eine Seite einer Alternative ist mit je einer Seite der anderen Alternativen durchaus verbindbar. Voneinander verschieden, aber miteinander und mit den bisher genannten Ontologietypen verbindbar sind zwei weitere Typen von Ontologie, nämlich einerseits eine universalistische Ontologie, in der die ontologischen Bestimmungen oder Kategorien von allem Seienden gelten, und andererseits eine paradigmatische Ontologie, in der ontologische Bestimmungen in eminenter Bedeutung von einem exemplarischen Seienden gelten, von anderem, defizientem Seienden aber nur indirekt oder reduziert. In der näheren Durchführung wird sich hierbei das Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie als besonders bedeutsam erweisen. Nun hat Hegel – entgegen der Kantischen Kritik – die Ontologie wieder restituiert. Dies sollte ihr in Anbetracht der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Ontologie, sei es hinsichtlich der Lehren vom Seienden und vom Sein beim frühen und beim späten Heidegger, sei es hinsichtlich der Ontologie-Reduktionismen in der analytischen Philosophie auch heute noch eine besondere, freilich den Zeiten- und Problemabstand berücksichtigende Aufmerksamkeit sichern. Hegel knüpft dabei nach eigener Aussage teilweise dezidiert an Aristoteles’ Ontologie an. Diese positive Bezugnahme gerade auf Aristote-
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les verwundert, da Hegel hinsichtlich der typologischen Grundcharaktere seiner Ontologie, wie sich zeigen wird, in weiten Teilen geradezu das Gegenteil zur Anlage der Aristotelischen Ontologie vertritt. Doch schon Hegels Bezeichnung der reinen ontologischen Gedankenbestimmungen als Kategorien deutet diese Orientierung an, obwohl er gerade nicht den spezifisch darin enthaltenen urteilslogischen Sinn übernimmt. Insbesondere steht der enge Zusammenhang der Ontologie mit der philosophischen Theologie in Hegels Theorie durchaus Aristoteles’ Erster Philosophie nahe, in der dieser Zusammenhang essentiell ist. – Hegel rühmt vielfach die „spekulative“ Bedeutung der Aristotelischen Philosophie; ihm kommt dabei das besondere Verdienst zu, Aristoteles von der langanhaltenden Fehldeutung insbesondere im 18. Jahrhundert befreit zu haben, dieser sei ein nicht sonderlich konsequenter Empirist; auch Kant glaubte dies, und noch der aufklärerische Philosophiehistoriker Tennemann stellte es so dar. Für Hegel aber „übertrifft“ Aristoteles sogar „an spekulativer Tiefe ... den Platon“.1 Solchen spekulativen Sinn sieht Hegel vor allem in Aristoteles’ Lehre von der göttlichen Noesis Noeseos, die er freilich in seine eigene Theorie der absoluten, rein sich denkenden, göttlichen Subjektivität transformiert, ebenso in Aristoteles’ Seelenlehre, besonders in der Lehre von der denkenden Seele, wobei Hegel engere Verknüpfungen mit der Theorie des göttlichen, sich denkenden Nous vornimmt als Aristoteles, in der Lehre von der Teleologie vor allem des Lebendigen2 und in der reinen Ontologie, die systematisch die Grundlage und die Grundkonzeption aller dieser Bereiche enthält. Diese reine Ontologie behandelt Hegel vergleichsweise kurz; gleichwohl liegt seinen Darlegungen eine eigene spekulative Deutung zugrunde.3 Es soll im Folgenden eruiert werden, warum Hegel in dieser offensichtlich 1
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G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden (= Theorie-Werkausgabe). Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 19, 133 (belegt in der Nachschrift Griesheim vom Wintersemester 1825/26, 352; vgl. ebenso in der Nachschrift Pinder aus demselben Semester, 229). Zu diesen Bereichen von Hegels Aristoteles-Deutung und zur Übersicht über die Literatur darüber sei der Verweis erlaubt auf die Darstellung des Verfs.: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, 97-132; vgl. auch ders.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik (= Hegel-Studien. Beiheft 15). Bonn 31995, 305-313, sowie: „Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der ’Philosophie’“. In: Hegels enzyklopädisches System. Hrsg. von H.-Chr. Lucas, B. Tuschling und U. Vogel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 443-458. Über diese Darlegungen hinaus soll im Folgenden spezifisch Aristoteles’ Ontologie der Ousia in ihren verschiedenen Fassungen und Hegels Deutung der Aristotelischen Ontologie erörtert werden. So zahlreich die Untersuchungen zu Hegels spekulativer Deutung von Aristoteles’ Theologie sind, so spärlich sind sie zu Hegels Deutung von Aristoteles’ Ontologie. Detailliert und differenziert ist die wirkungsreiche Studie von N. Hartmann: „Aristoteles und Hegel“ (zuerst 1923). In ders.: Kleinere Schriften II. Berlin 1957, 214-252. Hartmann legt u.a. dar, daß in Aristoteles’ Ousia-Lehre das Einzelne letztlich durch Eide nicht bestimmt werde und daß Hegel es panlogistisch zu bestimmen suche. H.-G. Gadamer („Hegel und die antike Dialektik“ [zuerst 1961]. In ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen 21980, 730) und ausführlicher W. Kern (bes.: „Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des Aristotelischen ’Nous’ in Hegels ’Geist’“. In: Philosophisches Jahrbuch 78 [1971], 237-259;
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so ganz anders angelegten Aristotelischen Ontologie doch eine Präfiguration seiner eigenen erkennen kann. So sei nun in einem ersten Teil zur Gewinnung einer von Hegels Deutungsperspektiven unabhängigen Auffassung Aristoteles’ Ontologie der Ousia in ihren verschiedenen Versionen in der Kategorien-Schrift und in der Metaphysik für sich hervorgehoben; dazu gehört auch Aristoteles’ Theorie des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit sowie dessen Teleologie. In einem zweiten Teil soll dann Hegels Deutung dieser Ontologie, ihres Verhältnisses zur Platonischen Ideenlehre und ihres spekulativen Charakters, wie Hegel ihn sieht, hervorgehoben werden. Dabei sollen zugleich ontologisch-theologische Gemeinsamkeiten ebenso wie die unterschiedlichen Grundcharaktere der Aristotelischen und der Hegelschen Ontologie vor dem Hintergrund der skizzierten Ontologietypen und ihrer Verhältnisse zueinander deutlich werden.
1. Aristoteles’ Versionen einer Ontologie der Ousia Aristoteles hat zwei unterschiedliche Versionen seiner Ontologie der Ousia aufgestellt, was erst in den letzten Jahrzehnten und intensiviert in den letzten Jahren genauer erforscht wurde; die erste, frühere ist in der Kategorien-Schrift entwickelt, die zweite, spätere in den Büchern VII und VIII der Metaphysik. Hegel bemerkt den Unterschied dieser Theoriefassungen zwar wohl insofern, als er sie im Aristoteles-Teil der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an unterschiedlichen systematischen Orten, nämlich unter dem Titel „Logik“ und unter dem Titel „Metaphysik“ behandelt; aber er stellt keine Beziehung unter diesen Lehren her. Das Verhältnis dieser Lehren zueinander aber ist für ein Begreifen der Entwicklung von Aristoteles’ Auffassung über die Ousia wesentlich; daher gilt es, diese Frage im Folgenden zu erörtern. Aristoteles’ frühere Lehre in der Kategorien-Schrift ist in der Geschichte der Philosophie weitgehend kanonisch geworden als die eigentliche Darstelvgl. auch ders.: „Aristoteles in Hegels Philosophiegeschichte: eine Antinomie“. In: Scholastik 32 [1957], 321-345) berücksichtigen die Ontologie mit, aber wesentlich im Rahmen der Nous- bzw. Geist-Lehre. E. Vollrath (Die These der Metaphysik. Zur Gestalt der Metaphysik bei Aristoteles, Kant und Hegel. Wuppertal – Ratingen 1969) sucht bei Aristoteles und bei Hegel unterschiedliche Zeitbestimmungen in den Begriffen des eigentlichen Seienden auf. Zur Deutung von Aristoteles’ Ontologie als spekulativer Logik bei Hegel vgl. V. Verra: „Hegel e la lettura logico-speculativa della ‘Metafisica’ di Aristotele“. In: Rivista di filosofia neoscolastica 85 (1993), 605-621, bes. 614 ff; zu Problemen der Einordnung von Aristoteles’ Theorie in Hegels Philosophiegeschichte vgl. im Anschluß an W. Kern (s.o.) L. Samonà: Dialettica e metafisica. Prospettiva su Hegel e Aristotele. Palermo 1989, bes. 13-48; vgl. dazu ebenso A. Ferrarin: Hegel interprete di Aristotele. Pisa 1990, bes. 27 ff. In den weiteren Interpretationen zu Aristoteles’ und Hegels Metaphysik (s. auch vorige Anm.) dominieren die Untersuchungen zur philosophischen Theologie, so auch in den Aufsätzen (bes. von P. Aubenque, B. Bourgeois, L. Lugarini und G. Planty-Bonjour) des Sammelbandes: La question de Dieu selon Aristote et Hegel. Publié sous la direction de Thomas de Konninck et Guy Planty-Bonjour. Paris 1991.
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lung seiner Position und seines Unterschiedes zur Platonischen Ideenlehre. Hier differenziert Aristoteles offensichtlich gegen den von Platon konzipierten ontologischen Charakter der Idee zwischen erster und zweiter Ousia (substantia, Wesenheit). Ousia in erster, eigentlicher und ursprünglicher Bedeutung ist in logisch-sprachlicher Hinsicht, was nicht von einem anderen ausgesagt wird und nicht in einem anderen als bloße Bestimmung ist; dies aber heißt, sie ist erstes Zugrundeliegendes oder erstes Subjekt, das sinnvollerweise in einer Aussage nicht als Prädikat fungiert. An dieser Charakterisierung wird bereits die urteilslogische Orientierung des grundlegenden ontologischen Terms deutlich. Ousia in erster und vorzüglicher Bedeutung ist in ontologischer Hinsicht das selbständig für sich existierende Einzelwesen wie dieser bestimmte Mensch, z.B. Sokrates, dieses bestimmte Pferd, z.B. Bukephalos, das Pferd Alexanders; es existiert nicht nur an einem anderen wie etwa die Eigenschaft: weiß, sondern selbständig und für sich; darin liegt für Aristoteles zugleich, daß jede erste Ousia numerisch Eines und ontologisch von in sich einfacher Einheit ist. Alles andere Seiende, das qualitativ, quantitativ, relativ oder nach einer der anderen Kategorien bestimmt wird, kann nur existieren, wenn es solche ersten Ousiai gibt; sie sind nur Bestimmungen an einer ersten Ousia. Ousia in zweiter Bedeutung ist nach der Kategorien-Schrift das jeweilige Eidos, mit dem ausgesagt wird, was ein zugrunde liegendes, selbständig existierendes Einzelwesen ist; dazu gehört auch – in weiterer Entfernung vom Einzelwesen – das Genos, das als allgemeinerer Begriff zur Wesensbestimmung erforderlich ist; so wird z.B. von diesem bestimmten Einzelwesen ’Sokrates’ das Eidos ’Mensch’ und das Genos ’Lebewesen’ ausgesagt. Dies Eidos ist nicht nur eine akzidentelle Eigenschaft an etwas Anderem, Zugrundeliegendem wie z.B. weiß, sondern Bestimmung dessen, was ein Einzelnes wesentlich ist; nach den Beispielen ist es die Art (species).4 Sie kommt als Allgemeines mehreren zu, wird logisch-sprachlich als Prädikat eines Einzelwesens verwendet, das an der Subjektstelle steht. Ontologisch hat das Eidos ebenso wie das Genos keine abgetrennte Existenz für sich, sondern ist nur als Was-sein des selbständig existierenden Einzelwesens existent.5 4
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Ein solches Eidos kann zu seinem Bedeutungsgehalt nicht etwas bloß Negatives oder Relatives haben; davon gibt es keine inhaltlich bestimmte Gattung; und es ist selbst nicht wohl bestimmt. Ideen kann es nur von Wesenheiten (Ousiai) geben (vgl. Aristotelis Metaphysica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger. Oxford 1957 – Aristoteles: Metaphysik. Übers. von H. Bonitz, hrsg. von H. Carvallo und E. Grassi. München 1966, 990b 1329, 1079a 9-26, nach der üblichen Paginierung der Ausgabe von I. Bekker).Wenn Aristoteles also nahelegt, es gebe keine Ideen von Negativem oder Relativem, denkt er an diese EidosLehre; denn in Platons Sophistes etwa gibt es solche Ideen sehr wohl. Diese Darlegungen gehen davon aus, daß die Kategorien-Schrift eine echte Schrift des Aristoteles ist; dies wurde im 19., auch im 20. Jahrhundert und z.B. noch von H. Schmitz mit z.T. geistreichen Argumenten bezweifelt (vgl. Die Ideenlehre des Aristoteles. Bonn 1985. Bd. I.2, 1-26). Vgl. aber die Übersicht über die Argumente, die für die Echtheit sprechen in H.J. Krämer: „Aristoteles und die akademische Eidoslehre“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), 119-190, bes. 122 ff.
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Diese Lehre ist implizit, aber eindeutig gegen die Platonische Theorie von der ontologischen Selbständigkeit und vom Ansichsein der Ideen gerichtet. Zwar behält auch Aristoteles ’Eidos’ und ’Genos’ bei; ferner bestimmt er in der Metaphysik zutreffend den Sinn einer Platonischen Idee als Allgemeines, als Eines, das für Vieles gilt, als rein Gedachtes und Beständiges gegenüber dem heraklitischen Fluß des vielfältig und einheitslos wechselnden Sinnlichen. Aber selbständige Existenz und Ansichsein, wie Platon es behauptet, kann ihr nach Aristoteles nicht zukommen. Denn logisch-sprachlich muß sie, wie die Kategorien-Schrift zeigt, als Allgemeinheit zuletzt von Einzelnem gelten, von dem sie ausgesagt wird; dann aber muß dieses als Vorgegebenes und Zugrundeliegendes angesehen werden. Auch ontologisch ist infolgedessen das Allgemeine vom Einzelnen, auf das es sich bezieht, abhängig; für sich existiert nur das bestimmte Einzelwesen, wie insbesondere die Beispiele der Lebewesen zeigen; das Eidos existiert nur als deren Was-sein oder Art, nicht für sich selbst. Voraussetzung für diese implizite Platon-Kritik ist vor allem, daß Ideen mit Anspruch auf Wahrheit immer in einfachen Urteilen verwendet werden, in denen letztlich Allgemeines jeweils auf Einzelnes zu beziehen ist. Neben diesem Argument, das durchaus neue Horizonte der Orientierung der Ontologie an der Logik eröffnet, hat Aristoteles von seinem nur sekundär und nur bruchstückhaft überlieferten Frühwerk: Über die Ideen an eine Reihe weiterer Argumente gegen die Platonische Ideenlehre teils ausgebildet, teils aufgenommen und weiterentwickelt, die sich nicht insgesamt auf jenes grundlegende Argument zurückführen lassen. Da Hegel darauf nicht näher eingeht, seien hier die entscheidenden nur genannt; diese Argumente stellen aber lediglich dann Einwände gegen die Ideenlehre dar, wenn die grundlegende These, es bestehe eine Kluft (ein Chorismos) zwischen Sinnenwelt und Ideenwelt, bereits vorausgesetzt wird. Diese These ist unplatonisch; sie impliziert eine mit Platons Theorie nicht zu vereinbarende Ontologisierung der Sinnenwelt als eigener selbständiger Welt und der Sinnendinge als selbständig existierender Entitäten, wie es Aristoteles’ eigener Auffassung entspricht. Nur unter dieser Voraussetzung gilt, daß das Urbild-Abbild-Verhältnis, das – wie auch Platon zugegeben hätte – nur metaphorisch zu verstehen ist, daß das TeilhabeVerhältnis oder auch das in weitem Sinne konzipierte Ursache-WirkungVerhältnis von Ideen und Sinnendingen keine wirkliche Beziehung unter ihnen zustande bringt und jene Kluft nicht überbrückt. Zwei Argumente scheinen allerdings grundsätzlicher angelegt zu sein und das Verhältnis von Ideen zueinander und zu Sinnendingen überhaupt als paradox zu erweisen. Zum einen erklärt Aristoteles im Buch VII der Metaphysik, wenn etwa die Gattung Lebewesen vielen Arten wie Pferd, Hund, Mensch inhärent sei, dann müsse sie wohl getrennt von sich existieren und könne nicht in ihnen eines sein; und wenn sie dabei z.B. am Zweifüßigen und Vielfüßigen teilhabe, dann nehme sie
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an Entgegengesetztem zugleich teil.6 Solche Unzuträglichkeiten stellen sich nach Aristoteles erst recht ein, wenn es um die Beziehung von Ideen und wahrnehmbaren Einzeldingen geht. Schwierigkeiten bei dieser Beziehung werden gerade in dem anderen grundsätzlichen Argument hervorgekehrt, in dem berühmten Argument des „dritten Menschen“, auf das Aristoteles oft nur verweist, das ihm zumindest in sophistischen Versionen schon vorliegt und dem er offensichtlich in seiner frühen Schrift: Peri ideon (Über die Ideen) eine eigene Fassung gibt. Danach wird von vielen Einzelmenschen als deren Wassein die Idee des Menschen prädiziert, der nach Platonischer Auffassung unabhängige Existenz zukommt. Ihnen allen aber, den Einzelmenschen und der Idee Mensch, kommt – als gemeinsames Was-sein zur Ermöglichung ihrer Beziehung – überhaupt ’Mensch’ zu; dies ist der von jenen Relata getrennte ’dritte Mensch’. Wenn man das Was-sein aller dieser Bestimmungen zusammennimmt, so ergibt sich ein ’vierter Mensch’ usf. ins Unendliche. Nie gelingt definitiv die Beziehung einer einheitlichen Idee als des Was-seins von etwas auf das Einzelding.7 Alle diese Argumente aber, auch die beiden grundsätzlichen ebenso wie die Chorismos-These, kommen schon im ersten Teil von Platons Parmenides vor, ohne daß Platon sich genötigt sieht, seine Ideenlehre zu verabschieden. Das erste der beiden grundsätzlichen Argumente ist – ähnlich wie bei Aristoteles – zweiteilig. Wenn jedes Einzelding die ganze Idee in sich aufnimmt, so ist diese unter vieles verteilt und somit getrennt von sich selbst, also nicht mehr eine. Wenn sie aber nicht als ganze in jedem Einzelding ist, sondern ausgebreitet wie ein Segeltuch über viele Einzeldinge, dann ergeben sich Widersprüche; dann sind z.B. viele große Dinge groß, indem sie kleiner sind als die Idee der Größe, an der sie teilhaben.8 Bei diesem Argument wird in seinen beiden Teilen die Idee behandelt wie ein bestimmtes Ding, was der Ideenlehre nicht entspricht. – Das Argument des ’dritten Menschen’ bringt Platon am Beispiel der 6
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Vgl. Met. Æ 14, 1039a 33 ff, 1039b 9 ff. Vgl. hierzu M. Frede/G. Patzig: Aristoteles‚ Metaphysik Æ. Text, Übersetzung und Kommentar. 2 Bde. München 1988. Bd. 1, 110 ff, Bd. 2, 264 ff. – Zu Aristoteles’ Kritik an Platons Ideenlehre vgl. insbesondere H. Cherniss: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy (zuerst: 1944). New York 21962. Diese Fassung des Arguments schildert in seinem Metaphysik-Kommentar Alexander von Aphrodisias als die Aristotelische in Peri ideon. Vgl. dazu etwa P. Wilpert: „Das Argument des ’dritten‘ Menschen“. In: Philologus 94 (1940), 51-64. Wilpert nimmt zu einer damaligen Diskussion über die historischen Gestalten des Arguments des ’dritten Menschen‘ Stellung. Diese gelehrte Diskussion scheint völlig vergessen zu sein in der neueren Diskussion des Arguments des ’dritten Menschen‘ im Ausgang von Platons Parmenides, die – schließlich vom historischen Kontext sich lösend – zum Selbstläufer wurde; sie begann bei G. Vlastos: “The Third Man Argument in the Parmenides“ (zuerst: 1954). In: Studies in Plato’s Metaphysics. Ed. by R.E. Allen. London und New York 1965, 231-263, vgl. auch ders.: “Plato’s Third Man Argument”. In: Philosophical Quarterly 77 (1969), 289-301, vgl. die kritische Sichtung dieser neueren Diskussion bei R.-P. Hägler: Platons „Parmenides“. Berlin – New York 1983. Vgl. Platon: Parmenides. 131a-d (nach der üblichen Paginierung der Ausgabe von Henricus Stephanus 1578). Dieser zweite Teil des Arguments fällt etwas anders als Aristoteles’ Einwand aus, der sich begriffslogisch leicht entkräften ließe. Vgl. auch Philebos. 15b 6 ff.
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Größe vor: Viele große Dinge sind groß, weil sie teilhaben an der Idee der Größe. Nimmt man die großen Dinge und die Idee der Größe zusammen, so kommt ihnen allen als das ihre Beziehung ermöglichende gemeinsame Wassein Großheit zu oder eine ’dritte Größe’, allen diesen als ihr Was-sein eine vierte Größe usf. ins Unendliche.9 Problematisch ist hierbei der zweite Schritt; er impliziert die Aussage, die Idee der Größe selbst sei groß. Darin liegt im Kontext des Parmenides erneut, daß Idee und Ding in solcher Prädikation auf eine Stufe gestellt werden. Platon hat also gute Gründe, an seiner Ideenlehre trotz dieser kritischen Argumente festzuhalten; seine Darlegung bringt offensichtlich die Einwände, wie sie in der damaligen Akademie10 geäußert wurden, auf den Begriff; ob er auch diejenigen aus Aristoteles’ Frühschrift: Peri ideon kannte und aufnahm, mag offenbleiben. Warum allerdings Aristoteles auch später noch an diesen Einwänden festhält, ist nicht leicht zu verstehen und wohl nur mit mangelnder Berücksichtigung der Ontologie und Ideenlehre des späteren Platon zu erklären. Unberührt davon aber bleibt das erwähnte seiner eigenen Weiterführung in der Kategorien-Schrift zugrunde liegende Argument, daß Allgemeines sich notwendig zuletzt auf Einzelnes bezieht. Von der dargelegten, Platon gegenüber kritischen Unterscheidung von erster und zweiter Ousia in der Frühschrift über die Kategorien weicht nun Aristoteles’ spätere Lehre von Ousia und Einzelnem vor allem in Buch VII und Buch VIII der Metaphysik ab. Aristoteles hält daran fest, daß Ousia das ursprünglich Zugrundeliegende bedeutet. Dies kann freilich nicht die Materie sein; denn sie enthält für sich keinerlei Bestimmtheit und Einheit, und sie existiert nicht für sich, was ebenfalls Charakteristika der Ousia sind. Anders als in der Kategorien-Schrift aber erklärt Aristoteles, das Eidos als wesentliche Was-Bestimmtheit eines Einzelnen sei erste Ousia;11 in der Kategorien-Schrift galt es ihm nur als zweite Ousia. Diese entscheidende Änderung aber stellt nun keine Rückkehr zu Platons Ideenlehre dar; Aristoteles bleibt auch in der Metaphysik bei seiner Auffassung, ein Allgemeines könne nicht wirklich Ousia sein,12 d.h. könne nicht selbständig und für sich existieren. So stellt sich das Problem, wie das Eidos einerseits als Ousia Einzelnes als ein Etwas dieser Art 9
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Vgl. Platon: Parmenides. 132a-b; zu einzelnen Hinweisen auf Literatur s. vorvorige Anm. Auf die ausgebreitete neuere Selbstprädikationsdebatte sei hier nur verwiesen. – Ob die Begegnung des 65-jährigen Parmenides mit dem jungen Sokrates, die in Platons Schilderung jedenfalls literarische Fiktion ist, vielleicht eine inverse Präfiguration von Platons Auseinandersetzung mit dem jungen unerfahrenen Ideenkritiker Aristoteles sein soll (vgl. dessen Argumente in der Frühschrift: Peri ideon), zumal da der Altersabstand in etwa der gleiche ist, mag dahingestellt bleiben. Zur Rekonstruktion anderer Eidos-Lehren in der Akademie vgl. H.J. Krämer, a.a.O. (Anm. 5). Vgl. z.B. Metaphysik (Buch VII). 1032b 1 f, auch 1037a 33-b 2 u.ö. – Aristoteles nennt im Buch V der Metaphysik zwei Grundbestimmungen der Ousia, nämlich sie sei letztes Zugrundeliegendes und selbständig existierendes Einzelwesen aufgrund seines Eidos (vgl. 1017b 23 ff, auch 1017b 10 ff). Vgl. Metaphysik. 1038b 8 f, 34 f. Vgl. hierzu M. Frede/G. Patzig, a.a.O. (Anm. 6), Bd. 2, 244 ff, 260; H. Schmitz, a.a.O. (Anm. 5), Bd. 1, 221 ff, 230 f.
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(tode ti) sein kann, andererseits aber, sei es als Art (species), sei es als Gehalt einer Wesensbestimmung oder Definition, ein Allgemeines bedeuten kann. Eine philosophische, wohl auch von Aristoteles beabsichtigte Lösung bietet sich mit dem ontologischen und definitorischen Sinn von Aristoteles’ Rätselterminus: „to ti en einai“ 13 an, der hier – entgegen mehrfachen Versuchen einer den Wortbestand in etwa wahrenden, aber wenig verständlichen Übersetzung – mit dem sinnadäquaten Terminus: Essentia, Essenz übersetzt werden soll, wovon vielfach auch in angelsächsischer oder italienischer Literatur Gebrauch gemacht wird. Die ontologische Bedeutung von ’Essenz’ bei Aristoteles, die noch nicht wie später prinzipiell von ’Existenz’ unterschieden wird, besteht nicht nur darin, daß sie das Was-sein, sondern darüber hinaus darin, daß sie, wie Aristoteles sagt, die Ousia, das eigene Sein eines Einzelwesens ausmacht.14 Die definitorische Bedeutung der Essenz, von der es jeweils eine Wesensbestimmung gibt, besteht inhaltlich in ihrem spezifischen Eidos und dem dazugehörigen Genos,15 d.h. bei aller Spezifiziertheit des Bedeutungsgehaltes doch in etwas Allgemeinem. Diese scheinbar divergierenden Bestimmungen lassen sich folgendermaßen vereinbaren: Sofern das jeweilige Eidos, wie es als Bedeutungsgehalt zu erfassen ist, die Essenz (to ti en einai) von etwas bildet, macht es damit Was-sein und Sein einer Sache, eines Einzelwesens aus. So ist das Eidos: Rose diejenige Essenz, die das Was-sein und Sein eines Einzelwesens als Rose bedeutet. Sie konstituiert die ursprüngliche Einheit und die Gestalt einer einzelnen Rose, macht deren erste Ousia aus, wodurch sie überhaupt erst als einzelne geformte für sich existiert; denn ohne das Eidos als Essenz gäbe es gar kein Einzelwesen, sondern lediglich form- und einheitslose Materie, die nach Aristoteles, für sich genommen, gar nichts Wirkliches, sondern bloße Möglichkeit ist. Das Eidos 13
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Zur sprachlichen Eigenart dieses Ausdrucks vgl. M. Frede/G. Patzig, a.a.O. (Anm. 6), Bd. 1, 19 f, Bd. 2, 34 f; in Kurzform wird damit z.B. ausgedrückt, „was es für den Menschen heißt, ein Mensch zu sein“; so übersetzen Frede und Patzig ’to ti en einai‘ mit dem Ungetüm: ’das „Was es heißt, dies zu sein’“. Vgl. Metaphysik. 1031a 18. Die Aristotelische Ontologie der Essenz (des ti en einai) ist damit eine andere als diejenige des Thomas von Aquin. Thomas verwendet für to ti en einai die Übersetzungen: quidditas, essentia oder natura rei (S. Thomae Aquinatis in duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Zu Metaphysik VII. 3 s. Nr. 1270). Ursprünglich wurde ’Ousia‘ nicht mit ’substantia‘, sondern mit ’essentia‘ übersetzt, wie Quintilian von Plautus berichtet; erst später bürgerte sich die Übersetzung: ’substantia‘ für Aristoteles’ erste Kategorie ein, so bei Marius Victorinus und Augustinus, der diese aber auch noch mit ’essentia‘ bezeichnet. Vgl. dazu – mit den Belegstellen – C. Arpe: „Substania“. In: Philologus 94 (1941), 65-78; den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich J. Halfwassen, der für das Historische Wörterbuch der Philosophie den Artikel „Substanz“ (Antike) ausarbeitet. Vgl. Metaphysik. 1030a 11 ff. Zur Exposition dieser Theorie von Ousia und Essenz, auch ihrer Probleme vgl. D. Ross: Aristotle (zuerst: 1923). 51949. Reprint London 1977, 165 ff, ebenso E. Berti: Aristotele: Dalla dialettica alla filosofia prima. Padova 1977, 230-240; auch ders.: Il profilo di Aristotele. Roma 1979, 219-224, und J. Moreau: „Sein und Wesen in der Philosophie des Aristoteles“ („L’être et l’essence dans la philosophie d’Aristote“, 1955). Übers. von K. Stichweh. In: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hrsg. von F.-P. Hager. Darmstadt 2 1979, 222-250. Vgl. zu detaillierten Interpretationsalternativen unten Anm. 17.
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also, sofern und nur sofern es diese Essenz von etwas in ontologischer Bedeutung darstellt, ist die erste Ousia eines Einzelwesens.16 Das Eidos ist nicht selbst und als solches schon das Einzelwesen oder als solches individuelle Form.17 Eine derartige Auffassung entwickeln für bestimmte Eide erst die Neuplatoniker und eine explizite Begriffstheorie darüber erst Leibniz mit seiner Lehre vom vollständigen, individuellen Begriff; sie dürfte Hegel sicherlich nahestehen. – Die oben charakterisierte Essenz eines Einzelwesens aber ist nun nach Aristoteles teils identisch mit dem Einzelwesen, teils auch von ihm verschieden. Wenn nämlich das Einzelwesen ein Synholon, ein geeintes Ganzes aus Stoff und Form ist wie die einzelne Rose oder der einzelne Mensch, so lassen sich davon auch akzidentelle Eigenschaften, die nicht wesentlich, gleichwohl aber existent sind, aussagen. Dann aber ist das Einzelwesen nicht einfach identisch mit seiner Essenz und ihrem Eidos; das Eidos ist vielmehr in diesem Einzelwesen.18 Enthält das Einzelwesen aber nicht zufällige Bestimmungen, ist es etwa nicht stofflich, woran immer Aristoteles hierbei denkt, z.B. an Gott, dann sind das Einzelwesen und seine Essenz offensichtlich identisch, sind dasselbe Seiende. Entscheidend ist hinsichtlich der ontologischen Theorie, daß auch in diesem Falle für Aristoteles nicht das Eidos als solches eine fürsichseiende Existenz hat, sondern nur Eidos, das die Essenz eines solchen, etwa nichtstofflichen Einzelwesens ausmacht. Die Grundthese der Kategorien-Schrift bleibt also trotz der Änderung der Ousia-Auffassung auch in der Metaphysik erhalten: was selbständig und für sich existiert, ist das Einzelwesen. Doch fragt Aristoteles in der Metaphysik nach dessen wesentlichen Konstituentien und konzipiert nun den eidetischen Bedeutungsgehalt der Essenz als das Einheit- und Gestaltgebende und damit als Sein und Was-sein des Einzelwesens.19 16 17
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Vgl. Metaphysik. 1032b 1 f, auch 1037a 28 f, 1037b 1 f. Dies nehmen M. Frede und G. Patzig an, vgl. a.a.O. (Anm. 6), Bd. 1, 48-57; die individuelle Form unterscheiden sie vom Eidos als Art. Vgl. ähnlich T.H. Irwin: Aristotles’s First Principles. Oxford 1988, bes. 250 ff, 263 ff, und – in Auseinandersetzung mit anderen Deutungen – L. Spellmann: Substance and Separation in Aristotle. Cambridge 1995, 40-62. Dies ist gegen die traditionelle Auffassung gerichtet, die gleichwohl in differenzierter Weise auch gegenwärtig in der Forschung vertreten wird (vgl. z.B. F.A. Lewis: Substance and Predication in Aristotle. Cambridge 1991, 265 ff, 300 ff, 308 ff). Vgl. E. Berti, a.a.O. (Anm. 15). Eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationen gibt H. Steinfath: Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles. Frankfurt a.M. 1991. Ch. Rapp versucht, das obengenannte Problem durch die Unterscheidung eines individuierenden Art-Eidos vom GattungsAllgemeinen zu lösen; vgl. Ch. Rapp: „’Kein Allgemeines ist Substanz’ (Æ 13, 14-16)“. In: Aristoteles: Metaphysik. Die Substanzbücher (Æ, Ç, È). Hrsg. von Ch. Rapp. Berlin 1996, 157-191. – Zu Identität und Unterschied von ti en einai und Einzelnem vgl. K.-H. VolkmannSchluck: Die Metaphysik des Aristoteles. Frankfurt a.M. 1979, bes. 61 ff. Es ist das „Eidos to enon“ (Metaphysik. 1037a 29). Aristoteles spricht im Buch VII der Metaphysik mehrfach von der Ousia oder der Essenz des Einzelnen (vgl. 1032b 1 f, 1038b 10 u.ö.). Bei den materiellen, geformten Dingen oder bei den Synhola aus Materie und Eidos ist die Materie nach dieser Theorie principium individuationis oder der individuierenden, aber unwesentlichen Unterschiede; Sokrates und Kallias unterscheiden sich durch Fleisch und Knochen, während ihr atomon Eidos, das vernünftige
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ONTOLOGIE BEI ARISTOTELES UND HEGEL
Von dieser ontologischen ist die definitorische Bedeutung der Essenz zu unterscheiden. Von jeder Essenz gibt es eine Wesensbestimmung, eine Definition, die das spezifische Eidos und das nächste Genos angibt. Das so in der Definition Begriffene aber bleibt offensichtlich etwas erkennbares Allgemeines. Nun wird vermittels des Platonischen Verfahrens der Dihairesis, d.h. des Ausgehens von allgemeinen Gattungen und zunehmender eidetischer Spezifizierung eine Definition gesucht. Sie wird über das nicht mehr weiter einzuteilende, über das atomon Eidos aufgestellt. Dies ist bei Platon die methodisch aufzusuchende und zu definierende Idee. Bei Aristoteles wird das atomon Eidos in bestimmterer ontologischer Bedeutung gefaßt. Es ist in Aristoteles’ Ontologie des Einzelnen der letzte essentielle Unterschied eines Einzelwesens von anderen, d.h. die spezifische Art, wie immer sie aufgefunden werden kann, durch die sich Einzelseiende wesentlich voneinander unterscheiden.20 Darin sind stofflich begründete akzidentelle Eigenschaften nicht enthalten. Der letzte Unterschied ist also, wie sich zeigt, die eidetisch bestimmte Essenz eines Einzelwesens; diese ist, wie dargelegt, mit dem Einzelwesen nicht einfach identisch, wenn das Einzelwesen auch stofflich und akzidentell bestimmt ist; sie ist damit identisch, wenn das Einzelne nichtstofflich ist. Der letzte Unterschied in der Definition ist damit das Eidos und die Ousia von etwas, allerdings nur, wie man präzisierend hinzufügen muß, sofern er den eidetischen Bedeutungsgehalt der Essenz eines Einzelwesens darstellt. Das im letzten Unterschied gedachte Eidos bleibt also begrifflich innerhalb der Definition ein Allgemeines, wie es auch in der späteren Lehre von der infima species ausgeführt wird; ontologisch aber bedeutet dies Eidos des letzten Unterschiedes die Essenz des Einzelwesens, und diese macht das Sein und Was-sein des Einzelwesens aus. – So lassen sich Aristoteles’ unterschiedliche Bestimmungen wohl prinzipiell vereinbaren; in der Wesensbestimmung oder Definition einer Essenz sind das Eidos und das mitverwendete Genos als gedachte etwas Allgemeines; ontologisch aber macht die Essenz und ihr eidetischer Bedeutungsgehalt das Was-sein und Sein und damit den Ousia-Charakter des Einzelwesens aus; dadurch existiert das Einzelwesen eigentlich erst, sei es als Synholon, sei es als nichtstoffliches Wesen. Hieran wird zugleich deutlich, daß dasjenige, was Sein und Was-sein eines Einzelwesens konstituiert, nämlich die Ousia und die Essenz, für Aristoteles immer ein Zugrundeliegendes ist, nämlich für die Existenz eines Einzelwesens; solches Zugrundeliegen bildet also
20
Menschsein, dasselbe ist (vgl. Metaphysik. 1034a 5 ff). Bei den nichtstofflichen Einzelwesen muß das Prinzip der Individuierung etwas anderes sein, nämlich, was Aristoteles nicht ausführt, offenbar die Essenz, deren Bedeutungsgehalt das Eidos ist (anders M. Frede/G. Patzig, a.a.O. [Anm. 6], Bd. 2, 147 f; vgl. oben Anm. 17). Vgl. Metaphysik. 1038a 5-30 (definiert wird das Eidos als Allgemeines, vgl. 1036a 28 f). Im essentiellen Unterschied sieht mit perspektivenreichen Interpretationen H. Schmitz (a.a.O. (Anm. 5), Bd. I.1, 199 ff, ebenso 211 ff, 221 ff, auch Bd. II.1, 486) die vollendete Differenz, das vollbestimmte Eidos als den eigentlichen Prägnanztypus und als Ousia des Seienden; auch dies tendiert offenbar zu der Auffassung, ein solches Eidos sei die individuierende und damit wesentlich individuelle oder konkrete Form.
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nach wie vor eine Grundbestimmtheit der Ousia. Bei aller ontologischen Weiterentwicklung und Differenzierung der Lehre von der Ousia in der Metaphysik bleibt hinsichtlich des Theorietypus somit diese in der Kategorien-Schrift exponierte begriffliche Orientierung der Ousia-Konzeption am Zugrundeliegenden und damit letztlich am Modell der einfachen wahren Aussage erhalten. Über die Platonische Ontologie führt in Aristoteles’ Lehre ebenso der schon angedeutete grundlegende Unterschied von Möglichkeit (Dynamis) und Wirklichkeit (Energeia, Entelecheia) hinaus. Er setzt Aristoteles’ Theorie von Ousia und Eidos voraus. Möglichkeit und Wirklichkeit sind generelle Modalbestimmungen, die in unterschiedlicher, teilweise alternativer Weise für alle Seinsbereiche gelten. Aristoteles konzipiert sie allerdings nicht als Kategorien, obwohl sie – bei solcher Anwendung – von vergleichbarer Allgemeinheit sind; denn sie sagen nichts über den allgemeinen Sachgehalt eines Seienden aus, sondern über dessen Seinsweise. Gleichwohl orientiert sich Aristoteles bei der Explikation dieser Modalbestimmungen ebenso wie bei der Ousia und den anderen Kategorien prinzipiell an der Aussage; wie das Seiende nach allen Kategorien ausgesagt werden kann, so kann es grundlegend ebenso als möglich oder wirklich ausgesagt werden.21 Auch hieran wird die urteilslogische Orientierung der Aristotelischen Ontologie deutlich. Evident tritt der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit nun am bewegten, sich verändernden Seienden hervor. So mag bei Artefakten z.B. der geeignete Stoff der Möglichkeit nach ein Haus sein; wenn dann die Kunst des Architekten hinzutritt, so wird gemäß dem Eidos: Haus ein wirkliches Haus daraus geformt und erbaut. Bei Organismen mag z.B. der in die Erde gesenkte Samen der Möglichkeit nach eine Rose sein, die in sich selbst das Prinzip der Entstehung hat, aufwächst, Knospen und schließlich Blüten entwickelt und zu einer Rose der Wirklichkeit nach wird. Die Bewegung oder der Prozeß, der hier in beiden Fällen stattfindet, ist jeweils die Überführung von etwas aus dem Zustand der Möglichkeit in den Zustand der dem Einzelseienden eigenen Wirklichkeit. Hierbei hat nach Aristoteles die Wirklichkeit vornehmlich dem Begriff und der Ousia nach den Vorrang.22 Dem Begriff nach hat die Wirk21
22
Vgl. Metaphysik. 1045b 32 ff, 1051a 34 ff. Verwiesen sei hier auf Heideggers rein ontologische Deutung der Aristotelischen Lehre über Möglichkeit und Wirklichkeit. Heidegger erkennt sehr wohl, daß Möglichkeit und Wirklichkeit vom Seienden ebenso allgemein ausgesagt werden wie die Kategorien. Aber gerade die grundlegende und charakteristische Orientierung von Aristoteles’ Ontologie an der Aussage und damit an Urteilslogik drängt Heidegger zurück – parallel zur Zurückweisung von Kants Orientierung der Kategorienlehre an der Logik, da die Logik für ihn der bloß abkünftigen Ontologie der Vorhandenheit verhaftet bleibt und sogar in bezug auf diese noch abstraktiv ist. Vgl. vor allem M. Heidegger: Aristoteles, Metaphysik È 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Vorlesung Sommersemester 1931). Hrsg. von H. Hüni. In M. Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. II, Bd. 33. Frankfurt a.M. 1981, z.B. 5 ff, 33 ff, 121 ff, 144 ff u.ö. Vgl. zu Heideggers Aristoteles-Interpretation die umfassende Abhandlung von E. Berti: “La ‘metafisica’ di Aristotele: ‘Onto-teologia’ o ‘filosofia prima’ ”? In: Rivista di filosofia neo-scolastica 85 (1993), 256-282. Vgl. Metaphysik. 1049b 12 ff, 1050a 4 ff.
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ONTOLOGIE BEI ARISTOTELES UND HEGEL
lichkeit Vorrang, weil ein Seiendes als vermögend zu etwas nur bestimmt werden kann, wenn dies begrifflich vorangeht; so ist jemand nur baukundig und des Bauens fähig, wenn er diese Tätigkeit wirklich vollziehen kann und irgendwann einmal vollzieht, sehfähig nur, wenn er wirklich sehen kann und irgendwann wirklich sieht usf.; immer wird die spezifische Möglichkeit im Hinblick auf die wirkliche Tätigkeit begrifflich bestimmt. Dies bedeutet für Aristoteles, daß die wirkliche Tätigkeit letztlich auch zeitlich vorangeht; dies geschieht z.B., wenn das wirkliche Eidos in der organischen Zeugung vorangeht; eine spezifische wirkliche Tätigkeit kann zwar auch erst entstehen aus bestimmtem Stoff und damit aus bestimmter Möglichkeit. Dieser aber muß nach Aristoteles letztlich etwas bestimmtes Wirkliches als das in Bewegung Setzende vorangehen. Ebenso liegt der Ousia nach, was ontologisch entscheidend ist, die Wirklichkeit der Möglichkeit voraus. Denn das Eidos ist im Bewegungs- oder Entwicklungsprozeß das Prägende und Gestaltgebende für das sich entwickelnde Einzelseiende. Es ist, wie gezeigt, als Essenz die Ousia des Einzelwesens, bringt dieses aus der bestimmten Möglichkeit erst in seine ihm eigene Wirklichkeit hervor. Das Eidos ist somit das Verwirklichende und das Wirkliche in solchem Prozeß; darin aber ist es das Telos, das Ziel der Bewegung und Entwicklung.23 Doch gelten Möglichkeit und Wirklichkeit nicht nur kombiniert für das in Bewegung befindliche Seiende oder für das seine Zustände ändernde Einzelwesen. Sie gelten unkombiniert jeweils auch für die Extreme. Der bloße, noch ungestaltete, unbestimmte, einheitslose Stoff befindet sich nach Aristoteles in der Modalbestimmung der bloßen Möglichkeit; er ist rein als solcher nicht existent, insofern ein Nichtseiendes, aus dem aber alles werden kann.24 Das andere Extrem ist das für sich unbewegte, unstoffliche, rein eidetisch und intellektuell Seiende; für Aristoteles ist dies, woran immer er sonst noch gedacht haben mag, vor allem der erste und beherrschende unbewegte Beweger, nämlich Gott, dem nur reiner Vollzug der vollkommensten Tätigkeit, des Denkens seiner selbst zukommt und der sich darin im Zustand reiner, mit keiner Möglichkeit mehr vermischter Wirklichkeit und wirklicher Tätigkeit (Energeia) befindet.25 Dies ist die vollkommene Ousia in reiner exemplarischer Wirklichkeit 23
24 25
T.H. Irwin hebt hervor, daß diese Lehre des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit gegen die Megariker gerichtet ist, die annahmen, vermögend und möglich sei nur etwas, das ebendies auch wirklich sei, d.h. nichts sei möglich, was nicht wirklich sei; dies besagt Aristoteles’ Lehre vom Vorrang der Wirklichkeit gerade nicht; niemand könnte dann z.B. Baumeister, d.h. des Bauens fähig sein, der gerade einmal etwas anderes tut (vgl. Metaphysik. 1046b 29 ff). Vgl. T.H.. Irwin, a.a.O. (Anm. 17), 227 ff. Vgl. Metaphysik. 1037a 27, 1049b 1 f, 1050a 15, 1078a 30 u.ö. Vgl. Metaphysik. 1050a 35-b4, 1072a 25, 31 f, 1072b 3-30. – Vielleicht denkt Aristoteles darüber hinaus auch an die dem ersten kosmologischen unbewegten Beweger und Gott untergeordneten 55 unbewegten Sphärenbeweger, die ebenfalls rein eidetisch bestimmt sind. Ferner kennt Aristoteles im ontologisch-kosmologischen Stufenbau noch eine weitere, eine mittlere Art von Ousia, so daß er drei Arten von Ousiai unterscheidet, 1. die sinnlich-sichtbaren, bewegten, vergänglichen Ousiai wie Pflanzen, Tiere, Artefakte, 2. die sinnlich sichtbaren, be-
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und Tätigkeit. Hier geht die Ontologie bruchlos in die philosophische Theologie über, die beide zusammen für Aristoteles die ’Erste Philosophie’ ausmachen. Die nähere Bestimmung der Wirklichkeit sowohl des in Bewegung befindlichen Seienden als auch des unbewegten, vollendeten, göttlichen Seienden erfolgt bei Aristoteles nun teleologisch. Die Teleologie hat daher für ihn ontologische Bedeutung; sie charakterisiert das Seiende selbst in seiner Seinsweise. So entwickelt sich, um das genannte Beispiel noch einmal zu verwenden, der in die Erde versenkte Samen aus eigenem inneren Prinzip zu einer Rose, indem er aufwächst, Knospen und schließlich Rosenblüten ausbildet. Das Einzelseiende erstrebt in dieser Entwicklung die Verwirklichung seines Eidos als sein Telos, sein Ziel und seine immanente Vollendung, in der es wirklich und entfaltet ganz ist, was es sein kann.26 Dann hat es als Einzelnes sein Eidos als seine Essenz verwirklicht. Das Einzelseiende ist in dieser seiner Bewegung und Entwicklung hin zur Verwirklichung seines Eidos also selbst immanent teleologisch bestimmt. In eminenter Weise hat das unbewegte, göttliche Seiende, dem allein vollendete Tätigkeit und Wirklichkeit im Vollzug des reinen Denkens seiner selbst zukommt, seinen Zweck, seine Vollendung in sich selbst. Zugleich ist dies göttliche, vollendete Seiende, obwohl selbst unbewegt, für das vielfältig bewegte Seiende bewegend, da es von diesem als Vollendungsziel erstrebt wird. So erstreckt sich diese Teleologie auf den ganzen Kosmos; alles strebt in seiner Bewegung und Entwicklung hin in die Wesensnähe des Vollendeten. Dieses aber ist Gott, der die vorzüglichste Tätigkeit in reiner Wirklichkeit ausübt, das reine Denken, in dem er in den vorzüglichsten Ideen sich selbst denkt.27 Damit hat sich wohl gezeigt, daß Aristoteles’ Ontologie der Ousia erstens dem Grundtypus einer Substanzontologie gemäß ist; das eigentliche Seiende ist das Zugrundeliegende, das Aristoteles zunächst unmittelbar als das bestimmte Einzelseiende ansieht, das für sich existiert; das eigentliche Seiende ist für ihn sodann die Ousia eines Einzelwesens, d.h. das Sein und Was-sein eines Einzelwesens oder dessen Essenz und Eidos, wodurch es überhaupt erst als dieses bestimmte Einzelne existiert. Innerhalb dieses Ansatzes kann Aristoteles sehr wohl Bewegung und Prozeß mit der Kombination der ontologischen Grundbestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit der bewegten
26 27
wegten, aber unvergänglichen Ousiai wie nach Aristoteles die Gestirne, 3. die nichtsinnlichen, unsichtbaren, unbewegten, ewigen Ousiai, vor allem den höchsten Gott. Vgl. dazu und zu Hegels verändernder Aufnahme dieser Lehre unten in T. 2. Vgl. zu den grundlegenden Problemen des Verhältnisses von Ontologie und Theologie bei Aristoteles z.B. P. Aubenque: Le problème de l’être chez Aristote. Essai sur la problématique aristotélicienne. Paris 1962. Nachdruck Paris 1991, 305-411. Vgl. Metaphysik. 1050a 7 ff u.ö. Vgl. Metaphysik. 1072a 25 ff, 1072b 3-30. Zur Aristotelischen Theologie sei hier nur generell verwiesen auf die Sammelbände: Metaphysik und Theologie des Aristoteles (s.o. Anm. 15) und La question de Dieu selon Aristote et Hegel (s.o. Anm. 3). Zu manchen Details, zu weiterer Literatur und zu Hegels Interpretation dieser Aristotelischen philosophischen Theologie sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs.: „Noesis Noeseos ...“, a.a.O. (Anm. 2).
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Ousia sowie mit der immanenten Teleologie dieser Ousia begreifen. Aristoteles’ Ontologie ist ferner grundlegend Gegebenheits- und nicht Konstitutionsontologie oder realistische und nicht idealistische Ontologie; die Ousia und die sie charakterisierenden Bestimmungen werden als seiende aufgenommen und gedacht; sie sind dem Denken, selbst dem göttlichen Denken als wesentliche und unveränderliche vorgegeben; gerade die Eide und damit Essenzen der Einzelwesen sind ewig; und dies gilt wesentlich auch für die in der Materie anwesenden und sie formenden Eide. Aristoteles’ Ontologie der Ousia orientiert sich schließlich – anders als diejenige Platons oder Hegels – an der Struktur der einfachen Aussage, des ’ist’-Sagens; das eigentliche Seiende ist das Zugrundeliegende, das in einer Aussage sinnvollerweise nicht als Prädikat auftreten kann und von dem alles andere ausgesagt wird. Diesen ersten, noch rudimentären urteilslogischen Ansatz der Ontologie führt später Kant konsequent aus, indem er Kategorien als diejenigen Funktionen der Einheit entwirft, die in Urteilsformen enthalten sind und darüber hinaus als Anschauungsbestimmungen Geltung beanspruchen; Kant konzipiert damit eine Systematik der Ontologie, wie es sie vorher noch nicht gab; damit ist für Kant allerdings nicht garantiert, daß solche Ontologie mehr als ein reines Gedankengebäude ist und ihr auch Erkenntnisbedeutung zukommt. – In der fundamentalen Anlage der Ontologie vertritt Hegel, wie sich zeigen wird, hinsichtlich aller drei Ontologietypen das Gegenteil zur Aristotelischen Ontologie. Nur in der Verbindung einer universalistischen Ontologie, die Grundbestimmungen, z.B. Kategorien für alles Seiende als solches aufstellt, mit einer paradigmatischen Ontologie, die Seiendes vom vollendeten, höchsten Seienden her begreift, ist die Hegelsche der Aristotelischen Ontologie verwandt. Angesichts der gravierenden Differenzen in der Ontologiekonzeption wird daher die Frage besonders brennend, wie es möglich ist, daß Hegel gerade in Aristoteles’ Ontologie die Präfiguration seiner eigenen erblickt.
2. Hegels spekulative Deutung und Transformation der Aristotelischen Ontologie Hegel befaßte sich schon in seiner frühen Jenaer Zeit mit Aristoteles’ praktischer Philosophie; erst gegen Ende der Jenaer Zeit – wohl im Zusammenhang mit seiner ersten Vorlesung über Geschichte der Philosophie im Wintersemester 1805/06 – rezipierte er Aristoteles’ Metaphysik;28 in der Phänomenologie von 1807, insbesondere in der „Vorrede“ finden sich dann einige emphatische Anknüpfungen an die theoretische Philosophie des Aristoteles, vor allem an 28
Hegel benutzte nach eigenem Zeugnis die Aristoteles-Ausgabe von Erasmus, Basel 1531, die er besaß, in späterer Zeit wohl auch die leichter lesbare, mit einer lateinischen Übersetzung versehene von Casaubonus (Lugduni 1590), die sich ebenfalls in seiner Bibliothek befand. Vgl. dazu vom Verf.: „Noesis Noeseos ...“, a.a.O. (s.o. Anm. 2), Anm. 9.
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2. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG DER ARISTOTELISCHEN ONTOLOGIE
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die Metaphysik. Diese Aristoteles-Bezüge und mehr noch die systematischspekulative Darstellungsart der Phänomenologie dürften deren Rezensenten: C.F. Bachmann, der Hegel 1804/05 und 1805/06 selbst gehört hatte, dazu veranlaßt haben, Hegel als den „deutschen Aristoteles“ zu bezeichnen, während er Schelling wegen seines schriftstellerischen Stils als „modernen Plato“ ansah.29 Eine ausgeführte, detailliertere Auseinandersetzung Hegels mit der Aristotelischen Metaphysik kennen wir aber erst aus seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hegel deutet in der Vorrede der Phänomenologie und differenzierter in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Aristoteles’ Erste Philosophie oder Metaphysik als Ontotheologie. Dabei sieht er in Aristoteles’ reinen ontologischen Bestimmungen der Ousia und der Seinsweisen des Seienden das allgemeine Fundament, auf dem die philosophische Theologie des sich denkenden Gottes errichtet werden kann. Diese bildet das Ziel der Metaphysik und steht für Hegel daher im Zentrum seiner Aristoteles-Deutung; gleichwohl betrachtet er die Lehre vom Seienden als solchen und von dessen Grundbestimmungen bei Aristoteles als eigenständige Theorie und Grundlegung, nicht nur als Propädeutik zur philosophischen Theologie. Diese Ontologie wird von ihm spekulativ gedeutet und – trotz ihrer ganz andersartigen Anlage und Orientierung – in ihren prinzipiellen Bestimmungen und Einsichten als eine Art Vorgestalt seiner eigenen Ontologie verstanden. Speziell die Ousia- und Eidos-Lehre des Aristoteles steht in der Vorrede der Phänomenologie im Hintergrund von Hegels Darlegungen zum philosophischen Wesenssatz als Basis für den sog. „spekulativen Satz“. Während das gewöhnliche Denken nach Hegel an der Schnur der Prädikate fortläuft und die räsonnierende Reflexion sich über deren Inhalt zu erheben sucht, wird das Denken bei einem philosophischen Wesenssatz, wenn es im Prädikat das Wesen oder die Substanz (Ousia) des an der Subjektstelle Bezeichneten vorfindet, gehemmt und zurückverwiesen an jenen Subjektinhalt; nun erst erfaßt es dessen Substanz und Begriff, dessen Ousia und Eidos. Der Unterschied zwischen Kategorien-Schrift und Metaphysik ist hierbei nicht berücksichtigt. Eine entscheidende subjektivitätstheoretische Weiterführung nimmt Hegel schon in der Phänomenologie vor; das an der grammatisch-logischen Subjektstelle Benannte, das in seinem Eidos und Wesen begriffen werden soll, ist das sich in seinen Prädikaten bestimmende und sie „haltende“ Subjekt, das sich begreifende Selbst. Dessen dialektisches, sich in sich unterscheidendes und sich mit sich identifizierendes Sich-selbst-Begreifen aber ist, wie Hegel hervorhebt, nicht in einem Satz aussagbar; ein sog. „spekulativer Satz“ ist daher nicht als
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Vgl. den (gekürzten) Wiederabdruck dieser Rezension, die 1810 in den Heidelberger Jahrbüchern erschienen ist, in G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 61952. XL f.
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Satz möglich, sondern, wie Hegel andeutet und erst später ausführt, nur als spekulativer Schluß oder als Zusammenhang solcher Schlüsse.30 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aber, in denen Hegel sich auf Aristoteles nicht nur bezieht, sondern dessen Lehre auch durchaus interpretiert, bemerkt er offensichtlich einen Unterschied zwischen der OusiaKonzeption der Kategorien-Schrift und der Ousia-Konzeption von Buch VII und Buch VIII der Metaphysik; er sieht hierin jedoch nicht entwicklungsgeschichtliche Unterschiede und Fortschritte innerhalb derselben Theorie, sondern verteilt diese Ousia-Konzeptionen auf verschiedene Systemteile, auf die Logik einerseits und die Metaphysik andererseits, ohne das Verhältnis dieser Konzeptionen zueinander näher zu erörtern. Die Ousia-Lehre der KategorienSchrift stellt er unter dem Titel: Logik dar; die Kategorien könnten zwar auch zur Ontologie und Metaphysik gehören, wie Hegel erwähnt;31 aber diesem seinem Verweis auf einen anderen Kontext geht er nicht genauer nach. Aristoteles’ Bestimmungen von erster und zweiter Ousia in der Kategorien-Schrift faßt Hegel im wesentlichen begriffslogisch auf, nämlich als Bestimmungen des Einzelnen, Besonderen (Eidos) und Allgemeinen (Genos). Diese und weitere Bestimmungen der Kategorien-Schrift und anderer Organon-Schriften ordnet Hegel der Logik des endlichen Verstandes zu. Sie charakterisiert er wie zu Beginn der Jenaer Zeit seine eigene, noch nicht spekulative Logik der endlichen Reflexion als Explikation der Formen der Endlichkeit, insbesondere von Begriff, Urteil und Schluß, sofern diese nur eine „Nachahmung“, ja „Nachäffung“ von reinen Bestimmungen des Absoluten darstellen.32 In diesem Kontext der Logik des endlichen Verstandes, dessen „Naturgeschichte“ zum ersten Mal aufgestellt zu haben Hegel als ein „unsterbliches Verdienst des Aristoteles“ 33 rühmt, kann die Ousia als Grundterm der Ontologie und als spekulative Bestimmung natürlich nicht zur Geltung kommen. Dies ist erst innerhalb der Metaphysik möglich, wie Hegel sie bei Aristoteles bestimmt. Sie ist in ihrem grundlegenden Teil Ontologie und innerhalb dieser wesentlich Theorie der Ousia; diesen Terminus übersetzt Hegel in traditioneller Weise mit Substanz.34 Das ti en einai, dessen entscheidende ontologi30
31
32 33 34
Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg – Düsseldorf 1980, 41 ff; zur Interpretation sei der Verweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O. (Anm. 2), 198 ff, 266 ff. – Zur Aufnahme von Aristoteles’ Teleologie in der Vorrede s.u. Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 230. – Da hier der durch K.L. Michelet kompilierte Text von Vorlesungsnachschriften abgedruckt wird, bleibt es unsicher, ob dies jeweils Hegels Wortlaut ist. Michelet verwandte jedoch Nachschriften, die heute verloren sind, so daß seinem Text auch Quellenwert zukommt. – Zur je verschiedenen Bedeutung von Kategorie bei Aristoteles und Hegel vgl. A. Doz: La logique de Hegel et les problèmes traditionnels de l’ontologie. Paris 1987, 26 ff, auch 162 ff. Er weist in Hegels Logik vielfach Platonische und Aristotelische Hintergründe auf. A.a.O. 231, vgl. auch 233, 240 f. A.a.O. 229, 237. Vgl. a.a.O. 152.
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2. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG DER ARISTOTELISCHEN ONTOLOGIE
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sche Bedeutung Hegel offenbar nicht erkennt, überträgt er mit: „wodurch etwas Dieses ist“.35 Diese Ontologie der Ousia ist, wie Hegel durchaus sieht, eine hochentwickelte, komplexe, späte Theorie innerhalb der klassischen griechischen Philosophie; diese Theorie des Aristoteles gewinnt daher ihre eigene Bedeutung und ihr Profil spezifisch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit vorangehenden Lehren, insbesondere mit der Platonischen Ideenlehre und ihrer Ontologie. Aristoteles’ Kritik an der Platonischen Ideenlehre bezeichnet Hegel als „weitläufig“; er erklärt auch gelegentlich Aristoteles „polemisiere“ gegen diese Ideenlehre.36 Hegel deutet zwar die Argumente an, die ’Teilhabe’ von einzelnen Dingen an Ideen oder das ’Urbild-Abbild-Verhältnis’ von Idee und Ding seien bloße Metaphern, oder die Annahme selbständiger Ideen als Allgemeinheiten gegenüber Dingen führe zu Widersprüchen; aber erörtert und geprüft werden diese Einwände von Hegel nicht. Insgesamt erblickt Hegel in dieser Kritik an der Ideenlehre Platons, mit der Aristoteles sich den Weg zu seiner eigenen Ontologie bahnt, nicht bloß Entgegensetzung und Konfrontation, da ja auch Aristoteles eine Eidos- und Ousia-Lehre vertritt, sondern vielmehr systematische Fortentwicklung der Ontologie. Dies entspricht dem generellen Prinzip seiner philosophiegeschichtlichen Betrachtung, nach dem der geschichtliche zugleich als ein systematischer Fortschritt zu begreifen ist; solche Betrachtung gelingt allerdings nur, wenn die metaphysischen Grundbestimmungen jener geschichtlich aufgetretenen philosophischen Theorien spekulativ gedeutet und mit Kategorien von Hegels eigener spekulativer Logik, die idealistische Metaphysik ist, identifiziert werden.37 Ob solche Deutung der originären Auffassung der interpretierten Philosophen gerecht wird, ist freilich eine – von Hegel nicht erörterte – andere Frage. Die Grundlage der Aristotelischen Ideenkritik, die über Platon hinausführe, deutet Hegel zunächst – wie vielfache Aristoteles-Interpretationen in der Tradition – mit dem ontologischen „Prinzip der Individuation“ 38 an; darin liege der Fortschritt gegenüber Platons Konzeption, nach der die Ideen als Allgemeinheiten das eigentliche Seiende darstellen. Solche Individuation wird von Hegel jedoch spekulativ aufgefaßt; sie charakterisiert für ihn nicht ein gegebenes Dieses wie diesen Menschen oder dieses Pferd; sie erhält bei Hegel viel35
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Ebd. Hegel gibt hier mit Auslassungen Metaphysik. 983a 27 ff wieder. Weiter unten bezeichnet Hegel im „Praktischen“ to ti en einai mit „Bestimmtheit des Zwecks“ (a.a.O. 166), was weniger spezifisch ist. A.a.O. 155, vgl. diese Stelle auch im Folgenden; vgl. auch 159. Zur Erläuterung dieser These mag der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt sein: Hegel und die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 2), 22-31; vgl. auch ders.: „Dialektik und Geschichtsmetaphysik in Hegels Konzeption philosophiegeschichtlicher Entwicklung“. In: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg. von H.-Chr. Lucas und G. Planty-Bonjour. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 127-145. Zum Problem der Stellung von Aristoteles’ Metaphysik in Hegels Philosophiegeschichte vgl. die Darlegungen von W. Kern, L. Samonà, A. Ferrarin (s.o. Anm. 3). Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 155.
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mehr den Sinngehalt der spekulativ-logischen Begriffsbestimmung der Einzelheit mit den dazugehörigen Konnotationen. Das, was eigentlich und wesentlich ist, ist somit nicht das Allgemeine einer Idee, sondern das spekulativlogisch verstandene Einzelne, das für Hegel die eigentliche Bestimmung des Begriffs ist.39 In seiner Platon-Deutung hatte Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ebenfalls – Platon durchaus entsprechend – hervorgehoben, die Idee als ein Allgemeines, als Gattung oder Art und als ein rein Gedachtes sei das Wahre, d.h. das eigentliche Seiende; im Platon-Kapitel fügt er freilich hinzu, die Idee sei ein solches Allgemeine, das von sich aus in entgegensetzende Beziehung zu anderen Ideen trete, in solchem Verhältnis dialektisch bestimmt werde und schließlich – als höhere Einheit – Gegensätze und Widersprüche aufgelöst in sich enthalte; das so nach Hegels eigener Konzeption weitergeführte Allgemeine als Idee aber betrachtet er als das „in sich Konkrete“.40 Von dieser fortentwickelten Bedeutung der Idee ist im Aristoteles-Kapitel keine Rede mehr. Hier schreibt Hegel Platon nur die Idee als Allgemeines zu, das gerade noch nicht in sich konkret ist; er scheint damit seine eigene Weiterführung, die im Platon-Kapitel noch der recht verstandenen Theorie Platons zuzukommen schien, nun von Platons Lehre zu unterscheiden. Hegels Charakterisierung der Platonischen Idee fällt in Abhebung von Aristoteles’ Ousia-Lehre also kritischer aus als deren Darlegung im PlatonKapitel. Eine solche Idee gilt ihm nun lediglich als „abstrakt Allgemeines“,41 dem die immanente Negativität noch fehlt, das insofern nur affirmativ als sich selbst Gleiches bestimmt ist. Die Idee ist zwar das Wahre, das eigentlich Seiende, jedoch nur als Ansichseiendes; dies Ansichseiende bleibt nach Hegel statisch; ihm fehlt innere Bewegung, Tätigkeit und Lebendigkeit. Diese Auffassung läßt sich vielleicht noch mit der Ideenlehre des mittleren Platon, nicht jedoch mit deren Weiterführung im Sophistes vereinbaren, in dem Platon gegen die Statik der Idee, wie sie die Ideenfreunde konzipieren, intellektuelle Bewegung als Bewegung des Erkennens und Erkanntwerdens der Ideen geltend macht. Die Idee verbleibt nach Hegels Deutung ferner – unplatonisch – wegen jener von ihm hervorgehobenen Einseitigkeiten in der ontologischen Bedeutung im Status bloßer Möglichkeit; sie ist noch nicht in Aristotelischem
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40
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N. Hartmann, der die frühere Aristoteles-Interpretation vertritt, die keine konzeptionellen Unterschiede zwischen der Ousia-Lehre der Kategorien-Schrift und derjenigen der Metaphysik sieht, deutet Hegels Auffassung als eine systematische Ausfüllung der Lücke zwischen infima species und Einzelwesen; dabei denke Hegel das Einzelne aber als Begriff. Vgl. a.a.O. (Anm. 3), bes. 229-244. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 65 (vgl. die Nachschrift der Vorlesung Hegels vom Wintersemester 1825/26 durch Griesheim, 321). A.a.O. 154, vgl. 154 f auch im Folgenden (belegt bei Griesheim, 361 f, vgl. auch die Nachschrift Pinder (1825/26), 234 f); vgl. auch G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3. Hrsg. von P. Garniron und W. Jaeschke (Vorlesungen. Bd. 8). Hamburg 1996, 68 f.
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Sinne wirklich gewordene Idee. Solches Ansichsein, das nicht wahre Wirklichkeit ist, bestimmt Hegel zugleich als bloße, einseitige Objektivität. Die Aristotelische Ousia stellt nun gegenüber allen diesen Bestimmungen in ihrer Bedeutung nach Hegel eine entscheidende Fortentwicklung dar. Sie ist nicht mehr nur abstrakt Allgemeines, sondern erweist sich in der Durchführung ihrer verschiedenen Bestimmungen als in sich konkret; damit entspricht sie Hegels spekulativen Anforderungen an das eigentliche und wesentliche Seiende, das nicht nur Substanz, sondern in sich konkrete Allgemeinheit sein soll. Diese Deutung beruht auf der Grundlage genuin Hegelscher spekulativer Theorie; es gibt jedoch, wie sich zeigen wird, in Aristoteles’ Ousia-Lehre immerhin einige Anhaltspunkte dafür, die Hegel dann in seinem Sinne ausdeutet. Der Ousia, die nicht mehr nur abstrakt Allgemeines bleibt, ist Negativität immanent. Hegel scheint sich hierbei auf ein Argument des Aristoteles gegen die Ideenlehre in Buch VII der Metaphysik zu beziehen, wie es oben skizziert wurde; und er scheint die darin enthaltene Kritik positiv gewendet zu verstehen. Hegel erklärt, die Platonische Annahme von Ideen als selbständiger Gattungen enthalte Widersprüche. Die angeführten Beispiele sind abbreviativ; wenn ein Lebewesen, ein Tier, als Gattung zugleich am Zweifüßigen und am Vielfüßigen teilhat, so ergibt sich, wie Aristoteles erklärt, ein Widerspruch, weil es als Eines in Vieles, ja Entgegengesetztes getrennt sei; und solche Widersprüche treten, wie dargelegt, nach Aristoteles erst recht bei der Teilhabe von Einzelnem an Ideen auf.42 Ohne die – ebenfalls oben umrissene – Möglichkeit wahrzunehmen, diese Vorwürfe vom ersten Teil des Platonischen Parmenides aus zurückzuweisen, zeichnet Hegel in vorangehenden Ausführungen offenbar eine positive Deutung vor. Die Idee und ihre Allgemeinheit sei eigentlich als eine „Einheit Entgegengesetzter“ aufzufassen; ihr komme immanent Negativität zu, sie enthalte solches Entgegengesetzte in sich; und damit werde sie zum „Aufheben der Entgegengesetzten“.43 Diese spekulativdialektische Bedeutung der Idee wird nun Aristoteles’ Ousia- und Eidos-Lehre zugeschrieben. In solcher Bestimmung kommt der Idee nicht mehr nur Ansichsein zu wie bei Platon; ihr kommt auch nicht nur unmittelbares Fürsichsein zu, sondern in dieser Entgegensetzung ihrer eigenen Bestimmungen Entzweiung in Fürsichsein und Sein-für-Anderes sowie die Einheit dieser ontologischen Bestimmungen; der Fortgang dieser Bestimmungen entspricht nicht genau der Fortentwicklung der Kategorien in der Wissenschaft der Logik; aber der entscheidende Gedanke ist mit jener Fortentwicklung durchaus vereinbar, nämlich daß der ontologische Sinn des Platonischen Ansichseins der Idee bei Aristoteles fortbestimmt werde zu einem entwickelten und vermittelten Fürsichsein. 42
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Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 155; vgl. Aristoteles: Metaphysik. 1039b 1 ff; vgl. oben Anm. 6 und den zugehörigen Text. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, ebd. Vgl. diese Stelle auch im Folgenden. Wie dies mit dem von Aristoteles als „sicherstes Prinzip“ aufgestellten Satz vom Widerspruch vereinbar ist, sagt Hegel nicht.
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Die Idee oder das Eidos, die so fortbestimmt werden, sind nicht mehr bloß statisch und unbeweglich; ihnen kommt vielmehr Tätigkeit und lebendige Bewegung zu. Hegel hebt hierbei die besondere Bedeutung der „Form“, des Eidos hervor; insbesondere im Synholon, in dem Stoff und Form geeint sind, ist die Form oder das Eidos das Tätige, das Bestimmende; es ist dasjenige, was das Synholon erst zu einem wirklich Seienden macht.44 Hegel dürfte hierbei Aristoteles’ Konzeption des Eidos in Buch VII und Buch VIII der Metaphysik vor Augen haben; er geht freilich nicht darauf ein, daß das Eidos gerade als Essenz (als ti en einai) das Sein und Was-sein eines Einzelwesens ausmacht; ebensowenig erörtert er die Unterschiede dieser Konzeption des Eidos als erster Ousia in der Metaphysik zur Konzeption des Eidos als zweiter, dem bestimmten Einzelwesen nachgeordneter Ousia in der Kategorien-Schrift. Aber die Prävalenz des Eidos in der Konstitution eines wirklich seienden Synholon vor dem Stoff oder der Materie hebt er eindeutig hervor. Dieses Eidos ist als Begriff zugleich ein Allgemeines; es ist damit ebenso ein Feststehendes, identisch Bleibendes in aller Veränderung. Mit dieser Verbindung von Konstanz und Veränderung in der bewegten Ousia als Synholon vermeidet Aristoteles, wie Hegel darlegt, einerseits die Einseitigkeit des Eleatismus, für den Konstanz und Statik die Seinsweise des eigentlichen Seienden ist, was Hegel auch noch in Platons Ideenlehre erblickt, und andererseits die Einseitigkeit des Heraklitismus, der einen form- und einheitslosen Strom der Veränderung annimmt als die eigentliche Weise, wie überhaupt etwas ist. Daran wird deutlich, daß die Aristotelische Ontologie auch in Hegels Deutung eine späte, komplex synthetisierende Theorie innerhalb der klassischen griechischen Philosophie ist. Das Eidos als das Tätige und Bestimmende in der Ousia als einem Synholon ist also zugleich als begreifbares ein Allgemeines; gemeint ist offenbar das atomon Eidos, das, wie dargelegt, die Essenz des Einzelwesens darstellt. Da dieses Bestimmen des Allgemeinen, des atomon Eidos, sich nicht nur auf unwesentliches Anderes bezieht, sondern nach Hegel dem Eidos selbst immanent ist, bestimmt darin das Allgemeine sich selbst. Es ist damit nicht mehr bloße an sich bestehende Objektivität wie bei Platon; in solcher Tätigkeit des Sichselbstbestimmens ist es bei Aristoteles, wie Hegel interpretiert, „Subjektivität“. So erklärt Hegel: „Dies Prinzip der Lebendigkeit, der Subjektivität, nicht in dem Sinne einer zufälligen, nur besonderen Subjektivität, sondern der reinen Subjektivität ist Aristoteles eigentümlich.“ 45 Hiermit wird die spezifische Grundbestimmung der Ontologie und Ontotheologie Hegels, der sich bestimmende Begriff als reine Subjektivität, Aristoteles zugeschrieben. Das, was ei44
45
Vgl. a.a.O. 153 f, vgl. etwa Griesheim, 361 f, ebenso Pinder, 235 f, auch Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 41), 68 ff. Vgl. diese Stellen auch zum Folgenden. – Hegels Satz: „alles Seiende enthält Materie“ (Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. 154), muß eingeschränkt werden auf dasjenige Seiende, das Synholon ist. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 153; vgl. 154 f, belegt bei Pinder, 234, vgl. 235, Griesheim, 361, so auch in Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 41), 68.
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gentlich und wesentlich ist, erweist sich also als sich selbst bestimmender, tätiger Begriff oder als solche reine Subjektivität, die ihre eigenen, ihr immanenten Bestimmungen spontan konstituiert. Diese Konzeption deutet Hegel in Aristoteles’ Ontologie hinein. Begriffslogisch ist solche reine Subjektivität bei Hegel das Einzelne, nicht als sinnliches Dies-da, sondern als Begriffsbestimmung, die die Begriffsbestimmungen des Allgemeinen und des diesem entgegengesetzten Besonderen in sich zu höherer Einheit bringt. Hierin ist offenbar Aristoteles’ Theorie in der Metaphysik über das Eidos als Essenz, nämlich als Was-sein und Sein des Einzelwesens sowie als logisch gleichwohl definierbares Allgemeines aufgenommen und spekulativ transformiert. Bei Aristoteles bleiben diese Bestimmungen und deren Kontexte verschieden, werden aber spezifisch ontologisch aufeinander bezogen und dabei vereinbart. Das Eidos als Essenz, als Sein und Was-sein eines Einzelwesens ist, wie erörtert, mit einem intellektuellen Einzelwesen identisch, vom Einzelwesen aber auch verschieden, wenn dies ein Synholon ist; und das Eidos, für sich betrachtet, ist innerhalb der Definition ein Begriff, insofern aber ein Allgemeines. Bei Hegel dagegen werden Allgemeines und Einzelnes in eine genetische begriffslogische Abfolge von zugleich ontologischer Bedeutung gebracht.46 Das ursprüngliche Allgemeine wird nicht nur bestimmt und begriffen; es bestimmt und begreift sich vielmehr selbst. Damit setzt es sich als Besonderes und setzt solches Besondere dem ursprünglichen Allgemeinen entgegen, das nun als Entgegengesetztes selbst ein Besonderes wird. Solche entgegengesetzten Begriffsbestimmungen sind aber nur Selbstbestimmungen des Allgemeinen; diese Erkenntnis führt zur Einheit zurück als einer höheren Einheit, zum Einzelnen, das in sich das Ganze der Begriffsbestimmungen und damit unmittelbar das konkrete Allgemeine ist. Es gibt in Aristoteles’ Ousia- und Eidos-Lehre also zwar Anhaltspunkte für Hegels Deutung; diese selbst aber nimmt eindeutig eine Transformation jener Lehre in die spekulative Theorie des Begriffs vor; und da der Begriff, insbesondere der Begriff als Einzelnes in Hegels Idealismus die logischontologische Bestimmung der reinen Subjektivität ist, erblickt Hegel auch diese seine eigene Grundbestimmung in Aristoteles’ Ontologie. Diese allgemeine Ontologie der Ousia, die Hegel, wie sich zeigte, subjektivitätstheoretisch umdeutet, wird nun von Aristoteles differenziert in der Bestimmung der drei Substanzarten, nämlich der sinnlich sichtbaren, bewegten, 46
Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12: Wissenschaft der Logik. Bd. II. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg – Düsseldorf 1981, 32-52. Zur Interpretation sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O. (Anm. 2), 244-251, auch 233 ff. – N. Hartmann sieht in dieser Theorie Panlogismus, der den alogischen Rest des Individuellen bei Aristoteles, welcher die begriffliche Bestimmung nur bis zur infima species als einem immer noch Allgemeinen führe, begrifflich auszufüllen suche. Hierbei wird in Aristoteles’ Theorie nur das Synholon berücksichtigt, dessen materieller Bestandteil letztlich undefinierbar bleibt, nicht jedoch dasjenige Einzelwesen, das mit seiner Essenz und seinem Eidos identisch ist. Vgl. a.a.O. (Anm. 3), bes. 229-244.
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vergänglichen Ousia, wozu die beschriebenen Synhola gehören, der sichtbaren, bewegten, aber unvergänglichen Ousia, womit die Gestirne gemeint sind, und der unsichtbaren, unbewegten, ewigen Ousia, womit – was sich gerade für Hegels Deutung als entscheidend erweist – vor allem der kosmologisch beherrschende erste Beweger und Gott als reiner, sich selbst denkender Nous ontologisch erfaßt werden soll. Diese Substanzarten werden von Aristoteles aber nicht systematisch entfaltet, wie Hegel kritisch vermerkt, sondern nur nacheinander deskriptiv betrachtet.47 Der Ousia überhaupt und diesen Substanzarten gelten nun die fundamentalen Modalbestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit, die Aristoteles in ihrem wohlbestimmten Unterschied in seine Ontologie über Platons Lehre hinaus einführt; in ihnen erkennt Hegel die beiden „Hauptformen“ 48 der Metaphysik des Aristoteles. Sie durchziehen, wie Hegel interpretiert, in unterschiedlicher Kombination alles Seiende; dafür müssen natürlich die Bestimmungen der Ousia vorausgehen. Der Materie als solcher kommt reine Möglichkeit zu; das materielle, stoffliche Seiende ist hinsichtlich seiner Materialität ebenfalls nur möglich. Solche Möglichkeit ist nicht einfaches, reines Nichtsein, sondern dasjenige, woraus etwas werden kann. Deshalb bestimmt Hegel die Aristotelische Dynamis u.a. als „Anlage“. Läßt sich dieser Gedanke noch mit Aristoteles’ Lehre vereinbaren, so stellt es eine Transformation in die eigene Theorie dar, wenn Hegel Möglichkeit auch als das Ansichseiende und „Objektive“ betrachtet.49 Da Hegel das abstrakt Allgemeine der Platonischen Idee gleichfalls als Ansich und als Objektives bestimmt, schreibt er auch ihr – gänzlich unplatonisch, wie erwähnt, – die Modalbestimmung der bloßen Möglichkeit zu; die Platonische Idee oder, wie Hegel hinzufügt, das Wesen ist damit nur an sich, objektiv, bloß möglich und nicht eigentlich wirklich. Wirklich ist bei Aristoteles dagegen z.B. das aus Materie und Eidos („Form“) geeinte Synholon als Ousia; hierbei ist das Eidos das Prägende und Wirksame; ihm kommt Tätigkeit und damit eigentliche Wirklichkeit (Energeia) zu. Denn das Eidos gestaltet die für sich ganz unbestimmte Materie, die bloß möglich ist, und bringt dadurch erst ein bestimmtes und geformtes, wirkliches Einzelwesen zustande; Hegel hat hier offenbar Aristoteles’ Darlegungen im VII. und IX. Buch der Metaphysik vor Augen. Die Energeia oder Wirksamkeit und Tätigkeit dieses Eidos, welches bei Aristoteles die Essenz, d.h. das Sein und Was-sein eines Einzelwesens bedeutet, transformiert Hegel wiederum in seine eigene Theorie, wenn er sie als „sich auf sich beziehende Ne-
47 48
49
Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 156. Vgl. auch oben Anm. 25. A.a.O. 154 (belegt bei Griesheim, 362). Die Berücksichtigung weiterer Nachschriftenstellen zu Dynamis und Energeia findet sich bei W. Kern: „Aristoteles in Hegels Philosophiegeschichte: eine Antinomie“. In: Scholastik 32 (1957), bes. 327-336, 341 ff. A.a.O. 154 (belegt bei Griesheim, 362; s. auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 41), 69 f); vgl. diese Stelle auch im Folgenden.
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gativität“ und als „Subjektivität“ 50 begreift. Dem tätigen Eidos und der dadurch bestimmten Ousia kommt also in Hegels Deutung nicht lediglich eine inhaltsneutrale Bestimmung der Wirklichkeit zu; vielmehr ist jene Tätigkeit und Wirksamkeit, die dem Eidos und der Ousia immanent sind, nach Hegel ein inhaltlich bestimmtes Sich-in-sich-Unterscheiden und eine Selbstbeziehung; dadurch entwickelt sich die Substanz, die Ousia, in ihrer Bedeutung fort zu ihrer Energeia als Subjektivität.51 Diese idealistische, genauer subjektivitätstheoretische Umdeutung ist rein metaphysisch; sie läßt die oben skizzierten Prädikationen und damit die Orientierung an einer Logik der Aussage unbeachtet. Bei der Ousia als einem Synholon aus Materie und Form bleiben beide Bestandteile unterscheidbar; dies gilt für die erste Substanzart, die sichtbare, bewegte, vergängliche Ousia, aber auch für die „höhere“, die zweite Substanzart, die zwar auch noch sichtbar und materiell ist, aber schon Verstand (Nous) enthält, wie Hegel betont; seine Beschreibungen bleiben freilich z.T. unbestimmt; offenbar denkt er nicht wie Aristoteles an die Gestirne, sondern an „die Seele“, die „wesentlich Entelechie“ ist.52 Entelechie bedeutet für Hegel ebenfalls erfüllende Wirklichkeit. Die „höchste“ Substanzart wird für Hegel repräsentiert durch die „absolute Substanz“; sie ist die nichtsinnliche, unbewegte, ewige Ousia als der kosmologisch beherrschende Gott, der reines Denken seiner selbst ist. Ihm kommt, was Hegel referiert, nach Aristoteles reine Energeia, reine Wirklichkeit ohne Materie und ohne Möglichkeit zu, und Hegel kommentiert: „Einen höheren Idealismus gibt es nicht.“ 53 Aber in seiner modalontologischen Interpretation schreibt Hegel diesem göttlichen Nous in seiner vollkommenen Tätigkeit Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit zu; Möglichkeit und Wirklichkeit seien hier ununterschieden und eins.54 Im Hintergrund dieser von Aristoteles 50 51
52 53 54
A.a.O. 154; vgl. zum Synholon auch 156. Daraus läßt sich entnehmen, daß Hegel den – auch für eine Kritik des ontologischen Gottesbeweises bedeutsamen – ontologischen Satz Kants nicht unverändert akzeptieren kann, „Sein“ auch in der Differenzierung als Möglich-, Wirklich-, Notwendigsein, sei „kein reales Prädikat“ (vgl. Kritik der reinen Vernunft. Riga 21787, 626). Dazu erklärt Hegel in seinen Gottesbeweisvorlesungen, Sein sei zwar nicht einfach eine Inhaltsbestimmung; aber die Trennung von Begriff und Sein gelte nur für den endlichen Verstand und fasse beides nur einseitig auf (vgl. Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes. Hrsg. von G. Lasson. Nachdruck Hamburg 1966, 174; auch Gesammelte Werke. Bd. 21: Wissenschaft der Logik. 2. Aufl. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg – Düsseldorf 1985, 73 ff. Vgl. zu diesem Problem D. Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 21967, 194-219. A.a.O. 158 (belegt bei Griesheim, 363). Vgl. diese Stelle auch im Folgenden. A.a.O. 158. Vgl. a.a.O. 158 f, 164 (vgl. Griesheim, 364, auch Pinder, 236, auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. [Anm. 41], 72). Zum Folgenden vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 340 f. Dazu möge der Verweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt sein: „Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. In: HegelStudien 21 (1986), 87-128 (s. vorliegenden Band IV, 2).
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abweichenden Deutung dürfte vor allem Hegels Auslegung von Kants Idee des intuitiven, urbildlichen Verstandes stehen, dem Hegel in Glauben und Wissen solche Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit zuschreibt. Den Aristotelischen göttlichen Nous, den er auch z.B. bei Plotin wiederfindet, bestimmt er also wie diesen aus platonischer Tradition stammenden intuitiven Verstand, den Hegel nicht nur wie Kant als ein negatives Gegenbild unseres endlichen, sinnlich-verständigen Erkennens ansieht, sondern als reales Vorbild des Erkennens, als Präfiguration der von ihm selbst projektierten spekulativen Vernunfterkenntnis; gerade der späte Hegel erblickt solche Vernunfterkenntnis im göttlichen, sich in Ideen selbst denkenden Aristotelischen Nous, der für ihn Subjektivität, nämlich absolute, über die Objektivität „übergreifende Subjektivität“ 55 ist, wie Hegel sie selbst konzipiert. So bildet in der Lehre von den Substanzarten die philosophische Theologie den Abschluß der Ontologie. Hegel nimmt dies Verhältnis von Ontologie und Theologie auf und überführt es in seine eigene Logik als Metaphysik der Subjektivität. In den Kontext dieses Verhältnisses von Ontologie und Theologie gehört auch die Aristotelische Teleologie. Das Telos ist bei einem Einzelwesen inhaltlich das Eidos, das dieses in seiner Bewegung und Entwicklung zu verwirklichen strebt. Es ist bei dem vollendeten Wesen, nämlich Gott, die Vollendung und die erfüllte Wirklichkeit, die von allem Bewegten im Kosmos letztlich angestrebt wird. Diese Teleologie war offenbar der erste Theoriebestandteil, den Hegel aus Aristoteles’ Metaphysik aufnahm. Während der junge Hegel in Bern um 1795 Kants Naturteleologie aus der Kritik der Urteilskraft rezipierte und ihr neue Bedeutung auf der Grundlage der Ethiko- oder Moraltheologie verleihen wollte und während er dann zu Beginn seiner Jenaer Zeit spekulative Gehalte in Kants Konzeption des Organischen hervorhob, dabei aber – in der Tendenz Spinoza folgend – die dazugehörige Teleologie mit einer gewissen Zurückhaltung betrachtete, führt er nun in seiner späteren Jenaer Zeit ab 1805/06 die Teleologie dezidiert in seine eigene Philosophie ein; und Aristoteles wird ihm dafür offensichtlich zum Vorbild, wie insbesondere die Vorrede der Phänomenologie beweist. Hegel schiebt hierbei die ontologische und die theologische Bedeutung der Teleologie ineinander. Aristoteles habe „die Natur als das zweckmäßige Tun bestimmt“,56 damit dürfte zuerst der Entwicklungsprozeß eines natürlichen, lebendigen Wesens gemeint sein; dessen 55
56
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 31830, § 215 Anm.; vgl. das Zitat zur Noesis Noeseos aus Aristoteles: Metaphysik. Buch XII, 7, am Ende der Enzyklopädie (a.a.O.) nach § 577. Zur Interpretation von Hegels Deutung und Abänderung der Aristotelischen philosophischen Theologie mag insbesondere verwiesen werden auf E. Coreth: Das dialektische Sein in Hegels Logik. Wien 1952, 138-157, auf W. Kern, a.a.O. (Anm. 3), auf den Sammelband: La question de Dieu selon Aristote et Hegel (s.o. Anm. 3) sowie auch auf die Darlegung des Verfs. in: Hegel und die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 2), bes. 120 ff, 125 ff, und in: „Noesis Noeseos ...“, a.a.O. (Anm. 2). Deshalb sei die philosophische Theologie bei Aristoteles und Hegel in der hiesigen Darlegung nur gestreift und nur in ihrer Bedeutung für die Ontologie hervorgehoben. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9, a.a.O. (Anm. 30), 20.
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das Einzelwesen verwirklichende Eidos, das Hegel mit der „Art“ identifiziert,57 dem jedoch zugleich Nous innewohnt, ist in solchem Entwicklungsprozeß das Telos, der Zweck und die zu erreichende Vollendung des lebendigen Wesens; und dies gilt dann für alle derartigen natürlichen Wesen oder für Natur überhaupt; zugleich aber erklärt Hegel: „Der Zweck ist das Unmittelbare, das Ruhende, welches selbst bewegend oder Subjekt ist“ bzw. deutlicher in der Umarbeitung von 1831 für die geplante Neuauflage der Phänomenologie: „Der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte, welches selbst bewegend ist; so ist es Subjekt.“ 58 Die Teleologie der natürlichen Wesen vollendet sich also offensichtlich in der Teleologie des unbewegt bewegenden Gottes, nämlich darin, daß dessen Vollendetsein angestrebt wird durch alles bewegte Seiende; diesem Gott kommt reine vollendete Tätigkeit, nämlich reines selbstbezügliches Denken zu; dies interpretiert Hegel schon 1807 als „Subjekt“. Solche universale ontologische und theologische Teleologie führt Hegel sogar dazu, den methodischen, spekulativ-dialektischen Fortgang selbst insgesamt als teleologisch zu begreifen; dies tritt in Hegels späterer Zeit wieder in den Hintergrund. Für diese eminente Bedeutung der Teleologie in der Phänomenologie ist Aristoteles der Gewährsmann; sie wird von Hegel inhaltlich fundiert im sich denkenden Denken als Subjektivität. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie findet wenigstens im Ansatz und implizit eine Differenzierung von ontologischer und theologischer Bedeutung der Teleologie des Aristoteles statt. Dabei wird die Teleologie in die Lehre von den ontologischen Grundbestimmungen der Möglichkeit und Wirklichkeit eingeordnet. Zweck (Telos) ist für Hegel generell das Allgemeine oder das Eidos; dies ist dasjenige ein Was-sein Bestimmende, das sich in einer bewegten Ousia durch deren Entwicklung realisiert. Solches Allgemeine oder Eidos als Zweck deutet Hegel – über Aristoteles hinaus – subjektivitätstheoretisch; „der Zweck ist das Sichselbstbestimmen, was sich realisiert“.59 Bezogen auf die Modalbestimmungen, ist Zweck nach Hegel eine immanente Bestimmung der Wirklichkeit, der Energeia und Entelecheia. Dies ist ein rein ontologischer Begriff von Zweck, von Telos, das dabei zugleich den Sinn von Vollendung hat. Solche Wirklichkeit als Entelechie ist „in sich Zweck und Realisierung des Zwecks“.60 Sie ist vollbrachte Vollendung, die den Zweck in sich selbst hat. Solche Wirklichkeit, die zugleich Vollendung bedeutet, kommt in ihrer Reinheit nur der höchsten Ousia, nämlich Gott zu; 57 58 59
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Vgl. a.a.O. 40. A.a.O. 20 (mit Apparatnotiz). Vgl. diesen Absatz auch im Folgenden. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 153 f (belegt bei Griesheim, 362); zu Zweck als Eidos vgl. 157. – Der Kantischen Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit des Organischen attestiert Hegel mehrfach das Verdienst, die Aristotelische Teleologie des Lebendigen restituiert zu haben (vgl. a.a.O. 177, ebenso Enzyklopädie, a.a.O. §204 Anm., §360 Anm.); dabei bleibt freilich Kants Erkenntnisrestriktion außer Betracht, die solche Teleologie des Lebendigen nur als Modellvorstellung der reflektierenden Urteilskraft zuläßt. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 154 (vgl. auch Griesheim, 362); vgl. 159.
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hier wird Teleologie in ontotheologischer Bedeutung gedacht. Der Gott ist nach Aristoteles’ Bestimmungen in Metaphysik Buch XII ferner das „Schöne und das Beste“ und als solches, wie Hegel sagt, „Endzweck“,61 als selbst unbewegter bewegt er alles andere Seiende wie ein „Geliebtes“, Erstrebtes, das sich auf ihn als „Endzweck“, als erstrebte Vollendung hinbewegt. Teleologie wird dabei in kosmotheologischer Bedeutung gedacht; die kosmologische Argumentation des Aristoteles, die zur Ansetzung der Existenz Gottes als des beherrschenden ersten Bewegers führt, ist dabei für Hegel nur von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist für ihn vielmehr die inhaltliche Bestimmung der Energeia als Tätigkeit Gottes; diese ist die vollkommenste Tätigkeit, nämlich das reine Denken seiner selbst, das nach Hegel seine Vortrefflichkeit nicht vom Gedachten, von den vorgegebenen ewigen Ideen als Momenten seiner selbst empfängt, in denen es sich denkt, wie Aristoteles lehrt, sondern das seine ihm eigenen reinen Gedankenbestimmungen, in denen es sich denkt, allererst spontan konstituiert. Diese Umdeutung der Tätigkeit des Aristotelischen Gottes62 läßt ihn zur maßgeblichen Präfiguration der von Hegel selbst entwickelten absoluten, göttlichen Subjektivität werden. Damit hat Hegel das Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie in seiner Aristoteles-Interpretation bestimmt. Von universaler ontologischer Bedeutung für alles Seiende sind die Kategorien, vor allem die Ousia in ihren verschiedenen Sinndimensionen, ferner die Modalbestimmungen, wobei für Aristoteles – anders als in Hegels Deutung – die Extreme der reinen Möglichkeit und der reinen Wirklichkeit nur einerseits für das gänzlich Unbestimmte, insofern Nichtseiende und andererseits für den beherrschenden Gott gelten. In der Theorie der Substanzarten zeigt sich, daß die ontologischen Grundbestimmungen von Ousia, Eidos und Energeia oder Entelecheia, die als wirklich vollbrachte Vollendung das Telos in sich hat, in Gott eine reine, eine exemplarische Bedeutung erhalten. So verbindet Aristoteles die universalistische Ontologie der Kategorien mit einer paradigmatischen Ontologie und Ontotheologie des höchsten Seienden. Dies ist systematisch prägend für Hegels eigene Theorie. So setzt Hegel sich etwa von der neuplatonischen, z.B. Proklischen metaphysischen Auslegung des Platonischen Parmenides insofern ab, als sie reine ontologische Bestimmungen wie Einheit, Vielheit, Sein usw. als solche schon unmittelbar als spekulativ-theologische Bestimmungen auffaßt; hierbei deutet Hegel Proklos’ negative Theologie des ursprünglichen Einen als des ersten Gottes in eine positive Theologie um.63 Hegel schneidet damit implizit ein systematisches Problem an, das auch in der mittelalterlichen Philo61 62
63
A.a.O. 161. Vgl. Aristoteles: Metaphysik. 1072a 34 ff. Zu Hegels Umdeutung vgl. z.B. H.-G. Gadamer: „Hegel und die antike Dialektik“. In ders.: Hegels Dialektik, a.a.O. (Anm. 3), 25 f. Zu Interpretationen über Hegels Deutung der Aristotelischen Theologie s.o. Anm. 55. Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. (Anm. 1), 28, 83. Vgl. zu Hegels prinzipiell positiver Proklos-Deutung jetzt J. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus (= Hegel-Studien. Beiheft 40). Bonn 1999.
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sophie, was Hegel nicht wußte, vielfach und variantenreich erörtert wurde, nämlich ob und ggf. mit welchen reinen ontologischen Bestimmungen das Wesen Gottes erfaßt werden könne.64 – Hegels eigene Lösung besagt zunächst aristotelisch, daß eine reine Ontologie universale Kategorien oder Gedankenbestimmungen enthält, die die Grundlage für die Bereiche von Wissenschaften des besonderen Seienden darstellen, daß aber nur höherstufige, entschieden inhaltsreichere Bestimmungen von paradigmatischer ontologischer und ontotheologischer Bedeutung das höchste Seiende oder Gott charakterisieren können; und dessen eigentliche und wesentliche Bestimmung ist eben reines Denken seiner selbst. Dieses Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie nimmt Hegel auf und transponiert es in seine eigene spekulative Logik als Metaphysik. Dabei ergeben sich entscheidende Änderungen. Zum einen müssen die Kategorien und reinen ontologischen Bestimmungen über Aristoteles hinaus systematisch und methodisch, d.h. für Hegel spekulativdialektisch entwickelt werden. Zum anderen muß inhaltlich, was dadurch erst möglich wird, durch eine Stufenreihe von im Bedeutungsgehalt sich immer weiter anreichernden reinen Gedankenbestimmungen der Weg von einer allgemeinen Ontologie zu einer reinen philosophischen Theologie aufgezeigt werden; in sich einfache ontologische Bestimmungen der Seinslogik werden fortentwickelt zu Relationsbestimmungen, wie sie die Wesenslogik darlegt, und diese zu Bestimmungen denkender Selbstbeziehung bis hin zur absoluten Idee. Schließlich entwickelt diese Idee das reine Denken ihrer selbst anders als bei Aristoteles als spontan konstituierendes Denken der in ihrer Struktur hochkomplexen, selbstbezüglichen absoluten Subjektivität; was eigentlich und paradigmatisch ist, ist solche Subjektivität, die sich in den ihr vorangehenden ontologischen Bestimmungen der Seins-, Wesens- und Begriffslogik als ihren Momenten, die sie spontan hervorbringt und synthetisiert, selbst denkt und begreift. Solche Subjektivität ist realiter Gott und Geist. – Weil Hegel also in dem von Aristoteles konzipierten Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie wenigstens in entscheidenden Grundlinien die Präfiguration seiner eigenen Lehre erblickt, knüpft er teilweise emphatisch an ihn an und rühmt, wie erwähnt, seine „spekulative Tiefe“. Dabei vertritt Hegel hinsichtlich der Typen, wie Ontologie grundlegend angelegt und aufgebaut sein kann, weitgehend eine andere, ja gegenteilige Auffassung zu Aristoteles. Während Aristoteles im Prinzip eine Substanzontologie entwirft, innerhalb deren auch Bewegung und Prozeß begriffen werden können, vertritt Hegel wesentlich eine Ereignis- oder Prozeßontologie, die innerhalb dialek64
Vgl. hierzu J. Aertsen: “The Platonic Tendency of Thomism and the Foundations of Aquinas’s Philosophy”. In: Medioevo 18 (1992), 53-70. Hier wird dargelegt, inwiefern bei PseudoDionysios und Thomas die Transzendentalien „bonum“ und „ens“ Wesensbestimmungen Gottes sein können. Grundlegend und entscheidend wird dies ausgeführt in ders.: Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas. Leiden u.a. 1996, vgl. bes. 360-415; es wird gezeigt, daß Thomas göttliches Seiendes und esse commune in ihren je eigenen Bedeutungen voneinander unterscheidet und durch Kausalität aufeinander bezieht.
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ONTOLOGIE BEI ARISTOTELES UND HEGEL
tisch zu begreifender Bewegung auch Konstantes und damit Substantialität erfassen kann. Ferner ist Aristoteles’ Ontologie eine Gegebenheitsontologie, in der die Ousia und ihre Bestimmungen als im Seienden selbst vorliegende aufgenommen und gedacht werden, insofern also eine realistische Ontologie; Hegel dagegen begründet eine Konstitutionsontologie, die idealistisch ist, da die ontologischen Grundbestimmungen nicht als vorgegebene angesehen werden, sondern allererst konstituiert werden müssen vom reinen Denken, das sich als spontane Subjektivität in jenen von ihr hervorgebrachten Bestimmungen zuletzt selbst denkt und erkennt. Schließlich orientiert sich Aristoteles in seinen Ontologie-Entwürfen in unterschiedlicher Intensität, aber doch jeweils eindeutig erkennbar an der Logik der Aussage, des ’ist’-Sagens, was später bei Kant in der Anbindung aller Kategorien an die Urteilsformen systematisch ausgeführt wird. Diesem Ontologie-Typus folgt Hegel nicht; vielmehr entwirft er – in der Grundorientierung wie Platon – eine dialektische Ontologie, in der die systematische Entwicklung der ontologischen Bestimmungen durch eine eigene, dem reinen Denken immanente Methode der Gedanken- oder Ideenverknüpfung gewährleistet ist. Hinsichtlich dieser Typenbestimmungen der Ontologie hat die Hegelsche mit der Aristotelischen Ontologie also wenig gemeinsam, ja sie ist ihr im wesentlichen entgegengesetzt. – Wie Aristoteles aber verbindet Hegel universalistische Ontologie, in der die Kategorien oder reinen Gedankenbestimmungen für alles Seiende gelten, und paradigmatische Ontologie, in der ontologische Bestimmungen in eminenter Bedeutung von einem exemplarischen Seienden gelten und anderes, endliches, auch defizientes Seiendes stufenartig darauf hingeordnet wird. Die Verbindung dieser beiden Ontologie-Typen findet innerhalb des Verhältnisses von Ontologie und philosophischer Theologie statt. Dies ist es, was Hegel trotz der ansonsten so andersartigen Grundausrichtung seiner Ontologie an Aristoteles’ Lehre aus systematischen Gründen so rühmt; und er führt es mit spekulativen Transformationen weiter in seiner dialektischen Ontologie und Subjektivitätstheorie.
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Subjektivität in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel Ein programmatischer Überblick Die Erörterung von Problemen der Subjektivität und des Selbstbewußtseins erfreut sich seit kurzem wieder breiterer wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Seit dem späten 19. und im ganzen 20. Jahrhundert wurde dagegen in vielfältigen, wirkungsvollen Strömungen der Sinn von ’Subjektivität’ und ’Selbstbewußtsein’ in Frage gestellt oder gar geleugnet. Dies geschah in psychologistischen, gesellschaftstheoretischen oder ontologischen Richtungen ebenso wie in weiten Teilen der analytischen Philosophie; sie suchten E. Machs Schlachtruf von 1886, das „Ich“ sei „unrettbar“, den L. Wittgenstein später (1936) mit den Worten wiederholte, „die Vorstellung des Ich, das einen Körper bewohnt, muß aufgegeben werden“,1 mit einzelnen, untereinander sehr divergierenden Argumenten zu untermauern. Heute ist es in wissenschaftlicher Hinsicht wohl vor allem die stürmische Entwicklung der empirischen Gehirnforschung, die mit sich ausweitender öffentlicher Bekanntheit die Reflexion darauf befördert, was angesichts der Erforschung der Gehirnprozesse Bewußtsein, Selbstbewußtsein oder Subjektivität eigentlich bedeuten können. Doch gerade die so erfolgreichen empirischen Gehirnforscher drängen in der Regel keineswegs auf eine Restitution des Sinnes dieser Termini; im Gegenteil, viele unter ihnen hängen einer der Versionen des Materialismus an, nach der z.B. Gefühle oder Gedanken oder Willensakte keine eigenständige mentale Bedeutung haben, sondern im wesentlichen identisch mit bestimmten Gehirnprozessen, ja nichts anderes als solche Gehirnprozesse sind, so daß auf die mentale Sprache oder die Sprache der sog. „Volkspsychologie“ eines Tages ganz verzichtet werden könne.2 Solche Kritik, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert bis heute geäußert und oft sehr siegessicher vorgetragen wird, basiert jedoch erstaunlicherweise nicht auf einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den exemplarischen Theorien der Subjektivität und des Selbstbewußtseins, die in der klassischen 1
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E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (zuerst 1886). Jena 91922. Mit einem Vorwort zum Neudruck von G. Wolters. Darmstadt 1985, 20. – L. Wittgenstein: “Notes for Lectures on ’Private Experience’ and ’Sense Data’ ”. In: Philosophical Review 77 (1968), 282 (Notiz von 1936). – Der Terminus „Subjektivität“, der das Auszeichnende eines Subjekts begrifflich faßt, wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verwendet; vgl. K. Homann: „Zum Begriff ’Subjektivität’ bis 1802“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 184-205. Als signifikantes Beispiel, in dem viele verwandte Theorien aufgenommen sind, sei genannt D. Dennett: Consciousness Explained. New York u.a. 1991. – Zur kritischen Betrachtung der unterschiedlichen Kritiken an Subjektivitätstheorie im zwanzigsten Jahrhundert und auch zur kritischen Erörterung von Dennetts Lehre mag der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt sein: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997, 13 ff, 23-120.
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SUBJEKTIVITÄT IN DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE VON KANT BIS HEGEL
deutschen Philosophie von Kant bis Hegel ausgebildet wurden; schwerlich kann derjenige rechthaben, der nicht wirklich kennt, was er kritisiert. So gehen diese Kritiken an jenen hochentwickelten klassischen Theorien des Strukturaufbaus und der Sinnfülle von Subjektivität und Selbstbewußtsein sowie an dem dort berücksichtigten Phänomenreichtum vorbei. In den Kritiken auf der Grundlage neuer gehirnphysiologischer Forschungen ist zwar bestimmt und wird empirisch näher differenziert, was Gehirn bedeutet; was aber Geist und Selbstbewußtsein bedeuten, deren Leistungen doch untersucht werden sollen, bleibt im wesentlichen vage; deren Bedeutung kann in wissenschaftlichen Untersuchungen nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch oder der „Volkspsychologie“ entlehnt werden. So ist es ein Desiderat, daß jene Kritiken die paradigmatischen Lehren der Epoche von Kant bis Hegel berücksichtigen müssen. Vergleichbares gilt erst recht von den vereinzelt im zwanzigsten Jahrhundert vertretenen und auch jüngst aufgestellten Positionen, die Subjektivität und Selbstbewußtsein positiv zu entwickeln suchen. Sie alle können die Theorien von Kant bis Hegel nur zu ihrem eigenen Nachteil vernachlässigen. Daher soll im Folgenden ein programmatischer Überblick über die Subjektivitätstheorien dieser klassischen Epoche gegeben werden. In einem ersten Teil sei Kants alle folgenden Entwürfe bestimmende Theorie der reinen Apperzeption und des Verhältnisses des „Ich denke“ zu seiner Existenz untersucht; ferner sei Kants Theorie der Tätigkeit der Einbildungskraft als Selbstaffektion skizziert. Zweitens soll Fichtes Theorie des absoluten und des endlichen Ich umrissen werden. Fichte eröffnet überdies, wie gezeigt werden soll, das spezifisch idealistische Unternehmen einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins, deren Vollendung für Fichte im Willen des Ich erreicht wird. Von Fichtes Beitrag zu dieser systematischen Geschichte sei drittens derjenige des jungen Schelling abgehoben; er differenziert dieses Unternehmen und sieht die Vollendung der Subjektivität im künstlerischen Genie. Viertens seien Hegels Veränderungen der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins sowie seine Auseinandersetzung mit Kants Prinzip der Apperzeption untersucht. Daran soll sich eine Skizze des Grundgedankens der dialektischen Kategorienentwicklung in Hegels Logik als Explikation der Stufen des Denkens seiner selbst anschließen, das sich als kreative Subjektivität erweist. – Bei diesem Durchgang durch die klassischen Theorien der Subjektivität seien vor allem die Einsichten zu verschiedenen Strukturmodellen des Selbstbewußtseins hervorgehoben, die den obengenannten Einwänden entgehen und Bedeutung für gegenwärtige Bemühungen um eine Theorie des Selbstbewußtseins und der Subjektivität gewinnen können.
1. Kant Die formale Logik, die von allem Inhalt abstrahiert, ist nach Kant formale Grundlage aller Wissenschaften. Sie selbst aber ist fundiert in einem höchsten
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Prinzip, in der synthetischen Einheit der Apperzeption oder des Selbstbewußtseins, d.h. im reinen, erfahrungsunabhängigen Denken als „Ich denke“. Die logischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten sind Verknüpfungen, die nicht – wie bei Frege – einfach für sich bestehen, ohne die Frage nach ihrem Zustandekommen zuzulassen; sie sind vielmehr zustande gebracht durch aktive, spontane Verknüpfungen oder Synthesen von Vorstellungsmannigfaltigem, welchen Inhalt dieses auch immer haben mag.3 Die Gesetzmäßigkeiten dieser spontanen Vollzüge als Synthesen sind die logischen Gesetze, grundlegend: die Urteils- oder Aussagefunktionen. Dahinter steht Kants neue, früher von ihm in dieser Weise nicht vertretene Auffassung des Denkens als spontaner, aber nicht kreativer Synthesis von vorgegebenem Mannigfaltigen; noch in Reflexionen der frühen siebziger Jahre glaubte er, dem menschlichen Erkenntnisvermögen gelinge eine intellektuelle Anschauung, die nichtsinnliche, intellektuelle Inhalte des reinen Ich unmittelbar und produktiv vergegenwärtigen könne.4 Davon nimmt er in der kritischen Philosophie Abstand. Das Denken besteht nur in spontanen, regelhaften Synthesen von Vorgegebenem als vollzugsartige Konstitution formaler logischer Gesetze, die als rein gedachte ohne jene Synthesen selbst keinen Bestand hätten. Weil aber die logischen Gesetze wegen ihrer allgemeinen und apodiktischen Gültigkeit erfahrungsunabhängig, also a priori sein müssen, können auch die sie konstituierenden Synthesen nicht als erfahrbare psychische Erlebnisse, sondern nur als apriorische, reine Handlungen konzipiert werden. Husserls spätere Widerlegung des Psychologismus in der Logik5 bleibt, an Kant gemessen, auf halbem Wege stehen; sie 3
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Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von R. Schmidt (1930). Nachdruck Hamburg 1956 (A bedeutet die erste Auflage von 1781, B die zweite Auflage von 1787), B 129-136, B 102-109/A 76-83. Zur Kommentierung sei vor allem verwiesen auf H.J. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. 2 Bde (1936). London – New York 51970. Bd. 1, 396-416, 439 ff, 245-260 u.ö.; M. Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft. Königstein/Ts. 1986, 82-104. Zur Struktur der Apperzeption vgl. D. Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg 1976. Die Entstehung und systematische Bedeutung der Konzeption des Denkens als Synthesis untersucht insbesondere anhand der ersten Auflage sehr erhellend A. Rosales: Sein und Subjektivität bei Kant. Zum subjektiven Ursprung der Kategorien. Berlin – New York 2000, vgl. bes. 130-140, 84-97, 157 ff, auch 66 ff; vgl. auch ders.: „Apercepción y sintesis en Kant“. In ders.: Siete ensayos sobre Kant. Mérida, Venezuela 1993, 1-68. Vgl. ebenso M. Caimi: „Einige Bemerkungen über die Metaphysische Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft“. In: Kant-Studien 91 (2000), 257-282. Vgl. z.B. „Reflexion“ 4234: Die Einfachheit der Seele beruht eigentlich auf einer „unmittelbaren Anschauung seiner selbst durch die absolute Einheit: Ich“ (Kants Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd. XVII, 470), vgl. auch „Reflexion“ 4225 (Bd. XVII, 465) u.ö. Hierzu mag der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. gestattet sein: “Constitution and Structure of Self-Identity: Kant’s Theory of Apperception and Hegel’s Criticism”. In: Midwest Studies in Philosophy VIII (1983), 416 f (in deutscher Fassung auch in der Aufsatzsammlung des Verfs.: Subjektivität und Freiheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 143-180). Vgl. E. Husserl: Logische Untersuchungen. 2 Bde. Tübingen 1900/1901. Bd. 1: Prolegomena zur reinen Logik, §§ 17-51, 65 ff.
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zeigt zwar die Idealität und Apodiktizität der logischen Gesetze; es fehlt aber der Nachweis über das erforderliche subjektive Pendant, die Reinheit und Erfahrungsunabhängigkeit der entsprechenden Vollzüge, den man aus Kants Lehre zumindest entnehmen kann. Kant setzt nun nicht nur reine Denkleistungen, sondern ein „Ich denke“ an. Er liefert dafür keine explizite Begründung. So kann man mit Lichtenberg fragen, warum man nicht statt dessen: „Es denkt“ sagen sollte wie „es blitzt“.6 Hiergegen läßt sich aus dem Kontext der Kantischen Theorie zweierlei einwenden. Erstens ist Denken nicht ein anonymes passives Geschehen, sondern spontaner Vollzug der Synthesis. Dies aber ist ohne einen Acteur, das denkende Subjekt, schwerlich vorstellbar. Zweitens ist dieser Denkhandlungen Vollziehende seiner selbst als eines identischen in den verschiedenen synthetisierten Vorstellungen bewußt; er weiß von sich als demselben in diesem synthetisierten Vorstellungsmannigfaltigen. Ein solches Sich-Wissen aber kommt nur dem Selbstbewußtsein zu. Kant skizziert dies zweite Problem unter den Titeln der analytischen und synthetischen Einheit der Apperzeption.7 So läßt sich die Ansetzung von: „Ich denke“ durchaus rechtfertigen. So sehr Kant mit diesem Prinzip des reinen „Ich denke“ an Descartes erinnert, sowenig folgt er dessen Metaphysik. Nach längeren Versuchen, ob man nicht doch solchem „Ich denke“ substantielle Existenz zuschreiben könne oder müsse, wie Descartes es erklärt hatte, entscheidet sich Kant metaphysikkritisch dagegen. Das reine denkende Ich kann nämlich durch bloßes Denken seine eigene Existenz nicht erkennen, erst recht nicht, daß es als Substanz existiere. Denn Denken ist lediglich formale Synthesis, der das zu Synthetisierende vorgegeben sein muß, und zwar, wenn etwas erkannt werden soll, durch sinnliche, rezeptive Anschauung. So gelangt Kant zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, daß das rein denkende Ich im Vollzug seines Denkens seiner Existenz und gar seiner substantiellen Existenz keineswegs gewiß sein kann. Denn dies rein denkende Ich, diese reine Apperzeption ist Prinzip der Logik und nicht etwa eine existierende Person. Dasjenige denkende Ich, dem in seinem Denkvollzug auch Existenz zukommt, wie Descartes es verlangt hatte, ist für Kant ein unbestimmt empirisches Selbst; es nimmt sich in seinem Denkakt als einem psychischen Akt und Erleben unmittelbar wahr, und darin ist auch seine Existenz impliziert, die jedoch noch nicht näher bestimmt ist.8 Näher be6
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Vgl. G.Chr. Lichtenberg: Aphorismen. Hrsg. von A. Leitzmann. Bd. 5. Berlin 1908, 128. Auch B. Russell schlägt mit einer Assonanz an Humes Vorstellung des Ich als „bundle of ideas“ vor, man solle „es denkt“ sagen, wobei allerdings Lichtenbergs Assoziation an Gedankenblitze verlorengeht (B. Russell: The Analysis of Mind [zuerst 1921]. London – New York 10 1971, 18). Vgl. bes. Kritik der reinen Vernunft, B 133 f mit Anm. Vgl. a.a.O. B 422 f Anm. Zum Verhältnis von Descartes und Kant mag der Hinweis auf die Skizze des Verfs. erlaubt sein: „Cogito, ergo sum? Untersuchungen zu Descartes und Kant“. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie 19 (1987), 95-106. – Kant betont gerade in späterer Zeit, daß zu aller theoretischen Erkenntnis, somit ebenso zur Selbsterkenntnis, auch die Rauman-
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stimmt werden kann sie durch weitere inhaltsreichere, auch Raum und äußere Welt implizierende Erlebnisse, woraus eine Person ihre Biographie formt. Aber das cartesianische cogito-sum, das bei Kant kein Prinzip ist und keine intellektuelle Selbst- und Existenzerkenntnis gewährt, bildet nur die für sich noch unbestimmte, nur im psychischen Erleben des Denkakts erschlossene existierende Basis weiterer biographischer Bestimmung. Descartes’ oberste Gewißheit wird somit von Kant aufgeteilt in ein Prinzip des rein denkenden Ich, das durch bloßes Denken seine Existenz nicht schon erfaßt und erkennt, und ein unbestimmt wahrgenommenes empirisches Selbst, das existiert, aber sich erst weiter bestimmen muß. Diese differenzierte Lösung ging später in der französischen Phänomenologie wieder verloren, die sich gegen Descartes’ intellektuelle Selbsterkenntnis des cogito-sum wandte und das Existieren des Selbst als präreflexives dessen Denken vorausschickte. Das reine „Ich denke“ liegt nach Kant diesem empirischen Selbst zugrunde. Doch stellt sich nun die Frage, welche Modelle von Selbstgegenwärtigkeit Kant für das reine „Ich denke“ vor Augen standen. Die Möglichkeit, daß das rein denkende Ich sich selbst denkt und bestimmt, freilich ohne Existenzerkenntnis, hat Kant nicht geleugnet.9 In seiner Theorie der Erkenntnis kam es ihm freilich nur darauf an zu zeigen, wie dieses „Ich denke“ der Apperzeption Objektivität konstituiert. Es bringt durch seine regelhaften Synthesen eine gesetzmäßige Ordnung in das gegebene Anschauungsmannigfaltige; und diese Ordnung ist zwar nicht ein bestimmtes Objekt, aber doch allgemein: Objektivität in der Zuordnung von zeitlich-räumlichem Mannigfaltigen. Dabei ist das „Ich denke“ nicht selbstvergessen; es ist, wie Heidegger interpretiert, sich selbst „mitenthüllt“ in der Zuordnung des gegebenen weltlichen Mannigfaltigen, auf das es thematisch gerichtet ist; es ist sich dabei unthematisch „miterschlossen“.10 Es mag hinzugefügt werden, daß Kant, ohne daß er nähere Erläuterungen gibt, offenbar ein bestimmtes Selbstbewußtseinsmodell vorschwebt, nämlich das „phänomenologische Horizontmodell“, wie ich es kennzeichnen möchte. Thematisch ist hierin das Selbst, bei Kant das reine „Ich denke etwas“, auf das Objekt überhaupt bezogen, das es konstituiert; dabei ist es aber unthematisch, nebenher und horizonthaft, jedoch nicht ausdrücklich seiner selbst irgendwie inne und sich mitgegenwärtig. Durch Verwendung solcher phänomenologischen Differenzierungen kann der Typus von Selbstbewußt-
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schauung erforderlich ist; vgl. dazu D. Heidemann: „Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus“. In: Kant-Studien. Ergänzungsheft 131. Berlin/New York 1998. 175-232. Der Neukantianer Natorp und manche seiner Anhänger nahmen ein sich selbst unzugängliches, sich nicht selbst denkendes und bestimmendes Ich an; dies ist offensichtlich nicht Kants Auffassung (s. auch das Folgende). Vgl. P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen 1912, 27-39 (mit seiner Zurückweisung von Husserls Kritik an seinem Ich-Prinzip), 202-213. Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Vorlesung vom Sommersemester 1927. Hrsg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt a.M. 1975, 225, vgl. 224. – Zum folgenden sei der Verweis erlaubt auf die Unterscheidungen des Verfs. in Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O. (Anm. 2), 137 ff.
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sein, der Kant hierbei vor Augen stand, wie gerade angegeben, näher bestimmt werden. Deutlich wird dadurch auch, daß Kant in diesem Kontext der Objektkonstitution durch das rein denkende Ich dessen unausdrückliche Selbstbeziehung nicht nach dem Modell einer Subjekt-Objekt-Beziehung konzipiert. Alles, was nur horizonthaft in der direkten Vorstellung von anderem mitgegenwärtig ist, kann eigens thematisiert und ausdrücklich betrachtet werden; das gilt ebenso für das Objektivität konstituierende, sich nur mitgegenwärtige reine „Ich denke“. Auch hier kann man Kants Auffassung nur erschließen. In der Auflösung der „Paralogismen“ der Seelenlehre in der Kritik der reinen Vernunft 11 legt er dar, daß die metaphysischen Bestimmungen des denkenden Selbst und seiner Existenz, kritisch bereinigt, als bloße, kategoriale Gedankenbestimmungen des immanenten Sinnes von „Ich denke“ ohne Existenzerkenntnis aufzufassen sind; dieses ist also, wenn es sich denkt, immer Subjekt seiner Gedanken, numerisch eines, qualitativ einfach und dgl. Eine Explikation der verschiedenen Bestimmungen des denkenden Ich, wenn es sich selbst denkt, ist somit bei Kant sehr wohl möglich. Doch ergibt sich für ihn dies denkende Sich-selbst-Bestimmen nur durch die Kritik der rationalen, metaphysischen Psychologie. Offen bleibt die Frage, wie es möglich ist, daß das reine „Ich denke“ sich in Kategorien oder reinen Folgebestimmungen von Kategorien denkt, die als Gedankenbestimmungen doch erst aus dem „Ich denke“ entspringen sollen. Offen bleibt in der Kritik der reinen Vernunft ferner die Frage, wie die verschiedenen logischen Funktionen zu urteilen und die ihnen entsprechenden Kategorien systematisch zu entwickeln bzw. aus dem Prinzip des denkenden Ich abzuleiten sind. Dies monieren alle idealistischen Denker. Kant besaß zwar, was sie nicht wissen konnten, eine Konzeption einer solchen systematischen Entwicklung, wie man aus Reflexionen und Briefen entnehmen kann; aber ausgeführt hat er sie nicht. – Auch diese intellektuelle Selbstbeziehung, nämlich das Sich-Denken in den eigenen kategorialen Bestimmungen, folgt nicht einfach dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung, da für Kant Objekt in der Regel erkennbarer Gegenstand bedeutet, das Ich sich hier aber nur denkt und nicht erkennt. Kant hat vielmehr eine thematische Selbstzuschreibung vor Augen, wenn das denkende Ich sich in kategorialen Bestimmungen denkt und sich darin nicht nur partiell zu erfassen sucht. Spezifischere Qualifizierungen der intellektuellen Selbstbeziehung des „Ich denke“ sind jedoch kaum möglich, da dies in der Auflösung der Paralogismen der Seelenlehre nicht Kants Problem war. Das entscheidende systematische Grundlegungsproblem in dieser Konzeption des reinen „Ich denke“ oder der reinen Apperzeption als des Prinzips der Logik ist nun das Verhältnis von Logik und Subjektivitätstheorie. Dies Problem stellt sich auch bei den folgenden idealistischen Systemkonzeptionen. Es liegt der Auseinandersetzung zwischen K.-L. Reinhold, dem Popularisierer Kants und Frühidealisten, und G.E. Schulze, dem Skeptiker, gegen den Hegel 11
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 407-410, auch 418 f.
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sich wandte und der später Lehrer Schopenhauers war, offensichtlich zugrunde, nämlich was der oberste Grundsatz der Philosophie sei. Reinhold votiert für seinen Satz des Bewußtseins, in dem Bewußtsein, besser: Selbstbewußtsein zum ersten Mal dezidiert als einfache, statische Subjekt-ObjektBeziehung gedacht wird, Schulze für den logischen Satz des zu vermeidenden Widerspruchs. Der frühe Fichte unterstützt in der Rezension des Aenesidemus (1793)12 Reinholds Position grundsätzlich, erklärt aber, daß Reinhold noch nicht den höchsten Grundsatz gefunden habe. Fichtes eigene Lehre vom Prinzip eines absoluten Ich mutet dann Kant wiederum wie ein „Gespenst“ an, da es noch „über die Logik hinausgehen“ wolle.13 Dieser späte Protest Kants zeigt, daß das Prinzip des Ich oder auch der Apperzeption nach seiner Auffassung nicht über die Logik hinausführen kann; diese bleibt allgemeine, formale Grundlegungswissenschaft. Die reine Apperzeption als ihr oberstes Prinzip kann daher nur innerhalb der Logik und in Zusammenstimmung mit ihren Gesetzen und Bestimmungen, etwa den Kategorien als bloß logischen Bestimmungen, entwickelt werden, nicht unabhängig von ihr oder gar vor ihr. Die reine Formalwissenschaft der Logik vermag zwar nach Kant auch unabhängig vom Prinzip der reinen Apperzeption als System von formalen Gesetzmäßigkeiten des Wissens aufgebaut zu werden. Doch dann wird von der obengenannten unabweisbaren Frage nur abstrahiert, wie denn die rein gedachten logischen Gesetzmäßigkeiten zustande kommen und welches Denken sie aufstellt. Auf welche Weise aber einerseits die formale Logik entwickelt werden müßte, die von dieser Frage nicht abstrahiert, und wie andererseits die reine Apperzeption als sich in den Bestimmungen der formalen Logik entfaltende expliziert werden müßte, bleibt bei Kant offen. Heute wird nach dem Verhältnis von Logik und Subjektivitätstheorie in der Regel nicht mehr gefragt, da sich zum einen die formale Logik zu einer selbständigen Spezialwissenschaft herausgebildet hat und da zum anderen heute durch die weitverbreitete Subjektkritik insbesondere der Sinn der Subjektivität als eines apriorischen Prinzips verlorengegangen zu sein scheint. Wenn sich aber jene Subjektkritik als fragwürdig erweist, kann auch wieder nach dem Pendant der gedachten logischen Gesetze, dem Denken als reinem „Ich denke“ gefragt werden. Diese Grundlagen einer Lehre vom theoretischen Subjekt werden ergänzt und spezifiziert durch Kants Theorie der Tätigkeit der Einbildungskraft als Selbstaffektion. Kants Theorie der Einbildungskraft erwies sich als außerordentlich wirkungsmächtig bei den idealistischen Denkern ebenso wie bei Heidegger. Sie alle konzipieren die produktive, schaffende Einbildungskraft als Grundvermögen des Ich, was bei den Idealisten noch gezeigt werden soll. Für 12
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Vgl. J.G. Fichte: Gesamtausgabe. Abt. I. Bd. 2. Hrsg. von R. Lauth und H. Jacob. StuttgartBad Cannstatt 1965, 42 ff, s. dort auch die Ausführungen über Reinhold und Schulze. Vgl. Kant an J.H. Tieftrunk, 5.4.1798, s. Kants gesammelte Schriften, a.a.O. (Anm. 4), XII, 241.
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Heidegger ist sie die Mitte des Selbst; sie bildet in den von ihr hervorgebrachten Schemata Zeithorizonte als Grundlagen des Gegenstandsverständnisses des Selbst aus; dasselbe gilt, wie Heidegger interpretiert, von der Selbstaffektion als der „Urstruktur“ des Selbst.14 So findet Heidegger in dieser Kantischen Lehre das traditionelle Pendant zu Sein und Zeit auf dem Boden der Ontologie der Vorhandenheit und Gegenständlichkeit. Kant selbst legt in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die transzendentale, d.h. im reinen Subjekt fundierte, Erkenntnis ermöglichende Einbildungskraft als selbständiges drittes Erkenntnisvermögen dar, das zwischen sinnlicher Anschauung einerseits und Verstand andererseits vermittelt. Hierbei stellt sich die Frage, worin denn angesichts dieser drei Erkenntnisvermögen die Einheit des Subjekts besteht. Ferner enthält diese Lehre von drei Erkenntnisvermögen das Problem, wie damit die Lehre von den zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis, nämlich: sinnliche Anschauung und Verstand, zu vereinbaren ist. So gelangt Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu einer anderen systematischen Bestimmung der Einbildungskraft. Sie ist nicht mehr ein selbständiges Vermögen neben Sinnlichkeit und Verstand, sondern stellt in ihrem Tun, nämlich dem produktiven Hervorbringen in sich strukturierter Anschauungen, nur eine grundlegende Einwirkung des Verstandes und seiner Synthesis-Leistung auf das vorgegebene, für sich noch unbestimmte Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung dar. Ebendiese Einwirkung aber nennt Kant „Selbstaffektion“;15 sie ist eine Wirkung des spontanen aktiven auf das rezeptive, passive Subjekt. Damit tritt ihre subjektivitätstheoretische Bedeutung hervor. Ihre Leistung ist eine spezifische Synthesis, durch die sie die Ordnungsfunktionen des Verstandes und seiner Synthesen oder des reinen denkenden Ich dem sinnlichen Anschauungsmannigfaltigen aufprägt. So bleiben nicht mehr statisch drei Erkenntnisvermögen nebeneinander stehen; die Einbildungskraft, deren Tätigkeit solche Selbstaffektion ist, stellt vielmehr die dynamische Koordination von Verstand und Sinnlichkeit dar. Darin ist sie aber nicht höhere Einheit, wie es die Idealisten und auch Heidegger intendieren, sondern nur die spezifische Ausführung der 14
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Vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (zuerst 1929). Frankfurt a.M. 2 1951, bes. 127-142, 146-184, zur „Urstruktur“ des Selbst s. 173; vgl. ferner ders.: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Vorlesung vom Wintersemester 1925/26). Hrsg. von W. Biemel. Frankfurt a.M. 1976, bes. 338-347. Zu Heideggers Kant-Deutung sei in Auswahl genannt E. Cassirer: „Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Heideggers KantInterpretation“. In: Kant-Studien 36 (1931), 1-26; H. Declève: Heidegger et Kant. Den Haag 1970; D.O. Dahlstrom: “Heidegger’s Kantian Turn. Notes to His Commentary on the Kritik der reinen Vernunft ”. In: Review of Metaphysics 45 (1991), 329-361. Kritik der reinen Vernunft, B 153 ff, 156 f mit Anm., auch B 68. Die Lehre von der Selbstaffektion findet sich erst in der zweiten Auflage. – Anstelle umfangreicher Angaben mag der Verweis auf eine weitere Literatur berücksichtigende Studie des Verfs. erlaubt sein: „Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft “. In: Aufklärung und Skepsis. G. Gawlick zum 65. Geburtstag. In Verbindung mit H.-U. Hoche und W. Strube hrsg. von L. Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 47-71.
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regelhaften Verstandessynthesen in der räumlich-zeitlichen Anschauung. Die dafür grundlegende Bestimmung, die auch den Zusammenhang des aktiven und passiven Subjekts gewährleistet, ist die erwähnte Kennzeichnung des Denkens als reiner, spontaner, aber nicht kreativer Synthesis, die sich immer auf sinnlich vorgegebenes Mannigfaltiges beziehen muß, um überhaupt zur Ausübung zu gelangen. Wie sich darin und d.h. in der Ausführung der Tätigkeit der Einbildungskraft als Selbstaffektion das Subjekt selbst gegenwärtig ist, bleibt bei Kant, da es ihm vorrangig auf Erkenntnis von Objekten ankommt, wieder unbestimmt. So läßt Kants Lehre vom theoretischen Subjekt verschiedene bedeutsame Fragen offen; sie stellen die Ausgangspunkte für die profilierten Weiterentwicklungen durch die idealistischen Denker dar, die dabei dann den Boden von Kants kritischer Philosophie wieder verlassen. Doch ist Kant nach fruchtbaren Ansätzen und Deskriptionen bei Descartes und Leibniz eigentlich der erste, der eine hochkomplexe, wenn auch nicht vollständige Theorie des Subjekts oder des Ich ausbildet, die reich an innovativen Einsichten und Argumenten ist. Es entspricht der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, freilich nicht ganz in dem Kantischen Sinne, wenn solcher produktive Anfang einer Theorie nicht schon ihre Vollendung sein kann.
2. Fichte Der frühe Fichte betrachtet sich zunächst nur als den Vollender der Kantischen Philosophie. Was er in der oben erwähnten Rezension des Aenesidemus gegen Reinholds Prinzip, den Satz des Bewußtseins, einwendet, gilt ebenso von Kants Prinzip der reinen Apperzeption; auch diese setzt wie Reinholds Prinzip mit ihrer spontanen Synthesis und synthetischen Einheit schon Entgegensetzung und Beziehung voraus und beruht in ihrer Spontaneität selbst auf einem höchsten Setzen. Weder Reinholds Satz des Bewußtseins noch Kants Prinzip der reinen Apperzeption sind daher schon das höchste Prinzip der Philosophie. Vielmehr liegt beiden nach Fichte ein höheres Prinzip voraus, das vom rein setzenden absoluten Ich handelt. Da nach Kant Denken Synthesis-Vollzug ist, geht dies absolute Ich in seinem reinen spontanen Setzen noch über das Denken hinaus. – Ferner können die reine Apperzeption und ihr „Ich denke“ als Synthesis und synthetische Einheit nicht einfach diskursiv vor Augen geführt werden, wie es bei Kant geschieht, sondern müssen systematisch und methodisch Schritt für Schritt entwickelt werden. Dafür wählt Fichte in seinem ersten Hauptwerk, der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), die Form von verschiedenen, aufeinander bezogenen Grundsätzen. In ihnen wird erstens das reine, spontane Setzen des „absoluten Ich“ dargestellt, zweitens das Entgegensetzen eines ihm kontradiktorisch entgegengesetzten NichtIch sowie drittens die Beziehung oder Synthesis von Ich und Nicht-Ich, die dann jeweils als begrenzte gesetzt werden müssen, damit sie einander nicht
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absolut ausschließen.16 Eigentlich erst mit dem nicht mehr absoluten, sondern prinzipiell endlichen Ich dieses dritten Grundsatzes ist Kants reine Apperzeption zu vergleichen, obwohl deren Denken als spezifische Vorstellungsart auch mit diesem Grundsatz noch nicht erreicht ist und erst deduziert werden muß. Für Fichte ergibt sich – nach langen, abstrakten Deduktionen – jedoch nicht das Denken, sondern die produktive Einbildungskraft als Grundvermögen des theoretischen Ich, aus dem weitere Erkenntnisvermögen und, wie Fichte später zeigt, auch die Kategorien abgeleitet werden. Da das im ersten Grundsatz explizierte spontane Setzen nun nicht ohne Acteur möglich ist, dieser aber nur als Subjekt oder Ich konzipiert werden kann, muß dem Inhalt dieses ersten Grundsatzes, dem „absoluten Ich“, wenigstens ein rudimentärer Selbstbeziehungscharakter zukommen; Fichte schreibt ihm daher Fürsichsein zu. Hölderlin kritisiert bereits sehr bald (1795), daß darin schon eine Mehrfältigkeit und Trennung liegt, deren Glieder er als Subjekt und Objekt, Vorstellendes und Vorgestelltes innerhalb solchen Fürsichseins bestimmt.17 Weil aber das absolut erste Prinzip ursprüngliche Einheit und Einfachheit enthalten müsse, könne das absolute Ich nicht höchstes Prinzip sein; ihm gehe eine höhere Einheit voraus, die Hölderlin als einfaches Sein oder auch als Frieden bestimmt, woraus sich im Universum Schönheit ergebe. Dieses metaphysische Hinausgehen über das Ich als Prinzip ist von zukunftsträchtiger Bedeutung, da der späte Fichte und der späte Schelling eine ähnliche Richtung einschlagen. Der frühe Fichte dagegen sieht das Fürsichsein des Ich als ursprüngliche, nicht weiter auflösbare, unmittelbare Bestimmung an, die der Bedeutung eines ersten Prinzips keineswegs widerspricht. Ebenso schreibt er dem absoluten Ich „Sein“ zu; dieses liegt nicht dem Ich voraus. Solches Sein, das in der Formel des ersten Grundsatzes: „Ich bin“ ausgesprochen ist, darf freilich nicht als cartesianische substantielle Existenz aufgefaßt werden; solche Auffassung hatte schon Kant kritisiert. Doch glaubt Fichte – Kants grundlegender Konzeption des Prinzips der reinen Apperzeption nicht konform – daß dem Setzen des absoluten Ich ein Sein unabdingbar zukomme, das als reiner Vollzug zu denken sei. Wird nun der Ich-Charakter dieses Prinzips in Frage gestellt wie bei Hölderlin oder beim späten Fichte, dann bleibt das Sein als reine Aktuosität übrig.
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17
Zu dieser Lehre des frühen Fichte sei auswahlweise verwiesen auf M. Gueroult: L’évolution et la structure de la Doctrine de la Science chez Fichte. 2 Bde. Paris 1930, vgl. bes. Bd. 1, 185-217; W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, vgl. bes. 84-108; neuerdings Chr. Hanewald: Apperzeption und Einbildungskraft. Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Philosophie Kants in Fichtes früher Wissenschaftslehre. Berlin 2001. Vgl. F. Hölderlin: Urteil und Sein. In ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von F. Beißner. Bd. 4. Stuttgart 1961, 216 f; vgl. dazu D. Henrich: „Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entwicklungsgeschichte des Idealismus“. In: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965/66), 73-96; ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795). Stuttgart 1992, 40-48, 92-113, 433 ff, 485-515, 558-591 u.ö.
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Ob solches Hinausgehen über das Ich freilich notwendig ist, dürfte eine ganz andere Frage sein. In der Grundlage von 1794/95 sind das im bloßen Setzen sich vollziehende absolute Ich und das endliche Ich, das zum ersten Mal im dritten Grundsatz auftritt und sich nach langen Deduktionen theoretisch als Einbildungskraft und praktisch als Wille erweist, voneinander getrennt. Diese Trennung hebt Fichte in seinem folgenden Ansatz der Wissenschaftslehre nova methodo (17971799) auf zugunsten eines endlichen Ich als Prinzip. Fichte vermeidet in dieser neuen Darstellung seiner Wissenschaftslehre auch die Schwierigkeiten der Explikation von drei getrennten Grundsätzen, noch bevor Hegel diese als drei verschiedene Absoluta in der Differenz-Schrift (1801) kritisiert. – Gegen das endliche Ich als Prinzip, dem wesentlich Sich-selbst-Vorstellen zukommt, legt Fichte nun den heute so oft erhobenen Zirkeleinwand oder besser: den Einwand der unendlichen Iteration in der Selbstvorstellung dar; er wird heute oft für schlagend gehalten;18 Fichte dagegen weist ihn mit guten Gründen zurück. Den Einwand entwickelt Fichte, wie es auch heute vielfach geschieht, nach der Subjektseite: Wenn das Ich sich selbst vorstellen soll, muß es sich für ebendiese Handlung als Acteur schon voraussetzen; dieser vorausgesetzte Acteur soll wiederum Ich sein und infolgedessen sich selbst vorstellen; deshalb muß dafür erneut ein Acteur und somit ein Ich vorausgesetzt werden usf. ins Unendliche. Nie kommt auf diese Weise wirkliche Selbstbeziehung zustande. Fichte weist diesen Einwand mit seiner Lehre von der intellektuellen Selbstanschauung des Ich zurück; das Ich ist sich als spontanes nicht sinnlich, sondern intellektuell unmittelbar selbst gegenwärtig; diese unmittelbare anschauliche Selbstgegenwärtigkeit läßt eine Auftrennung in selbständige Instanzen, nämlich in ein angeschautes Ich als Objekt und ein anschauendes Ich als Subjekt nicht zu, gegen die der Vorwurf sich wendet; er trifft also die unmittelbare Selbstgegenwärtigkeit nicht. Voraussetzung dieser Zurückweisung ist die Lehre von der intellektuellen Selbstanschauung, die Kant nicht akzeptiert hätte, weil dem Ich für Kant ursprünglich nur vermittelndes Denken zukommt. Gibt es aber ein solches unmittelbares intellektuelles Selbstverhältnis, dann findet der Einwand hierauf keine Anwendung. Mag nun das Prinzip entweder als absolutes Ich aufgefaßt werden, das dann durch weitere Entwicklungen zum endlichen Ich führt wie in der Grundlage von 1794/95 oder sogleich als endliches Ich konzipiert sein wie im Ansatz der Wissenschaftslehre nova methodo, in jedem Fall sucht Fichte aus den ur18
Vgl. J.G. Fichte: Gesamtausgabe. Abt. I. Bd. 4. Hrsg. von R. Lauth und H. Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 275 f. Vgl. zum Zirkeleinwand vor allem D. Henrich: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für W. Cramer. Frankfurt a.M. 1966, 188-232. Zu den verschiedenen Versionen des Zirkel- oder des Iterationseinwandes sei der Verweis auf die Darlegung des Verfs. erlaubt: Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O. (Anm. 2), 97-120. Dort wird auch gezeigt, daß diese Einwände ein Modell von Selbstbewußtsein als symmetrischer Subjekt-Objekt-Beziehung voraussetzen, das nur einen idealen Grenzfall von Selbstbewußtsein darstellt und im Grunde nicht realisiert wird.
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sprünglichen Handlungen des Ich die Gesetze und Regeln der reinen Logik erst abzuleiten. Das Problem des Verhältnisses von Subjektivitätstheorie und Logik stellte sich, wie erwähnt, schon bei Kant sowie in der Auseinandersetzung zwischen Reinhold und Schulze. Für Fichte ergeben sich eindeutig die Gesetze und Regeln der reinen Logik ebenso wie die inhaltsbestimmten Kategorien erst durch unterschiedliche Abstraktionen von ursprünglichen spontanen Akten des reinen Ich. Diese müssen systematisch für sich entwickelt werden, ebenso die Herleitung der logischen Gesetze und Kategorien als Abstraktionen von ihnen, und zwar in einer Subjektivitätstheorie, die der Logik vorausgeht. Doch muß sich solche Subjektivitätstheorie als Wissenschaft bereits der logischen Gesetze als gültiger bedienen, die sie erst herleiten will. Hierin liegt ein Zirkel im Beweis, den Fichte selbst erkennt, aber für unvermeidlich hält. Fichte macht sich dabei wohl nicht klar, daß dann jener Subjektivitätstheorie und der Herleitung der logischen Gesetze aus ihr keinerlei Beweiswert mehr zukommt. Für Kant dagegen bleibt die reine Apperzeption Prinzip der Logik und kann prinzipiell nur in ihr angemessen entwickelt werden. Für die systematische Explikation nicht nur jener ursprünglichen Handlungen des Ich, sondern ebenso der konkreteren Fähigkeiten und Leistungen des menschlichen Geistes, sofern sie dem Selbstbewußtsein angehören, stellt Fichte nun ein ganz neues Programm auf, nämlich das Programm einer systematischen, idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins.19 Dies innovative Programm wird von allen idealistischen Denkern befolgt und in unterschiedlichen Versionen ausgeführt. Sie sehen darin die philosophische Grundlage für empirische Anthropologie und Psychologie. „Geschichte“ bedeutet hierbei nicht empirisch-realer zeitlicher Verlauf, sondern ideale, apriorische Genesis sowie deren Darstellung. Die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins hat nun zum einen die Aufgabe, die verschiedenen Fähigkeiten und Leistungen des menschlichen Geistes systematisch und genetisch aus einem Prinzip, nämlich einer bestimmten Struktur von Selbstbewußtsein zu entwickeln. Sie vermeidet damit das bloße zeitliche Nacheinander des Hervortretens von einem Vermögen nach dem anderen, wie es de Condillac in seinem Traité des sensations 19
Vgl. J.G. Fichte: Gesamtausgabe. Abt. I. Bd. 2, 365, 369-384, auch 417-451 (aus der Grundlage 1794/95); Abt. I. Bd. 3, 147-208 (aus: Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre 1795); ders.: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K.Chr.Fr. Krause 1798/99. Hrsg. von E. Fuchs. Hamburg 1982, 172, 51-240 (zu Krause s.u. Anm. 22). Zur Geschichte des Selbstbewußtseins bei Fichte sei verwiesen auf H. Heimsoeth: Fichte. München 1923, 113-148; U. Claesges: Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95. Den Haag 1974; C. Cesa: “Contraddizione e Non-Io: Problemi Fichtiani”. In: Teoria 8 (1988), bes. 68 ff; E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, bes. 181, 186 ff, 260 ff (hier wird dargelegt, daß für Fichte im Ansatz von 1794/95 die Geschichte des Selbstbewußtseins nur ein Teil der Wissenschaftslehre ist, im Ansatz der Wissenschaftslehre nova methodo aber der Konzeption nach die ganze Wissenschaftslehre betrifft); vgl. auch K. Düsing: „Einbildungskraft und selbstbewußtes Dasein beim frühen Fichte“. In: Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Janke. Hrsg. von K. Held und J. Hennigfeld. Würzburg 1993, 68 ff.
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(1754) anhand einer Erzählung darlegt; sie vermeidet ferner das bloße Klassifizieren und Rubrizieren von Vermögen, wie es die empirische Psychologie des 18. Jahrhunderts vornimmt, die nach Hegels Spott nur einen „Sack voll Vermögen“20 mit sich schleppt; und sie vermeidet schließlich auch die statische Vermögenssystematik bei Kant, die nicht erkennen läßt, wie es zu dieser Systematik genetisch kommt und unter welchem einheitlichen Prinzip sie steht. Die Idee einer genetischen Entwicklung von Vermögen findet sich auch in Platners Aphorismen, auf die Fichte in Vorlesungen eingeht. Doch hält Platners Entwurf an einer empiristischen Basis fest; so läßt sich immerhin vermuten, daß Fichtes idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins damit offenbar einen empiristischen Vorläufer hat. – Zum anderen ist es Aufgabe der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins, was bei Fichte weniger prägnant ausgebildet ist, zu zeigen, wie sich im betrachteten Ich korrelativ zu den stufenartig explizierten Vermögen und Leistungen das noematische Ich-Objekt entwickelt und von Stufe zu Stufe mit Subjektivitätsgehalt anreichert. Dazu gehört auch der methodische Unterschied einerseits des philosophischen „Zuschauers“ oder dessen, was „für uns“ ist, und andererseits des betrachteten Ich, wie es selbst „für sich“ ist, und alles dessen, was „für es“ ist; diesen Unterschied, der insbesondere durch Hegels Phänomenologie bekannt geworden ist, konzipiert schon Fichte. Konkret führt bei Fichte nun diese Geschichte des Selbstbewußtseins von der Empfindung, mit der auch der Sensualist de Condillac begann, über Gefühl und Anschauung zu Verstand und Vernunft, wenn man mehrere bruchstückhafte Darstellungen Fichtes so zusammenfassen darf; die Mitte des theoretischen Ich, aus der solche besonderen Erkenntnisvermögen erst hervorgehen, ist die Einbildungskraft; seine Vollendung erreicht das endliche Ich aber erst im vernünftigen und freien Willen.21 Das freie praktische Ich des Philosophen liefert die Grundstruktur von Selbstbewußtsein, anhand deren die geistigen Fähigkeiten und Leistungen systematisch entwickelt werden können und das betrachtete Ich in Korrespondenz zu ihnen stufenweise immer mehr an Subjektivitätsgehalt gewinnen und sich schließlich vollenden kann. In den einzelnen Bestimmungen folgt Fichte zwar immer dem Reinholdischen Schema des Selbstbewußtseins als Subjekt-Objekt-Beziehung und -Einheit. Fichte bemerkt jedoch, daß dies viel verwendete Gerippe zu dürr und zu statisch ist; er füllt es mit konkreten geistigen Fähigkeiten und Aktivitäten aus, dynamisiert es in der stufenartigen Entwicklung und läßt vor allem in der für die Moralphilosophie entscheidenden Vollendung des Ich im freien Willen eine Struktur der Asymmetrie bestehen; das wollende Ich erstrebt in seiner volunta20
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Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 237. Fichte entwickelt in dieser Lehre zugleich eine Theorie der Intersubjektivität, nach der endliches praktisches Selbstbewußtsein im Aktus der Anerkennung gleichursprünglich des Anderen und seiner selbst bewußt wird. Vgl. hierzu E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, a.a.O. (Anm. 19), 240-289.
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tiven Selbstbeziehung einen anderen, vom erreichten abweichenden Zustand des Selbst. Wegen dieser Asymmetrie erliegt es daher auch nicht dem Zirkeloder Iterationseinwand, der sich nur in Bezug auf eine Selbstbeziehung als symmetrische Subjekt-Objekt-Beziehung ergibt. So ist diese Theorie in sich konsequent; in ihr selbst liegen keine Gründe, über ihr Prinzip, das endliche Ich, hinauszuführen. Es waren denn auch andersartige, biographisch für Fichte höchst bewegende Gründe, die ihn dazu veranlaßten, davon abzugehen, nämlich offenbar der Atheismus-Vorwurf, dessen Opfer er mit allen Konsequenzen zu Unrecht wurde.
3. Schelling Der junge Schelling beginnt mit dem metaphysischen Versuch, Fichtes absolutes Ich und Spinozas Eine Substanz in einem Prinzip zu vereinigen. Hierbei wird jedoch die Selbstbeziehungsstruktur des Ich gegenüber Fichte nicht spezifischer bestimmt. Dies geschieht erst im Hauptwerk des frühen Schelling, im System des transzendentalen Idealismus (1800). Der transzendentale Idealismus ist für Schelling dort – anders als für Fichte – der zweite Teil der Philosophie, der auf die Naturphilosophie folgt; ihm kommt nicht die Grundlegungsfunktion zu, die Fichte ihm verleiht; er ist vielmehr eine Art Geistesphilosophie; und er ist als ganzer nach Schellings Konzeption systematische Geschichte des Selbstbewußtseins, d.h. stufenartige ideale und apriorische Genesis des Selbstbewußtseins, bis dessen vollendete Selbstbeziehung erreicht ist, sowie systematische Darstellung dieser Genesis.22 Schelling beginnt wie Fichte mit der Explikation des Prinzips des reinen Ich, das sich in dem Satz: „Ich = Ich“ oder „Ich bin“ ausspricht.23 Doch gibt es in der Ausführung grundlegende Unterschiede. Fichte sieht die darin gedachte Identität des Ich nur als analytische an gemäß dem Satze: A = A; Schelling 22
23
Dies Programm konzipiert Schelling schon in den „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“ (1796/97, vgl. F.W.J. Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart – Augsburg 1856-1861. Bd. I, 382). Ausgeführt wird es erst im System des transzendentalen Idealismus. – Bei Fichte und Schelling hörte damals Karl Christian Friedrich Krause (s.o. Anm. 19). Er ließ sich anregen zu einem System des „Panentheismus“, wie er es bestimmte, in dem er Christentum und idealistische sowie pantheistische, spinozistische Philosophie zu vereinigen suchte. Sein Stil gilt selbst deutschsprachigen Idealismus-Kennern als dunkel. Um so erstaunlicher ist, daß in Spanien eine an ihn anknüpfende Richtung durch Schüler Krauses entstand, der Krausismo. Krause kommt jedoch keine produktive, mit den Klassikern des idealistischen Denkens vergleichbare Theorie der Subjektivität zu. Vgl. Schelling: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. III, 362 ff, 372 f, 377 f. Vgl. zum folgenden das Standardwerk zu Schelling von X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris 1970. Bd. 1, 185-233, auch das den ganzen Idealismus umfassende Werk von X. Tilliette: L’intuition intellectuelle de Kant à Hegel. Paris 1995, bes. 175-185 (zur intellektuellen Anschauung im System des transzendentalen Idealismus), ebenso ders.: Schelling. Biographie. Paris 1999, 81 ff.
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3. SCHELLING
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dagegen sieht darin eine sowohl identische, nämlich analytische als auch synthetische Einheit. Denn auch das Unterschiedene müsse in diesem „Ich = Ich“ gedacht und mit dem rein Identischen des Ich vereinigt werden. Darin gründen weitere Differenzen zu Fichtes Ich-Prinzip. Zwar kommt diesem Ich wie für Fichte intellektuelle Anschauung zu; diese aber gilt Schelling prononciert als produktive Tätigkeit, die etwas anderes, nämlich das Objekt hervorbringt, in welchem sich schließlich das Ich erkennt. Ferner erweist sich aufgrund dieser identisch-synthetischen Struktur, die das Unterschiedene zugleich impliziert, das Ich als Einheit entgegengesetzter Bestimmungen, grundlegend von bewußter und unbewußter Tätigkeit; beide Tätigkeiten kommen dem Ich gleichwesentlich zu; ihm ist also auch die unbewußte wesentlich. Fichte kennt zwar eine unbewußt produzierende Einbildungskraft; aber wesentlich ist das Ich bewußter, freier Wille. Diese Vereinigung der entgegengesetzten bewußten und unbewußten Tätigkeit ist für Schelling noch in der Bestimmung der Vollendung des Ich von zentraler Bedeutung. Das Konzept der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins nimmt Schelling nun von Fichte auf. Dabei akzentuiert er deutlicher als Fichte die dargelegte zweite Aufgabe, nämlich neben der systematischen und genetischen Explikation der Fähigkeiten und Leistungen des menschlichen Geistes zugleich die Entwicklung des betrachteten Ich und seiner stufenartigen Anreicherung mit Subjektivitätsbedeutung detailliert darzulegen. Dazu gehört, daß jede der erörterten Leistungen ihr spezifisches noematisches Korrelat hat, die Empfindung das Empfundene, die sinnliche Anschauung das sinnlich Angeschaute usf., bis schließlich das Ich sich in dem von ihm selbst hervorgebrachten noematischen Korrelat vollständig selbst anschaut und damit dem Ich des philosophierenden „Zuschauers“, genauer: der intellektuellen Anschauung als unmittelbarer produktiver Selbstgegenwärtigkeit prinzipiell gemäß ist. Inhaltlich erweitert Schelling die auf diese Weise gegenüber Fichte differenzierte Geschichte des Selbstbewußtseins um einen naturphilosophischen Teil innerhalb des transzendentalen Idealismus, nämlich um die Darlegung der unbewußten Leistungen des Ich, um einen geschichtsphilosophischen Teil in Bezug auf das praktische Ich und sein Schicksal sowie entscheidend um eine GenieÄsthetik; nicht der freie und vernünftige Wille wie bei Fichte, sondern das Genie ist für Schelling die Vollendung der Subjektivität. So führt Schelling die systematische Geschichte des Selbstbewußtseins von der Empfindung und sinnlichen Anschauung sowie dem Empfundenen und sinnlich Angeschauten, worin das Ich noch unbewußt tätig ist, zur Reflexion, die sich noematisch auf Urteile und Naturgesetze bezieht und in der das betrachtete Ich bereits in bewußter Tätigkeit für sich ist, aber noch seine Objekte als äußere Welt von sich unterscheidet, während der darauf folgende freie Wille, in dem das Ich ebenfalls bewußt für sich ist, auf die angeschauten Objekte der Welt einwirkt, sie zu den seinigen macht, allerdings noch dem Schicksal ausgeliefert bleibt; erst das Genie, das nach weiteren Zwischenstufen erreicht wird, ist die vollständige Vereinigung grundlegend entgegenge-
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setzter Bestimmungen, nämlich vor allem von bewußter und unbewußter Tätigkeit.24 Die Vereinigung dieser entgegengesetzten Bestimmungen, durch die der Subjektivität nichts Fremdes mehr gegenübersteht, ist nun nicht eine subjektive Leistung des freien Willens; vielmehr ereignet sie sich als ein höheres, unverhofftes Glück, das das zerrissene Selbstbewußtsein oder Ich in einen Zustand beseligender Harmonie versetzt. In diesem Zustand des Versöhntseins in sich selbst als Aufhebung der Zerrissenheit erhält die Anschauung des Ich eine höhere Weihe; sie findet in „Begeisterung“, im Enthousiasmos statt, womit Schelling Platons Lehre von der „theia mania“ aufnimmt. Zugleich ist für Schelling diese sich dem Willen und der Macht des Subjekts entziehende Schau etwas Naturhaftes, ähnlich wie bei Kant im Genie die Natur der Kunst die Regel gibt. Diese Schau ist für Schelling ästhetische Anschauung als intellektuelle Anschauung, die objektiv geworden ist.25 Denn sie bleibt nicht werklos und nur innerlich, sondern ist poietisch, d.h. ein Werk hervorbringend; hier realisiert sich auf höchste Weise, daß die intellektuelle Anschauung wesentlich produktiv ist. Die ästhetische Anschauung bringt also ein Kunstwerk hervor, und deshalb ist der originär ästhetisch Anschauende ein ästhetisch Hervorbringender, ein Genie. – Diese Bestimmungen des Genies stehen, wie auch die Anspielungen zeigen, in klassischer Tradition; das Genie wird als Vermögen eines Einzelnen verstanden; das Kunstwerk ist zwar bedeutungsmäßig von innerer Unendlichkeit in endlicher Gestalt, wird aber als einzelnes Werk aufgefaßt. Doch fügt Schelling romantische Ausweitungen des Genieund des Kunstwerk-Begriffs hinzu. Genie kann für ihn auch das Vermögen eines ganzen Volkes wie z.B. der Griechen sein; das von diesem Genie hervorgebrachte Werk ist dann kein einzelnes, sondern eine Art Gesamtkunstwerk, das allen zugehörigen einzelnen Kunstwerken zugrunde liegt, die Mythologie. In der „Begeisterung“, der „theia mania“ ebenso wie in der Mythologie zeigt sich, daß sich in den göttlichen Visionen des Genies, es mag nun Vermögen eines Einzelnen oder eines Volkes sein, die Gottheit offenbart; dies ist für den jungen Schelling die einzige Offenbarung Gottes, die es gibt, womit er einen ästhetischen Gotteserweis andeutet. 24
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Zu den Stationen in der Geschichte des Selbstbewußtseins sowie zur Entstehung dieses Programms bei Schelling vgl. X. Tilliette: Schelling, a.a.O. Bd. 1, 185-233; vgl. auch G.V. Di Tommaso: La via di Schelling al „Sistema dell’ idealismo trascendentale“. Napoli 1995, 151-257. Zur Naturphilosophie als Pendant zur Transzendentalphilosophie vgl. aus der Gesamtdarstellung zum Idealismus M. Vetö: De Kant à Schelling. Les deux voies de l’idéalisme allemand. 2 Bde. Grenoble 1998/2000, bes. Bd. 1, 450-469. Zur Geschichtsphilosophie im System des transzendentalen Idealismus vgl. W. Jacobs: Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, bes. 211-236. Vgl. Schelling: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. III, 625, zur Genielehre insgesamt 612-629. Vgl. hierzu D. Jähnig: Schelling: Die Kunst in der Philosophie. Bd. 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen 1969, bes. 72-91; erlaubt sei auch der Verweis auf die Darlegung des Verfs.: „Schellings Genieästhetik“. In: Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988. Bd. 1, 193-213.
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4. HEGEL
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Das Genie in dieser seiner ästhetischen Anschauung ist nun Vollendung der Subjektivität und damit Abschluß der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins, weil erstens hier die höchste Potenz der Einbildungskraft und des „Dichtungsvermögens“ 26 erreicht ist, die in allen menschlichen Vorstellungsfähigkeiten und -leistungen waltet, weil zweitens das Genie sich in dem von ihm hervorgebrachten Kunstwerk manifestiert und darin seine eigene, zum Werk gewordene ästhetisch-poietische Tätigkeit unverkürzt anschaut und weil sich drittens im Genie als dem betrachteten Ich die intellektuelle Anschauung des philosophischen „Zuschauers“, der die ganze Entwicklung des Ich durchgeht, vollständig wiederfindet, ja sie sogar übertroffen sieht; denn im Philosophen bleibt die intellektuelle Anschauung innerlich; nur das Genie vermag sie ästhetisch im Kunstwerk realiter zu gestalten. So ist die Vollendung der Selbstbeziehung am Ende der Geschichte des Selbstbewußtseins asymmetrisch; das betrachtete Genie übertrifft das betrachtende Ich des Philosophen. Gerade deshalb aber erliegt es nicht dem obenerwähnten Zirkel- oder Iterationseinwand. Darüber hinaus verwendet Schelling zwar zur Charakterisierung der Selbstbeziehung des Ich, auch des Genies, das Modell der Subjekt-ObjektBeziehung; aber wie bei Fichte wird es dynamisiert, inhaltlich reichhaltig gefüllt und dadurch differenziert. Ästhetisch-produktive Selbstbeziehung wird auf diese Weise paradigmatisch entwickelt.
4. Hegel An dieses idealistische, systematisch durchgeführte Programm der Geschichte des Selbstbewußtseins knüpft Hegel27 an. Nach Versuchen in seinen Jenaer Systementwürfen (1801-1806), es in unterschiedlichen Teilen der Philosophie durchzuführen, wird es ihm zum entscheidenden, grundlegenden Programm der inhaltlich so vielfältigen Phänomenologie des Geistes (1807).28 Dabei aber 26 27
28
F.W.J. Schelling: Sämtliche Werke, Bd. III, 626. Zur spanischen Hegel-Rezeption vgl. den umfassenden, instruktiven Aufsatz von M. AlvarezGómez: „Zur gegenwärtigen Hegel-Rezeption in Spanien“. In: Hegel-Studien 14 (1979), 279295. Seine Darlegungen stehen vor dem Hintergrund seiner Gesamtinterpretation zu Hegel: Ders.: Experiencia y sistema. Introducción al pensiamento de Hegel. Salamanca 1978 (vgl. die Rezension dieses Buches von H.-Chr. Lucas in: Hegel-Studien 16 [1981], 274 f). Worin die grundlegende Konzeption der Phänomenologie des Geistes besteht, ist in der Literatur umstritten; dies zeigt sich schon daran, daß Haering glaubte, sie sei eigentlich in der Mitte mit dem „Vernunft“-Kapitel beendet; dann folge Geistesphilosophie (vgl. Th. Haering: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. 2 Bde (1929/1938). Neudruck Aalen 1963. Bd. 2, 479518). Dagegen wenden sich die folgenden Interpretationen. O. Pöggeler, H.F. Fulda und H. Schmitz zeigen in unterschiedlicher Weise Kategorien als Grundlagen aller Bewußtseinsgestalten auf (vgl. O. Pöggeler: „Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins“. In ders.: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg – München 21993, bes. 268 ff; H.F. Fulda: „Zur Logik der Phänomenologie von 1807“. In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Hrsg. von H.F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt a.M. 1973, 391-425; H. Schmitz: Hegels Logik. Bonn 1992, 238-307). Als Geschichte der Bildung des Bewußtseins
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wird die Geschichte des Selbstbewußtseins gegenüber Fichte und Schelling einschneidend abgewandelt und erneuert. Sie ist vor allem, was sie bei Fichte und Schelling nicht war, systematische Einleitung in die absolute Erkenntnis der spekulativen Logik und der Metaphysik. Aus diesem spezifischen Einleitungscharakter ergeben sich drei besondere Abänderungen der Geschichte des Selbstbewußtseins im Vergleich zu Fichtes und Schellings Konzeptionen: 1. Die Phänomenologie als Einleitung in das „absolute Wissen“ ist keine systematische und genetische Explikation der Fähigkeiten und Leistungen des menschlichen Geistes als solcher. Diese Leistungen und Fähigkeiten werden hier vielmehr nur insofern betrachtet, als sie Weisen des Fürwahrhaltens darstellen. So erörtert Hegel zu Beginn nicht die sinnliche Empfindung als solche, sondern die sinnliche Gewißheit als deren Weise des Fürwahrhaltens; derartiges gilt für alle Stufen der Phänomenologie. Hegel akzentuiert und differenziert hierbei insbesondere die von Schelling in der Geschichte des Selbstbewußtseins dargelegte Beziehung der subjektiven geistigen Tätigkeit auf ihr noematisches Korrelat, also der Empfindung auf das Empfundene, der Wahrnehmung auf das Wahrgenommene usf. Diese Differenzierung geschieht in der Prüfung des Fürwahrhaltens und seines Gegenstandes; hier untersucht Hegel des näheren unter Aufnahme der Bestimmung der Wahrheit als Adäquation von Vorstellen und Gegenstand allerdings innerhalb des Selbst, ob der spezifisch vorgestellte, noematische Gegenstand der besonderen Weise des Fürwahrhaltens entspricht und umgekehrt. Der Gegenstand bleibt dabei bewußtseinsimmanent, auch wenn ihn das Bewußtsein von sich unterscheidet. Das Selbstbewußtsein betrachtet ihn in seinem Fürwahrhalten ausdrücklich als immanent und bezieht sich noematisch darin auf sich zunächst als einzelnes, sodann als zugleich intersubjektives. Der Geist erkennt in ihm die Gestalt einer ganzen Welt, die etwa in Kunst und Religion selbst geistig ist. So ist die Phänomenologie eine systematische und genetische Explikation nicht von geistigen Fähigkeiten und Leistungen als solchen, sondern ihres Fürwahrhaltens und ihrer noematischen Gegenstände.
interpretieren die Phänomenologie von 1807 J. Hyppolite: Genèse et structure de la Phénoménologie de l’esprit de Hegel. Paris 1946, bes. 9-30, auch 31-53, sowie F. Chiereghin: Dialettica dell’ assoluto e ontologia della soggettività in Hegel. Trento 1980, bes. 256 ff; als eigene Version der Geschichte des Selbstbewußtseins deuten die Phänomenologie von 1807 W. Marx: „Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In ders.: Schelling: Geschichte, System, Freiheit. Freiburg und München 1977, 63-99, und der Verf.: „Hegels Phänomenologie und die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins“. In: Hegel-Studien 28 (1993), bes. 117 ff. – Zwei neue Kommentierungen seien hinzugefügt, die Sammlung der Interpretationen einzelner Kapitel in G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von D. Köhler und O. Pöggeler. Berlin 1998, und L. Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 2000.
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2. Ferner ist die Phänomenologie in Hegels Umwandlung der Geschichte des Selbstbewußtseins „sich vollbringender Skeptizismus“.29 Das Selbst erfährt in jeder seiner Gestalten des Fürwahrhaltens, daß ihm durch die Prüfung sein Wahres und damit auch seine Weise des Fürwahrhaltens verlorengeht. Da nun das Selbst ganz in einer Weise des Fürwahrhaltens aufgeht und nicht darüber hinausblicken kann, wird es durch solchen Verlust jeweils in Zweifel, in Skepsis, ja in „Verzweiflung“30 gestürzt. Mit dem Verlust seiner Wahrheit und seines Fürwahrhaltens geht es selbst unter etwa als sinnliche Gewißheit, als Wahrnehmen usf. Was für das fürwahrhaltende Selbst jeweils mit dem Nichts endet, ist aber für den „zuschauenden“ Philosophen zugleich der Neuanfang einer neuen Gestalt des Fürwahrhaltens. – Die schon bei Fichte und Schelling sich findende Unterscheidung des Ich in das betrachtende und zuschauende einerseits, das weiß, was für uns, die Philosophen ist, und das betrachtete andererseits, das sich stufenartig entwickelt und auf jeder Stufe nur vorzustellen vermag, was für es ist, wird durch Hegels Phänomenologie zu einem prominenten idealistischen Lehrstück. Für Hegel ist damit systematisch verknüpft, daß das Selbst in seiner besonderen Weise des Fürwahrhaltens, wenn sie geprüft wird, für sich untergeht, daß aber der Philosoph die Zusammenhänge unter den verschiedenen Weisen des Fürwahrhaltens herstellt, wie sie „für uns“ sind. Dabei bedient er sich des spekulativen Theorems der bestimmten Negation, daß das jeweils sich in der Prüfung ergebende Nichts des Fürwahrhaltens nicht schlechthinniges Nichts, sondern Nichts von etwas ist, das selbst näher bestimmt werden kann und zur nächsten Weise des Fürwahrhaltens führt. Die allgemeinen Grundlagen aber dieser Zusammenhänge, die nur der Philosoph entwerfen kann, sind die Kategorien der spekulativen Logik. Hier drängt sich freilich das Problem auf, daß solche Kategorien der Logik für den systematischen Fortgang der Phänomenologie schon zugrunde gelegt werden müssen, obwohl doch die Phänomenologie in solche Logik erst einleiten soll. 3. Auf jeder Stufe des Fürwahrhaltens ergibt sich, was wiederum anders als bei Fichte und Schelling und Folge des „sich vollbringenden Skeptizismus“ ist, eine „dialektische ... Erfahrung“31 des Selbst in der Prüfung seines Fürwahrhaltens. Sie besteht darin, daß sich in dieser Prüfung für das Selbst das Gegenteil dessen, was es für das Wahre hält, als das Wahre erweist, das sinnliche „Diese“ z.B. als ein Allgemeines. Durch solche Erfahrungen gerät das Selbst jeweils in Skepsis und in Verzweiflung. Diese drei besonderen Veränderungen gegenüber der Geschichte des Selbstbewußtseins bei Fichte und Schelling folgen aus der Hegelschen Grundkonzeption einer systematischen Einleitung in die spekulative Logik. So wird die Geschichte des Selbstbewußtseins für ihn zu einer „Geschichte der Bil29
30 31
Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 56. Ebd. A.a.O. 60.
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dung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“.32 Das Ziel dieser genetischen Entwicklung ist also nicht der vernünftige Wille, auch nicht das Genie, sondern das „absolute Wissen“ als das intellektuelle Medium, innerhalb dessen die Kategorien der spekulativen Logik entwickelt werden können. In diesem „absoluten Wissen“ ist das Wissen seinem Gegenstande gleich geworden; es ist ihm nicht mehr inkongruent. Hegel nimmt zur Charakterisierung der Subjektivitätsbedeutung dieses „absoluten Wissens“ Fichtes und Schellings Prinzip des Ich = Ich auf. Wie Schelling erklärt er, hierin sei Gleichheit und Unterschied enthalten; und diesen verschärft er zur absoluten Negativität. Dem Ich = Ich kommt zudem Sein und Dasein, Substantialität und zuhöchst Subjektivität zu. So ist das „absolute Wissen“ zwar eine Gleichheit des Wissens von sich; aber diese muß weiterentwickelt werden in Kategorien der Logik; sie ist inhaltlich mit dem in der Logik entwickelten reinen Wissen nicht einfach identisch, sondern in Bezug darauf asymmetrisch. Ebenso erfüllt das „absolute Wissen“ als Einheit von Gleichheit und absoluter Negativität nicht die Struktur der Selbstbeziehung als symmetrischer Subjekt-Objekt-Beziehung. Weder die vorangehenden Bewußtseinsgestalten, die in der Prüfung asymmetrisch bleiben, noch das „absolute Wissen“ erliegen also dem Zirkel- oder Iterationseinwand, der sich, wie gezeigt, gegen Selbstbeziehung als solche symmetrische Subjekt-Objekt-Beziehung richtet. Zudem wird in der Phänomenologie die Selbstbeziehung als Subjekt-Objekt-Beziehung nicht nur dynamisiert und differenziert, sondern insbesondere auf den höheren Stufen überformt durch komplexere Relationen. Dieser Explikation der Kategorien als der reinen Gedankenbestimmungen, die die Momente des „absoluten Wissens“ seiner selbst enthalten, liegt bei Hegel eine Auseinandersetzung mit Kants Lehre von der synthetischen Einheit der Apperzeption zugrunde. Schon in Glauben und Wissen (1802) erklärt Hegel, daß der eigentliche, spekulative Sinn dieser synthetischen Einheit eine absolute Identität von Subjekt und Objekt sei, d.h. eine Identität, die entgegengesetzte Bestimmungen in sich enthalte. Kants transzendentale Deduktion (Rechtfertigung) der objektiven Bedeutung der Kategorien gründe eigentlich in dieser absoluten Subjekt-Objekt-Identität. Ebenso erhält die transzendentale Einbildungskraft in Hegels Uminterpretation spekulative Bedeutung; sie ist für ihn wie für Fichte und Schelling zentrales Vorstellungsvermögen, aus dem sich erst durch Abstraktion und Vereinseitigung Verstand und sinnliche Anschauung mit ihren jeweiligen Formen abtrennen; anders als Fichte und Schelling schreibt er aber auch ihr absolute, ihr Gegenteil zugleich implizierende Identität zu, die ihm als vernünftig explizierbar gilt. Kants oben dargelegte Konzeption, daß die spontane Synthesis und die synthetische Einheit des Denkens und der Apperzeption ein passiv vorgegebenes Mannigfaltiges verlangen 32
A.a.O. 56, zum folgenden 422 ff. Ob das „absolute Wissen“ und seine Erkenntnisansprüche durch die vorangehenden Beweise zu Recht erreicht werden, ist eine Frage, die eine Einzelprüfung jener Beweise verlangt; dabei dürften sich wohl Schwierigkeiten ergeben.
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und daß daher die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen von Anfang an notwendig ist, wird in ihrem Evidenzgehalt von Hegel allerdings nicht erwogen. Denn solche Endlichkeit der Erkenntnisvermögen gilt ihm von vornherein als vorläufige und zu überwindende Bestimmung. Diese spekulativen Abänderungen der Kantischen Lehre integriert Hegel in Glauben und Wissen noch nicht in eine neue Subjektivitätstheorie.33 Solche Integration geschieht jedoch in der Wissenschaft der Logik (18121816). Auch hier deutet Hegel die synthetische Einheit der Apperzeption als absolute Identität, die ihr Entgegengesetztes – nach Hegels Ansprüchen vernünftig explizierbar – in sich enthält. Kants transzendentale Deduktion der Kategorien gilt ihm nun als der Nachweis, daß das von der reinen Apperzeption konstituierte Objekt das Ich selbst ist, in dem sie sich selbst denkt und erkennt. So konzipiert Hegel eine Vereinigung, die er bei Kant vermißt, nämlich von Selbstbeziehung und Objektkonstitution; dies geschieht freilich immer auf dem Fundament nur metaphysisch zu begreifender absoluter Identität. Ferner vermißt er bei Kant in Übereinstimmung mit den anderen Idealisten, wie erwähnt, eine systematische Herleitung der Kategorien, genauer deren systematische Entwicklung aus der Einheit des „Ich denke“. Dieser darf, da sie spekulative, ja unendliche Einheit ist, die Mannigfaltigkeit nicht einfach gegenüberstehen wie bei Kant, sondern muß sich aus ihr selbst ergeben; die besonderen reinen Gedankenbestimmungen müssen aus ihr als konkreter Allgemeinheit, wie Hegel fordert, hervorgehen; und allererst in der systematischen Entwicklung dieser Gedankenbestimmungen denkt dieses „Ich denke“ das von ihm konstituierte Objekt: sich selbst. Diese hochgesteckten Ziele verfolgt Hegel in seiner eigenen systematischen Kategorienentwicklung in der Wissenschaft der Logik, und er erreicht sie auf der von ihm angesetzten spekulativen Basis, nach der alles wahre Erkennen ein vernünftiges Erkennen des Absoluten und Göttlichen ist. Dabei wird ihm die Logik als ganze zu einer Theorie der reinen, absoluten oder unendlichen Subjektivität. Die systematische, nämlich dialektische Entwicklung der Kategorien oder reinen Gedankenbestimmungen, die von einfacheren zu immer komplexeren Entgegensetzungen und Vereinigungen fortschreitet, legt nach 33
Zu dieser Kant-Umdeutung in Glauben und Wissen vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 325-336; zur Auseinandersetzung mit Kants Apperzeptionslehre in der Wissenschaft der Logik vgl. vor allem Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 17-28, 192-196, 204 f. Zu beiden vgl. L. Lugarini: “La ‚confutazione’ hegeliana della filosofia critica”. In: Hegel interprete di Kant. Hrsg. von V. Verra. Napoli 1981, 13-66; V. Verra: “Immaginazione trascendentale e intelletto intuitivo”, in: a.a.O. 67-89; ferner mag der Hinweis auf die Untersuchungen des Verfs. erlaubt sein: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik.“ In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 31995, 109-120, 233-243, auch „Constitution and Structure of Self-Identity“, a.a.O. (Anm. 4), 409-431, und Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983, 196-242. Vgl. ebenso den Sammelband: The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Hrsg. von S. Sedgwick. Cambridge u.a. 2000 (s. bes. die „Einleitung“ von S. Sedgwick, 1-18).
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Hegel nichts anderes dar als die Gedanken Gottes vor Erschaffung der Welt;34 in diesen Gedankenbestimmungen und deren Bewegungsfolge denkt er sich selbst. Hegel nimmt hiermit auch Aristoteles’ und Plotins Lehre vom göttlichen Denken seiner selbst in den Ideen auf.35 Aber während für Aristoteles und Plotin die Ideen ewig Bestand haben und der göttliche Nous sie nur anschaut und in ihnen Momente seiner selbst erblickt, konzipiert Hegel das göttliche Denken als produktive, konstituierende Subjektivität, die in ihrem Denken jene Gedankenbestimmungen und deren Prozeß allererst erzeugt. Sie sind die mannigfaltigen objektiven Einheiten, die die absolute Subjektivität spontan hervorbringt und in denen sie sich denkt. Diesem Sich-Denken des göttlichen Nous als kreativer Subjektivität kommt zugleich die höchste Weise von Sein zu, also nicht nur Existenz und Substanz, sondern darüber hinaus Objektivität, die sich inhaltlich als Begriff, ja als aktive Vereinigung von Begriffsbestimmungen und damit letztlich als Subjektivität erweist. Eine solche Logik, die ihre reinen Gedankenbestimmungen zugleich in ontologischer Bedeutung entwickelt, bleibt nicht formal; sie ist vielmehr spekulativ; da ihr spekulativer Inhalt diese sich in ihren Gedanken- und Seinsbestimmungen denkende und erkennende Subjektivität ist, kann sie zugleich als Ontotheologie der Subjektivität bestimmt werden. Das Prinzip der Philosophie, diese reine Subjektivität, wird von Hegel also anders als von Fichte und Schelling nicht vor und unabhängig von der Logik entwickelt, sondern – vergleichbar der Kantischen Konzeption – in der Logik. Diese ist jedoch spekulativ-inhaltlich bestimmt; die formale Logik ist nur eine Abstraktion der Formen von ihr, die anders als bei Kant nicht selbständig für sich entwickelt werden können. Hegel führt den Gedanken durch, der bei Kant Programm geblieben ist, nämlich innerhalb der Logik und in Übereinstimmung mit ihren Formen den komplexen Bedeutungsgehalt von Subjektivität zu entfalten, und zwar als konkreten Abschluß und zugleich als Grund der ganzen systematischen Kategorienentwicklung.36 Dies wird durchgeführt für die un-
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Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 21. Zur Ontologie und Metaphysik in Hegels Logik vor dem Hintergrund der Tradition vgl. die differenzierten Interpretationen von A. Doz: La logique de Hegel et les problèmes traditionnels de l’ontologie. Paris 1987, und L. Lugarini: Orizzonti hegeliani di comprensione dell’ essere. Rileggendo la Scienza della logica. Napoli – Milano 1998. – Zur Entstehung und Ausbildung von Hegels reifer Logik als metaphysischer Theorie der Subjektivität vgl. R. Schäfer: „Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 45. Hamburg 2001; erlaubt sei auch der Hinweis auf die in der vorigen Anm. angegebenen Darlegungen des Verfs. Vgl. dazu jetzt die umfassende Interpretation von J. Halfwassen: „Hegel und der spätantike Neuplatonismus“. In: Hegel-Studien. Beiheft 40. Bonn 1999. In der „absoluten Idee“ als dialektischer Methode, die die ganze vorherige Kategorienentwicklung in sich aufhebt, bezeichnet Hegel die entscheidende Wende vom Widerspruch zur höheren, am Ende höchsten Einheit als „innersten Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat [...]; denn auf dieser Subjektivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität
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endliche, absolute Subjektivität; doch damit wird in der Wissenschaft der Logik bei aller faszinierenden dialektischen Kunst vielleicht zu viel zu beweisen versucht. – Diese Bestimmungen sollen allerdings auch der Selbstbeziehungsart und -struktur der menschlich-endlichen Subjektivität zugrunde liegen; denn auch diese ist wesentlich Denken, das nach Hegel in höchster Ausübung jene Gedanken der göttlichen, gleichwohl ihr verwandten Subjektivität zu erfassen vermag, nur in der endlichen Weise der Diskursivität, des Nacheinander und einer natürlichen Sprache. Aber auch wenn man Hegels hohen Erkenntnisansprüchen skeptisch gegenüber steht, läßt sich aus dieser Theorie der Subjektivität in der Logik entnehmen, daß der Zirkel- oder Iterationseinwand hier nicht zutrifft, da dem Sich-Denken der Subjektivität nicht wieder deren SichDenken in gleicher oder symmetrischer Bedeutung vorausgeht, sondern einfachere, weniger komplexe Kategorien, aus denen sie sich aufbaut. Ferner entfaltet Hegel offensichtlich eine mehrdimensionale Struktur von Subjektivität in Beziehungen und Selbstbeziehungen, z.B. in der Selbstunterscheidung und -beziehung des Denkens in zwei- und mehrgliedrigen Urteilsbestandteilen und erst recht in komplexeren mehrgliedrigen Schlußbestandteilen, wobei die Inhalte jener Bestandteile jeweils Begriffsbestimmungen sind; in ihnen und deren Beziehungen erfaßt jenes Denken sich selbst. Die statische einfache Subjekt-Objekt-Beziehung als Selbstbeziehung, der später die Neukantianer wieder folgen, ist dabei längst zum wesenlosen Schatten degradiert. – So hat sich wohl gezeigt, daß erstens die vielfältigen Kritiken an Begriff und Theorie des Subjekts im zwanzigsten Jahrhundert und bis heute erst noch die Differenziertheit der Argumente und Einsichten erreichen müssen, die in den Subjektivitätstheorien der Epoche von Kant bis Hegel schon ausgebildet war, und daß sie insofern diesen gegenüber kaum stichhaltig sein können. Es sollte zweitens deutlich geworden sein, daß konkrete wissenschaftliche Untersuchungen zu geistigen Leistungen z.B. in der Gehirnforschung nicht sinnvoll von Bestimmungen der „Volkspsychologie“ und der Alltagssprache ausgehen können und auch nicht in der Reflexion auf die geistige Bedeutung von bestimmten Gehirnleistungen mit Bestimmungen der „Volkspsychologie“ operieren können, die dann allenfalls kritisiert werden; statt dessen sind differenzierte und komplexe Theorien über solche geistigen Leistungen und deren Grundlage, das Selbstbewußtsein, erforderlich, für die sich die Lehren jener klassischen Philosophie von Kant bis Hegel durchaus als paradigmatische Anregungen eignen. Schließlich dürfte sich ergeben haben, daß diese Lehren nicht einfach dem Modell der Selbstbeziehung als statischer Subjekt-ObjektBeziehung folgen, sondern dies Modell differenzieren, dynamisieren und auch andersartige Selbstbeziehungstypen einführen. Dies läßt sich fruchtbar machen und transformieren in neuen Bemühungen um Subjektivität auf der Basis neuer empirischer Erkenntnisse z.B. in der Gehirnforschung. Selbstbewußtsein und die Einheit, welche die Wahrheit ist.“ (Gesammelte Werke, a.a.O. Bd. 12, 246; vgl. 248 u.ö.).
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wird dann nicht monolithisch gefaßt, sondern kann erfahrungsnäher und weniger konstruktiv oder spekulativ als in jenen klassischen Subjektivitätstheorien, aber unter Aufnahme und Umwandlung ihrer Strukturbestimmungen in einer Skala von Selbstbewußtseinsmodellen37 entfaltet werden.
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Ein Versuch in dieser Hinsicht liegt vom Verf. vor in: Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O. (Anm. 2).
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Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel Die Frage, ob für die Erkenntnis von Organismen eigene, spezifische Prinzipien anzunehmen sind, die über mechanische und chemische Gesetze hinausgehen und einen teleologischen Sinn enthalten, oder ob sich eine solche Annahme erübrigt, ist heute noch so aktuell wie zu Descartes’ und Leibniz’ Zeiten. Teleologische Prinzipien für die Erklärung von Lebendigem werden heute allerdings vielfach kritisch betrachtet, weil sie als metaphysikverdächtig gelten. Daher prägte Pittendrigh im Jahre 1958, um solche Teleologie zu vermeiden, den Terminus „Teleonomie“;1 er traf damit, ohne es offenbar zu wissen und ohne eine entsprechende erkenntnistheoretische Grundlegung zu liefern, generell den Kantischen Sinn der teleologischen Maxime der reflektierenden Urteilskraft, die die interne Wirkensweise von Organismen zu verstehen sucht. Allerdings wird sich bei der näheren Betrachtung von Kants Theorie der Naturteleologie zeigen, daß metaphysische Konsequenzen zumindest als notwendige und sinnvolle Gedanken unvermeidbar sind. Andererseits gilt es zu beachten, daß die Kritik und Ablehnung der Naturteleologie durchaus auch in einer Metaphysik erfolgen kann, wie etwa Spinozas Lehre zeigt. Gegen die mechanistische Naturtheorie Descartes’ und der Cartesianer der früheren Neuzeit bildete sich bald eine mächtige metaphysische Gegenrichtung aus, die zum einen das Leben der Organismen vom Naturmechanismus ausnahm und für das Begreifen dieses Lebens eigene, in der Regel teleologische Prinzipien konzipierte und die zum anderen davon ausging, daß das Universum überall vielfältig belebt sei. In dieser Tradition steht – mit erkenntniskritischer Vorsicht – auch Kant, ebenso aber mit jeweils eigener metaphysischer Begründung sowohl Schelling als auch Hegel. Da Hegel somit der gleichen Grundrichtung folgt wie Kant, setzt er sich von seiner Frühzeit an bis in seine Spätzeit immer wieder mit der Naturteleologie insbesondere in Kants Kritik der Urteilskraft auseinander. Von seiner allmählich unversöhnlicher werdenden Kantkritik bleibt noch in Hegels Spätzeit Kants Theorie der inneren Zweckmäßigkeit von Organismen und Kants Lehre vom intuitiven Verstand ausgenommen; nach wie vor sieht Hegel in diesen Lehrstücken zwar innerhalb der kritischen Philosophie inkonsequente, für sich genommen aber wahrhaft spekulative Theoriebestandteile. So soll in einem ersten Teil Kants Lehre von der objektiven Zweckmäßigkeit der Organismen als Begriff der reflektierenden Urteilskraft, Kants Darstellung und Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft sowie seine Konzeption des übersinnlichen Substrats der Natur als intuitiver Verstand erörtert werden. In einem zweiten Teil gilt es dann, Hegels kritische Aufnahme und Würdigung dieser Kantischen Theorie in den unterschiedlichen 1
Vgl. dazu z.B. B. Hassenstein: „Biologische Teleonomie“. In: Neue Hefte für Philosophie 20 (1981), 60 ff.
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NATURTELEOLOGIE UND METAPHYSIK BEI KANT UND HEGEL
Phasen seines Denkens, insbesondere aber in der späteren Zeit darzulegen und zu zeigen, daß sie auf einer eigenen Art von Metaphysikkritik, die vor allem in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomien deutlich wird, sowie auf seiner eigenen Naturteleologie und seiner Metaphysik beruhen. Am Schluß sei ein Ausblick gestattet auf den erkenntnistheoretischen Status naturteleologischer Modelle heute.
1. Die organische Natur und ihr übersinnliches Substrat in Kants kritischer Teleologie Kant legt in der Kritik der Urteilskraft ein eigenes transzendentales Prinzip a priori der Zweckmäßigkeit der Natur für die reflektierende Urteilskraft dar, aufgrund dessen die Natur sich in ihren besonderen, anschaulich gegebenen Formen und in ihren besonderen Gesetzen prinzipiell erfassen läßt. So gelingt dem Menschen Orientierung in der Natur und Welt. In der Annahme einer solchen Zweckmäßigkeit, die wir von allem spezifisch bestimmten Naturmannigfaltigen im Prinzip erwarten, ist auch der Gedanke fundiert, daß selbst physikalisch so unbegreifliche, besondere Formen wie die Organismen, deren genuine Wirkensweise wir durch den bloßen Naturmechanismus nicht erkennen können, sich der reflektierenden Urteilskraft irgendwie als faßbar und verständlich erweisen werden. Der Begriff, durch den wir sie uns verständlich zu machen suchen, ist der einer objektiven realen Zweckmäßigkeit der Natur in diesen Produkten oder der eines Naturzwecks. Kant erläutert dies an drei signifikanten Beispielen spezifisch organischer Wirkensweise. Zum einen erzeugt ein Baum einen anderen Baum von gleicher Art; die Individuen sind verschieden; aber die Art (Species) reproduziert sich hierin als dieselbe. Zum anderen erzeugt ein Baum partiell sich selbst als Individuum, nämlich im Wachstum, freilich unter Assimilation äußerer Stoffe. Drittens erzeugen, d.h. erneuern und erhalten die Organe einander wechselseitig in ihrem Dasein und in ihrer Funktionsfähigkeit innerhalb des ganzen organischen Wesens. Dadurch allein lebt und erhält sich dies organische Wesen; solche wechselseitige Erhaltung und Erneuerung der Organe ist ebenso wie das Wachstum nur aufgrund eines zentralen Steuerungsprinzips möglich. – Kant hebt mit dieser Charakterisierung exemplarischer organischer Wirkensweisen, die seiner Auffassung nach mechanistisch nicht hinreichend erklärt werden können, als Grundzug des Organischen die Produktivität hervor. Dem Organismus kommt, wie Kant mit einem Anklang an Blumenbachs Begriff des „Bildungstriebs“ sagt, „bildende Kraft“ zu.2 Organismen sind damit weder Maschinen, auch nicht solche, die bis ins unendlich Kleine wieder Maschinen 2
Kritik der Urteilskraft. Berlin 21793 (im folgenden: Kr.d.U.), 293. S. Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd. 5, 374. Vgl. J.F. Blumenbach: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1781, 21789.
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sind, wie Leibniz mit einer Konzession an Descartes gelegentlich behauptet, noch bestehen ihre Lebensprinzipien von Anbeginn des Universums und werden nur auf einem größeren oder kleineren Schauplatz der Welt „eduziert“ (vgl. Kr.d.U. 287), wie die Leibnizsche Evolutions- oder Einschachtelungstheorie lehrt; Kant ist vielmehr wie Blumenbach Anhänger der damals neuen Theorie der Epigenesis, d.h. der Theorie der realen Erzeugung des organischen Wesens in der Zeit; offen bleibt dann nur, wie Organismen überhaupt entstehen konnten, wenn man den Sprung einer generatio aequivoca vermeiden will. – Aus Kants signifikanten Beispielen geht somit hervor, daß das organische Wesen sich selbst produziert der Art, dem Individuum und den inneren Organen nach. Doch stellt sich nun die Frage, warum die auf diese Weise beschriebene dreifache organische Produktivität für Kant nur durch den Gedanken des Naturzwecks begrifflich erfaßt und verstanden werden kann. Durch die produktiven organischen Prozesse wird einerseits die Spezies, die jedoch nur in den organischen Individuen existiert, andererseits das ganze organische Individuum zur Existenz gebracht und in ihr erhalten. Diese Existenz ist daher wirklich gewordener Effekt jener organischen Prozesse. Diese Prozesse kommen jedoch selbst nur zustande aufgrund eines zentralen Steuerungsprinzips; hiermit wird das Lebens- und Einheitsprinzip des artspezifischen organischen Individuums konzipiert. Dies Individuum ist vor seiner Realisierung als bloß mögliches, gleichwohl jene Prozesse veranlassendes Ganzes anzusehen. Die sich dabei ergebende Doppelung innerhalb der Kausalität, daß nämlich ein bloß mögliches Ganzes Grund der Realisierung jener organischen Prozesse ist, wodurch dann erst das wirkliche organische Ganze hervorgebracht wird, kennen wir nur von unserer eigenen Kausalität nach Zwecken; ein bloß mögliches Ganzes als Entwurf in der Vorstellung wird zum Grund der Anordnung und Realisierung von Teilen, wodurch jenes Ganze erst in der Wirklichkeit zustande gebracht wird. Der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit, der nach Kant nur für endliches, zugleich auf sinnliche Anschauung angewiesenes Erkennen gilt, wird bei dieser Argumentation vorausgesetzt. Die einzige Art von Kausalität, mit der wir uns die organische Wirkensweise verständlich machen können, ist also unsere Kausalität nach Zwecken. Doch begreifen und erklären wir damit die Eigenart der organischen Kausalität nicht wirklich; es besteht nach Kant vielmehr nur eine „entfernte Analogie“ (Kr.d.U. 295) zwischen der organischen und unserer finalen Kausalität. Außer der erwähnten Gemeinsamkeit bleiben entscheidende Unterschiede zwischen jener organischen und unserer finalen Kausalität.3 Zum einen liegt die entwor3
Hieran hält Kant freilich nicht immer fest; insbesondere im Opus postumum verblassen diese Unterschiede wieder; zu Details sei der Verweis erlaubt auf die Darstellung des Verfs. in: „Die Teleologie in Kants Weltbegriff“. In: Kant-Studien. Ergänzungsheft 96. Bonn 21986, bes. 154 ff. Zur Analytik der teleologischen Urteilskraft vgl. A. Philonenko: „Kant et la philosophie biologique“. In: L’héritage de Kant. Mélanges philosophiques offerts au P. Marcel Régnier. Paris 1982, 63-79.
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NATURTELEOLOGIE UND METAPHYSIK BEI KANT UND HEGEL
fene Vorstellung eines möglichen Ganzen als Zweck bei der finalen Kausalität im handelnden oder herstellenden Menschen und nicht im realisierten Zweck; die Idee einer herzustellenden Uhr z.B. liegt im Uhrmacher. Bei organischen Wesen dagegen ist sie dem jeweiligen organischen Individuum als Grund der organischen Prozesse immanent, gehört somit dem Naturwesen selbst an. Zum anderen erfolgt Setzung und Realisierung eines Zwecks in bewußter praktischer, zumeist poietischer Tätigkeit, was wir an Organismen als Naturwesen nicht ausmachen können. Beide Unterschiede zwischen der organischen Kausalität und unserer causa finalis werden in Kants Begriff des Naturzwecks mitgedacht. Damit wird deutlich, daß der Zweckbegriff, wie wir ihn von unserem eigenen Handeln und Herstellen her kennen, nur ein Annäherungsbegriff ist, ein Versuch der reflektierenden Urteilskraft, sich die Wirkensweise von Organismen unter Wahrung der Unterschiede zu unserer Zweckkausalität verständlich zu machen. Weder ein Anspruch auf ontologische Geltung noch ein Adäquatheitsanspruch wird hiermit von Kant erhoben. So ähnelt dies objektivteleologische Prinzip der reflektierenden Urteilskraft dem modernen Begriff der „Teleonomie“, freilich vor dem Hintergrund einer durch Kant ausgeführten Erkenntniskritik. Doch stellt sich nun die Frage, wie jenes die organischen Prozesse begründende und leitende Einheits- und Lebensprinzip des organischen Individuums als Naturprinzip genauer zu denken ist. Nach Kant ergibt sich hier folgendes Trilemma: Entweder ist dies Lebensprinzip materiell wie die organisierte Materie; dann erhält man einen Hylozoismus, der gegen das Gesetz der Trägheit der Materie verstößt. Oder es wird als Seele gedacht, die im organischen Körper gegenwärtig ist; dann wird organisierte Materie schon vorausgesetzt, die doch erklärt werden sollte. Oder die Seele wird schließlich zur „Künstlerin“ des organischen „Bauwerks“ (a.a.O. 293); dann wird sie selbst als immaterielle Kraft, ebenso wie ihr Produkt, der Wirkung der Natur entzogen. Eine endgültige Lösung dieses Trilemmas zeigt sich erst im Gefolge der Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft. Eine solche Antinomie ergibt sich zwangsläufig, wenn Mechanismus und Teleologie jeweils als objektive Bestimmungen der Naturkausalität gelten. Sie lautet dann: „Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich. / Gegensatz: Einige Erzeugung derselben ist nach bloß mechanischen Gesetzen nicht möglich.“ (a.a.O. 314 f)4 Formallogisch sind diese Sätze einander kontradiktorisch entgegengesetzt; so kann man von der Falschheit des einen auf die Wahrheit des anderen schließen und umgekehrt; es können nicht beide wahr sein. Die Antithesis erfordert aber die positive Ergänzung, daß dasjenige, was nicht mechanisch erzeugt sein kann, teleologisch erzeugt ist, weil Kant nur diese beiden Spezifikationen von Naturkausalität 4
Vgl. zu dieser Antinomie und zu ihrer Auflösung die erkenntnistheoretische und geschichtliche Interpretation von S. Marcucci: Aspetti epistemologici della finalità in Kant. Florenz 1972, 321-338.
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zugrunde legt und organische Prozesse doch kausal erklärt werden sollen. Die verschiedenen Systeme des Idealismus oder des Realismus der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur und ihre Verbreitung in der Philosophiegeschichte zeigen, daß der in den objektiven Erklärungsversuchen liegende täuschende Schein nicht erkünstelt ist. Die Auflösung dieser Antinomie erfolgt scheinbar einfach durch Verwandlung der zugrundegelegten objektiven Grundsätze der Kausalerklärung in subjektive Maximen der reflektierenden Urteilskraft. Doch läßt sich ohne zusätzliche Argumente kaum einsehen, warum kontradiktorisch entgegengesetzte Sätze als Maximen der reflektierenden Urteilskraft miteinander vereinbar sein sollen. Die Maxime des Mechanismus erhält bei Kant einen erkenntnistheoretischen Vorrang; nur Vorgänge, die nach mechanischer Naturkausalität erklärt werden, sind auch erkannt. Doch wird der Mechanismus hier nur als Maxime angesetzt; diese Maxime besagt, daß die reflektierende Urteilskraft bei allen Naturerforschungen, auch bei der Erforschung von Organismen mechanisch erklärbare Zusammenhänge sucht. Die Vorstellung eines weitverbreiteten, vielleicht sogar universalen Naturmechanismus beansprucht somit keinerlei objektive Gültigkeit; sie ist nur eine Forschungsmaxime, die auch an organischen Prozessen versucht wird mit der offenen Frage, wie weit man damit in der Erklärung organischer Formen und Ereignisse kommt. Dadurch wird nun der Sinn der teleologischen Maxime nicht bestritten, als Grund der Organismen und ihrer Prozesse ein nichtmechanisches, also teleologisches Prinzip als Forschungsmaxime anzunehmen, das die Eigengesetzlichkeit der Organismen verständlich macht und eventuell Zusammenhänge entdeckt, die dann weiterhin nach der Maxime des Mechanismus erforscht werden können. So widersprechen die Maximen des Mechanismus und der Teleologie der Natur in der Tat einander nicht. – Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, die die Auflösung der Antinomien der reinen Vernunft ermöglicht, steht auch hier im Hintergrund. Die Thesis, als Maxime der reflektierenden Urteilskraft verstanden, nämlich als Maxime des Mechanismus, gilt nur für Erscheinungen in Raum und Zeit. Die Antithesis als Maxime der Naturteleologie bezieht sich gedanklich durch den Begriff des Naturzwecks für Organismen zugleich auf deren übersinnlichen Grund. Weil die reflektierende Urteilskraft sich Organismen und organische Prozesse nicht anders verständlich zu machen weiß als durch den Begriff des Naturzwecks, muß sie einen intelligiblen Grund, ein immaterielles Prinzip für jene organischen, teleologisch gedeuteten Formen und Prozesse annehmen und dieses inhaltlich in spezifischer Weise bestimmen. Damit wird der Natur nicht ontologisch ein solcher Grund zugesprochen; er ist jedoch als Gedanke im Gedanken der objektiven Teleologie für Organismen enthalten. Als Grund der objektiv-realen Zweckmäßigkeit, wie wir sie uns an Organismen vorstellen, ja sogar als Grund der allgemeinen, transzendentalen Zweckmäßigkeit der Natur muß nach Kant ein Verstand gedacht werden, der als das Substrat der Natur anzusehen ist; dieser kann nicht unser endlicher dis-
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kursiver, sondern muß ein göttlicher, intuitiver Verstand sein (vgl. Kr.d.U. § 77). Er ist ein Vermögen, in reiner intellektueller Spontaneität seine Gegenstände adäquat anzuschauen. Daher schreitet er nicht wie der diskursive Verstand von abstrakten Begriffen als Teilgründen zum Ganzen fort, das als Gegenstand erkannt werden soll; vielmehr stellt er spontan und intuitiv das jeweilige ursprüngliche Ganze als synthetische, nicht-diskursive und nichtabstrakte Allgemeinheit vor, in der die Teile jeweils schon enthalten sind. Da diese intellektuelle Anschauung spontan erfolgt, entstehen in ihrem Vollzug erst ihre Gegenstände; der intuitive Verstand schaut somit produktiv an. Kant steht mit dieser Idee des intuitiven Verstandes offensichtlich in platonisch-neuplatonischer Tradition, die er vornehmlich wohl aus Bruckers Philosophiegeschichte kennt. Der intuitive Verstand gilt ihm als intellectus originarius; in Kants Metaphysik-Vorlesung, die Poelitz herausgegeben hat, heißt es: „Die Erkenntnisse des intellectus originarii sind nicht Begriffe, sondern Ideen.“ 5 Diese sind für Kant im intuitiven Verstand intellektuelle Anschauungen. In diesen Ideen, die als Vorstellungen dessen gelten, was eigentlich und an sich ist, denkt und erkennt jener urbildliche, intuitive Verstand zugleich sich selbst; damit erinnert Kant an die neuplatonische Nous-Lehre, die die Aristotelische Lehre von der Noesis Noeseos, in der sich jener Gedanke schon anbahnt, mit Platos Ideenlehre verbindet; Kant erklärt in der erwähnten Metaphysik-Vorlesung: Das göttliche Urwesen „erkennt [...] alle Gegenstände, sofern es sich selbst erkennt“.6 – Hegel erblickt eine besondere Affinität in dieser inhaltlichen Charakterisierung des intuitiven Verstandes zu seinem eigenen spekulativen Erkenntnisbegriff, u.a. weil er in der gleichen Tradition wie Kant steht, sie jedoch noch wesentlich affirmativer aufnimmt. Nicht antik ist der Gedanke Kants, den Hegel noch stärker hervorhebt, daß der intuitive Verstand die Ideen in seiner Spontaneität produktiv, ja kreativ anschaut. Die genauere Bestimmung des verständigen Naturgrundes, als intuitiver Verstand dient der transzendentalen Rechtfertigung dafür, daß wir zum Begreifen von Organismen gerade den Begriff des Naturzwecks konzipieren. Dies liegt an der Erkenntnisart unseres diskursiven Verstandes. Der intuitive Verstand schaut Ganzheiten als Gründe der Möglichkeit der ihnen immanenten Teile und ihrer Verknüpfung an. Sind dem diskursiven Verstand nun ähnliche Ganzheiten als reale gegeben, wie dies bei den Organismen offenbar der Fall ist, so kann er solche Ganzheiten nicht intellektuell anschauen, wohl aber in Analogie zur Vorstellungsart des intuitiven Verstandes das Ganze als vorausgehend in der Vorstellung annehmen, die dann verursachender Grund der Beschaffenheiten der Teile sowie ihrer Zusammensetzung ist, wodurch wiederum jenes Ganze erst in der Wirklichkeit zustande kommt. Von dieser 5
6
I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821. Nachdruck Darmstadt 1964, 307. A.a.O. 306. Vgl. Kants gesammelte Schriften, a.a.O. XIX, 108 (R 6611): „Im göttlichen Verstande sind es [scil. die Ideen; Vf.] Anschauungen seiner Selbst, mithin Urbilder.“ Vgl. auch unten Anm. 12.
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Struktur, daß das vorausgehende mögliche Ganze in der Vorstellung die Zusammensetzung der Teile und ihre Beschaffenheiten erst begründet und verursacht, wodurch dann jenes Ganze verwirklicht wird, ist der Zweck; und da Organismen Naturwesen sind, müssen wir sie als Naturzwecke betrachten. Auch diese Deduktion des Begriffs des Naturzwecks aus der Vorstellungsart unseres diskursiven Denkens behauptet weder, daß er der organischen Kausalität völlig adäquat sei, noch daß wir dadurch Organismen in ihrer Eigenart erkennen. Die Erkenntnisart des intuitiven Verstandes wird hierbei nach Kant nur als negatives Gegenbild der uns bekannten diskursiven Erkenntnisart entworfen (vgl. Kr.d.U. 347, 350 f), indem wir den Unterschied von Anschauen und Denken aufheben und den Vollzug anschauenden Denkens als spontan auffassen. Wie dieser Vollzug vor sich geht, wie darin Ideen als synthetische Allgemeinheiten hervorgebracht und angeschaut werden, davon haben wir aufgrund unserer Erkenntnisbegrenzung keinerlei positives metaphysisches Wissen. Im Kontext der Deduktion des Begriffs des Naturzwecks dient somit die Vorstellung des intuitiven nur als Folie des diskursiven Verstandes. Die Ansetzung eines derartigen Verstandes als Substrat der Natur und ihrer Zweckmäßigkeiten gewinnt jedoch eine metaphysische Bedeutung innerhalb der Kantischen Lehre vom Übergang von der Natur zur Freiheit. Kants Theorem dieses Übergangs ist zentral für den systematischen Sinn der dritten „Kritik“.7 Die von der reflektierenden Urteilskraft angenommene Zweckmäßigkeit der Natur in ihren verschiedenen Varianten macht verständlich, wie in der Natur oder in der Welt der besonderen Erscheinungen bestimmte Zwecke der sittlichen Freiheit und grundsätzlich der sittliche Endzweck überhaupt verwirklicht zu werden vermögen und Bestand haben können. Der dabei durch den Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur zu konzipierende Begriff des produktiven Verstandes als Naturgrund ermöglicht den Gedanken der „Einheit des Übersinnlichen“ (a.a.O. XX), genauer: des Übersinnlichen „außer uns“ (LVI). Für unseren diskursiven, nur Erscheinungen erkennenden Verstand bleibt das intelligible Substrat der Natur „unbestimmt“; für die reflektierende, im vorliegenden Fall die teleologisch reflektierende Urteilskraft wird es „bestimmbar“ „durch das intellektuelle Vermögen“ (a.a.O. LVI), d.h. es wird nicht mehr bloß als Unbestimmtes gedacht, sondern inhaltlich als spontan hervorbringender Intellekt, der aber erst durch die praktische Vernunft „bestimmt“ wird als göttliche Freiheit, wenn seine spontane Wirksamkeit dem Sittengesetz unterstellt wird. So wird das intelligible Substrat der Natur, das unser Verstand unbestimmt läßt und das die praktische Vernunft als göttliche Freiheit bestimmt, als auf diese Weise auch bestimmbar vorgestellt. Daher bleibt für Kant der metaphysische Gedanke, daß das intelligible Substrat der Natur von der reflektierenden Urteilskraft als produktiver Verstand anzusehen ist, obwohl damit keine Erkenntnis gewonnen wird, systematisch sinnvoll in der kritischen Phi7
Zur Deutung des „Übergangs“ mag erlaubt sein, auf die detailliertere Darlegung des Verfs. hinzuweisen in: „Die Teleologie in Kants Weltbegriff“, a.a.O. 102-115.
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losophie; dieser Gedanke ist Bestandteil der Konzeption des Übergangs vom Verstand zur praktischen Vernunft und von der Natur zur Freiheit.
2. Hegels Auseinandersetzung mit Kants Naturteleologie Zu dieser Kantischen Naturteleologie nimmt Hegel in den verschiedenen Phasen seines Denkens in unterschiedlicher Weise Stellung. Die Entwicklung und Wandlung dieser Stellungnahmen sei hier skizziert; detaillierter sei dann die Auffassung des späteren Hegel zu Kants Naturteleologie betrachtet. Hegel setzt sich schon in seiner Berner Zeit, in der er weitgehend noch Kantianer ist, mit Kants Teleologie in der Kritik der Urteilskraft auseinander. Er überlegt, wie insbesondere ein Brief Hegels an Schelling von Ende Januar 1795 zeigt,8 ob nicht der Naturteleologie eine neue Legitimation zuwächst nach vollendeter Ethikotheologie. Gerade in Abwendung von der sog. Tübinger „Orthodoxie“ sucht Hegel reine Gründe der moralisch-praktischen Vernunft auf, die der teleologischen Naturbetrachtung im Rahmen der Kantischen Lehre vom sittlichen Endzweck und vom Gottespostulat eine zusätzliche Berechtigung verschaffen. – In den folgenden Jahren bleibt die Kantische Bestimmung des Lebens in seinem Problemhorizont, auch wenn Schellings Theorie des Lebens, die in der Weltseele-Schrift teilweise noch an Kants Kritik der Urteilskraft anknüpft, und insbesondere Hölderlins kosmologischer Begriff des Lebens und der lebendigen Einheit für ihn entschieden bedeutsamer werden. Der tiefgreifende Konzeptionswandel, der Hegel 1801 zum spekulativen Idealismus und zur These von der vollständigen Erkennbarkeit und Explizierbarkeit des Absoluten durch Vernunft führt, bringt auch eine grundlegende Veränderung der Einschätzung von Kants Kritik der Urteilskraft, speziell der dort entwickelten Teleologie mit sich. Hegel sieht schon in der DifferenzSchrift (1801), detaillierter aber in Glauben und Wissen (1802) in Kants Begriff des Organischen, auch des Naturzwecks, den er aber aus Gründen seiner damaligen Anlehnung an Spinoza weniger betont, eine Erfassung der Natur als „Subjektobjekt“ 9 oder eine „bewußtlose Anschauung der Realität der Vernunft“ (GW 4, 340). Diese Einsichten sind für Hegel im Ansatz spekulativ. Am meisten rühmt er Kants Idee eines intuitiven Verstandes (a.a.O. 340 f), die seinem eigenen Vernunftbegriff sehr nahekommt, worauf später noch eingegangen werden soll. Um so heftiger ist Hegels Kritik an Kants Rückfall in bloße Reflexionsphilosophie, wie Hegel es sieht, da Kant jene objektive bewußtlose Vernünftigkeit der Natur nur als Vorstellungsinhalt einer reflektierenden Urteilskraft auffasse, die wieder nichts solle erkennen können, und da 8 9
Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 1952-1960. Bd. I, 17. Hegel: Gesammelte Werke (im folgenden: GW). Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 69. – Zu Hegels Deutung des intuitiven Verstandes vgl. auch unten Anm. 12.
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er insbesondere die Idee des intuitiven Verstandes, die er klar vor Augen habe, nicht als die Wahrheit anerkenne, sondern das Denken des endlichen Verstandes und der endlichen Reflexion vorziehe. – Jene prinzipielle Zustimmung und diese Kritik sind nur auf der Basis von Hegels eigener Konzeption von Spekulation und Reflexion möglich. In seinen eigenen Jenaer Systementwürfen vermeidet Hegel zunächst wie Spinoza die Teleologie, führt sie jedoch im dritten Jenaer Systementwurf von 1805/06 wieder ein. In der Phänomenologie orientiert Hegel sich –wohl im Gefolge der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von 1805/06 – ausdrücklich an Aristoteles’ Teleologie in ontologischer Bedeutung. Aus dieser Perspektive kritisiert Hegel implizit die Kantische Naturteleologie; sie gilt ihm offenbar als repräsentativ für diejenige Auffassung, die das naturhafte Seiende und den Zweck noch auseinanderhält und den Zweck in einem anderen Verstand begründet, der das Natursubstrat bildet (vgl. GW 9, 147 f). Gegenüber der von ihm neu entdeckten Aristotelischen Teleologie, die in den Naturwesen selbst jeweils das Eidos als Telos erkennt (vgl. a.a.O. 20), erscheint die Kantische Naturteleologie also als ganz vorläufig. In den Nürnberger Propädeutik-Kursen findet keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Kants Naturteleologie statt. Hegel nimmt hier jedoch gelegentlich innerhalb der Logik im Überleitungskapitel, das vom Begriff zur Idee führt und nur den teleologischen Begriff, noch nicht die ganze „Objektivität“ enthält, den Terminus der „inneren Zweckmäßigkeit“ 10 aus der Kritik der Urteilskraft ohne ausdrückliche Quellennennung auf und baut ihn in der von Kant geprägten Bedeutung, nach der ein Wesen über innere Zweckmäßigkeit verfügt, wenn in ihm alles Zweck und wechselseitig ebenso Mittel ist (vgl. Kr.d.U. 295 f), in seine eigene Theorie der Begriffsentwicklung ein. Dieser Begriff der inneren Zweckmäßigkeit wird dann ausdrücklich in der Wissenschaft der Logik, in der Enzyklopädie und in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie als Kantischer Begriff aufgenommen. Hegel sieht in ihm und noch mehr in der Idee des intuitiven Verstandes gültige spekulative Gehalte der Philosophie Kants, die in dieser freilich inkonsequent konzipiert werden. Diese spekulativen Gehalte erkennt auch der späte Hegel trotz seiner schärfer werdenden Kritik an Kant als nahezu die einzigen Spermen des spekulativen Logos in der Kantischen Philosophie nach wie vor an. Von allen Lehren Kants aus den drei „Kritiken“ stehen diese Lehrstücke aus der Kritik der teleologischen Urteilskraft also Hegels Auffassung nach seiner eigenen späteren Einschätzung am nächsten. Im „Teleologie“-Kapitel der Wissenschaft der Logik hebt Hegel hervor: „Eines der großen Verdienste Kants um die Philosophie besteht in der Unter10
Vgl. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 4, 29, 202. – Jener teleologische Übergang – ohne das Objektivitätskapitel – und die genannten Stellen finden sich in der Philosophischen Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff) und in der Logik für die Mittelklasse (1810/11).
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scheidung, die er zwischen relativer oder äußerer und [...] innerer Zweckmäßigkeit aufgestellt hat; in letzterer hat er den Begriff des Lebens, die Idee aufgeschlossen“ (GW 12, 157). Die innere Zweckmäßigkeit, nach der – wie Hegel von Kant rezipiert – im organisierten Naturwesen alles wechselseitig Zweck und Mittel ist, enthält gemäß der Erklärung Hegels in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie „die unmittelbare Einheit des Begriffs und der Realität als gegenständliche“.11 Zweck ist für Hegel hierbei der „inwohnende Begriff“ (a.a.O. 381), der im organischen Naturwesen zugleich Realität oder Objektivität gewinnt, die ganz von ihm geprägt und gebildet wird. Damit wird die „Idee“ als Einheit von Begriff und Realität oder Objektivität in erster Weise gedacht, und zwar als Idee des Lebens. Hegel deutet Kants Begriff der inneren Zweckmäßigkeit also von seiner eigenen Konzeption von vollendeter Teleologie aus, die schon die Idee in ihrer Unmittelbarkeit, nämlich als Leben erfassen läßt. – Diese Deutung und Umdeutung kommt jedoch nicht ohne besondere geschichtliche Vermittlungen und Perspektivenkontaminationen zustande. So erklärt Hegel z.B. in der Enzyklopädie: „Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wiedererweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit“ (Enzyklopädie, 3. Aufl., § 204 Anm., vgl. § 360 Anm.). Das Eidos ist als Telos der Entwicklung einem organischen Wesen immanent. Es hat nicht in platonischer Weise ein Sein für sich, sondern ist der „inwohnende Begriff“, der nach Hegel im organischen Individuum konkret wird. In dieser Perspektive der Aristoteles-Deutung, die die Aristotelische Lehre des Verhältnisses von Eidos, Telos und organischem Synholon durchaus nachvollziehbar aufnimmt, erblickt Hegel nun die Kantische Naturteleologie und insbesondere die Konzeption der inneren Zweckmäßigkeit. Was er als spekulativ von dieser Lehre Kants anerkennt, ist kongruent mit Aristoteles’ Teleologie des naturhaften Seienden. So wird Kants teleologische Theorie der Organismen von Hegel gerühmt, weil sie seiner Auffassung nach die Aristotelische Naturteleologie restituiert. Zwei gravierende Unterschiede aber trennen diese Kantische Lehre von der Aristotelischen. Zum einen wird der Begriff des Naturzwecks und der inneren Zweckmäßigkeit nach Kant nur von der reflektierenden Urteilskraft entworfen, damit sie sich die Eigenart der Kausalität und Funktionsweise der Organismen verständlich machen kann. Eine Erkenntnis der besonderen ontologischen Bestimmung der Organismen kommt dadurch nicht zustande. Hegel bemerkt und kritisiert dies. Er fordert eine objektive, ontologische Erkenntnis der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen. Zum anderen ist für Kant der Begriff des Naturzwecks oder der der inneren Zweckmäßigkeit keine adäquate Erfassung der organischen Kausalität, sondern nur eine durch die Eigenart un11
Hegel: Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. Bd. 20, 378. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Kants „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ im allgemeinen vgl. A. Stanguennec: Hegel, critique de Kant. Paris 1985, 283-299.
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seres diskursiven Verstandes begründete begriffliche Annäherung an dasjenige, was die organische Wirkensweise auszeichnet. Genau genommen wird mit dem Begriff der inneren Zweckmäßigkeit als wechselseitigem Zweck-MittelVerhältnis bei Kant nicht einmal Fortpflanzung und Wachstum, sondern nur die wechselseitige Erhaltung und Erneuerung der Organe in einem Organismus begrifflich erfaßt, die Kant als dritten organischen Prozeß schildert. Hegel geht auf die bleibende Inadäquatheit der Teleologie zur Erfassung des Organischen und damit auf den bloßen Modellcharakter der Naturteleologie nicht ein; er sieht in der inneren Zweckmäßigkeit vielmehr wesentlich die Immanenz des Begriffs als des Telos im organischen Naturwesen. Wie Hegels Anerkennung des spekulativen Gehalts der Kantischen Naturteleologie darauf beruht, daß er in ihr eine Restitution antiker, nämlich Aristotelischer Teleologie sieht, so rühmt er die spekulative Bedeutung von Kants Idee des intuitiven Verstandes, weil sie, was Hegel zumindest ahnt, eine Restitution der neuplatonischen Nous-Spekulation enthält, die selbst wiederum die Aristotelische Lehre von der Noesis Noeseos aufnimmt. Immerhin hebt Hegel die Bestimmung des intuitiven Verstandes als „intellectus archetypus“ hervor.12 Wie schon in Glauben und Wissen ist für ihn auch später in der Idee dieses urbildlichen, insofern göttlichen Intellekts die Einheit von Anschauung und Begriff sowie die Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit, d.h. die konkrete Allgemeinheit gedacht. Hegel erblickt hierin eine eindeutige Vorprägung seines eigenen Begriffs der spekulativen Vernunfterkenntnis. Gerade deshalb aber rügt er Kant, weil dieser die Idee des intuitiven Verstandes nicht für das erkennbare Wahre hält und nicht für die ursprüngliche positive Idee, die jeder Vorstellung von einer Einschränkung der menschlichen Erkenntnis zugrunde liegen müsse; die Auffassung, daß wir diese Idee nur als ein „negatives Gegenbild“ unserer eigenen Erkenntnis entwerfen, wie Kant betont, hält Hegel für ein unbegründetes Festhalten an der Endlichkeit; er akzeptiert auch hier die kritische Restriktion nicht und nimmt den in dieser Idee gedachten rein metaphysischen Gehalt aus der Aristotelischen und neuplatonischen Tradition auf, in der er hinsichtlich dieser Frage der göttlichen Erkenntnis selbst steht. – Aufgrund dieser Umdeutung wird der Begriff des Naturzwecks bzw. der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen von Hegel gerade nicht in der Eigenart unseres diskursiven Verstandes begründet, der bei der Vorstellung ursprünglicher Ganzheiten allenfalls in einer gewissen Analogie zum Vorstellen des intuitiven Verstandes verfahren kann, sondern im Vorstellen des intuitiven Verstandes selbst. Wir vollziehen in der teleologischen Betrachtung der Orga12
A.a.O. Bd. 20, 380; vgl. Hegels Rede vom „urbildlichen Verstand“, GW 4, 340 f. Vgl. zu Hegels Deutung V. Verra: „Immaginazione trascendentale e intelletto intuitivo“. In: Hegel interprete di Kant. Hrsg. von V. Verra. Neapel 1981, 67-89; vgl. auch vom Verf.: „Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung“. In: Hegel-Studien 21 (1986), bes. 116 ff, 125 ff. Vgl. auch zu Hegels Kritik in dieser Frage vornehmlich in Glauben und Wissen W. Walsh: „Kant as Seen by Hegel“. In: Hegel’s Critique of Kant. Hrsg. von S. Priest. Oxford 1987, bes. 215 ff.
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nismen nach Hegel das Vorstellen nach der Vorstellungsart des intuitiven Verstandes.13 Die Argumente von Hegels Kritik an Kants Erkenntnisrestriktion und Metaphysikkritik in der Frage der Erkenntnis der Wirkensweise von Organismen lassen sich am ehesten aus seiner Auseinandersetzung mit Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft entnehmen, die in den Kontext von Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre überhaupt in der Wissenschaft der Logik zu stellen ist. Für diese Antinomie der teleologischen Urteilskraft gelten Hegels Ausführungen zu Kants Antinomienlehre und speziell zur ersten und zweiten Antinomie der reinen Vernunft entsprechend (vgl. GW 12, 157). – Hegel sieht die Antinomie der teleologischen Urteilskraft lediglich als spezifischere Fassung der dritten Antinomie der reinen Vernunft an; in beiden Fällen gehe es um die Entgegensetzung von causa efficiens und causa finalis (vgl. a.a.O. 154); diese werde dann mit der Entgegensetzung von Naturnotwendigkeit und Freiheit oder von Mechanismus und Teleologie nur verschieden formuliert. So schwer verständlich diese Zurückführung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft auf die berühmte Freiheitsantinomie von Kants unterschiedlichen Problemzusammenhängen her ist, es wird sich zeigen, daß sie in Hegels Ansatz durchaus ihren Sinn hat. Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft, nämlich daß „alle Erzeugung materieller Dinge nach bloß mechanischen Gesetzen“ vor sich gehe und daß „einige Erzeugung derselben nach solchen Gesetzen nicht möglich“ sei (GW 12, 158), stellt Hegel wie Kant dar; doch läßt er die hinzuzufügende Erläuterung weg, daß die Erzeugung, die nicht mechanisch geschehe, in positiver Hinsicht naturteleologisch sei; diese Weglassung verdeckt einen wesentlichen Unterschied zur Freiheitsantinomie. – Hegels kritisiert Kants Auflösung dieser Antinomie, die darin besteht, die Sätze, die objektive Gültigkeit beanspruchen, in bloß subjektiv gültige Maximen zu verwandeln. Denn zum einen werde hiermit die kontradiktorische Entgegensetzung nicht aufgehoben, was Kant doch intendiere; zum anderen werde jene Entgegensetzung nur in den Geist verlagert und die Welt davon freigehalten; die Frage nach der Wahrheit und objektiven Bestimmtheit der Dinge werde also gar nicht mehr gestellt. Im Zusammenhang mit der Erörterung der Antinomien der reinen Vernunft und ihrer ähnlich gearteten Auflösung spottet Hegel, dies sei „eine zu große Zärtlichkeit für die Welt“ (GW 21, 232, vgl. Enzyklopädie3, 48 Anm.). Daß beide Einwände Hegels gegen Kants Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft nicht zutreffen, ist leicht zu erkennen. Die Maxime des Mechanismus und die Maxime der Naturteleologie schließen einander als Versuche, Ereigniszusammenhänge zu verstehen, nicht aus, sondern nur als Erklärungshypothesen. Damit wird nicht nur die Welt, sondern auch der forschende Geist, die reflektierende Urteilskraft, vom Widerspruch befreit. 13
Vgl. Werke in zwanzig Bänden, a.a.O. Bd. 20, 381: „Wir betrachten es [scil. das organische Wesen] nach der Weise eines intuitiven Verstandes“.
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Hegel hat jedoch bei seiner Kritik eine ganz andere, nämlich seine eigene spekulativ-dialektische Konzeption vor Augen. Danach gilt es, die Dinge der Welt selbst, d.h. die Dinge an sich, nicht nur die raumzeitlichen Erscheinungen, zu erkennen, und zwar auch in einander widersprechenden Bestimmungen. Die Welt und der Geist müssen in unterschiedlicher Weise den Widerspruch als Widerspruch endlicher Bestimmungen auf sich nehmen. Hegel sieht das Verdienst der Kantischen Antinomienlehre generell gerade darin, daß in ihr immanente Widersprüche der Vernunft und der Welt aufgewiesen werden, die die Auflösung nicht wieder beseitigen könne. Diese unausweichliche Dialektik habe Kant in der Antinomienlehre erkannt. Sie war es neben den Paradoxien in Platos Parmenides, die Hegels frühe, noch negativ bleibende Dialektik-Konzeption in Jena (1801-1802) anregte. Doch auch die Darstellung der Relata des Widerspruchs erfolgt bei Kant nach Hegel nicht aus reiner spekulativer Vernunft. Kant habe, wie Hegel anhand der Erörterung der ersten und zweiten Antinomie der reinen Vernunft darlegt, nicht die spekulativ-logische Entgegensetzung von reinen Gedankenbestimmungen und Kategorien expliziert, sondern diese immer schon in konkreterer anschaulicher oder sinnlicher Bestimmtheit, nämlich als kosmologische, im wesentlichen zugleich raumzeitliche Bestimmungen entwickelt.14 Diese Kritik dürfte auch der Grund dafür sein, daß Hegel in seiner knappen Darstellung ohne Umschweife die Antinomie der teleologischen Urteilskraft im Grunde auf die Freiheitsantinomie zurückführt und unter Abstraktion von den jeweils verschiedenen besonderen Problemen in beiden nur den kategorialen Gegensatz von causa efficiens als Mechanismus und causa finalis als Teleologie sieht. Erkenntnis von Naturprozessen ist, von der Kategorienlehre aus gesehen, erst ein zweitrangiges Problem. Diese Kritik an Kants Darstellung von Antinomien als Gegensätzen metaphysischer Positionen enthält zugleich Grundlinien von Hegels Kritik an der vormaligen Metaphysik überhaupt in der Wissenschaft der Logik. Hegel wirft der vormaligen Metaphysik und auch Kants Darstellung der Antinomien vor, daß sie die logisch-metaphysischen Gedankenbestimmungen nicht in ihrer Reinheit, sondern immer schon vermischt mit konkreteren, zum Teil sinnlichen Bestimmungen entwickeln. Deshalb gilt es für Hegel, jene konkreteren Bestimmungen auf ihren reinen kategorialen Gehalt zurückzuführen und damit auch deren Widerspruchsverhältnisse und deren Dialektik in ihrer logischen Reinheit aufzuzeigen. Dies ist die in Hegels Logik implizierte Kritik an der
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Vgl. zu Hegels Annahme und Kritik der Kantischen Antinomienlehre die kritische Darstellung von M. Gueroult: „Le jugement de Hegel sur l’antithétique de la raison pure“. In: Études sur Hegel. Paris 1931, 137-193 und die stärker an Hegel orientierte Darstellung von F. Bosio: „Le antinomie kantiane della totalità cosmologica e la loro critica in Hegel“. In: Il Pensiero 9 (1964), 39-104.
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vormaligen Metaphysik, die faktisch auch seiner Abänderung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft zugrunde liegt.15 Diese Metaphysikkritik ist der Kantischen nicht kongruent; sie läßt die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft bestehen, ja etabliert in Hegels Verständnis erst die wahre Metaphysik in ihrer Reinheit als spekulative Logik. So setzt Hegel mit dieser Metaphysikkritik die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft voraus, die Kant gerade in Frage gestellt hatte. Bei dieser Gegenüberstellung einer kritischen Naturteleologie und einer spekulativlogischen, rein metaphysischen Teleologie und Idee des Lebens als zwei exemplarischen Modellen, Naturteleologie und Leben zu begreifen, muß es an dieser Stelle bleiben, da auch Kant bei der kritischen Begrenzung der Naturteleologie den Beweis für die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis in seinen Grundlinien nur voraussetzt. – Der ursprüngliche Ort der Auseinandersetzung Hegels mit Kant hinsichtlich der Metaphysik als Wissenschaft ist die Theorie der menschlichen Erkenntnis, die Lehre von der Restriktion dieser Erkenntnis auf raumzeitliche Erscheinungen, wie insbesondere die transzendentale Deduktion der Kategorien sie zu erweisen sucht, und die Beziehung zwischen synthetischer Einheit der Apperzeption und Einbildungskraft.16 Wenn sich auf diesen Gebieten zeigen sollte, daß Hegels Kritik und seine eigene systematische Explikation in wesentlichen Fragen an Kants Theorie vorbeizielt, ist damit nicht zugleich erwiesen, daß Metaphysik in sich sinnlos oder gar widersinnig sei. Sie kann durchaus sinnvoll konzipiert werden, etwa mit Kant auf den Fundamenten des Fürwahrhaltens der praktischen Vernunft oder der reflektierenden Urteilskraft. Hegel erkennt, daß diese Kantischen Anfänge17 sehr wohl weiterer Entwicklung fähig sind; aber sie muß nicht in spekulativem Wissen erfolgen. Die Teleologie wird nun in Hegels eigener Darstellung in der spekulativen Logik allgemein-kategorial abgehandelt und nicht auf die Naturteleologie beschränkt. In dieser grundlegenden spekulativ-logischen Bedeutung ist der „Zweck“ für Hegel „das konkrete Allgemeine“ (GW 12, 159). Er ist der Be15
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Vgl. zur Metaphysikkritik, die in Hegels Logik enthalten ist, M. Theunissen: Schein und Sein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a.M. 1978, bes. 23 ff, 41 ff u.ö. – Trifft die Auffassung zu, daß auch die Veränderung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft eine kritische Reinigung ist, dann gilt ebenso für die subjektive Logik wie zuvor für die objektive Logik ein gleichartiges Konzept von Metaphysikkritik, die reine Metaphysik erst ermöglicht. Hier sei der Verweis erlaubt auf den eigenen Versuch des Verfassers und den Literaturbericht in: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, 196 ff, 216-242. Vgl. hierzu die klassisch gewordenen Kantinterpretationen von H. Heimsoeth: Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus (zuerst 1924) und Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (zuerst 1924). In ders.: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen. KantStudien. Ergänzungsheft 71. Köln 1956, 189-225 und 227-257, sowie M. Wundt: Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1924, bes. 332 ff, 365 ff, 375 ff.
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griff, der im teleologischen Prozeß in die ihm zunächst äußere Objektivität übergeht und sich in ihr erhält; so bestimmt der Begriff als Zweck die Objektivität vollständig (vgl. a.a.O. 159, 167 ff). Das Resultat ist nach Hegel „innere Zweckbeziehung und ein objektiver Zweck“ (a.a.O. 169), womit er auf den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit in seiner eigenen Auslegung anspielt; es ist der einem Objekt „inwohnende“ Begriff. So wird mit dem teleologischen Prozeß der Begriff in der zunächst ihm gegenübergesetzten Objektivität vollständig restituiert; damit aber ist schon die Idee als Einheit von Begriff und Objektivität, und zwar zunächst die Idee in ihrer Unmittelbarkeit, nämlich als Leben erreicht. Dieser Begriff des Zwecks und die Bestimmung der Objektivität durch ihn liegen auch der Naturteleologie in Hegels Naturphilosophie zugrunde. Zweck ist der immanente Begriff der organischen Prozesse, und zwar insbesondere bei animalischen Naturwesen. Er wird konzipiert wie das åqäïò ô’ díüí des Aristoteles (Metaphysik, 1037a 29).18 In diesem Sinne versteht Hegel auch, wie erwähnt, den Kantischen Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, den er in seiner Naturphilosophie aufnimmt. Dieses Begreifen des Zwecks als des „inneren Begriffs“ (Enzyklopädie, 3. Aufl., § 360 Anm.), der freilich nicht als diskursive, sondern als konkrete Allgemeinheit in einem organischen Wesen gegenwärtig ist, erhält für Hegel zugleich – in ähnlicher Weise wie für Kant – leitende Bedeutung für speziellere naturphilosophische und naturwissenschaftliche Bestimmungen des Organischen und Lebendigen. Doch gilt Hegel die Bestimmung des inneren Telos eines organischen Wesens als objektiv und damit als wahre philosophische Erkenntnis. Für Kant erwies sich der durch den Zweckbegriff erforderliche Gedanke des übersinnlichen Substrats der Natur, auf das die reflektierende Urteilskraft als produktiven Verstand verweist, als metaphysisch sinnvoll, da dieser Gedanke, der keine Erkenntnis zu sein beansprucht, notwendig zur systematischen Konzeption des Übergangs von der theoretischen zur praktischen Vernunft und von der Natur zur Freiheit gehört. Für Hegel dagegen ist die Naturteleologie als Begreifen der Organismen, speziell der animalischen Organismen, auf der Grundlage der Kategorien der spekulativen Logik selbst philosophisch objektive Erkenntnis und Wissenschaft. Wie für Aristoteles ist für Hegel daher diese Teleologie von ontologischer Bedeutung; das belebte naturhaft Seiende selbst gilt als durch den Zweck bestimmt, den Hegel als immanente, konkrete Allgemeinheit konzipiert. Da nun die Metaphysik als Wissenschaft 18
Vgl. zu Hegels Theorie des Organischen und Lebendigen K.-H. Ilting: „Hegels Philosophie des Organischen“. In: Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg. von M. Petry. Stuttgart/Bad Cannstatt 1987, 349-368; er geht freilich nur kurz auf die Teleologie und den AristotelesHintergrund ein (vgl. 355 f). – Zu Hegels Theorie des Lebens und des Lebendigen vgl. J. D’Hondt: „Le Concept de la Vie, chez Hegel“. In: Hegels Philosophie der Natur. Hrsg. von R.-P. Horstmann und M.J. Petry. Stuttgart 1986, 138-150; erlaubt sei auch der Hinweis auf die Darlegungen des Verfs.: „Die Idee des Lebens in Hegels Logik“. In: Hegels Philosophie der Natur, a.a.O. 276-289.
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NATURTELEOLOGIE UND METAPHYSIK BEI KANT UND HEGEL
die reine Erkenntnis des Seienden selbst ist, gilt Hegel die Teleologie des belebten naturhaft Seienden als Bestandteil dieser Metaphysik. So stellen Kants Philosophie des Organischen und deren Aufnahme und spekulative Umdeutung durch Hegel vor dem Hintergrund von Hegels eigener Theorie zwei Modelle von Naturteleologie dar, die beide auf eine metaphysische Dimension verweisen; der Kantische Hinweis erfolgt in der Konsequenz der Naturteleologie als bloßer Gedanke, nicht als Erkenntnis des Natursubstrats; bei Hegel ist die Teleologie, speziell die Naturteleologie für Organismen schon im Ansatz metaphysisch und gilt ihm als Erkenntnis. – Die Lehre Kants, daß die Naturteleologie lediglich eine Maxime der reflektierenden Urteilskraft zur Betrachtung von Organismen sei, steht der heutigen Auffassung der „Teleonomie“ eines Lebewesens, die offenbar auch die Molekularbiologie als einen ihrer grundlegenden wissenschaftstheoretischen Begriffe nicht aufgeben kann, näher als Hegels spekulativ-metaphysisch begründete Naturteleologie. Kant beansprucht, wie gezeigt, weder ontologische Geltung noch Adäquatheitsbedeutung für den Begriff des Naturzwecks; es handelt sich nur um ein Modell zur begrifflichen Erfassung der Steuerungsfunktion, die Prozesse in einem Organismus reguliert. Man muß hinzufügen, daß solche Modellvorstellungen erforderlich bleiben, solange man die Entstehung und Entwicklung von Organismen nicht nur eindeutig mechanisch und chemisch erklären, sondern auch biologisch verstehen will.19 – Kant war freilich der Auffassung, es werde nie einen „Newton ... eines Grashalms“ (vgl. Kr.d.U. 338) geben, da er die Unmöglichkeit einer mechanischen Erklärung des Lebens in der Endlichkeit unseres Verstandes zu begründen suchte; hierin ist zugleich die Voraussetzung impliziert, daß es Wesen mit solchen besonderen Eigenschaften wie die Organismen gebe, die wir nicht erklären können. Die eigentliche Schwierigkeit dieser Theorie Kants liegt aber nicht in seiner Teleologie, sondern in seinem veralteten Begriff des Mechanismus, der im Objektivitäts- und Notwendigkeitsideal der klassischen Physik gründet. Kant glaubt, da alles in der Natur streng determiniert vor sich gehe, für scheinbar zufällige Ereignisse, die sich nicht mechanisch erklären lassen, neue, nämlich teleologische Determinanten einführen zu müssen. Dies trifft nun z.B. auf die Unschärferelation in der Elementarteilchenphysik oder die chemische Lehre von der Bildung bestimmter Makromoleküle nicht zu. Der Begriff des Mechanismus muß daher erweitert und vom klassischen Objektivitäts- und Notwendigkeitsideal abgelöst werden. Dann aber ändert sich das Verhältnis dieses modernisierten „Mechanismus“ zur Teleologie und zu den Gründen, sie modellhaft einzusetzen. So wird auch die Zufälligkeit oder die naturgesetzliche Unbestimmtheit z.B. bei den Sequenzen der Aminosäuren, die zu Proteinen und dann zu lebensfähigen Organismen führen, im Sinne dieses erweiterten modernen Mechanismus verstanden. Wollen wir jedoch die biologische Bedeutung jener Prozesse erfassen, so nehmen wir eine Teleonomie oder eine te19
Vgl hierzu B. Hassenstein, a.a.O. 65 ff.
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2. HEGEL
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leologische Maxime in weitem Sinne an, um etwa die regulatorische Funktion jener Sequenzen, die für jedes Lebewesen erforderlich ist, modellhaft zu verstehen; die teleologische Struktur wird damit nicht als Eigenschaft jenen Sequenzen zugeschrieben, sondern bleibt Inhalt subjektiver Selbstverständigung. Hierfür dürfte allerdings eine metaphysische Konsequenz wie die Annahme eines verständigen Naturgrundes auch nur im Gedanken nicht erforderlich sein. – Sie bleibt innerhalb des Kantischen Ansatzes jedoch von der Bedeutung eines Horizonts, wenn man eine allgemeine Zweckmäßigkeit a priori des Weltmannigfaltigen überhaupt für mögliches Gelingen unserer Orientierung in der Welt annimmt. Hegel steht dieser Teleonomie-Auffassung nicht nahe; er deutet aus Aristotelischer Perspektive Kants Naturteleologie ontologisch um. Sie wird damit in ihrer Grundlegung metaphysisch. Der Zweck, das dem Lebewesen innewohnende Eidos, wird bei Hegel zum Begriff als dem konkreten Allgemeinen, das nicht nur Gattung ist. Die Grundthese dieser Metaphysik als Wissenschaft, in die die Naturteleologie eingebettet ist, lautet: Das, was wahrhaft ist, ist konkrete Allgemeinheit; diese aber ist Subjektivität. Darin liegt nun ein fruchtbarer, über wissenschaftstheoretische Fragen der Biologie hinausweisender Gedanke. Das seiner selbst bewußte Subjekt erkennt in den Organismen als denjenigen Weltwesen, die dem Menschen am verwandtesten sind, Vorprägungen seiner selbst. Auch wenn man den Absolutheitsanspruch dieser Metaphysik nicht aufrechterhält, können wesentliche Evidenzen dieser Lehre in einer Theorie der endlichen Subjektivität weitergeführt werden.
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Kategorien als Bestimmungen des Absoluten? Untersuchungen zu Hegels spekulativer Ontologie und Theologie Grundfragen der Ontologie, der philosophischen Theologie und ihres Verhältnisses zueinander wird heute vielfach eine allenfalls liebenswürdige Antiquiertheit attestiert. Denn die Debatten zur theoretischen Philosophie und Wissenschaftstheorie werden derzeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit zumeist von den Nachfolgerichtungen des früher so bezeichneten Positivismus, von der neueren analytischen Philosophie sowie vom Materialismus oder Physikalismus verschiedener Schattierungen beherrscht, die z.T. in ihrer Ausrichtung einander überlappen, die aber insgesamt jenen Problemen abhold sind, die die Ontologie, die Theologie sowie deren Zusammenhang untereinander betreffen. Gründliche und differenzierte Auseinandersetzungen mit klassischen Theorien der Ontologie und Theologie befinden sich daher kaum im Focus gegenwärtigen Interesses, stehen aber gerade deshalb angesichts dieser Richtungen wieder an; und dies läßt auch die Frage aufkommen, ob die ablehnende Haltung gegenüber Ontologie und Ontotheologie begründet ist oder nicht vielmehr auf abblendendem Reduktionismus beruht. Viele Jahrhunderte lang haben sich implizit seit Parmenides und explizit insbesondere seit Aristoteles die bedeutendsten Philosophen mit diesen Problemen der Ontologie, der Theologie und ihres Verhältnisses zueinander befaßt. Es ist eine der systematisch durchaus fruchtbaren Aufgaben der Philosophiegeschichtsforschung, an aus dem Blickfeld geratene, im allgemeinen Vorurteil für unzeitgemäß, ja obsolet gehaltene, hochdifferenzierte philosophische Theorien und ihre Fragehorizonte zu erinnern und sie erneut einer vorurteilsfreien, problembewußten Diskussion zuzuführen. Die grundlegende Frage der Aufstellung einer Ontologie und philosophischen Theologie kann auch heute noch lauten: Durch welche Art von Denken kann eine reine Ontologie und auf ihrer Basis eine philosophisch-begriffliche Theologie konzipiert, expliziert und ggf. als gültig erwiesen werden? In der Ausführung lassen sich systematisch mehrere Grundtypen von Ontologie unterscheiden, die dann z.T. auch ein je verschiedenes Verhältnis zur philosophischen Theologie aufweisen. Dies sei hier nur einleitend umrissen. Eine Ontologie kann zum einen universalistische Ontologie sein, die die Grundbestimmungen des Seienden als solchen aufstellt, welche für alles Seiende gelten, es mag nun unbelebt, belebt, menschlich, göttlich oder sonstiger Art sein; sie kann aber auch eine paradigmatische Ontologie sein, die die Bestimmungen des Seienden hinsichtlich ihrer Vollkommenheit auf das höchste, vollkommenste, eigentliche Seiende, das göttliche Seiende als Paradigma hin orientiert. Dann gelten auch einfache ontologische Bestimmungen schon vom göttlichen Seienden. Eine Ontologie kann ferner eine Gegebenheitsontologie sein, nach der dem Denkvermögen das Seiende in seinen Grundbestimmungen als
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real vorgegeben ist, oder eine idealistische Konstitutionsontologie, nach der die Grundbestimmungen des Seienden als gültige erst durch das reine Denken konstituiert werden. Eine Ontologie kann außerdem methodisch als eine urteilslogische Ontologie entworfen werden, in der die Bestimmungen des Seienden als solchen gemäß den Urteilsformen, den Formen des ’ist’-Sagens und ihrer Sinnabfolge entfaltet werden, oder als eine dialektische Ontologie, in der jene Bestimmungen durch eine eigene Methode des reinen Denkens hinsichtlich der Begriffsentwicklung und -verknüpfung, nämlich durch die Dialektik, dargelegt werden. Schließlich läßt sich eine Substanzontologie von einer Ereignis- oder Prozeßontologie unterscheiden, in denen das eigentliche Seiende entweder als selbständig bestehende Substanz oder als Ereignis bzw. Prozeß begriffen wird. Dies sind grundlegende Alternativpaare von Ontologie, unter denen wieder verschiedene Kombinationen möglich sind. Vor dem Hintergrund dieser Skizze von Ontologietypen soll nun die Konzeption einer Ontologie sowie ihres Verhältnisses zur philosophischen Theologie beim reifen Hegel untersucht werden. Zuerst sei die Ontologie charakterisiert, die Hegel in der objektiven Logik vor Augen hat; dabei sei die Frage untersucht, ob ontologische Kategorien schon Bestimmungen des Absoluten sind. Zweitens soll Hegels rein spekulative Theologie innerhalb seiner Logik erörtert und gezeigt werden, daß sie auf der Ontologie fußt, zugleich für deren Seinsbestimmungen das Paradigma liefert und sich in der Subjektivierung der griechischen Noesis Noeseos, des reinen Denkens seiner selbst vollendet. Drittens sei untersucht, wie für Hegel diese Noesis Noeseos trotz der andersartigen geschichtlichen Herkunft das Begreifen der Gotteslehre des realgeschichtlichen Christentums grundlegend ermöglicht, das freilich weitere Bestimmungen hinzubringt. Der Schluß soll resümieren, welche Art von Denken grundsätzlich erforderlich ist für diese Theorie von Ontologie und Theologie und zur Frage veränderter gegenwärtiger Weiterführungen anregen.
1. Hegels Neukonzeption der Ontologie In der Wissenschaft der Logik erklärt Hegel in beiden Auflagen (von 1812 und 1832), daß die objektive Logik mit ihrer Explikation der Seins- und Wesenskategorien an die Stelle der vormaligen Metaphysica generalis oder Ontologie sowie an die Stelle der vormaligen Metaphysica specialis über Seele, Welt, Gott trete.1 Die objektive Logik verfährt, verglichen mit der Metaphysica spe1
Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke (= GW). Bd. 11. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1978, 32; GW 21. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1985, 48 f. Vgl. auch GW 20: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. von W. Bonsiepen, H.-Chr. Lucas und U. Rameil. Hamburg 1992, 67 (§ 24). – Zu Hegels Umwandlung der Metaphysica specialis, speziell der Kosmologie, mag der Hinweis erlaubt sein auf die Darlegung des Verfs.: „Antinomie und Dialektik. Endlichkeit
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1. HEGELS NEUKONZEPTION DER ONTOLOGIE
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cialis, nach Hegels eigenem Anspruch konsequenter und verbleibt im reinen Denken, da sie sich zum einen nicht mehr wie die Metaphysica specialis an Vorstellungssubstrate wie Seele, Welt, Gott hält, sondern reine Kategorien oder Gedankenbestimmungen expliziert und da sie zum anderen diese Bestimmungen in methodisch eindeutiger Abfolge, nämlich dialektisch entwikkelt. Die vormalige Metaphysica generalis aber oder Ontologie, sei es des Aristoteles als Bestandteil der ersten Philosophie, sei es Wolffs Ontologie, sei es auch Kants Kategoriensystem als reines ontologisches Gedankengebäude unangesehen seines Erkenntniswerts, wird von Hegel ersetzt durch die Seinsund Wesenslehre seiner Logik; diese Ersetzung findet statt, da erstens keine sinnlichen Bestimmungen mehr unter den ontologischen Grundbegriffen auftauchen dürfen, wie es schon Kant etwa hinsichtlich der Bestimmungen von Raum und Zeit an Aristoteles kritisierte, da zum anderen diese ontologischen Bestimmungen vollständig – und nicht nur teilweise wie bei Aristoteles oder Kant – darzulegen sind, wozu nicht nur die Bestimmungen des Seienden, des ens, sondern auch des Wesens gehören, und da drittens und vor allem auch diese reinen Bestimmungen systematisch-methodisch, nämlich dialektisch entwickelt werden müssen. Was Kant gegen Aristoteles einwendet, das rhapsodische Aufgreifen der Kategorien, kritisieren alle Idealisten, auch Hegel an Kant.2 Hegel folgt Kant insbesondere nicht in der methodischen Anlage der Ontologie als einer urteilslogischen Ontologie, die die Kategorien gemäß den Urteilsformen aufstellt, wie es ansatzweise schon Aristoteles vorsah; Hegel konzipiert vielmehr grundsätzlich eine dialektische Ontologie, in der die „Kategorien“, wie er mit Anklang an Aristoteles, aber ohne Fortschreibung des urteilslogischen Kontextes sagt, als reine Gedankenbestimmungen nach einer eigenen, dem reinen Denken immanenten Methode entwickelt werden. Dieses systematische Programm einer methodischen Entwicklung der Bestimmungen des Seins, des Seienden und des Wesens als reiner Gedankenbestimmungen ist nun der Grund für Hegels Überlegung, „womit ... der Anfang der Wissenschaft gemacht werden“ müsse.3 Hegel geht hiermit auf das vielerörterte Problem ein, ob am Anfang ein Prinzip, der Begriff eines Urgrundes, eines Ersterkannten oder nur eine methodisch ganz einfache, voraussetzungslose Bestimmung stehen soll. An diesem Anfang darf nun nach Hegel außer
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und Unendlichkeit in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre“. In: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hrsg. von F. Menegoni und L. Illetterati. Stuttgart 2004, 35-57 (s. vorliegenden Band I, 5). Hegels im folgenden skizzierte Umwandlung der Metaphysica generalis oder der Ontologie erfolgt unter Aufrechterhaltung der Grundbedeutung der Metaphysica generalis, nämlich die grundlegenden Bestimmungen des on (des Seienden) und der ousia (des Wesens) in reinen Gedankenbestimmungen zu erfassen. Wie beide Umwandlungen zu Kants Erkenntnisrestriktion stehen, ist eine andere, schwierige Frage. Daß Kant in Reflexionen und Briefen eine systematische Explikation der Urteilstafel erwog, konnten die Idealisten nicht wissen. Vgl. hier und im folgenden GW 11, 33-40; GW 21, 53-65. Vgl. zum Anfangsproblem insbesondere D. Henrich: „Anfang und Methode der Logik“. In ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 1971, 73-94.
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dem erfahrungsfreien, reinen Denken nichts vorausgesetzt werden; aus ihm müssen seine reinen Gedankenbestimmungen als seine noematischen Momente erst Schritt für Schritt methodisch hervorgehen. Daher ist für Hegel ein Beginn mit dem reinen Ich wie beim frühen Fichte nicht möglich. Dieses enthält zum einen eine Anzahl von Bestimmungen, die seine Spontaneität und sein Selbstverhältnis betreffen und die am Anfang nicht hergeleitet sind, sondern vorausgesetzt werden müssen; es stellt sich zum anderen in intellektueller Anschauung vor, die zwar unmittelbar ist, aber eine hochentwickelte Weise der Selbstbeziehung ausmacht, die ebenfalls nicht einfach vorausgesetzt werden kann. – Für das Verhältnis von Ontologie und Theologie bedeutsam ist Hegels Hinweis, daß ein Anfang der reinen Wissenschaft auch nicht mit dem Begriff von Gott möglich ist. Soll Gott Ersterkanntes sein, so müssen von ihm schon mehrfache Bestimmungen gelten; bei Spinoza z.B. sind dies: Ursache seiner selbst, Einheit von Wesen und Existenz, Substanz, Unendlichkeit und dergleichen; sie sind aber nicht hergeleitet; und ob sie Gott rein in Gedanken zureichend erfassen, ist für Hegel durchaus fraglich. ’Gott’ kann daher nicht systematischer Anfang einer Ontologie in Hegels Sinne als reiner Seins- und Wesenslehre sein. Gleichwohl ist der reine Begriff von Gott, wie sich noch zeigen wird, zentraler Inhalt seiner Logik als Metaphysik. – Aber auch der Begriff des Seienden, so kann ergänzt werden, ist nicht als Anfang der Hegelschen ontologischen Wissenschaft des reinen Denkens geeignet; auch er enthält, wie zu erläutern ist, bereits eine Synthesis von Bestimmungen, die vorausgehen und die eigens erst dargelegt und entwickelt werden müssen. Nicht der methodische Begriff des Anfangs, der immer auf den Fortgang bezogen ist, wohl aber der reine noematische Gedankeninhalt von Anfang kann für Hegel als erste reine Gedankenbestimmung auftreten. Dieser reine Gedankeninhalt muß ohne irgendeine Voraussetzung in sich gänzlich einfach und unmittelbar und ohne weitere Bestimmung sein; er läßt sich also nur als unbestimmte Unmittelbarkeit denken, die für Hegel die grundlegende Bedeutung von ’Sein’, noch nicht von Seiendem ausmacht; und dies sei auch der eigentliche, prinzipielle Inhalt der Lehre des alten Parmenides, die Hegel als den Anfang der Philosophie betrachtet. Die Charakterisierung von ’Sein’ durch zwei negative Termini: Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit, weist auf den gänzlich negativen Bedeutungsgehalt von ’Sein’ hin; es ist vermittlungslose Inhaltsleere; dies aber bedeutet: ’Nichts’. Das rein gedachte einfache Nichts soll nun einerseits bedeutungsgleich mit dem ’Sein’, andererseits diesem aber ebenso entgegengesetzt sein; denn nur wenn auch solche Entgegensetzung darin impliziert ist, wird ein Fortgang zu weiteren Kategorien möglich, nämlich zuerst zum Umschlag von Sein in Nichts und Nichts in Sein im Werden, das für Hegel das Prinzip Heraklits darstellt.4 Heraklit ist für Hegel der erste 4
Diese philosophische Konstruktion der Entwicklung verstößt nach heutiger Auffassung gegen die reale Geschichte, nach der Heraklit früher als Parmenides lebte und wirkte. In der damaligen Philosophiegeschichtsschreibung (Tiedemann, Tennemann) wird Parmenides vor Hera-
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1. HEGELS NEUKONZEPTION DER ONTOLOGIE
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Denker einer objektiven, ontologischen Dialektik in den Umschlagsprozessen selbst. Dieser Hintergrund bildet eine plastische Erläuterung für Hegels rein logisch-ontologische Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Nichts. Solche rein gedankliche Bestimmung impliziert nun, daß Gleichheit und Entgegensetzung von Sein und Nichts mit ihrem Fortgang zum Werden nur möglich sind, wenn diese Bestimmungen und Verhältnisse unmittelbar ineinander sind und als noematische Momente der Dialektik selbst verstanden werden; nur wenn dies substituiert wird, läßt sich begründen, warum Sein und Nichts nicht nur bedeutungsgleich, sondern zugleich entgegengesetzt sein sollen. Der Anfang der Hegelschen Ontologie enthält also nicht bedeutungsreiche, voneinander abgegrenzte Gedankenbestimmungen oder Kategorien, sondern nichts anderes als noematische Momente der dialektischen Bewegung selbst, die unmittelbar nicht bloß ineinander übergehen, sondern je schon ineinander übergegangen sind. Hier werden als Gedankeninhalte Momente der reinen dialektischen Bewegung auf dem Niveau ihrer einfachsten Unmittelbarkeit als Übergegangensein gedacht.5 Wenn die spezifische Dialektik der Seinskategorien nach Hegel das „Übergehen“ der einen in die andere bedeutet, dann bildet das jeweilige schon Übergegangensein des einen Moments in das andere eine erste Anfangsstufe dazu. Solche Dialektik auf der Grundstufe erster, völlig einfacher Unmittelbarkeit oder Anfänglichkeit wird in den Momenten: Sein, Nichts, Werden gedacht. Damit ist aber der reine Begriff des Seienden als Grundbestimmung einer Ontologie noch nicht erreicht. Das Werden differenziert sich nach Hegel in Entstehen und Vergehen und geht in das Dasein als deren höhere Einheit über. Erst daraufhin entwickelt Hegel das Etwas oder das Daseiende als ontologische Grundkategorie; und erst hiermit wird ein Bestimmtes und Bestehendes gedacht. Dieses muß in seiner Komplexion von Bedeutungsgehalten allererst hergeleitet werden; die ihm vorangehenden Bestimmungen bedeuten daher nichts Bestehendes und Abgegrenztes, sondern sind offenbar freischwebende Seins- und Ereignisweisen, die sich erst zu der synthetischen Einheit eines bestimmten Bestehenden, des Etwas, zusammenfügen müssen und dieses dann konstituieren. Dieses Etwas entspricht nach Hegels Anspielungen in der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik 6 offenbar dem Seienden, dem on, in
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klit behandelt; beide gelten als gleichzeitig wirkende Denker; dieser historischen Auffassung folgt Hegel. Vgl. die Hinweise auf die methodische Bedeutung des Anfangs in Hegels Logik bei H.-G. Gadamer: „Die Idee der Hegelschen Logik“. In ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen 21980, bes. 74 ff; ausführlicher L. Lugarini: Orizzonti hegeliani di comprensione dell’essere. Rileggendo la Scienza della logica. Napoli – Milano 1998, 133-177. Zu den Grundformen der Dialektik vgl. R. Schäfer: „Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen“. In: Hegel-Studien. Beiheft 45. Hamburg 2001, bes. 295-322. Vgl. GW 21, 102-106. Hegels Deutung von Platons Sophistes folgen nicht im einzelnen, aber in der Grundrichtung H.-G. Gadamer: „Hegel und die antike Dialektik“. In ders.: Hegels Dialektik (s. vorige Anm.), 7-30, bes. 21 ff; G. Duso: “L’interpretazione hegeliana della contrad-
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Platons Sophistes, d.h. der Grundbestimmung der Ontologie. Da es nun eine bestimmte, mit sich identische Bedeutung haben soll, muß es als ein Identisches gedacht werden, was sich auf Platons tauton beziehen läßt. Dieses bestimmte Etwas als Identisches aber muß abgehoben werden von dem ihm Entgegengesetzten, das es nicht ist. Dieses erweist sich nicht nur als das kontradiktorisch entgegengesetzte Nicht-Etwas; vielmehr wird, was mehrfach kritisiert, aber nicht präzise gesehen wurde, in die Bedeutung jenes Entgegengesetzten der Inhalt der allgemeineren Sphäre, aus der es hervorging, aufgenommen, hier der Inhalt des Daseienden. So entsteht in klarer Konzeption das konträr Entgegengesetzte, das über die bloße Entgegensetzung hinaus einen bestimmten Inhalt hat; dasjenige Nicht-Etwas, das ein Entgegengesetztes zum bestimmten Etwas und selbst ein Daseiendes ist, ist das Andere. Hegel bezieht sich hierbei ausdrücklich auf das Verschiedene, to heteron oder thateron, in Platons Sophistes als eine der obersten, allgemeinsten Gattungen, interpretiert es aber ganz in seinem Sinne. Da das bestimmte Etwas und das Andere jeweils nur Andere füreinander sind, bleibt nicht eine Bedeutung des Etwas, sondern allein die Bedeutung des Anderen als solchen, nämlich des in sich selbst Anderen, des „Anderen an ihm selbst“ zurück. Dies aber enthält die Entgegensetzung in sich selbst, was Platon gemäß dem von ihm konzipierten und beachteten Satz vom Widerspruch im Sophistes gerade zurückweist. An dieser Gedankenentwicklung zeigt sich, daß Hegel bewußt ontologische Grundbestimmungen – hier aus der ersten reinen Ontologie innerhalb der Philosophiegeschichte in Platons Sophistes – in seine Kategorienentwicklung aufnimmt, nämlich Daseiendes oder Etwas überhaupt, bestimmtes Etwas als Identisches, Anderes und Anderes als solches oder an ihm selbst und sie gemäß seiner Dialektik von Seinskategorien entwickelt. Weder aber sind diese Bestimmungen für ihn wie für Platon oberste, unableitbare Gattungen; denn sie werden hergeleitet; noch haben sie Bestand nebeneinander, indem sie – wie bei Platon – aneinander teilhaben; sie werden vielmehr gemäß der Dialektik von Seinskategorien entwickelt, so daß eine in ihrer Bedeutung in die andere „übergeht“. Dabei begeht Hegel in kontrollierter Weise, wie geschildert, den Widerspruch, den Platon durch die Teilhabe der ihre Bedeutung wahrenden Gattungen aneinander gerade vermeidet. So begründet Hegel eine ungewöhnliche dialektische Ontologie, die eine völlig neuartige Entwicklung der generellen ontologidizione nel Parmenide, Sofista e Filebo“. In: Il Pensiero 12 (1967), 206-220; R. Bubner: „Dialog und Dialektik oder Plato und Hegel“. In ders.: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980, 124-160; auch – mit Kautelen – J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l’idéalisme allemand (1770-1830). Paris 1979, bes. 292 ff. Zu weiterer Literatur mag verwiesen werden auf die Darlegung des Verfs. in Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, 55 ff, zur differenzierenden Interpretation 74-96, vgl. auch vom Verf.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 15 (1980), 95-150, bes. 110 ff, 135 ff, und Hegel e l’antichità classica. A cura e con una postfazione di S. Giamusso. Napoli 2001, 33-52. Vgl. ebenso G. Movia/R. Milan: “Sulle determinazioni della riflessione in Platone e in Hegel”. In: Hegel e Platone. Hrsg. von G. Movia. Cagliari 2002, 435-451.
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2. ONTOLOGIE UND SPEKULATIVE THEOLOGIE IN HEGELS LOGIK
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schen Bestimmungen enthält, nämlich hier durch die Dialektik des Übergehens einer ontologischen Bestimmung in die nächste.
2. Ontologie und spekulative Theologie in Hegels Logik Ob diese neue Ontologie Hegels als Lehre von den reinen Bestimmungen des Seins, des Seienden und des Wesens universalistische Ontologie ist und allgemeine Grundbestimmungen bzw. kategoriale Bedeutungen für alles Seiende liefert, es mag unbelebt, belebt oder geistig sein, oder ob sie paradigmatische Ontologie ist, die ihre ontologischen Bestimmungen am Begriff des höchsten Seienden, nämlich Gottes, orientiert, läßt sich aus den bisherigen Erörterungen noch nicht entnehmen. Ebensowenig ist bisher entschieden, ob diese neue Ontologie realistische Gegebenheitsontologie oder idealistische Konstitutionsontologie ist. Diese Ontologietypen sollen hier nur zur plastischeren Hervorhebung des Profils von Hegels Ontologie dienen. Nun erklärt Hegel in der Logik der Enzyklopädie: „Das Sein selbst sowie die folgenden Bestimmungen nicht nur des Seins, sondern die logischen Bestimmungen überhaupt können als Definitionen des Absoluten, als die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden ... Denn Gott metaphysisch definieren, heißt dessen Natur in Gedanken als solchen ausdrücken.“ 7 Demnach sind für Hegel offenbar bereits die einfachen ontologischen Bestimmungen – jedenfalls die erste und die vereinigende dritte in einer besonderen Kategoriensphäre, während die zweite Bestimmungsstufe, die Entgegensetzungen enthält, immer Ausdruck der Endlichkeit ist – schon definitorische Bestimmungen des Absoluten oder Gottes. Auch die Bestimmungen des Seins und des Seienden also sind schon reine Gedankeninhalte, die wesentliche Momente Gottes bedeuten. Doch ist damit die Ontologie nicht insgesamt schon spekulative Theologie; das Verhältnis beider zueinander wird sich in Hegels Theorie als wesentlich differenzierter erweisen. Zunächst stellt sich hierzu der Einwand ein, daß Hegel in den einleitenden Erörterungen der Wissenschaft der Logik, wie betrachtet, doch erklärt, ,Gott‘ könne nicht am Anfang der spekulativen Logik stehen. Daß die anfänglichen und auch die ihnen folgenden ontologischen Bestimmungen eine spekulativtheologische Bedeutung haben können, läßt sich offenbar aus ihnen selbst nicht entnehmen. – In diese Argumentationsrichtung gehören auch Hegels 7
GW 20, 121 (Enzyklopädie. 31830, § 85). Vgl. zum Problem der „Definitionen des Absoluten“ H.F. Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003, 106 ff. Zum mit solchen „Definitionen des Absoluten“ sich stellenden Problem des Verhältnisses von Ontologie und Theologie vgl. hier und im folgenden auch vom Verf.: „Ontologische Bestimmungen als Prädikate des Absoluten? Zum Verhältnis von Ontologie und Theologie bei Hegel“. In: Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für J. Aertsen. Hrsg. von M. Pickavé. Berlin – New York 2003, 676-691. Darin werden auch systematische Bezüge zu mittelalterlichen Transzendentalienlehren skizziert.
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KATEGORIEN ALS BESTIMMUNGEN DES ABSOLUTEN?
Bemerkungen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, daß man etwa die ontologischen Bestimmungen in Platons Parmenides wie Einheit, Vielheit, Sein, Nichtsein und dergleichen nicht sogleich als theologische Bestimmungen des Absoluten auffassen dürfe.8 Zwar ist Hegel der Auffassung, daß die negativ bleibende Dialektik im Platonischen Parmenides, die der späte Hegel wieder stärker hervorhebt, zu Recht von den Neuplatonikern positiv und metaphysisch ergänzt wurde. Es kann nach seiner eigenen Dialektik nicht bei der bloß negativen und aporetischen Seite bleiben. Aber die Neuplatoniker, insbesondere Proklos, betrachteten dabei nach Hegel jene ontologischen Bestimmungen sogleich theologisch, nämlich als Bestimmungen des „absoluten Wesens“. Diese Deutung setzt voraus, daß man Proklos’ Lehre vom unerkennbaren, überseienden Einen, nämlich dem ersten Gott als positive Theologie ausführen könne und müsse. Proklos erklärt, daß ontologische Bestimmungen nicht nur vom überseienden, unerkennbaren und unaussagbaren Einen negiert, sondern daß auch diese Negationen vom Einen wieder abgehalten, insofern negiert werden müssen, damit von ihm auch keine negativen Aussagen gelten. Hegel aber erblickt darin seine Konzeption von Negation der Negation, die ein positives Resultat hat. So ist er der Auffassung, Proklos lehre von Gott oder vom Absoluten, daß es in grundlegenden ontologischen Bestimmungen erfaßt werden könne. Solche ontologischen Gottesbestimmungen finden sich in vergleichbarer Weise später z.T. bei Meister Eckhart oder bei Spinoza; wenn man die Lehre des späten Heidegger nicht wie er selbst aus der Metaphysik herausnimmt, versucht gerade er, den gründenden Grund des Daseins, den unbekannten Gott rein ontologisch zu verstehen. – Aber Hegel wendet sich gegen solche Theorien, die die ontologischen Bestimmungen von vornherein theologisch, also als Bestimmungen Gottes ansehen. So scheint Hegel schwer miteinander zu vereinbarende Auffassungen zu vertreten. Zum einen erklärt er, die spekulative Logik könne nicht mit dem Begriff Gottes anfangen; die ontologischen Bestimmungen seien von sich her nicht als Begriffe Gottes zu erweisen. Zum anderen hebt er hervor, auch die ontologischen Bestimmungen, die nicht bloß anderen entgegengesetzt sind, sondern eigene positive Bedeutung haben, seien schon definitorische Bestimmungen des Absoluten oder Gottes. Eine grundsätzliche Lösung dieses Problems, das zentral das Verhältnis von Ontologie und spekulativer Theologie betrifft, läßt sich aus Hegels Konzep8
Vgl. G.W.F. Hegel: Theorie-Werk-Ausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 19, 83, 84, auch 28. Zu Hegels im folgenden dargelegter kritischer Stellungnahme zu Proklos vgl. 469 ff. Vgl. auch G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes. Hrsg. von G. Lasson (1930). Hamburg 1966, 85. Zu Hegels Proklos-Deutung vgl. vor allem W. Beierwaltes: „Hegel und Proklos“. In ders.: Platonismus und Idealismus. Frankfurt a.M. 1972, 154-187, und J. Halfwassen: „Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung“. In: Hegel-Studien. Beiheft 40. Bonn 1999, 386-462, zur positiven Umdeutung der Proklischen negativen Dialektik des Einen durch Hegel bes. 414 ff.
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2. ONTOLOGIE UND SPEKULATIVE THEOLOGIE IN HEGELS LOGIK
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tion folgendermaßen entnehmen: Die Bestimmungen des Seins, des Seienden und des Wesens in Hegels neuer Ontologie haben von sich aus und für sich selbst betrachtet nur ontologische, keine theologische Bedeutung. Aus den reinen „Kategorien“ in Hegels Sinne des Seins, des Seienden und des Wesens, wie die objektive Logik sie darlegt, läßt sich nicht eine noch höhere Bedeutung entnehmen, der gemäß sie Bestimmungen Gottes sein könnten. – Doch müssen diese Kategorien, was Hegel an Kants Kategorienexposition vermißt, systematisch entwickelt werden. Dies geschieht bei Hegel durch den notwendigen dialektischen Fortgang. Die dialektische Entwicklung der Kategorien aber bedeutet von Stufe zu Stufe eine Sinnanreicherung, eine Sinndifferenzierung sowie eine Steigerung der Komplexität der Bedeutung von Kategorien. Dies führt dazu, daß die Kategorien des Seins und des Seienden, die in sich einfache, nichtrelationale Bedeutung haben, schließlich in sich selbst Verhältnisse ausbilden und zu Relationskategorien werden. Diese werden von Hegel ausgeführt als Bestimmungen des Wesens. Hierzu gehören z.B. die Bestimmungen des Einen Absoluten im Verhältnis zu seinen Attributen und Modi oder die Bestimmung der Einen Substanz im Verhältnis zu ihren Akzidentien. Bei beiden Wesenskategorien steht für Hegel historisch der Pantheismus Spinozas im Hintergrund. Auch diese Bestimmungen aber haben für Hegel lediglich wesens- oder relationsontologische Bedeutung, wenn sie nur für sich betrachtet werden; sie reichen nicht schon aus, um Definitionen Gottes zu liefern. – Erst wenn diese Kategorien in der Fortentwicklung mit weiterer Bedeutungskomplexität angereichert werden und wenn die in ihnen gedachte dynamische Relation zur spontanen, selbstbezüglichen Relation des Denkens spezifiziert wird, ist die Sphäre des Begriffs und der Idee erreicht. Diese wird als Weiterführung jener Ontologie in der subjektiven Logik expliziert. Sie führt zu dem Ziel, die intellektuelle Spontaneität des Denkens in vollständiger Selbstrelationalität zu entwickeln; dann „greift“ das reine Denken über die ganze Sphäre der Objektivität „über“, wie Hegel in der Enzyklopädie betont,9 und denkt in der Fülle der Bestimmungen rein sich selbst. Dies ist nach Hegel die metaphysische Bestimmung der vollendeten Idee; in ihr wird begriffen, was Gott in reinem, spekulativ-philosophischem Sinne bedeutet. Die subjektive Logik erreicht ihr Telos also in philosophischer, spekulativer, d.h. rein gedachter Theologie, die zugleich die systematische Erkenntnisgrundlage für das Begreifen des eigentlichen Gottes der Religionen, insbesondere nach Hegel der geoffenbarten christlichen Religion darstellt; und hierin münden für Hegel auch die früheren Versuche der Philosophen in der Philosophiegeschichte, Gott rein begrifflich zu erfassen. Der besondere geschichtliche Bezugspunkt für diese spekulativ-theologische Konzeption der Idee ist für Hegel vor allem Aristoteles’ Lehre von der
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GW 20, 218 (Enzyklopädie. 31830, § 215 Anm.).
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Noesis Noeseos.10 Hier wird Gott philosophisch als solches vollendete und reine Denken seiner selbst konzipiert. Damit befindet sich Aristoteles, wie Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie betont, „auf dem höchsten Standpunkt“.11 Dieses reine Denken seiner selbst deutet Hegel – gemäß seiner eigenen Konzeption – als reines „Ich“ oder besser als absolute Subjektivität, der nichts mehr entgegengesetzt ist, die alle Objektivität als die von ihr gesetzte begreift. Mit Bezug auf die Fortsetzung der Aristotelischen in der Plotinischen Lehre vom rein sich denkenden, göttlichen Nous, die aber ganz „aristotelisch“ sei,12 deutet Hegel an, was das reine Denken seiner selbst inhaltlich denkt; es sind die Ideen, ja die „intellektuelle Welt“. In Hegels eigener Theorie denkt das reine Denken seiner selbst inhaltlich die verschiedenen Gedankenbestimmungen und Kategorien als Momente seiner selbst. Aber es findet diese nicht etwa als ewig bestehende vor, sondern es konstituiert sie allererst aktiv durch seine reine produktive Spontaneität. Hegel deutet Aristoteles’ Ausgehen von der Prävalenz der Ideen bzw. des Gedachten im göttlichen Nous um in ein Begreifen der vorrangigen göttlichen, produktiven Tätigkeit; diese kann nur von der konstituierenden, kreativen absoluten Subjektivität vollzogen werden, die sich im Durchgang durch alle von ihr hervorgebrachten Gedankenbestimmungen als ihren Momenten selbst erfaßt. So deutet Hegel den aristotelischen göttlichen Nous um in absolute, produktive, sich selbst denkende Subjektivität. Die absolute Idee, mit der die spekulative Logik schließt, ist für Hegel in methodischer Hinsicht die Dialektik, die alle reinen Gedankenbestimmungen und deren Entwicklungszusammenhang konstituiert;
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Dazu gehört: Die wahre Subjekt-Objekt-Übereinstimmung: „das bin Ich“ (Theorie-WerkAusgabe, a.a.O. [Anm. 8], Bd. 19, 165). Vgl. hierzu bes. W. Kern: „Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des Aristotelischen ’Nous’ in Hegels ’Geist’“. In: Philosophisches Jahrbuch 78 (1971), 237-259. Vgl. ebenso La question de Dieu selon Aristote et Hegel. Hrsg. von T. de Koninck und G. Planty-Bonjour. Paris 1991 (Aufsatzsammlung); A. Ferrarin: Hegel and Aristotle (zuerst ital. 1990). Cambridge 2001, bes. 67 f, 118 ff, 312 ff u.ö.; erlaubt sei auch der Hinweis auf die Darlegungen des Verfs.: „Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der ’Philosophie’“. In: Hegels enzyklopädisches System. Hrsg. von H.Chr. Lucas, B. Tuschling und U. Vogel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 443-458, auch ders.: „Ontologie bei Aristoteles und Hegel“. In: Hegel-Studien 32 (1997), 61-92. Theorie-Werk-Ausgabe, a.a.O. (Anm. 8), Bd. 19, 165. Auch in der Wissenschaft der Logik spricht Hegel z.B. vom „sich begreifenden Begriff “, der der „göttliche Begriff “ ist, oder von der spekulativen Logik als der „Darstellung Gottes“ vor Erschaffung der Welt (GW 12, 252 f; GW 11, 21; GW 21, 34). Theorie-Werk-Ausgabe, Bd. 19, 451, vgl. 453. Auch Aristoteles gibt schon Ideenbestimmungen an, in denen der göttliche Nous sich selbst denkt (vgl. Metaphysik. 1072a30-1072b1), was dann Plotin grundsätzlicher ausführt. Vgl. zu Hegels Auslegung von Plotins Nous-Lehre bes. J. Halfwassen, a.a.O. (Anm. 8), 365-386. Vgl. ebenso die früheren Darlegungen von W. Beierwaltes: „Plotin im deutschen Idealismus“. In ders.: Platonismus und Idealismus, a.a.O. (Anm. 8), 83-153, bes. 144 ff; V. Verra: Dialettica e filosofia in Plotino (zuerst: 1963). Milano 21992, 83-96; erlaubt sei auch der Hinweis auf die Darlegung des Verfs. in: Hegel und die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 6), 142-151, auch 132-142.
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2. ONTOLOGIE UND SPEKULATIVE THEOLOGIE IN HEGELS LOGIK
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sie ist in metaphysischer Bedeutung der vollendete, reine Begriff Gottes als absoluter, sich selbst spontan und produktiv denkender Subjektivität.13 Aus dieser philosophischen, spekulativen Theologie geht nun zum einen hervor, daß von der absoluten Idee aus als reinem, sich in den Kategorien erfassenden Denken auch die vorangehenden ontologischen Kategorien eine spekulativ-theologische Bedeutung erhalten; sie erweisen sich als noematische Momente, in denen die Idee oder die absolute Subjektivität sich selbst denkt. Dies gilt auch für Sein, Nichts, Werden als noematische Momente der Dialektik in ihrer ersten Unmittelbarkeit oder für das Etwas, das Hegel den „Anfang des Subjekts“ 14 nennt. Die ontologischen Bestimmungen, die für sich selbst keine theologische Bedeutung haben, erhalten diese also schließlich durch das produktiv-spontane reine Denken seiner selbst. Daraus wird aber zum anderen deutlich, daß es von den rein ontologischen Bestimmungen bis zum hochentwickelten und differenzierten sowie komplexen Denken seiner selbst ein weiter kategorialer Weg ist, der systematisch nicht erspart werden kann. Die in sich einfachen Bestimmungen des Seins und des Seienden sowie die relationalen Wesensbestimmungen enthalten für sich noch kein Denken, erst recht kein Denken seiner selbst in ihrer Bedeutung; der dialektische Entwicklungsgang muß erst durch stetige methodische Bedeutungsanreicherung dahin führen. – Auf diese Weise lassen sich offensichtlich Hegels divergierende Aussagen vereinbaren, die ontologischen Bestimmungen seien einerseits nicht schon theologisch, oder der Begriff Gottes könne nicht am Anfang der Logik als Ontologie stehen, und andererseits, die Kategorien, auch diejenigen des Seins oder des Seienden seien bereits definitorische Bestimmungen Gottes, nämlich im konstituierenden Denken seiner selbst. Hegels eigene Ontologie und seine eigene spekulative Theologie handeln also nicht von verschiedenen Gegenständen; der Unterschied zwischen ihnen ist vielmehr wesentlich methodisch. Die dialektische Entwicklung muß allererst von den einfacheren ontologischen Bestimmungen zu den wesentlich bedeutungsreicheren und komplexeren der spekulativen Theologie hinführen. Dann erweisen sich auch die ontologischen Bestimmungen als Bestimmungen der reinen, göttlichen, sich denkenden Subjektivität. Dieses göttliche Denken seiner selbst ist somit das vollendete Paradigma, auf das alle ontologischen Bestimmungen in ihrer stufenartigen Bedeutungsanreicherung hinsteuern. Hegel vertritt mit der Theorie dieses rein methodischen Verhältnisses von Ontologie und Theologie also letztlich den Grundtypus einer paradigmatischen Ontologie. Ferner zeigt Hegels Theorem der aktiven, produktiven Konstitution der Kategorien, auch derjenigen des Seins, des Seienden oder des Wesens, daß er nicht den Grundtypus einer realistischen Gegebenheitsontologie, sondern den Grundtypus einer idealistischen 13
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Vgl. auch unten Anm. 18. Zur detaillierteren Ausführung hierzu sei der Hinweis auf die Schrift des Verfs. erlaubt: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik“. In: Hegel-Studien. Beiheft 15. Bonn 31995. GW 21, 103; unbestimmter GW 11, 66.
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Konstitutionsontologie verficht. Auch dies aber ergibt sich erst aus der spekulativen Theologie in der Logik der Subjektivität und ihrer Lehre vom produktiven, konstituierenden Denken seiner selbst. Doch stellt sich nun die Frage, wie das reine Denken, das solche Ontologie und Theologie betreibt und dabei selbst dialektisch vorgehen muß, d.h. das spekulative Denken sich überhaupt artikulieren kann. Dies kann nicht lediglich in Sätzen oder in Urteilen geschehen, die mit ihren Entgegensetzungen von Subjekt und Prädikat oder anderen Relationsgegensätzen nach Hegel immer in der Sphäre der Endlichkeit verbleiben. Urteile wie: „Gott ist das Sein“ oder „ist das Seiende“ oder „ist Substanz“ sind unfähig, Gott in der Fülle seiner Bedeutung zu erfassen, und zwar nicht nur, weil solche ontologischen Kategorien ihn nicht vollständig angemessen bestimmen, sondern auch, weil sie als Prädikate in Urteilen auftreten, in denen Gott als logisches Subjekt, nämlich als einfach und bewegungslos Zugrundeliegendes fungiert. Die Sphäre solcher fixierenden Trennung und damit Endlichkeit muß überwunden werden; das spekulative Denken muß die dialektische Bewegung nicht nur innerlich ausüben, sondern auch artikulieren, die es thematisch in der Entwicklung der Kategorien in Ontologie und Theologie denkt.15 Dies gelingt nicht in einem und auch nicht zwei aneinandergereihten Sätzen oder Urteilen, die Identität und Unterschied aussagen sollen; es gelingt nur, thesenartig gesagt, in einem spekulativen Schluß bzw. in einem synthetischen Zusammenhang mehrerer spekulativer Schlüsse. Ein spekulativer Schluß ist nicht ein formallogischer traditioneller Schluß, der Ober- und Unterbegriff durch einen Mittelbegriff verbindet; hierbei werden nur diskursive Begriffe als analytische, abstrakte Identitäten von sonst vielfältig verschiedenen Besonderheiten, die darin nicht enthalten sind, verbunden; der Mittelbegriff ist dann von Ober- und Unterbegriff getrennt und gleichsam nur Punkt des Übergangs vom einen zum anderen. In einem spekulativen Schluß dagegen ist der Mittelbegriff für Hegel synthetische Einheit von Ober- und Unterbegriff als seinen Momenten; er muß daher nicht als dis15
Zu Hegels Lehre vom spekulativen Satz in der Vorrede der Phänomenologie, der als logischgrammatischer Satz nicht formulierbar ist, vgl. GW 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, 42 ff. Zu Hegels Lehre vom spekulativen Satz sei aus den zahlreichen Untersuchungen nur verwiesen auf W. Marx: „Absolute Reflexion und Sprache“. In: Wissenschaft und Gegenwart 38. Frankfurt a.M. 1967, auf R. Heede: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Diss. Münster 1972, 205-254, auf die detaillierte Darstellung von G. Wohlfart: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin – New York 1981, bes. 184-221, auf die problembewußte Darlegung von M. Theunissen: Schein und Sein. Frankfurt a.M. 1978, 54 ff, sowie auf die perspektivenreiche Interpretation von Ch.-F. Lau: Hegels Urteilskritik. Systematische Untersuchungen zum Grundproblem der spekulativen Logik. München 2004, bes. 168-192 (der sachliche Gehalt seiner Darlegung ist auch in dieser Frage meiner Auffassung verwandt). Zu spekulativem Satz und spekulativem Schluß bei Hegel sei der Hinweis auf die Darlegungen des Verfs. erlaubt: „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“. In: Hegels Wissenschaft der Logik. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1986, 15-38 (russ. Moskau 1987), auch ders.: „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“, a.a.O. (Anm. 13), 198 ff, 266 ff.
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3. SPEKULATIVE UND CHRISTLICHE THEOLOGIE BEI HEGEL
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kursiv-abstrakte, sondern als konkrete Allgemeinheit verstanden werden; und in weiterer Entwicklung spekulativer Schlüsse zeigt sich, daß alle Termini, also nicht nur der Mittelbegriff, sondern auch der Ober- und der Unterbegriff in einem spekulativen Schluß als konkrete Allgemeinheiten zu konzipieren sind. Am Ende der Wissenschaft der Logik gibt Hegel sogar der Dialektik selbst eine solche spekulativ-syllogistische Struktur;16 in ihr werden in verschiedenen Schritten konkrete Allgemeinheiten durch eine sie vereinigende, höhere konkrete Allgemeinheit verbunden. Ausgesagt wird dies zwar in mehreren Urteilen; aber deren Termini sind nach Hegel Allgemeines, Besonderes und Einzelnes als je schon konkrete Allgemeinheiten, die zu höherer synthetischer Einheit spekulativ-syllogistisch verbunden werden. Hierzu ist jedoch ein diskursives Denken, das auf diskursive oder abstrakte Begriffe als bloß analytische Identitäten angewiesen bleibt, nicht in der Lage; aber auch reine unmittelbare, intellektuelle Intuition oder Anschauung kann dies einerseits wegen des bloß thetischen Anspruchs, den sie erhebt, und andererseits wegen des zu konstituierenden Vermittlungssinns nicht leisten. Das von Hegel beanspruchte spekulative Denken muß in der Lage sein, komplexe, konkrete Allgemeinheiten und syllogistisch-dialektische Vermittlungen solcher konkreten Allgemeinheiten eigens begrifflich zu entwickeln und in logischen Zusammenhängen zu explizieren. Nur dann kann die dialektische Kategorienentwicklung von der Ontologie zur Theologie in Hegels Sinne und zur Idee des reinen, spontanen Denkens seiner selbst führen. Es stellt sich allerdings die Frage, auf die hier nur verwiesen sei, ob Hegel mit diesem zweifellos neuartigen und in intensiven Beweisversuchen dargelegten reinen, spekulativen Denken nicht die menschliche Denk- und Erkenntnisfähigkeit überfordert hat. Gerade dann aber gilt es, Hegels Theorie des spezifischen Verhältnisses von Ontologie und Theologie nicht einfach zu verabschieden, sondern sie als Anregung und als klassische Folie neuer, nicht rein spekulativer, sondern, wie zu zeigen wäre, sittlichpraktisch fundierter, die Lebensentwürfe der Menschen konturierender Versuche der Bestimmung des Verhältnisses von Ontologie und Theologie, und zwar im Rahmen einer Theorie des Denkens mit verhalteneren Erkenntnisansprüchen fruchtbar zu machen.
3. Spekulative und christliche Theologie bei Hegel Hegels Darlegung der Kategorien im o.g. Sinne als Bestimmungen des Absoluten und damit des Verhältnisses von Ontologie und philosophischer, rein spekulativer Theologie bleibt nun nicht eine selbstgenügsame, konsistente, an16
Vgl. hierzu H.F. Fulda: „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise“. In: Dialektik in der Philosophie Hegels. Seminar. Hrsg. von R.-P. Horstmann. Frankfurt a.M. 1978, bes. 154 ff, ebenso L. de Vos: Hegels Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee. Bonn 1983, 119 ff. Vgl. auch vom Verf.: „Syllogistik und Dialektik“ (s. Anm. 15), 15-38.
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sonsten aber realiter folgenlose Gedankenentwicklung. Sie bildet vielmehr die philosophische Grundlage des Begreifens geschichtlicher Religionen und ihrer zentralen Vorstellungen. Die reinen Kategorien und insbesondere die Bestimmungen der Idee erhalten also konkret-reale Bedeutung, insofern sie geschichtliche, kulturell hochentwickelte, aber auch sich wandelnde Gestaltungen, nämlich die Religionen und deren Gottesvorstellungen, insbesondere die Gotteslehre im Christentum und in der christlichen Theologie, vernünftig zu begreifen erlauben. So sucht Hegel die Gottesvorstellungen der geschichtlich aufgetretenen Religionen auf ihren begrifflichen Gehalt hin zu konzentrieren; es sind Naturbestimmungen und bloß ontologische Bestimmungen, die den Varianten der Naturreligion und der Religion der Substantialität zugrunde liegen; es sind Bestimmungen des endlichen, einzelnen Selbstbewußtseins, die der Vielzahl der griechischen und römischen Götter in den Religionen der Schönheit bzw. der Zweckmäßigkeit zugrunde liegen; und es ist der Begriff des Einen Gottes als Geist und absolute Subjektivität, der der christlichen Religion und ihrer entwickelten Theologie zugrunde liegt. Die christliche Theologie wird für Hegel mit dieser Auslegung ihrer Gottesvorstellung selbst spekulativ-vernünftig. Da sich jedoch gezeigt hat, daß die höchste Bestimmung der spekulativen Logik die absolute Idee als reines Denken ihrer selbst in den von ihr konstituierten Bestimmungen, somit die differenzierte und als Subjektivität verstandene aristotelische Noesis Noeseos ist, stellt sich für Hegel das Problem, wie diese rein spekulativ-logische Bestimmung Gottes mit der vernünftig begriffenen christlichen Gottesvorstellung identifizierbar ist; wie kann der Gott des spekulativen Philosophen zugleich der Gott der christlichen Religion sein? Hegels mehrschichtige Antwort auf diese Frage, die in der vorangehenden Geschichte der europäischen Philosophie in ähnlicher Weise öfters gestellt und intensiv erörtert wurde, sei hier kurz skizziert. In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik erklärt Hegel, daß das „Reich“ der „Wahrheit“, nämlich das Reich der reinen Gedankenbestimmungen oder Kategorien, in denen die absolute Idee sich selbst denkt und erkennt, „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“;17 und in den Vorlesungen zur Philosophie der Religion heißt es, damit werde „Gott in seiner Ewigkeit vor Erschaffung der Welt ...“ erfaßt. Das Reich der reinen Wahrheit, nämlich der reinen Gedankenbestimmungen wird damit unter Aufnahme der Trinitätslehre verstanden als das Reich des „Vaters“, der freilich – unabhängig von solchen Vorstellungsbezeichnungen – rein spekulativ-vernünftig gedacht werden muß. Er ist nicht nur der gewußte, sondern der „sich wissende Gott“; „Gott selbst“ ist hier „als die absolute Subjektivität gewußt“.18 Er ist in dieser seiner den17
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GW 21, 34 (2. Aufl.); GW 11, 21 (1. Aufl.); zum folgenden s. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von G. Lasson. Bd. 2. Halbband 2: Die absolute Religion (1929). Nachdruck Hamburg 1966, 30. Enzyklopädie. § 147 Zusatz (Theorie-Werk-Ausgabe. Bd. 8, 291 f). Vgl. GW 12: Wissenschaft der Logik. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 246; hier spricht
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3. SPEKULATIVE UND CHRISTLICHE THEOLOGIE BEI HEGEL
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kenden Selbstbezüglichkeit und Selbsterkenntnis, logisch betrachtet, hochkomplexe konkrete Allgemeinheit, die nicht nur als noematisch Gedachtes, sondern ebensosehr als spontane Denktätigkeit zu verstehen ist. Als unendliche Subjektivität unterscheidet er sich in sich, wird in realer Zeit und Geschichte Welt und, bildlich vorgestellt, „Sohn“ als das logisch begriffene Besondere, das im göttlichen Geist, der in der endlichen räumlich-zeitlichen Geschichte wirksam ist, als Einzelnes, das wieder Allgemeines wird, in das vollendet konkrete Allgemeine zurückkehrt.19 In dieser Weise deutet Hegel den christlichen trinitarischen Gottesbegriff durch seine spekulative Theorie der entwickelten Begriffsbestimmungen des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen, deren synthetische Einheit die rein sich denkende Subjektivität charakterisiert. Nun scheint aber in diesem spekulativ-vernünftigen Begriff Gottes die genuin christliche Bestimmung, die Hegel in seinen Frankfurter Jugendschriften so prägnant hervorhob, zu fehlen, nämlich daß Gott Liebe ist und daß diese Liebe als Einigkeit in den unterschiedenen Menschen gegenwärtig ist. Auch die göttliche Liebe, die Hegel in jenen Frankfurter Jugendschriften noch als vernunftüberlegen und unbegreiflich galt, wird nun spekulativ gedeutet. Sie wird von Hegel als reiner Actus der Subjektivität begriffen, die sich in sich unterscheidet, ja sich entäußert im „Sohn“ und in der Welt, aber darin mit sich einig bleibt. Dies ist sowohl als innertrinitarische Liebe als auch als Gegenwart der göttlichen Liebe in der Welt und in den Menschen zu verstehen. Die Menschen sind auf diese Weise in ihrem endlichen Selbstbewußtsein einig mit der göttlichen Liebe, die in ihnen zugleich göttlicher Geist ist. Die vollendete Weise aber der Erhebung des menschlichen Geistes zum in ihm gegenwärtigen göttlichen Geist ist das reine, spekulative Denken. Aus solchem Begreifen der christlichen Gotteslehre ergibt sich, thesenartig gesagt, dreierlei: Erstens ist das spekulative Denken und für Hegel nur das spekulative Denken und dessen dialektische Entwicklung reiner ontologischer Bestimmungen sowie reiner Begriffs- und Ideenbestimmungen in der Lage, die christlichen Gottesvorstellungen und die christliche Theologie vernünftig
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Hegel vom „innersten Quell aller Tätigkeit lebendiger und geistiger Selbstbewegung“, der „dialektischen Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist; denn auf dieser Subjektivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität und die Einheit, welche die Wahrheit ist“. Vgl. auch Hegels Satz: „So ist das Resultat [sc. der ganzen logischen Entwicklung] das Einzelne, Konkrete, Subjekt“ (248); vgl. dazu auch oben Anm. 13. Vgl. dazu z.B. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, a.a.O. (Anm. 17), 72. Vgl. hierzu und zum folgenden E. Düsing: „Hegels spekulative Deutung der Christologie“. In: Verabschiedung oder naturphilosophische Weiterführung der Metaphysik? Hrsg. von R. Bäumer u.a. Frankfurt a.M. 1990, 371-386; W. Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, bes. 314360; W. Pannenberg: „Der eine Gott als der wahrhaft Unendliche und die Trinitätslehre“. In: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hrsg. von F. Menegoni und L. Illetterati. Stuttgart 2004, 175-185. Zur früheren Literatur über Hegels Trinitätslehre vgl. W. Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels. Darmstadt 1983, 83-110.
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zu begreifen; und dadurch erhält dieses Denken realgeschichtliche Bedeutung. Zweitens zeigt ein solches Unternehmen auf, daß eine neutrale, aufgeklärte, aber abstrakt bleibende Vernunftreligion ohne Bezug auf eine geschichtlichkonkrete, das Selbstverständnis und die Sittlichkeit der Menschen zutiefst prägende Religion unzureichend bleibt; es ist die geschichtlich aufgetretene, in den Menschen konkret wirksame christliche Religion, die für Hegel allein eines spekulativ erfüllten Gottesbegriffs fähig ist. Drittens erweist sich in dieser Deutung des Christentums, daß das spekulative Denken realgeschichtlich, allerdings nicht hinsichtlich seiner selbständigen logischen Begründung und Gültigkeit, hierin seine Herkunft hat. Zwar haben für Hegel schon Aristoteles oder Plotin die höchste spekulative Einsicht prinzipiell erfaßt, daß Gott wesentlich als Noesis Noeseos zu bestimmen ist, die Hegel von seiner Theorie aus als spontane, unendliche Subjektivität deutet. Aber ihnen gelang weder eine methodische und systematische Explikation dieses reinen Gedankenreichs des Absoluten noch eine bestimmungsreiche, begreifende Realisierung dieser Grundkonzeption Gottes in der natürlichen und geschichtlichen Welt. Dazu wurde für Hegel erst der Weg eröffnet durch das geschichtliche Auftreten des Christentums und seiner Lehre vom trinitarischen Gott, der auch in der Welt, im „Sohn“ und im Selbstbewußtsein der Menschen, d.h. als konkret Allgemeines im Besonderen und Einzelnen und damit als Geist und Subjektivität gegenwärtig und wirksam ist. Es ist das spekulativ-dialektische Denken, das dies für Hegel, zwar realgeschichtlich motiviert, aber autonom und nach eigenen Gesetzen und Einsichten begreift.
Schluß Das spekulative Denken, wie Hegel es konzipiert, bringt also eine systematische und methodische, nämlich dialektische Entwicklung von immer komplexer werdenden reinen ontologischen Kategorien und als deren Vollendung von reinen philosophisch-theologischen Bestimmungen zustande in einer paradigmatischen Ontologie. Diese Gedankenentwicklung, die für Hegel das Reich der Wahrheit ist, bildet zugleich das selbständig gültige Fundament für das Begreifen der realgeschichtlichen christlichen Religion und insbesondere ihrer Gotteslehre, die nach Hegels Auffassung eine Präfiguration der spekulativen Theologie bildet. Dies alles gelingt nur, wenn man Hegels spekulativtheologischem Anspruch folgt, das reine Denken könne das Absolute oder Gottes Gedanken vollständig und unverdeckt erkennen. Die Gebundenheit menschlichen philosophischen Denkens an den Zeitablauf oder an natürliche Sprachlichkeit verhüllt nach Hegel nicht den eigentlichen noematischen Sinn solcher göttlichen Gedanken für das menschliche philosophische Denken. Hiergegen sind vielfach Bedenken laut geworden. Hegel beansprucht für sein spekulatives Denken insbesondere die trotz aller subtilen Beweisversuche letztlich nicht erwiesene Gültigkeit zweier schwieriger Thesen, worauf hier
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nur verwiesen sei:20 Erstens läßt sich für Hegel die Einheit einander entgegengesetzter, im Widerspruch befindlicher Bestimmungen als konsistenter Begriff erkennen, der diesen Widerspruch in sich enthält, was gegen den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch verstößt. Zweitens vermag dieses Denken konkrete Allgemeinheit zu erkennen, die das vielerlei Besondere und Einzelne, auf das sie sich bezieht, in sich selbst enthält. Dazu aber ist weder das mathematisch-algebraische, formalanzeigend bleibende noch das diskursive, endliche Denken in der Lage, das nur über abstrakte Allgemeinheiten als analytische Identitäten für sonst vielfältig Verschiedenes verfügt, das nicht darin enthalten ist. Es bleibt letztlich offen, wie rein denkende Erkenntnis konkreter Allgemeinheit für menschlich-endliches Denken zustande kommen soll. So wird man das Hegelsche spekulative Denken wesentlich umgestalten und die Erkenntnisansprüche bescheidener fassen müssen, wenn man an seinen Zielen, nämlich der Begründung einer reinen Ontologie, einer philosophischen Theologie und des Begreifens realgeschichtlicher Religionen festhalten will. Eine Reihe von derzeitigen Richtungen wie die logisch-analytische Untersuchung von sinnlichen Wahrnehmungen und Beobachtungen sei es vorgefundener Gegebenheiten, sei es praktischen Verhaltens und der jeweils dazu gehörigen sprachlichen Äußerungen, ebenso der reduktive Physikalismus bzw. Evolutionismus oder Bemühungen in der Tradition des Skeptizismus oder Nihilismus blenden diese Ziele fast durchgehend aus. Aber ein Denken, das vom Anspruch absoluten Wissens abläßt, kann sehr wohl die Sinngenesen in Sittlichkeit ebenso wie in Kunst und Religion begreifen, die für die Selbstverständnishorizonte des Menschen entscheidend sind, und dafür sinnhafte ontologische und philosophisch-theologische Begrifflichkeiten als Grundlegung entwerfen. Solche Einsichten gilt es, entgegen den Reduktionismen des zwanzigsten Jahrhunderts, auf neuer Basis zu erschließen und zu entwickeln; und die Erinnerung an Hegel sollte zu dieser Aufgabe motivieren und hinführen.
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Zur Beweisführung sei auf die Angaben oben in Anm. 13 verwiesen.
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III. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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Politische Ethik bei Plato und Hegel Für die heutigen Diskussionen um Begründungen einer Ethik muß ein breiteres Spektrum von Fundierungsmöglichkeiten allererst wiedergewonnen werden. Gegenwärtig wird vor allem die Alternative zwischen Utilitarismus und Deontologie mit ihren jeweiligen Spielarten erörtert. In diesen Richtungen werden die Grundsätze der Ethik entweder auf dem Gebiet der ethischen Zweck- und Güterlehre oder auf dem Gebiet der ethischen Pflichtenlehre aufgestellt. Die Bestimmung ethischer Prinzipien auf diesen beiden Gebieten als zentralen Untersuchungsgegenständen einer Ethik kann auf eine lange, variantenreiche Tradition zurückblicken. So suchten z.B. die Stoiker oder Kant in der ethischen Pflichtenlehre die Grundlagen der Ethik; im höchsten Gut als Eudaimonia suchten solche Grundlagen z.B. Aristoteles oder Epikur, in anderer Weise auch Schleiermacher oder aber Mill. Ein drittes zentrales Gebiet ethischer Untersuchung ist die Tugendlehre; werden in ihr die Grundlagen der Ethik gesehen wie etwa von Plato, so entsteht eine von den vorigen unabhängige ethische Prinzipienlehre; auch die englische Gefühlsethik ist in ihrer Theorie von den sittlichen Gefühlen als anthropologisch konstanten Dispositionen sittlichen Handelns mit dieser Art einer Fundierung der Ethik vergleichbar. – Diese Ethikbegründungen, die ihre Prinzipien aus unterschiedlichen Gebieten ethischer Untersuchung entnehmen, sind noch wesentlich zu differenzieren; zum einen können jene Prinzipien empirisch oder rein rational sein; zum anderen können sie – hinsichtlich ihrer Referenz – primär für Individuen oder primär für ein sich organisierendes ethisches Gemeinwesen gelten. Zwischenstufen oder Vermittlungen zwischen solchen Alternativen und unterschiedliche Kombinationen unter den erwähnten Grundkonzepten für ethische Prinzipien vervielfältigen die Möglichkeiten einer Fundierung der Ethik.1 Im folgenden sollen nun Weisen der Begründung und des Aufbaus sowie sittliche Einsichten einer Ethik, die sich primär auf ein sich organisierendes Gemeinwesen bezieht, d.h. einer politischen Ethik in ihren Möglichkeiten und Problemen untersucht werden. Der politische Sinn einer solchen Ethik betrifft dabei – vom Gedanken der Polis-Sittlichkeit her – das sittliche Verhalten der Menschen als Bürger eines solchen Gemeinwesens, sie mögen aktive Politik betreiben oder nicht, sowie das Ethos in diesem Gemeinwesen insgesamt. Zugleich gilt es, Bedeutung und Funktion des Individuums in dem ethischpolitischen Ganzen zu klären. Ebenso muß erörtert werden, ob eine derartige Ethik notwendig holistisch ausfällt, d.h. von der Gemeinschaft als einem sittlichen Ganzen ausgehen muß, das alles ethische individuelle Streben fundiert. Diese Fragen seien an Platos Begründung der Ethik und Hegels Interpretation 1
Vgl. zu diesen Fundierungsmöglichkeiten auch vom Verf.: Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 1 (1976), 39 ff.
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dieser Begründung vor dem Hintergrund seiner eigenen Konzeption einer Ethik erörtert; dabei wird sich jeweils die Stellung jener Ethik-Auffassungen zur Pflichten-, Zweck- und Tugendlehre sowie zur apriorischen im Unterschied zur empirischen Bedeutung der ethischen Prinzipien zeigen. Es war vor allem Hegel, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Platonische Philosophie in ihrem eigenen geschichtlichen Horizont und zugleich in ihrem Wahrheitsanspruch wieder ernst genommen und gewürdigt und damit die weitere Plato-Forschung bis heute beeinflußt hat. Dabei hat er Plato nicht nur interpretiert oder von seiner eigenen Theorie aus umgedeutet, sondern auch durchaus Platonische Einsichten in seine Konzeption aufgenommen. Dies gilt nicht nur für die Lehre vom Schönen, der insbesondere der junge Hegel eine Zeitlang in seinem Hölderlin folgenden ästhetischen Platonismus zugetan war; es gilt vor allem für die Platonische Dialektik und Ontologie, die von besonderer Bedeutung für Hegels spekulativen und methodischen Ansatz war;2 und es gilt auch für Platos Begründung einer politischen Ethik, die Hegel vor allem in seiner Jenaer Zeit in vielem als Vorbild ansah und die er zur Evidenzsteigerung seiner Kant-Kritik in Anspruch nahm; sein späteres Urteil über die Platonische Ethik modifizierte und differenzierte sich mit der Weiterentwicklung seiner eigenen politischen Ethik. Eine selbständige Beurteilung von Hegels Plato-Deutung und eine Darlegung der systematischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Platonischer und Hegelscher politischer Ethik verlangt eine eigene Betrachtung der Lehre Platos. So seien in einem ersten Teil zunächst Probleme der Begründung einer Ethik als Tugendlehre und die Frage nach der Einheit der Tugenden sowie nach der politischen Bedeutung von Tugenden in Platos früheren Dialogen umrissen; Platos Lösung sei dann anhand der Politeia untersucht; dabei soll die Bestimmung der Sittlichkeit der idealen Polis, die Bedeutung des ethisch handelnden Einzelnen in ihr sowie die ontologische Fundierung der Tugenden in Ideen immer im Hinblick auf den spezifisch Platonischen Ethik-Ansatz dargelegt werden. In einem zweiten Teil sei zunächst Hegels Rekurs auf diese Platonische Lehre in den frühen Jenaer Jahren hervorgehoben, die er als Bestätigung seiner holistischen politischen Ethik ansieht, zugleich aber in seiner damaligen spinozistischen Substanzmetaphysik fundiert. Mit der Konzeption einer Theorie der absoluten Subjektivität ändert sich auch Hegels Stellungnahme zu Platos Ethik. So sei dann Hegels differenzierte spätere Deutung, Adaption und Kritik dieser Ethik anhand der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dargelegt und eingefügt in den Horizont von Hegels späterer politischer Ethik. Deren Möglichkeiten und Probleme insbesondere
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Vgl. dazu vom Verf.: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981, 101-117, und – mit weiteren Literaturangaben – vom Verf.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 15 (1980), 95-150.
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hinsichtlich ihrer Integration in eine Staatstheorie und hinsichtlich ihrer metaphysischen Begründung sollen dabei zugleich sichtbar werden.3
1. Platos Begründung einer politischen Ethik als Tugendlehre a. Die Einheit der Tugenden in den früheren Dialogen Platos Ethik ist grundlegend Tugendlehre. An diesem spezifischen Ansatz einer Ethik geht man vorbei, wenn man versucht, sie auf eine Lehre von sittlichen Normen bzw. Pflichten oder auf eine Lehre von sittlichen Zwecken bzw. von einem höchsten Zweck, etwa der Eudaimonia, zurückzuführen.4 Vielmehr ergibt sich für Plato erst aus der Tugend das sittliche Ziel des Lebens und die Vorstellung, wie jeweils gehandelt werden soll. – Für den Aufbau einer Ethik als Tugendlehre ist freilich zuerst erforderlich, daß man den einheitlichen Grund der vielen Tugenden oder deren Prinzip auffindet. Aus diesem muß dann auch das Verhältnis von Tugend und Eudaimonia einsichtig werden, an dessen Klärung Plato in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten besonders gelegen ist. Die Tugenden kommen ferner in Platos früheren Dialogen zwar primär Einzelnen zu; doch kann man aus dem Prinzip der Tugend und aus einzelnen Tugenden entnehmen, daß Tugend in sich selbst in der Regel eine politische Bedeutung hat. Dadurch läßt sich dann eine Tugendlehre als politische Ethik konzipieren und durchführen, wie Plato sie in der Politeia darlegt. In den früheren Platonischen Dialogen stellt Sokrates die Frage, was diese oder jene Tugend, was etwa Tapferkeit, Frömmigkeit oder Gerechtigkeit jeweils ist.5 Die Verwirrung der Gesprächspartner in ihrer Reaktion kann als Anzeichen für die Neuartigkeit der Fragestellung angesehen werden. In kritischem Ausgang von gängigen, traditionellen oder sophistischen Ansichten über Tugenden werden besondere Verhaltensweisen und Haltungen an der zu bestimmenden Tugend erprobt, von der die Dialogteilnehmer voraussetzen, 3
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Das Folgende stellt die Ausarbeitung eines Beitrages über Platos Politeia und Hegels Jenaer Theorie der Sittlichkeit dar, den ich in Nijmegen (1980) und in Dubrovnik (1981) diskutieren konnte. Meinen Gesprächspartnern, insbesondere Adriaan Peperzak, verdanke ich freundliche Anregungen, die ich versucht habe zu berücksichtigen. Es kann dann geschehen, daß man, da man keine klare moralische Normenlehre in Platos Ethik findet, auf einen Eudämonismus in ihr schließt; vgl. den geistreichen, bewußt pointierten Versuch von K.-H. Ilting: „Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik“. In: Vernünftiges Denken. W. Kamlah zum Gedächtnis. Hrsg. von J. Mittelstraß und M. Riedel. Berlin – New York 1978, 420-446. Dessen Auffassung kritisiert, freilich die EudämonismusThese nur modifizierend, H. Reiner: „Platons Begründung der Ethik“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 36 (1982), 223-229. Zu dieser Frage vgl. z.B. E. Kapp: “The Theory of Ideas in Plato’s Earlier Dialogues“. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Berlin 1968, 55-150, bes. 62 ff. Kapp ist allerdings der Auffassung, zur Beantwortung dieser Frage seien eigentlich nur Begriffe, nicht schon Ideen erforderlich.
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daß sie über Prodikos’ Wortunterscheidungen hinaus als identischer Sachgehalt einer gemeinsamen sittlichen Einsicht zugänglich ist. Die Versuche, eine dieser Tugenden zu bestimmen, führen jedoch nicht zu einer Definition, die aufrechtzuerhalten wäre; die Bestimmungen erweisen sich entweder als inkonsistent oder als zu spezifisch oder als zu allgemein. Insbesondere am Schluß solcher Bestimmungsversuche zeigt sich, daß die besondere Bedeutung einer Tugend in Abhebung von den anderen Tugenden nicht festgehalten werden kann. Am Ende des Laches stellt sich heraus, daß die Tapferkeit eine allgemeine Erkenntnis der Güter und Übel, also ein Wissen ist, wie es aller Tugend zukommt.6 Im Euthyphron erscheint das Fromme als ein Teil des Gerechten; es wird jedoch, weil ein Zirkel auftritt, nicht spezifischer bestimmt. Im Gorgias geht die Gerechtigkeit ebenso wie die Frömmigkeit und die Tapferkeit in der Besonnenheit auf. Im Charmides lautet eine Bestimmung, besonnen sei, wer das Seinige tue; dies entspricht der Bestimmung der Gerechtigkeit im vierten Buch der Politeia. Im Charmides geht Plato aber darüber hinweg; diese Bestimmung trifft nicht spezifisch die Besonnenheit. Eine weitere Bestimmung der Besonnenheit im Charmides, nämlich: Sichselbstkennen, erweist sich als unbrauchbar. Sie entbehrt also desjenigen Vorzugs, der insbesondere der Weisheit zukommt, die nach dem Euthydemos anwendbares und glückbringendes Tugendwissen und damit überhaupt das ethisch Gute ist. So zeigt sich bei diesen Versuchen insgesamt, daß die Tugenden keine spezifische Bedeutung gewinnen, daß sie ineinander übergehen oder daß die Tapferkeit, die Besonnenheit oder die Weisheit jeweils für die Tugend überhaupt stehen. Eine isolierte Definition einer Tugend ohne Betrachtung der wechselseitigen Spiegelungen der Tugenden ineinander und vor allem ohne Bestimmung der Tugend insgesamt, d.h. in Platos Ansatz des eigentlichen Grundes der Sittlichkeit gelingt also nicht. Somit stellt sich die Frage nach der Einheit der Tugend in den vielen Tugenden. Ausdrücklich erörtert Plato im Protagoras und dann im Menon, was die Tugend selbst sei. Damit schneidet er das zentrale Problem einer Ethik an, die als Tugendlehre begründet wird; gefragt wird hierbei nach dem Wesen des Sittlichen als solchen. Diese Frage wird von Plato in unterschiedlicher, nämlich grundlegend in dreifacher Weise aufgefaßt, ohne daß er selbst die Unterschiede artikuliert hätte. Erstens fragt Plato, ob jemand, der eine Tugend besitzt, alle Tugenden besitzen müsse, ob z.B. ein Tapferer notwendig zugleich gerecht sei.7 Die Einheit der Tugenden, die Protagoras im gleichnamigen Dia-
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Vgl. dazu W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, 187 ff. Vgl. Protagoras, 329e (die Seitenangaben beziehen sich auf die Plato-Ausgabe von Henricus Stephanus von 1578). Stenzel versteht die Frage nach der Einheit der Tugenden in dieser ersten Weise; vgl. J. Stenzel: „Wissenschaft und Bildung im platonischen Erziehungsbegriff“. In: ders.: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie. Darmstadt 1972, bes. 278 ff. – Zu den verschiedenen Bedeutungen von Einheit in der These von der Einheit der Tugenden vgl. die Unterscheidungen, die z.T. ähnlich wie hier – jedoch ohne die prinzipielle ethische Frage-
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log zunächst bestreitet, die Sokrates aber für erforderlich hält, wird dabei als kollektive Einheit verstanden, die einer Person oder einer Seele zukommt, die tugendhaft, d.h. sittlich sein soll. Das Verhältnis der einzelnen Tugenden zur Tugend selbst wird in diesem Zusammenhang von Plato nach dem Modell des Verhältnisses von Teilen zum Ganzen gedacht, wobei die Teile, also die Einzeltugenden, offenbar als voneinander verschieden anzusehen sind. Zweitens fragt Plato, ob die Einzeltugenden als solche wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. eine Einheit ausmachen, und zwar – was Plato freilich nicht hervorhebt – auch unabhängig davon, ob sie in einer sittlichen Person vereinigt sind. Im Protagoras sucht er zunächst nachzuweisen, daß einerseits Frömmigkeit und Gerechtigkeit und andererseits Besonnenheit und Weisheit nahe verwandt oder eins sind;8 Protagoras, der ursprünglich die These von der realen Verschiedenheit der Tugenden vertreten hatte, gibt dann sogar die nahe Verwandtschaft oder gar Identität aller vier Tugenden zu und sucht nur die Tapferkeit davon zu unterscheiden. Doch auch diese Abhebung gelingt nicht, wie Sokrates zeigt. So gehen die Tugenden ineinander über und sind im Grunde eins. Daher ist es auch nicht von Belang, welche Tugend in den Frühdialogen die Bedeutung der Grundtugend bekommt, in der die anderen enthalten sind. Dieses Übergehen der Tugenden ineinander und deren inhaltliche Identität entspricht freilich nicht genau dem Modell der einzelnen Tugenden als verschiedener Teile eines Ganzen, der Tugend selbst. – Im Protagoras ergibt sich schließlich, daß, wie Sokrates sagt, die Tugend selbst eine Erkenntnis (dðéóôÞìç) ist und daß alle Einzeltugenden in nichts anderem als in solcher Erkenntnis bestehen. Dies ist, verbunden mit der These, daß niemand das erkannte Böse freiwillig tue, ein Intellektualismus in der Ethik. Immerhin deutet Plato jedoch die psychophysische Basis der Tugend speziell bei der Tapferkeit an; im Menon hält er sodann nicht daran fest, daß Tugend notwendig Erkenntnis oder Wissen sei; eine weitere Milderung des Intellektualismus fügt die Politeia durch die Einführung des Mutes (èõìüò) als der Fähigkeit der Durchsetzung bestimmter Tugend hinzu. Im Protagoras bleibt offen, ob die Einzeltugenden, die als Tugenden dort insgesamt Erkenntnis oder Wissen sind, aufgrund der jeweiligen psychophysischen Basis im Menschen bzw. auch aufgrund von unterschiedlichen Handlungskontexten verschieden sind oder ob sie einfach identisch sein sollen. Ferner stellt sich zwar heraus, daß diese Erkenntnis nicht einfach ein Techne-Wissen ist, das empirisch lehrund erlernbar ist;9 aber welcher Art die grundlegend ethische Erkenntnis dann ist, bleibt ebenso offen wie die Vorstellung des Guten, das hier und auch sonst
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stellung – vorgenommen werden, von G. Vlastos: “The Unity of the Virtues in the Protagoras”. In ders.: Platonic Studies. Princeton 21981, 221-265, 427 ff. Vgl. Protagoras, 331a-333b, zum folgenden 349d, 359a-360e. Vgl. zur Problematik der Analogie von Techne und Tugendwissen H.-G. Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles. Heidelberg 1978, 23 f, auch T. Irwin: Plato’s Moral Theory. The Early and Middle Dialogues. Oxford 1977, 6 ff, 24 ff.
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wesentliches Kennzeichen der Tugend ist. Dazu liefert erst die Politeia eine eindeutige Antwort. Drittens fragt Plato nach der fí-ðïëëÜ-Relation, die in seinem Problem der Einheit der Tugend angesichts der vielen Tugenden impliziert ist; sie wird besonders im Menon betont. In der Theorie des mittleren Plato ist dies die Relation des Ideenwissens. Diese Relation ist aber nicht deckungsgleich mit dem Verhältnis von Ganzem und Teilen, obwohl Plato auch hieran im Menon zur Charakterisierung des Verhältnisses der Tugend überhaupt zu den einzelnen Tugenden festhält. Später wird – nach einer differenzierteren Ausbildung der Ideenlehre – im Parmenides (131b-e) anhand des Segeltuchgleichnisses ausdrücklich die Auffassung kritisiert, in den Vielen, für die die Eine Idee gelte, sei diese Idee selbst geteilt. Im Menon bleiben beide Möglichkeiten offen: Zum einen kann die Tugend überhaupt als das åqäïò und die ïšóßá (72bc), wie es ausdrücklich heißt,10 also als die Idee und das Was-sein der einzelnen Tugenden angesehen werden; diese sind, wie man ergänzen kann, erst durch „Teilhabe“ an jenem Einen Eidos selbst Tugenden; ihre Unterschiede untereinander betreffen dann nur die psychophysische Basis im Menschen oder die Situation der Handlung, also für Plato Sinnlich-Unwesentliches. Die Lösung des Protagoras, der dem Menon in vielem unmittelbar vorausgeht, läßt sich in diesen Kontext leicht einfügen. Zum anderen werden die Tugenden als verschiedene Bestandteile der Einen Tugend gedacht. Dabei handelt es sich dann, soll dies konsistent möglich sein, um einen besonderen Fall der fí-ðïëëÜRelation, nämlich um das Verhältnis intellektueller Sachverhalte untereinander, um das Verhältnis von Ideen, so daß die spätere Kritik des Parmenides, die das Verhältnis von Ideen und Dingen angeht, hier nicht zutrifft. Welche Möglichkeit Plato im Menon vorschwebt, ist nicht zu erkennen, da die Frage, was Tugend überhaupt sei, unbeantwortet bleibt. Auch hier schafft die Politeia Klarheit. – Die dortige Lösung ist freilich nicht endgültig; der späte Plato geht im Politikos von einer neuen Bestimmung der Entgegengesetztheit von Tapferkeit und Besonnenheit aus und stellt dann ebenso wie in den Nomoi wieder das Problem des Verhältnisses der vielen Tugenden zur Einen Tugend als Verhältnis von Teilen zum Ganzen auf; dieses Verhältnis kann freilich nicht mehr einfach harmonisch sein, sondern muß eine Verbindung entgegengesetzter Bestandteile enthalten.
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Vgl. zum Verhältnis des Eidos der Tugend zu den vielen Tugenden die Einleitung von R.S. Bluck in seiner kommentierten Ausgabe: Plato’s Meno. Cambridge 21964, 4 ff. Er betont, von Eidos sei hier in Sokratischem, nicht in Platonisch-ontologischem Sinne die Rede ebenso wie im Euthyphron (224 f). Diese Unterscheidung, die auch sonst mehrfach vertreten wird, dürfte nicht nur wegen der historischen Probleme, sondern auch angesichts der Gleichung von Eidos und Ousia im Menon, angesichts des dortigen Unbestimmtbleibens der Tugend und angesichts der Tatsache, daß auch später für Plato die Idee nicht einfach ein „substantialisiertes Ding“ ist, nur schwer aufrechtzuerhalten sein. Dabei bleibt zutreffend, daß nicht alle Bestimmungen der Idee hier zu finden sind (vgl. auch oben Anm. 5).
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In den früheren Dialogen besteht nun in der Tugend und ihren Arten die Sittlichkeit des Einzelnen oder der einzelnen Seele. Dennoch ist der Tugend bzw. den Tugenden ein politischer Sinn immanent; sie betreffen in der Regel ganz selbstverständlich den Einzelnen als Mitglied eines Gemeinwesens, einer Polis. So spricht Sokrates in der Apologie (20b) von der „menschlichen und politischen Tugend“; Protagoras nennt in dem gleichnamigen Dialog als politische Tugenden insbesondere Gerechtigkeit und Besonnenheit, was Plato nicht zurückweist.11In der Erörterung einzelner Beispiele wird deutlich, daß Plato den politischen Sinn der Tugenden in der Regel voraussetzt. Die Gerechtigkeit ist, wie insbesondere der Gorgias zeigt, das Charakteristikum spezifisch sittlichen Verhaltens eines Einzelnen gegenüber anderen Menschen in einem Gemeinwesen. In diesem Dialog ist sie ein Teil der Besonnenheit, die dort als Grundtugend gilt. Doch auch Tapferkeit und sittliche Einsicht oder Weisheit sind, wie aus Platos früheren Dialogen zu entnehmen ist, Tugenden des Einzelnen, die zugleich sein Verhalten in der und für die Polis betreffen. Nur die Frömmigkeit, aufgrund deren Gebührendes den Göttern gegenüber getan wird, bezieht sich, wird sie wie im Gorgias und anders als im Euthyphron als eigene Tugend neben der Gerechtigkeit gedacht, nicht zugleich und notwendig auf andere Menschen und Polis-Bürger; sie ist insofern keine politische Tugend und wird daher in der Politeia nicht als eigene Tugend behandelt. – So sind Tugend und Tugenden in den früheren Dialogen zwar sittliche Bestimmungen des Einzelnen, gelten aber im wesentlichen nicht nur für seine Gesinnung und sein Verhalten zu seinen eigenen sinnlichen Antrieben, sondern zugleich für sein intersubjektives und soziales Verhalten in einer Polis. Doch hat Plato dies dort nicht theoretisch entwickelt. Durch die Tugend ist der Einzelne, der seine eigenen und die politischen Angelegenheiten betreibt, nach Plato nun zugleich glückselig. Nicht einzelne tugendhafte Handlungen erwirken Glückseligkeit (åšäáéìïíßá); vielmehr machen die Tugenden selbst, vor allem, wie Plato im Gorgias hervorhebt, Gerechtigkeit und Besonnenheit als Weisen der Verfassung der Seele, die dadurch gut ist, den Menschen glückselig (504c-d, 507c-e). Plato wird hiermit keineswegs zum Eudämonisten. Man muß nicht etwa auf dem Weg zur Glückseligkeit als Ziel des Strebens Tugenden lediglich als Mittel verwenden oder aber in Kauf nehmen; die Tugenden bilden vielmehr die eigentliche Wesensverfassung, die „Natur“ der menschlichen Seele und werden daher um ihrer selbst willen erstrebt. Indem die Seele diese in ihrer Lebensführung rein verwirklicht und dadurch sich vollendet, ist sie glückselig. Diese Glückseligkeit ist insbesondere nach Platos Konzeption im Gorgias von der Lust am Angenehmen eindeutig unterschieden.12– Plato wendet sich mit dieser Auffassung 11
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Vgl. Protagoras, 322e-323a, 324a. Auch andere Behauptungen des Protagoras in diesem Dialog nimmt Plato positiv auf. Vgl. auch das zurückhaltende Lob im Menon 91d-92a. Vgl. Gorgias, 497d, 499b, auch 470e u.ö. In einem viel interpretierten Abschnitt des Protagoras (351d-358e) vertritt Plato nur scheinbar einen Hedonismus, indem er die Lust und das Angenehme zugleich als das Gute kennzeichnet. Dieser Abschnitt leitet funktional zur Erörte-
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von Glückseligkeit gegen die gängige Meinung und insbesondere gegen die provozierende Ansicht von Sophisten. Diese behaupten, der Stärkere werde glücklich, wenn er seine Macht durchsetze gegen die Schwächeren und die von diesen als gerecht ausgegebenen Gesetze, die nur Konventionen der Schwächeren zum Schutz vor den Stärkeren seien. Solche Machtausübung und solches Glück seien der „Natur“ gemäß. Insbesondere im sog. „Thrasymachos“-Dialog (Politeia I) und im Gorgias legt Plato dar, daß auf diese Weise, nämlich durch Zügellosigkeit und Tyrannei, Glückseligkeit nicht erreicht werden kann. Die Natur und das Wesen des Menschen, speziell der Seele, besteht vielmehr in einer gewissen inneren Ordnung und Harmonie, die Plato psychologisch noch nicht näher kennzeichnet, die er aber ethisch mit Gerechtigkeit und Besonnenheit identifiziert, das heißt, da die Besonnenheit im Gorgias die Grundtugend ist, mit der Tugend überhaupt als der Sittlichkeit.13Plato behält also zwar den Zusammenhang von „naturgemäßem“ Leben und Glück bei, bestimmt jedoch die „Natur“ der menschlichen Seele grundsätzlich neu, nämlich als das Wesen der Seele, das in der Tugend, der Sittlichkeit besteht. Das dem Menschen wesensgemäße Glück kann sich daher nur aufgrund der Realisierung der Tugend einstellen.
b. Die Polis und der Einzelne in der Tugendlehre der Politeia Grundlegende Fragen der Ethik als Tugendlehre, die in den früheren Dialogen noch offenbleiben, werden in der Politeia beantwortet. Daher orientiert sich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bei seiner Darlegung von Platos Ethik und Staatsphilosophie fast ausschließlich an diesem Werk und dessen inzwischen klassisch gewordenen Lehren. Wie diffizil hier Platos eingängig formulierte Lösungen gelegentlich sind, wird freilich erst vor dem Problemhintergrund der früheren Dialoge deutlich.
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rung der Tapferkeit über und legt nur die Meinung der Leute aus; Plato widerspricht insofern seiner sonstigen Ansicht nicht, wie er sie prononciert im Gorgias darlegt. Vgl. dazu B. Manuwald: „Lust und Tapferkeit: Zum gedanklichen Verhältnis zweier Abschnitte in Platons Protagoras“. In: Phronesis 20 (1975), 22-50. Vgl. auch D.J. Zeyl: “Socrates and Hedonism”. Protagoras 351b-358d. In: Phronesis 25 (1980), 250-269. Zu Platos nichthedonistischer Ethik im allgemeinen, in der dennoch das Problem des Glücks berücksichtigt ist, vgl. P. Shorey: The Unity of Plato’s Thought (1903). Reprint Chicago 1968, 20 ff; vgl. auch J.M. Crombie, der Platos unterschiedliche Darlegungen vergleicht und ihm weder Hedonismus noch Antihedonismus unterstellt: An Examination of Plato’s Doctrines. London 31969. Bd. 1, 225-251. Vgl. auch oben Anm. 4. Zur Auseinandersetzung Platos mit dieser sophistischen Theorie vgl. z.B. die allgemeine Darstellung von R.W. Hall: Plato. London 1981, 13-30, auch 31-42, und die spezielle Interpretation des sog. „Thrasymachos“-Dialogs von O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons „Staat“. Bd. 1, Buch I-IV. Zürich – München 1976, 30-88. Zum Gedanken der Ordnung und Harmonie der Seele in Platos Ethik vgl. insbesondere H.J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959, 81 ff und 83 ff.
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In der Politeia wird die Ethik als Tugendlehre nicht nur entworfen, sondern auch durchgeführt. Deutlicher als in den früheren Dialogen wird sie zugleich als politische Ethik konzipiert. Im Zentrum der Erörterung steht – in Fortführung des Gorgias – das Wesen der Gerechtigkeit. Dabei hält der sog. „Thrasymachos“-Dialog, den Plato in seine Politeia als Buch I einfügt, die erwähnte sophistische Argumentation über Macht, „natürliches“ Recht und Glück des Stärkeren als Folie gegenwärtig. Der Übergang von der Betrachtung der Gerechtigkeit des Einzelnen zur Untersuchung der Gerechtigkeit einer Polis erfolgt allerdings nicht durch ein Sachargument, sondern aufgrund der einfachen methodischen Überlegung, daß sich an einem größeren Ganzen wie der Polis die Gerechtigkeit leichter erkennen lasse.14 Auch sonstige ausdrückliche Bemerkungen über das Verhältnis der Sittlichkeit des Einzelnen zur Sittlichkeit der Polis wirken in der Politeia eher beiläufig; dies Verhältnis ist in der Regel freilich immanent gegenwärtiger Bestandteil der Platonischen Lehre von den Tugenden der Polis und des Einzelnen. Die bestehenden griechischen Stadtstaaten geben nach Plato nun keineswegs zu erkennen, was Gerechtigkeit ist, Plato kritisiert auch die oft gerühmten Zustände in Athen zur Zeit etwa des Perikles. Dieser habe die Bürger nicht gerechter und besser, sondern nur begehrlicher, maßloser und wilder gemacht und die Polis in ihrer Machtausdehnung nur aufgedunsen und innerlich brüchig werden lassen; von daher schreiben sich für Plato die Zustände entarteter Demokratie in Athen fort, deren vermeintliche Freiheit er als Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit brandmarkt.15 Wegen dieser Verurteilung der politischen Zustände in Griechenland, die hier nicht näher untersucht sei, muß allererst eine nicht entartete, „naturgemäße“ Polis in Gedanken aufgebaut werden, an der das Wesen der Gerechtigkeit erkannt werden kann. Plato leugnet hierbei keineswegs die sinnlich-natürliche Basis einer Polis, sei es, daß die Menschen, die einzeln zu schwach sind, sich zum Schutz vor äußeren natürlichen Feinden zusammenfinden, wie es Protagoras in dem nach ihm bezeichneten Dialog schildert, sei es, daß sie eine Gemeinschaft eingehen, um in dieser ihre verschiedenartigen Bedürfnisse befriedigen zu können, wie Plato in der Politeia erklärt. Hier zeigt er zugleich, daß zur Befriedigung unterschiedlicher, ja vielfältiger Bedürfnisse Arbeitsteilung geboten ist. Die physische Basis einer Polis muß aber so beschaffen sein, daß sie Ausbildung und Ausübung von Tugend nicht behindert; nur mit Bedenken werden daher in einer größeren Polis 14
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Vgl. Politeia, 368d-369a. Hegel merkt dazu in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an, dies sei eine „naive, anmutige Einleitung“; in Wirklichkeit fordere die „Natur der Sache“, die Gerechtigkeit „im Staate“ zu betrachten (Hegel: Sämtliche Werke. Bd. XIV. Hrsg. von K.L. Michelet. Berlin 1833, 270). Vgl. Gorgias, 515e-519b, Politeia, 496c-497c, 555b-565c. Vgl. zur Kritik im Gorgias z.B. E.R. Dodds’ Einleitung zu seiner kommentierten Ausgabe von Plato: Gorgias. Oxford 1959, 30 ff; zur Demokratiekritik im allgemeinen vgl. R. Maurer: Platons „Staat“ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin 1970, 42 ff, 5059 u.ö.
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Schauspieler, Schweinehirten und notwendigerweise auch Ärzte zugelassen. – Wenn nun der Staat hinsichtlich der physischen Basis und insbesondere hinsichtlich der Verwirklichung von Sittlichkeit in gelungener Weise eingerichtet ist, dann ist er, wie Plato betont, gut, d.h. weise, tapfer, besonnen und gerecht (427e). Die vier Tugenden, die später zu den Kardinaltugenden werden, finden hier also zuerst als Prädikate der Polis Verwendung; sie werden ferner im Prädikat des Guten vereinigt. In der Charakterisierung der einzelnen Tugenden nimmt Plato Bestimmungen der älteren Tradition und der Sophistik auf; allerdings läßt sich wegen der Überlieferungsverluste nicht mehr eindeutig feststellen, in welchem Umfang Plato solche Bestimmungen rezipiert und wo seine Umdeutung und Veränderung beginnt.16 Für Plato jedenfalls dürfte weder die Vierzahl der Tugenden einfach festgestanden haben, da er im Protagoras und Gorgias als fünfte die Frömmigkeit miterörtert, der auch ein eigener Dialog, der Euthyphron, gilt, die dann aber in der Politeia fehlt;17 noch dürfte für Plato das Verhältnis dieser verschiedenen Tugenden zueinander etwas verbindlich Vorgegebenes gewesen sein, da es für ihn in den früheren Dialogen, insbesondere im Protagoras und Menon ein grundsätzliches Problem bildet; noch dürfte Plato die Beziehung der Tugenden auf die Stände der Polis einerseits sowie auf die Seelenvermögen des Einzelnen andererseits, die ihm erst den systematischen Entwurf seiner Tugendlehre ermöglicht und für die es in den früheren Dialogen allenfalls vage Andeutungen gibt, lediglich vorgefunden haben. Die in der Politeia dargelegte Lösung grundlegender ethischer Probleme dieser früheren Dialoge kann kaum hinreichend durch einen Rekurs auf überlieferte oder zeitgenössische Lehren erklärt werden, die Plato ja auch vorher schon bekannt waren. Zwar weist er in der Politeia (435d, 506d) auf die Vorläufigkeit seiner Theorie hin; dennoch liefert er hier seine erste systematische Entwicklung der Ethik. Während im Protagoras Sokrates die Einheit der Tugenden fordert und ihre Identität zumindest in dem ihnen wesentlichen intellektuellen Teil behauptet, nämlich daß alle Tugend Erkenntnis sei, hält Protagoras dort zunächst an der realen Verschiedenheit der Tugenden fest, ohne ihre Einheit als Ganzheit zu bestreiten. In der Politeia führt Plato eher Protagoras’ als Sokrates’ Auffassung aus. Die Tugenden werden hier in ihrer nicht nur scheinbaren Unterschiedenheit mit der Verschiedenheit der Stände einer Polis und dann auch mit 16
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Entgegen der oft vorgenommenen Etikettierung, diese Tugendlehre sei im wesentlichen traditionell, macht Gigon darauf aufmerksam, daß wegen der Überlieferungsverluste die Herkunft nicht mehr eindeutig geklärt werden kann und daß Plato z.B. schon auf den Umstand der Vierzahl besondere Überlegungen richtet; vgl. O. Gigon, a.a.O. (Anm. 13), 467 f. Die beiden möglichen Gründe wurden schon angedeutet. Die Frömmigkeit wird dort nicht expliziert, entweder weil sie ein Teil der Gerechtigkeit ist, wie der Euthyphron (12e) darlegt, oder weil sie keine politische Tugend ist, wenn man ihr eine eigene Bedeutung verleiht, wie man aus dem Gorgias (507b) entnehmen kann. – Die isolierte Erwähnung des Gottgefälligen bedeutet keine Erhebung der Frömmigkeit zu einer eigenen Tugend in der Politeia (vgl. 501c).
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der Verschiedenheit von Seelenvermögen korreliert. Die Tugendlehre in der Politeia zeigt also die realen Differenzierungen des Sittlichen auf, die nicht aus einer Einheit abgeleitet, die aber in einem einheitlichen Ganzen begründet werden. Der erste Vorzug, die erste Tugend einer „naturgemäßen“ Polis ist nun die Weisheit (óïößá). Sie ist nach Plato Wohlberatenheit durch ein Wissen, das die Verhaltensweise und das Gedeihen der ganzen Polis betrifft. Ein solches Wissen kommt nach Plato jedoch nur der Wächterkunst zu; diese kann seiner Auffassung nach nicht von allen, sondern nur von den Mitgliedern eines kleinen Standes in der Polis ausgeübt werden, von den Regierenden, die den ersten Stand ausmachen.18 Plato vertritt damit eine Lehre von Ständen, die feste Institutionen in einer Polis mit ebenso festumrissenen, je verschiedenen Funktionen und Aufgaben sind. So ist nach Plato die ganze Polis weise, wenn ein kleiner Teil ihrer selbst, der erste Stand weise ist. Da dieser aus den Regierenden besteht, ist schon hier erkennbar, daß zur Polis-Tugend als immanenter Bestandteil das ethische Verhalten Einzelner gehört, die Standesmitglieder sind. – Zunächst hatte Plato in der Politeia den ersten Stand noch nicht vom zweiten abgehoben; die zur Regierung Befähigten gehören anfänglich zum Stand der Wächter im allgemeinen. Erst die Auswahl der Herrschenden aus ihnen und die Zuweisung verschiedener Funktionen und ihnen entsprechender verschiedener Tugenden an unterschiedliche Gruppen konstituiert die Trennung des ersten Standes der Regierenden von dem zweiten Stand der Wehrleute. Den Wächtern im allgemeinen noch vor jener Trennung entspricht später in Hegels Jenaer Theorie der Sittlichkeit der erste Stand. Die Tugend der Weisheit stellt Plato voran, da in ihr die Intellektualität der Erkenntnis und des Wissens hervortritt, die für Sokrates im Protagoras die Tugend überhaupt ausmachte. Im Euthydemos ist die Weisheit als Tugendwissen nutzen- und glückbringend, und ihr Besitz ist selbst das Gute. In der Politeia ist diese Tugend des Denkens göttlicheren Ursprungs als die anderen Tugenden, die mit körperlichen Fähigkeiten verbunden sind; auch hier deutet Plato an, daß sie Nutzen bringt (518d-e).19 Sie enthält ein genuin praktisches Wissen, das die verschiedenen, von ihm geleiteten Handlungen erst gut macht. Das Nützliche ist hierbei nicht ein inhaltlich bestimmtes erstrebtes Ziel, zu dem die Weisheit etwa als Mittel führte; es zeigt vielmehr die praktische und ethische Applikabilität jenes Wissens auf vielfältige Handlungen an, die durch ebendieses Wissen sittlich werden und, wenn sie gelingen, worauf die Weisheit ja auch sieht, sittlichen Erfolg und Freude über solchen Erfolg mit sich bringen. Der Inhalt dieses Wissens der Weisheit bleibt zunächst aber relativ 18
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Vgl. dazu und zu dem nichtdemokratischen Charakter dieses Wissens O. Gigon, a.a.O. 469 ff. Vgl. diese Interpretation auch zur Darlegung der weiteren Tugenden der Polis (473-496). Die Bedeutung des Nützlichen im Gedanken der Tugend und des Guten hebt W. Wieland hervor: Platon und die Formen des Wissens, a.a.O. 165 ff. – In der stoischen Ethik wird dies wieder aufgenommen, vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 1948, 120.
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unbestimmt. Da er die ganze Polis betrifft, kann er erst nach Darlegung der Tugenden der Polis, insbesondere der Gerechtigkeit und ihres Grundes, des Guten, klarere Konturen gewinnen. Von ganz anderer, den psychophysischen Vermögen näherstehender Art ist die zweite Tugend der Polis, die Tapferkeit (Píäñåßá). Plato bestimmt sie als die „unverbrüchliche Aufrechterhaltung der richtigen und gesetzlichen Meinung über das, was zu fürchten ist und was nicht“.20 Das zu Fürchtende betrifft inhaltlich nicht physisch, sondern politisch Bedrohliches, nämlich die Verletzung der Gesetze und des Sinnes von Institutionen einer „naturgemäßen“ Polis. An der richtigen und gesetzlichen Meinung darüber festzuhalten in charakterstarkem Beharren bei der Bekämpfung der Bedrohung der Polis von innen oder von außen, ist die Leistung der Tapferkeit. Die Erfüllung dieser Aufgabe in der Polis kommt dem zweiten Stand zu, den Wehrleuten. Diese werden dabei als Sinnenwesen nicht notwendig glücklich; ja sie müssen manchmal für die Polis in den Tod gehen. Die Tapferkeit der Polis beruht somit auf der Tapferkeit von Einzelnen als Standesmitgliedern; deren Leben ist dem Bestand der Polis freilich eindeutig untergeordnet. Es kommt für Plato nicht auf das Glück des Einzelnen, auch nicht eines Standes, sondern auf das Gelingen und damit auch das Glück eines wohlgeordneten ganzen Gemeinwesens an.21 Tapfer also ist die Polis wieder durch einen Teil ihrer selbst, durch die Tapferkeit ihrer Wehrleute.22 Im Laches und im Protagoras hatte Plato die Tapferkeit als ein Wissen und eine Erkenntnis bestimmt. In der Politeia reduziert er, der allgemeinen Auffassung folgend, die er schon im Menon (97b) dargelegt hatte, die Geistigkeit dieser Tugend auf eine „richtige Meinung“ (“ñèx äüîá); diese reicht aus als Anleitung für tapfere Handlungen, für die freilich die erforderliche psychophysische Basis vorhanden sein muß. Richtige Meinung setzt aber Erkenntnis voraus; da die Wehrleute darüber nicht verfügen, müssen sie solche Erkenntnis in anderen, in den Gesetzgebern oder den Regierenden und ihrer Weisheit annehmen. Für Plato bedeutet Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit, was dem neueren, wesentlich durch die Aufklärung geprägten ethischen Verständnis fernliegt, keineswegs notwendig zugleich Autonomie. Die Wehrleute müssen nur der Einsicht fähig sein, daß sie selbst nicht über originäres Tugendwissen verfügen, daß aber, solchem Tugendwissen anderer zu vertrauen und zu folgen, sittlich ist. Irrtum und Mißbrauch solchen Vertrauens kommen in der entworfenen, „naturgemäßen“ Polis nicht vor; wie sie konkret in der politi20
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Politeia, 430b. Übersetzung nach Platon: Der Staat. Übersetzt und erläutert von O. Apelt. Durchgesehen von K. Bormann. Einleitung von P. Wilpert. Hamburg 1961, 149. Plato glaubt allerdings, die Wehrleute leben trotz aller Maßnahmen, denen sie unterliegen, glücklicher und geehrter als selbst die Olympioniken (vgl. Politeia, 465c ff). Die Tapferkeit muß sich nach Plato am meisten im Krieg bewähren; das Unheil des Krieges aber gibt es erst, wenn die Polis erweitert wird (Politeia, 373e). In den Nomoi ist es das Beste, daß der Gesetzgeber seine Gesetze für eine Polis im Frieden geben kann (628c-e); er muß jedoch nach Plato viele Anordnungen des Krieges wegen treffen.
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schen Wirklichkeit zu verhindern sind, bleibt offen. – In seinen späten Schriften hebt Plato dann sogar noch stärker die naturhafte Seite der Tapferkeit hervor, ohne daß sie allerdings darin aufginge. Die dritte, ebenfalls auf naturhafter Basis beruhende Tugend der Polis ist die Besonnenheit (óùöñïóýíç). Sie ist in der Politeia eine Art Harmonie, eine Einstimmigkeit darüber, daß der in seinem Wesen vortrefflichere, nämlich der vernünftige Teil, über den geringeren, nicht vernünftigen in der Polis herrschen soll. Dieser weniger vortreffliche Teil ist insbesondere der dritte, zahlenmäßig größte Stand, der für die Bedürfnisbefriedigung arbeitet und nach Plato daher in der Regel den sinnlichen Bestrebungen und Neigungen verhaftet bleibt. Die Mitglieder dieses Standes, Bauern, Handwerker, auch Geschäftsleute, sind somit selbst nicht des Tugendwissens fähig und können nicht von sich aus autonom die Beherrschung der Begierden garantieren; da ihnen jedoch einleuchtet, daß solche Beherrschung in einer wohleingerichteten Polis erforderlich ist, überlassen sie den Regierenden und denen, die deren Anweisungen ausführen, die vernünftige Zügelung der sinnlichen Antriebe in der Polis, d.h. sie vertrauen sich dem Tugendwissen und der Herrschaft jener an. Die Einstimmigkeit über Herrschen und Beherrschtwerden in der Polis betrifft alle Stände; anders als die Weisheit und die Tapferkeit ist die Besonnenheit also keine bestimmte Standestugend; aber sie ist doch die alleinige Tugend des dritten Standes, der seine Zustimmung gibt zum Beherrschtwerden seiner Bedürfnisbefriedigung durch die Vernünftigen und Einsichtsvollen. Die Tugend der Beherrschung und Mäßigung der Begierden, die natürlicherweise zunächst Tugend eines Einzelnen ist, hat Plato damit als PolisTugend konzipiert. Er hat dabei keine der Bestimmungen der Besonnenheit aufgenommen, die der Charmides erfolglos versucht hat. Die Besonnenheit ist jedoch, obwohl sie die ganze Polis betrifft, auch nicht die Grundtugend, die die anderen Tugenden in sich enthielte, wie im Gorgias; sie bleibt von ihnen vielmehr verschieden. Die Bestimmung im Charmides (161b), besonnen sei, wer das Seinige tue, die Sokrates dort teilweise als unzureichend erweist, ebenso wie die Bestimmung im Gorgias (507a), der Besonnene tue das Gebührende gegen Götter und Menschen, wird in der Politeia jedenfalls hinsichtlich der Menschen der Gerechtigkeit zugeschrieben. Frühere Bedeutungsmomente der Besonnenheit gehen damit in die Gerechtigkeit ein.23 Dies ermöglicht zugleich eine neue, begrenztere Bedeutungsbestimmung von Besonnenheit.
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Daher sucht Larson nachzuweisen, Besonnenheit und Gerechtigkeit seien nicht nur in den Frühdialogen, sondern auch in der Politeia praktisch synonym, was nicht Platos eigener Intention der Differenzierung dieser Tugenden entspricht, vgl. C.W.R. Larson: The Platonic Synonyms, ÄÉÊÁÉÏÓÕÍÇ and ÓÙÖÑÏÓÕÍÇ. In: American Journal of Philology 72 (1951), 395-414; diese Auffassung modifiziert R.W. Hall: Plato (s. Anm. 13), 59 f. (Den Hinweis auf den Aufsatz von Larson verdanke ich Manfred Baum.)
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Die vierte Tugend der Polis, die sich in der Politeia als die grundlegende Tugend erweist, ist die Gerechtigkeit (äéêáéïóýíç). Plato verwendet zu ihrer Erklärung die erwähnte Bestimmung der Besonnenheit im Charmides: Das Seine tun. Diese allgemeine und damals offenbar populäre Idiopragie-Formel erhält bei Plato einen spezifischen Sinn; das Seinige eines jeden Standes in der Polis besteht darin, die ihm zukommende Aufgabe mit der ihm zukommenden Tugend auszuführen und nicht Fremdes zu tun; wenn dies gelingt, dann ist die Polis als ganze wohlgeordnet und gerecht und damit zugleich gut. Die Gerechtigkeit macht also die Vortrefflichkeit und die Tugend der Polis überhaupt aus. – Sie ist für Plato eine Tugend höherer Ordnung. Den anderen Polis-Tugenden verleiht sie erst die „Kraft“ (äýíáìéò), sich auszubilden und dann auch Bestand zu haben (433b); sie ist Bedingung der Möglichkeit und Existenzgrund jener anderen Tugenden. Denn sie ermöglicht und bewirkt einerseits die Trennung der Tugenden voneinander, so daß jede ihrem eigenen Eidos und Wesen gemäß ausgeübt werden kann. Wenn die Stände ihre je spezifische Aufgabe vortrefflich erfüllen und darin jeweils weise, tapfer oder besonnen sind, wenn somit keine Übergriffe auf andere Standesaufgaben stattfinden, dann geschieht dies aufgrund der Gerechtigkeit, die in der ganzen Polis herrscht. Die Gerechtigkeit ermöglicht und bewirkt andererseits die Koordination und das Zusammenwirken dieser verschiedenen Tugenden zu einem Ganzen, der wohlgeordneten Polis.24 Die Einstimmigkeit der Besonnenen über Herrschen und Beherrschtwerden ist davon nur ein spezifischer Aspekt, so daß die Gerechtigkeit in der Politeia der Besonnenheit eindeutig übergeordnet wird. Sie ist der einheitliche Grund der Tugenden, der zugleich die Verschiedenheit ihrer ånäç wahrt. Die frühere Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Verschiedenheit der Tugenden beantwortet Plato in der Politeia also mit seiner Theorie der Gerechtigkeit. Danach ist die Gerechtigkeit nicht nur die Eine Tugend als das Ganze von Teilen, nämlich von Einzeltugenden, sondern zugleich deren Ermöglichungsgrund; danach haben ferner die vielen Tugenden an ihr als der Einen Tugend nicht nur teil, sind in ihr nicht einfach identisch, sondern bleiben real verschieden. Da die Tugenden für Plato zugleich Ideen sind, enthält diese Theorie der Tugenden und insbesondere der Gerechtigkeit zugleich Bestimmungen über das Verhältnis von Ideen untereinander, und zwar von 24
Daß Plato mit dieser Bestimmung der Gerechtigkeit vom traditionellen Gerechtigkeitsverständnis und von der Auffassung anderer Philosophen wie etwa des Aristoteles durchaus entfernt ist, ferner daß Gerechtigkeit der Polis, eines Standes und eines Einzelnen nicht Identisches bedeutet, ist schon oft hervorgehoben worden. Vlastos sucht – z. T. überpointiert – Inkonzinnitäten aufzuweisen, vgl. G. Vlastos: „Justice and Happiness in the Republic“. In: ders.: Platonic Studies. Princeton 21981, 111-139, auch ders.: “The Theory of Social Justice in the Polis in Plato’s Republic”. In: Interpretations of Plato. Hrsg. von H. F. North. Leiden 1977, 1-40. Plato entschieden näher steht Halls Untersuchung, die zugleich eine Vielzahl anderer Versuche berücksichtigt, vgl. R.W. Hall: Plato, a.a.O. 54-80. Zur Einordnung der Bestimmung der Gerechtigkeit in den Zusammenhang des Platonischen Staatsdenkens vgl. J. Derbolav: „Herkunft und Prinzipien des Platonischen Staatsdenkens“ (1964). In ders.: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft. Stuttgart 1979, 18-61, bes. 31 ff.
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nichtkorrelativen, dennoch aufeinander bezogenen Ideen sowohl gleichen als auch unterschiedlichen Ranges; sie enthält damit – nach der späteren Andeutung in der Explikation des Liniengleichnisses – ein exemplarisches Beispiel für Ideendialektik. Der Inhalt des Wissens der Regierenden bzw. eines Staatsmanns kann nun genauer bestimmt werden; dieses Wissen bezieht sich auf die spezifischen Aufgaben der Stände, auf ihre Tugenden und auf das, was sie ermöglicht, die Gerechtigkeit einer Polis. Ein Staatsmann wird sich daher, wie Plato in der Politeia (426e-427a) und im Politikos (294a-c) betont, was Hegel mit Nachdruck aufgreift, nicht mit der Abfassung einzelner Gesetze und Verordnungen über Dinge, die jeder selbst leicht einsieht, und mit deren ständiger Abänderung befassen; denn die Einsicht in das Gerechte berücksichtigt die lebendige Vielfalt der Handelnden und der Situationen, während eine Verordnung, ein Gesetz starr bis zum Unverständigen hin ist. Wenn schon Gesetze in wirklichen Staaten notwendig sind, so wird ein vernünftig Regierender sie nur in allgemeineren Umrissen geben.25 Eine solche wohleingerichtete, gerechte Polis verwirklicht nach Plato, was sie von „Natur“ aus sein kann, und ist damit sowohl gut als glücklich. So werden die Polis-Tugenden und insbesondere die grundlegende Tugend der Gerechtigkeit noch einmal begründet, nämlich im Guten als solchen. In den früheren Dialogen hatte Plato die Tugend immer als gut betrachtet, ohne dies Prädikat in seiner internen Bedeutung näher zu bestimmen. In der Politeia ist damit ein ethischer und ontologischer Vollendungszustand angedeutet, der seinen genaueren Sinn, worauf hier nur hingewiesen sei, erst aus einer allgemeinen Theorie der Idee des Guten gewinnt. Impliziert ist in diesem Vollendungszustand das Glück. Wie im Gorgias hebt Plato auch in der Politeia insbesondere gegen die Sophisten hervor, daß nicht Ungerechtigkeit, sondern nur Gerechtigkeit gut ist und als Folge auch dem Ganzen einer Polis Glück, nämlich Einheit, harmonischen Bestand und Gedeihen sittlichen Lebens bringt. Dies Argument ist nicht eudämonistisch; das Glück ist erst die Folge der Gerechtigkeit einer Polis.26 An diesen Tugenden und insbesondere der Gerechtigkeit der Polis lassen sich als an einem größeren Ganzen nun die Tugenden und speziell die Gerechtigkeit des Einzelnen, wie Plato erklärt, besser erkennen. Die Tugenden des Einzelnen sind denen der Polis analog. Dies ist jedoch noch keine sachliche Bestimmung des ethischen Verhältnisses des Einzelnen zur Polis. Bei der Erörterung der Tugenden der Polis hatte sich schon gezeigt, daß zu ihnen konsti25
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Solche vernünftigen Gesetze beansprucht Plato später in den Nomoi zu geben; sie sollen vor allem die Bürger tugendhaft machen. Er geht hierbei freilich wieder sehr ins einzelne, was Hegel dann verspottet (vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 41955, 15, bezogen auf Plato: Nomoi 790e). Zur allgemeinen Diskussion, ob Platos Ethik einen Eudämonismus bzw. Hedonismus impliziert oder nicht, vgl. oben Anm. 12, auch Anm. 4. Das Glück der Polis wird dabei nicht spezifisch untersucht.
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tutiv die Sittlichkeit von Einzelnen als Standesmitgliedern gehört; sie kommen sogar nur durch die entsprechenden Tugenden der Einzelnen in der Polis zustande. „Denn anderswoher können sie nicht dorthin gelangt sein.“ (435e) Wie bei den Griechen die Wißbegier und bei den Skythen der Mut nur durch die Einzelnen jeweils im ganzen Volk vorhanden sind, so sind auch die Tugenden der Polis nur durch die Einzelnen in diesem Ganzen gegenwärtig.27 Daher fragt es sich, ob Plato – entgegen seiner darstellerischen und methodischen Anordnung – der Sittlichkeit des Einzelnen vielleicht sogar einen Vorrang vor der Sittlichkeit der Polis einräumt. Wie Plato bei der Polis die Tugenden in ihrer realen Verschiedenheit mit den Ständen korreliert, so richtet er sie beim Einzelnen auf die Seelenvermögen aus. Er bleibt freilich nicht bei der inneren Anordnung der Seelenvermögen des Einzelnen stehen; vielmehr weist er jeden Einzelnen einem Stand in der Polis zu. Die Frage, welchem Stand jemand angehört, entscheidet sich daran, welches Seelenvermögen in ihm von Natur aus hervorragt und am meisten ausgebildet ist. Die natürliche Veranlagung ist für Plato somit Grundlage für die Zuordnung zu einem bestimmten Stand, die dann in der Regel für das ganze Leben des Betreffenden gilt, eine Zuordnung freilich, die nach Plato nur die Regierenden vornehmen und bei der der Einzelne im wesentlichen passiv bleibt. Der Ständestaat ist insofern im ganzen festgefügt und immobil aufgrund der angenommenen Konstanz und eindeutigen Bestimmtheit der Natur der einzelnen Standesmitglieder. Diese Auffassung wird Hegel später Veränderungen unterwerfen. Platos Theorie der Sittlichkeit des Einzelnen, die ebenfalls Tugendlehre ist, erhält also ein psychologisch-anthropologisches Fundament,28 das allerdings 27
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Vgl. Politeia, 435e-436a, auch 544d-e. Dieser Gedanke wird in den Interpretationen zwar registriert; es wird jedoch kaum erörtert, daß er allenfalls eine Grundlage für eine erst zu entfaltende Theorie des ethischen Verhältnisses des Einzelnen zur Polis bildet, wofür sich bei Plato wenigstens Ansätze finden. Stenzel geht an diesem Gedanken vorbei (vgl. J. Stenzel: Platon der Erzieher. Mit einer Einführung von K. Gaiser. Hamburg 1961, 111 ff); Maurer sieht hier einen ethischen Primat des Einzelnen (vgl. R. Maurer, a.a.O. [Anm. 15], 74 ff, 192 ff); Gigon vermerkt, Plato behaupte „ungewöhnlich kategorisch“ die Priorität der Einzelseele vor dem Staat (vgl. O. Gigon, a.a.O. [so Anm. 13). 506 f, 497 ff); Popper dagegen glaubt, Plato argumentiere gegen den Individualismus von einem totalitären, kollektivistischen Gerechtigkeitssystem aus (vgl. K.R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. Übers. von P.K. Feyerabend. Bern – München 1957, 31973, 126-168); Barker sieht zwar Ansätze bei Plato für eine Konzeption von Individualität, die Plato aber – insbesondere durch seinen Kommunismus – zunichte mache (E. Barker: The Political Thought of Plato and Aristotle. New York 21959, 102 ff, 153 ff, auch 7 f); differenzierter formuliert Hall eine Paradoxie, nämlich daß für Plato nur in einem gerechten Staat Bürger gerecht werden können und daß nur gerechte Bürger die Gerechtigkeit der Polis zustande bringen (vgl. R.W. Hall: “Justice and the Individual in the Republic”. In: Phronesis 4 (1959), 149-158); auf die im Text genannte Stelle geht er kommentierend ein in Plato (s. Anm. 13), 61. Zuvor hatte er die eigene Bedeutung der Tugenden des Individuums in Abhebung von den Tugenden der Polis aufgezeigt, vgl. Hall: Plato and the Individual. Den Haag 1963, bes. 163-186. Vgl. dazu O. Gigon, a.a.O. 508 ff. Zu Platos Seelenlehre im allgemeinen vgl. P. Shorey, a.a.O. (Anm. 12), 40-49; R.W. Hall: “Øõ÷Þ as Differentiated Unity in the Philosophy of Pla-
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allgemeiner politischer Bedeutung nicht entbehrt. Weise ist danach der Einzelne, wenn das Seelenvermögen der Vernunft in ihm über die anderen Seelenkräfte herrscht und deren Ausübung mit Einsicht und Wissen leitet. Der Vernunft kommt damit in der ganzen Seele die gleiche Funktion zu wie dem ersten Stand in der ganzen Polis; gelingt die Leistung des vernünftigen Seelenteils vortrefflich, so ist der Einzelne mit seiner ganzen Seele weise. Die Parallelität zwischen Seelenvermögen und Stand ist nach Plato inhaltlich fundiert; die Vernunft ist dasjenige Seelenvermögen, das bei den Mitgliedern des ersten Standes am meisten hervorragt und am besten ausgebildet ist. So erhält dies Seelenvermögen ethisch-politische Bedeutung. – In der gleichen Art werden die anderen Tugenden des Einzelnen in ihrem Verhältnis zu Leistungen und Tugenden der Stände und der Polis bestimmt. Tapfer ist der Einzelne, wenn das Seelenvermögen des Mutes (èõìüò) sich der Führung der Vernunft anvertraut und in richtiger Meinung Bedrohliches von der Seele und – wie Plato hinzufügt – auch vom Leibe, also vom Einzelnen insgesamt fernhält (442b-c). Nicht die Vernunft selbst, sondern der ihr folgende Mut, der sich vor allem gegen die Maßlosigkeit und Unvernünftigkeit sinnlichen Begehrens wendet, führt das als sittlich Erkannte aus; anders als Plato es früher nahelegte, vollbringt also der Mut als emotionale Energie die Leistung, daß das Sittliche nicht nur vernünftig eingesehen, sondern gegen eine oft widerstrebende Sinnlichkeit auch durchgesetzt und verwirklicht wird. Durch die vernunftgeleitete, gelingende Leistung des Mutes ist also die ganze Seele tapfer, bewahrt sie im Spannungsfeld ihrer Kräfte in sich die Geltung des Vernünftigen und damit die ihr wesensgemäße Ordnung. Ebenso schützt der zweite Stand die Polis vor äußeren und inneren Bedrohungen und verschafft der vernünftigen Einsicht Geltung. Diesem Stand gehören diejenigen an, bei denen von Natur aus der Mut besonders stark ist; auch der Mut erhält damit seine spezifische Stelle in der wohleingerichteten Polis. – Besonnen ist der Einzelne, wenn die Vernunft in ihm herrscht, wenn der Mut ihr folgt und die sinnlichen Begehrungen sich von ihrer Einsicht leiten und mäßigen lassen; dann besteht Einstimmigkeit in der Seele über Herrschen und Beherrschtwerden. So ist auch der Seelenteil der sinnlichen Begehrungen, sofern sie von der Vernunft geleitet werden, einbezogen in die Tugend der ganzen Seele, die Besonnenheit; es wird nicht ein Seelenteil als der Sittlichkeit a limine nicht fähig vom vernünftigen Ethos ausgeschlossen. Ebenso ist der dritte Stand der Polis besonnen, wenn er sich vernünftig leiten läßt. Zu ihm gehören diejenigen, bei denen der Seelenteil des sinnlichen Begehrungsvermögens am meisten ausgeprägt ist; so wird auch dieser Seelenteil ständisch-politisch lokalisiert. Wie bei der Polis, so besteht auch beim Einzelnen nach Plato die Gerechtigkeit einerseits in der Trennung der Tugenden und der ihnen korrelierten to”. In: Phronesis 8 (1963), 63-82, ebenso T.M. Robinson: Plato’s Psychology. Toronto 1970, bes. 34-58, und auf den Phaidon bezogen M. Fleischer: Hermeneutische Anthropologie. Platon, Aristoteles. Berlin – New York 1976, 32-64, auch 65 ff.
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Seelenvermögen in ihrer Ausübung voneinander, so daß jedes das Seine tut, andererseits in der Koordination und Zusammenordnung dieser real verschiedenen Tugenden und Seelenvermögen zu einer Einheit in der Seele. Auch beim Einzelnen ist sie eine Tugend höherer Ordnung, die erst ermöglicht, daß er tugendhaft in jenen spezifischen Bestimmungen sein kann.29 Trotz der Beispiele, ein solcher Gerechter werde keinen Diebstahl, keinen Tempelraub, keine Unterschlagung begehen (442e-443b), ist der Zusammenhang mit der rechtschaffenen Einhaltung von Gesetzen nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Gerechtigkeit ist wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Tugendlehre mit solcher Rechtschaffenheit oder mit der Gerechtigkeit als einer proportionalen Gleichheit nicht identisch; sie stellt für Plato vielmehr deren Prinzip und Ermöglichungsgrund dar. So kann nur derjenige rechtschaffen sein, in dem nicht die Begierden die Oberhand haben, sondern die allgemein Macht habende Vernunft, der also in prinzipiellem Sinne persönlich gerecht ist. Der Inhalt der vernünftigen Einsicht, der er dabei folgt, ist zugleich intersubjektiv; sie teilt jedem in der Polis das ihm Zukommende zu, d.h. spezifisch: Gleiches dem proportional Gleichen, aber auch Ungleiches dem Ungleichen nach einem höheren Prinzip, in dem die proportionale Gleichheit fundiert ist, der Gerechtigkeit der Polis. Die Zusammenhänge zwischen persönlicher, sozialer und politischer Gerechtigkeit, die man vielfach bei Plato vermißt und die Plato selbst auch nicht expliziert hat, lassen sich auf derartige Weise wohl darlegen. Die Gerechtigkeit ist somit konsistent ausführbares Prinzip der Theorie der Tugenden des Einzelnen wie der Polis. Der vermeintliche Einwand, in Platos Begriff der Gerechtigkeit sei weder die Rechtschaffenheit noch die Gleichheitsproportionalität wie etwa bei Aristoteles enthalten, beschreibt daher im Grunde nur Platos Konzeption der Gerechtigkeit. Will man philosophische Bedenken gegen diese zur Geltung bringen, so muß man sich grundsätzlicher gegen die Platonische Bestimmung der Einheit und des Prinzips der Tugenden, gegen das Verhältnis dieses Prinzips zur Rechtschaffenheit und zur Gleichheitsproportionalität sowie zu den anderen spezifischen Tugenden, wie es aus Platos Andeutungen rekonstruierbar ist, oder auch gegen die ontologische Bedeutung der Tugend-Ideen überhaupt innerhalb der Ethik wenden. 29
Platos Theorie der Gerechtigkeit des Einzelnen und ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit der Polis ist oft interpretiert und auch kritisiert worden. Vgl. z.B. außer den in Anm. 24 erwähnten Darstellungen von Vlastos, Hall und Derbolav sowie der in Anm. 27 erwähnten Abhandlung von Hall: “Justice and the Individual in the Republic” ebenso H.-G. Gadamer: „Platos Staat der Erziehung“ (1941). In ders.: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie. Hamburg 1968, 205-220; L. Strauss: “Plato” (1963). In: Political Philosophy. Six essays by Leo Strauss. Ed. with an introduction by H. Gildin. Indianapolis – New York 1975, bes. 178 ff; O. Gigon, a.a.O. 497-539, auch 486 ff. – Auf konkrete Fragen, wie sie z.B. Strauss und Hall kontrovers erörtern, ob etwa jeder Einzelne persönliche Gerechtigkeit in sich und damit Herrschaft der eigenen Vernunft in seiner Seele erreichen könne oder nur politische Gerechtigkeit, d.h. Vernunftherrschaft durch andere, wenn er selbst dazu nicht hinreichend in der Lage ist, sei hier nur hingewiesen.
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Wenn auch Verhaltensweisen und Tugenden nach Plato, wie sich gezeigt hat, nur durch den Einzelnen in die ganze Polis gelangen, so wird doch der Einzelne hierbei keineswegs als absolut freies Individuum mit eigenen unaufhebbaren Rechten gedacht, die selbst etwa gegenüber der Polis Gültigkeit hätten. Zwar wählt der Einzelne im Schlußmythos der Politeia (617e ff) sein zukünftiges Lebenslos; doch geschieht dies vorgeburtlich, außerhalb der Polis und nur mythisch. In seinem Leben wird seine natürliche Begabung jedenfalls nicht individuell, sondern nach dem Vorrang eines allgemeinen Seelenvermögens eingeschätzt zum Zweck der Einweisung in einen Stand. Auch die Tugenden, die der Einzelne seinem Stande gemäß ausbildet, sind in ihrem sittlichen Sinn wesentlich auf die Polis bezogen; sie sind nicht Ausdruck autonomer oder gar unwiederholbarer Individualität. So bewegt sich der Einzelne, auch wenn durch ihn erst Tugenden in der Polis wirklich werden, in seinem Leben und in seinen Erwartungen doch immer im Horizont der idealen, zu verwirklichenden Polis und ihrer Anforderungen. – Plato läßt zwar einen Bereich privater Tätigkeiten und privater Tugendhaftigkeit zu. Die Mitglieder des dritten Standes sorgen durchaus auch für ihre private Bedürfnisbefriedigung und können auf diesem Felde besonnen sein. Mitglieder des ersten Standes können sich über beachtliche Zeitabschnitte hin der reinen Wissenschaft, für Plato der Ideenschau, also einem kontemplativen Leben widmen und darin weise sein. Doch dies alles geschieht nur in dem von der Gerechtigkeit der Polis vorgezeichneten Rahmen. Die Mitglieder des dritten Standes müssen die Polis und insbesondere den ersten und zweiten Stand physisch versorgen; die Philosophen müssen nach einer Phase kontemplativen Forschens zurück in das politische Leben, um dies nach Gerechtigkeit zu bestimmen. Die Erfordernisse der Polis bleiben im praktischen Leben denen des Einzelnen absolut übergeordnet; selbst die der gerechten Praxis nach Plato überlegene Erkenntnis der Idee des Guten begründet kein Recht gegen die Anforderungen der gerechten Polis – wie viel weniger Zwecke der Privatsphäre des Einzelnen! So bleibt der eigentliche Bereich der Verwirklichung von Tugenden des Einzelnen doch immer die Polis. – Vorrang erhält die Polis für Plato nicht nur hinsichtlich der Ausübung von Tugenden, sondern sogar hinsichtlich der sittlichen Bildung, der Paideia. Die im Namen der Polis durchgeführte Ausbildung soll den Einzelnen, sofern er ihrer würdig ist, allererst zu sittlichem Verhalten und damit zu Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit leiten. Dies betont Plato noch in den Nomoi, obwohl er dort nur den zweitbesten Staat entwirft. Der Einzelne, der die Tugenden in der Polis verwirklicht, versteht sich in seinem sittlichen Tun also als Polis-Bürger. So kann Plato auch in seiner Darlegung der Depravation der Verfassungen in der Politeia (Buch VIII und IX) Einzelcharaktere schildern, die darin aufgehen, den Zustand einer Verfassung exemplarisch widerzuspiegeln, weil sie wesentlich von ihr geprägt sind. – Platos Ethik ist also prinzipiell politisch, nicht nur in der Theorie der Tugenden der Polis, sondern auch in der Lehre von den Tugenden des Einzelnen; sie ist holistisch, insofern ihr die Vorstellung von Sittlichkeit, die sie maßgeblich von
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der Gerechtigkeit des Ganzen her faßt, als grundlegende Bestimmung des Ethos des Einzelnen und der Stände gilt. Plato gibt dieser seiner Ethik als politischer, holistischer Tugendlehre zugleich ein ontologisches Fundament. Der Zustand der Gerechtigkeit der Seele wie der Polis wird metaphorisch als Gesundheit bezeichnet; die Seele bzw. die Polis befinden sich dann, wie Plato schon im Gorgias ausführt, in der ihnen jeweils naturgemäßen oder wesensgemäßen Verfassung der Wohlgeordnetheit. Gerechtigkeit ist damit die Entfaltung des Wesens der Seele wie der Polis.30 In der ontologischen Grundlegung ist das eine dem anderen analog, auch wenn sich in ethischer Betrachtung die Gerechtigkeit des Ganzen als das Primäre erwies. – Das Wesen der Seele nun, das in der Gerechtigkeit zur ethischen Vollendung gelangt, ist Idee, die die anderen Tugenden als beständige Grundmuster ethischen Verhaltens, d.h. als speziellere ethische Ideen in sich vereinigt. Da die Ideen für Plato zugleich das wesentliche und konstante Sein von etwas ausmachen, werden die Tugenden dadurch zu Grundbestimmungen, in denen und deren Verhältnissen die Seele ihr eigenes wesentliches Sein verstehen kann, d.h. zu Grundbestimmungen in einer Ontologie der Seele. Plato hat allerdings, vielleicht weil er – nach dem Charmides – ein derartiges Wissen von sich nicht für nützlich, also nicht für ein praktisches Wissen hielt, dem er damit aber wohl zu enge Grenzen zog, eine solche spezifisch die Ethik als Tugendlehre fundierende Ontologie der Seele nicht näher ausgeführt. – Ganz parallel zur Seele gelangt die Polis zu der ihr wesensgemäßen Vollendung durch die Gerechtigkeit im sog. Idealstaat. Diesem kommt eigentliches, wesentliches Sein zu, das in der Idee der Gerechtigkeit der Polis gedacht wird. Er findet sich jedoch nicht in der sinnlichen, zeitgenössisch-geschichtlichen Realität. – Obwohl die Tugenden und insbesondere die Gerechtigkeit als Ideen in zugleich ontologischer Bedeutung konzipiert werden, behalten sie daher ihren ethischen Sinn. Sie implizieren sittliche Aufforderungen, ihnen gemäß die sinnliche Wirklichkeit und das Verhalten zu gestalten, so daß beides an den Tugenden teilhaben kann. Aus der Tugendlehre ergibt sich somit eine Lehre von sittlichen Imperativen ebenso wie sich – nach den früheren Darlegungen – eine Lehre vom sittlichen Glück als Telos des Handelns aus ihr ergeben hatte. Platos Ethik wird also nicht schon dadurch, daß sie Tugenden als Ideen begreift, zu einer theoretisch-metaphysischen Lehre. Er denkt – wie im Phaidon – Ideen als Ursachen für die Gestaltung und Beschaffenheit des Sinnlichen. Dies Verursachen kann durchaus tugendhafte Haltung im Handeln sein. Er hat allerdings das sittliche Ursachesein von Tugendideen nicht prinzipiell in einer Theorie vom Ursachesein etwa der Ideen für Artefakte oder für Naturdinge unterschieden. Ferner wird die Idee, auch die Tugendidee, zwar als Ousia, als Wesen konzipiert; aber das Verhältnis einer Idee als Ursache zu dem von ihr Geformten oder der Teilhabe von Dingen und Begebenheiten an Ideen wird 30
Vgl. Gorgias, 504a-d, 506d, Politeia,, 443c-e, 444d-e u.ö. Vgl. zur grundlegenden KosmosTaxis-Lehre Platos in diesem Zusammenhang H.J. Krämer, a.a.O. (Anm. 13), 81 ff, 83 ff.
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1. PLATOS BEGRÜNDUNG EINER POLITISCHEN ETHIK ALS TUGENDLEHRE
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noch vor und noch unabhängig von der späteren Theorie des Verhältnisses von allgemeiner Essenz und Existenz des Einzelnen gedacht, die Aristotelischen Ursprungs ist. Für Plato sind die Tugendideen verursachende Wesenheiten, die, in ihrer Einheit verwirklicht, der Polis ebenso wie der Seele Vollendung und Glück als wirkliche Folge bringen. Diesen Zusammenhang selbst begründet Plato noch einmal in der Idee des Guten als höchstem Prinzip der Tugenden und als Urgrund alles wesentlichen und wirklichen Seienden, d.h. als Prinzip der Ethik und der Ontologie in allen ihren Bestimmungen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der späte Plato bei dieser klassischen Tugendlehre nicht stehenbleibt, sondern erneut nach der Bestimmung einzelner Tugenden, nach deren Verhältnis zueinander und nach deren Einheit fragt. Wie erwähnt, hebt er nun stärker die physische Basis hervor; speziell Tapferkeit und Besonnenheit werden dabei entschiedener als früher vom heftigen und vom sanften Temperament her verstanden. Diese Temperamente handeln freilich, wie Plato im Politikos ausführt, tugendhaft nur im richtigen Augenblick und in der Wahl des Angemessenen unter Vermeidung von Extremen. Die Bestimmung des Angemessenen und der Mitte erfolgt durch vernünftige Einsicht in einer Art ethischer Meßkunst (vgl. 284e, 306 e ff). In dieser Auffassung des späten Plato ist im wesentlichen Aristoteles’ Mesotes-Lehre für die ethischen Tugenden vorgezeichnet.31 Auch in Platos Abhebung dieser Tugenden insbesondere von der Weisheit kündigt sich – wenn auch ohne genauere Theorie – der Aristotelische Grundunterschied von ethischen und dianoetischen Tugenden an. – Plato nimmt allerdings im Politikos nicht mehr wie früher einfach eine Harmonie der Tugenden untereinander an; aufgrund der entgegengesetzten Temperamente der Tapferen und der Besonnenen sieht er die Gefahr einer Tugendenkollision (308b). Sie kann und muß in der Polis durch weise Staatskunst und ihre Gesetze sowie durch Erziehung und durch menschliche Bande vermieden werden. Das Problem der Einheit der Tugenden stellt sich damit erneut; der späte Plato hat jedoch trotz der Modifikation der Tugendlehre keine grundsätzlich neue Lösung dargelegt.
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Platos späte Darlegungen zur Tugendlehre und deren Nähe zur Tugendlehre des Aristoteles werden selten beachtet; vgl. aber die gründliche Interpretation der Ausführungen Platos dazu im Politikos von H.J. Krämer, a.a.O. 152 ff. Die Mitte sei, wie er darlegt, freilich nicht wie bei Aristoteles eine Mitte nur über „Unwerten“; systematisch habe solche anderen Möglichkeiten N. Hartmann erkannt; vgl. N. Hartmann: Ethik. Berlin 41962, 570 f, auch 439 ff. – Ebenso weist Gadamer hier betont auf die Zusammenhänge des späten Plato mit Aristoteles hin; vgl. H.-G. Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, a.a.O. (Anm. 9), 74 f.
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POLITISCHE ETHIK BEI PLATO UND HEGEL
2. Platos Tugend- und Staatslehre in Hegels politischer Ethik a. Ethos und Polis in Hegels frühem Jenaer Ansatz Hegel nimmt in der frühen Jenaer Zeit Grundzüge der Platonischen Ethik in seine eigene Konzeption holistischer politischer Ethik auf, ohne freilich die diffizilen Unterscheidungen, Verbindungen und Abwandlungen von Motiven und Argumentationen in der sich entwickelnden Ethik Platos näher zu berücksichtigen. Beziehungen zu verschiedenen besonderen Themen der Aristotelischen Politik, insbesondere zu dem für Hegel zentralen Grundsatz, die Polis sei eher als der Einzelne,32 sind damit keineswegs ausgeschlossen. Für Hegels ersten Jenaer Entwurf einer politischen Ethik dürften aber die Grundlagen der Platonischen Tugend- und Staatslehre systematisch bedeutsamer sein.33 Platos Lehre wird als eine politische Ethik, in der noch keine formalen Verhaltensprinzipien für autonome einzelne Subjekte aufgestellt werden, zum Vorbild für eine neue Theorie der Sittlichkeit, in der jene formalen Prinzipien und jene einzelnen Subjekte, für die sie gelten, keine eigenständige Bedeutung mehr haben sollen. Hegel sucht durch eine solche systematische Integration von Grundeinsichten der Platonischen Ethik in seinen Ansatz die von ihm beanspruchte Überwindung des Kantischen Formalismus in der Ethik abzusichern. Seine Naturrechts- und Staatskonzeption darf somit nicht isoliert aufgefaßt, sondern muß von dieser ethischen Grundlage her betrachtet werden.
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Aristoteles: Politik. 1253a 25-29. Hegel: Gesammelte Werke [= GW]. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 467, vgl. 617. Diese Zusammenhänge sind schon seit Rosenkranz immer wieder benannt, wenn auch historisch und systematisch erst ansatzweise untersucht worden. Vgl. K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 124, auch 104; vgl. auch R. Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857, 160 ff. Rosenzweig warnt dagegen vor einer Überschätzung des Plato-Einflusses, vgl. F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. München, Berlin 1920. Neudruck Aalen 1962. Bd. 1, 135, 142 ff. Ilting weist Hegels Beziehungen zu Aristoteles nach, ohne die Bedeutung Platos für Hegels Ansatz zu leugnen, vgl. K.-H. Ilting: „Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik“. In: Philosophisches Jahrbuch 71 (1963/64), 38-58. Riedel spricht von antiker Polis-Sittlichkeit bei Hegel eher mit Bezug auf Aristoteles (vgl. z.B. M. Riedel: „Hegels Kritik des Naturrechts“. In: Hegel-Studien 4 (1967), bes. 182 f, 190 f), Horstmann von Hegels Orientierung an der platonisch-aristotelischen Staatslehre (vgl. R.-P. Horstmann: „Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie“. In: Hegel-Studien 9 (1974), bes. 214, 218, auch 223). Auch Janicaud sieht in Hegels frühem Jenaer Entwurf griechisches, platonisch-aristotelisches Polis-Denken (D. Janicaud: Hegel et le destin de la Grèce. Paris 1975, bes. 93-101); Vieillard-Baron dagegen betont wieder speziell Plato-Einflüsse, und zwar mit einzelnen Stellennachweisen (vgl. J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l’idéalismeallemand (1770-1830). Paris 1979, bes. 136-142. Eine Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie sieht Siep in Hegels frühem Jenaer Ansatz (vgl. L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg, München 1979, bes. 156-164). Die Beziehungen zu Aristoteles in diesem Jenaer Ansatz sind freilich eher vereinzelt und weniger prägnant für Hegels eigene Konzeption einer politischen Ethik.
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2. PLATO IN HEGELS POLITISCHER ETHIK
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Hegel beruft sich bei seiner Ablehnung des ethischen Gesetzesformalismus, wie er ihn versteht, auf die erwähnte Kritik Platos am uferlosen Erlassen ständig neuer, starrer Einzelgesetze und -vorschriften sowie auf Platos Auffassung, die gerechte Einsicht vernünftig Regierender ohne solche Gesetze berücksichtige die Vielfalt und Beweglichkeit menschlicher Verhältnisse weitaus angemessener. Hegel sieht darin einen grundsätzlichen Hinweis auf die Unzulänglichkeit von starren, endlichen Gesetzen, das sittliche Leben eines politisch organisierten Ganzen zu fassen.34 Jedes bestimmte und beschränkte Gesetz hat nach Hegel ein anderes, ebenfalls bestimmtes und beschränktes Gesetz außer sich, das ihm nicht nur kontradiktorisch, sondern inhaltlich konträr entgegengesetzt ist. Grundlagen für dieses Argument entnimmt Hegel seiner Logik, nach der – schon in der damaligen Konzeption – einer endlichen Bestimmtheit notwendig nicht nur eine kontradiktorisch, sondern eine konträr entgegengesetzte Bestimmtheit gegenübersteht. Gleich geltende, jedoch einander entgegengesetzte Gesetze als Bestimmtheiten heben nun einander auf, widersprechen einander; das Ausweichen in neue gesetzliche, endliche Bestimmungen aber führt in einen unendlichen Progreß des Bestimmens. Der vollständige Gesetzesformalismus ist daher etwas an sich Nichtiges. Dies glaubt Hegel gleichermaßen an der Kantischen Ethik wie an der damaligen Verfassung des deutschen Reiches nachweisen zu können. Gesetze behalten jedoch für Hegel in der lebendigen Sittlichkeit eine begrenzte Bedeutung – ebenso wie Begriffe innerhalb der logisch-metaphysischen Wahrheit;35 die Gesetze, die ja selbst begriffliche Bestimmtheiten für das Handeln darstellen, müssen sich auf eine universale Anschauung beziehen, aus der sie erst ihren bestimmten Sinn erhalten, auf die Sitten eines Volkes, die in allen Mitgliedern dieses Volkes unmittelbar gegenwärtig sind. Die Gesetze können dann zum einen der ideale und allgemeine Ausdruck jener lebendigen Sitten sein; sie fungieren insofern nicht eigentlich als zwingende Notwendigkeiten für das Handeln. Hegel setzt hiermit seine Überlegungen aus den Jugendschriften zur lebendigen Religion eines Volkes, die dessen Sittlichkeit einschließt, und zum Positiv- und Gesetzlichwerden solcher Religion fort.36 Zum anderen weist Hegel den einzelnen Gesetzen als endlichen Bestimmtheiten, sofern sie für sich als Handlungsvorschriften gültig sein sollen, im sittlichen Ganzen einen bestimmten, beschränkten Geltungsbereich zu, den des formellen Rechts, das für 34
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Vgl. GW 4, 452 f, 457 f (615 ff). Hegel zitiert ausführlich aus Politikos (294a-c) und Politeia (425c-426a, 426e, auch 404e-405b). – Die Kritik am Staat als einem mechanischen Räderwerk war damals weit verbreitet; sie findet sich bei Hegel schon in den Jugendschriften. Zur Logik und Metaphysik Hegels in der frühen Jenaer Zeit und zur damaligen Trennung von Begriff und Anschauung vgl. z.B. vom Verf.:Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik (= Hegel-Studien. Beiheft 15). Bonn 1976, bes. 76-108, 134-147. Vgl. dazu bes. A. Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde. Den Haag 21969, 15 ff, 78 ff, 101 ff, 200 ff, und O. Pöggeler: Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes. Unveröff. Habilitationsschrift. Heidelberg 1966.
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POLITISCHE ETHIK BEI PLATO UND HEGEL
Besitz und Eigentum gilt, d.h. in Hegels Konzeption den des Standes des bourgeois. Hegel verleiht also der Platonischen Gesetzeskritik innerhalb seiner Konzeption grundlegende Bedeutung vor dem Hintergrund seiner eigenen Auffassung vom lebendigen sittlichen Ganzen. Das Geltenlassen formeller Gesetze in einem einzelnen Stand verweist nun auf eine weitere zentrale PlatoAdaption Hegels innerhalb der politischen Ethik. In der Theorie der Organisation und Gliederung des sittlichen Ganzen orientiert Hegel sich am Grundriß der Platonischen Lehre vom Ständestaat und von der Entsprechung der Stände und der Tugenden. Wie Plato geht Hegel somit in seiner Theorie der Sittlichkeit wesentlich vom politischen sittlichen Ganzen aus, das ständisch organisiert ist. Anders als etwa Aristoteles und wie Plato unterscheidet er drei Stände. Im Unterschied zu Aristoteles habe Plato „nach seiner höhern Lebendigkeit“37 das Philosophieren und die Befassung mit öffentlichen Angelegenheiten nicht getrennt; Hegel dürfte hier an Platos Forderung denken, die Philosophen sollten herrschen oder die Herrscher Philosophen sein. Die Weisheit, die Hegel gelegentlich erwähnt, bezeichnet er nur im Plato-Kontext als spezifische Tugend der Herrscher bzw. des Herrschers.38 In seiner eigenen Theorie nimmt er diese Zuordnung nicht eindeutig vor. Er trennt die Regierenden nämlich nicht von den Wehrleuten ab. Der erste Stand ist in Hegels Konzeption der Stand der „Freien“, derjenigen, die sich herrschend oder kämpfend für das sittliche Gemeinwesen einsetzen; dieser Stand entspricht den Wächtern im allgemeinen in Platos Politeia noch vor ihrer Aufteilung in Regierende und Wehrleute. – Im System der Sittlichkeit unternimmt Hegel den Versuch, diesem Stand noch die Alten und Priester vorzuordnen, die die Sittlichkeit des Ganzen rein vertreten und daher keinem bestimmten Stande angehören. Ihnen schreibt Hegel zwar Weisheit zu; doch philosophieren sie weder noch sind sie ständisch organisiert und daher auch mit Platos erstem Stand kaum vergleichbar.39 Hegel hat später diese Konstruktion nicht beibehalten. Hegels erster Stand entspricht also hinsichtlich der Aufgaben und der Mitglieder Platos erstem und zweitem Stand. Nach Hegel sind die Mitglieder die37
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GW 4, 455. – Zur Bedeutung von Stand und Staat beim jungen Hegel im Kontext seiner Zeit vgl. R.K. Hočevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. München 1968, sowie im Kontext der politischen Entwicklung der Neuzeit S. Skalweit: Der Beginn der Neuzeit. Darmstadt 1982, bes. 136 ff. Vgl. GW 4, 452; vgl. zur Erwähnung der Weisheit: System der Sittlichkeit. Hrsg. von G. Lasson (Nachdruck aus Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 21923). Hamburg 1967, 73, 65, 74 f, 84. Vgl. System der Sittlichkeit, a.a.O. 71 ff. An der mangelnden Integration dieser Gruppe zeigen sich erste Probleme des Verhältnisses von Religion und Staat in Hegels Entwurf. Ferner betrachtet Hegel die Alten und Priester anti-individualistisch; denn das Alter ist seiner Ansicht nach als „Leib“ der Sittlichkeit des Ganzen deshalb geeignet, weil es der Individualität „entbehrt“ (a.a.O. 72). – Zur Kritik an solchen theokratischen Momenten von Hegels Konzeption vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels „System der Philosophie“ in den Jahren 1800-1804 (= Hegel-Studien. Beiheft 8). Bonn 1970, 241 f, auch – von Plato aus – J.-L. Vieillard-Baron, a.a.O. (Anm. 33), 139 f.
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2. PLATO IN HEGELS POLITISCHER ETHIK
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ses ersten Standes tapfer; damit ist es wie bei Plato auch der Stand selbst und – was man aus Hegels Darlegungen erschließen kann – das ganze Gemeinwesen. Tapferkeit aber wird von Hegel anders als von Plato als absolute Sittlichkeit gedacht; sie besteht im Einsatz für das sittliche Ganze auch bei Lebensgefahr und im Aufsichnehmen eines gewaltsamen Todes; der Tapfere beweist damit, daß er frei und unabhängig von den sein Leben bestimmenden, besonderen Endlichkeiten und endlichen Verhältnissen ist, daß also seine Sittlichkeit absolut ist. Sittlichkeit besteht für Hegel hier im Sicheinsetzen für ein sittliches Gemeinwesen, das freilich nicht die Polis ist, sondern das er mit einer Herder-Assoziation als das „Volk“ oder auch als „Vaterland und Volk“40 bezeichnet. Darunter versteht er die das Leben und das Ethos des Einzelnen prägende Organisation einer Menge von Menschen, für die gleiche natürliche, räumlich-geographische und kulturelle Bedingungen gelten, zu einer realen Einheit. Sittlichkeit ist nach Hegel das Leben und Sterben in einem solchen Volk und für ein solches Volk. Dieses stellt das reale, natürliche und geschichtliche sittliche Gemeinwesen dar, das nicht nur ein Idealstaat oder ein ideales Reich der Zwecke ist. In dieser realen Existenz und Wirklichkeit eines sittlichen Ganzen sieht Hegel den entscheidenden Fortschritt insbesondere gegenüber Kant, der freilich in solcher immer auch unvollkommenen geschichtlichen Realität nicht den Maßstab der Sittlichkeit zu erblicken vermochte. – In dieser Auffassung der Sittlichkeit als Tapferkeit liegt offenbar eine ethische Grundanschauung Hegels. Schon in den Jugendschriften feierte er die Tugend des freien Republikaners, der sein Leben für das „Vaterland“ aufopfert. Dies Tun legte er damals noch Kantisch aus; Kant selbst bezeichnete in der von Hegel kommentierten Metaphysik der Sitten die Tugend, die die Sittlichkeit im Kampf gegen Widerstände darstellt, im ganzen als moralische Tapferkeit.41 Hegel nahm dies nicht ausdrücklich auf; vor allem verstand er auch damals schon jene sittliche Vortrefflichkeit des Republikaners als politische Tugend. Der geschichtliche Hintergrund war für ihn ebenso römisch-republikanisch als griechisch.42 Dies dürfte hinsichtlich des zugrunde liegenden Anschauungsgehaltes auch für die Tapferkeit des ersten Standes in seinem frühen Jenaer Ansatz gelten. – Diese ethische Grundhaltung kann wenigstens zu einem Teil auch die zentrale Bedeutung des Kampfes auf Leben und Tod für die Selbstkonstitution und für die Anerkennung verständlich machen, die Hegel insbesondere in der ersten Jenaer Geistesphilosophie (1803/04) und in der Phäno40
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42
Vgl. GW 4, 449 f, 479 u.ö., System der Sittlichkeit, a.a.O. 54, 56 f u.ö. Zur Wirklichkeit des sittlichen Ganzen, die im folgenden gekennzeichnet wird, vgl. GW 4, 440. Vgl. Hegel: Theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Tübingen 1907. Nachdruck Frankfurt a.M. 1966, z.B. 70, 222 f (mit Beziehung auf Montesquieu). Vgl. Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd. 6, 405, 380, auch Bd. 7, 257, 259. Ein bei Hegel immer wiederkehrendes Lakedämonier-Beispiel, das griechische Sittlichkeit vor Augen führt, weist U. Rameil auf: „Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie“. In: Hegel-Studien 16 (1981), bes. 139162.
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menologie umreißt. In solchem Kampfe beweisen die Gegner für Hegel auf elementare Weise einander ihre Unabhängigkeit vom physischen Dasein und ihre Geistigkeit.43 Solche elementare „Sittlichkeit“ ist allerdings noch nicht Tapferkeit, da das sittliche Ganze noch nicht konstituiert ist, für das der Tapfere lebt und handelt. In seinem frühen Jenaer Entwurf ist die Tapferkeit zwar zunächst Tugend und Sittlichkeit des Einzelnen. Dessen sittliche Bewährung besteht jedoch im wissentlichen und willentlichen Erleiden des eigenen Untergangs für das Volk. Für Plato war die Individualität mit ihren spezifischen Rechten und ihrer Freiheit noch kein eigenes Problem; Hegel dagegen konzipiert – gegen die aufklärerische Auffassung von den unaufhebbaren Rechten und der Freiheit des Individuums als solchen – die eigentliche sittliche Bewährung als das Aufopfern des individuellen Lebens für das politische Ganze und für dessen weitere Existenz. Hegels Auffassung der absoluten Sittlichkeit als Tapferkeit ist somit anti-individualistisch. Ihm gilt eine spezifische Tugend, die in lebensbedrohenden Situationen sittlich zutiefst begründet sein kann, als Paradigma der Sittlichkeit überhaupt. Dabei nimmt er zugleich, wie bekannt, allzu bereitwillig die Auseinandersetzung zwischen Völkern als Krieg hin, als gewaltsame, todbringende Kollision geschichtlich verschiedener, kollektiver Individualitäten, die dadurch angeblich ihre „sittliche Gesundheit“44 restituieren. Ebenso beraubt er durch den empirisch-geschichtlichen Inhalt dieser Sittlichkeit, nämlich ein geschichtlich existierendes Volk, das kriegerisch gegen andere Völker steht, die Tapferkeit ihres allgemein-menschlichen Sinnes und damit ihrer allgemein-sittlichen Berechtigung; sie wird formalisiert zur Haltung der Aufopferung für dasjenige Volk, dem der betreffende Einzelne gerade angehört. Die Tapferkeit ist für Hegel also Tugend überhaupt oder „Tugend an sich“ und „Indifferenz der Tugenden“, während „jede andere nur eine Tugend ist.45 Hegel stellt sich wie Plato das Problem der Einheit der Tugenden. Auch für Plato ergab sich im Laches, daß die Tapferkeit Tugend im allgemeinen ist. Doch ist das Ende dieses Dialogs aporetisch; Hegel dagegen vertritt jene These über die Tapferkeit als eigene Auffassung. – In den Frankfurter Schriften sah Hegel die Einheit und das Prinzip der Tugenden in der Liebe; die Tugenden dachte er damals noch in gewisser Weise Kantisch als Haltungen und Eigenschaften sittlicher Individuen als solcher, freilich nicht mehr als Weisen 43
44
45
Zu diesem Kampf und dem Hobbes-Hintergrund vgl. L. Siep: „Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften“. In: Hegel-Studien 9 (1974), 155-207. Vgl. GW 4, 450. Vgl. auch System der Sittlichkeit, a.a.O. 58 ff, und noch Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 41955, § 324 Anm. – Wer in tapferem Kampfe nicht gestorben sei, so berichtet Rosenkranz von Hegels Jenaer Naturrechtsvorlesungen, dem bleibe nur in der Spekulation eine allgemeine, nicht-individuelle Existenz (vgl. Rosenkranz: Hegels Leben, a.a.O. 132 f). System der Sittlichkeit, 58. Vgl. GW 4, 450, 455.
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innerer sittlicher Bezwingung, die in jedem Einzelnen stattfinden soll. In der frühen Jenaer Konzeption aber denkt Hegel Tugend prinzipiell politisch; daher wird die Liebe als Prinzip der Tugenden abgelöst durch die Tapferkeit als Einsatz für das Volk bis zum Tode. Die Tapferkeit bildet somit nach Hegel die Grundlage für spezielle Tugenden wie etwa Freigebigkeit oder Sparsamkeit, deren Maß sie auch bestimmt. – Dem ersten Stand und seinen Mitgliedern, den Freien, kommt also die Tapferkeit als absolute Sittlichkeit und als fundamentale politische Tugend zu. Obwohl Hegel sich im allgemeinen am Platonischen Staat mit seinen drei Ständen orientiert, verändert er inhaltlich deren jeweilige Bestimmungen; dies gilt für den zweiten Stand noch weitaus mehr als für den ersten. Der zweite Stand ebenso wie der dritte ist für Hegel anders als für Plato ein Stand der Nichtfreien.46 Dem zweiten gehört der arbeitende, Besitz und Eigentum erwerbende, seine partikuläre Einzelheit bewahrende Bürger, der bourgeois an. Er arbeitet für seine eigene Bedürfnisbefriedigung; er muß im Staat freilich auch für die des ersten Standes sorgen. So entspricht dieser Stand in seiner Arbeit und seinem Privatbesitz einem Teil des dritten Standes bei Plato. Er wird von Hegel jedoch modern als die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft im Staat verstanden;47 deren Mitglieder gehen selbstsüchtig nur ihren Privatinteressen nach und erwarten vom Staat lediglich Sicherung ihres Lebens und ihres Eigentums durch das formale Recht und dessen Durchsetzung. Diese Schilderung impliziert eine herbe ethische Kritik am bourgeois; sie schwingt auch später noch in Hegels gemäßigterer Schilderung der bürgerlichen Gesellschaft mit. Der bourgeois setzt sich seiner eigenen Intention nach nicht für das sittliche Gemeinwesen ein; nur an seinem Privatbesitz und an seiner partikulären Sicherheit interessiert, nimmt er die Gefahr des Todes nicht auf sich. So kommt ihm absolute oder eigentliche Sittlichkeit nicht zu. Er lebt jedoch in einem Volk und ist durch dessen Sitten geprägt. Eine niedrigere Weise von Sittlichkeit gesteht Hegel dem bourgeois daher zu; sie besteht – dessen Verständnishorizont entsprechend – in der Angemessenheit gegenüber dem formalen Rechtssystem, das das politische Ganze etabliert zum Schutz von Leben und Eigentum, d.h. in der Rechtschaffenheit.48 Sie ist dem Recht gemäß, daß jedem 46
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48
Vgl. GW 4, 455. Platos Ausführungen im Politikos (308e-309a) über Strafen, Züchtigungen und Unterjochungen der – wie er glaubt – von Natur aus Untugendhaften können schwerlich als Grundlage für die Konstitution dieses zweiten Standes angesehen werden, wie Hegel es polemisch insinuiert, der damit die Unfreiheit dieses Standes zu rechtfertigen sucht (vgl. 455 f). Vgl. dazu insbesondere in Hegels frühem Jenaer Ansatz die Darlegungen von R.-P. Horstmann, a.a.O. (Anm. 33), bes. 209 ff, 213-226. Zu Hegels Auffassung vom Bourgeois-Staat in den Frankfurter Schriften vgl. O. Pöggeler: „Hegels praktische Philosophie in Frankfurt“. In: Hegel-Studien 9 (1974), bes. 91 f, 93 ff. Zu Hegels späterer Auffassung von der bürgerlichen Gesellschaft vgl. z.B. M. Riedel: „Hegels Begriff der ’Bürgerlichen Gesellschaft’ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs“. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. von M. Riedel. Frankfurt a.M. 1975. Bd. 2, 247-275. Vgl. System der Sittlichkeit, a.a.O. 60.
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das Seine zukomme, womit Hegel vage und nur hinsichtlich des Privatbesitzes an die Platonische Bestimmung der Gerechtigkeit erinnert. Später wird für ihn die Rechtschaffenheit zu einer allgemeineren Tugend, die sich nicht nur auf den bourgeois beschränkt. In seinem frühen Jenaer Ansatz aber zögert Hegel, sie überhaupt als Tugend anzusprechen, da sie die Tapferkeit, die Tugend „an sich“ ausschließt. Deshalb gilt sie Hegel als bloß „relative Sittlichkeit“. Weil der bourgeois hierbei eigennützig bleiben kann, ist seine Rechtschaffenheit nicht mehr als Legalität. Mit dieser Lehre vom zweiten Stand versucht Hegel, die Bestimmungen des modernen liberalen Staates aufzunehmen in seine platonisierende Staatskonzeption, aber zugleich zu reduzieren auf die Bedeutung eines Standes, der noch dazu dem ersten Stand untergeordnet ist. Der geschichtliche Prozeß der Privatisierung des zuvor öffentlichen Lebens seit dem Untergang der griechischen Polis und dem Verfall Roms kulminiert für Hegel in den modernen Staaten, die nur noch dem „Prinzip der formellen Einheit und Gleichheit“49 und dem daraus sich ergebenden Gesetzesformalismus folgen und die durch Egalisierung der verschiedenen Stände die Prinzipien des zweiten Standes auf das politische Ganze ausdehnen. Da dann am Ende niemand mehr für das Volk arbeitet und sich einsetzt, absolute Sittlichkeit also unmöglich wird, entwirft Hegel ein neues, an die Platonische Polis anknüpfendes Staatsmodell, in dem die moderne bürgerliche Gesellschaft mit ihrem formalen Rechtssystem begrenzt wird auf einen vom Ganzen abhängigen Stand. – Diese ethischpolitische Auffassung also ist es, die Hegel unmittelbar über „formelle“ aufklärerische Naturrechtstheorien und Theorien der bürgerlichen Gesellschaft hinaustreibt, nicht bzw. nur mittelbar die neue Begrifflichkeit seiner Logik und Metaphysik, in der jener ethisch-politische Ansatz dann freilich theoretisch begründet werden muß. Diesen unpolitischen Privatpersonen als den Mitgliedern des zweiten Standes kommt nach Hegel ferner nur Moralität zu; sie gilt ihm als innerlich und formal bleibende, nicht öffentlich wirksame Gesinnung des Einzelnen. So wenig wie die Legalität oder Rechtschaffenheit ist die Moralität für Hegel wahrhafte Sittlichkeit; sie bleibt prinzipiell unpolitisch. Hegel glaubt hiermit auch die Moralphilosophie Kants und Fichtes zu treffen. Doch ist bei ihnen, was hier nur erwähnt sei, weder das Subjekt der Moralität der bourgeois50 noch 49
50
GW 4, 456. In der Auffassung vom Untergang der Freiheit in der Antike folgt er wie schon in den Jugendschriften der Darlegung Gibbons. Vgl. Hegels Darstellung in: GW 4, 468. – Hegels Jenaer Kritik an Kants Ethik kann hier nicht untersucht werden. Vgl. dazu im Rahmen der umfassenden Betrachtung von Hegels Kritik an Kants Ethik jetzt C. Cesa: „Tra Moralität e Sittlichkeit. Sul confronto di Hegel con la filosofia pratica di Kant”. In: Hegel interprete di Kant. Hrsg. von V. Verra. Neapel 1981, 147-178, bes. 162 ff. – Vgl. ebenso die Darstellung, die stärker kritisch ist, von W.H. Walsh: Hegelian Ethics. London u.a. 1969. Zu allgemeinen Perspektiven der Betrachtung des Verhältnisses Hegels zu Kant sei der Verweis erlaubt auf die Ausführungen des Verfs. in: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, Abschnitt III.2.
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überhaupt ein isolierter Einzelner, noch bleibt die Moralität bedeutungsleerer, öffentlich unwirksamer Inhalt des individuellen Seelenlebens; das Subjekt der Moralität ist vielmehr der frei handelnde und wirkende Einzelne als Selbstzweck im Reich der Zwecke, d.h. als sittlicher Bürger in einem idealen sittlichen Staat, der für alle zu erstreben ist auch über Standes- und Volksgrenzen hinaus. Hegel deutet, mißdeutet und kritisiert Kants und Fichtes Moralphilosophie dezidiert unter den Prämissen seiner eigenen politischen Ethik, für deren Grundeinsichten er sich auf Plato beruft. Der dritte Stand ist nach Hegel der Bauernstand, dessen Arbeit nicht bildet, sondern roh bleibt. Wie der zweite produziert er für die Bedürfnisbefriedigung. Aber er wird nicht vom Streben nach Besitz und dessen Legalisierung geleitet. Seine Arbeit verbleibt im Rahmen der Natur und ist damit selbst natürlich; sie verfällt nicht der Arbeitsteilung der Industriegesellschaft; vielmehr bleibt sie unmittelbar ein in sich einfaches Ganzes. – So sind für Hegel Mitglieder dieses Standes auch in ihrer ethisch-politischen Haltung eher aufgeschlossen für das Ganze als die Besitzbürger. Die spezifische Tugend des Bauernstandes ist das Zutrauen zum ersten Stand.51 Dies ist der Platonischen Auffassung analog, daß der dritte Stand, der ja auch bei Plato wenigstens zum Teil aus Bauern besteht, kraft der Besonnenheit seine Zustimmung dazu gibt, daß der erste Stand der herrschende sei. Ferner ist das Zutrauen kein selbständiges vernünftiges Tugendwissen, sondern – platonisch – richtige Meinung. Hegel setzt freilich in Abweichung von Plato hinzu, daß Mitglieder des dritten Standes wegen ihrer Offenheit für das Ganze auch die Gefahr des Todes auf sich nehmen und in der Tapferkeit sich dem ersten Stand annähern können. Hegel orientiert sich also bei seinem Entwurf eines sittlichen Ständestaates, wenn auch mit gravierenden Veränderungen im einzelnen, an Platos Lehre vom sittlichen Staat mit seinen drei Ständen sowie grundrißhaft an der Platonischen Korrelation von Ständen und Tugenden. Wie Plato ist er der Auffassung, daß die Stände auseinandergehalten werden müssen, damit jeder jeweils seine Aufgabe im sittlich-politischen Ganzen erfüllt. Dies entspricht der Platonischen Bestimmung der Gerechtigkeit. Auch die Metapher von der Krankheit des Staates, wenn nämlich die Stände und ihre Systeme aufeinander übergreifen oder sich verselbständigen, jedenfalls sich der Ordnung des Ganzen entziehen, ist Platonisch;52 sie symbolisiert bei Plato Ungerechtigkeit und damit – wie bei Hegel- Auflösung des vernünftigen Staates. Anders als bei Plato bleiben bei Hegel allerdings die Stände nicht unveränderlich und nicht in unbewegter Ordnung; sie beruhen für Hegel nicht auf starren Naturkonstanten. Vielmehr befinden sie sich in einem Prozeß untereinander, der die geschichtlichen Veränderungen und Umwälzungen hervorbringt.53 In dieser geschichtli51 52 53
Vgl. zum Bauernstand GW 4, 455, System der Sittlichkeit, 61. 68. Vgl. GW 4, 476. Vgl. Plato: Politeia, z.B. 444b-d, auch 552c, 556e, 563e-564a. Vgl. GW 4, 476, bes. Z. 10 ff. Die Stände bezeichnet Hegel schellingianisierend auch als „Potenzen“ der Sittlichkeit; sie bilden graduell gestufte sittliche Mächte.
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chen Bewegung der Stände, die für Hegel damals noch keine teleologische Entwicklung darstellt, ist die absolute Einheit der Sittlichkeit und damit in metaphysischem Sinne das Absolute gegenwärtig. Hegels Ethik innerhalb des Entwurfs seines sittlichen Ständestaates ist wie diejenige Platos also politisch und holistisch, da sie vom sittlichen Gemeinwesen als einem Ganzen ausgeht; sie folgt – freilich nicht streng oder: in reflektierter Konzeption – auch in etwa dem Platonischen Muster einer Tugendlehre. Zwar nennt Hegel die Ethik einmal lediglich eine „Naturbeschreibung der Tugenden“54 als sittlicher Eigenschaften des Einzelnen, womit er historisch wohl eher an Aristoteles’ phänomennahe Deskription der Serie von Tugenden als an Platos Tugendlehre erinnert. Tugenden sind für Hegel dabei individualisierte sittliche Energien, die sich in der absoluten Sittlichkeit als deren besondere Momente finden; sie zeichnen sittliche Individuen aus, die in ihrer Tugend für Hegel spezifische Repräsentanten ihres Volkes sind. Aber sie kommen ebenso, wie gezeigt, den Ständen und damit, da diese die Sittlichkeit des Gemeinwesens organisieren, dem politischen Ganzen als der Grundlage allen sittlichen Handelns zu. Hegel hat allerdings nicht wie Plato seine Ethik als Tugendlehre begründet. Die Ethik ist bei ihm überhaupt keine in selbständigen Prinzipien fundierte praktische Wissenschaft. Vielmehr ist sie für ihn ein immanenter, freilich notwendiger und wesentlicher Bestandteil seiner Theorie des politischen Ganzen und des in diesem verwirklichten Geistes. Diese Konzeption sucht die Trennung von Ethik und Rechts- oder Staatsphilosophie rückgängig zu machen, die ansatzweise schon bei Aristoteles begann und in Kants praktischer Philosophie ihre klassische Formulierung erhielt. Der eigentliche Grund für diese Wiederaufhebung der Trennung, den Hegel hier offenbar vor Augen hat, ist die Vorstellung, daß der Staat ein genuin ethisches Gemeinwesen ist, das alles sittliche Leben in ihm bestimmt, das somit nicht nur Institution zur Sicherung des formalen Rechts ist, und die von Hegel damit verbundene Vorstellung, daß das Muster der Sittlichkeit des Einzelnen als eines Bürgers in diesem Staat die Tapferkeit als Sich-Einsetzen und Sich-Aufopfern des Individuums für das sittlich-politische Ganze ist. Zwar sind es Individuen, die tapfere Handlungen vollziehen; aber diese haben schon im Entschluß dazu ihre Individualität ideell aufgegeben. In diesem Ansatz liegt einmal, daß das ethische Leben einer politischen Gemeinschaft, was Hegel mit guten Gründen betont, über die Sicherung formalen Rechts hinausgeht; aber es wird nach Hegel durch den Staat als alleinigen Träger gebildet und organisiert, und zwar, wie Hegel es hier konzipiert, auf Kosten ursprünglicher Freiheitsrechte des Individuums. Diese These von der Sittlichkeit des Ganzen und des Individuums bringt wohl mehr Schwierigkeiten mit sich, als sie an den Theorien der Trennung von Recht und Sittlichkeit ausräumen kann. An54
GW 4, 469. Vielleicht ist in dieser Formulierung auch die natürliche Basis der Tugenden mitgemeint wie in der vergleichbaren, auf Aristoteles’ Ethik zu beziehenden späteren Rede von der „geistigen Naturgeschichte“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. § 150 Anm.).
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ders als Hegel annimmt, denkt z.B. auch Kant den Einzelnen in seiner sittlichen Freiheit und seiner sittlichen Gesinnung – teilweise in modifizierender Aufnahme Platos – als Bürger eines idealen sittlichen Staates. Aber dieser determiniert nicht als zugleich äußere politische und absolute Macht das sittliche Leben. So vermag Kant in der Anwendung des von ihm formulierten Sittengesetzes auch eine ungleich reichere Palette sittlicher Möglichkeiten zu entwerfen, zu der im äußersten Fall zwar physische Selbstaufopferung, zu der jedoch in verallgemeinerungsfähigen Grenzen ebenso physische Selbsterhaltung und z.B. Ausbildung der eigenen Talente, d.h. eigene Vollkommenheit gehören. Die Existenz des sittlichen Individuums und nicht seine Aufopferung bleibt hierfür die Grundlage. Davon unterscheidet Kant die formale Rechtsperson in einem liberalen Staat. Auch nach seiner Auffassung ist es gewiß notwendig, über die Legalität und den liberalen Staat in der Sittlichkeit hinauszugehen, aber nicht, jedenfalls nicht hinsichtlich der sittlichen Motivation, mittels äußerer staatlicher Organisation und Gewalt. Hinzugefügt sei, daß auch in diesem Theorierahmen Organisation sittlicher Handlungen durch staatliche Institutionen möglich und sinnvoll ist, wenn diese gegenüber der sittlichen Motivation und Zwecksetzung liberal bleiben. Zum anderen liegt in diesem Ansatz Hegels, daß das politische Ganze, für das der Einzelne sich einsetzt und aufopfert, wirklich ist; es ist das Volk in seiner konkreten geschichtlichen Existenz und „Individualität“, dem der Einzelne angehört. Wenn aber solche besonderen, nicht-universellen sittlichen Ganzheiten, nämlich geschichtliche Völker in ihrer Verschiedenheit jeweils die grundlegenden sittlichen Inhalte und Maßstäbe abgeben, dann droht ein ethischer Relativismus. Diesem entgeht Hegel – nicht jedoch durch ein ethisches Argument, sondern durch die Begründung seiner ethischen Konzeption in der Geistmetaphysik; es ist ein und derselbe Geist, der in verschiedenen sittlichen Ganzheiten auf verschiedene, je geschichtliche Weise gegenwärtig ist und sich darin mehr oder weniger adäquat und vollkommen selbst anschaut. Zur Sphäre der allgemeinen Sittlichkeit eines Volkes gehört für Hegel auch dessen Religion; in seinen Jenaer Ansätzen trennt er noch nicht wie später Staat und Religion als Instanzen des objektiven bzw. des absoluten Geistes systematisch voneinander ab. Der Geist, der die Sitten eines Volkes belebt, wird als eine eigene konkrete Gestalt angeschaut im „Gott des Volkes“ 55 und im Cultus verehrt. Hegel nimmt hierbei die Herdersche Auffassung vom Volksgeist auf und betrachtet als dessen höchsten Repräsentanten den Gott des Volkes. In seinem Gott konstituiert das Volk die geistig-konkrete Gestalt der sein Leben absolut bestimmenden Macht der Sitten.56 Eine solche Religion stellt 55
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Vgl. GW 4, 470; System der Sittlichkeit, 54 f, auch K. Rosenkranz: Hegels Leben, 133. – Das Verhältnis der spezifisch religiösen zur spezifisch politischen Sittlichkeit bleibt dabei ungeklärt. In den verschiedenen Staatsverfassungen schlägt sich nach Hegel zugleich das jeweilige Verhältnis der Mitglieder eines Volkes zu seiner Religion nieder. Die Verfassungen, die Hegel nennt, nämlich Demokratie, Aristokratie, Monarchie und Ochlokratie, Oligarchie, Despotie,
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die eindringlichste Weise anschaulicher Selbstverständigung des Volkes über seine Sittlichkeit und Geistigkeit überhaupt dar; diese Selbstverständigung beruht weder auf bloßer Projektion, da die Religion für Hegel selbst sittliche Realität bedeutet, noch auch auf Offenbarung. Hegel zeichnet in der frühen Jenaer Zeit die christliche Religion noch nicht wie später als die geoffenbarte und wahre aus. In jeder Religion ist der Geist geschichtlich gegenwärtig, freilich wie bei der sittlich-politischen Organisation in mehr oder weniger adäquater Selbstanschauung. Diese gelingt nach Hegel am meisten in der „schönsten Gestalt“, womit die griechische Polis und ihre schöne Religion gemeint ist.57 Schönheit wird hier noch nicht wie später auf die Kunst eingegrenzt; eine systematisch selbständige Ästhetik konzipiert Hegel damals noch nicht. Solche Schönheit und Vollendung der griechischen Polis in platonisierender Deutung sucht Hegel in seinem eigenen ethisch-politischen Entwurf unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates zu restituieren. Diese Konzeption politischer Ethik ist nun in einer bestimmten Logik und Metaphysik fundiert, die Hegel ebenfalls in der frühen Jenaer Zeit entwirft. Dem Gedanken des Volkes liegt logisch der Begriff einer konkreten Allgemeinheit zugrunde. Diese ist nicht abstrakter Begriff als analytische Identität eines sonst vielfältig verschiedenen Mannigfaltigen, sondern in sich einige Ganzheit, die das vielfältige, ihr zugehörige Besondere in sich enthält, ja dessen konstituierender Grund ist. Nach diesem Muster denkt Hegel das Volk als ursprüngliches sittliches Ganzes, das die Stände und die Einzelnen in sich enthält, ja sie in ihrer spezifischen Sittlichkeit erst konstituiert. Das Problem des Erweises der logischen Möglichkeit solcher konkreten Allgemeinheit hat Hegel schon in Jena gesehen und in der Darlegung von Begriff, Urteil, Schluß und der Methode des Erkennens thematisch ähnlich wie später, systematisch jedoch noch in einer Logik der endlichen Reflexion, die zur wahren Erkenntnis außerdem der intellektuellen Anschauung bedarf, zu lösen versucht. Diese Konzeption von konkreter Allgemeinheit und die Notwendigkeit einer sukzessiven Entwicklung solcher Allgemeinheit im Rahmen der Dichotomie sowie der wechselseitigen Beziehungen von Begriff und Anschauung prägen zugleich Hegels Experiment einer methodischen Explikation seiner politischen Ethik im System der Sittlichkeit.58 Ebenso beruht, wie gezeigt, Hegels Kritik
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erinnern an Aristoteles’ Verfassungstheorie, aber auch an die Skizze einer Verfassungslehre in Platos Politikos (301c ff), die jener vorausgeht und neu gegenüber der Politeia ist; vgl. Hegel: System der Sittlichkeit, a.a.O. 90 f. Vgl. GW 4, 484 (der „absolute Geist“ ist dort der vollkommen sittliche Geist).Zu dieser Bedeutung von Schönheit vgl. vom Verf.: „Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), bes. 321 ff (mit weiteren Literaturangaben). Hegels dortige Durchführung bleibt zwar schematisch und abstrakt; immerhin aber folgt sie dieser grundlegenden Konzeption. Jenes Verfahren mit Hinweisen auf die logische Grundlage zeichnet J.H. Trede nach: „Mythologie und Idee“. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg. von R. Bubner (= Hegel-Studien. Beiheft 9). Bonn 1973, bes. 176 ff. Auf Hegels logische
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am Gesetzesformalismus auf seiner frühen Logik der endlichen Reflexion mit ihren einander entgegengesetzten endlichen Bestimmtheiten. In der Entgegensetzung dieser Bestimmtheiten gründet auch der frühe, noch negative Sinn von Hegels Dialektik, die er im Kontext seiner politischen Ethik und Naturrechtstheorie andeutet, die systematisch in seiner frühen Logik fundiert ist und deren historisches Vorbild außer Kants Antinomienlehre vor allem Platos Parmenides mit seinen Paradoxien ist.59 Das sittliche Ganze als konkrete Allgemeinheit, in der das Besondere enthalten, ja erst konstituiert ist, muß ontologisch als wirklich gedacht werden. Die Wirklichkeit des sittlichen Ganzen ist dann in geistmetaphysischer Explikation die Gegenwärtigkeit des Volksgeistes. Diese Lehre vom Volksgeist aber wird noch einmal begründet, und zwar unplatonisch in einer idealistischen, an Spinoza anknüpfenden Metaphysik der Einen Substanz, die Hegel in der frühen Jenaer Zeit vertritt. So ist für ihn der „absolute Geist eines Volkes ... die absolute, einfache, lebendige, einzige Substanz “.60 Der Volksgeist ist die Eine Substanz, sofern diese in ihrem Attribut, ihrer Wesensbestimmung des Denkens oder überhaupt der Geistigkeit real und in einem bestimmten Repräsentanten geschichtlich wirklich ist. In ethischer Argumentation hatte sich gezeigt, daß die Individuen für Hegel in ihrer reinen Sittlichkeit nicht selbständig, sondern vielmehr nur bestimmte Momente der absoluten Sittlichkeit des Volksgeistes sind; sie befinden sich nur durch ihre Tapferkeit wirklich im göttlichen Geist ihres Volkes. Substanzmetaphysisch und spinozistisch gedacht, bedeutet dies, daß die Individuen nur zufällige Modi der Einen göttlichen Substanz darstellen und nur in der tapferen Aufhebung ihrer selbständigen Existenz absolut sittlich, d.h. in der Substanz oder im Absoluten sind. – Hegels politische Ethik und seine anti-individualistische Auffassung von der reinen Sittlichkeit als Tapferkeit und als Aufhebung der selbständigen Existenz der Individualität zugunsten des politischen Ganzen findet also ihre adäquate metaphysische Begründung in jener Metaphysik der Einen Substanz.
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Grundlagen in diesem Versuch macht zuvor schon aufmerksam H. Kimmerle, a.a.O. (Anm. 39), 215 ff, 223 ff, 236 ff; vgl. auch R.-P. Horstmann, a.a.O. (Anm. 33), bes. 215 ff, 222 ff. – Zu Hegels früher Logik und Metaphysik s. Anm. 35. Vgl. GW 4, 446; System der Sittlichkeit, 38 f; dazu vgl. vom Verf.: Das Problem der Subjektivität, a.a.O. (Anm. 35), 93-108, zur Beziehung von Hegels früher Dialektik auf Platos Parmenides ders.: „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“, a.a.O. (Anm. 2), bes. 123 ff. GW 6. Hrsg. von H. Kimmerle und K. Düsing. Hamburg 1975, 315, vgl. 314, 268, ebenso die substanzmetaphysische, spinozistische Systemskizze Bd. 4, 432 f. Vgl. zu dieser Metaphysik der Einen Substanz bei Schelling und Hegel vom Verf.: „Idealistische Substanzmetaphysik“. In: Hegel in Jena. Hrsg. von D. Henrich und K. Düsing (= Hegel-Studien. Beiheft 20). Bonn 1980, 25-44. – Eine Theorie teleologischer Entwicklung der Völkergeister in der Geschichte entwirft Hegel noch nicht.
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b. Griechische und moderne Sittlichkeit in Hegels späterer Plato-Kritik In der frühen Jenaer Zeit galt Hegel die Platonische Ethik und Staatslehre trotz aller Abänderungen, die er vornahm, allgemein als vorbildlich. Diese Einschätzung ändert sich wenige Jahre später. In der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 vermißt Hegel am Platonischen Idealstaat „das höhere Prinzip der neueren Zeit, das die Alten, das Plato nicht kannte “,61 nämlich die Subjektivität, das absolute Sich-Wissen des Einzelnen, das zugleich dessen innere Freiheit bedeutet. Zum ersten Mal formuliert Hegel hier eine grundlegende Kritik am systematischen Sinn jenes Idealstaats, die er später beibehält. Noch immer ist für ihn die griechische Polis der Inbegriff schöner politischer Sittlichkeit, nämlich unmittelbarer Einheit des Einzelnen mit dem konkreten politischen Allgemeinen ohne die Probleme der Entzweiung, die später in der Geschichte auftraten; aber sie entbehrt insbesondere in ihrer Platonischen Fassung des eigenen Rechts der freien, sich wissenden Individualität. Diese Kritik enthält keinen Vorwurf gegen den historischen Plato; Hegel deutet schon hier an, was er später ausführt, daß Plato vielmehr das Wesen der griechischen Polis ausgesprochen habe. Der Idealstaat ist somit nach Hegel nicht einfach etwas Unwirkliches, sondern vielmehr Wesensbegriff der Polis; aber eben sie ist geschichtlich vergangen, nicht mehr wirklich. Die Wandlung in Hegels Auffassung von Platos politischer Ethik ist durch eine prinzipielle systematische Konzeptionsänderung und deren spezifische Folgen motiviert. Hegel verläßt in der Mitte der Jenaer Zeit die Metaphysik der Einen Substanz zugunsten einer Metaphysik der absoluten Subjektivität. Denn zum einen dürfte das Problem der Selbstbezüglichkeit des sich anschauenden und sich wissenden Absoluten kaum substanzmetaphysisch zu lösen sein; zum anderen dürfte die neu in die Geistesphilosophie eingeführte Geschichte des Selbstbewußtseins über verschiedene Stufen hinweg das Selbstbewußtsein kaum vollenden können mit dessen Versenkung in der Substanz.62 Eine spezifische Folge dieser systematischen Neukonzeption ist Hegels Änderung der Auffassung von der griechischen und der christlichen Religion. Die spekulativ interpretierte christliche Religion ist für ihn nun die absolute und wahre; denn in ihr tritt als die vollendete Wahrheit die Tiefe der Subjektivität und Persönlichkeit Gottes zutage. Die schöne Religion der griechischen Polis sinkt demgegenüber zum heiteren, unernsten Spiel herab. Eine weitere spezifische Folge, die Hegel noch nicht näher charakterisiert, besteht in einem gewandelten Verständnis von Sittlichkeit, die eine Sittlichkeit der Subjektivität und der freien Individualität sein muß. Nicht nur metaphysische und religionsphilosophische, auch solche spezifisch ethischen Gründe dürften verantwort-
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GW 8. Unter Mitarbeit von J.H. Trede hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1976, 263. Vgl. dazu vom Verf.: „Idealistische Substanzmetaphysik“, a.a.O. 41 ff, und zum folgenden ders.: „Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst“, a.a.O. (Anm. 57), 327 f; auch GW 8, 281.
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lich sein für die von Hegel dann aufrechterhaltene Kritik an Platos politischer Ethik.63 Hegels Kritik am Platonischen Idealstaat ist wesentlich zugleich Selbstkritik; er selbst hat in seinem frühen Jenaer Entwurf einer an Plato orientierten politischen Ethik das Prinzip der Subjektivität und der freien, ihrer selbst gewissen Individualität mißachtet. – Hegel legt später vor allem in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ausführlicher seine Deutung und Umdeutung sowie seine Kritik der Platonischen Lehre vom Idealstaat dar und geht dabei, wie zu zeigen ist, von den Prämissen seiner eigenen, den Jenaer Entwurf teilweise revidierenden praktischen Philosophie aus; dennoch hält er implizit in dieser späteren Rechtsphilosophie und politischen Ethik an grundsätzlichen paradigmatischen Einsichten Platos zum politischen Charakter der Ethik fest.64 In der Betrachtung von Hegels reifer Auseinandersetzung mit Platos ethisch-politischer Theorie soll daher zugleich die Art von Ethik deutlich werden, die Hegel selbst dabei vorschwebt. Hegel liefert in dieser Auseinandersetzung eine ontologische und zugleich geschichtliche Deutung und Umdeutung desjenigen Ideals, das das Platonische Staatsmodell der Politeia darstellt. Gegen die gängige Vorstellung, jener Idealstaat sei ein müßiger Traum und eine Chimäre, gegen die sich schon Kant mit dem Votum für dessen moralische Realität gewendet hatte, führt Hegel das ontologische Argument ins Feld, das Ideal enthalte das eigentlich Wirkliche und Substantielle, das in der Idee begriffen werde.65 Denn die Platonische Idee überhaupt, hier speziell die Idee der Gerechtigkeit, bedeute das Wesentliche und Substantielle, das gegenüber der sinnlichen Erfahrungsrealität das eigentlich Wirkliche sei. Das wesentliche Seiende, das Plato mit dem Idealstaat erfaßt habe, ist allerdings für Hegel in der Geschichte etwas Transitorisches; es wird von ihm geschichtlich als das Wesen der griechischen Sittlichkeit bestimmt, die vergangen ist. Es fragt sich, wie beide Qualifizierungen des Idealstaats miteinander zu vereinbaren sind.
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Daß Hegel damals noch Machiavellismus und Tyrannei als in bestimmten Fällen gerechtfertigt darzulegen sucht (vgl. GW 8, 258 ff), ist signifikant für seine politische Einstellung; es folgt freilich weder aus Platos Lehre, die die Tyrannis als die ungerechteste Verfassung erweist, noch aus dem Prinzip der Subjektivität und freien Individualität, das nicht nur für Herren gelten kann, sondern Grundlage einer neuen, noch auszuarbeitenden politischen Ethik ist. Hegels Konzeption einer politischen Ethik innerhalb seiner ausgebildeten Rechtsphilosophie und seine generelle Orientierung an Platos Politeia – trotz aller Unterschiede – legt überzeugend A. Peperzak dar: „Hegels Pflichten- und Tugendlehre“. In: Hegel-Studien 17 (1982), 97117, ebenso ders.: „Zur Hegelschen Ethik“. In: Hegels Philosophie des Rechts. Hrsg. von D. Henrich und R.-P. Horstmann. Stuttgart 1982, 103-131. Vgl. Sämtliche Werke. Bd. 14. Hrsg. von K.L. Michelet. Berlin 1833, 272 ff. Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 25), 14. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 71969, § 552 Anm. (436 ff). Vgl. dazu D. Janicaud, a.a.O. (Anm. 33), bes. 161 ff und (mit kritischer Wendung gegen Janicaud und unter Betonung des Verhältnisses von Idee und Geschichte) J.-L. Vieillard-Baron, a.a.O. (Anm. 33), 351-369.
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In der ontologischen ebenso wie in der geschichtlichen Hinsicht deutet Hegel damit Platos Lehre um. Plato beanspruchte mit seinem Idealstaat keineswegs, das Wesen der griechischen Sittlichkeit zu begreifen; die von ihm entworfene sittliche Polis gab es für Plato weder in seiner Gegenwart noch in der griechischen Vergangenheit. Ferner hat für Plato seine Theorie der Sittlichkeit nicht nur geschichtlich transitorische Bedeutung; sie soll vielmehr allezeit für alle der Gerechtigkeit fähigen Menschen gelten. Hegel berücksichtigt zwar die Platonische Kritik an den damaligen Verfassungen und insbesondere am demokratischen Athen. Aber er sieht darin eine Abwehr des aufkeimenden neuen Prinzips der subjektiven, freien Individualität; diese spreche sich insbesondere in der Person des Sokrates aus, der deswegen von den Athenern verurteilt worden sei. Plato habe das für die griechische Sittlichkeit drohende Verderben in dieser Phase sinkender Lebenskraft des griechischen Geistes hellsichtig erkannt und Abhilfe in einem völligen Ausschluß des Prinzips der Subjektivität und Einzelheit aus der sittlichen Polis gesucht. Von solchen Überlegungen kann bei Plato freilich keine Rede sein; er kritisiert zeitgenössische und frühere Verfassungen vielmehr wegen mangelnder Gerechtigkeit, und Sokrates wird ihm zum Vorbild des Gerechten, der höchstes Unrecht erleidet, und zwar von den sittlich depravierten Athenern.66 Hegel unterlegt seiner entschiedenen Umdeutung der Platonischen Lehre seine eigene Metaphysik des Volksgeistes und der notwendigen Geschichtsentwicklung. Auch Hegels ontologische Auffassung vom Ideal als eigentlicher Wirklichkeit impliziert eine Umdeutung, die freilich weniger offenkundig ist. Im Anklang an den Satz über die Vernünftigkeit des Wirklichen, der in den Grundlinien der Philosophie des Rechts die kurze Erörterung des Platonischen Idealstaats in seiner substantiellen Bedeutung abschließt, sagt Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Das wahrhafte Ideal soll nicht wirklich sein, sondern ist wirklich und allein das Wirkliche.“ 67 Nur Mißdeutungen haben dies dem Platonischen Idealstaat nach Hegel abgesprochen. Wirklichkeit ist hier in der Bedeutung der Kategorie der Logik als wesentliche, substantielle, die Trennung von Erscheinung und Ding an sich in höherer Einheit aufhebende Modalbestimmung zu verstehen, die sinnlichem Dasein 66
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Nach Foster unterscheidet Hegel bei seinem Vorwurf mangelnder Subjektivität in Platos Polis nicht genau zwischen den Ständen, auch nicht hinreichend zwischen den Seelenvermögen; ferner gebrauche er die Begriffe: Freiheit und ethischer Wille mehrdeutig; außerdem habe Plato nicht die griechische Sittlichkeit lediglich auf den Begriff gebracht. So treffe Hegels Kritik nur unscharf oder gar nicht zu. Vgl. M.B. Foster: The Political Philosophies of Plato and Hegel (zuerst 1935). Nachdruck Oxford 1968, bes. 72-98, auch 121 ff. Sämtliche Werke. Bd .14, 274 (belegt in der Nachschrift Griesheim 1. 344). Vgl. Grundlinien, 14. Zu Hegels Interpretation dieses Satzes von der Vernünftigkeit des Wirklichen vgl. Enzyklopädie (1830), a.a.O. § 6 Anm. Unter Hinzuziehung verschiedener Versionen aus Nachschriften und Berichten legt Henrich differenzierend eine institutions- und eine geschichtstheoretische Bedeutung des Vernunft-Wirklichkeit-Satzes dar, vgl. D. Henrich: „Vernunft in Verwirklichung“. In: Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hrsg. von D. Henrich. Frankfurt a.M. 1983, bes. 13 ff.
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und empirischer Existenz überlegen ist. Solches Wirkliche sei die griechische Sittlichkeit, die nur dem Ideen-Denken sich erschließe. Damit gibt Hegel die ontologische Bedeutung der Ideen im Sinne seiner eigenen Logik spezifischer an. Zugleich drängt er aber die bei Plato in den Tugenden als Ideen beibehaltene ethische Bedeutung zurück. Für Plato bleiben, wie gezeigt, die Tugenden, auch die Grundtugend der Gerechtigkeit, trotz der ontologischen Fundierung spezifisch praktische Grundlagen für sittliches Tun, aus denen sittliche Imperative und Zwecke folgen. Die ideale Polis, die nur an sich, aber nicht in einem einzelnen Fall wirklich ist, und die Tugenden als Ideen in ihrem allgemeinen Ansichsein sind bestimmende Ursachen für ethische Haltungen und Handlungen, die erst realisiert werden sollen. Hegel dagegen sieht im Platonischen Idealstaat und seinen Tugenden nur ansichseiende wesentliche Wirklichkeit des griechischen Volksgeistes. Auch die von Hegel behauptete Weiterentwicklung der Idee von der Platonischen Gattungsallgemeinheit ohne immanente Einzelheit zur Aristotelischen konkreten Allgemeinheit ist ein rein theoretisch-metaphysischer Prozeß.68 – Hegels ontologische Umdeutung des ethischen Ideals beruht also einerseits auf seiner Logik der Wirklichkeit; sie beruht andererseits aber – hinsichtlich der Bedeutung dieses Ideals für Verhalten und Lebensauffassung – auf seiner Verherrlichung der Gegenwart, in der seiner Ansicht nach das Vernünftige, zu dem ein Volks- und Zeitgeist als Manifestation des Weltgeistes sich durchringen kann, immer auch wirklich ist. Ethik wird dabei aufgehoben in Metaphysik. Zugleich wird die geschichtlich nur transitorische Wirklichkeit, der für Hegel auch der Platonische Idealstaat als Formulierung der griechischen Sittlichkeit unterliegt, ihrem begrifflichen Gehalte nach metaphysisch aufbewahrt, nämlich als Moment des die Völkergeister beherrschenden Weltgeistes. In seiner Schilderung des Platonischen Idealstaats im einzelnen hebt Hegel eindeutig den politischen Charakter dieser Ethik hervor.69 Sittlichkeit werde von der Gerechtigkeit der Polis her gedacht. Dies ist für Hegel der eigentliche Grund für die Betrachtung der Gerechtigkeit des Ganzen, der Polis, die Plato zunächst nur zur Erkenntniserleichterung eingeführt hatte. Stimmt diese Auffassung noch mit Plato überein, so ergeben sich untergründige Verschiebungen der Platonischen Lehre dadurch, daß Hegel von der Frage nach der Gerechtigkeit des Einzelnen fast ganz absieht, auch wenn dieser innerhalb der Theorie Platos Standesmitglied ist und der politische Charakter der Ethik damit nicht durchbrochen wird. Bei Hegel erhalten die Institutionen70 Prävalenz 68
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Aus der von Plato konzipierten Einheit von Ethik und Ontologie in der Tugendlehre hebt Kant (Kritik der reinen Vernunft, B 371 ff) den moralischen Sinn ohne die Ontologie, Hegel den ontologischen Sinn ohne die spezifisch ethische Komponente, keiner von beiden aber die für Plato grundlegende Bedeutung der Tugendlehre hervor. Dies betont Hegel auch bei Aristoteles: „Das Politische ist also, wie beim Plato, das prius.“ (Sämtliche Werke. Bd .14, 399). Vgl. a.a.O. 288 – Zur Gerechtigkeit vgl. Hegels Satz: „Die Gerechtigkeit in ihrer Realität und Wahrheit ist allein im Staate.“ (a.a.O. 270)
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in ontologischer Bedeutung; sie ermöglichen nicht nur Sitte und sittliches Verhalten, sondern gehen dieser „subjektiven“ Lebendigkeit als wirklich bestehende voraus. Nach Plato dagegen kommt erst durch sittliches Tun der Einzelnen, die freilich im politischen Horizont handeln, wirkliche Sittlichkeit in den Ständen und der Polis zustande. – So entfaltet Hegel als Momente des Ganzen grundlegend die Stände, daraufhin die Tugenden als sittliche Wesenheiten, und zwar als sittliche Eigenschaften der Stände und der Polis sowie als sittliche Bedeutung der Stände in den Einzelnen und schließlich die Prägung der Seelenteile des Einzelnen durch jene sittlichen Wesenheiten. Dieser Fundierungszusammenhang ist bei Hegel durch die Institutionen bestimmt. Sie machen die Organisation des Ganzen aus, die Besonderheiten, in denen es sich als seinen konkreten Momenten gegenwärtig ist. Was für Plato Lösung der Frage nach der Einheit der Tugenden war, nämlich die Gerechtigkeit als Grundtugend und Tugend höherer Ordnung, das deutet Hegel institutionstheoretisch und logisch-ontologisch; es ist für ihn der wirkliche Ständestaat als konkrete Allgemeinheit, die sich in ihre Momente, hier die ständischen Institutionen, entfaltet.71 Aufgrund der bestimmenden Macht der Institutionen hat Plato nach Hegel aus seinem Staat einzelne bedeutsame Freiheiten der Individuen ausgeschlossen. Hegel führt dafür drei konkrete Argumente an: Plato überlasse den Individuen nicht die Wahl eines Standes; ferner hebe er das Privateigentum auf, was für den dritten Stand freilich nicht zutrifft; schließlich hebe er Ehe und Familie auf und lasse Frauen und Kinder jeweils durch die Regierung zuordnen, was bei Plato ebenfalls nicht generell gilt.72 Hegel nimmt hier im wesentlichen Topoi sicherlich berechtigter Plato-Kritik auf und fundiert sie im Gedanken, Plato habe damit die Subjektivität abwehren wollen. Diese Auseinandersetzung Hegels mit der Platonischen Lehre vom Idealstaat setzt seine spätere Rechtsphilosophie voraus. Diese enthält als integrierten, aber zugleich konstitutiven Bestandteil eine politische Ethik, die systematischen Grundlinien der Platonischen politischen Ethik verwandt ist und darüber hinaus beansprucht, das Recht der Subjektivität und freien Individualität zu wahren. So trifft, was Details angeht, keiner der drei soeben genannten, gegen Plato erhobenen Vorwürfe Hegels eigene Theorie. Im Unterschied zu seinem früheren Jenaer Entwurf entwickelt Hegel einen Begriff von politischer Sittlichkeit des Einzelnen, die nicht mehr im allgemeinen, sondern nur noch in besonderen Fällen Tapferkeit und ideelle oder sogar reale Aufhebung und Vernichtung der eigenen Existenz des Individuums bedeutet. Die Sittlichkeit des Einzelnen besteht nun vielmehr im eigenen aktiven Wollen und Sich-zumZwecke-Setzen des politischen Allgemeinen; das Individuum erfüllt dann mit 71
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Vgl. auch Hegels Versuch, die drei Seelenteile, die sittlich bestimmt sind, durch die drei Begriffsmomente: Allgemeines, Besonderes und Einzelnes zu denken und in einem Schluß zu vereinigen (vgl. a.a.O. 286). Vgl. a.a.O. 289 ff; Grundlinien, § 185 Anm.
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innerer Zustimmung die von den staatlichen Institutionen vorgegebenen Aufgaben und erfüllt darin – unter Wahrung seiner Existenz im Normalfall – nach Hegel sich selbst. Diese Staatsbürgergesinnung, von Hegel auch „Patriotismus“ genannt, bleibt nach seinem eigenen Selbstverständnis in seiner Rechtsphilosophie keineswegs antik, nämlich nicht bewußtloses, unmittelbares Aufgehen des Einzelnen in der Sittlichkeit der Polis,73 sondern ist bewußtes und wollendes Übernehmen der Anforderungen des staatlichen Ganzen und seiner Institutionen, weil nur hierin nach Hegel der freie Wille als wissender wirklich ist. Hegel beansprucht dabei, die moralische Subjektivität, wie Kant und Fichte sie explizierten, und das moralische Gewissen des Individuums in dieser sittlich-politischen Grundhaltung des Einzelnen aufgehoben und in solcher substantiellen Staatstreue beruhigt zu haben. In diese politische Ethik innerhalb der Theorie des Staates als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“74 sind nun gleichermaßen die Ethik als Pflichtenlehre, wie sie für Hegel insbesondere Kant ausführte, und die Ethik als Tugendlehre, wie er sie vornehmlich in Platos und Aristoteles’ Ethik sah, eingegangen. Die gravierende Veränderung gegenüber Kant wird an Hegels Bestimmung der „höchsten Pflicht“ deutlich, nämlich „Mitglied des Staats zu sein“,75 und zwar des wirklichen und daseienden, nicht nur eines idealen moralischen Reichs der Zwecke. Die Modifikation der Platonischen und Aristotelischen Lehre, aber auch die Abweichung von seinem früheren Jenaer Entwurf wird sichtbar an Hegels Auffassung, daß die grundlegende Tugend des Individuums als eines solchen Staatsbürgers die Rechtschaffenheit sei.76 Sie gilt ihm als Haltung einfacher, zustimmender Erfüllung der von staatlichen Institutionen vorgezeichneten Aufgaben und Pflichten. Eine Reminiszenz an die Idiopragie-Vorstellung, daß jeder das Seine tue, und somit an Platos Begriff der Gerechtigkeit des Einzelnen ist darin enthalten und nicht mehr wie in Jena auf den bourgeois beschränkt. Doch gilt die Idiopragie hier nicht wie bei Plato von der inneren Ordnung der Seele; ferner wird nicht nur der Idealstaat, sondern die Existenz und Wirklichkeit des konkreten staatlichen Ganzen als Substanz notwendig vorausgesetzt. Nur im Heroenzeitalter, noch bevor es Staaten gab, waren Tugenden ausgezeichnete sittliche Eigenschaften hervorragender Individuen, die damals zugleich Repräsentanten der Sittlichkeit oder besonderer sittlicher Mächte waren; wegen der Besonderheit und damit Begrenztheit der jeweils von ihnen vertretenen sittlichen Macht konnte es dann zu tragischen Kollisionen kommen. Sowohl Heroentugenden wie tragische Konflikte aber 73
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Zu Hegels Auffassung von der nicht reflektierten, einfachen Sittlichkeit der Griechen vgl. U. Rameil, a.a.O. (Anm. 42), 139-162. Grundlinien, § 257. Grundlinien, § 258. Zu dieser Hegelschen Ethik und ihrer Ausführung in Pflichten- und Tugendlehre vgl. A. Peperzak: „Hegels Pflichten- und Tugendlehre“, und: „Zur Hegelschen Ethik“, a.a.O. (Anm. 64). Vgl. Grundlinien, § 150; sie bleibt in eingeschränktem Sinne auch Tugend des bourgeois (vgl. § 207).
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sind nach Hegel im wohlgeordneten Staatsganzen, das die sittlichen Mächte in Institutionen und deren klaren Verhältnissen zueinander befestigt, ausgeschlossen. Auch in dieser Hinsicht kann das Individuum im Normalfall beruhigt und politisch problemlos der getreulichen alltäglichen Erfüllung seiner Pflichten nachkommen und darin das Bewußtsein seiner Sittlichkeit haben. Die subjektive Sittlichkeit des Einzelnen, die Hegel in der Revision seines Jenaer Ansatzes neu berücksichtigt, besteht daher eigentlich nur in dieser bewußten Loyalität gegenüber dem Staat. Die Institutionen und das politische Ganze erhalten also ihre subjektive Lebendigkeit durch solche ethische Gesinnung und solches sittliche Tun der freien Subjekte und Individuen. Hegel setzt hierbei nicht einfach einen vorhandenen Staat, sondern – wie in seiner Plato-Umdeutung – die heiß umstrittene Identifizierung des Ideals eines sittlichen Gemeinwesens mit dem wirklichen, geschichtlich existierenden vernünftigen Staat voraus. Zwar weichen die zeitgenössischen Staaten Europas von Hegels Muster des Vernunftstaates mehr oder weniger ab; doch sind dies für Hegel geschichtliche Zufälligkeiten von unterschiedlichem Gewicht, die im allgemeinen die wesentliche und substantielle „Wirklichkeit“ und Gegenwart sittlich-vernünftiger Staatlichkeit in einem vorhandenen politischen Gebilde nicht ernstlich gefährden. Pflichten, sittliche Zwecke und Tugenden der Individuen, die Hauptinhalte einer Ethik, gelten damit grundsätzlich als spezifische Momente des wirklichen und lebendig gegenwärtigen vernünftigen Staates. Dies Verhältnis deutet Hegel trotz seiner Berücksichtigung der subjektiven Sittlichkeit wie schon in seinem Jenaer Ansatz als das Verhältnis von Substanz und Akzidens; der Staat als sittliche Wirklichkeit ist die allgemeine und Macht habende Substanz, an der das sittliche Individuum nur Akzidens ohne selbständige Existenz ist.77 Plato hat, obwohl er nicht über eine Theorie freier Individualität verfügte, doch die sittlichen Einzelnen nicht zu unselbständigen Momenten eines eigentlich seienden sittlichen Ganzen herabgesetzt;78 sie verwirklichen ja erst Sittlichkeit in der Polis. Hegel gesteht also auch in seiner späteren politischen Ethik innerhalb seiner Theorie des objektiven Geistes dem neuzeitlichen Prinzip der Subjektivität und freien Individualität keine eigenständige Geltung zu. Solche Geltung erhält es jedoch systematisch in der Religionsphilosophie, nämlich als christliches, genauer protestantisches Gewissen. Dieses religiöse Gewissen, das sich 77
78
Vgl. z.B. Grundlinien, §§ 144 ff, auch Hegels Randnotizen 416 f, ebenso Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Hrsg. von K.-H. Ilting. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973 f. Z.B. Bd. 4, 397. Zum Staat als Substanz und den Individuen als Akzidenzien, die jedoch darin nicht aufgehen, vgl. H. Heimsoeth: „Politik und Moral in Hegels Geschichtsphilosophie“ (1934/35). In ders.: Studien zur Philosophiegeschichte. Köln 1961 (= Kant-Studien. Ergänzungsheft 82), 22-42. Zur subjektiven Substantialität des modernen Staates bei Hegel vgl. auch S. Avineri: „Der Staat – das Bewußtsein der Freiheit“. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. von M. Riedel. Frankfurt a.M. 1975, 393-414. Die Kategorie der Substanz in ihrem Verhältnis zu inhärierenden Bestimmungen ist ohnehin erst Aristotelisch, obwohl Plato den Unterschied von Ansichsein und Sein in Beziehung auf anderes schon formuliert (Sophistes, 255c).
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der Wahrheit des sich offenbarenden absoluten Geistes unmittelbar gewiß und sicher ist, gibt erst, wie Hegel in der Enzyklopädie (1827, 1830) betont,79 den Gesetzen der objektiven sittlichen Vernunft und des Staates die eigentliche Sanktionierung. In einem Konflikt zwischen staatlichen Gesetzen und religiösem Gewissen folgt das Subjekt, wie Hegel nun erklärt, der höheren religiösen Auffassung, die somit letzter Grund für sein sittliches Verhalten ist. Zugleich ist das religiöse Gewissen Basis und lebendige Ursache für die Verwirklichung eines optimalen sittlichen Staates. So kann Hegel, da er den Staat als sittliche Substanz denkt, an dem die Individuen als Staatsbürger lediglich Akzidenzien sind, die Freiheit und Selbständigkeit der Individuen, die er anerkennt, nur im religiösen, protestantischen Gewissen aufrechterhalten. – Zur Klärung des genuin ethischen Problems der freien Selbstverantwortlichkeit des Individuums auch gegenüber dem Staat muß Hegel also in dieser Lösung systematisch die Gültigkeit seiner metaphysischen Theorie des Christentums, seiner Geschichtsteleologie und seiner Auffassung von der sittlichen und politischen Bedeutung der Religion voraussetzen. Die Platonische und die Hegelsche Lehre stellen also zwei verschiedene grundlegende Theorien politischer und holistischer Ethik dar, die in den gegenwärtigen Diskussionen um Begründungsprobleme einer Ethik kaum beachtet werden. Fundamentale Fragen der politischen Dimension der Ethik können durch sie wiedergewonnen werden, wie sie hier erörtert wurden, ebenso das Bewußtsein von Problemen, die gerade diese Theorien mit sich bringen. Plato stellt seine Ethik als Tugendlehre auf, als Theorie der Einheit und Vielheit der Tugenden der Polis wie des Einzelnen. Wenn auch in der Polis Sittlichkeit erst durch die Einzelnen wirklich wird, so setzen doch deren Tugenden und deren Tun als Horizont und Handlungskontext wesentlich die Polis voraus, und zwar die Polis als ethisches Ideal mit bestimmten sittlichen Eigenschaften, nämlich Tugenden. Ein solcher systematischer Zusammenhang von Sittlichkeit oder Tugend des Einzelnen und Polis als Ideal ist unabhängig von den Detailbestimmungen exemplarisch für eine Ethik, in der Sittlichkeit politisch konzipiert wird. Ein ethisches Problem bildet bei Plato, von der Neuzeit her gesehen, der Mangel an individueller Freiheit und Autonomie des Einzelnen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der ontologischen Fundierung der idealen Polis ebenso wie der Tugenden in Ideen und deren konstantem Ansichsein. Zwar wird dadurch insbesondere hinsichtlich des Einzelnen der Grund der Ethik als Tugendlehre sichtbar; Tugenden sind spezifische ånäç der Ordnung der Seele, die in ihnen ihre Vollkommenheit erlangt. Aber sowohl die Idee der Seele in ihrer Gerechtigkeit als auch die ideale gerechte Polis erhalten dadurch den Status des ewigen Ansichseins; es bleibt unklar, wie sie zugleich als erstrebte,
79
Enzyklopädie (1830), § 552 Anm. (432 ff), auch Enzyklopädie. Heidelberg 21827, § 563 Anm., anders noch Grundlinien, § 270 Anm.
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d.h. als Inhalte des Sollens bloß möglich und insofern nicht wirklich sein können. Die Benennung dieses Problems bedeutet nicht, daß es unlösbar wäre.80 So wie Hegel entschiedener als Plato Sittlichkeit ausschließlich politischholistisch denkt, so verschärfen sich bei ihm auch die beiden genannten Probleme. Hegel geht vom Staat als konkretem, wirklichem Ganzen der Sittlichkeit aus; in ihm als Substanz fundiert er die Sittlichkeit des Einzelnen – in seinem Jenaer Ansatz Plato in manchem noch näher als später. Aus Hegels Darlegung kann man evident die konkrete sittliche Verpflichtung und Verantwortlichkeit des Einzelnen für den Bestand und die Fortentwicklung des politischen Ganzen in seiner Vernünftigkeit entnehmen. Innerhalb dieser politischen Ethik vermag jedoch das Prinzip der individuellen Freiheit und Autonomie nicht zur Entfaltung zu kommen; ihm bleibt nur der Bereich des religiösen Gewissens. Ferner wird durch das Theorem der Wirklichkeit des Sittlichen im Staat, die zugleich die Gegenwart des Volksgeistes ist, der Sinn ethischen Strebens nach noch nicht Wirklichem, nach möglicher, aber unerreichter, vielleicht sogar nach unerreichbarer ethischer Vollkommenheit funktionslos und imaginär; ethisches Streben und sittliche Anstrengung gelten dabei als nicht qualitativ unterschieden von der Bemühung, Funktionsträger in wirklichen staatlichen Institutionen zu werden oder mit Erfolg zu sein. Systematisch wird die Ethik somit ein unselbständiger Bestandteil der substanzmetaphysisch begründeten Staatstheorie. Die Konformität des Einzelnen gegenüber Aufgaben und Gesetzen staatlicher Institutionen, die als persönliche Tugend nach Hegel Rechtschaffenheit ist, läßt sich ethisch immerhin insofern legitimieren, als sie der sittlichen Vernünftigkeit des politischen Ganzen gilt. Daß dies ethisch-politische Ideal auch wirklich sei, ist eine Behauptung, die nicht der Ethik, sondern der Metaphysik, nämlich der Theorie der Wirklichkeit in der spekulativen Logik und der metaphysischen Geschichtsteleologie angehört. Überläßt man diese einmal selbst der Geschichte, dann legt sich ein rein ethisches Verständnis des Platonischen Polis-Ideals nahe. Kant hat in diese Richtung gedeutet. Der Einzelne ist in seiner Sittlichkeit dann Bürger eines solchen rein ethischen Staates und verhält sich konform gegenüber dessen Grundgesetz, dem Sittengesetz. Der Ethik in ihrer politischen Dimension kommt die Explikation der Bestimmungen und Einrichtungen dieses Staates und der Pflichten und Tugenden des Einzelnen in ihm zu. Die ethische Lehre von der konkreten Anwendung, wie der sittliche Vernunftstaat in geschichtlich gewachsenen Staaten allmählich wirklich werden kann, muß spezifische Modifikationen, auch Einschränkungen bestimmter Pflichten und Tugenden zulassen. – Allerdings ist die Ethik nicht insgesamt in diesem Sinne politisch. Eine politische Ethik dürfte daher auch nicht holistisch sein. Auf einen nichtpolitischen Bereich verweisen schon die Pflichten und 80
Sie bedeutet ferner keinesfalls den gängigen Vorwurf eines sog. „naturalistischen Fehlschlusses“ gegenüber Plato, zumal da dieser Vorwurf selbst eine petitio principii enthält, die These vom intuitiven, theoretisch unableitbaren Charakter ethischer Gehalte.
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ethischen Habitus gegenüber der eigenen Person. So sind etwa Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst, auch wenn eine Unaufrichtigkeit in diesem Bereich anderen keinen Schaden zufügte, oder Tapferkeit im Ertragen einer Krankheit auch in Einsamkeit sittliche Haltungen und Handlungen von Einzelnen in ihrer individuellen Freiheit, Autonomie und Würde. Dasselbe gilt, um ein andersartiges Beispiel zu nennen, für Wohlwollen und Güte nicht nur gegenüber Familienangehörigen und Freunden, sondern sogar gegenüber Feinden, was gelegentlich einen Konflikt mit staatlichen Verordnungen zur Folge haben und was durchaus bei anhaltender Feindseligkeit des Gegenüber zum Alleingelassensein führen kann. Man vermag zwar im Nachhinein diese Haltungen und Handlungen von Individuen in einen rein ethischen Staat einzuordnen; aber der erste und eigentliche Grund für sie ist die Freiheit, Autonomie und Menschenwürde des Individuums, das entweder – im Extremfall – allein bleibt oder sich ganz bestimmten Personen oder Gruppen, nicht aber allen vernünftigen Wesen überhaupt in seiner sittlichen Entscheidung und Haltung, d.h. Platonisch in seiner Tugend zugeordnet weiß. Wie immer eine Ethik systematisch und prinzipiell begründet werden mag, sie muß wohl von beiden in gewisser Hinsicht entgegengesetzten Idealvorstellungen eines rein ethischen Staates und eines sittlichen, freien Individuums ausgehen und insbesondere in dem Bereich, in dem sie harmonieren, aber auch sich gegenseitig begrenzen, sittliche Pflichten, Tugenden und Zwecke darlegen.
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Die Bestimmungen des freien Willens und die Freiheit des Begriffs bei Hegel Die Philosophie von Kant bis Hegel ist wesentlich Idealismus der Freiheit. In den dazugehörigen Theorien erweist sich Freiheit nicht nur als gültig für ein Sondergebiet wie den menschlichen Willen; vielmehr wird in ihnen zwischen einem grundlegenden, sei es transzendentalen, sei es metaphysischen Begriff der Freiheit und einem praktischen Begriff sittlicher oder rechtlicher Freiheit des Willens unterschieden. Jener grundlegende transzendentale bzw. metaphysische Freiheitsbegriff ist dabei jeweils die Basis für den Begriff sittlicher oder rechtlicher Willensfreiheit. So bildet auch für Hegel die spekulativ-logische, metaphysische Konzeption der reinen Freiheit des sich denkenden Begriffs oder der sich denkenden Idee das strukturelle und ontologische Fundament für die Entwicklung der Bestimmungen des rechtlichen und sittlichen, freien Willens. Diese besondere Art der Fundierung verleiht der Hegelschen Theorie des vernünftigen und freien Willens ihr ganz bestimmtes, unverwechselbares Profil innerhalb des Idealismus der Freiheit; daraus erwachsen aber auch, wie sich am Schluß zeigen wird, verbunden mit bestimmten Durchführungen von Hegels holistischer politischer Ethik und Rechtsphilosophie, Probleme und Gefahren für die Bedeutung der Freiheit des Einzelnen. So sei nun in einem ersten Teil die Entwicklung der Bestimmungen des freien Willens in der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820)1 untersucht, die Hegel rein aus dem Begriff des Willens aufweist; dabei ergibt sich, wie sich zeigen wird, ganz immanent eine Kongruenz der Entwicklung dieser Bestimmungen mit der Entwicklung der reinen, logischen Begriffsbestimmungen. In einem zweiten Teil seien dann die Auswirkungen dieses Theorieansatzes auf die Erfassung des Verhältnisses von allgemeinem, substantiellem und individuellem, akzidentellem Willen sowie ferner auf Hegels Konzeption einer Rechtsphilosophie, die zugleich essentiell politische Ethik ist, in Grundlinien aufgezeigt. Hierbei werden die eindrucksvollen Vorzüge, aber auch die Fraglichkeiten eines solchen Ansatzes sichtbar werden, der sich schließlich als rückwärts gewandte Utopie erweist.
1. Freiheit und Allgemeinheit in Hegels Entwicklung der Willensbestimmungen Hegel nimmt die Entwicklung der Bestimmungen des freien Willens in der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts ausführlich und sys1
Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 41955. Nachdruck Hamburg 1967, §§ 1-32.
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tematisch vor; in der Enzyklopädie dagegen gibt er sie bei der Erörterung des „praktischen Geistes“ und – in der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830 – auch bei der Behandlung des „freien Geistes“ nur komprimiert an;2 diese Darlegungen gehören systematisch zum Endstadium der Philosophie des „subjektiven Geistes“ und zum Übergang in die Philosophie des „objektiven Geistes“.3 Sie sind Bestandteil von Hegels in der Philosophie des subjektiven Geistes durchgeführter systematischer Geschichte des Selbstbewußtseins. Diese hat, kurz gesagt, zwei grundlegende Aufgaben: Zum einen hat sie die Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes in einer systematischen und idealgenetischen Abfolge aufgrund eines leitenden Begriffs des Selbstbewußtseins zu entwickeln; zum anderen obliegt ihr aufzuweisen, wie sich der durch solche Leistungen jeweils gegenständlich oder besser: noematisch vorgestellte Inhalt stufenartig mit Bestimmungen des Selbstbewußtseins anreichert, bis das im noematischen Inhalt oder als Objekt vorgestellte Selbstbewußtsein dem leistenden, spontan vorstellenden Selbstbewußtsein entspricht. Solcher lebendigen Selbstentwicklung des Selbstbewußtseins hat der Philosoph ohne äußere Zutaten nur zuzusehen. Von dieser Konzeption der systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins, wie sie Hegel vom frühen Fichte und vom jungen Schelling aufgenommen und abgewandelt hat,4 ist auch die Entwicklung der Momente des freien Willens bestimmt. 2
3
4
Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 21827, §§ 469-481; Heidelberg 31830, §§ 469-480 und §§ 481 f. In ders.: Gesammelte Werke (historisch-kritische Ausgabe). Hamburg 1968 ff. Bd. 19. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. Hamburg 1989, 344-351. Bd. 20. Hrsg. von W. Bonsiepen, H.-Chr. Lucas und U. Rameil. Hamburg 1992., 466-475, 476 f. Zur Deutung dieser Ausführungen Hegels in den drei Auflagen der Enzyklopädie vgl. A. Peperzak: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 17-106. – Zu Hegels früherer Freiheitslehre in Frankfurt und in Jena vgl. G. Duso: „Freiheit, politisches Handeln und Repräsentation beim jungen Hegel“. In: Rousseau, die Revolution und der junge Hegel. Hrsg. von H.F. Fulda und R.-P. Horstmann. Stuttgart 1991, 242-278; M. Bienenstock: Politique du jeune Hegel. Jéna 1801-1806. Paris 1992 (zur Kritik Hegels an zeitgenössischen Naturrechtstheorien vgl. 81-124, zu Hegels Jenaer Rechts- und Staatsphilosophie vgl. 208-221); L. Siep: „Der Freiheitsbegriff der praktischen Philosophie Hegels in Jena“. In ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt a.M. 1992, 159-171. Zum idealistischen Programm der systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins vgl. L. Lugarini: „Die ’vernünftige Betrachtungsweise’ des Geistes in der Hegelschen Psychologie“. In: Hegels philosophische Psychologie. Hrsg. von D. Henrich (= Hegel-Studien. Beiheft 19). Bonn 1979, 141-158. Vgl. ebenso W. Marx: „Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In ders.: Schelling: Geschichte, System, Freiheit. Freiburg – München 1977, 63-99, sowie E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, zur Konzeption der Geschichte des Selbstbewußtseins bei Fichte 186-203, beim späten Hegel 328351. Erlaubt sei auch der Hinweis auf die Darlegung des Verfs.: „Hegels Phänomenologie und die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins“. In: Hegel-Studien 28 (1993). 103126, sowie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieses idealistischen Programms zur neuen Theorie der Selbstbewußtseinsmodelle vom Verf.: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne
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Die erste Bestimmung des freien Willens5 ist nach Hegels Explikation in der Einleitung zu seiner Rechtsphilosophie das Sich-unabhängig-Setzen von aller inhaltlichen Bestimmtheit, d.h. die Abstraktion von allem bestimmten Inhalt; so ist er in inhaltlicher Hinsicht unbestimmt, insofern eine „schrankenlose Unendlichkeit“ (Grundlinien, § 5), die gleichwohl subjektivitätstheoretisch eindeutig qualifiziert ist, nämlich als „das reine Denken seiner selbst“ (ebd.), wie es zuvor in der Philosophie des subjektiven Geistes als Vollendung der Intelligenz erreicht wurde. Wird diese Freiheit der „Leere“ zum beherrschenden Prinzip der Lebensgestaltung gemacht, so ergibt sich entweder – rein theoretisch bleibend – „der Fanatismus der indischen reinen Beschauung“, die immer nur das mannigfaltigkeitslose Eine als das Nichts betrachtet, oder – in praktischer Realisierung – „die Furie des Zerstörens“ aller Gesellschaftsordnungen (a.a.O. § 5 Anm.), womit Hegel auf die französische Revolution anspielt. Doch ist diese negative Freiheit der Abstraktion von allem Inhalt nur das erste Moment des freien Willens und keineswegs schon dessen ganzer Begriff. Dieses ist, positiv betrachtet, die absolute Spontaneität und reine Tathandlung des Ich, wie Fichte sie dem absoluten Ich des ersten Grundsatzes der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95)6 zuschreibt; Hegel spielt im Folgenden darauf an (vgl. Grundlinien, § 6 Anm.); und auch für Fichte ist dies nur das erste Moment des reicher bestimmten Ich, das wesentlich Wille ist. – Grundlegend anders aber als Fichte charakterisiert Hegel dieses erste Moment des Ich und des Willens als reines selbstbezügliches Denken sowie innerhalb seiner Theorie als reinen Gedanken, dessen Position im Entwicklungsgang begriffslogisch zu bestimmen ist; es ist zu denken als anfängliche, noch unbestimmte Allgemeinheit, aus der sich erst spezifischere Bestimmungen herausschälen werden. Schon hieraus ergibt sich die Notwendigkeit des Fortgangs über diesen Anfang hinaus. Der Wille muß fortschreiten zur „Unterscheidung“ und „Bestimmung“ eines Inhalts oder Gegenstandes (Grundlinien, § 6); er will immer etwas inhaltlich Bestimmtes. Dies zweite Moment des Willens setzt das erste nicht außer Kraft; der Wille selbst in seiner Spontaneität und reinen Tätigkeit ist es, der sich solche inhaltliche Bestimmtheit zueignet. Auch hierbei steht Fichtes Lehre für Hegel im Hintergrund. Im System der Sittenlehre (1798) z.B., die bei Fichte zum Ansatz der Wissenschaftslehre nova methodo gehört, in der nicht mehr drei getrennte allgemeine Grundsätze aufgestellt werden, ist das freie Ich in seiner Tätigkeit sich bestimmend und etwas Bestimmtes wol-
5
6
Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997, bes. 128135, auch 108 f, 258. Vgl. hier und im folgenden R. Pippin: „Hegel, Freedom, The Will. The Philosophy of Right: §§ 1-33“. In: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Klassiker Auslegen. Bd. 9). Hrsg. von L. Siep. Berlin 1997, 31-53. Vgl. J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). In: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 ff. Abt. I. Bd. 2, 255 ff, 260 f, 271 u.ö.
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lend.7 Hegel selbst spielt freilich auf den zweiten Grundsatz der Grundlage an, den er – wie z.T. schon in der Differenz-Schrift8 – mit dem dritten zusammensieht und im Sinne jener Ausführungen der Sittenlehre versteht; das Ich als unendlich-unbestimmtes und zugleich als positive Tathandlung übt Negation aus, und zwar spezifischer wie in Fichtes drittem Grundsatz: Negation als Beschränkung, als Limitation des ursprünglich Unendlichen und Unbestimmten. Dies aber bedeutet in präziserer Bestimmung: es setzt sich einen spezifischen Inhalt seines Wollens. – Begriffslogisch ist für Hegel diese Negation und Limitation als Setzung eines bestimmten Inhalts eine „Besonderung des Ich“ (Grundlinien, § 6). Die unbestimmte Allgemeinheit des ersten Moments wird zur Besonderheit des zweiten fortentwickelt. Dahinter steht Hegels spekulative Logik der Begriffsbestimmungen. Die Besonderheit ist nicht von der anfänglichen Allgemeinheit getrennt zu denken; das Besondere wird auch nicht unter das Allgemeine subsumiert. Vielmehr ist es nach Hegel in jenem Allgemeinen schon enthalten als dessen „immanente Negativität“ (§ 6 Anm.). Sobald nämlich das unbestimmte Allgemeine als bestimmter Gedanke konzipiert und von anderem unterschieden wird, das es nicht ist, wird ihm diese Negation als ihm immanente Negativität selbst zugeschrieben; das Allgemeine, dem solche Negativität immanent ist, aber ist das Besondere. Diese Immanenz der Negativität widerfährt dem Allgemeinen nicht von außen, wenn es gedacht wird; als Bestimmung des selbst denkenden und sich denkenden Begriffs bringt es diese Negativität und damit diese Selbstbesonderung als das „Prinzip seiner Unterschiede“ 9 vielmehr selbst aus sich hervor. Ebendieser logische Fortgang wird hier im Übergang vom ersten zum zweiten Moment des freien Willens konkret vollzogen. Das dritte Moment führt zur entscheidenden Bestimmung des freien Willens; es geht nach Hegels Anspruch prinzipiell über Fichtes limitative Synthesis des dritten Grundsatzes hinaus und bedeutet die nur spekulativ begreifbare, höhere synthetische Einheit jener beiden vorangehenden Momente. Das Ich setzt in seiner absoluten Spontaneität durch Negation und Limitation bestimmte Inhalte des Wollens, bestimmte Zwecke, die für es aber bloß mögliche sind, an die es daher „nicht gebunden“ (Grundlinien, § 7) ist; es setzt sie als die seinigen und erhebt sich zugleich über solche Beschränkung und Besonderung; darin erweist es sich schließlich als wahrhaft freier Wille. – Begriffslogisch 7
8 9
Vgl. J.G. Fichte: System der Sittenlehre. In ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von J.H. Fichte. Berlin 1845 f. Bd. IV, 2 ff, 136 ff; J.G. Fichte-Gesamtausgabe I.5, 21 ff, 130 ff. Vgl. Hegel: Gesammelte Werke, a.a.O. (Anm. 2), Bd. 4, 25 f, 37 f. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. In ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12, 41. Zur Interpretation von Hegels Theorie der Begriffsbestimmungen vgl. G.R.G. Mure: A Study of Hegel’s Logic. Oxford 21967, 157 ff; V. Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. 2 Bde. Hamburg 1987. Bd. 1, 231 ff; gestattet sei auch der Hinweis auf die Interpretation des reinen Begriffs und seiner Bestimmungen als Selbstentfaltung der Subjektivität vom Verf.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik (= Hegel-Studien. Beiheft 15). Bonn 31995, 228-252 (bes. 244 ff).
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bestimmt Hegel dies dritte Moment in der Explikation des freien Willens als Einzelheit und fügt in seinem Handexemplar hinzu: „besser Subjektivität“ (s. § 7 Anm.). Solche Einzelheit charakterisiert kein sinnliches Dies-da; sie ist vielmehr neben Allgemeinheit und Besonderheit die dritte, und zwar die vollendende Begriffsbestimmung; sie „ist eigentlich nichts anderes als der Begriff selbst“ (ebd.). In solcher Einzelheit kehrt der Begriff zu seiner Allgemeinheit zurück: Sie ist der ganze Begriff als einheitlicher; sie vereinigt in sich Besonderheiten und Allgemeinheit und ist insofern die von Hegel immer wieder gegen die traditionelle Lehre von der diskursiven und abstrakten Allgemeinheit gewendete, nur spekulativ begreifbare konkrete Allgemeinheit. Auch sie ist nach Hegel wie die vorangehenden Momente nicht nur ein noematischer Gedankeninhalt; sie ist vielmehr darüber hinaus reines Denken seiner selbst. Solche Einzelheit, die sich als konkrete Allgemeinheit erweist, bildet für Hegel die grundlegende logische Begriffsbestimmung der Subjektivität. Dieser „letzte Quellpunkt aller Tätigkeit, Lebens und Bewußtseins“ (ebd.) wird nur in der spekulativen Logik entwickelt, nämlich als „der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung“,10 als absolute „Subjektivität“, die über ihr Gegenteil „übergreift“.11 Diese spekulative Theorie der Einzelheit, die konkrete Allgemeinheit ist, und der Subjektivität stellt die Grundlage dar für das dritte und vollendende Moment des freien Willens,12 der damit solche spekulative Einzelheit auf dem realen Felde und unter den Einschränkungen des praktischen Geistes ist. Es wird sich allerdings zeigen, daß die eigentliche Bestimmung der absoluten Subjektivität hier nicht erreicht wird, daß der freie, sittliche Wille als konkret allgemeiner vielmehr wesentlich in der Sphäre der Substantialität verbleibt. Diese Momente sind die grundlegenden Bestimmungen des freien Willens, deren strukturelles und ontologisches Fundament in den spekulativ-logischen Bestimmungen des Begriffs besteht. Innerhalb dieses Rahmens ergeben sich nun in der Sphäre der Besonderheit mehrfache, spezifisch zur praktischen Philosophie gehörige Differenzierungen, die Hegel z.T. mit Bezug auf andere, von ihm abgewiesene Theorien vornimmt. 10 11
12
Hegel: Wissenschaft der Logik, a.a.O. (Anm. 9), Bd. 12, 246. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie (31830), § 215 Anm. In ders.: Gesammelte Werke, a.a.O. (Anm. 2), Bd. 20, 218; vgl. dazu z.B. vom Verf.: „Endliche und absolute Subjektivität. Untersuchungen zu Hegels philosophischer Psychologie und zu ihrer spekulativen Grundlegung“. In: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“. Hrsg. von L. Eley. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 33-58 (bes. 42 ff). Vgl. hierzu generell M. Riedel: „Hegels Kritik des Naturrechts“. In ders.: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1969, 42-74, bes. 52 ff; ders.: „Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie“. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970 (= Hegel-Studien. Beiheft 11). Hrsg. von H.-G. Gadamer. Bonn 1974, 365-381. Vgl. ebenso G. Marini: “La libertà nel suo concetto e nella sua realizzazione: su alcuni luoghi della ‘filosofia del diritto’ hegeliana. In: Hegel interprete di Kant. A cura di V. Verra. Napoli 1981, 123-145; A. Nuzzo: „’Begriff ’ und ’Vorstellung’ zwischen Logik und Realphilosophie bei Hegel“. In: Hegel-Studien 25 (1990), 41-63.
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So setzt der sich selbst besondernde Wille seine bestimmten Inhalte zunächst als unmittelbare und ist darin selbst nur unmittelbarer, „natürlicher Wille“ (Grundlinien, § 11). Diese Inhalte gelten ihm insofern als vorhanden oder vorgegeben; es sind die natürlich-sinnlichen „Triebe, Begierden, Neigungen“ (ebd.), durch die der sich besondernde Wille sich zunächst bestimmt sieht. Aus der Mannigfaltigkeit dieser sinnlich-gegebenen Bestrebungen aber kann der Wille nun eine auswählen und deren Erfüllung sich zum Zwecke machen. So entschließt er sich und wird „beschließender“ Wille (§ 12). Dies ist der Wille eines einzelnen Individuums. Das Individuum gilt Hegel in dieser Sphäre also lediglich als sinnlich begehrend und als beschließend. Alle Bestimmungen, die darüber hinausgehen und das Denken im Willen restituieren sollen, führen über solchen Sinn des Individuums hinaus. Dessen Wollen ist nach Hegel bloß formal; es ist als Beschließen Aktivität des Willens überhaupt, und zwar in bezug auf bloß äußerlich vorgegebene Inhalte des sinnlichen Begehrens, die der Wille ebensogut auch wieder aufgeben kann. Solcher Wille ist nach Hegel „Willkür“ (§ 15). Sie stellt die „Mitte“ dar zwischen dem durch natürliche Triebe bestimmten und dem wahrhaft freien Willen (§ 15 Anm.). Doch sind die Triebe und Neigungen als bestimmte Inhalte des besonderen Willens oft einander entgegengesetzt. Hegel spricht von einer „Dialektik der Triebe und Neigungen“ (§ 17, vgl. § 18). Die Befriedigung der einen schließt oft die Befriedigung anderer aus; wer sich ohne Maß sinnlichen Genüssen hingibt, zerstört oft seine Gesundheit; wer immer mehr Reichtum erstrebt, zieht sich immer mehr Unruhe zu usf.; solche Beispiele hat Kant erörtert, um zu zeigen, daß Glückseligkeit kein inhaltlich bestimmter allgemeiner Begriff sein kann. Hegel, der dies kennt, aber darauf nicht näher eingeht, vertritt die Auffassung, daß der berechnende Verstand hier wohl ein Glückskalkül anstellen und Glückseligkeit – wie es auch später in der utilitaristischen Ethik geschieht – als „formelle Allgemeinheit“ (§ 20) konzipieren kann, die an jene besonderen, oft einander entgegengesetzten Inhalte, die Triebe und Begehrungen, herangetragen wird. In einer Vorlesung zur Philosophie des subjektiven Geistes von 1827/28, die Erdmann nachgeschrieben hat, finden sich hierzu konkretere Überlegungen.13 Plato und Aristoteles haben nach Hegel die Eudaimonia zum eigentlichen ethischen Zweck erhoben; doch werde diese von ihnen in höherer Weise gedacht, da sie sich nicht auf die Befriedigung sinnlicher Triebe reduziere. Solche Befriedigung gelte nämlich immer nur für einzelne Triebe und einzelne Zustände; darin liege, daß dies jeweils unbefriedigend, weil nicht allgemein und nicht dauerhaft sei. Mit Platos Philebos 14 argumentiert Hegel, daß derartige Befriedigung nach immer neuen Befriedigungen ins Unbegrenzte 13
14
Vgl. zum folgenden G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/28. Hrsg. von F. Hespe und B. Tuschling. Hamburg 1994 (= Vorlesungen. Bd. 13), 259 ff. Platon: Philebos, z.B. 27e-28a (nach der Paginierung der Ausgabe: Platonis opera quae exstant omnia. Ed. H. Stephanus. Genf 1578).
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(apeiron) verlange.15 Solche Glückseligkeit ist für ihn aus diesem Grunde – im Ergebnis ähnlich wie für Kant – kein inhaltlich bestimmter, allgemeiner Begriff, sondern bloß formale Allgemeinheit, die von der Willkür nicht selbst erstrebt wird. Der Wille realisiert sich erst selbst und ist erst wahrhaft frei, d.h. in erfüllter Weise bei sich selbst, wenn er die „sich selbst bestimmende Allgemeinheit“ als solche (Grundlinien, § 21) thematisch und ausdrücklich als seinen eigenen Inhalt will. Seine bestimmten Inhalte sind dann nicht mehr die singulären sinnlichen Triebe und Begehrungen, die er allenfalls formal zur Glückseligkeit koordiniert, sondern die Momente des in sich bestimmten und sich bestimmenden konkreten Allgemeinen; oder er ist sich selbst als allgemeiner Wille noematischer Inhalt, der erstrebt wird. Darin ist nach Hegel zugleich die „Natürlichkeit und die Partikularität“ der Triebe und Neigungen „aufgehoben“ (§ 21 Anm.), d.h. sie sind in ihrer selbständigen Bedeutung annulliert, aber damit auf eine höhere Stufe gehoben und auf ihr bewahrt. Im Wollen dieser konkreten Allgemeinheit bewähre sich „das im Willen sich durchsetzende Denken“ (ebd.). Dies ist sehr intellektualistisch gedacht; die Triebe und Begehrungen stellen dann keine eigene Macht mehr im Menschen dar, sondern gelten als überwunden, und zwar durch die rein denkende Einsicht in die Allgemeinheit. Auch wenn also in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes und in der darin durchgeführten systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins als einer vom Prinzip sich erfüllender Selbstbeziehung geleiteten Explikation stufenartig angeordneter Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes wie bei Fichte der Wille die höherentwickelte Bestimmung gegenüber der Intelligenz ist, so setzt sich für Hegel – anders als für Fichte – im vernünftigen Willen doch wieder das reine Denken durch.16 Die auf diese Weise erreichte Allgemeinheit als genuiner Inhalt des denkenden und vernünftigen und nunmehr erst wahrhaft freien Willens bestimmt Hegel spezifischer als Recht, Moralität und Sittlichkeit. Das „Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich als Wesen erfaßt“, ist deren „Prinzip“ (Grundlinien, § 21 Anm.), nämlich als vernünftiger und freier Wille. Hierin erst ist eigentlich das spekulative dritte Moment des Willens und damit der Wille in seiner ihm eigenen Bestimmung und Freiheit erreicht. So scheint er in der Vollendung der Sphäre des subjektiven Geistes zu realisieren, was Hegel in der spekulativen Logik der Allgemeinheit des Begriffs und dessen reinem Denken zuschreibt; dort bestimmt er dessen Allgemeinheit als „die freie Macht“, die auf ihr Anderes nicht-gewaltsam „über15
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Vgl. hierzu auch Hegels Bestimmung in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, daß in Platons Philebos gilt: „Das Unbegrenzte ist noch abstrakt, höher ist das Begrenzte, das Sichselbstbestimmende, Begrenzende. Vergnügen ist das Unbegrenzte ..., das sich nicht bestimmt; nur der nous ist das tätige Bestimmen.“ (G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 19, 77 f.) Vgl. hierzu E. Düsing: „Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel“. In: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Hrsg. von F. Hespe und B. Tuschling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 107-133.
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greift“ und sich in dem von ihm Unterschiedenen nur zu sich selbst verhält und zu sich zurückkehrt.17 Welche Defizienzen beim freien Willen demgegenüber bleiben, wird sich im Folgenden noch genauer zeigen.
2. Der freie Wille als Grundlage politischer Ethik Der sich selbst bestimmende freie Wille, der nach Hegel die Begriffsbestimmung der Einzelheit als konkreter Allgemeinheit erfüllt, ist nicht der Wille eines Individuums, eines einzelnen Menschen. Er ist – im Prinzip wie bei Rousseau – der allgemeine Wille als Grundlage eines Staates (vgl. Grundlinien, § 258 Anm.). Diese Allgemeinheit bleibt für Hegel jedoch nicht formal gegenüber den Willensinhalten der Individuen; und sie wird nicht durch einen Staatsvertrag konstituiert; jeweils ginge, wie Hegel kritisch gegen Rousseau vermerkt, der Wille der Individuen voraus.18 Dieser aber ist nach Hegel, wie es in einer Vorlesungsnachschrift heißt, für sich nur „ein Leeres, Formelles“, bestenfalls „Willkür“.19 Dem vernünftigen und freien Willen aber kommt konkrete Allgemeinheit als sein Willensinhalt zu, und diese entfaltet sich zum „Rechtssystem“ als „Reich der verwirklichten Freiheit“ (Grundlinien, § 4). Das System der Rechte, die für Hegel, wie noch näher zu erörtern sein wird, nicht nur die juridischen Gesetze, sondern ebensosehr Bestimmungen von Sittlichkeit und Sitte in einem Gemeinwesen sind, wird wirklich und objektiv in den Institutionen des Staates. Der Staat in dieser und nur in dieser – idealisierten – Bedeutung ist nach Hegels bekanntem Diktum „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257), nämlich die wirklich und objektiv gewordene systematische Organisation der Sphären von Recht und Sittlichkeit.20 Deshalb ist der in dieser Weise realisierte allgemeine Wille „objektiver Geist“. Wenn der vernünftige und allgemeine Wille also real-objektiv nur in den Organisationen und Institutionen des Staates als des sittlichen Gemeinwesens wird, so stellt sich die Frage, welche Bedeutung innerhalb solcher Sozialwelt der Wille eines Individuums noch hat. Dessen Wille verfolgt hier nicht mehr nur die Befriedigung von Trieben und Neigungen als seine bestimmten Inhalte; er partizipiert vielmehr an den Rechts- und Sittlichkeitsinhalten des allgemeinen Willens, akzeptiert sie und erkennt darin seine ihm vorgegebenen, auch als Pflichten vorgeschriebenen Aufgaben. Das Verhältnis des allgemei17
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G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. 2. Bd.: Die subjektive Logik. In ders.: Gesammelte Werke, a.a.O. Bd. 12, 35. Vgl. hierzu M. Riedel: „Hegels Kritik des Naturrechts“, a.a.O. (Anm. 12), sowie ders.: „Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie“, a.a.O. (Anm. 12). G.W.F. Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hrsg. von D. Henrich. Frankfurt a.M. 1983, 213, vgl. 82. Zur Entwicklungsgeschichte dieses Gedankens bei Hegel vgl. C. Cesa: „Tra Moralität e Sittlichkeit. Sul confronto di Hegel con la filosofia pratica di Kant”. In: Hegel interprete di Kant, a.a.O. (Anm. 12), 147-178. Vgl. zur Entwicklung von Hegels Rechtsphilosophie auch die Darlegungen von G. Duso, M. Bienenstock und L. Siep, die oben in Anm. 3 erwähnt sind.
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nen Willens, der in den Institutionen des Staates als des sittlichen Gemeinwesens objektiv geworden ist, zu den Willen der Individuen in diesem Staat bestimmt Hegel grundlegend folgendermaßen: „Der an und für sich seiende Wille“ ist „das Objektive ..., dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Leben der Individuen regieren und in diesen als ihren Akzidenzen ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt und Wirklichkeit haben“ (Grundlinien, § 145). Dieser im Staat objektiv gewordene allgemeine Wille oder „das objektive Sittliche“ ist also „konkrete Substanz“ (§ 144), an der letztlich die Individuen in ihrem Wollen lediglich Akzidenzien sind. In ihnen manifestiert sich die Substanz; sie sind die erscheinenden Bestimmungen der Substanz, in denen sie eine von ihr gesetzte Wirklichkeit hat; aber die Substanz ist zugleich die uneingeschränkte Macht über sie.21 Hegel bestimmt also das Verhältnis des allgemeinen zu den individuellen Willen kategorial und prinzipiell als das Verhältnis von Substanz und Akzidenzien. Die Härte dieser Bestimmung, die den Individuen im sittlichen Gemeinwesen offensichtlich die von Kant und Fichte, aber auch von Rousseau vorgesehene Autonomie vorenthält, sucht Hegel in mehrfachen Erläuterungen abzumildern.22 So ist das dritte Moment des freien Willens, wie dargelegt, Einzelheit als konkrete Allgemeinheit und damit Subjektivität; der konkret allgemeine Wille bezieht sich nämlich im Wollen des Allgemeinen denkend nur auf sich. Aber das Dasein und Wirklichsein dieses Willens ist lediglich substantiell; es ist das Ansichbestehen des Staates in seinen Institutionen. Das Wissen und die Gewißheit seiner selbst, dieses Selbstbewußtsein, das unabdingbar zur Subjektivität gehört, fällt vielmehr in die selbstbewußten Individuen als Mitglieder oder Bürger dieses Staates. Da sie aber nur Akzidenzien sind, ist ihr Wissen und ihre Selbstgewißheit wesentlich von der machthabenden Substanz, der konkreten, objektiv bestehenden Allgemeinheit des Staates abhängig und dadurch geprägt. Umgekehrt verfügt die Substanz nach Hegels Darlegungen in der Wissenschaft der Logik im Setzen und Aufheben ihrer Akzidenzien lediglich über positiv bestehende Identität; ihr kommt nicht als solcher zugleich realisierte immanente Negativität, Selbstunterscheidung und in-
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Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. 1. Bd: Die objektive Logik. In ders.: Gesammelte Werke, a.a.O. Bd. 11, 394 ff. Vgl. dazu generell sehr kritisch K.R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. (The Open Society and its Enemies.) London 1945. Übersetzt von P. Feyerabend. 2 Bde. Tübingen 7 1992. Deutlich differenziertere Interpretationen und Stellungnahmen finden sich bei H. Ottmann: Individuum und Gemeinschaft. Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen. Berlin 1977; K.-H. Ilting: „Einleitung“ in G.W.F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). Hrsg., eingeleitet und erläutert von K.-H. Ilting. Stuttgart 1983, 17-34; V. Hösle: Hegels System, a.a.O. (Anm. 9), Bd. 2, 412-587; M. Alessio: Azione ed eticità in Hegel. Saggio sulla „Filosofia del diritto“. Napoli 1996, bes. 21-69; B. Bourgeois: „Der Begriff des Staates (§§ 257-271)“. In: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 5), 217-242.
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folgedessen entwickelte Selbstbeziehung zu; der Staat als Substanz hat sein Sich-Wissen insofern nur in seinen Akzidenzien als seinen Erscheinungen.23 Hegel beansprucht zwar, daß „das Recht der Individuen an ihre Besonderheit ... in der sittlichen Substantialität enthalten“ sei (Grundlinien, § 154); aber dies bedeutet im wesentlichen nur, daß sie sich mit ihren vom Staat als sittlichem Gemeinwesen vorgegebenen besonderen Aufgaben und Funktionen identifizieren und in deren Ausführung ihre Erfüllung finden. Ebenso kritisiert Hegel zwar Platos Politeia, da Plato in dem von ihm konzipierten Staat das Recht der Individuen verletze; diese dürfen bei Plato weder ihren Stand wählen, noch dürfen sie – als Mitglieder des Standes der Regierenden oder des Standes der Wächter – Privateigentum besitzen, noch dürfen sie selbst über eine eigene Familie entscheiden. In diesen Fragen beachtet Hegel die Rechte der Individuen. Was er an Platos Polis-Konzeption dagegen nicht erkennt, ist Platos Auffassung, daß bestimmte Tugenden in die verschiedenen Stände nur gelangen durch die ihnen zugehörigen handelnden Individuen.24 Trotz seiner PlatoKritik verleiht Hegel den Individuen in seiner eigenen Theorie keine wahrhaft selbständige Entscheidung und Zwecksetzung im Staat, erst recht nicht gegenüber dem Staat. Dieser ist nach Hegel als „substantielle Einheit ... absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat“ (Grundlinien, § 258). Die Freiheit der Individuen kann somit lediglich darin bestehen, sich in die Gesetze und die Aufgaben des Staates zu fügen; sie wird von Hegel rein etatistisch gedacht. Deshalb ist es auch „höchste Pflicht“ eines Menschen, „Mitglied des Staats“ zu sein (ebd.), dessen rechtliche und sittliche Souveränität anzuerkennen. Dies muß nach Hegels Anforderungen an die konkrete Allgemeinheit des Willens, die objektiv-real bestehen muß, ein bestimmter wirklicher Staat sein, nicht etwa wie bei Kant ein rein ethischer Staat oder ein Reich der Zwecke in der Idee. Hier ergeben sich Probleme, die Hegel sieht, aber nicht grundsätzlich erörtert, nämlich wie z.B. ein geschichtlich gewordener wirklicher Staat mit gravierenden Unvollkommenheiten die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257) repräsentieren und als sittliche Substanz Garant für ein sittliches Leben der Individuen als seiner Mitglieder sein kann. 23
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Vgl. zu Hegels kategorialer Explikation der Substanz und ihrer Vorläufigkeit Wissenschaft der Logik. Bd. 1: Die objektive Logik, a.a.O. (Anm. 21), 396, 408 f; zur Interpretation sei der Verweis gestattet auf die Darlegung des Verfs.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O. (Anm. 9), 228 ff. Zu Hegels Plato-Deutung im allgemeinen sei verwiesen auf H.-G. Gadamer: „Hegel und die antike Dialektik“ (zuerst 1961). In ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen 2 1980, 7-30; F. Chiereghin: Hegel e la metafisica classica. Padova 1966; G. Duso: Hegel interprete di Platone. Padova 1969; J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l’idéalisme allemand (1770-1830). Paris 1979, sowie vom Verf.: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, bes. 55-96, auch ders.: Hegel e l’antichità classica. Napoli 2001; zu Hegels Auseinandersetzung mit Platons politischer Ethik vgl. J.-L. Vieillard-Baron, op. cit., bes. 136 ff; gestattet sei auch der Hinweis auf die Darlegungen des Verfs.: „Politische Ethik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 19 (1984), 95-145 (s. vorliegenden Band III, 1).
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Darin ist die prinzipielle Frage enthalten, worin denn der Grund für Hegels Auffassung liegt, daß das objektiv bestehende Rechtssystem eines wirklichen Staates zugleich sittliche Bedeutung habe und daß damit die Rechtsphilosophie in wesentlichen Teilen zugleich politische Ethik sei. Aus Hegels Auseinandersetzung seit dem Naturrechtsaufsatz (1802/03) mit philosophischen Theorien der Aufklärung, die Recht und Sittlichkeit in zwei Gebiete aufteilen, insbesondere mit der Kantischen Theorie lassen sich zwei grundlegende Argumente Hegels entnehmen, die essentiell für seine eigene Theorie sind: Zum einen darf eine Sittenlehre, die allgemeingültig sein muß, welche Überzeugung er mit Kant und Fichte teilt, sich nicht nur auf einzelnes, individuelles Wollen beziehen. Da dieses Wollen selbst inhaltlich allgemein sein muß, ist es notwendig, daß eine Ethik ihre Lehren zuerst für ein sittliches Gemeinwesen als Ganzes konzipiert; sie muß also holistisch sein. Das von ihr dabei gelehrte Allgemeine der Sittlichkeit aber darf nicht ein abstrakt oder formal Allgemeines, sondern muß ein konkret Allgemeines sein. Zum anderen kann nach Hegel solches konkret Allgemeine der Sittlichkeit nicht ein bloßes Sollen und damit ein unwirklicher Gedanke bleiben; es muß, wie dargelegt, selbst objektiv-real und wirklich sein in den Organisationen und Institutionen eines Staates. Dieser ist daher nicht nur ein Rechtssystem; er ist ebensosehr ein wirkliches sittliches Ganzes, in dem der Einzelne seine Sittlichkeit findet und realisiert. Hegel restituiert damit die ursprüngliche Einheit von Recht und Sittlichkeit in Platos Politeia, nachdem die Trennung beider Bereiche schon bei Aristoteles begann und in der Aufklärung, besonders bei Kant nach Hegels Ansicht prinzipiell vollzogen wurde, in einer neuen höheren Einheit, die Recht und Sittlichkeit in sich integriert. Tragendes Fundament hierfür ist Hegels spekulativ-logische Lehre von der konkreten Allgemeinheit, die als solche wirklich werden muß, sowie Hegels spezifisch ethische Auffassung, daß Sittlichkeit in ihrer Allgemeinheit nicht zuerst dem einzelnen Individuum, sondern holistisch zuerst nur dem Gemeinwesen als Ganzem zukommen kann. Die Sittlichkeit des Einzelnen in einem Staat als sittlichem Gemeinwesen besteht dann nach Hegel in der Erfüllung der aufgegebenen Pflichten sowie in den dazu erforderlichen Haltungen, den Tugenden.25 Während Hegel früher annahm, daß die zentrale Tugend die Tapferkeit sei als Tugend der Aufopferung des Individuums für das sittliche Ganze, den Staat,26 vertritt er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts die Auffassung, die eigentliche Tugend des einzelnen Staatsbürgers sei die Rechtschaffenheit (vgl. Grundlinien, § 150 und Anm.) und die entsprechende Gesinnung der Patriotismus (vgl. §
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Vgl. dazu A. Peperzak: „Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 142-156“. In: Hegel-Studien 17 (1982), 97117. Vgl. G.W.F. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. In ders.: Gesammelte Werke, a.a.O. Bd. 4, 449 f, 455; vgl. ferner ders.: System der Sittlichkeit. In: a.a.O. Bd. 5, 329 f.
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268 und Anm.),27 womit Hegel nichts Außergewöhnliches, sondern nur eine zur Gewohnheit gewordene Staatsbürgergesinnung meint. Ist der Staat als sittliches Gemeinwesen existent, so sind in der Regel keine heroischen Tugenden mehr erforderlich; die Verwirklichung der generellen Tugend der Rechtschaffenheit im Staat ist für Hegel vielmehr Bürgeralltag. So ist der Staat nicht nur ein juridisches, sondern ebensosehr ein ethisches Ganzes, und das Individuum ist als Staatsbürger nicht nur rechtliche, sondern ebensosehr sittliche Person. Diese findet ihre alltägliche Sittlichkeit in der getreulichen Erfüllung der vom Staat ihr vorgegebenen Pflichten und in der darin bewährten Loyalität gegenüber dem Staat. Hegel vertritt damit eine holistische Ethik, die vom Gemeinwesen als einem sittlichen Ganzen ausgeht, sowie eine genuin politische Ethik, die Pflichten und Tugenden der Menschen, nur sofern sie Staatsbürger sind, lehrt. Darin aber bleibt diese Ethik einseitig. Hierbei werden nämlich die vielfältigen Pflichten und Tugenden der einzelnen Menschen untereinander in ihren nichtstaatlichen, in ihren privaten Sphären ausgespart; solche Tugenden wie z.B. Mitleiden, Barmherzigkeit oder auch Zivilcourage lassen sich wohl kaum als bloße Modifikationen der alltäglichen bürgerlichen Rechtschaffenheit auslegen. Ausgespart sind ferner die insbesondere von Kant und seinen Nachfolgern in der Ethik als Deontologie hervorgehobenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Überdies bringt Hegels politische Ethik, in der das sittliche zugleich auch immer das wirkliche staatliche Ganze als ein konkret Allgemeines sein soll, die Gefahr mit sich, daß man von dieser Konzeption aus eine Diskrepanz zwischen faktischen staatlichen Gesetzen und sittlichen Verpflichtungen nicht mehr prinzipiell begreifen kann. Der späte Hegel deckt in der dritten Auflage der Enzyklopädie (1830) allerdings einen entscheidenden Problembereich auf, nämlich daß staatliche Gesetze das religiöse Gewissen und damit die religiös fundierte Sittlichkeit verletzen können, und er spricht dem religiösen Gewissen dann die höhere Sanktionierung zu.28 Systematisch gesehen ist für ihn die Religion, die dem absoluten Geist zugehört, den staatlichen Gesetzen und Institutionen, die zum objektiven Geist gehören, übergeordnet. Hegel sieht hier also durchaus, daß in dieser besonderen Sphäre religiöser Sittlichkeit im Gewissen des Einzelnen eine Kollision mit faktischen staatlichen Gesetzen zustande kommen kann, und erkennt damit wenigstens für diesen Bereich eine Diskrepanz zwischen positiven staatlichen Gesetzen und persönlicher Sittlichkeit an, die nicht mißachtet werden darf. So birgt die Hegelsche Theorie aufgrund ihrer einseitigen Vorstellungen von Sittlichkeit und aufgrund ihrer These, der faktische, geschichtlich gewachsene Staat mit allen seinen Unvollkommenheiten verwirkliche gleich27
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Vgl. auch Hegels Äußerung über den „Patriotismus der Bürger", nämlich „daß sie den Staat als ihre Substanz wissen“ (Grundlinien, a.a.O (Anm. 1), § 289 Anm.). Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 3 1830, § 552 Anm. In ders.: Gesammelte Werke, a.a.O. (Anm. 2), Bd. 20, 530-541, anders noch Grundlinien, a.a.O. (Anm. 1), § 270 Anm.
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wohl generell die Idee eines sittlichen Ganzen, ungewollt eine gefährliche Möglichkeit in sich: Wenn, wie es in der Theorie vom späten 19. Jahrhundert an vorausgesehen wurde und in der geschichtlichen Wirklichkeit im 20. Jahrhundert geschah, in einem Staat und der von ihm organisierten Gesellschaft die Sittlichkeit schwindet, er aber gleichwohl als machthabende Allgemeinheit das Leben der Individuen beherrscht, so entsteht ein etatistischer Immoralismus mit schwerwiegenden Folgen für die Humanität. Will man solche Fehlentwicklungen zuerst in der Theorie vermeiden, so gilt es zum einen, die Vorstellungen von Sittlichkeit Hegel gegenüber zu differenzieren und wesentlich zu ergänzen; zum anderen gilt es, Hegels Gleichung der Idee eines sittlichen, konkret allgemeinen Ganzen mit gegenwärtig existierenden, weithin unvollkommenen Staaten zu problematisieren und die entscheidenden Unterschiede hervorzukehren. Dann zeigt sich, daß Hegels Konzeption des Staates als sittlicher Idee zwar nach der Trennung insbesondere in der Aufklärung eine erneute Vereinigung von Recht und Sittlichkeit beinhaltet und damit die unmittelbare Einheit beider in Platos Politeia auf höherer Ebene restituiert, daß sie aber ihren Wirklichkeits- und Gegenwartsanspruch ablegen muß und insofern eigentlich eine rückwärtsgewandte Utopie darstellt.
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IV. ÄSTHETIK
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Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel Die idealistischen Entwürfe verließen nicht nur in der theoretischen und in der praktischen Philosophie, sondern auch in der Ästhetik die kritische Grundlegung Kants erstaunlich rasch. Diesem rapiden „Hinausgehen“ über Kant konnte gar keine eingehende Auseinandersetzung mit Kants Lehren und Beweisen vorausgegangen sein; teils wurde sie – insbesondere von Hegel nach Ausbildung der eigenen spekulativen Theorie und von ihren Prämissen aus – nachgeliefert; teils glaubte man, sie sei für die Ästhetik in Schillers Kantkritik geleistet, und sah darin einen ersten, aber auch nicht mehr als einen ersten Schritt über Kant hinaus. Hölderlin und Hegel beanspruchten nun in der für die weitere Entwicklung der idealistischen Philosophie bedeutsamen Frühphase des Idealismus, eine Kant grundsätzlich überlegene Position erreicht zu haben; sie beriefen sich zur Motivation und zur Rechtfertigung dieses ihres Ansatzes insbesondere auf die traditionsreiche Autorität der Philosophie Platos. Ihre Anknüpfung an Plato war freilich nicht traditionell und z.B. von der des spätantiken Neuplatonismus durchaus verschieden; sie betraf vornehmlich die Dialoge Symposion und Phaidros, die eine Sonderstellung innerhalb der klassischen Ideenlehre einzunehmen scheinen, da in ihnen Liebe und Begeisterung die Schau des göttlichen Schönen ermöglichen und anscheinend nicht die Vernunft als Vermögen der Erkenntnis der Ideen. Allerdings zeigt Plato selbst z.B. im Phaidros mit dem Gleichnis vom Seelenwagen, dessen Lenker die Vernunft ist, die Verbindung zur klassischen Ideenlehre auf. Zur Bestimmung dessen, was hier ästhetischer Platonismus heißen soll, seien drei grundlegende Arten von Platonismus skizziert, die jeweils untereinander verschiedene und auch von Plato abweichende metaphysische Theorien implizieren. 1. Der spätantike Neuplatonismus systematisiert vor allem die in den spätplatonischen Dialogen enthaltene Ontologie und Kosmologie und setzt über die Vielheit der dort explizierten Ideen das überseiende, selbst nicht denkende Eine, das freilich als theologisches Prinzip, etwa als erster Gott verstanden wird. Zwar erhält die Schönheit bei Plotin und Proklos grundsätzliche metaphysische Bedeutung als das Hervorleuchten des Guten und damit des ursprünglichen Einen im Vielen und in der Seele, und die Liebe erstrebt die Erfassung jenes Schönen; aber für den systematischen Aufbau der Ontologie und Theologie haben Liebe und Schönheit keine konstitutive Funktion. 2. Im christlichen Neuplatonismus des Mittelalters wird das überseiende Eine mit dem denkenden und schaffenden Gott identifiziert und der Hervorgang des Einen in die vielen Henaden, die platonischen Ideen oder reinen Formen, mit Hilfe der Engellehre interpretiert. Die Lichtmetaphysik und die Auffassung von der Schau Gottes werden beibehalten; der Schönheit kommt aber auch in dieser Theologie und Kosmologie kein konstitutiver Sinn zu. 3. Der Platonismus der Renaissance erweist sich dagegen mit verschiedenen Nuancen in seiner Grundlegung teilweise oder insgesamt als metaphysische Lehre vom
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ÄSTHETISCHER PLATONISMUS BEI HÖLDERLIN UND HEGEL
Schönen und insofern als Ästhetik. Marsilius Ficinus, das Haupt der Florentiner Akademie im 15. Jahrhundert, hält zwar vielfach am überlieferten Neuplatonismus fest, betont aber stärker die Schönheit als Lichtglanz des Einen Gottes, von dem die Schönheit alles Seienden ausgeht. Insbesondere in seiner Symposion-Deutung gesteht er der rein geistigen Schönheit und der geistigen Liebe systematische Bedeutung für die Entwicklung des Verhältnisses des Einen Gottes zur Mannigfaltigkeit des Seienden zu. Deutlicher noch vertritt Leone Ebreo, der mit der Florentiner Akademie in lockere Verbindung kam, die Position eines ästhetischen Platonismus, in der das höchste Schöne mit dem Guten an sich und mit Gott identifiziert wird. Das Gute ist für ihn, insofern es in sich die Ursache dafür enthält, geliebt zu werden, selbst das Schöne. Gott als das ursächliche Schöne wird – wie später bei Bruno – als Künstler gedacht, der die Schönheit des mannigfaltigen Seienden und der Welt hervorbringt. In der Auffassung, daß Gott als das ursprüngliche Schöne und als hervorstrahlendes Licht sich in der Schönheit des vielfältigen Seienden widerspiegele, sind pantheistische Tendenzen angelegt. Die reine Schönheit wird somit zum theologisch-kosmologischen Grundbegriff.1 Der Renaissance-Platonismus war Ende des 18. Jahrhunderts zwar weitgehend, aber doch nicht vollständig in Vergessenheit geraten. Hegel kannte sicherlich 1801/02, möglicherweise aber auch schon früher zumindest die interpretierende Plato-Übersetzung des Marsilius Ficinus sowie die Kritik Tiedemanns an dessen Platonischer Theologie. Schiller lernte 1797 die Lehre von Leone Ebreo kennen, beachtete jedoch nur dessen Astrologie und Kosmologie.2 Sachlich bedeutsamer dürfte die indirekte Tradition von Grundlinien der Philosophie Leones über Spinoza sein; der junge Spinoza war von dessen Auffassung sehr beeindruckt; noch die Ethik bewahrt z.B. in der Lehre vom „Amor Dei intellectualis“ einen Nachhall hiervon. – Hölderlins und Hegels ästhetischer Platonismus ist von diesem Renaissance-Platonismus nicht unmittelbar herzuleiten. Ihr Rekurs auf Plato erfolgte originär in der Auseinandersetzung mit Kant und mit Fichte; die damaligen Diskussionen um Spinozas Philosophie prägten jedoch ihr Vorverständnis der Platonischen Philosophie in einer Weise, daß es in Grundzügen mit dem des Platonismus der Renaissance, speziell Leones, übereinkam.
1
2
Vgl. Marsilius Ficinus: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Übers. von K.P. Hasse. Leipzig 1914. Leone Ebreo: Dialoghi d’Amore. Hebräische Gedichte. Hrsg. mit einer Darstellung des Lebens und Werkes Leones etc. von C. Gebhardt. Heidelberg u.a. 1929 (Bibliotheca Spinozana. T. III). Bes. aus der „Einleitung“, 40 ff, 48 ff, 63 ff. – Die im Text unmittelbar hinter Platos Dialogen angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Stephanus-Ausgabe von 1578. Zu Hegel vgl.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 207, sowie Hegels Benutzung der Bipontiner Plato-Ausgabe, die die Übersetzung des Marsilius Ficinus enthält. Zu Schiller vgl. dessen Brief an Goethe vom 7.4.1797 (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. von E. Staiger. Frankfurt a.M. 1966, 366).
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1. DAS SCHÖNE IN HÖLDERLINS KLASSISCHER PHASE
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1. Das Schöne in Hölderlins klassischer Phase Hölderlin und Hegel studierten auf dem Tübinger Stift intensiv Plato. Sie lasen gemeinsam mit einigen anderen Freunden Platonische Dialoge; Hegel fertigte auch verschiedene Plato-Übersetzungen an.3 – Im Brief an Neuffer vom Juli 1793 weist Hölderlin zum ersten Mal darauf hin, welche Bedeutung Plato für ihn im Kontext eigener dichterischer Planungen hat. Er äußert sich enthusiastisch über die Schilderung eines locus amoenus zu Beginn des Phaidros und deutet sie als Naturpoesie; Hölderlin spielt auch in späterer Zeit noch auf diese Eingangsidylle des Phaidros an. Ferner versetzt er sich in lebhafter Ausmalung der Situation unter die Teilnehmer von Platos Gastmahl und übernimmt Platos Auffassung, daß nur im Zustand der Begeisterung die reine Liebe erfahren werden könne – was Plato freilich deutlicher im Phaidros zeigt – und daß die Liebe in die Dimension des Heiligen gehöre. Er hofft, daß von diesen Platonischen Szenen und Inhalten auch einiges Licht auf den Hyperion falle, an dem er damals schon arbeitet.4 Bereits Hölderlins erster Entwurf dieses Werks steht also im Horizont der Platonischen Liebes- und Schönheitsphilosophie. Hölderlins Aufnahme der Platonischen Ideen und ihre Bedeutung für seine eigene Auffassung wandelt sich freilich in den folgenden Jahren bis zum Abschluß des Hyperion beträchtlich. So läßt sich ein Plato-Verständnis Hölderlins, das sich während der Ausarbeitung der früheren Hyperion-Fassungen im Rahmen der idealistischen Bewußtseinstheorie hält, das aber auch an Schiller orientiert ist, unterscheiden von einer später von ihm ausgebildeten, an Plato anknüpfenden bewußtseinsüberlegenen Metaphysik der Liebe und des Schönen als des göttlichen Einen. – Hölderlins philosophisches Programm während der Vorfassungen des Hyperion, das er Neuffer in einem Brief vom 10.10.1794 mitteilt, besteht in der Entwicklung „ästhetischer Ideen“ als „Kommentar über den Phädrus des Plato“; trotz der im Terminus: „ästhetische Ideen“ enthaltenen Anspielung auf Kant soll offenbar gezeigt werden, daß diese Ideen nicht nur Produkte der Einbildungskraft sind, die nichts Bestimmtes zu erkennen geben, sondern Platonische Ideen von wahrhaft Seiendem, wobei der Idee der Schönheit wohl Grundlegungsfunktion zukommt. Hölderlin bezieht sich in diesem Kontext zugleich auf Schiller, der bereits über Kants Lehre vom Schönen und Erhabenen hinausgegangen sei, aber doch „einen Schritt weniger über
3 4
Vgl. K. Rosenkranz: G.W.F. Hegels Leben. Berlin 1844, 40. Vgl. F. Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hrsg. von F. Beißner. Stuttgart 1943 ff (= StA). Bd. 6, 86. Vgl. auch 1, 179. Zur Entstehungsgeschichte des Hyperion vgl. 3, 296 ff. Vgl. zu diesem und zu den weiteren Plato-Bezügen Hölderlins die in den Einzelheiten gründliche, auf Beißners Hinweisen aufbauende Darstellung von R.B. Harrison: Hölderlin and Greek Literature. Oxford 1975, 43-83, bes. 44 ff. Vgl. zu dieser Stelle auch P. Böckmann: Hölderlin und seine Götter. München 1935, 75.
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die Kantische Grenzlinie gewagt“ habe als notwendig.5 Im Namen der Platonischen Schönheitslehre will Hölderlin also über Kant und auch über Schiller hinausgehen. Der Aufsatz, der diese Grundlinien der Ästhetik enthalten sollte, kam nicht zustande. Teile von Hölderlins Programm lassen sich jedoch aus der metrischen Fassung des Hyperion, der ihr entsprechenden Prosafassung und dem Anfang von „Hyperions Jugend“ rekonstruieren. Hölderlin schildert hier Entstehung und Wesen der Liebe.6 Aus dem Phaidros (248) übernimmt er den Mythos, daß die menschliche Seele sich nicht im Fluge der Götter, die die reinen Ideen schauen, zu halten vermag, sondern zur Erde herabsinkt; diese Begebenheit interpretiert er als Grund der Entstehung des Eros und verbindet sie mit Platos allegorischer Erzählung von dessen Geburt im Symposion (203 b). Nach Plato vereinigten sich der Überfluß (Poros) und die Dürftigkeit (Penia) beim Geburtsfest der Aphrodite, der Göttin der Schönheit, und so wurde Eros geboren. Wesensmerkmale des Eros sind daher einerseits Reichtum und andererseits Armut. Hölderlin deutet diese Platonische Bestimmung mit Fichteschen und Schillerschen Begriffen. Der Reichtum, sofern er als wesentliche Bestimmung des Menschen gedacht wird, ist Inhalt und Ziel des Strebens ins Unendliche, zu unendlichem Fortschritt, d.h. des „Triebes“ zur freien Selbsttätigkeit; die Armut, ebenfalls als wesentliche Eigenschaft des Menschen verstanden, stellt die Endlichkeit und als Moment des Strebens den „Trieb“ zur Passivität und Rezeptivität dar. Keinen dieser Grundtriebe kann der Mensch aufgeben, ohne sein Menschsein zu verlieren; so ist er erst Mensch durch ihre Vereinigung. Die Darstellung des Strebens ins Unendliche und der Endlichkeit als Negation und Begrenzung der ins Unendliche gehenden Tätigkeit schließt sich auch nach Hölderlins eigener Äußerung eng an Fichte an;7 die Bezeichnung dieser Grundbestimmungen als „Triebe“ dürfte dagegen ebenso wie die Konzeption ihrer Vereinigung in anthropologischem Sinne, die nicht identisch ist mit der von Fichte gelehrten Begrenzung der unendlichen Tätigkeit durch eine ihr entgegengesetzte objektive Tätigkeit, am ehesten auf persönliche Gespräche mit Schiller zurückgehen, die im Herbst und Winter 1794/95 stattfanden, als Schiller gerade die Briefe Über die ästhetische Erziehung ausarbeitete. 5
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StA 6.1, 137; vgl. zum geplanten Phaidros-Kommentar auch F. Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976, 128 ff. Systematisch werden die Bezüge auf Plato und auf Kant noch nicht klar genug voneinander unterschieden. Vgl. StA 3, 192-195, 201 f. Vgl. die Rekonstruktion von Hölderlins damaligem Ansatz von G. Kurz: Mitteilbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975, 19 ff. Vgl. ebenso L. Ryan: Hölderlins „Hyperion“. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, 36 ff, und R.B. Harrison, a.a.O. (Anm. 4), 60 ff. Vgl. Hölderlins Brief an den Bruder vom 13.4.1795: StA 6.1, 164. Insofern ist Harrisons Feststellung, Hölderlin stelle hier Platonische Gedanken in Fichteschem Kontext dar, zutreffend (a.a.O. [Anm. 4], 60). Im folgenden wird sich freilich zeigen, daß die Hintergründe Hölderlins vielschichtiger und beziehungsreicher sind.
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– Die Vereinigung dieser „Triebe“ ist nach Hölderlin die Liebe, die damit grundlegende anthropologische Bedeutung erhält. Auch diese inhaltliche Bestimmung der Vereinigung steht Schillers Konzeption nicht fern. Deutlicher noch bezieht Hölderlin sich auf Schiller mit der Überlegung, daß man auch beim Gegenwärtigwerden des Schönen, das die Liebe erstrebt, auf die Mitwirkung der Natur angewiesen bleibt, da die Liebe die Endlichkeit des Menschen nicht abzustreifen vermag. Die Bestimmung der Vereinigung der Grundtriebe als Liebe enthält jedoch auch ein von Schiller abweichendes, von Hölderlin durch den Bezug auf Plato gerechtfertigtes Motiv. Der Eros ist nach Platos Darlegung im Symposion, wie Sokrates gegen Agathon bemerkt, nicht selbst schön, weil er das Schöne anstrebt, also nicht besitzt; er ist daher auch kein Gott. Er ist vielmehr ein Dämon, ein Mittelwesen zwischen Menschen und Göttern; für Plato stellt er im Ausgang von der irdischen Bedürftigkeit die Kraft des Erstrebens des wahrhaft Schönen, der Idee des Schönen dar. Durch seine Mittelstellung wird so „das Ganze in sich selbst verbunden“ (202 e). Dieses Ganze ist für Hölderlin der Mensch. Er strebt das Schöne, das Gute in seiner unvergänglichen Beständigkeit an, die nach Platos klassischer Ideenlehre die Seinsweise des in der Idee Gedachten und Erkannten ausmacht; der Mensch weiß diese Inhalte des Strebens und der Liebe als zu seiner Natur gehörig, ohne doch selbst als ganzer unendlich zu werden, da er in der Liebe zugleich endlich ist.8 Hölderlin akzeptiert hierbei – anders als Kant oder Schiller – ohne Einschränkung die ontologische Bedeutung der Platonischen Ideen. Das göttliche Schöne ist ebenso wie die anderen Ideen, die für Hölderlin auf dieser Idee basieren, weder Schein noch Erscheinung, sondern an sich selbst dem zeitlichen Werden und Vergehen entrückte wahrhafte Wirklichkeit, die sich in der Sinnenwelt widerspiegeln kann. Diesen Ansatz sucht Hölderlin noch in eine idealistische Bewußtseinstheorie einzuordnen. Wir werden uns unser selbst und der Welt nur bewußt in der Synthesis der beiden Grundtriebe. Alles, was uns in der Natur oder im eigenen Inneren begegnet, auch das Schöne, ist nämlich nur Bewußtseinsinhalt. Diesem aber verleiht Hölderlin ontologische Bedeutung: Was wir mit unserer Vorstellung beseelen, das ist seiend. Hölderlin bemerkt allerdings bald, daß sein Platonismus mit dieser Position unverträglich ist.9 – Sucht man nach philosophischen Gründen, die Hölderlin über Kants und Schillers Ästhetik sowie über Fichtes Subjektivitätstheorie hinausführten, so läßt sich die Lehre von den Platonischen Ideen in ihrer Seinsbedeutung, freilich mit der Idee der 8
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Hölderlin drückt dies mehrmals auch im Bilde der Dämmerung aus, in der die Liebe verbleibt; vgl. StA 3, 203, auch 180, 184. Die Abhängigkeit von Fichte in dieser Periode ist zwar unleugbar; doch ist er auch in Hyperions Jugend keineswegs einfach Fichteaner. Man darf die in ganz andere geschichtliche Zusammenhänge gehörigen Überlegungen Hölderlins zu Liebe und Schönheit nicht zu „Modifikationen der Fichteschen Lehre“ (L. Ryan, a.a.O. [Anm. 6], 44) herabstufen, zumal da sie teilweise mit dieser Lehre inkompatibel sind.
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Schönheit als höchster Idee angeben; es bleibt zweifelhaft, ob sich in einer Theorie dieses „Hinausgehen“ z.B. über Kant argumentativ hinreichend rechtfertigen ließe. – Hölderlin wird noch durch ein weiteres Motiv, das nicht unabhängig von seiner Plato-Rezeption ist, zum Verlassen speziell des Idealismus des frühen Fichte bestimmt. Schon in diesen Fassungen des Hyperion, insbesondere in Hyperions Jugend taucht ein Gedanke von Vereinigung und ursprünglicher Einheit auf, der über die in der Liebe konzipierte Vereinigung hinausgeht. Hölderlin deutet ihn als Einswerden mit Allem, als ursprüngliche Einheit alles Lebendigen an. Diese höchste, ursprüngliche Einheit ist, wie er im Fragment über Urteil und Sein darlegt, auch der Identität des seiner selbst bewußten und damit sich in sich unterscheidenden Ich überlegen.10 Diese neue Konzeption der Einheit und Einigkeit als Grundbestimmung alles Seienden, mit der Fichtes Ansatz prinzipiell aufgegeben wird, liegt der endgültigen Fassung des Hyperion zugrunde. Programmatisch und allgemein wird sie bereits in der Vorrede zur vorletzten Fassung formuliert. Hölderlin nimmt hier die spinozistisch verstandene heraklitische Formel: gí êár ðOí wieder auf, die ihm seit der Tübinger Zeit ebenso wie seinen damaligen Freunden vertraut war, und deutet sie nun als „die selige Einigkeit, das Sein im einzigen Sinne des Worts“.11 Nur dem in sich einigen Ganzen kommt wahrhaftes Sein zu; nur durch dieses kann etwas wahrhaft sein. Hölderlin setzt nun in Rousseau nahekommender Weise verschiedene geschichtliche Phasen im Verhältnis des Menschen zu diesem Sein an. Ursprünglich ist der Mensch einig mit dem Sein und davon nicht unterschieden; diesen Zustand nennt Hölderlin: Frieden. Erst mit der Trennung von der ursprünglichen Einheit entsteht der Widerstreit von selbstbewußtem Ich und Welt. Der Mensch ist bestrebt, diesen Widerstreit aufzuheben und wieder zur Einigkeit des Ganzen zu gelangen, was jedoch sowohl dem theoretischen Erkennen als auch dem praktischen Handeln nur in unendlicher Annäherung gelingt.12 Weder dieses Streben zur 10
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Vgl. StA 3, 224; StA 4.1, 216 f. Vgl. dazu D. Henrich: „Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus“. In: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965/66), 7396. Eine ausführliche Interpretation der Details dieses Fragments liefert H. Bachmaier: „Theoretische Aporie und tragische Negativität“. In H. Bachmaier, Th. Horst und P. Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie. Stuttgart 1979, bes. 85-128. Zum Hinausgehen über Fichte vgl. auch Hölderlin an den Bruder. 2.6.1796, in: StA 6.1, 208 f. StA 3, 236. Hölderlin war sich offenbar nicht darüber im klaren, daß dies weniger die Position des Heraklit als die des Parmenides war, die Plato im Dialog Parmenides dann kritisch erörterte. Schelling sah in seinem Identitätssystem Parmenides als Vorläufer des Spinozismus an; vgl. F.W.J. Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856-1861. Bd. IV, 401. Vgl. schon die Andeutung in Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza. In: Werke. Bd. IV.2, 39 f. Ähnlich äußert sich Hölderlin in einem Brief an Schiller (vom 4.9.1795) über sein philosophisches Programm. Die wahrhafte Vereinigung von Subjekt und Objekt ist, wie Hölderlin dort erklärt, vielmehr ästhetisch und gelingt in der intellektuellen Anschauung. Vom Absoluten dieser Vereinigung sagt er noch unbestimmt: „Ich oder wie man es nennen will“ (StA 6.1, 181); schon im Brief an Hegel vom 26.1.1795 hatte er Fichtes absolutes Ich und Spinozas Substanz gleichgesetzt (vgl. a.a.O. 155). Daß Hölderlin mit diesem Programm auch über
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Einheit und Ganzheit, um in ihr den Frieden zu finden, noch die Konstituentien des Strebens, das Selbst- und Weltbewußtsein, aber gäbe es überhaupt, wenn nicht jene Einheit wahrhaft wäre, nämlich als Sein; dieses ist auch in der Phase der Trennung uns gegenwärtig als Schönheit, und es wird ein Reich der Schönheit begründen, in dem der Frieden wiedergewonnen ist. Für diese über das endliche Ich als Prinzip hinausgehende Metaphysik des Einen und Schönen, nach der die Vereinigung nicht theoretisch oder praktisch, sondern nur ästhetisch erreicht werden kann, beruft Hölderlin sich emphatisch auf Plato: „Ich glaube, wir werden am Ende alle sagen: heiliger Plato, vergib! Man hat schwer an dir gesündigt.“ 13 Hölderlin denkt hierbei an Platos Schönheitsphilosophie im Symposion und Phaidros, die dort als Mitteilung göttlicher Geheimnisse entwickelt wird. Hölderlins Voraussetzung, daß die reine Schönheit ontologische ebenso wie religiöse Bedeutung hat, ist durchaus Platonisch; der besondere Vorrang der Idee der Schönheit vor den anderen Ideen aber und vor allem die Verbindung dieser Schönheitsauffassung mit dem pantheistisch verstandenen Einen und Ganzen sind aus Platos klassischer Ideenlehre nicht zu entnehmen. Dieser ästhetische Platonismus und sein Verhältnis zu Plato selbst sei anhand der endgültigen Fassung des Hyperion näher betrachtet, in der diese Anschauung dichterisch gestaltet ist. Die reine Schönheit wird auch hier als göttlich apostrophiert; sie ist das Vollendete oder Vollkommene selbst, das in bestimmter Gestalt wirklich wird. Platos Philosophie der Schönheit bildet hierbei den allgemeinen Hintergrund. Vermutlich hat Hölderlin u.a. die im Phaidros geäußerte Auffassung vor Augen, daß die Schönheit das „Hervorleuchtendste“ und „Liebreizendste“ (250 d-e) sei. Dies zeichnet nach Plato die Idee der Schönheit vor allen anderen Ideen aus, ohne daß sie deshalb freilich einen ontologischen Vorrang vor ihnen erhielte. Sie leuchtet schon in den sinnlichen Dingen auf und wird bereits in dieser Erscheinung als Faszinierendes geliebt, obwohl ihr wesentliches Ansichsein als Idee rein geistig ist. In Hölderlins Diotima gewinnt diese Schönheit als das „Hervorleuchtendste“ und „Liebreizendste“ individuelle Gestalt. Der Name dieser Figur, die im Thaliafragment noch Melite hieß, erinnert an die Mantineerin in Platos Symposion, die Sokrates über die Arcana der Schönheit und der Liebe belehrt; Hölderlin bezeichnet sie mehrfach – Platos Darstellung gemäß – als Priesterin. Er steigert sie, da in ihr das Schöne an sich selbst gegenwärtig ist, zu einem als Mensch anwesenden Gott. Sie ist als Epiphanie der reinen Schönheit in sich einig, d.h. sie befindet sich im Zustand des Friedens, den sie auch anderen mitteilt.14
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Schiller hinausgehen will, zeigt u.a. sein wenig später geäußerter Plan, „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung“ zu verfassen, vgl. Hölderlin an Niethammer. 24.2.1796: a.a.O. 203). StA 3, 237. Dieses Diktum wird unterschätzt, wenn man es lediglich als eine Selbstkorrektur Hölderlins auffaßt; vgl. L. Ryan, a.a.O. (Anm. 6), 53 f; gegen die These von der Selbstkorrektur spricht sich auch R.B. Harrison aus, vgl. a.a.O. (Anm. 4), 65 f. Durch die Liebe zu Hyperion und die Trennung von ihm wird sie schließlich leidend, eine erhabene Seele, und nur der Tod befreit sie aus dieser Entzweiung. Vgl. zur metaphysischen
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Plato setzt im Phaidros seine Anamnesislehre voraus; danach wird anläßlich eines schönen sinnlichen Anblicks die Erinnerung an das zeitlose Schöne an sich bei demjenigen wachgerufen, der es schon einmal unabhängig von der leiblichen Existenz geschaut hat. Hölderlin nimmt diese Anamnesislehre auf, verändert sie aber im Hyperion im Sinne der Vorrede zur vorletzten Fassung. Hyperion wird durch Diotima nicht einfach an die ewige Schönheit überhaupt erinnert, sondern an die Schönheit der Natur, des ursprünglich in sich einigen Ganzseins, die bei den Athenern unmittelbare, geschichtliche Wirklichkeit war und die dann aus der Welt der Entzweiung verschwand. So wird die Schönheit in dieser Phase der Entzweiung im Geist als Ideal bewahrt, weil sie als Natur wie in der Geschichtsepoche der Athener nicht mehr vorhanden ist.15 Einmal betrifft die Anamnesis also das geschichtliche Ereignis der Wirklichkeit des Schönen und nicht die zeitlose Idee; zum andern ist Diotima, die die Anamnesis hervorruft, nicht nur eine sinnliche Erscheinung des Schönen, sondern die individuelle Wirklichkeit des göttlichen Schönen als solchen auch in derjenigen Zeit, für die die Anwesenheit des Göttlichen als geschichtliches Dasein bereits ferne Vergangenheit ist. Das Wesen der auf diese Weise im Hyperion gestalteten Schönheit gibt Hölderlin nun mit zwei allgemeinen heraklitischen Bestimmungen an, ohne daß dabei der Bezug auf Plato verlorengeht. Die Schönheit ist einmal das gí êár ðOí, das mit Jacobis Briefen Über die Lehre des Spinoza als Programmformel des Spinozismus und Pantheismus gilt.16 Das Eine als das Ganze, das wahrhaft ist, muß wesentlich als das Schöne selbst angesehen werden. Auch alles besondere Seiende muß daher schön sein, nämlich in sich die Schönheit des Ganzen aufleuchten lassen. So hat die Schönheit grundlegende ontologisch-kosmologische Bedeutung auch für die anderen Ideen und das in ihnen gedachte Seiende. Trotz dieser pantheistischen Konzeption, die mit Platos eigener Lehre nicht kongruent ist, berief Hölderlin sich in der Vorrede zur vorletzten Fassung auf Plato, weil in dessen Lehre der Seinscharakter und die Göttlichkeit des Schönen für ihn vorbildhaft waren. Dies gilt offensichtlich auch noch für die endgültige Fassung. Hölderlin kommt damit systematisch und ohne sein Wissen dem ästhetischen Platonismus der Renaissance nahe. Historisch könnte für ihn außer Spinoza selbst, für den, wie erwähnt, dieser Platonismus bedeutsam war, auch Brunos Pantheismus mit seinen neuplatonischen Komponenten, ferner die pantheistische und platonische Atmosphäre in Shaftesburys Theorie des Ästhetischen und in Hemsterhuis’ Auffassung des Gefühls anregend gewesen sein. Doch sind die Plato-Bezüge z.T. unbestimmt
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Bedeutung der Diotima-Gestalt vor allem W. Binder: „Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus“. In ders.: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt a.M. 1970, bes. 13 ff. Vgl. dazu etwa StA 3, 63; zu historischen Hintergründen vgl. 460. – Eine Anspielung auf die Präexistenz der Seelen, die unmittelbar mit der Platonischen Anamnesis zusammenhängt, enthält Hölderlins Rede vom „Vorelysium“, in dem sich Diotima und Hyperion in „göttlicher Kindheit“ schon kannten (a.a.O. 70). Vgl. Hölderlins frühes Jacobi-Exzerpt StA 4.1, 207 ff.
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und für diese philosophischen Lehren weniger fundamental als für Hölderlin. – Die andere heraklitische Bestimmung der Schönheit lautet: åí äéáöåñïí åáõôv (das Eine in sich selber unterschiedene)“;17 er entnahm sie aus Platos Symposion. Für Hölderlin ist darin die innere Harmonie der im Einen Unterschiedenen und Getrennten ausgedrückt, die am Ende des Hyperion als Allversöhnung der einander Widerstreitenden gefeiert wird. Bei Plato wird in der Rede des Eryximachos diese heraklitische Bestimmung anspruchsloser erwähnt und auf die musikalische Harmonie angewandt; Plato kritisiert Heraklit freilich und betont, daß Einigkeit und Entzweiung demselben nicht in derselben Hinsicht zukommen können; hier behält Hölderlin den heraklitischen Widerspruch zur Charakterisierung des Einen als des Schönen bei. In seiner systematisch grundlegenden Bedeutung ist dieser Gedanke, daß das höchste Eine in sich entgegengesetzte Bestimmungen enthalte, neuplatonisch; er dient Hölderlin zur Begründung eines neuen, von Spinoza und Jacobis Spinoza-Darstellung abweichenden Pantheismus.18 Innerhalb dieser Schönheitsauffassung gewinnt für Hölderlin die Liebe eine gegenüber den früheren Entwürfen veränderte Bedeutung. Sie ist nicht mehr nur Vermittlung zwischen dem Trieb zur Passivität und dem Streben ins Unendliche in interpretierender Anknüpfung an den Eros-Mythos im Symposion. Zwar erstrebt die Liebe noch immer das göttliche Schöne und Vollendete; dies charakterisiert die Haltung Hyperions gegenüber Diotima. Aber die Liebe hört nicht auf, wenn das Schöne gegenwärtig ist; sie bleibt auch Liebe im Erfüllungszustand. Diese Auffassung Hölderlins kommt der Bestimmung der Liebe im Phaidros (249 ff) nahe, auf die er gelegentlich wohl anspielt, nach der das Erstreben des „Himmels der Vollendung“,19 des Schönen selbst, ebenso wie die Verehrung des anwesenden Schönen Liebe ist. Daher kann auch die Liebe selbst etwas Göttliches sein; sie ist für Hölderlin die Einigkeit der Unterschiedenen im Ganzen.
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StA 3, 81, vgl. 83. Vgl. in Plato: Symposion 187 a; dort heißt es: ,, gí ... äéáöåñüìåíïí ... á›ô²“. Auch E. Cassirer interpretiert dies als vagen Plato-Bezug Hölderlins und reiht Hölderlins Platonismus in denjenigen Shaftesburys und Winckelmanns ein; vgl. E. Cassirer: „Hölderlin und der deutsche Idealismus“. In: Hölderlin. Beiträge zu seinem Verständnis in unserem Jahrhundert. Hrsg. von A. Kelletat. Tübingen 1961, bes. 82 ff. Anregung hierzu kann Hölderlin aus der ersten Beilage zu Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza erhalten haben. Heraklit wird dort die „durchgängige Koinzidenz des Entgegengesetzten in der Natur“ zugesprochen, „welche alle Widersprüche enthalten, aber zugleich sie in Einheit und Wahrheit auflösen muß“ (Werke. IV.2, 43 f). – F. Aspetsbergers Interpretation dieses Pantheismus als „Theologie ohne Gott“ wiederholt de facto die damalige Auffassung, der spinozistische Pantheismus sei Atheismus; vgl. F. Aspetsberger: Welteinheit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman „Hyperion“ . München 1971, 52 ff. StA 3, 51. Daß „das Beste und Schönste, ... der Himmel der Vollendung vor der ahnenden Liebe sich öffnet“, läßt sich als eine solche Anspielung auf die Liebesauffassung des Phaidros verstehen. – Hölderlins Auffassung von der Liebe im Hyperion hat natürlich noch andere, nämlich christliche und pantheistische Hintergründe, die mit der Platonischen Konzeption verschmolzen werden.
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Ähnlich wie Platos Anamnesislehre nimmt Hölderlin dessen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auf und deutet sie von seiner Auffassung der Schönheit her. Was als Vollendetes Wirklichkeit hat, ist ewig lebendig und kann nicht untergehen. So kann auch das Sein der göttlichen Schönheit Diotimas durch ihren Tod nicht aufgelöst werden. Hölderlin setzt hierbei freilich unplatonisch den Gedanken des Allebens in wechselnden Gestalten voraus, das sich in liebendem Streit, d.h. in kosmischer Schönheit bildet. So ist die Schönheit für Hölderlin letzter metaphysischer Grund alles Seienden und der anderen Ideen. Sie kann für ihn nur in der Dichtung und in der vollkommenen Liebe erfaßt werden. Diese Auffassung erinnert an die Darlegung verschiedener Arten göttlichen Wahnsinns und göttlicher Begeisterung als Arten des Zugangs zu religiösen Dimensionen im Phaidros; der Liebeswahn erstrebt und bewundert danach das göttliche Schöne selbst. Hölderlin folgert daraus aber anders als Plato, das Schöne als solches sei philosophisch nicht originär zu begreifen. Für ihn ist die Dichtung Grund und Quelle auch der Philosophie sowie aller Vernunfttätigkeit.20 Nur der dichterischen Begeisterung eröffnet sich das Arcanum der Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren; und wenn das göttliche Schöne im Leben untergegangen ist – wie Diotima am Ende für Hyperion, dann wird es durch die pantheistische Naturdichtung wiedererweckt. Die Philosophie aber, die sich abstrakter, trennender Begriffe bedient, kann nach Hölderlin jene Einheit als Schönheit nicht selbst anschauen, sondern ein unmittelbares Gegenwärtighaben solcher Einheit als Bedingung aller Trennungen nur voraussetzen. Daher kehrt der Philosoph, wie Hölderlin in der Ode Sokrates und Alkibiades mit Anspielung auf das Symposion sagt, schließlich zur erfüllten, unmittelbaren Anschauung des Schönen zurück. Ohne ästhetischen Sinn ist zwar auch die Philosophie nicht möglich; doch gelingt nur der Dichtung dessen adäquate Artikulation und Darstellung und damit eine evidente Erfassung des Schönen selbst. Hölderlins Konzeption des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie, auf die hier nur hingewiesen werden sollte, geht also von Platos Schönheits- und Liebesphilosophie aus, wendet sich in der Ausführung jedoch gegen die klassische Lehre von den Ideen als Vernunfterkenntnissen und versucht, aus dem Wesen des Schönen die Begeisterung in der Liebe und in der Dichtung als allein angemessene Zugangsarten zum Schönen zu rechtfertigen. – Die Position des ästhetischen Platonismus und Pantheismus behielt Hölderlin später nicht bei. Die Homburger Empedokles-Entwürfe zeigen die Krise dieser Auffassung. Die unmittelbare Einheit des Göttlichen und Menschlichen, die für Hölderlin in der Vollendungsgestalt der Diotima noch möglich war, 20
Vgl. StA 3, 81, auch 83. In analoger, freilich nicht in derselben Weise schreibt Plato im Symposion der Dichtung als allgemeinem Schaffen (ðïßçóéò) grundlegende Bedeutung zu (205 bc, 209 a), woran Hölderlin gedacht haben kann; die Dichtung ist dort Grund aller Künste und zugleich selbst eine besondere Kunst. – Zum Problem des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie beim klassischen Hölderlin vgl. z.B. J. Hoffmeister: Hölderlin und die Philosophie. Leipzig 21944, bes. 70 ff.
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wird nun zum Problem; Empedokles lädt durch diese Identifikation nach Hölderlin religiöse Schuld auf sich, von der er sich reinigen muß. Hölderlin tendiert von der Empedokles-Dichtung an immer entschiedener zur Auffassung von der eigenen Realität der Götter, die zwar in der Natur und im Menschen wirksam und gegenwärtig sind, aber zugleich eine davon unterschiedene, unabhängige Existenz haben und nicht nur, wie es noch im Athengespräch des Hyperion – in einer Anknüpfung an Schiller – hieß, Gebilde der Kunst sind, in der der Mensch sich seine Götter gibt. Damit aber verläßt Hölderlin den ästhetischen pantheistischen Platonismus seiner früheren klassischen Zeit.
2. Das Schöne in Hegels Frankfurter Schriften Plato ist für den jungen Hegel zunächst von ungleich geringerer Bedeutung als für Hölderlin. Zwar studiert Hegel in Tübingen, wie erwähnt, mit Hölderlin und anderen Freunden Plato, übersetzt auch Plato-Texte; zwar bezieht er sich gelegentlich auf Platonische Dialoge wie das Symposion, den Phaidros oder den Phaidon und hebt aufgrund der Darstellungen Platos und Xenophons das Verhältnis des Sokrates zu seinen Jüngern hervor, das er vom Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern unterscheidet. Aber diese Bezüge haben keinen entscheidenden Einfluß auf seine eigene ethische und religionsphilosophische Konzeption. Diese ist in der Tübinger und Berner Zeit (bis 1796) vor allem an der Kantischen Philosophie orientiert. Nur in einem Fragment von 1794 kommt Hegel einmal Platos Schönheitslehre näher. Wenn der lange anhaltende Zustand der Schwäche und Verdorbenheit der Menschen, der den Grund für den Untergang der antiken freien Republik und für die bestimmte Ausformung der christlichen Religion als Glaubenslehre bildet, endlich einer Epoche weicht, in der die Menschheit wieder der Ideen fähig wird, dann kann auch, wie Hegel erklärt, das „Schöne der menschlichen Natur“, das in jedem Individuum zu finden ist, „als Idee in ihrer Schönheit“ erneut erkannt werden.21 Auch hier liegt Hegel jedoch weniger an der Erkenntnis der Idee der Schönheit selbst als an der Gründung einer schönen Religion. Erst zu Beginn der Frankfurter Zeit (Anfang 1797) und offensichtlich durch die Anregung Hölderlins gewinnt Plato gravierende Bedeutung für Hegels eigenen Ansatz. Am Ende eines Fragments, dem der Herausgeber Nohl den Titel Liebe und Religion gibt, beruft Hegel sich für seine Bestimmung der Liebe auf eine Stelle in Platos Phaidros (251 a), an der die Liebe und der heilige Schauer beim Anblick eines Abbilds der göttlichen Schönheit geschildert werden, das den Betrachter an das Urbild, die Idee der Schönheit selbst erinnert. Die Platonische Lehre von der Idee der Schönheit, von ihrer religiösen Bedeu21
Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Tübingen 1907 (von nun an abgekürzt als N), 71. – Zu sonstigen Anspielungen auf das Symposion oder den Phaidros aus dieser Zeit vgl. N 27, 30, 56 f.
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tung, die Theorie der Anamnesis und die Auffassung von der Liebe als göttlichem Wahn sind darin impliziert. Hegel denkt hierbei vor allem an den religiösen Sinn der Liebe. Sie ist für ihn Einigkeit Unterschiedener, die trotz ihrer inneren Vereinigung unterschieden bleiben; dies charakterisiert nach Hegel das Verhältnis des Menschen zur Gottheit in einer schönen Religion. Daß Hegel ebenso wie Hölderlin – wenigstens für eine kurze Zeit – die Position eines ästhetischen Platonismus vertritt, läßt sich am deutlichsten aus dem sog. Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus entnehmen. Man muß dabei freilich Hegel als Verfasser und nicht nur als Abschreiber dieses Programms ansehen. Dafür lassen sich gute Gründe angeben.22 Philologisch ist, solange die vermutete Vorlage Hegels nicht auftaucht, nicht zu beweisen, daß es sich um eine Abschrift handelt; Hegels Schriftduktus spricht – verglichen mit anderen Abschriften Hegels – eher dagegen.23 Orthographie, Interpunktion und Wortwahl in diesem Fragment verbleiben im Rahmen des damaligen Hegelschen Gebrauchs, was bei einer Abschrift erstaunlich wäre. Als Entstehungszeit kommt nach der Buchstabenstatistik die Phase von Mitte 1796 bis Frühjahr 1797 in Frage; die Datierung auf das Ende dieses Zeitraums ist von daher ebensogut begründet wie die Datierung etwa auf dessen Beginn. Inhaltlich lassen sich die programmatischen Ausführungen dieses Fragments in Hegels philosophische Entwicklung ohne besondere Schwierigkeiten einordnen, wenn man bedenkt, daß er, wie auch andere Texte aus dieser Zeit zei22
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Nachdem F. Rosenzweig dieses Fragment Schelling und W. Böhm Hölderlin als Verfasser zugeschrieben hatte, schien L. Strauß die Debatte mit einer Entscheidung für Schelling beendet zu haben; sehr viel später stellte O. Pöggeler die These auf, daß Hegel der Verfasser ist (vgl. F. Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Heidelberg 1917. W. Böhm: „Hölderlin als Verfasser des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaften und Geistesgeschichte 4 (1926), 339-426; vgl. auch ders.: Hölderlin. 2 Bde. Halle 1928/29. Bd.1, 172 ff. L. Strauß: „Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systemprogramm“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 5 (1927), 679-734. O. Pöggeler: „Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“. In: Hegel-Tage Urbino 1965. Bonn 1969 (= Hegel-Studien. Beiheft 4), 17-32. Die wiederauflebende Diskussion der Verfasserfrage ist dokumentiert in dem aus einer Tagung hervorgegangenen Sammelband: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Bonn 1973. (= Hegel-Studien. Beiheft 9.) Die neuerliche Option von F. Strack für Hölderlin (Das Systemprogramm und kein Ende, a.a.O. 107149) wird inhaltlich bündig von M. Franz widerlegt in: „Hölderlin und das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. In: Hölderlin-Jahrbuch 19/20 (1975-77), 328-357. Die philologischen Argumente Stracks gegen Hegel als Verfasser sind auch in seiner neuerlichen Auseinandersetzung mit der Hegel-These nicht stichhaltig (vgl. F. Strack: „Nachtrag zum Systemprogramm und zu Hölderlins Philosophie“. In: Hölderlin-Jahrbuch 21 (1978/79), 67-87. In der Forschung findet Pöggelers These mehr und mehr Zustimmung; vgl. z.B. H.S. Harris: Hegel’s Development. Toward the Sunlight. 1770-1801. Oxford 1972, 249-257; H. Holz: „Die Struktur der Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), 78; auch meinen Beitrag (in dem genannten Sammelband: Hegel-Studien. Beiheft 9) über: „Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels“, bes. 81-90. Vgl. „Ein Entwurf Hegels zur Urteilslogik“. Hrsg. und erläutert von Klaus Düsing. In: HegelStudien 13 (1978), 12.
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gen, in der Umdeutung der Kantischen Postulatenlehre von Schelling und in der Schönheitskonzeption von Hölderlin beeinflußt ist.24 So ist die wahrscheinlichste und am besten begründete unter allen bisher diskutierten Möglichkeiten, daß Hegel der Verfasser des Systemprogramms ist. Die erste Hälfte des Systemprogramms enthält in den philosophischen Grundlagen eine durch Schellings praktische Metaphysik motivierte Abwandlung der Kantischen Postulatenlehre; die zweite Hälfte beginnt mit einer unübersehbaren Veränderung dieser Konzeption. Als Schlußstein des Systems der Ideen, die in der reinen Vernunft als vorrangig praktischer Vernunft begründet sind und die – nach der ersten Hälfte des Fragments – nur besondere Bestimmungen der Freiheit darstellen sollen, wird nun die Idee der Schönheit genannt: „Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen“. Nicht die Freiheit, sondern die Schönheit ist also die für die anderen Ideen grundlegende und sie zugleich umfassende Idee. Sie erhält damit eine ähnliche Bedeutung wie bei Hölderlin, der das fundamentale Eine Sein und das umfassende gí êár ðOí als Schönheit verstand. Ebenso wie Hölderlin beruft auch Hegel sich für diese Metaphysik der Schönheit auf Platos Schönheitslehre. Er verläßt damit seinen früheren noch an Kant orientierten philosophischen Ansatz. Dies kann nur auf den Einfluß Hölderlins zurückgeführt werden, den Hegel im Januar 1797 in Frankfurt wiedertrifft und mit dem und dessen Freunden er sehr bald intensive philosophische Diskussionen führt. Die folgenden Äußerungen des Systemprogramms bestätigen diese Zusammenhänge. Hegel erklärt: „Ich bin nun [!] überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind ...“. Hegel deutet hier mit dem „nun“ einen Wechsel seiner Überzeugungen an. Den höchsten, den ästhetischen Akt schreibt er anders als Hölderlin hier noch der Vernunft zu; denn sie ist für ihn – ebenso wie für Kant oder Plato – das Vermögen der Ideen. Die Auffassung, die höchste Ausübung der Vernunft sei ästhetisch, dürfte durch Schillers Konzeption eines Vernunftbegriffs der Schönheit in den Briefen Über die ästhetische Erziehung vorgeprägt sein, über die Hölderlin in seinen „Neuen Briefen“ noch hinausgehen wollte. Die im Systemprogramm implizierte Ansicht, daß die ästhetische Tätigkeit der Vernunft dem theoretischen und dem praktischen Vernunftgebrauch überlegen sei und deren höheres Prinzip sowie zugleich deren synthetische Einheit darstelle, knüpft an Hölder24
Die Grundlinien einer Einordnung des Systemprogramms in Hegels Entwicklungsgeschichte skizziert O. Pöggeler in: „Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms“, a.a.O. (Anm. 22); spezieller erörtert er sie hinsichtlich des Mythologiebegriffs in: „Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm“. In: Das älteste Systemprogramm, a.a.O. (Anm. 22), 244 ff. Zur Uminterpretation der Kantischen Postulatenlehre und zum Einfluß Schellings auf Hegel in der Berner Zeit und im Systemprogramm vgl. vom Verf.: „Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre“, a.a.O. (Anm. 22). Analoges ist nun von Hölderlins Einfluß auf Hegel hinsichtlich des ästhetischen Platonismus zu zeigen.
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ÄSTHETISCHER PLATONISMUS BEI HÖLDERLIN UND HEGEL
lins Programm der Ästhetik an, das u.a. aus einem Ungenügen an Schillers Kantkritik hervorging. Mit Hölderlin interpretiert Hegel von den grundlegenden klassischen Ideen Platos aus die Ideen des theoretischen und des praktischen Vernunftgebrauchs sowie deren Verbindung, nämlich daß die Wahrheit und die Güte durch die leitende Idee der Schönheit vereinigt werden. Die Platonische Rangfolge der Ideen wird dabei abgeändert; nicht das Gute, sondern das Schöne an sich ist die höchste, grundlegende Idee. So entwirft Hegel hier wie Hölderlin Grundzüge eines ästhetischen Platonismus. Ebenso dürfte die besondere Hochschätzung der Dichtung im Systemprogramm durch Hölderlin angeregt sein. Die Poesie ist danach nicht nur „Lehrerin der Menschheit “; sie wird auch die Philosophie, „alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben“. Zwar ist Hegel insbesondere durch Herder auf derartige Überlegungen schon vorbereitet; aber erst durch Hölderlin kann er die Dichtung als Anfang und Ende der Philosophie, der Geschichte und – was Hölderlin im Athengespräch des Hyperion nicht einmal ausdrücklich formuliert – der anderen Wissenschaften und Künste ansehen. Es bleibt jedoch unklar, wie diese Auffassung von der Dichtung mit der Bestimmung des ästhetischen Akts als des höchsten Akts der Vernunft zu vereinbaren ist. Solche Inkonzinnitäten in der Konzeption deuten darauf hin, daß Hegel eben erst beginnt, sich Hölderlins Ideen anzueignen. Das Systemprogramm gehört sicherlich in den Kontext der Diskussionen des Frankfurter Freundeskreises, in dem Hölderlin dominiert; es kann als eine erste und noch nicht ausgereifte Antwort Hegels auf die Frage nach seinem eigenen Ansatz verstanden werden.25 Erst die folgenden Frankfurter Fragmente (bis 1800) zeigen deutlicher, wie tiefgreifend Hegels Denken sich unter dem Einfluß Hölderlins gewandelt hat. Die im Systemprogramm bereits formulierte fundamentale Bedeutung der reinen Schönheit, von der ihn Hölderlin überzeugte, behält er bei; auch im Geist des Christentums ist für Hegel die Wahrheit nichts anderes als die Schönheit, wenn sie als Einheit und Einigkeit durch den Verstand vorgestellt wird; die Freiheit aber ist wiederum „der negative Charakter der Wahrheit“, nämlich weder Beherrschtwerden noch Beherrschen.26 Wahrheit und Freiheit sind also 25
26
Vgl. Hölderlins bereits resignierte Anspielung auf diese Diskussionen im Brief an Neuffer vom 10.7.1797 (StA 6.1, 243). Aufschlüsse über den Inhalt solcher Gespräche mit Hölderlin kann man u.a. aus Sinclairs wenig früher aufgezeichneten philosophischen Überlegungen gewinnen. Vgl. dazu H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1971. Vgl. zu den Gesprächen im Freundeskreis auch O. Pöggeler: „Sinclair – Hölderlin – Hegel. Ein Brief von K. Rosenkranz an Chr. Th. Schwab“. In: Hegel-Studien 8 (1973), 9 ff. Vgl. ferner L. Strauß: „Jacob Zwilling und sein Nachlaß“. In: Euphorion 29 (1928), 368-396. N 254, vgl. 327. Vgl. zu den philosophischen Beziehungen Hegels zu Hölderlin in der Frankfurter Zeit J. Hoffmeister: Hölderlin und Hegel. Tübingen 1931; auch ders.: Hölderlin und die Philosophie, a.a.O. (Anm. 20); O. Pöggeler: Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes. Unveröff. Habil.-Schrift. Heidelberg 1966; D. Henrich: „Hegel und Hölderlin“. In ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 1971, 9-40. Einen Überblick über die ältere Forschung findet man bei A. Pellegrini: Friedrich Hölderlin. Sein Bild in der Forschung (ital. 1956). Berlin 1965, 76-116.
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von der Schönheit abhängig. Hegel dienen solche Bestimmungen als Grundlage der Darlegung des Wesens der schönen Religion und ihrer geschichtlichen Bedingungen. Dabei übernimmt er auch pantheistische Anschauungen wie die von der Heiligkeit der Natur. Ferner konzipiert Hegel nun eine Philosophie der Liebe, die ohne Hölderlin nicht möglich wäre. Die Liebe ist danach ein ethisches und religiöses Prinzip der Vereinigung im Menschen. Zunächst ist sie für Hegel sogar eins mit der Religion; später hält er auch künstlerische und kultische Objektivationen einer Gemeinde zur Existenz einer Religion für erforderlich; doch das wesentliche Element einer Religion bleibt das Gefühl der Liebe. Ebenso akzeptiert Hegel Hölderlins Fichtekritik von der Prämisse einer dem Ich überlegenen Einheit aus, die nicht als in sich unterschiedslose Indifferenz verstanden werden darf, sondern die Unterscheidungen und Trennungen in sich selbst hat. Diese Einheit, dieses Sein, das im Menschen als Liebe und Schönheit gegenwärtig ist, bildet auch die Voraussetzung für eine Kritik an Kants Ethik, die Hegel, der frühere Kantianer, in Frankfurt ausbildet. Trotz dieser Anregungen, die Hegel von Hölderlin gerade in grundsätzlichen Fragen aufnahm und weiterführte, beruft Hegel sich auf Plato in einem für seine Auffassung essentiellen Sinn nur zu Beginn seiner Frankfurter Zeit; später treten die Plato-Bezüge in seinen Frankfurter Fragmenten zugunsten anderer Einflüsse zurück. Er eignet sich jedoch Hölderlins pantheistische Einheits- und Ganzheitsauffassung zu. Ebenso weisen die Tragik von Hölderlins Empedokles-Gestalt und die Tragik Christi in Hegels Darstellung verwandte Züge auf; bei Hegel gerät allerdings der Pantheismus nicht in eine Krise; Hegel versucht vielmehr, prinzipiell das Verhältnis von universaler Einheit und den ihr immanenten Unterschieden im Begriff des Lebens und Geistes näher zu bestimmen. Daher kann er später in Jena (von 1801 an) sein erstes Programm einer spekulativen Metaphysik, nämlich der systematischen Erkenntnis des Absoluten, ohne Schwierigkeiten gemeinsam mit Schelling als idealistische Substanzmetaphysik konzipieren. – Rosenkranz berichtet zwar, daß Hegel in Frankfurt intensiv Plato und Sextus Empiricus studiert.27 Es bleibt offen, ob Hegel bereits wie später in Jena Plato und den Skeptizismus in Zusammenhang bringt. Hegel bezieht sich im Geist des Christentums auch gelegentlich auf Plato, z.B. bei der systematisch bedeutsamen Bestimmung des Verhältnisses des Seins oder Lebens in Gott und der irdischen, endlichen Existenz; Plato habe zwischen der ewigen Anschauung des Göttlichen, der Ideen, und dem Erdenleben zeitlich unterschieden.28 Hegel denkt dabei an die Schilderung der Ideenschau und des Niedersinkens von weniger vollkommenen Seelen sowie an die Anamnesislehre im Phaidros. Die Erwähnung der unmittelbaren Einheit von Anschauen und Angeschautem als reines Lichtgefühl sowie eine Anspielung auf den jüdischen Platonismus in der Überarbeitung der Positivitäts-
27 28
Vgl. K. Rosenkranz: Hegels Leben, a.a.O. (Anm. 3), 100. Vgl. N 315 f,400.
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ÄSTHETISCHER PLATONISMUS BEI HÖLDERLIN UND HEGEL
Schrift29 verraten außerdem die vage Kenntnis neuplatonischer Gedanken. Doch sind diese Bezugnahmen Hegels auf Plato und den Neuplatonismus nicht wesentliche Bestandteile seines Ansatzes. Erst von der Jenaer Zeit an gewinnt Plato für Hegel neue, grundlegende Bedeutung. Doch nimmt er Plato nun nicht mehr im Interpretationsrahmen eines ästhetischen Platonismus auf; vielmehr setzt er sich vor allem mit Platos Spätdialogen auseinander und beruft sich auf sie für seine eigene, zuerst in Jena ausgebildete reine Ontologie und Dialektik.
29
Vgl. N 149.
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Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung Zur Erinnerung an Heinz Heimsoeth (1886-1975) Die Evidenz der spekulativ-idealistischen Position Hegels wird auch heute noch in nicht unwesentlichem Maße nach der Überzeugungskraft der spekulativen Überwindung der Kantischen kritischen Philosophie beurteilt. Nur wenn eine solche Überwindung gelingt, kann Hegels eigene Theorie Geltung und Wahrheit beanspruchen. Forderten die ersten zeitgenössischen Hegel-Kritiker noch eine zureichende Kantkritik als Grund für das Hinausgehen über Kant ein,1 so glaubten die Hegel-Schüler und deren spätere Anhänger sowie die Neuhegelianer im zwanzigsten Jahrhundert, Hegel selbst habe eine derartige Kantkritik schon geleistet. In jüngster Zeit hat sich jedoch das Bewußtsein verstärkt, daß diese Auseinandersetzung erneut geprüft werden muß.2 Vielfältig und intensiv wird vor allem Hegels Kritik an Kants theoretischer Philosophie erörtert. Die Auffassungen hierzu sind – obwohl untereinander oft sehr verschieden – gegenüber früher doch weitgehend differenzierter geworden; sie bleiben selten mehr bei der einfachen Konfrontation stehen. Ähnliches gilt für die Interpretationen von Hegels Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie. Da man auf beiden Gebieten Hegels Kantkritik weder einfach übernehmen noch einfach nur zurückweisen kann, legt sich die Auffassung nahe, daß Hegel in systematischer Hinsicht bei Kant offen gebliebene, nicht entwickelte Probleme z.B. zur Theorie der Subjektivität bzw. der praktischen Freiheit erörtert und weiterführt, sie dabei freilich in einen ganz anderen, nämlich spekulativen Theorierahmen einfügt. – Sehr wenig beachtet wird dagegen die Auseinandersetzung Hegels mit Kants Kritik der Urteilskraft, obwohl Hegel gerade in ihr und in seiner Spätzeit fast ausschließlich in ihr spekulative Motive und Ideen angelegt findet. So kann sich am ehesten bei dieser Auseinandersetzung die Frage stellen, ob sich hier vielleicht ein geradliniger Weg von Kant zu Hegel eröffnet. Hegels Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik hat ihre idealistischen Vorgänger in Schillers und in Schellings Aneignungen dieses Kantischen Werks, von denen er nicht unbeeindruckt bleibt. Schiller nimmt Kants Ästhe1
2
Vgl. W. Bonsiepen: „Erste zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie des Geistes“. In: Hegel-Studien 14 (1979), 25, 27 f. Dies zeigt z.B. der Sammelband mit den Beiträgen zum Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981: Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1983. Vgl. auch den Sammelband: Hegel interprete di Kant. A cura di V. Verra. Neapel 1981. Ferner sei der Verweis erlaubt auf meine eigene Darlegung des Verhältnisses Hegels zu Kant und die darin berücksichtigte Literatur in: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, 196-242; vgl. diese Angabe auch zum folgenden.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
tik und Teleologie in den Kallias-Briefen auf und deutet sie ansatzweise schon dort, entschiedener dann in den folgenden theoretischen Schriften idealistischanthropologisch um. Der junge Schelling, ein Bewunderer der „tiefen Gedanken“ in Kants Kritik der Urteilskraft, geht von diesem Werk als Folie für seine Naturteleologie und seine Genie-Ästhetik aus, die innerhalb des Systems des transzendentalen Idealismus als einer idealistischen Subjektivitätstheorie Weisen der Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie darstellen. Hegel erblickt am deutlichsten gerade in der Kritik der Urteilskraft als solcher Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie die Vorprägung spekulativer Ideen. Seine Deutung und Umdeutung Kants sei vor diesen Hintergründen prüfend untersucht, und zwar an den für Hegel zentralen Theorien über ästhetische Einbildungskraft und intuitiven Verstand.3 Im folgenden sei nun zur Gewinnung eines selbständigen Urteils über Hegels Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft Kants eigene dort entwickelte Lehre von der ästhetischen Einbildungskraft (I) und vom intuitiven Verstand (II) dargelegt. Sodann gilt es, Hegels Aufnahme und Kritik jener Kantischen Lehren im entwicklungsgeschichtlichen Wandel seiner Auffassungen sowie im Horizont der vorangehenden idealistischen Umdeutungen der dritten Kritik zu erörtern und in den spekulativen Ansatz seiner Ästhetik sowie seiner metaphysischen Erkenntnislehre einzufügen. Dies sei einerseits an
3
Die Literatur ging an diesem Problem zumeist vorbei. Kroner betrachtet zwar Kants Ästhetik und Teleologie ganz aus Hegelscher Sicht; in Kants Darlegungen über Kunst und Genie, über das Lebendige und den intuitiven Verstand erblickt er Anzeichen für ein spekulatives Erfassen der Idee, das Kant aber wegen der selbstauferlegten kritischen Begrenzung nicht habe ausführen können. Hegels eigene Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik wird von ihm nicht genauer untersucht. Vgl. R. Kroner: Von Kant bis Hegel (1921/1924). Tübingen 21961, bes. Bd. 1, 224-302. G. Lukács streift diese Themen allenfalls (vgl. Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie (1948). Frankfurt 1973. Bd. 1, 243 f; Bd. 2, 430 f). Biemel dagegen geht am Ende seiner Interpretation von Kants Ästhetik auf Hegels Umdeutung und Veränderung dieses Ansatzes ein; vgl. W. Biemel: Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst. Köln 1959 (= Kant-Studien. Ergänzungsheft 77), bes. 166-182, zu Kants Ästhetik vgl. 26-146. Gadamer stellt Kants Lehre vom Geschmack und vom Genie kritisch mit idealistischen, auch Hegelschen, aber hermeneutisch modifizierten Argumenten dar, vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960). Tübingen 31972, bes. 39-56. – In einzelnen Darstellungen zu Hegels Ästhetik wird dessen Auseinandersetzung mit Kant gelegentlich genannt, aber nicht eigens erörtert. Auf Hegels Aufnahme der Kritik der Urteilskraft und speziell auf dessen spekulative Umdeutung der Kantischen Lehre vom intuitiven Verstand gehen dagegen ausdrücklich und überzeugend Lugarini und Verra ein; Verra weist zudem auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Hegels und Goethes Auffassung vom intuitiven Verstand hin (vgl. L. Lugarini: “La ‘confutazione’ hegeliana della filosofia critica”. In: Hegel interprete di Kant. A cura di V. Verra. Neapel 1981, bes. 30 ff, und V. Verra: “Immaginazione trascendentale e intelletto intuitivo”. In: a.a.O. 67-89). Zum Erhabenen bei Kant und bei Hegel vgl. R. Bodei: “ ‘Tenerezza per le cose del mondo’. Sublime, sproporzione e contraddizione in Kant e in Hegel“. In: a.a.O. bes. 196 ff, 205 ff. Zu Kants Lehre vom intuitiven Verstand und Hegels Kritik vgl. auch vom Verf.: Die Teleologie in Kants Weltbegriff (1968). Bonn 21986 (= KantStudien. Ergänzungsheft 96), 89-99.
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1. ÄSTHETIK IN KANTS KRITIK DER URTEILSKRAFT
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Glauben und Wissen (III), andererseits an späten Äußerungen Hegels in der Berliner Zeit (IV) dargetan.
1. Ästhetische Einbildungskraft und Genie in Kants Kritik der Urteilskraft Die Theorie der ästhetischen Einbildungskraft und die Lehre vom intuitiven Verstand hängen in Kants Kritik der Urteilskraft nicht unmittelbar zusammen; Verbindungslinien ergeben sich erst im deutschen Idealismus. So sei in der folgenden Darlegung der Kantischen Lehre u.a. gefragt, ob sich von seiner Konzeption her solche Verbindungslinien wohlmotiviert aufweisen lassen. Der spezifische Sinn der ästhetischen Einbildungskraft ist nur im Ausgang vom allgemeineren Begriff der Einbildungskraft als eines Erkenntnisvermögens bei Kant zu bestimmen. Danach ist Einbildungskraft überhaupt „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“.4 Dieses Vermögen, Bilder von Gegenständen auch ohne entsprechende Wahrnehmung anzuschauen, gehört zur Sinnlichkeit, weil seine Ausübung ein Aufnehmen des gegebenen räumlichzeitlichen Anschauungsmannigfaltigen enthält. Die Einbildungskraft vollbringt auf der Grundlage solchen Aufnehmens eine Synthesis, durch die erst anschauliche Einheiten gebildet werden. In Anschauungen stellen wir immer schon – außer bei methodischer Isolation einzelner Sinnesdaten zum Zweck wissenschaftlicher Untersuchung – solche Einheiten oder in sich strukturierte Anschauungsbilder vor. Sie sind in ihrem Einheitssinn Produkte der Einbildungskraft. Die Synthesisleistung der Einbildungskraft, wenn sie für sich genommen und nicht schon durch den Verstand geregelt wird, bringt nur derartige räumliche und zeitliche, d.h. sinnliche Anschauungseinheiten, nicht schon gesetzmäßig bestimmte Objekte zustande. In der Bildung solcher anschaulichen Einheiten innerhalb des Bewußtseinsstroms gemäß der universalen Anschauungsform, der Form der Zeit, hat die Einbildungskraft eine bevorzugte Beziehung zur subjektiven Zeit oder zur Erlebniszeit, deren Bestimmungen von der Gegenwart ausgehen; die Einbildungskraft bildet Gegenwärtiges ab, bildet Vergangenes nach und Zukünftiges vor. Kant hat diese subjektiv-zeitliche Struktur, die die Synthesis der Einbildungskraft charakterisiert, nicht grundsätzlich weiterentwickelt, da er sie nur der Anthropologie zuordnete.5 4
5
Vgl. Kritik der reinen Vernunft (im folgenden abgekürzt als Kr.d.r.V.). B 151. Aus der Fülle der Literatur zu Kants Theorie der Einbildungskraft sei hier nur auf die kommentierenden Ausführungen von H.J. Paton verwiesen: Kant’s Metaphysic of Experience (1936). London 5 1970, vgl. bes. Bd. 1, 366 f, 464 ff, 483 ff, 535 ff; Bd. 2, 71 f. Vgl. I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821. Nachdruck Darmstadt 1964, 141, 149 ff; Anthropologie. § 34, s. Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff (im folgenden zitiert als Werke). VII, 182 ff. Insbesondere Heidegger hat die grundlegende Bedeutung der Zeitstruktur für die Einbildungskraft hervorgehoben und Kant hier – freilich fundamentalontologisch – weitergeführt; vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Die Einbildungskraft ist nun entweder reproduktiv oder produktiv tätig.6 Die reproduktive Einbildungskraft ruft nur früher erlebte, vergangene Wahrnehmungen in das Gedächtnis zurück; ihre Leistung ist die Erinnerung. Diese Tätigkeit ist lediglich empirisch. Die produktive Einbildungskraft dagegen formt neue, noch nicht wahrgenommene Anschauungseinheiten und Bilder. Kant legt zumeist nahe, daß deren Synthesis a priori sei; dies dürfte freilich nicht ohne Einschränkungen und Spezifizierungen aufrechtzuerhalten sein. – Bei Kant lassen sich nun verschiedene Ausübungsweisen der produktiven Einbildungskraft unterscheiden. Einmal bildet sie als „dichtende“ Einbildungskraft, wie Kant sie nennt, konkrete, empirisch bedingte Anschauungen wie z.B. Fabelwesen, Luftschlösser und Ähnliches; diese Tätigkeit, die Kant in der Anthropologie erörtert, dürfte kaum rein a priori zustande kommen. Sie steht freilich der Leistung der ästhetischen Einbildungskraft nahe, die in bestimmter Hinsicht, wie sich zeigen wird, a priori vollzogen wird. Zum anderen ist die produktive Einbildungskraft als mathematische, besonders evident als geometrische tätig, indem sie unabhängig von aller Wahrnehmung nach Verstandesregeln im reinen Anschauungsmannigfaltigen, speziell im Mannigfaltigen des Raumes, Figuren von idealer Gestalt bildet. Diese Synthesis geschieht rein a priori. Drittens vollbringt die Einbildungskraft spontan und produktiv eine „figürliche“ Synthesis von transzendentaler Bedeutung. Sie bildet dann in einem reinen Vollzug a priori grundlegende anschauliche Einheiten im gegebenen Mannigfaltigen von Raum und Zeit und wird in der Ausübung dieser Synthesis geleitet und geregelt durch einen reinen Verstandesbegriff; durch diese Anleitung erhält jene Synthesis selbst erst gesetzmäßige, in sich notwendige Einheit. Als Produkt solcher transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft kommt das transzendentale Schema, nämlich die Anschauung einer reinen, kategorial geregelten Zeitbestimmung zustande. Die Einbildungskraft in dieser Funktion und das von ihr hervorgebrachte Schema heißen transzendental, weil sie, im reinen Subjekt begründet, notwendige Bedingungen einer Erkenntnis a priori sind. Die produktive Einbildungskraft im allgemeinen und die transzendentale Einbildungskraft im besonderen wird von den deutschen Idealisten als synthetische, ja sogar als ursprüngliche Einheit von Sinnlichkeit und Verstand angesehen, die als solche erst aus jener vorausliegenden Einheit hervorgehen. Anlaß dazu gibt bei Kant zum einen die Mittelstellung der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand, die in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hervorgehoben wird, zum anderen die insbesondere in der transzendentalen Einbildungskraft gedachte Verbindung passiv-rezeptiven Aufnehmens des Mannigfaltigen mit spontaner Synthesis zu einer einheitlichen Leistung.
6
(1929). Frankfurt 21951, 117-184, vgl. bes. 158 f. Vgl. auch vom Verf.: „Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption“. In: Kant-Studien 71 (1980), bes. 20 ff, auch 29 ff (zu Heideggers Deutung der Einbildungskraft). Vgl. z.B. Kr.d.r.V. B 152; Anthropologie. § 28 (Werke. VII, 167 ff).
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1. ÄSTHETIK IN KANTS KRITIK DER URTEILSKRAFT
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Gerade Hegel führt jene Umdeutung, wie noch zu zeigen ist, spekulatividealistisch aus. In analoger Weise sieht auch Heidegger in der transzendentalen Einbildungskraft eine solche ursprüngliche Einheit, die er fundamentalontologisch zum in Zeitstrukturen sich verstehenden Selbst in seinem Dasein uminterpretiert.7 – Dies sind Abänderungen der Kantischen Theorie in jeweils verschiedenen systematischen Zusammenhängen. Kant selbst revidiert in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft jene vermittelnde Stellung der Einbildungskraft als eines selbständigen Vermögens, die er ihr in der ersten Auflage noch zugestand, zugunsten einer konsequenten Durchführung der Theorie zweier Erkenntnisquellen; die Tätigkeit der transzendentalen Einbildungskraft wird zur Einwirkung des spontan aktiven Verstandes auf den passivrezeptiven inneren Sinn. Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sieht Kant in diesem Kontext nun als Vollzug der Selbstaffektion, nämlich als spontane, intellektuelle, synthetische Tätigkeit des Subjekts, die den passiven inneren Sinn des Subjekts bestimmt; Sinnlichkeit und Verstand gelten dabei als prinzipiell verschiedene Vorstellungsvermögen des Subjekts, die nur durch eine solche Selbstaffektion in Beziehung zueinander treten, damit aber erst zu ihrer bewußten Ausübung und Erkenntnisleistung gelangen. Die Einbildungskraft wird hiermit nicht als eigenes Vermögen einfach beseitigt; sie verliert jedoch ihre Selbständigkeit und ihre Funktion der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Sie gilt Kant nun in ihrer natürlichen Bildung von sinnlichen Anschauungen als Vermögen der Sinnlichkeit. Im Rahmen der Darlegung der Ermöglichung von Erkenntnis, d.h. in transzendentaler Bedeutung aber zeigt sich diese Anschauungsbildung selbst als erwirkt und geregelt durch den spontanen, synthetischen Einfluß des Verstandes oder des reinen Selbstbewußtseins. Die Einbildungskraft wird in dieser reinen Selbstaffektion zum ausführenden Organ des Verstandes. In der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ tritt die Einbildungskraft erneut als besonderes Vermögen hervor; dort stellt sich das Problem der Erkenntnisbegründung nicht mehr. Da sie jedoch auch dort nicht als selbständiges mittleres Vermögen restituiert wird, bleiben die Grundlagen der Neufassung der Einbildungskraft in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erhalten. – Eine Weiterentwicklung der Verhältnisse dieser Vermögen8 des Sinnes, der Einbildungskraft und des Verstandes zueinander, die Kant nicht liefert, würde, wenn sie vom Gedanken der
7
8
Vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a.M. 21951. Zur Verwandtschaft dieser Umdeutung mit derjenigen Hegels vgl. D. Henrich: „Über die Einheit der Subjektivität“. In: Philosophische Rundschau 3 (1955), bes. 46-62; vgl. auch J. van der Meulen: Hegel. Die gebrochene Mitte. Hamburg 1958, 20 ff, 168 ff, 218 ff. Die Vermögenslehre, auch die Lehre von der Einbildungskraft als Vermögen kritisiert systematisch, aber unhistorisch E. Schaper: Studies in Kant’s Aesthetics. Edinburgh 1979, bes. 117 u.ö. Vgl. dazu die kritische Stellungnahme von S. Marcucci: “Subjectivité transcendantale et catégories de l’entendement dans l’épistemologie et l’esthétique de Kant”. In: Physis 24 (1982), bes. 474 ff.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Einheit des Subjekts geleitet würde, zur Konzeption einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins führen. Als produktiv gilt Kant nun auch die ästhetische Einbildungskraft. Diese formt weder geometrische Gestalten noch reine Zeitbestimmungen a priori. So stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht ihre Tätigkeit als a priori angesehen werden kann. Die ästhetische Einbildungskraft schafft nur insofern neue, originale Bilder, als sie durch Erfahrungen dazu im allgemeinen angeregt ist; sie bleibt in ihrer produktiven Zusammensetzung des empirisch gegebenen Mannigfaltigen doch eben davon abhängig. Die Einbildungskraft als „Vermögen der Anschauungen“ 9 ist also in ihrer Produktivität zwar „selbsttätig“; sie kann „willkürlich“ neue anschauliche Gestalten und Formen erzeugen; dadurch ist sie nach Kant eine „große Künstlerin“, ja „Zauberin“.10 Doch muß sie den „Stoff “ dazu, der in der Regel selbst schon Formelemente enthält, aus der Erfahrung aufnehmen; die ästhetische Einbildungskraft fügt ihn nur auf unerwartete, noch nicht erfahrene Weise zusammen. Insoweit verfährt die ästhetische also wie die sog. „dichtende“ Einbildungskraft; insoweit aber verbleibt ihre Anschauungsbildung doch lediglich im Gesamtrahmen der Empirie. Erst wenn sie Anschauungen bildet, deren Betrachtung in freiem und harmonischem Spiel der Vorstellungen zum Verstand und seiner Gesetzmäßigkeit überhaupt zusammenstimmt, ist sie nach Kant spezifisch ästhetische Einbildungskraft, deren Tätigkeit in der Bildung des Schönen als solchen von besonderen Erfahrungen unabhängig, d.h. a priori ist.11 Die Apriorität des produktiven Bildens bezieht sich hierbei nicht wie bei der geometrische Figuren schaffenden Einbildungskraft zugleich auf den durch diese Tätigkeit sich konstituierenden Inhalt; schöne Anblicke sind nicht in der gleichen Weise a priori wie geometrische Figuren; sie bezieht sich vielmehr nur auf die in der Tätigkeit der ästheti9
10 11
Kritik der Urteilskraft (abgekürzt: Kr.d.U.). Berlin 21793, 155, 146 u.ö., zum folgenden vgl. 69. – Vgl. zu Kants Lehre von der ästhetischen Einbildungskraft innerhalb der Heideggerschen Deutungsperspektive H. Mörchen: Die Einbildungskraft bei Kant (1930). Tübingen 2 1970, bes. 130 ff. Textnah ist die Darlegung zur ästhetischen Einbildungskraft bei H.W. Cassirer: A Commentary on Kant’s Critique of Judgment. New York – London 1938, bes. 216 ff, 281 ff; ebenso bei A. H. Trebels: Einbildungskraft und Spiel. Untersuchungen zur Kantischen Ästhetik. Bonn 1967 (= Kant-Studien. Ergänzungsheft 93), bes. 52 ff. Problematisierend erörtern Kants Lehre P. Guyer: Kant and the Claims of Taste. Cambridge/Mass. – London 1979, 68 ff, auch 250 ff, und G. Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Berlin – New York 1980, bes. 177 ff. Chedin hebt hervor, daß die ästhetische Einbildungskraft ohne Begriffe schematisiert, woraus er weitreichende Folgerungen zieht; vgl. O. Chedin: Sur l’esthétique de Kant et la théorie critique de la représentation. Paris 1982, bes. 107 ff, auch 271 ff. Anthropologie. § 28 (Werke. VII, 168). Vgl. z.B. Kr.d.U. XLIV. Vgl. ferner die Stellen, an denen Kant erklärt, ästhetische Urteile seien, insofern sie jedermanns Beistimmung fordern, a priori bzw. besser: ihr Prinzip, die spielerische Harmonie der ästhetischen Einbildungskraft mit dem Verstand, sei a priori, was dann auch für das spezifisch Ästhetische oder Schöne als solches in den produktiven Bildungen der ästhetischen Einbildungskraft gilt, Kr.d.U. 147-151. – Zur ästhetischen Einbildungskraft im Rahmen der Frage, ob Kants Ästhetik intellektualistisch sei, vgl. S. Marcucci: Intelletto e “intellettualismo” nell’ estetica di Kant. Ravenna 1976, bes. 83 ff.
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schen Einbildungskraft sich konstituierende Schönheit der Formen selbst, die im Akt der subjektiv bleibenden ästhetischen Betrachtung gegenwärtig ist. Kants Hinweise auf die Apriorität auch der ästhetischen Einbildungskraft können noch differenziert werden und an Verständlichkeit gewinnen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß für ihn das Schöne grundsätzlich nur die angeschaute Form von etwas betrifft, die räumlich Gestalt und Zeichnung, zeitlich Spiel und Komposition ist; diese Auffassung steht der klassizistischen Ansicht Winckelmanns nahe und geht möglicherweise darauf zurück.12 Deshalb abstrahiert nach Kant das ästhetische Betrachten weitgehend vom Empfindungsgehalt eines gegebenen Mannigfaltigen; dieses kann dann in einem idealen Grenzfall für die ästhetische Einbildungskraft als ein reines Mannigfaltiges gelten, aus dem sie ihre anschaulichen Einheiten, ihre schönen Formen bildet. – Doch zeigt sich in Kants eigener Durchführung im einzelnen, z.B. in der Explikation der besonderen schönen Künste, daß von dem Empfindungsgehalt zumindest als Erfahrungsbasis für die Betrachtung des Schönen in der Regel nicht abgesehen werden kann. Auch wenn Empfindungen und Wahrnehmungen keinen Eingang in das ästhetische Urteil selbst finden, so ist doch der produktive Akt der ästhetischen Einbildungskraft durch sie empirisch bedingt und nur im Hinblick auf seine intersubjektiv allgemeine Zusammenstimmung mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes überhaupt a priori. Dies gilt auch in bezug auf das Gegebensein von Formelementen für die künstlerische Einbildungskraft, die sie zu einer neuen ästhetischen Form synthetisiert, und es gilt ebenso in bezug auf das Gegebensein der ästhetischen, anschaulichen Form als solcher in einem Naturwesen oder Kunstwerk für den Betrachter. Die ästhetische Einbildungskraft ist hier auf Erfahrung als Grundlage und Ausgangspunkt für den wirklichen Vollzug ihrer ästhetischen Produktion angewiesen.13 Sie ist, wie Kant darlegt, freilich auch im Betrachten gegebener Formen produktiv.14 Denn diese gelten nur dann als schön, wenn die Einbildungskraft sich in deren Nachvollzug frei fühlt und Bilder vorstellt, als wäre sie sich selbst in ihrer Produktivität überlassen. Der Nachvollzug bindet die Einbildungskraft also nicht wirklich, sondern erlaubt ihr die Entfaltung eines freien Spiels mit unter12
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Vgl. Kr.d.U. 42. Kant erwähnt einmal in einer Reflexion der sechziger Jahre Winckelmann und bezieht sich dabei wahrscheinlich auf dessen Geschichte der Kunst des Altertums, vielleicht auch auf andere kunsttheoretische Schriften von ihm (vgl. Werke. XV, 280, Refl.640). Vgl. dazu auch W. Biemel, a.a.O. (Anm. 3), 54 Anm. Vgl. zu Winckelmann als Hintergrund für Kant auch unten Anm. 20. – Zu Kants Theorie der ästhetischen Form vgl. Th. E. Uehling: The Notion of Form in Kant’s Critique of Aesthetic Judgment. Den Haag 1971, bes. 58 ff, 95 ff; ebenso D.W. Crawford: Kant’s Aesthetic Theory. Madison/Wisc. 1974, bes. 96 ff; auch P. Guyer, a.a.O. (Anm. 9), bes. 224 ff. Deshalb kann Kant an manchen Stellen, insbesondere in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft erklären, das ästhetische Urteil sei empirisch oder wenigstens vergleichbar mit empirischen Urteilen; es betrifft einen „Gegenstand“, eine Form, die in der Erfahrung gegeben ist; vgl. Kr.d.U. XLV ff. Zur Vereinbarkeit mit der Apriorität, besser: dem apriorischen Grund ästhetischer Urteile vgl. das folgende. Vgl. Kr.d.U. 69.
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einander verwandten Vorstellungen, das freilich mit der Gesetzmäßigkeit überhaupt des Verstandes und Selbstbewußtseins zusammenstimmen muß. – Diese Lehre von der Produktivität der ästhetischen Einbildungskraft auch im Nachvollzug gegebener Formen ist zentraler Bestandteil der Kantischen Ästhetik, die vom Beurteiler und Betrachter ausgeht. Sie führt später zu der romantischen, in der ästhetischen Theorie selbst anders ausgerichteten Auffassung, die etwa auch der junge Schelling vertritt, daß jeder Mensch als ein Selbstbewußtsein, auch derjenige, der nicht selbst Künstler ist, wenn er nur Sinn für Kunst hat, in gewisser Weise Poesie und etwas Genialisches in sich trägt. Für Kant werden also in diesem ästhetischen Betrachten und Nachvollziehen die gegebenen Formen aus der Erfahrung aufgenommen; ästhetisch verstanden und beurteilt werden sie jedoch nur, wenn die Einbildungskraft dabei in Harmonie mit dem Verstand ihr freies Spiel entfalten kann. Dies ist nach Kant allein möglich bei der Betrachtung reiner anschaulicher Formen. Da sich im Akt der ästhetischen Betrachtung nun zwei Erkenntnisvermögen, das Vermögen der Anschauungen, die Einbildungskraft, und das Vermögen der Begriffe, der Verstand, die zu jeder Erkenntnis erforderlich sind, in spielerischer Übereinstimmung befinden, muß der Grund für die ästhetische Wertschätzung und für das Wohlgefallen am Schönen ebenso allgemeingültig, erfahrungsunabhängig und a priori sein wie jene Erkenntnisbedingungen. An diese Auffassung Kants von der ästhetischen Betrachtung aufgrund der Zusammenstimmung zweier Erkenntnisvermögen kann man nun zum einen die grundsätzliche transzendentalphilosophische Frage nach ihrer Möglichkeit angesichts der Kantischen Theorie der Erkenntnis und zum anderen die speziellere Frage nach ihrer ästhetischen Evidenz und Ausweisbarkeit richten. – Die transzendentalphilosophische Frage wurde mehrfach gestellt; z.T. wurde im Gedanken der Unvereinbarkeit der Lehre von der ästhetischen Einbildungskraft mit der Lehre von der Einbildungskraft in der transzendentalen Deduktion der Kategorien eine Antwort gesucht.15 Nun hält Kant in beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft an der Unmöglichkeit einer philosophischen Ästhetik fest; in seiner dortigen Lehre von der Einbildungskraft kann er also noch gar nicht seine spätere Bestimmung der ästhetischen Einbildungskraft berücksichtigen. Allerdings revoziert Kant in der Kritik der Urteilskraft seine frühere Lehre von der Einbildungskraft nicht. Er behält sie mit Akzent- und Perspektivenverschiebungen und dem Gewinn eines ganz neuen Bereichs, nämlich der philosophischen Ästhetik bei. In der zweiten Auflage 15
Vgl. andeutungsweise schon bei H. Mörchen, a.a.O. (Anm. 9), 161 ff; unter neueren kritischen Darlegungen vgl. z.B. J. Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a.M. 1978, bes. 92 ff, auch 106 ff. Die Verbindbarkeit beider Theorien sucht P. Guyer darzulegen, a.a.O. (Anm. 9), bes. 85 ff. – Zu wenig wird m.E. beachtet, daß Kants transzendentale Deduktion der Kategorien auch in der zweiten Auflage ausdrücklich von der Auffassung ausgeht, es gebe keine philosophischen, nämlich apriorischen Prinzipien der Lehre vom Schönen (vgl. Kr.d.r.V. B 35 f Anm.).
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der Kritik der reinen Vernunft wird zwar, wie erörtert, die selbständige Mittelstellung, nicht aber das Vermögen der Einbildungskraft selbst beseitigt. Dieses ist dort, für sich genommen, das Vermögen der Bildung sinnlicher Anschauungseinheiten; bestimmt der Verstand nun den inneren Sinn in reiner Selbstaffektion, so vollzieht die Einbildungskraft lediglich deren Werk mit. In der Kritik der Urteilskraft ist sie dagegen nicht dem Bestimmen des Verstandes subordiniert. So wird die Einbildungskraft hier wieder deutlicher als eigenes Vermögen der Anschauungen sichtbar. Ihr produktives, nicht durch bestimmte Verstandesregeln geleitetes Bilden bleibt jedoch auch hier nicht willkürlich und regellos oder gar chaotisch, sondern wird zu einem zwar freien, aber doch harmonischen Vorstellungsspiel im Zusammenklang mit der Tätigkeit des Verstandes überhaupt. Dies zeichnet, was Kant seiner Lehre von der Einbildungskraft neu hinzufügt, das ästhetische Bilden der Einbildungskraft aus.16 Auch durch diese Tätigkeit wird, wie Kant gelegentlich sagt, der passive Sinn affiziert,17 so daß man von der Tätigkeit der ästhetischen Einbildungskraft in ihrem Verhältnis zum inneren Sinn als einer ästhetischen Selbstaffektion, einem ästhetischen Akt der Aufmerksamkeit und der geistigen Anspannung in der Betrachtung des Schönen sprechen könnte. Die Lehre von der Einbildungskraft in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wird also in der dritten Kritik nicht umgestoßen, aber doch modifiziert und erweitert. Ein transzendentales Grundproblem, das sich mit dem freien und harmonischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand neu stellt, wird von Kant allerdings nicht erörtert. Nach der Kritik der reinen Vernunft gehören Vorstellungen, auch Produkte der Einbildungskraft, nur dann zur Einheit des Ich, so daß es sich ihrer bewußt sein kann, wenn sie durch die Synthesis und synthetische Einheit des reinen Selbstbewußtseins und spezifischer: des Verstandes bestimmt und geregelt sind. Dies wird dort nur als bestimmte Subordination der Anschauungen unter kategoriale Regeln gedacht. Sollen auch Anschauungen schöner Formen bewußt sein und zur Einheit des Ich gehören können, muß dafür ebenso ein Verhältnis der Anschauungen zur Gesetzmäßigkeit des Verstandes als freies, harmonisches Spiel zugelassen werden. Das reine Selbstbewußtsein darf dann nicht nur die Funktion des bestimmenden Verstandes ausüben, wie es die Kritik der reinen Vernunft insbesondere in der zweiten Auflage darstellt, sondern muß eine weitere, auch die ästhetische Betrachtung umfassende Bedeutung haben, was Kant jedoch nicht mehr näher untersucht. Die Erörterung dieser Frage führt wieder zum Programm einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins; Schelling konzipiert in der Ausführung dieses Programms und unter Aufnahme der Fichteschen frühen Wissenschaftslehre sowie der Ästhetik der Jenaer Romantik dann einen neuen 16
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Möglich wird dieses Tun der ästhetischen Einbildungskraft für den Betrachter letztlich und prinzipiell durch eine allgemeine Zweckmäßigkeit des Mannigfaltigen der Natur und Welt für die Urteilskraft, in welcher Einbildungskraft und Verstand zusammenwirken. Vgl. dazu z.B. vom Verf.: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O. (Anm. 3), bes. 80 ff. Vgl. Werke. XX, 223; auch Kr.d.U. 4.
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Begriff der Subjektivität, die in ihrer Vollendung für ihn das künstlerische Genie ist. Kant hätte allerdings sowohl die von Schelling gelehrten metaphysischen Implikationen als auch die Grundlegungs- und Vollendungsbedeutung des Genies für die Ästhetik und den transzendentalen Idealismus insgesamt abgelehnt. Die andere Frage betrifft die ästhetische Evidenz der Bestimmung, die Betrachtung des Schönen bestehe im freien Spiel zweier Erkenntnisvermögen, nämlich von Einbildungskraft und Verstand. Obwohl Kant sich oft in dieser Weise ausdrückt, dürften andere Formulierungen, nach denen die Einbildungskraft ein freies Spiel ihrer Vorstellungen in Harmonie zum Verstand entfaltet, angemessener sein;18 denn der Verstand ist eigentlich kein Vermögen, das in irgendeiner seiner Ausübungen spielt. Die ästhetisch produktive Einbildungskraft bildet oder assoziiert in der Betrachtung bestimmter Formen Vorstellungen von verwandten Formen und entsprechenden Bedeutungen und erhält sich in der geistig gespannten Tätigkeit eines Spiels mit solchen Anschauungen, Bildern und Bedeutungen. Die Zusammenstimmung dieses Spiels zur Gesetzmäßigkeit des Verstandes überhaupt besagt ästhetisch, daß bizarre, maßlose oder auch monströse Anschauungsinhalte vermieden werden, die die Möglichkeit gesetzmäßiger Einheit in den Anschauungen verhindern. Vielmehr bleiben die Vorstellungen der Einbildungskraft durch solche Harmonie mit dem Verstande überschaubar, überfordern das Vermögen der Einbildungskraft in der Bildung anschaulicher Einheiten nicht und sind als einheitlich gefügte zugleich in sich strukturierte, aber nicht begrifflich bestimmte Anschauungen. Da sie der Vorstellungsfähigkeit der Einbildungskraft gerade angemessen sind und belebend auf sie wirken und da die Einbildungskraft sich in ihrem freien Spiel mit ihnen zugleich in unerwarteter, nicht prädeterminierter Harmonie mit dem Verstande befindet, ruft die ästhetische Betrachtung solcher Anschauungen Freude hervor. So entbehrt die Kantische Charakterisierung, die Betrachtung des Schönen bestehe in der freien Harmonie zweier Erkenntnisvermögen, nicht der Ausweisbarkeit am ästhetischen Erleben, sofern dieses sich auf begrifflich nicht bestimmte, anschauliche Formen bezieht. An jener Charakterisierung hängt innerhalb der Kantischen Theorie die intersubjektive Allgemeingültigkeit ebenso wie die Eigenständigkeit des Bereichs des Schönen und des ästhetischen Erlebens und Beurteilens gegenüber theoretischem Erkennen und praktischer Vernunft. Es bleibt aber offen und unerörtert, ob auf diese Weise das Schöne insgesamt erfaßt wird und ob die gegebene Bestimmung eine hinreichend variantenreiche Spezifizierung des Schönen in seiner Vielfalt zuläßt. Das Verhältnis von ästhetischer Einbildungskraft und Verstand gewinnt in Kants Darlegung des Genies und der ästhetischen Ideen noch klarere Konturen. Im Genie kann sich die Produktivität der ästhetischen Einbildungskraft of18
Vgl. z.B. Kr.d.U. 69, auch die Darlegung der Tätigkeit der Einbildungskraft in der Vorstellung ästhetischer Ideen, a.a.O. 192 ff.
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fensichtlich ungehinderter entfalten als in der ästhetischen Beurteilung, da sie hierbei nicht von der empirischen Anschauung gegebener Formen und vorkommender, begegnender Anblicke ausgeht, die sie als schön betrachtet, sondern sie erst hervorbringt. Die Produktivität der Einbildungskraft im Genie zeigt sich insbesondere an dessen Originalität in der Bildung von Anschauungen;19 allerdings darf die Einbildungskraft dabei nicht ausschweifend oder sinnlos verfahren. Daraus folgert Kant nun sogleich und spezifischer als zuvor, daß die Einbildungskraft des Genies Exemplarisches, nämlich Musterbilder hervorbringen muß, in denen so etwas wie ein Eidos sinnlich sichtbar gegenwärtig ist. Auch hierbei folgt Kant klassizistischer Kunstanschauung.20 Das Genie schafft ferner zwar bewußt künstlerische Formen; aber was sich in seinem Schaffensvorgang ereignet, durchschaut es selbst nicht. Darin sieht Kant das Naturhafte im künstlerischen Schaffen. Schelling führt diese Auffassung subjektivitätsmetaphysisch weiter zum Gedanken der als absolut verstandenen Einheit von bewußter und unbewußter Tätigkeit des Genies. – Da das Schöne nach Kants Lehre unerwartet und absichtslos überraschen soll, stellt sich die Frage, wie Kunstwerke in allgemeinem Sinne, die doch absichtsvoll hergestellt werden, überhaupt schön sein können. Anders als für die Idealisten ist Kunst für Kant so wenig selbstverständlicher Inhalt der Ästhetik, daß es vielmehr einer eigenen Begründung dafür bedarf. Kunst kann nun nach Kant schön sein und damit Inhalt einer philosophischen Ästhetik werden nur als Werk des Genies. Denn nur dies ist ein mit Bewußtsein und zugleich naturhaft oder unbewußt schaffendes menschliches Vermögen; es bringt das Kunstschöne hervor, das wie Natur, nämlich wie ein unbewußt und absichtslos Gewordenes aussieht. – Das Genie wird bei Kant mit diesen Bestimmungen aber nicht zu einem eigenen Prinzip der Ästhetik wie z.T. in der nachfolgenden romantischen Ästhetik. Was es schafft, das Schöne, unterliegt den unabhängig vom Begriff der genialen Produktivität entwickelten Kriterien ästhetischer Betrachtung und Beurteilung.21 Das Genie bringt also in seinen Kunstwerken nicht selbst die Maßstäbe des Schönen erst hervor. 19
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Vgl. hierzu und zum folgenden Kr.d.U. 182 f. Zur Genielehre Kants vgl. die Ausführungen der historisch reichhaltigen und daher immer noch lesenswerten Untersuchung von O. Schlapp: Kants Lehre vom Genie und die Entstehung der „Kritik der Urteilskraft“. Göttingen 1901. Stärker systematisch ausgerichtet ist die Interpretation von W. Biemel, a.a.O. (Anm. 3), bes. 71 ff; er weist freilich auch wie Schlapp (vgl. in dessen Werk 417 f) Parallelen zu A. Gerard: Essay on Genius (London 1774, deutsch: Leipzig 1776) auf. Systematisch interpretiert ebenso W. Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1972, bes. 148-163. Wieder dürfte Winckelmanns Auffassung für Kant im Hintergrund stehen; vgl. dazu die Hinweise von O. Schlapp (s. vorige Anm.), bes. 317. – Auch in Kants Lehre vom Ideal der Schönheit ist offenbar Winckelmannsche klassizistische Anschauung enthalten, vgl. z.B. H.G. Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O. (Anm. 3). 44 f. Geniale Originalität darf deshalb, soll sie schöne Kunst hervorbringen, nicht in regelloser Freiheit vorgehen, sondern unterliegt den Prinzipien der ästhetischen Beurteilung, d.h. des Geschmacks. Kant wendet sich hiermit gegen Tendenzen des zeitgenössischen Geniekults,
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Nur an einer Stelle der dritten Kritik erklärt Kant, im Genie sei die „Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ... sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“.22 Hier klingt das Motiv an, das Genie sei ein „alter deus“. Kant zieht keine metaphysischen Konsequenzen daraus; doch legt dieser Hintergrund Verbindungslinien zu Kants Ausführungen über den intuitiven Verstand nahe, der als schöpferischer, göttlicher Verstand zu denken ist. Das Gemeinsame ist für Kant allerdings lediglich die Produktivität; diese ist bei der Einbildungskraft beschränkt, da sie den „Stoff “ der wirklichen, erfahrenen Welt voraussetzen muß, während der intuitive Verstand ohne Einschränkung als spontan schaffend vorgestellt wird. Was die endliche Einbildungskraft des Genies hervorbringt, sind ästhetische Ideen.23 Diese sind von der Einbildungskraft konstituierte konkrete Anschauungen, die „viel zu denken veranlassen“. Eine solche Anschauung ist beziehungsreich und eröffnet Ausblicke auf ein ganzes Umfeld vielfältiger Formen und ihnen zugehöriger Begriffe, an die zu denken sie anregt. Insbesondere in der Dichtkunst zeigt sich nach Kant das Vermögen ästhetischer Ideen. Die poetische Sprache ruft ebenso phantasievolle wie gedankenreiche Vorstellungen in – wie man ergänzen kann – Allegorien, Symbolen oder Chiffren hervor und verweist damit auf eine ungesagte, aber intendierte Bedeutungsfülle. Einer ästhetischen Idee ist freilich kein bestimmter Begriff adäquat; sie steht nur in harmonischem Verhältnis zu Gedanken des Denkvermögens überhaupt. Einer Vernunftidee ist sie nach Kant insofern verwandt, als beide über die Erfahrung hinausstreben; dabei kann eine ästhetische Idee dazu tendieren, eine Vernunftidee sinnlich-anschaulich darzustellen. Dies gelingt jedoch nicht in adäquater Weise, da sich das Unbedingte und Unendliche, das in einer Vernunftidee gedacht wird, in keiner sinnlichen Anschauung verbildlichen läßt. So bleiben, was im Hinblick auf Hegels Uminterpretation bedeutsam ist, ästhetische Idee und Vernunftidee prinzipiell unterschieden. Der systematische Sinn dieses belebenden Wechselspiels von Bildern und Bedeutungen, allgemeiner: des freien Spiels der Einbildungskraft in Harmonie mit dem Verstand, sei es bei der Betrachtung, sei es bei der Hervorbringung schöner Formen, besteht nun darin, daß es den Übergang von der Natur zur Freiheit ermöglicht. Diesen Übergang versteht Kant in zweierlei Bedeutung. Einmal denkt er ihn als die Verbindung der Prinzipien für Natur und Freiheit, für sinnliche und intelligible Welt, ohne daß dadurch die Heterogenität dieser
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vgl. Kr.d.U. 186 ff, 202 f. Vgl. auch die Kritik an den „Geniemännern (besser Genieaffen)“ seiner Zeit in der Anthropologie. § 58 (Werke. VII, 226). Kr.d.U. 193. Vgl. Kr.d.U. 192 ff, 242. Vgl. dazu L. Pareyson: L’estetica di Kant. Lettura della ‘Critica del Giudizio’ (1968). Milano 31984, bes. 139 ff; ebenso R. Lüthe: „Kants Lehre von den ästhetischen Ideen“. In: Kant-Studien 75 (1984), 65-74; auch D.W. Crawford: “Kant’s Theory of Creative Imagination”. In: Essays in Kant’s Aesthetics. Hrsg. von T. Cohen und P. Guyer. Chicago – London 1982, bes. 172 ff.
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Prinzipien und der durch sie konstituierten Bereiche aufgehoben würde. Eine Verbindung dieser Bereiche ist notwendig, damit sittlich-freie Handlungen, die konkrete Zwecke erstreben, unter den besonderen Gegebenheiten der Erscheinungswelt in Natur und Geschichte überhaupt gelingen können. Eine Verbindung der Prinzipien ist notwendig, damit kein Hiatus in der Vernunft selbst bleibt. Diese Verbindung der unterschiedlichen Prinzipien und Bereiche wird gestiftet durch das subjektiv bleibende Prinzip einer allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur und Welt für die Urteilskraft, damit auch für sittlich motiviertes, Zwecke auswählendes Handeln. Die Erscheinungswelt wird somit auch in ihren besonderen Einrichtungen und Gesetzen als bestimmbar gedacht durch intelligible, zugleich finale Kausalität, so daß deren Wirkungen in ihr Bestand haben können.24 Da die Erscheinungswelt jedoch keine eigene Entität, kein an sich bestehendes Seiendes ist, muß hierbei das ihr zugrunde liegende nichtsinnliche Substrat mit dem Intelligiblen, das in der intellektuellen Kausalität aus Freiheit gedacht wird, als verbindbar vorgestellt und damit die „Einheit des Übersinnlichen“ 25 gewahrt werden. Für den nur Erscheinungen erkennenden Verstand bleibt das übersinnliche Substrat der Natur leer und unerkennbar. Die reflektierende Urteilskraft denkt dies übersinnliche Substrat der Natur „in uns“ und „außer uns“ durch ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit schon bestimmter; dies Prinzip verschafft Aussicht auf eine die Zweckmäßigkeit hervorbringende intellektuelle Spontaneität, ohne daß damit jedoch das Übersinnliche erkannt würde. Die freie Harmonie der unterschiedlichen Erkenntnisvermögen in der Betrachtung des Schönen ist ein innerer Zustand lebendiger, ungezwungener, zweckmäßiger Zusammenstimmung, der nach Kant auf einen übersinnlichen, diese subjektive Zusammenstimmung ermöglichenden Grund in uns verweist. Diesen denken wir uns als eine Art intellektueller Spontaneität, die jedoch für sich noch nicht als intellektuelle Freiheit definiert ist.26 Wird ihre Aktivität nun durch das Sittengesetz bestimmt, so läßt sich die24
25 26
Zur Darlegung des Übergangs von der Natur zur Freiheit sei der Verweis erlaubt auf die Untersuchungen des Verfs. in: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O. (Anm. 3), bes. 102115. – In der Auflösung der dritten Antinomie wird nur die gedankliche Vereinbarkeit der unterschiedlichen „Gesetzgebungen“ für Natur und Freiheit gezeigt; da diese sich gegenseitig „in ihren Wirkungen in der Sinnenwelt unaufhörlich einschränken“ (Kr.d.U. XVIII), bleibt es auch bei solcher Vereinbarkeit möglich, daß die besonderen Wirkungen der räumlichzeitlichen Natur die besonderen teleologischen Wirkungen aus sittlicher Freiheit in der Natur prinzipiell scheitern lassen. Daher ist eine bestimmte Verbindung zwischen beiden notwendig, wie sie die Zweckmäßigkeit der Natur gewährleistet. Kr.d.U. XX. Zum übersinnlichen Substrat der Zusammenstimmung der Vermögen in uns bei der Betätigung von Geschmack und Genie vgl. Kr.d.U. 238 ff, bes. 242 f; zur systematischen Einordnung vgl. Kr.d.U. LVI: Der Verstand läßt das übersinnliche Substrat der Natur unbestimmt. „Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen.“ Die praktische Vernunft verleiht ihm die Bestimmung und denkt es als Freiheit. Vgl. zur Deutung vom Verf.: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O. (Anm. 3), 111 ff.
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se noch nicht näher bestimmte, aber bestimmbare Spontaneität als sittliche, intellektuelle Freiheit begreifen. Die praktische Vernunft erkennt und bestimmt das übersinnliche Substrat also als Freiheit. Eine ähnliche Argumentation gilt für das intelligible Substrat der Natur außer uns, das der Verstand als leer, die teleologische Urteilskraft als intellektuelle, aber noch nicht bestimmte Spontaneität und die Vernunft als moralische, göttliche Freiheit denkt. – So ermöglicht die Urteilskraft durch ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur eine Verbindung unter den heterogenen Vorstellungen vom Übersinnlichen und – gemäß der obigen Darlegung – zugleich von Natur und Freiheit und deren Prinzipien. Diese Verbindung ist nur ein „Übergang“, der die unterschiedlichen Prinzipien und Bereiche bestehen läßt; er ist nicht, wie es die Idealisten fordern, eine höhere, die Extreme in sich aufnehmende und aufhebende Einheit. Zum anderen faßt Kant auf dieser Grundlage den Übergang empirischanthropologisch auf. Der Zustand der ästhetischen Betrachtung des Schönen stellt einen Zwischen-. oder Übergangszustand dar, in dem der Mensch sich vom Sinnenreiz und vom Zwang sinnlicher Begehrungen löst und auf sittliches Interesse zunehmend vorbereitet wird. Die ästhetische Einbildungskraft in ihrer freien Harmonie mit dem Verstande bildet und kultiviert den Menschen, so daß dieser „ohne einen zu gewaltsamen Sprung“ 27 in den Zustand der Moralität gelangen kann. – Schiller hat diese Seite des Übergangs in seiner „ästhetischen Erziehung“ weitergeführt, sie aber anders als Kant in einem ästhetischen subjektiven Idealismus begründet.
2. Kants Lehre vom intuitiven Verstand in der Kritik der Urteilskraft Die Kantische Lehre von der ästhetischen Einbildungskraft und vom Genie mit ihrer systematischen Bedeutung für den Übergang von der Natur zur Freiheit findet verschiedene idealistische Fortführungen; insbesondere Hegel sieht darin Ansätze, an die er anknüpft, zu einer Konzeption von konkreter Allgemeinheit, die für ihn erst in der – spekulativ interpretierten – Theorie des intuitiven Verstandes in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ angemessen ausgesprochen wird. Nun ist für Kant zwar, wie erwähnt, das Genie mit seiner produktiven ästhetischen Einbildungskraft in gewisser Weise dem intuitiven Verstand ähnlich; aber es bleibt doch – anders als dieser Verstand – in seinem Schaffen auf vorgegebenen Erfahrungsstoff angewiesen. Der intuitive Verstand ist nicht dessen eigentliche Wahrheit nach Kants Lehre. Der Zu27
Kr.d.U. 260. – Zu Schillers Kantdeutung und -umdeutung vgl. W. Düsing: Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. Zur Rezeption Kantischer Begriffe in Schillers Ästhetik (zuerst: 1975). Wiederabdruck in: Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Hrsg. von J. Bolten. Frankfurt a.M. 1984, 185-228. Zu verschiedenen entwicklungsgeschichtlichen Stufen in Schillers Beantwortung der Frage, ob der „ästhetische Zustand“ eine Übergangsphase oder ein Vollendungszustand ist, vgl. W. Düsing: Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Text, Materialien, Kommentar. München 1981, 130 ff, 156-165.
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2. DER INTUITIVE VERSTAND IN KANTS KRITIK DER URTEILSKRAFT
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sammenhang der Einführung des intuitiven Verstandes in Abhebung von unserem diskursiven in der Kritik der Urteilskraft ist vielmehr ein ganz anderer; Kant geht es dort um eine Rechtfertigung der Verwendung des Begriffs des Naturzwecks zur Betrachtung von Organismen aus der Eigenart unserer Erkenntnisquellen; diese Rechtfertigung ist wiederum in den Kontext eingebettet, daß als Grundlage des Natursystems in seiner allgemeinen Zweckmäßigkeit ein Verstand gedacht werden muß, der als intuitiver vorzustellen ist. In jenem allgemeineren Kontext gelangt Kant zur Aufstellung des Natursystems und des diesem zugrunde liegenden Verstandes von der Betrachtung der Eigenart unseres Verstandes aus, welche eine nicht notwendige, also zufällige Beschaffenheit des Denkens überhaupt ausmacht. Unser Verstand denkt nur diskursive Allgemeinheiten, in denen das Besondere und Einzelne, auf das sie sich beziehen, nicht enthalten ist.28 Die diskursiven Begriffe unseres Verstandes sind analytische Identitäten, d.h. abstrakte Allgemeinheiten, die aus reichhaltigerem Mannigfaltigen, das sonst untereinander noch vielfältig verschieden ist, hervorgehoben werden. Diese weit verbreitete, nicht nur Kantische Auffassung erhält spezifischere Beziehung auf die kritische Erkenntnistheorie durch das Argument, daß zur Erkenntnis ein Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung gegeben sein muß, aus dem der Verstand erst solche Begriffe bilden kann, die er dann einander zuordnet und unter die er vermittels der Schemata bestimmte Anschauungen subsumiert. Damit der Verstand aber derartige diskursive Begriffe bilden und auch einander zuordnen kann, muß dieses Anschauungsmannigfaltige so gedacht werden, daß es sich von sich aus und ohne durch unseren Verstand dazu bestimmt zu sein, zu Gemeinsamkeiten, zu Ähnlichkeiten und Gleichartigkeiten sowie zu gewissen systematischen Anordnungen zusammenfügt; es muß damit als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden, die im vielfältigen Besonderen nach diskursiven Begriffen sucht. Diese Anordnung der sinnlich-rezeptiven Anschauungen aber muß auf der Einrichtung der Natur selbst als Erscheinungswelt beruhen. Als Grund einer solchen systematischen Anordnung der Natur in Gattungen und Arten, also eines solchen Natursystems und damit der Zweckmäßigkeit der Natur für die reflektierende Urteilskraft ist nach Kant ein gesetzmäßig sie einrichtender Verstand als Substrat der Natur zu denken; die Existenz eines solchen Verstandes ist damit nicht erkannt. Da dieser Verstand die vielfältigen Besonderheiten, die für unseren Verstand zufällig, d.h. durch diskursive Begriffe nicht bestimmt sind, als notwendig durch eine höhere Einheit, durch das Ganze, bestimmt weiß, muß für ihn die Trennung von Anschauung und diskursivem Begriff entfallen; er ist somit intuitiver Verstand.29 Auch in der Kritik der reinen Vernunft denkt Kant sich einen „intellectus archetypus“, der alle 28
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Vgl. hier und im folgenden Kr.d.U. § 77. Vgl. dazu z.B. H.W. Cassirer, a.a.O. (Anm. 9), 371 ff; auch (mit weiteren Literaturangaben) vom Verf.: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O. (Anm. 3), 66 ff, 89 ff. Vgl. Kr.d.U. 347 f, auch XXVII f; zum folgenden vgl. Kr.d.r.V. B 722 f.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
„systematische Einheit“ und „zweckmäßige Einheit“ der Natur begründet; dieser urbildliche Verstand, den Kant mit der metaphysischen, genauer: platonischen Tradition als göttlich versteht,30 ohne daß man seiner Theorie nach einen Gottesbeweis führen könnte, ist den Ausführungen der dritten Kritik zufolge eben jener intuitive Verstand. Die Darlegung, was und wie der intuitive Verstand in Abhebung vom diskursiven vorstellt, steht nun unter der spezifischeren Frage, warum wir uns Organismen gerade durch den Begriff des Naturzwecks verständlich machen. Da hierbei nur die Existenz realer Ganzheiten vorausgesetzt wird, die Argumentation im übrigen aber rein a priori bleibt und insbesondere die Erkenntnisweise unseres Verstandes betrifft, kann man von einer transzendentalphilosophischen Rechtfertigung der Verwendung des Begriffs des Naturzwecks sprechen; innerhalb dieser Argumentation also wird der intuitive als Gegenbild des diskursiven Verstandes entworfen. Reale Ganzheiten, in denen das ihnen zugehörige Besondere und Einzelne enthalten ist, wie wir dies offenbar an Organismen erfahren, kann der diskursive Verstand mit seinen abstrakten Begriffen nicht angemessen erfassen, in denen sich das Besondere und Einzelne gerade nicht findet; dieses muß vielmehr als in der Anschauung Gegebenes durch die Urteilskraft allererst unter jene abstrakten Allgemeinheiten subsumiert werden. Solche Ganzheiten, deren jeweilige immanente Teile das Besondere und Einzelne darstellen, erkennt und begreift in adäquaten Vorstellungen dagegen der intuitive Verstand. Er stellt diese Ganzheiten intellektuell vor, aber nicht in diskursiven Begriffen, sondern in Vorstellungen, die jene Ganzheiten als Einheiten und als holistische Singularitäten unmittelbar präsentieren, in Anschauungen. Da diese Anschauungen nicht passiv rezipiert, nicht sinnlich, sondern intellektuell sind, kann der intuitive Verstand als „Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung“ 31 angesehen werden. Er bringt durch spontane Akte seine intellektuellen Anschauungen hervor. Da in diesen intellektuellen Anschauungen die Dinge (entia) selbst unmittelbar, aber nicht als gegebene gegenwärtig sind, ist dieser spontan und intuitiv tätige Verstand zugleich Ursache des jeweiligen
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31
Vgl. z.B. Werke. XVIII, 433 (Refl. 6048): „Es ist schwerlich zu begreifen, wie ein anderer intuitiver Verstand stattfinden sollte als der göttliche.“ – Die dahinterstehende platonischneuplatonische Tradition nimmt Kant etwa um oder kurz vor 1770 zuerst auf. Seine PlatoKenntnis bezog er nach eigener Angabe (Kr.d.r.V. B 372) im wesentlichen aus J. Brucker: Historia critica philosophiae. Leipzig 1742 ff. Vgl. Bd. 1, 670 ff, zur Theologie bes. 695 ff. Damals wurde die Philosophie Platos nicht genauer von derjenigen des Neuplatonismus abgegrenzt; so stellt Brucker im Plato-Kapitel auch neuplatonische Theologie dar. Bei der Schilderung der Neuplatoniker (der „secta eclectica“) erörtert er sie erneut (vgl. Bd. 2, 363 ff, 395 ff). – Eine theistische Umformung platonischer Theologie konnte Kant aus Mendelssohns Phaidon-Bearbeitung (1767) entnehmen, die überhaupt sein Interesse an Platos Philosophie verstärkt haben dürfte. Kr.d.U. 347. Zum folgenden vgl. auch Kants Rede vom „ursprünglichen Verstande als Weltursache“ (354).
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2. DER INTUITIVE VERSTAND IN KANTS KRITIK DER URTEILSKRAFT
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Seienden selbst, das da angeschaut wird, d.h. er stellt im Grunde schöpferisch vor. Während ein diskursiver Begriff ein „Analytisch-Allgemeines“, eine analytische Identität für vieles ansonsten vielfältig Verschiedene darstellt, ist der Vorstellungsinhalt des intuitiven Verstandes nach Kant ein „SynthetischAllgemeines“.32 Das Synthetische dieses Allgemeinen beruht nicht auf einer Synthesis von vorher disparat Gegebenem, sondern bedeutet vielmehr die ursprüngliche Einheit des angeschauten Ganzen, aus der die Teile, das vielfältige Besondere und Einzelne, sowie deren Verbindung erst hervorgehen. Hegel deutet dies später als in sich konkrete Allgemeinheit. Solche Vorstellungen des intuitiven Verstandes bestimmt Kant nun in seiner Metaphysik-Vorlesung und in den Reflexionen in Anknüpfung an die platonische, genauer: die neuplatonische Tradition – was er nicht näher unterscheidet – als Ideen. „Die Erkenntnisse des intellectus originarii sind nicht Begriffe, sondern Ideen.“ 33 Diese sind für Kant nichtsinnliche, somit intellektuelle Anschauungen von ursprünglichen, in sich konkreten Ganzheiten und zugleich Urbilder, adäquate Vorstellungen des Ansichseienden sowie Ursachen der Wesensbestimmtheiten der Erscheinungsdinge als Nachbilder. – Plato nimmt Ideen als solche beständigen Urbilder und Ursachen der wesentlichen Eigenschaften der Erscheinungen sowie, werden sie an sich selbst betrachtet, als das eigentliche Seiende an. Aristoteles konzipiert den göttlichen, sich selbst denkenden Nous. Was sich bei Aristoteles anbahnt, lehrt dann Plotin und der ihm nachfolgende Neuplatonismus ausdrücklich, nämlich daß der göttliche Nous, indem er sich selbst denkt, Ideen des Ansichseienden denkt und umgekehrt. Dies ist die platonisch-neuplatonische Tradition, die Kant hier im allgemeinen und ohne präzisere Differenzierungen34 aufnimmt. Wieder tritt diese Rezeption deutlicher in seiner Metaphysik-Vorlesung hervor, in der er betont: Das göttliche Urwesen „erkennt ... alle Gegenstände, sofern es sich selbst erkennt“.35 Intellektuelles Anschauen und Erkennen der Ideen des Ansichseienden ist also Selbsterkenntnis des göttlichen Intellekts. Nicht platonisch und nicht antik ist allerdings Kants Auffassung, der intellectus originarius des Urwesens, dem nichts vorausliegen kann, sei im Anschauen seiner selbst als spontanem Konstitutionsakt auch Grund der Welt des idealen Seienden. Nach Plato und dem antiken Neuplatonismus sind die Ideen als ewige 32 33
34
35
Kr.d.U. 348 f. I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik, a.a.O. (Anm. 5), 307. Vgl. z.B. zum folgenden: So erkennt „der menschliche Verstand diskursiv, der intellectus originarius aber intuitiv“ (a.a.O. 308); ferner: „Ideen sind nicht Begriffe, sondern reine Anschauungen, nicht diskursive, sondern intuitive Vorstellungen“ (Werke. XXI, 79). Vgl. auch Kr.d.r.V. B 374 f. – Zu Kants Eingehen auf die platonisch-neuplatonische Theologie vgl. Anm. 30. Vgl. zu dieser Rezeption H. Heimsoeth: „Kant und Plato“. In: Kant-Studien 56 (1965), 349372. I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik, a.a.O. (Anm. 5), 306, vgl. 307, 311. Vgl. auch Werke. XIX, 108 (Refl. 6611): „Im göttlichen Verstande sind es (sc. die Ideen) Anschauungen seiner selbst, mithin Urbilder.“
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
dem Nous vorgegeben. Hegel deutet später noch entschiedener das Vorstellen des göttlichen Nous in produktive Spontaneität um. Das Vorstellen dieses intuitiven göttlichen Verstandes wird von Kant zugleich grundlegend ontologisch gedacht als ursprüngliche Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit. Denn der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit gilt nur subjektiv und ist in der Unterschiedenheit unseres Verstandes von der sinnlichen Anschauung begründet.36 Der intuitive göttliche Verstand ist in seiner spontanen Tätigkeit selbst an und für sich absolut notwendig, wenn diese Modalbestimmung, in der die Notwendigkeit nicht nur endliches Pendant zur Zufälligkeit sein darf, als ontotheologische reine Gedankenbestimmung hier verwendet werden kann. Diese von Kant in erstaunlicher Ausführlichkeit in der Kritik der Urteilskraft dargelegte Idee des intuitiven Verstandes, in der die platonischneuplatonische Theologie zumindest als Problem fortwirkt, hat nun innerhalb der kritischen Erkenntnistheorie lediglich negative Bedeutung. Der menschlichendliche Verstand kann weder beweisen, daß ein solcher göttlicher Intellekt existiert; noch kann er sich auch nur einen inhaltlich erfüllten, Einsicht in die innere Möglichkeit verstattenden Begriff davon machen. Die Vorstellung eines intuitiven Verstandes entsteht uns vielmehr lediglich dadurch, daß wir die Trennung unserer Erkenntnisquellen und alles, was daraus folgt, in Gedanken aufheben. So bleibt unser „Begriff “ des intuitiven Verstandes, was dann Hegels heftige Kritik hervorruft, bloß negativ. Die Vorstellung des intuitiven Verstandes wird jedoch von Kant nicht beliebig, sondern wohlbegründet in die verschiedenen Argumentationszusammenhänge eingeführt. Innerhalb der transzendentalen Rechtfertigung der Verwendung des Begriffs des Naturzwecks zur Betrachtung von Organismen fungiert der intuitive Verstand als Vorbild für das Begreifen ursprünglicher Ganzheiten.37 Unser diskursiver Verstand kann nicht von der Anschauung des Ganzen zu dessen immanenten Teilen fortschreiten; er muß von Teilvorstellungen ausgehen und diskursiv die Vorstellung des Ganzen in sukzessiver Weise zusammensetzen. Will er in Analogie zum intuitiven Verstand ein ursprüngliches Ganzes begreifen, wie es uns augenscheinlich in einem Organismus gegeben ist, so kann er dies, ohne gegen seine diskursive Erkenntnisweise 36
37
Vgl. Kr.d.U. § 76, bes. 340 f. Damit wird prinzipiell die Leibnizsche Unterscheidung in Gott zwischen dem Verstand, der alle möglichen Welten vorstellt, und dem Willen, der die wirkliche verursacht, hinfällig. – Die Abbildung der in § 76 der Kritik der Urteilskraft entwickelten Bedeutungen des Möglichen als des Gedachten und des Wirklichen als des Angeschauten auf die erkenntnistheoretisch komplizierteren Bestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit innerhalb der „Postulate des empirischen Denkens“ in der Kritik der reinen Vernunft stellt noch ein eigenes Problem dar. Vgl. Kr.d.U. 349 f. Zum folgenden Argumentationsgang mag verwiesen werden auf die Abhandlung des Verfs.: „Teleologie der Natur. Eine Kant-Interpretation mit Ausblicken auf Schelling“. In: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hrsg. von R. Heckmann, H. Krings und R.W. Meyer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 187-210.
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3. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG IN GLAUBEN UND WISSEN
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zu verstoßen, nur dadurch zustande bringen, daß er das ursprüngliche Ganze in der Vorstellung entwirft als Grund für die Form und die Zusammenfügung der Teile, woraus dann das realisierte, wirkliche Ganze hervorgeht. Hierbei wird – menschlich-endlicher Erkenntnis gemäß – das bloß mögliche Ganze in der entworfenen Vorstellung vom wirklichen Ganzen als Resultat der Realisierung unterschieden. Diese beiden Bedeutungen des Ganzen und deren Relation zueinander finden wir nur beim Zweck und der ihm zugehörigen teleologischen Kausalität. Also kann sich der menschliche diskursive Verstand gegebene reale Ganzheiten wie die organischen und lebendigen Naturwesen nur als Zwekke, genauer: nur als Zwecke der Natur verständlich machen. Der weitere Kontext dieser Argumentation ist die Explikation der allgemeinen Naturzweckmäßigkeit, von der die organische Zweckmäßigkeit eine spezifische Bestimmung darstellt. Als hervorbringende Grundlage jener allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein anderer Verstand als der unsrige zu denken, eben der intuitive. Obwohl wir nach kritischen Prinzipien weder dessen Existenz noch dessen innere Möglichkeit einsehen und erkennen können, bleibt dieser Gedanke systematisch bedeutsam. Die teleologisch reflektierende Urteilskraft verschafft dadurch einen Ausblick auf das Übersinnliche als Grund der Natur „außer uns“, das weder lediglich unbestimmtes Ding an sich überhaupt wie für den Verstand noch auch schon sittlich bestimmte Freiheit wie für die praktische Vernunft ist, das aber doch mit dem Begriff des übersinnlichen Substrats der Natur als intellektueller Spontaneität den Übergang vom einen zum anderen ermöglicht. Damit wird zugleich der Übergang von der Natur außer uns zur Freiheit außer uns möglich, nämlich von der Natur in ihrer Zweckmäßigkeit, deren intelligibles Substrat jener hervorbringende Verstand ist, zur moralischen, göttlichen Freiheit. – So zeigt sich an diesem metaphysischen Begriff, obwohl er nicht zu theoretischer Erkenntnis führt, exemplarisch Kants kritisches und zugleich umdeutend-bewahrendes Verhältnis zur Metaphysik.38
3. Hegels spekulative Deutung der Kritik der Urteilskraft in Glauben und Wissen Hegel setzt sich intensiv von seiner Jugendzeit an bis in sein Spätwerk hinein mit Kants Kritik der Urteilskraft auseinander. Zwei systematisch bedeutsame Phasen dieser Auseinandersetzung können hervorgehoben und unterschieden 38
Zur allgemeinen und grundsätzlichen Bestimmung eines solchen Verhältnisses von Kritik und Metaphysik bei Kant vgl. die Untersuchungen von H. Heimsoeth, die eine Neuorientierung der Kantforschung bewirkten: Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus (1924) und Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (1924). Wiederabdruck in Heimsoeth: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen. Köln 1956 (= Kant-Studien. Ergänzungsheft 71), 189-225 und 227-257.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
werden, einmal die Kritik und die bedingte Anerkennung der Kritik der Urteilskraft in der frühen Jenaer Zeit, insbesondere in Glauben und Wissen, zum anderen unter geänderten spekulativen Prämissen Hegels späte Stellungnahme vor allem in den Ästhetik-Vorlesungen und in der zweiten und dritten Auflage der Enzyklopädie. Differenzierter als früher berücksichtigt er in der späten Phase Schillers und Schellings Umformungen von Kants Ästhetik und Teleologie; er betrachtet sie als Marksteine auf dem Wege zu seiner eigenen Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik und zu seiner eigenen spekulativen Theorie, in die er jene Umformungen, sie seinerseits umdeutend, als sachlich und geschichtlich vorangehende Momente integriert. Schon in der Berner Zeit befaßt Hegel sich im Kontext seiner Betrachtung des Verhältnisses von moralischer und positiver Religion intensiver auch mit Kants Kritik der Urteilskraft, insbesondere mit deren letztem Teil; er fragt, ob die Ethikotheologie nicht eine teleologische Naturbetrachtung und schließlich eine Physikotheologie motivieren und in Grenzen rechtfertigen könne. Die Ausarbeitung, die Hegel plant,39 kommt nicht zustande. Sie wäre freilich kaum grundsätzlich über Kant hinausgelangt; Hegel betont mit Kant, daß die teleologische Naturbetrachtung, für sich genommen, nicht auf einen moralischen Gottesglauben führt. Systematisch selbständig führt Hegel dann zu Beginn der Jenaer Zeit (1801/02) seine Auseinandersetzung mit Kants drittem kritischen Hauptwerk als einem in sich einheitlichen Ganzen durch; sie bildet einen zentralen Bestandteil seiner gesamten damaligen Kantkritik, die ohne Berücksichtigung jener Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft wohl kaum in ihrem ganzen Argumentationsduktus angemessen beurteilt werden kann. Hegel geht hierbei von seinen inzwischen aufgestellten spekulativen Prämissen der vollständigen vernünftigen Erkenntnis des Absoluten aus. Schon in der DifferenzSchrift deutet er an, daß Kant in der Kritik der Urteilskraft eine höhere Einheit von Mechanismus und Teleologie sowie die Einheit eines „sinnlichen Verstandes“, d.h. für Hegel des intuitiven Verstandes als „höchste Idee“ konzipiere, sie aber als vernünftige Wahrheit innerhalb der kritischen Philosophie nicht explizieren könne.40 – Detaillierter und systematisch grundsätzlicher untersucht Hegel in Glauben und Wissen diese Fragen, wo er nicht nur die Naturteleologie, sondern ebenso die Ästhetik auf ihre Prinzipien hin betrachtet und beide Teile der Kritik der Urteilskraft dem spekulativ von ihm gedeuteten Ge39
40
Vgl. Hegel an Schelling, Ende Januar 1795. In: Briefe von und an Hegel. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 1952 ff. Bd. 1, 17. Auch Hölderlin vermutet, Hegel wolle die Religionsbegriffe „ganz parallel mit Kants Teleologie“ behandeln. Er ist der Auffassung, Kants Vereinigung von Mechanismus und Teleologie enthalte „eigentlich den ganzen Geist seines Systems“ (Hölderlin an Hegel, 26.1.1795, a.a.O. 20). – Vgl. zu dieser frühen Auseinandersetzung Hegels mit der Kritik der Urteilskraft vom Verf.: „Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels“. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg. von R. Bubner. Bonn 1973 (= Hegel-Studien. Beiheft 9), bes. 74 ff. Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 69.
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3. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG IN GLAUBEN UND WISSEN
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samtproblem der Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft, von Natur und Freiheit zuordnet. Diese Verbindung versteht Hegel als absolute Identität, die jene entgegengesetzten Glieder in sich aufhebt und bewahrt und die für ihn die innere Bestimmtheit der Vernunft selbst ausmacht. Kant aber habe diese Identität „nicht für die Vernunft“ angesetzt, „sondern nur für die reflektierende Urteilskraft“ und damit die eigentliche Erkenntnis des vernünftigen Absoluten, die ihm schon vorschwebte, wieder aus der Hand gegeben; so reflektiere Kant nur subjektiv „über die Vernunft in ihrer Realität als bewußter Anschauung, über die Schönheit, und über dieselbe als bewußtloser Anschauung, über die Organisation“.41 Schönheit und Naturteleologie sind für Hegel also Repräsentationen der Vernunftidee in der Realität des anschauenden Geistes und der belebten Natur. In beiden Fällen ist für Hegel das absolut Identische in der Realität existent. Er nimmt hierbei die idealistischen Weiterführungen der Kantischen Konzeption der Vermittlung und des Übergangs von der theoretischen zur praktischen Vernunft, von der Natur zur Freiheit auf und schmilzt sie ein in sein spekulatives Identitätsprogramm. Den Kantischen Begriff von jener Vermittlung und jenem Übergang verändert bereits Schiller – was Hegel sogleich in seiner Berner Zeit rezipiert – aufgrund seines Vernunftbegriffs der Schönheit und seines Begriffs des ästhetischen Spiels zu einem idealistisch-anthropologischen Ideal des in sich einigen, jene entgegengesetzten Bestimmungen als bloße Möglichkeiten in sich vereinigenden Menschen im ästhetischen Vollendungszustand.42 In Kenntnis dieser Fortführung nimmt eine abermalige Umbildung jenes Kantischen Vermittlungsgedankens der junge Schelling im System des transzendentalen Idealismus vor; er konzipiert – anders als Schiller – eine Genieästhetik und führt in den von ihm umgedeuteten Vermittlungsgedanken der dritten Kritik den idealistisch-romantischen Begriff der Natur als des unbewußt anschauenden Geistes ein, womit er Kants Naturteleologie wiederaufnimmt. So ist für Schelling die der theoretischen und praktischen Philosophie überlegene Konzeption einer höheren, ja absoluten Einheit zweiseitig, einmal in der Naturteleologie der Entwurf einer Einheit von bewußt und unbewußt anschauender Tätigkeit, die noch nicht ihren Grund im Ich hat, nicht als solche bewußt ist, und zum anderen in der Philosophie der Kunst der Entwurf einer Einheit von bewußt und unbewußt anschauender Tätigkeit, die selbst im Ich fundiert und im Vollzug bewußt ist, wie sie nur dem Genie zukommt; die absolute Identität, die sich auf diese Weise zweifach manifestiert, bleibt nach dem Ansatz des frühen Schelling freilich als solche unerkennbar. Schellings Abänderung der Kantischen Lehre nimmt Hegel in Glauben und Wissen mit der genannten Erwähnung der „bewußtlosen“ und der „bewußten Anschauung“ als Vernunftrealitäten auf und integriert sie unmittelbar und ohne Reflexion auf seine von ihm 41
42
A.a.O. 339. Dieser – bereits korrigierte – Text wird im zweiten Teil nur verständlich, wenn man zu „dieselbe“ stillschweigend ergänzt: „in ihrer Realität“. Vgl. hierzu Anm. 27.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
selbst damit vorgenommenen Konzeptionsverschiebungen in seine Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft; zu diesen Verschiebungen gehört wesentlich Hegels These von der Erkennbarkeit der absoluten Identität und des Absoluten durch Vernunft, was Schelling im System des transzendentalen Idealismus noch entschieden leugnete. Aber Hegel nimmt ausdrückliche Distanzierungen von Schelling erst später vor. Der Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft, von der Natur zur Freiheit, der nach Kants Theorie diese unterschiedlichen Vernunftausübungen und Gebiete gerade als selbständige bestehen läßt, wird in Hegels Lehre also zu einer spekulativ-vernünftig erkennbaren absoluten Identität verwandelt, in der diese entgegengesetzten Bestimmungen aufgehoben und allenfalls als unselbständige Momente bewahrt sind. Dies konnte Kant in der von Hegel erwarteten Weise nicht ausführen; es hätte unmittelbar seine kritische Konzeption, die in der Kritik der Urteilskraft gültig bleibt, im Fundament zerstört. Die gleiche Umdeutung aufgrund der spekulativen Prämissen Hegels erfahren im besonderen die Ästhetik und die Teleologie in Kants dritter Kritik. So gebe Kant – wie Hegel meint – von der Schönheit, der ästhetischen Einbildungskraft und der ästhetischen Idee, die sich lediglich als subjektive Inhalte der reflektierenden Urteilskraft präsentieren, „höchst empirische“ Bestimmungen; die für Kants Ästhetik entscheidende Darlegung apriorischer Ermöglichungsgründe für das ästhetische Urteil wird damit nicht beachtet. Kant ahnt nach Hegel nicht, daß er sich hier eigentlich „auf dem Gebiet der Vernunft“ befinde.43 Denn die Schönheit ist für Hegel „die angeschaute Idee“; die Entgegensetzung von Begriff und Anschauung wird darin hinfällig. Wenn Kant Schönheit im freien und harmonischen Spiel der Einbildungskraft als des Vermögens der Anschauungen und des Verstandes als des Vermögens der Begriffe begründet, so hat er in Hegels Augen die spekulative, vernünftige Identität beider nicht angemessen erfaßt. Ebenso gibt nach Kant die ästhetische Idee als Anschauung zwar „viel zu denken“; aber als in sich strukturierte Einheit des Anschauens und Denkens wird sie von ihm nicht konzipiert. Gegen Kants Darlegung erklärt Hegel ausdrücklich, die ästhetische Idee finde ihre „Exposition“ in der Vernunftidee, d.h. werde durch diese ihrem Gehalt nach adäquat begriffen; die Vernunftidee finde ihre „Demonstration“, d.h. ihre adäquate anschauliche Darstellung in der Schönheit. Schillers Lehre vom Vernunftbegriff der Schönheit und auch Hölderlins Schönheitsmetaphysik dürften Hegel in dieser Auffassung bestärkt haben. Hegel geht dabei von der spekulativen Prämisse aus, daß vom Inhalt der Vernunftidee, letztlich vom absolut Identischen, also auch demjenigen, das Anschauung und Begriff vereint, wahre, reale Erkenntnis möglich ist. Deshalb kritisiert Hegel schließlich, daß das Übersinnliche in uns, auf das die ästhetische Betrachtung des Schönen nach Kant verweist, nicht bestimmt und erkannt werde; die Identität des Natur- und 43
Hegel: Gesammelte Werke, a.a.O. 339. Im folgenden s. 340.
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3. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG IN GLAUBEN UND WISSEN
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Freiheitsbegriffs als systematische Bedeutung der Schönheit hätte für Hegel eine derartige Erkenntnis durchaus ermöglicht und gerechtfertigt. Sämtliche grundlegenden Bestimmungen und Lehren der Kantischen Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft werden damit transformiert und in ein anderes metaphysisches Bedeutungssystem überführt. Die dabei geäußerte Kritik an Kant ist nicht immanent, sondern setzt die Gültigkeit von Hegels eigener Konzeption voraus, die Kant als Entwurf lehrhafter Metaphysik kritisiert hätte. Kants Frage, ob und wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, erörtert Hegel weder hier eigens noch in seiner Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft. So sieht er Kants Argumente innerhalb der MetaphysikKritik nicht als Antworten auf diese Frage an; sie werden vielmehr von Hegel ebenso wie die Folgen, insbesondere die Erkenntnisrestriktion, ohne Umschweife verworfen.44 Daher dürfte es in diesen grundsätzlichen Fragen kaum einen geraden Weg von Kant zum Jenaer Hegel geben, auch nicht auf dem Gebiet der Ästhetik. Dennoch sind Kants Lehre und Hegels Ansatz als Grundlage für seine Kritik nicht einfach inkompatibel. Hegels Kritik und seine eigene Konzeption machen vielmehr auf Probleme aufmerksam, die Kant entweder offen ließ oder die erst aufgrund seiner Lösungen neu auftreten. Zu Hegels eigener spekulativ-idealistischer Theorie darüber sind freilich auch wieder kritische Alternativen zu erwägen. Hegels Kritik und Umdeutung der Kantischen Ästhetik geht außer von der allgemeinen Voraussetzung der Metaphysik des Absoluten als Wissenschaft von zwei spezifischeren, aber für den Kontext der Ästhetik grundlegenden Voraussetzungen aus, die zugleich offen gebliebene Fragen der Kantischen Theorie anzeigen. Zum einen ist für Hegels Auffassung von der ästhetischen Einbildungskraft der Rahmen seiner allgemeineren Deutung der produktiven Einbildungskraft bei Kant vorauszusetzen. In seiner Auseinandersetzung mit Kants theoretischer Philosophie sieht Hegel in der produktiven Einbildungskraft die gleiche ursprünglich synthetische Einheit wie in der synthetischen Einheit der Apperzeption; die Einbildungskraft ist für ihn nicht nachträglich eingeschobenes Mittelglied zwischen dem Verstand, nämlich dem reinen endlichen Subjekt, und der sinnlichen Anschauung, deren Inhalt in Hegels Deutung das Weltmannigfaltige und Objektive ist, sondern ursprüngliche, absolute Einheit von Subjekt und Objekt, die eigentlich die reine Vernunft selbst ist.45 44
45
Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegungen des Verfs. in: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik (1976). Bonn 31995 (= Hegel-Studien. Beiheft 15), bes. 109-120, sowie ders.: Hegel und die Geschichte der Philosophie, a.a.O. (Anm. 2), bes. 231-242. Vgl. Hegel: Gesammelte Werke, a.a.O. 327, 329 f. Zu Hegels Umdeutung von Kants Theorie der Einbildungskraft in Glauben und Wissen vgl. z.B. H. Marcuse: Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1932, 36 ff; I. Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. Frankfurt a.M. 1966, 22 ff; auch vom Verf.: Das Problem der
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Hegel greift hierbei nicht einmal auf die Lehre von der Mittelstellung der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand zurück, wie Kant sie in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ausführt, sondern deutet seine spekulative Auffassung sogleich in Kants spätere Theorie der Einbildungskraft hinein. Ist die Einbildungskraft, wie Hegel sie versteht, in die Differenz versenkt, so erscheint sie als Vermögen der Anschauung von Mannigfaltigem; unterscheidet sie sich davon als Vermögen der Vorstellung formaler Identität, so wird sie zum Verstand als Prinzip der Kategorien. In dem ästhetischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand setzt Kant nach Hegels Deutung diese Unterscheidung voraus und erkennt die Relation der Unterschiedenen nicht als begründet in wahrer, absoluter Identität. – In Hegels Auseinandersetzung mit Kants theoretischer Philosophie ist angedeutet, was auch auf seine Uminterpretation der Kantischen Ästhetik zu übertragen ist, daß die unterschiedenen Vermögen der Einbildungskraft und des Verstandes zusammen mit weiteren Vermögen in einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins aus einem einheitlichen Grunde entwickelt werden müßten. Erst dann lassen sich entwickelte Begriffe dieser Vermögen in einer Erkenntnistheorie oder einer Ästhetik verwenden. Ein solches Programm einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins in Abhebung von der alten Vermögenslehre legt sich bei Kant nahe; es wird von ihm jedoch nicht erfüllt. Der frühe Fichte und der junge Schelling bilden dazu eigene subjektiv-idealistische Theorien aus, die Hegel aufnimmt46 und spekulativ umformt. Zum anderen geht Hegel in seiner Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik von seiner eigenen Auffassung aus, daß Schönheit wesentlich eine Inhaltsbestimmung ist und eine religiöse, ja auch politische Realität sein kann, die man nur metaphysisch zu begreifen vermag. Sie ist das in der Erscheinung und der Realität sich zeigende Göttliche und Absolute von der Struktur absoluter Identität entgegengesetzter Bestimmungen. Das Schöne hat für Hegel damals noch eine weite Bedeutung, die nicht auf Werke schöner Kunst beschränkt ist; es charakterisiert für ihn die ursprüngliche Einigkeit und Versöhnung sowohl einer Religion und ihrer Mythologie als auch eines sittlich-politischen Gemeinwesens. Das geschichtliche Vorbild stellen für ihn wie in den Jugendschriften die Griechen dar; aber er hält auch noch – ähnlich wie dort – am Programm einer zukünftigen, in ihrer geistigen Versöhnung neuartig schönen Religion fest; erst in der späten Jenaer Zeit (1805/06) gewinnt Hegel die Auffassung,
46
Subjektivität in Hegels Logik (s. vorige Anm.), 117 ff, und: Hegel und die Geschichte der Philosophie (s. Anm. 2), 233 ff. Hegel spottet über die Vermögenslehre des 18. Jahrhunderts und speziell Kants mit ihrem „Sack voll Vermögen“ oder ihrem „Seelensack“ (Gesammelte Werke. Bd. 4, 237) und fordert eine systematische Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und Tätigkeiten aus einem Prinzip in Aufnahme des Programms der systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins (vgl. z.B. 329 f). Über das Selbstbewußtsein als Prinzip geht Hegel freilich zu Beginn der Jenaer Zeit mit einer Metaphysik der Einen Substanz hinaus. Erst von der Mitte der Jenaer Zeit an wird für Hegel das Selbstbewußtsein nicht mehr in der Einen Substanz aufgehoben, sondern tritt in Beziehung zur absoluten Subjektivität in einer von Hegel neu konzipierten Subjektivitätstheorie.
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3. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG IN GLAUBEN UND WISSEN
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daß die christliche Religion die wahre ist. – Diese allgemeine metaphysisch fundierte Auffassung vom Schönen wurde bei Hegel in dessen Jugendzeit durch die erwähnte Rezeption der Schönheitslehren Schillers und insbesondere Hölderlins und zu Beginn seiner Jenaer Zeit durch die Aufnahme mancher Einsichten der romantischen Genie-Ästhetik Schellings sowie der romantischästhetischen Reflexionen Schlegels vorbereitet. Gegen den frühen Schleiermacher hält Hegel freilich am Werkcharakter der Kunst fest; es gibt kein bloß inneres Anschauen, das Kunst ohne Werk wäre. Damit hat Hegel jedoch nur einen ersten Schritt zu einer selbständigen Ästhetik als Metaphysik der Kunst getan; sie ist in der Zeit dieser Auseinandersetzung mit Kant noch nicht ausgebildet.47 – Hegel geht aufgrund der Aufnahme dieser Konzeptionen so selbstverständlich von einer gehaltsästhetischen Ansicht aus, daß er Alternativen einer Ästhetik der reinen Form, wie Kant sie prinzipiell darstellt, gar nicht mehr erörtert. Obwohl Hegel in seiner Kritik Kant damit nicht gerecht wird, deuten sich in dieser gehaltsästhetischen Auffassung, die Hegel erst später in einer eigenen Ästhetik ausführt und begründet, auf eine erste Weise Fragen an, die Kant in seiner Ästhetik der reinen Form unerörtert lassen mußte. Der Bedeutungsgehalt von Kunstwerken, insbesondere von Werken bildender und sprachlicher Kunst, z.B. von Tragödien, gehört notwendig zum Kunstcharakter jener Werke hinzu, kann aber nicht auf die reine Form reduziert werden. Auch Kants ästhetische Idee, die „viel zu denken“ gibt, reicht hierfür nicht aus, da sie nur vage Bedeutsamkeit und Bedeutungsfülle vieler Gedanken, aber keine genuin ästhetische und zugleich klar umschreibbare Bedeutung zuläßt. Hier eröffnet sich ein ästhetischer Bereich in seiner Eigenbestimmtheit, den Kants Lehre nicht hinreichend erfaßt. Da Hegel jedoch noch nicht über eine entwickelte selbständige Ästhetik verfügt, gewinnen diese Fragen in seiner frühen Jenaer Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft noch keine klaren Konturen. Seine damalige Kritik an Kants Ästhetik ist vielmehr rein metaphysisch. Er sieht in Kants Bestimmungen des Schönen und der ästhetischen Einbildungskraft Vorprägungen der absoluten Einheit von Anschauung und Denken und damit der absoluten Identität überhaupt, die Kant dort nur empirisch aufgefaßt habe. Diese Einheit, auf die jene ästhetischen Phänomene bei Kant, wie Hegel sie deutet, lediglich verweisen, wird jedoch eigentlich und ausdrücklich nach Hegel dargelegt in Kants Lehre vom intuitiven Verstand. Diese Lehre vom intuitiven Verstand ist für Hegel deshalb so entscheidend, weil er in ihr seine eigene spekulative Erkenntnismetaphysik, d.h. seine Theorie der absoluten Vernunfterkenntnis und der Erkenntnis konkreter Allgemeinheit inhaltlich in wesentlichen Grundlinien ausformuliert findet. Sie ist 47
Zu diesem Hintergrund der Kantkritik in der Periode der allmählichen Ausbildung einer eigenen Ästhetik mag verwiesen werden auf die Abhandlung des Verfs.: „Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), bes. 321 ff.
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für ihn besonders anstößig, weil Kant zugleich der Auffassung ist, daß dieses Erkenntnisprogramm die menschliche Erkenntnisfähigkeit entschieden überfordert. Für Hegel ergibt sich aus der zweiten Art der Verbindung von Natur und Freiheit in der Kritik der Urteilskraft, aus der Naturteleologie, die er ähnlich wie Schelling als „bewußtlose Anschauung“ 48 der Vernunft in der Erscheinung und Realität interpretiert, folgerichtig die Idee des intuitiven Verstandes als des metaphysischen Grundes der Natur. Eindeutiger und klarer als beim ästhetischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand tritt hier für Hegel die „Idee der Vernunft“ selbst zutage. Denn der intuitive Verstand bedeutet die ursprüngliche, absolute Einheit von Anschauen und Denken. Diese bleiben nicht Ausübungen getrennter Erkenntnisvermögen wie beim ästhetischen Spiel. Der intuitive Verstand erzielt ferner – anders als das ästhetische Betrachten oder Hervorbringen nach Kant – höchste Erkenntnisse. Seiner einheitlichen Art des Vorstellens und Erkennens entspricht die einheitliche Art des Vorgestelltseins seiner Erkenntnisinhalte; für ihn sind auch Begriff und Anschauung, beide verstanden als Vorstellungsinhalte, ursprünglich identisch. Damit aber stellt der intuitive Verstand das Allgemeine nicht als getrennt vom Besonderen und Einzelnen vor; diese Begriffsbestimmungen als Vorstellungsinhalte, die nicht verschiedenen Erkenntnisarten zugehören, bilden für den intuitiven Verstand ein in sich einheitliches, strukturiertes Ganzes. Hierin erblickt Hegel sein eigenes Programm der spekulativen Erkenntnis konkreter Allgemeinheit; denn die konkrete ist eben die synthetische Allgemeinheit, wie Kant sie in Abhebung von der analytischen, abstrakten Allgemeinheit eines diskursiven Begriffs als genuinen Vorstellungsinhalt des intuitiven Verstandes entwirft. Schließlich sind für den intuitiven Verstand auch Möglichkeit und Wirklichkeit ursprünglich eins; denn dieser Modalunterschied gilt in Kants Theorie nur subjektiv, nämlich für die menschlich-endlichen, unterschiedenen Erkenntnisvermögen von Anschauung und diskursivem Denken. Diese Bestimmungen des intuitiven Verstandes nimmt Hegel im wesentlichen aus Kants Lehre auf. Anders aber als Kant versteht Hegel, ohne es ausdrücklich hervorzuheben, die jeweilige Einheit, die der intuitive Verstand darstellt, als absolute Identität von entgegengesetzten Bestimmungen, die in dieser Identität nicht einfach „beide wegfallen“,49 sondern aufgehoben und als unselbständige Momente bewahrt bleiben und die beim Übergang der absoluten Identität in die Erscheinung als getrennte Bestimmungen hervortreten. So erscheint im endlichen Bewußtsein die Trennung der Erkenntnisquellen sowie die Trennung von Anschauung und Begriff, von Besonderem bzw. Einzelnem und Allgemeinem. Im System der Sittlichkeit geht Hegel von solcher Unter48
49
Hegel: Gesammelte Werke, a.a.O. 340; vgl. ebd. auch im folgenden. – Zu Hegels Deutung der Kantischen Lehre vom intuitiven Verstand vgl. die erhellenden Darlegungen von L. Lugarini, a.a.O. (Anm. 3), bes. 30 ff, und von V. Verra, a.a.O. (Anm. 3), 67-89; vgl. auch vom Verf.: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O. (Anm. 3), bes. 92 ff. Kr.d.U. 340, von Hegel zitiert in: Gesammelte Werke, a.a.O. 340.
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3. HEGELS SPEKULATIVE DEUTUNG IN GLAUBEN UND WISSEN
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schiedenheit aus und versucht nach Darlegung der methodischen Dualität von Anschauung und Begriff und ihrer verschiedenen Verhältnisse zueinander die absolute Einheit beider wiederzugewinnen. Diese bestimmt er, ohne die gleichartige Bestimmung in Kants Reflexionen und Vorlesungen zu kennen, wie Kant als Idee. In dieser als konkreter Allgemeinheit sind auch Allgemeines und Besonderes bzw. Einzelnes eins; die unterschiedenen Bestimmungen aber sind nicht einfach verschwunden, so daß jene Einheit absolute Indifferenz – wie dann bei Schelling – wäre, sondern sind aufgehoben und als aufgehobene bewahrt. In der Schlußlogik und der Darlegung der „spekulativen Bedeutung“ der Schlüsse bemüht sich Hegel, die logische Begreifbarkeit dieser absoluten Einheit darzulegen, in der die Begriffsbestimmungen ursprünglich eins, aufgehoben und erhalten sind.50 Aufgrund dieser Deutung der Einheit von Anschauen und Denken, von Besonderem bzw. Einzelnem und Allgemeinem identifiziert Hegel den intuitiven Verstand auch mit der transzendentalen Einbildungskraft, in der er dieselbe Einheit, nämlich die ursprünglich synthetische Einheit solcher Bestimmungen sieht, die sich erst durch Selbstentzweiung jener Einheit als reale, einander entgegengesetzte Bestimmungen in der Erscheinung zeigen. Für Kant ist freilich die transzendentale Einbildungskraft in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, an die Hegel sich hält, lediglich ein sinnliches Vermögen; die Intellektualität und Göttlichkeit des intuitiven Verstandes ist ihr und mit ihr der menschlich-endlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt nach Kant prinzipiell unerreichbar. Hegel scheint die geschichtliche Herkunft der Kantischen Lehre vom intuitiven Verstand, von der er fasziniert ist wie von keiner anderen Theorie Kants, in etwa zu ahnen. Mehrfach greift er Kants Terminus des „urbildlichen Verstandes“ auf, den er als wahre Idee denkt, und weist damit auf die platonischneuplatonische Tradition hin, ohne sie freilich ausdrücklich zu benennen. Offensichtlich wirkt in Kants Lehre vom intuitiven Verstand diese neuplatonische Tradition vom göttlichen, Ideen und in ihnen sich selbst denkenden Intellekt fort, in der auch Hegel noch steht. Hegel nimmt nicht nur die darin enthaltene Erkenntnismetaphysik, sondern auch die durch Kants Darlegung in Grundzügen hindurchscheinende spekulative Theologie auf. Da Hegel diese Metaphysik des intuitiven Verstandes als wahre Wissenschaft und Erkenntnis auffaßt, bleibt ihm unverständlich, daß Kant auch bei dieser Lehre, die er doch selbst darlegt, das menschliche Erkenntnisvermögen in seiner Reichweite restringiert und es der Erkenntnis des intuitiven Verstandes als eines wahren, intelligiblen Seienden für unfähig hält. Da wir mit Notwendigkeit auf die Idee des intuitiven Verstandes geführt werden, was auch Kant nicht leugnet, wird diese Idee, indem sie rein gedacht wird, nach Hegels Auffassung zugleich als wahr erkannt. So macht Hegel Kants unzulängliche 50
Vgl. dazu z.B. Gesammelte Werke, a.a.O. 328 f; auch K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 191.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
„Natur“ dafür verantwortlich, daß dieser sich bei der Wahl, ob jene vernünftige Idee des urbildlichen Verstandes oder dessen Erscheinung, der menschlichendliche, abbildliche Verstand, das Wahre sei, „schlechthin für die Erscheinung entschlossen“ 51 habe. Hegel übergeht hierbei Kants metaphysikkritisches Argument, daß uns die Idee des intuitiven Verstandes nur durch Weglassen unserer Erkenntnisschranken, der Trennung von Anschauung und Begriff, entsteht und daß wir damit nur eine inhaltlich negative Vorstellung von ihm haben und weder Einsicht in seine innere Möglichkeit noch gar Erkenntnis von seiner Existenz gewinnen. Die spezifische Gestalt der Metaphysik, deren Möglichkeit als Vernunftwissenschaft Hegel in dieser Auseinandersetzung mit Kant immer voraussetzt, ist nun in Hegels früher Jenaer Konzeption eine idealistische, an Spinoza anknüpfende Metaphysik der Einen Substanz.52 Die Struktur der absoluten Identität entgegengesetzter Bestimmungen, die Hegel verhüllt in Kants Lehre vom Schönen, aber klar ausgesprochen in dessen Lehre vom intuitiven Verstand findet, charakterisiert für Hegel das Wesen des eigentlichen und wahrhaft Seienden, der Einen Substanz. Sie ist das dem endlichen Bewußtsein überlegene All-Eine, in dem wir jegliches Besondere intellektuell anschauen und begreifen. Der Ausgleich eines solchen Pantheismus mit der platonisch-neuplatonischen spekulativen Theologie ist möglich, wird aber nicht von Hegel, sondern, worauf hier nur hingewiesen sei, von Schelling etwa in der Aufnahme und Umwandlung der Lehre Brunos nachvollzogen und neu durchdacht.
4. Schönheit und intuitiver Verstand in Hegels später Kantkritik Hegels später Kantkritik liegt die Metaphysik der absoluten Subjektivität zugrunde, zu der er schon in der Mitte seiner Jenaer Zeit (um 1804) übergeht und an der er seither festhält. Die Kritik der Urteilskraft erörtert er insbesondere in der Enzyklopädie und in den Vorlesungen über Ästhetik und Geschichte der Philosophie. Hegel schreibt der Kantischen Philosophie nunmehr die Bedeutung zu, das „sich in sich als unendlich findende und wissende Selbstbewußtsein“ 53 als Prinzip und Grundlage angenommen zu haben. Damit eröffne 51
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53
Gesammelte Werke, a.a.O. 341. Die hier vorausgesetzte platonistische, metaphysische Bedeutung von „Erscheinung“ ist nicht die Kantische. – Die Behauptung eines „Entschlusses“ zu einer Philosophie erinnert an Fichtes und Schellings Auffassung von der „Wahl“ einer Philosophie, je nach dem, was für ein Mensch man ist. Hierzu mag auf die Studie des Verfassers verwiesen werden: „Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena“. In: Hegel in Jena. Hrsg. von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980 (= Hegel-Studien. Beiheft 20), 25-44. – Zum folgenden Verweis auf Schellings Bruno-Adaption vgl. W. Beierwaltes: „Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings Bruno“. In: Philosophisches Jahrbuch 80 (1973), 242-266. G.W.F. Hegel: Ästhetik. Mit einer Einführung von G. Lukács. Hrsg. von F. Bassenge. Berlin – Weimar 1955. Lizenzausgabe Frankfurt a.M. 1955. Bd. 1, 65.
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5. HEGELS SPÄTE KANTKRITIK
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sie, auch wenn sie noch vielfach den Entgegensetzungen der Aufklärung verhaftet bleibe, die Epoche der idealistischen Philosophie. Dennoch fällt Hegels Anerkennung der Kantischen Philosophie trotz dieser epochalen Bedeutung, die er ihr beimißt, bedingter aus als früher. Extensiver als zuvor wirft er ihr nun empiristische Tendenzen vor. Berechtigte spekulative Ideen sieht er im wesentlichen nur noch in der Kritik der Urteilskraft.54 Denn in ihr habe Kant „die Vorstellung, ja den Gedanken der Idee ausgesprochen“.55 Dies gilt nach Hegel insbesondere für den Begriff des intuitiven Verstandes und den der inneren Zweckmäßigkeit, aber auch, wie zu zeigen ist, für den der Schönheit. Hegel beruft sich mehrfach zustimmend auf Kants Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit des Organischen und Lebendigen, die er metaphysisch versteht; er sieht darin eine Wiederherstellung der spekulativen Auffassung des Aristoteles, daß das Lebendige als Bewegtes ontologisch sein Telos in sich selbst habe und damit, wie Hegel es deutet, Selbstzweck sowie Einheit des Allgemeinen als des Ganzen und des Besonderen als der Glieder sei.56 Von diesem Begriff der inneren Zweckmäßigkeit her interpretiert Hegel Kants Lehre vom ästhetischen Urteil, insbesondere die zentrale Bestimmung, als schön werde die Form der Zweckmäßigkeit eines Anschauungsgegenstandes beurteilt. Während für Kant das auf diese Weise betrachtete Schöne gerade keinen Zweck enthält, ist das Schöne für Hegel zweckmäßig in sich selbst sowie Einheit von Zweck und Mittel in einer Gestalt, ähnlich wie dies beim Lebendigen der Fall ist; damit ist es für sich selbst Zweck. Hegel deutet hier – wie Schiller manchmal in den Kallias-Briefen, die damals noch nicht veröffentlicht waren, und wie assoziationsweise in Über Anmut und Würde bei der Charakterisierung der Schönheit des Baus, die ein Werk der organischen Natur ist, – das Schöne mit Bestimmungen der teleologischen Urteilskraft, die in der dritten Kritik die objektive Zweckmäßigkeit des Organischen betreffen.57 Das Schöne 54
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Auf diese Modifikation der Kant-Einschätzung bei Hegel macht vor allem V. Verra aufmerksam, a.a.O. (Anm. 3), 84 f. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Neu hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 71969, § 55 Anm.; so auch schon in: Enzyklopädie (21827), § 55 Anm. Vgl. z.B. Enzyklopädie (1830), § 360 Anm.; Ästhetik, a.a.O. (Anm. 53), 66; aus den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie. In: Theorie-Werk-Ausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. Bd. 19, 177; auch Bd. 20, 376, 378 f; aus den Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von W. Jaeschke. T. 1. Hamburg 1983, 320. Zum folgenden vgl. bes. Ästhetik, a.a.O. 67 f. Vgl. F. Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von G. Fricke und H.G. Göpfert. München 1958 ff. Bd. 5, 438 ff, 444 ff, ebenso 400 ff, 420 f (die beiden ersten Stellen vgl. in der SchillerNationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, 256 ff, 262 ff). Schiller könnte hierin von Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788), angeregt sein (vgl. SchillerNationalausgabe. Bd. 21, 386 f; zum Zusammenhang vgl. W. Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Diss. Köln 1967, 56 f). Hegel erwähnt diese Schrift von Moritz in der Ästhetik nicht. – Er besaß Schillers Schrift Über Anmut und Würde und las sie wie auch andere Schriften Schillers schon bald nach ihrem Erscheinen; vgl. Hegel an Schelling, 16.4.1795. In: Briefe von und an Hegel, a.a.O. (Anm. 39), 25. In einer Nürnberger Logik für die Mittelklasse
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
wird in seiner inneren Zweckmäßigkeit von Hegel damit als inhaltlich bestimmt gedacht. Auch in seiner eigenen spekulativ-logischen Theorie kann für ihn das Schöne exemplarischer Inhalt der Modalurteile sein, die in ihrer Aussage, ob etwas dem Begriff gemäß ist oder nicht, einen teleologischen Sinn enthalten.58 Solche teleologischen Bestimmungen, die Kant auf das Organische anwendet, gelten bei Hegel nicht primär für das Naturschöne, sondern für das Kunstschöne; denn die Ästhetik ist für Hegel – anders als für Kant, aber in Übereinstimmung mit den vorangehenden idealistischen Theorien – wesentlich Philosophie der Kunst. Im Kunstschönen wird nach Hegel nun nicht nur die Einheit von Zweck und Mittel, von Allgemeinem und Besonderem, sondern auch von Sinnlichkeit und Geistigkeit, von Natur und Freiheit angeschaut und erlebt. Bei dieser Beschreibung der Vereinigungsbedeutung des Kunstschönen orientiert Hegel sich an Schiller. Solche Vereinigung wird im Kunstschönen in unmittelbarer Anschauung erfahren; sie wird darin nicht begrifflich gedacht und erkannt. Dies gilt auch für die teleologischen Charakterisierungen des Schönen, die damit in der Kunstbetrachtung keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darstellen, deren wahren, begrifflichen Gehalt jedoch die Philosophie zu erfassen vermag. – So entspricht es Hegels eigener Konzeption, wenn er Kants Lehre vom selbständigen, autonomen Bereich des Ästhetischen nicht kritisiert, an der auch Schiller festhält; Hegel deutet ebendiese prinzipiell von ihm akzeptierte Selbständigkeit und Autonomie nur grundlegend um in eine gehaltsästhetisch bestimmte, spezifische Selbstanschauung des Geistes in der Kunst, die unterschieden ist von sittlich-politischer Praxis, von der Selbstvorstellung des Geistes in der erfüllten, vollendeten Religion sowie vom spekulativ-philosophischen Wissen und Sich-Wissen. Da Hegel hierbei innerhalb seiner späten, ausdifferenzierten Geistesphilosophie die Wesens- und Vollendungsgestalten der institutionalisierten Sittlichkeit sowie der Kunst, der Religion und der Wissenschaft vor Augen hat, sind für ihn in der vorangehenden geschichtlichen Entwicklung durchaus andersartige Konstellationen dieser Sphären des Geistes zueinander möglich; sie können aber jenen Wesens- und Vollendungssinn nicht tangieren, der auf den Grundbestimmungen des objektiven Geistes und des in wohlunterschiedener, dreifacher Weise sich zu sich selbst verhaltenden absoluten Geistes beruht. Hegel läßt auf dieser Grundlage auch dem empirisch-anthropologisch verstandenen Übergang, der vom sinnlich bestimmten praktischen Verhalten über die ästhetische Betrachtung zur Sittlichkeit führt, sein freilich untergeordnetes Recht. Kant verbindet mit dem harmonischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand im ästhetischen Urteil eine Befreiung vom Zwang der Sinnlichkeit;
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(1810/11) ist für Hegel das Schöne ein Leben, das von Beschränkungen des zufälligen Daseins befreit ist; vgl. Nürnberger Schriften. Hrsg. von J. Hoffmeister. Leipzig 1938, 101. Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. T. 2. Leipzig 21934, 302; Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, 84. Vgl. ebenso Enzyklopädie (1830), § 178 Anm.
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5. HEGELS SPÄTE KANTKRITIK
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damit weist er auf die höhere Einheit von Natur und Freiheit hin, begründet sie aber nach Hegel nur im subjektiven Erleben.59 Schiller führt in Hegels spekulativer Deutung darüber hinaus, indem er jene Einheit, jene Versöhnung beider Seiten im Gedanken als das Wahre erfaßt, ein Wahres freilich, das in seiner Geltung auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt. Jener empirischanthropologisch gedachte Übergangszustand wird damit von Schiller, wie Hegel ihn interpretiert, in einem wahren, ästhetischen Erfüllungszustand der Versöhnung innerhalb eines ästhetischen Idealismus fundiert. Diese Konzeption der Kunst und des Verhältnisses von Vernunft und Sinnlichkeit sowie von Natur und Freiheit in der Ästhetik Schillers, die in ihren eigenen Grundlinien noch nichtmetaphysisch im Kantischen Sinne ist, formt Hegel unter Verlassen des kritischen Horizonts in seine Metaphysik der Kunst ein. Jener Übergang, der begrenzte empirische Bedeutung behält, wird von Hegel metaphysisch begründet; die sinnlich-anschauliche Seite der Kunst, die die Sinnlichkeit anspricht und zugleich befreit, ist nach seiner Theorie die dem Ideal notwendig immanente, noch unmittelbare und natürliche Seite der sich selbst in ihrem eigenen Scheinen darstellenden göttlichen Idee. Diese ist das an und für sich geistige Wahre überhaupt, das dann zum Kunstschönen wird, wenn der Geist sich nur unmittelbar anschaulich versteht. Mit einer solchen Änderung der systematischen Begründung jenes Übergangs ändert sich auch dessen inhaltliche Qualität und Bedeutung für das Menschsein. Er ist nicht mehr ästhetische Vorbereitung auf die Moralität wie bei Kant, auch nicht mehr ein Übergang, der fundiert ist in der Versammlung aller menschlichen Möglichkeiten im Augenblick ästhetischer Betrachtung, die in der Realität freilich wieder verlassen werden muß, wie bei Schiller, sondern der Zustand eines die Versöhnung von Idee und Sinnlichkeit genießenden endlichen Bewußtseins, das darin unmittelbar das reale Göttliche und sich im Verhältnis zu diesem Göttlichen anschaut. Trotz seines Genusses aber ist das Bewußtsein in diesem Zustand nicht vollendet; der höhere Zustand, in den es übergeht, ist nicht die Moralität, sondern die von Hegel spekulativ interpretierte christliche Religiosität oder darüber hinaus der Zustand des philosophischen Denkens. – So spiegelt die Bedeutungsveränderung des Übergangszustandes die Bedeutungsveränderung der idealistischen Ästhetik. In der Erörterung des ästhetischen Urteils nimmt Hegel modifizierend Kants Konzeption auf, daß zum Schönen, insbesondere zum schönen Kunstwerk, wesentlich der verstehende Betrachter gehört. Ebenso freilich und systematisch zentraler als in der Kantischen Theorie ist nach Hegel für das 59
Vgl. hier und im folgenden Ästhetik, a.a.O. 69 f, auch 57 ff; auch Enzyklopädie (1830), § 562 Anm., 445 (s. Anm. 55), sowie in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie. In: Theorie-Werk-Ausgabe. Bd. 20, 378. – Zur Bedeutung der klassischen Theorien der Ästhetik für die Konzeption des humanistischen Bildungsideals vgl. C. Menze: „Der Übergang von der ästhetisch-politischen zur literarisch-musischen Erziehung (1971)“. In C. Menze: Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und ihrer Geschichte. Hildesheim – New York 1980, bes. 76 ff.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Schöne, nämlich für das schöne Kunstwerk als das eigentliche, geistgeborene Schöne, das Genie konstitutiv. Hegel nimmt hierbei Kants Genielehre, über Kant hinaus auch Schellings Genie-Ästhetik auf und sucht in seiner Ästhetik Beurteilungs- und Genie-Ästhetik in einer höheren systematischen Einheit zu begründen. Hegel erklärt, daß für Kant das Genie das Vermögen ist, „ästhetische Ideen zu produzieren, d.i. Vorstellungen der freien Einbildungskraft, die einer Idee dienen“.60 Das Genie ist ein besonderes ästhetisches Vermögen der produktiven, ja kreativen Einbildungskraft; im Gedanken der „Idee“, der die Vorstellungen der ästhetischen Einbildungskraft „dienen“, verschiebt sich unvermerkt die Kantische Vernunftidee zur Hegelschen göttlichen Idee als dem wesentlichen Gehalt der Kunst. – Das Genie produziert nun bewußt und willentlich, aber zugleich naturhaft-bewußtlos. Hegel greift hiermit Schellings Weiterführung Kantischer Bestimmungen des Genies auf und verbindet sie mit der Enthousiasmos-Lehre, die auf Platos Phaidros zurückgeht. Das Genie schafft in gotterfüllter Begeisterung, befindet sich aber in diesem Hingerissensein durch den Gott in einem „unfreien Pathos“.61 In diesem Schaffen ist das Genie nichts Individuell-Eigentümliches; es bringt das Kunstwerk nur als „Ausdruck des Gottes“ hervor. Das Genie setzt dabei nicht erst ästhetische Wertmaßstäbe. Was die Produktivität des Genies bindet, ist freilich nicht wie bei Kant der Geschmack, sondern der Inhalt des Kunstwerks als die sinnlich sich manifestierende göttliche Idee; sie hat das Genie in seinem gotterfüllten Wirken naturhaft-sinnlich darzustellen. Diese göttliche Idee,62 sofern sie aufgrund innerer Unmittelbarkeit sinnlich gegenwärtig werden muß im Kunstwerk, ist der metaphysische Grund dafür, daß in einer von ihr ausgehenden Ästhetik weder der Geschmack noch das Genie als jeweils selbständige Prinzipien auftreten, sondern an ihr nur als Momente fungieren können. In Hegels später Auseinandersetzung mit der Kantischen Ästhetik ist, wie sich wohl gezeigt hat, seine ausgebildete, reife Ästhetik als Beurteilungsmaßstab vorausgesetzt. Er sieht in Kants Lehre vom selbständigen Bereich des Schönen nicht mehr nur allgemein wie früher metaphysisch zu denkende absolute Identität angelegt, sondern findet in ihr spezifische, wenn auch unvoll60
61
62
Enzyklopädie (1830), § 56. In der zweiten Auflage (1827) hieß es noch: „... die einer Idee statt logischer Darstellung dienen ...“ womit Hegel auf die in Glauben und Wissen kritisierte Erörterung Kants hinweist, daß eine Vernunftidee nicht adäquat in der Anschauung darstellbar sei, daß die ästhetische Einbildungskraft solche Darstellung vergeblich versuche. Enzyklopädie (1830), § 560, auch im folgenden. Vgl. auch Ästhetik, a.a.O. 37 f, 49 ff, 280 ff. Vgl. zur Erläuterung der zitierten Stelle M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat. Berlin 1970, bes. 184 ff. Vgl. auch in Hegels Notizen zur Enzyklopädie (1817): „Schönheit – dann der Ausdruck einer Idee“, s. H. Schneider: „Hegels Notizen zum absoluten Geist“. In: Hegel-Studien 9 (1974), 22. In der zweiten und dritten Auflage hebt er deutlicher hervor, daß wegen der Unmittelbarkeit und Endlichkeit des Sich-Darstellens der Idee die Schönheit etwas „Formelles“, der besondere Inhalt unwesentlich werden kann. Hegel räumt – wie auch sonst in der Spätzeit – dem Zufall größeren Spielraum ein, ohne die spekulative Konzeption zu ändern. Zur entsprechenden Stelle (Enzyklopädie von 1830, § 559) vgl. M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist (s. vorige Anm.), 179 ff.
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5. HEGELS SPÄTE KANTKRITIK
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kommene Vorprägungen seiner Idee des Kunstschönen sowie der ästhetischen Versöhnung von Natur und Vernunft im Betrachten und Hervorbringen des Schönen. Die Theorien Schillers und des jungen Schelling werden nun differenzierter berücksichtigt und als eigene idealistische Positionen gewürdigt. Doch deutet Hegel sie ebenso wie die Kantische spekulativ um vor dem Hintergrund seiner Ästhetik; er sieht in ihnen verschiedene, über Kants Lehre hinausführende Stufen spekulativen Begreifens des Schönen als Vorbereitungen auf seine eigene Theorie. Ein Weg von Kant zu Hegel, der sich in neuerer Zeit freilich auf dem Gebiet der theoretischen und der praktischen Philosophie als fraglich erwiesen hat und den man am ehesten noch auf dem Gebiet der Ästhetik und ihrer rapiden, an Evidenzen reichen idealistischen Entwicklung hätte vermuten dürfen, eröffnet sich nur der Deutungsperspektive Hegels, stellt sich als spekulativ-idealistische Konstruktion heraus, die die grundlegenden Alternativen jener früheren Lehren, insbesondere der Kantischen verdeckt. Einerseits ist Hegels späte Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft also nicht immanent; andererseits deckt auch der späte Hegel z.T. über seine Jenaer Entwürfe noch hinausführende Fragen auf, die bei Kant nicht hinreichend entfaltet sind. So kann in einer Ästhetik Kunst kaum anhangsweise abgehandelt werden; sie hat für die systematische Anlage einer Ästhetik grundlegende Bedeutung. Wenn aber Ästhetik wesentlich zugleich Philosophie der Kunst ist, dann muß z.B. dem Genie in ihr eine zentralere Bedeutung zugestanden werden als bei Kant, der freilich nicht von jener Prämisse ausging. Erst nach Schellings Genieästhetik, aber auch in Abhebung von dieser lassen sich Geschmack und Genie als zwei systematisch gleichrangige Grundbestimmungen der Ästhetik erkennen und, wie Hegel es unternimmt, in einer höheren Einheit beider begründen. Jene höhere Einheit liegt für Hegel im geistigen, religiösen Inhalt des Kunstwerks. In Entfaltung seiner Jenaer Ansätze führt der späte Hegel seine Gehaltsästhetik systematisch aus. Sie ist, wie erwähnt,63 in der Lage, anders als Kants Ästhetik der reinen Form einen klar umrissenen ästhetischen Bedeutungsgehalt von Kunstwerken zu erfassen und als zum Kunstcharakter gehörig zu bestimmen; dies ließ selbst die Kantische ästhetische Idee und ihre Bedeutungsfülle nicht zu. Doch bringt Hegels Bestimmung, der wesentliche Inhalt der Kunst sei das Göttliche, auch Schwierigkeiten mit sich. Schon Hegels zeitgenössische, erst recht die spätere Kunst läßt sich damit kaum angemessen erfassen. Für Hegel ist die Kunst als Ausdruck von Wahrheit denn auch vergangen. Eine neue, nicht mehr spekulative, z.B. anthropologische Bestimmung des Inhalts der Kunst, wie sie etwa schon Vischer versuchte, wird erforderlich und mit ihr eine kritische, zwar gehaltsästhetische, aber das Eigenrecht der ästhetischen Form auch gegenüber dem Inhalt wahrende Revision der Hegelschen Gehaltsästhetik. – 63
Vgl. z.B. oben Abschnitt IV, Abs. 2 des vorliegenden Aufsatzes.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Der spekulative Gehalt der Kritik der Urteilskraft tritt für Hegel nicht nur in der Darlegung des Schönen und des Genies auf; dort bleibt er subjektiv und unbegriffen. Er findet sich nach Hegel ebenso als „unmittelbare Einheit des Begriffs und der Realität“ in der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen;64 und in der Vorstellung des intuitiven Verstandes schwebe Kant dieser Gehalt als Idee vor, ohne daß er sie als das Wahre zu erfassen vermöge.65 Wie in Glauben und Wissen sieht Hegel auch später in der Idee des intuitiven Verstandes die eigentliche Idee der Vernunft und des wahren, spekulativen Erkennens; für ihn ist darin die Einheit von Anschauung und Begriff sowie von Allgemeinheit und Besonderheit ausgesprochen; die Charakterisierung der inneren Bestimmungen des intuitiven Verstandes enthält gegenüber Glauben und Wissen keine neuen Aspekte. Auf die Herkunft dieser Idee aus der platonischen Tradition spielt auch der späte Hegel ohne ausdrückliche Hervorhebung an, wenn er im intuitiven Verstand den „intellectus archetypus“ erblickt.66 Es ist diese Tradition spekulativer Theologie, die Hegel eigentlich in Kants Lehre vom intuitiven Verstand aufnimmt und die er über die Wandlungen seiner Systemkonzeptionen hinweg bis in seine Spätzeit als paradigmatisch ansieht. – Für die Einfügung der Lehre vom intuitiven Verstand in die Philosophie des Organischen deutet Hegel ein spezifischeres Argument als in Glauben und Wissen an; mit der inneren Teleologie als der unmittelbaren Einheit von Begriff und Realität betrachten wir die Organismen „nach der Weise eines intuitiven Verstandes“.67 Die Abweichung von Kant ist charakteristisch. Nach Kant stellen wir uns Organismen „nach Maßgabe“ des intuitiven Verstandes als ursprüngliche Ganzheiten vor; aber da wir zu dessen Begreifen solcher Ganzheiten gerade nicht in der Lage sind, müssen wir den Begriff des Naturzwecks hierbei verwenden, der unserer diskursiven Erkenntnisart gemäß ist. In Hegels Darstellung dagegen vollziehen wir in der teleologischen Betrachtung der Organismen das Vorstellen des intuitiven Verstandes selbst. Der späte Hegel kritisiert wie in Glauben und Wissen, daß Kant diese Idee des intuitiven Verstandes nicht für die Wahrheit, sondern nur für einen inhaltlich negativen Gedanken ohne Realität hält. Zwar beschuldigt Hegel nun nicht mehr Kants „Natur“ als Grund für diese Ansicht, wohl aber dessen beharrliches Festhalten an der Endlichkeit unseres Verstandes und unserer Erkenntnis; dies bringt ihn für Hegel, der dabei von seiner Metaphysik-Konzeption ausgeht, in die Nachbarschaft des Empirismus. *** 64
65
66 67
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Theorie-Werk-Ausgabe. Bd. 20, 378. Vgl. auch Enzyklopädie (1830), § 57, § 360 Anm. Vgl. Vorlesungen, a.a.O. 380 f, auch 348, 374. Vgl. ferner Enzyklopädie (1827, 1830), § 55 Anm.; Ästhetik, a.a.O. (Anm. 53), 66. Vgl. Vorlesungen, 380. A.a.O. 381. Zum folgenden vgl. Kr.d.U. 349. – In Glauben und Wissen führte ganz allgemein die Betrachtung der organischen Natur auf die Idee des intuitiven Verstandes.
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5. HEGELS SPÄTE KANTKRITIK
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Wie schon in Glauben und Wissen deutet also auch der späte Hegel Kants Lehre vom intuitiven Verstand als Entwurf eines spekulativ-idealistischen Modells der Erkenntnis und der göttlichen Vernunft. In seiner eigenen Theorie führt er diesen Entwurf aber nicht mehr wie damals substanzmetaphysisch aus, sondern subjektivitätstheoretisch. Die absolute Subjektivität als die göttliche Idee bildet die systematische Grundlage sowohl für das Kunstschöne, das sinnlich-geistig vom Genie hervorgebracht und vom Zuschauer betrachtet wird, worin der Geist sich unmittelbar-anschaulich selbst versteht, als auch für den intuitiven Verstand, durch den der Geist oder die Idee sich selbst denkt. Daraus läßt sich entnehmen, was Hegel nicht eigens darlegt, daß die ästhetische Einbildungskraft und das Genie in ihrer Produktivität auf unmittelbare, anschaulich-sinnliche Weise vorstellen, was der intuitive Verstand auf höhere Weise in spontan konstituierenden Akten intellektuell erkennt. Dessen Erkennen ist eigentlich das Erkennen und Sich-Erkennen der Idee, die nicht mehr auf sinnlich-äußerliche Darstellung ihrer selbst im Kunstschönen angewiesen ist, sondern ganz bei sich bleibt, sich in höchster Klarheit rein denkend erfaßt und absolute Subjektivität in diesem reinen Denken ihrer selbst ist. Sie ist die subjektivitätstheoretisch gedeutete aristotelische und neuplatonische Noesis Noeseos sowie der in Hegels Theorie eingeformte intuitive Verstand. – Bei Kant stellt der intuitive Verstand synthetische Allgemeinheiten als Ideen und in diesen sich selbst vor; aber von solchem Erkenntnisinhalt und solcher Erkenntnisweise können wir uns nach seiner Theorie keinen inhaltlich bestimmten Begriff machen. Hegel unternimmt es in seiner spekulativen, speziell in seiner subjektiven Logik, die reale Möglichkeit und Bestimmtheit dieses Erkenntnisinhalts und dieser Erkenntnisweise aufzuzeigen. Die reale Möglichkeit und Erkennbarkeit der konkreten Allgemeinheit sucht er in der Begriffs-, Urteils- und Schlußlogik, insbesondere in der systematischen Darlegung der Schlüsse nachzuweisen, deren spekulativer Inhalt das innere Verhältnis der Begriffsbestimmungen des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen ist. Vollendet wird dieser Argumentationsgang erst mit der Explikation der dialektischen Methode in einem spekulativen Schluß, in dem erfüllte konkrete Allgemeinheit methodisch begriffen wird.68 Die Erkenntnisweise solchen Begreifens ist das reine Denken der absoluten Idee als reines Sich-Denken und Sichselbst-Erkennen. Hiermit wird von Hegel das Erkenntnisprogramm des intuitiven Verstandes, so wie er es versteht, spekulativ entfaltet. 68
Zur Ausführung dieser Auffassung sei erlaubt, auf meinen Beitrag zu verweisen: „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“. In: Hegels „Wissenschaft der Logik“. Formation und Rekonstruktion. Veröffentlichungen der internationalen Hegel-Vereinigung 16 (1986), 15-38 (s. vorliegenden Band I, 3). Zur Theorie der absoluten Subjektivität in Hegels spekulativer Logik vgl. vom Verf.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik (s. Anm. 44), bes. 213-346, 372 ff. – Zur folgenden Skizzierung der Weiterführung offener Kantischer Fragen durch Hegel darf verwiesen werden auf die Darlegung des Verfs.: “Constitution and Structure of Self-Identity: Kant’s Theory of Apperception and Hegel’s Criticism“. In: Midwest Studies in Philosophy 8 (1983), bes. 423 ff.
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ÄSTHETISCHE EINBILDUNGSKRAFT UND INTUITIVER VERSTAND
Hegel treibt mit dieser Theorie spekulativer, rein denkender Selbsterkenntnis der absoluten Subjektivität wieder Metaphysik als Wissenschaft; obwohl sie mit Kants Lehre grundsätzlich nicht vereinbar ist, bleibt eine Ebene gemeinsamer Fragen. Probleme der Subjektivität, die sich aus der Kantischen Lehre von der reinen Apperzeption ergeben, werden von Hegel weitergeführt. Er zeigt, daß ein notwendiger Zusammenhang bestehen muß zwischen Objektkonstitution im Mannigfaltigen durch das reine Denken einerseits und denkender Selbstbeziehung andererseits; und er zeigt, wie solche denkende Selbstbeziehung unter Vermeidung der unendlichen Iteration der Voraussetzung des reinen Selbst sowie unter Vermeidung eines Zirkels in der Definition kategorial zu entfalten ist. Ebenso führt er auch die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins fort. Und er macht evident, daß eine Ästhetik der reinen Form, wie Kant sie entwirft, nicht ausreicht für ein Verstehen und Begreifen von bedeutungsreichen, hochrangigen Kunstwerken, sondern daß sie letztlich in eine Gehaltsästhetik integriert werden muß. Kants Ansätze zu einer Theorie des rein denkenden endlichen Subjekts und Hegels Weiterentwicklung von dort offen gebliebenen Fragen in seiner spekulativen Theorie der absoluten Subjektivität, zu der wieder kritisch-idealistische Alternativen in Betracht zu ziehen sind, enthalten Möglichkeiten und Aufgaben einer neuen, die Erfordernisse der modernen Logik, Erkenntnistheorie und Ästhetik berücksichtigenden, ja sie vielleicht erst fundierenden Theorie der reinen endlichen Subjektivität. Die Evidenz von Hegels Auseinandersetzung mit Kant kann somit nur eruiert werden durch einen detaillierten geschichtlichen Vergleich mit Kants eigener Theorie und durch problembewußte, produktive Sicht auf ihre gemeinsamen Fragen, die auch unser Denken noch bestimmen.
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Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik Das Bild vom heiteren kunstliebenden antiken Griechenland, in dem große Einzelkunstwerke wie die griechischen Götterstatuen einer lebendigen Mythologie als einer Art Gesamtkunstwerk angehören und in dem das Leben der Polis-Bürger weitgehend durch harmonische Kunst geprägt ist, wird fraglich durch diejenige originär griechische Kunst, die diesem Bilde offenbar wenig entspricht, durch die attische Tragödie und ihre Darstellung unvermeidlicher tragischer Schicksale. Auch Hegel ordnet, wie selbstverständlich, in seiner Ästhetik die antike griechische Tragödie der klassischen Kunstform zu; doch ergeben sich hierbei grundlegende Probleme, die schließlich sogar die Konzeption seiner Ästhetik als ganzer betreffen. So stellt sich zum einen die Frage, wie die antike Tragödie das klassische Ideal erfüllen kann, das nach Hegel die griechische Skulptur in vollendeter Weise verwirklicht. Zum anderen tut sich das Problem auf, wie der heitere griechische Polytheismus, der den Hintergrund jener Skulpturen bildet, sich in der Tragödie verdüstern und diese gleichwohl klassische Kunst sein kann. Schließlich kann man der grundlegenden Frage nicht ausweichen, ob Hegel, wenn für ihn die Erfüllung des Ideals der Kunst mit der klassischen Tragödie und Komödie an ihr Ende kommt, damit die klassische Kunst und das ästhetische Ideal historisiert. Diese Fragen sollen im Folgenden erörtert werden. Dabei sei in einem ersten Teil vor dem Hintergrund platonistischer Begriffsprägungen die klassische Kunst als Erfüllung des ästhetischen Ideals betrachtet. In einem zweiten Teil soll Hegels Konzeption des Tragischen als eines Phänomens der griechischen Sittlichkeit und der notwendigen Dialektik dieser Sittlichkeit untersucht werden. Ein dritter Teil gilt der Bestimmung der Kunstform in der Darstellung dieses Tragischen, nämlich der griechischen Tragödie, die in ihrer Präsentation des Ideals in Handlung zugleich die Krise des griechischen Polytheismus herbeiführt. In einem vierten und letzten Teil soll erörtert werden, ob Hegel mit seiner Sicht auf das Zu-Ende-Gehen der Verwirklichung des ästhetischen Ideals in der klassischen Tragödie und Komödie eine Historisierung des Klassischen und des Ideals ins Auge faßt oder ob er gleichwohl an einer die Geschichtsepochen überdauernden Gültigkeit des Ideals und damit auch der klassischen Kunst festhalten kann.
1. Das Ideal und die klassische Kunst Die Ästhetik ist für Hegel wie für alle Idealisten wesentlich Philosophie der Kunst. Die Kunst aber hat die Aufgabe, das Göttliche in sinnlich-anschaulicher Gestalt darzustellen. Dies Göttliche wird von Hegel nicht als transzen-
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dent verstanden; es macht „die tiefsten Interessen des Menschen“ (Ästhetik I, 19)1 aus; so ist es der Grund intensivster Verehrung und zugleich der Erhebung des menschlichen Geistes zum in ihm gegenwärtig werdenden göttlichen Geist. In der Kunst aber ist dies Göttliche in sinnlicher Gestalt anwesend; so wird es der sinnlichen Anschauung und dem Gefühl nahegebracht und vertraut gemacht. Schon aus diesen Bestimmungen geht hervor, daß Hegels Ästhetik den Grundtypus einer Gehaltsästhetik erfüllt – im Gegensatz zum Grundtypus einer Ästhetik der reinen Form, wie er sich etwa in Kants Analytik des Schönen findet, in der die Bedeutung und der Gehalt des ästhetisch sich Darbietenden unwesentlich sind; für Hegel ist der entscheidende Inhalt der Kunst das Göttliche, das sich in sinnlich-anschaulicher Äußerlichkeit manifestiert. Solche anschaulich-äußere Gestalt aber erhält das Göttliche nur durch die von diesem Göttlichen beseelte Gestaltung des Künstlers. Hegels Gehaltsästhetik sieht also keineswegs von der künstlerischen Formgebung ab; sie ist dem Kunstwerk vielmehr wesentlich; aber sie beruht auf der spezifischen Auffassung oder der spezifischen Vision des Göttlichen, der der Künstler folgt. Diese ist nun eingebettet in eine Mythologie, die dem Künstler mit den Betrachtern oder den Zuschauern gemeinsam ist; das Kunstwerk steht nicht einsam für sich, sondern wendet sich an sie. Die Ästhetik Hegels ist damit weder einseitig dem Grundtypus einer Künstler- oder Genieästhetik, noch einseitig dem Grundtypus einer Geschmacks- oder Rezeptionsästhetik verhaftet; sie verbindet vielmehr beide Grundtypen durch den Ansatz eines übergreifenden religiös-mythologischen Erfassens von Kunst durch den Künstler und den Betrachter. Je nachdem nun, wie das Göttliche verstanden wird, kann es in ganz verschiedener Weise dem sinnlich Gegebenen eingebildet werden. Wenn aber die Bedeutung des Göttlichen in sich selbst enthält, daß es sich in einer bestimmten sinnlichen Gestalt ganz manifestiert und darin zu erfüllter plastischer Anschauung gelangt, dann tritt es als das reine Schöne der Kunst zutage. Dieses reine Schöne der Kunst bestimmt Hegel als das „Ideal“. Die Begrifflichkeit, die Hegel in dieser philosophischen Bestimmung des Kunstschönen verwendet, ist platonisch geprägt, obwohl die hohe Bedeutung, die Hegel der Kunst verleiht, keineswegs der Auffassung Platons, sondern derjenigen eines ästheti1
G.W.F. Hegel: Ästhetik. Hrsg. von G. Bassenge mit einer Einführung von G. Lukács. Berlin – Weimar 1955; 2. Aufl. Berlin und Weimar o.J. 2 Bde. Die römische Ziffer bezieht sich auf die Bandzahl, die arabische auf die Seitenzahl. – In Hothos Manuskript heißt es: „die höchsten Interessen des Geistes zum Bewußtsein zu bringen“ (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H.G. Hotho. Hrsg. (mit einer Einleitung) von A. Gethmann-Siefert. Hamburg 1998, 4. Die Abkürzung lautet: Ms. Hotho (G.-S.). – Zu den im folgenden erwähnten Grundtypen der Ästhetik, speziell zur Genieästhetik Schellings und zu Kants Formästhetik mag der Hinweis erlaubt sein auf die Darlegungen des Verfs. in „Schellings Genieästhetik“. In: Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Stuttgart 1988. Bd. 1, 193-213, sowie in “Beauty as the Transition from Nature to Freedom in Kant’s Critique of Judgment”. In: Nous 24 (1990), 79-92.
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1. DAS IDEAL UND DIE KLASSISCHE KUNST
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schen Platonismus entspricht, wie er u.a. im Platonismus der Renaissance vertreten wurde und wie er offenbar den anschaulichen Beschreibungen Winckelmanns und in dessen Gefolge Schillers zugrunde liegt. Das Ideal ist – wie für Kant – die Idee, die als ein Individuum existent ist; dies trifft nach Kant für die Gottesidee zu. Hegel faßt aber – wie Schiller – das Ideal wesentlich als ästhetisches auf; so ist es die Idee, die in der schönen sinnlich-äußerlichen Einzelgestalt gegenwärtig ist. Die Idee ist der philosophische Terminus für das in den verschiedenen Religionen in verschiedener Weise verehrte Göttliche. Der Künstler schafft also im Anblick der Idee die ihr entsprechende schöne sinnliche Gestalt, in der sie ganz gegenwärtig und anwesend ist. Eine solche Auffassung, wie sie etwa im Renaissance-Platonismus vorkam, kann immerhin an Platons Phaidros anknüpfen, nach dessen Darstellung gerade die Schönheit das „Hervorleuchtendste“ und „Liebreizendste“ (nach der Paginierung von Henricus Stephanus 250e) ist, in dessen Licht sich der „selige Chor“ der Götter bewegt, die jeweils Ideen repräsentieren. Der junge Hegel hatte wie Hölderlin Platons Phaidros intensiv studiert und zeitweise offenbar einen ästhetischen Platonismus vertreten, in dem die Idee des Schönen die höchste Idee ist.2 Diese Art des Platonismus, die mit Grundzügen des RenaissancePlatonismus übereinkommt, schränkt Hegel später auf die Philosophie der Kunst ein; doch in dieser bildet er immer noch die Grundlage. Die Idee, die in der Kunst die Gestalt des Ideals des Schönen gewinnt, muß jedoch in genuin Hegelschem Sinne verstanden werden; sie ist die Einheit von begrifflicher Subjektivität und dieser gegenüberstehender realer Objektivität. Der Bedeutungsgehalt des Göttlichen in der Kunst ist dann zu begreifen als Subjektivität und Selbstbewußtsein, wie es nach Hegel noch nicht dem orientalischen Göttlichen und anonymen Numinosen, sondern erst griechischen Göttern als reiner gedanklicher Gehalt zukommt; er findet seine erfüllte, vollständige Manifestation in der realen Objektivität der künstlerisch geformten sinnlich-äußeren Gestalt, z.B. dem Götterbild. Deshalb bestimmt Hegel dieses vollendete Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Kunstschönen – mit einer Erinnerung an die Adäquationstheorie der Wahrheit – als vollkommene oder adäquate Entsprechung beider Seiten; in solcher Schönheit des Ideals ist nämlich zugleich die Wahrheit der Kunst, auf die in Hegels Gehaltsästhetik keineswegs verzichtet werden kann, zustande gebracht. 2
Vgl. Hegel: Theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Nachdruck Frankfurt a.M. 1966, 378; ferner: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. In: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hrsg. von R. Bubner (= Hegel-Studien. Beiheft 9). Bonn 1973, 264: „Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen“. – Zur Theorie des Schönen im Renaissance-Platonismus vgl. bes. W. Beierwaltes: Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus. Heidelberg 1980. Zu Hölderlin und Hegel mag hier der Verweis gestattet sein auf die Studie des Verfs.: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Homburg v.d.H. in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981, 101-117 (s. vorliegenden Band IV, 1).
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Diejenige Kunst, die dieses Ideal zu realisieren vermag und geschichtlich realisiert hat, ist die klassische griechische Kunst. Anders als etwa Heidegger, dessen Denken bis heute nachwirkt, deutet Hegel diese griechische Kunst keineswegs in Gegenwendung gegen neuzeitliches Subjektivitätsverständnis; vielmehr erhält für Hegel erst in der griechischen Kunstreligion das Göttliche den Charakter des dem Menschen verständlichen und vertrauten geistigen Selbstbewußtseins, wie es dem Menschen selbst eignet. Die spezifische sinnliche Gestalt, in der solches Selbstbewußtsein allein erscheinen kann, ist die menschliche Gestalt. Sie wird in erfüllter Anschaulichkeit geformt vom bildenden Künstler in der Skulptur. Die signifikante Einzelkunst der klassischen griechischen Kunst ist daher für Hegel die Skulptur. Sie stellt das geistige Selbstbewußtsein eines griechischen Gottes in vollendeter, d.h. nicht in mimetischer, sondern in idealisierender, aber die wesentlichen Naturzüge wahrender Modellierung in menschlicher Gestalt dar. Den ästhetischen Charakter dieser Götterstatuen beschreibt Hegel generell wie Winckelmann als hoheitliche Ruhe und ewige Einigkeit mit sich; Hegel sieht aber durchaus eine geschichtliche Entwicklung von der älteren Strenge zur jüngeren Gelöstheit und Anmut der Gestalten.3 Das Ideal des Schönen kann in der klassischen Kunst also durchaus in einer gewissen Bandbreite ästhetisch unterschiedlicher Darstellungen verwirklicht werden. Entscheidend ist für Hegel, daß „die Idee des Schönen in ihrem wirklichen Dasein wesentlich als konkrete Subjektivität und somit als Einzelheit aufzufassen“ ist (Ästhetik I, 147), daß also dieser Gehalt vollendete, nämlich adäquate sinnliche Darstellung in einer einzelnen menschlichen Gestalt findet. Der Hintergrund dieser Skulpturen der klassischen griechischen Kunst ist nun der Polytheismus, dem Hegel – wie Schiller – in ästhetisch grundlegender Bestimmung Heiterkeit zuschreibt. Es ist der bunte Kreis der Homerischen Götter, denen es mit ihren Auseinandersetzungen untereinander nicht ernst ist, die nebeneinander bestehen bleiben und in diesem Nebeneinander von den Menschen verehrt werden können. Hegel setzt hierbei voraus, daß die Griechen den Glauben pflegten, in den Götterstatuen seien die Götter selbst präsent, so daß diese Statuen Gegenstand religiöser Verehrung waren, was schon für die klassische Epoche Griechenlands, erst recht für die nachklassische Zeit nicht mehr zutraf. – Das griechische Verständnis des Göttlichen geht zwar über das archaische hinaus, das das Göttliche als ein in sich noch unbestimmtes Numinoses und Substantielles auffaßt, welches das All durchwaltet; es versteht das dem Menschen Höchste und Absolute, das Göttliche, als geistiges Selbstbewußtsein; dieses aber bleibt ein endliches, insofern es in der farben3
Vgl. Ästhethik II, 162 ff. Vgl. zu der These, Hegel folge in seiner Auffassung von der klassischen Kunst im wesentlichen dem Klassizismus Winckelmanns, H. Kuhn: „Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel“. In ders.: Schriften zur Ästhetik. Hrsg. von W. Henckmann. München 1966, 15-144. Zu Hegels ästhetischer Wertung antiker Skulpturen, die diese Klassizismus-These erschüttert, vgl. O. Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger. Freiburg – München 1984, 189-207.
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2. DAS TRAGISCHE ALS PHÄNOMEN DER GRIECHISCHEN SITTLICHKEIT
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frohen Vielheit von besonderen Göttern auftritt. Die so verstandene Idee, dieses Göttliche, das sich über die unbestimmte Substantialität erhebt, diffundiert in die vielen geistigen und endlichen Götter, die nebeneinander ein seliges, unsterbliches Leben führen und denen sinnliche Darstellung und Gegenwart im Verständnis der Menschen noch immanent notwendig sind. Das Göttliche als Geist konzentriert sich noch nicht in seine ihm eigene Einheit.
2. Das Tragische als Phänomen der griechischen Sittlichkeit Die Skulptur als signifikante Einzelkunst der klassischen Kunstform stellt nach Hegel das Ideal in Ruhe dar. Soll nun auch die attische Tragödie der klassischen Kunstform als Einzelkunst zugeordnet werden, so entsteht das Problem, daß in ihr ebenfalls das Ideal dargestellt werden muß; dies kann dann aber nur das Ideal in einer ganz anderen Verfaßtheit sein; es ist nach Hegel das Ideal in Handlung. Kommt dieses zur Darstellung, so ergeben sich darin notwendig tragische Konflikte und Schicksale. Hierbei muß man allerdings das Tragische als Phänomen der griechischen Sittlichkeit, wie Hegel es konzipiert, von der Tragödie als der geeigneten Kunstform der Darstellung dieses Tragischen unterscheiden. Die Tragödie ist – Hegels Gehaltsästhetik gemäß – gehaltvoller als die Skulptur, weil sie der geistigsten, in sprachlichen Bedeutungen sich äußernden Einzelkunst, der Poesie, zugehört, weil sie zudem als dramatische Kunst die inneren Absichten und Gesinnungen der Handelnden darzustellen vermag und schließlich weil sie in besonderer Weise religiös bedeutsame Kunst ist, nicht nur durch ihre Aufführung an religiösen Festen, sondern vor allem, weil in ihr zutiefst bewegende Grundprobleme griechischen Götterverständnisses gestaltet werden. Das Tragische, zu dem nach Hegel das Ideal in Handlung notwendig führt, gehört nun zu einem bestimmten Weltzustand, zu dem der vorklassischen, archaischen griechischen Sittlichkeit, in dem das Gelten von Recht und Sittlichkeit auch in den davon geprägten Sitten und Institutionen noch wesentlich oder sogar allein von einzelnen großen Personen oder Heroen abhängig ist, die solches Recht und solche Sittlichkeit öffentlich vertreten. Das Sittlichkeitsund Handlungsbewußtsein dieser großen Personen oder Heroen trennt das eigene subjektive Wissen und Wollen noch nicht vom Erfolg und den Folgen des Handelns ab, sondern betrachtet sich als ganz dafür verantwortlich; es zieht sich nicht auf die subjektive gute Absicht und sittliche Gesinnung zurück, die in seiner Macht steht, um sich von den möglicherweise unerwünschten oder gar verderblichen Folgen des Handelns, die es nicht überschaut und die nicht in seiner Macht stehen, zu dispensieren. In der griechischen Sittlichkeit, wie Hegel sie deutet, steht der große, Recht und Sittlichkeit in seiner Person garantierende Mensch sowohl für die Seite des subjektiven Wollens als auch für die Seite der wirklichen Tat und ihrer Folgen vollständig ein. Weil hier das subjektive Wollen noch nicht abgetrennt und als allein in die Verant-
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wortung der Person fallend für sich gesetzt wird, wie dies im modernen Person-Verständnis geschieht, spricht Hegel auch von substantieller griechischer Sittlichkeit; sie bedeutet, daß jenes subjektive Wollen integriert ist in das ganzheitliche Bestehen von Sitte und Recht, mit dem sich eine heroische Person jeweils identifiziert. Doch ist das sittliche Bewußtsein solcher Personen endlich; sie identifizieren ihr Wissen, Wollen und Handeln nur mit einer bestimmten, damit aber auch begrenzten und einseitigen sittlich-göttlichen Macht, in die sie ihr „Pathos“ setzen. Damit verletzen sie durch ihr Beschließen und ihr wirkliches Tun eine entgegengesetzte, ebenfalls einseitige sittlich-göttliche Macht. So entsteht notwendig ein Konflikt, der tragisch ist, da in ihm ein großes Individuum unschuldig-schuldig wird. Auf ganz allgemeine Weise zeigt sich dieser Konflikt am Sophokleischen Ödipus. Er vertritt als derjenige, der das Rätsel der Sphinx löste, das Prinzip der Klarheit und des selbstbewußten Wissens im Handeln, d.h. die lichte sittliche Macht des Tages in den Göttern Phöbus und Zeus. Da diese Macht aber begrenzt ist, erliegt er, wie Hegel schon in der Phänomenologie von 1807 skizziert4, unbewußt und ohne sein Wissen der Macht des Verborgenen, der unteren Götter, indem er unwissend heilige Familiengesetze verletzt. – Spezifischer, inhaltlich bestimmter und sittlich profilierter ist für Hegel der Konflikt zwischen Antigone und Kreon. In Sophokles’ Antigone sieht er „das absolute Exempel der Tragödie“,5 weil hier das Tragische als unvermeidliches Ingrediens griechischer Sittlichkeit am reinsten hervortritt. Antigone folgt, indem sie ihren getöteten Bruder Polyneikes begräbt, der sittlichen Macht der unteren Götter, der Familiengötter. Aber sie verletzt damit wissentlich Kreons Edikt und damit öffentlich-staatliche Gesetze, die unter Zeus’ Schutz stehen; sie nimmt mit Bewußtsein eine unvermeidliche tragische Schuld durch ihr sittlich und religiös berechtigtes, aber einseitiges Handeln auf sich. Hegel interpretiert Kreons Handeln ebenfalls als bestimmt durch griechische Sittlichkeit, die notwendig zum tragischen Konflikt führt; Kreon folgt allein dem politischen, öffentlichen Recht und Gesetz und somit Zeus’ Willen und verletzt dadurch die unteren Familiengötter und die von ihnen geforderte sittliche Pietät. So treten hier zwei Heroen, deren „Pathos“ in jeweils entgegengesetzten, aber gleichberechtigten sittlich-göttlichen Mächten liegt, einander im Konflikt gegenüber; und sie müssen, dies ist ihr tragisches Schicksal, wegen ihrer Einseitigkeit wechselseitig zugrunde gehen.6 4
5
6
Vgl. Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke (= GW). Bd. 9, 394. Vgl. auch Ästhethik I, 211 f. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 1927. Nachdruck Hamburg 1966. Bd. 2. Halbband 1, 156. Vgl. auch GW 9, 255; Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 41955, § 166 Anm., sowie Ästhethik I, 218, 448; II, 568 u.ö.; auch Ms. Hotho (G.-S.). 306 f. Zu Hegels Deutung des Tragischen bei Sophokles, speziell in der Antigone, und zu Hegels Tragödientheorie vgl. die z.T. kritischen Darlegungen von K. v. Fritz: „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In ders.: Antike und moderne Tragödie. Berlin 1962, 1-112; O. Pöggeler: „Hegel und die griechische Tragödie“. In: Heidelberger
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2. DAS TRAGISCHE ALS PHÄNOMEN DER GRIECHISCHEN SITTLICHKEIT
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Diese Antigone-Deutung Hegels, insbesondere die Aufwertung Kreons, die als mit Sophokles’ eigener Darstellung unvereinbar schon oft kritisiert wurde, befindet sich freilich in signifikanter Gemeinsamkeit mit Hölderlins Deutung, was vielleicht auf ihre früheren gemeinsamen Bemühungen in Frankfurt zurückgehen mag; auch Hölderlin sieht in den Anmerkungen zu seiner Sophokles-Übersetzung Antigone und Kreon als Repräsentanten gleichberechtigter gegensätzlicher Mächte an; das „Unförmliche“, wie Hölderlin sagt, das gesetzlose Gottesverhältnis, das Antigone vertritt, „entzündet sich an Allzuförmlichem“,7 am Gesetzesformalismus und der darin begründeten Gottesverehrung Kreons. Im einzelnen sind für Hölderlin diese Gegensätze allerdings kaum spezifisch sittlich, sondern wesentlich religiös-politisch bestimmt; und auch der tragische Konflikt selbst wird von Hölderlin deutlicher als von Hegel in den geschichtlich-religiösen Ereignissen einer Epochenwende in Theben begründet. Hegel konzipiert also den für ihn paradigmatischen tragischen Konflikt, den Gegensatz von Antigone und Kreon, als Konflikt einander entgegengesetzter, gleichberechtigter sittlich-göttlicher Mächte. Die Entstehung, die Ausfechtung und die Auflösung solcher tragischen Konflikte erfüllen die Hegelschen Bedingungen dialektischer Entwicklung. Aus einem ursprünglich in sich einigen substantiellen sittlichen Ganzen gehen durch reale Setzung einer sittlichen Bestimmtheit, die in solcher Substanz liegt, die aber begrenzt und einseitig ist, sowohl eine derartige einseitige sittlich-göttliche Macht als auch ihr konträres Gegenteil hervor. Diese einander entgegengesetzten Mächte, in die das ursprüngliche sittliche Ganze damit zerfällt, kämpfen in den großen Individuen gegeneinander, die jeweils in eine dieser Mächte ihr „Pathos“ setzen, also z.B. in Antigone und Kreon. Der tragische Konflikt braucht sich nicht unbewußt und ohne Wissen der betroffenen Heroen zu ereignen; sie können auch wie im Falle Antigones und Kreons ein klares Bewußtsein von ihrer tragischen Schuld haben und wissen, daß sie, indem sie jeweils ihrer göttlich-sittlichen
7
Hegel-Tage (= Hegel-Studien. Beiheft 1). Bonn 1964, 285-305, auch Chr. Axelos: „Zu Hegels Interpretation der Tragödie“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 19 (1965), 655-667; H. Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Wiesbaden 1983, 379 ff; V. Hösle: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 2327; F. Chiereghin: „Über den tragischen Charakter des Handelns bei Aristoteles und Hegel“. Übersetzt von B. Faber. In: Eros und Eris. Contributions to a Hermeneutical Phenomenology. Liber amicorum for Adriaan Peperzak. Hrsg. von P. van Tongeren u.a. Dordrecht – Boston – London 1992, 39-56; Chr. Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996, bes. 82, 83 ff, 156 ff; G. Cantillo: „Filosofia e sapere tragico“. In ders.: Le forme dell’ umano. Studi su Hegel. Neapel 1996, 177-187. Hegel nahestehend ist die Deutung des Tragischen bei P. Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer. Übersetzt von J. Greisch u.a. München 1996, 293-302 (ders.: Soi-même comme un autre. Paris 1990). Vgl. ferner Changyang Fan: Sittlichkeit und Tragik. Zu Hegels Antigone-Deutung. Bonn 1998. Erlaubt sei auch der Hinweis auf die Darlegung des Verfs.: „Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel“. In: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (18041806). Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Bonn 1988, 55-82. F. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von F. Beißner. Stuttgart 1943 ff. V, 271.
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Macht folgen, die entgegengesetzte verletzen müssen. Jede Seite hat auf diese Weise die entgegengesetzte an ihr selbst. Dadurch aber geht die Einseitigkeit der sittlich-göttlichen Macht und in eins damit das heroische Individuum, das sich mit ihr identifiziert, tragisch, nämlich unschuldig-schuldig zugrunde. Das Verschwinden dieser einseitigen Mächte aber bedeutet, wie Hegel schon in der Phänomenologie sagt, das Aufgehen des „allmächtigen und gerechten Schicksals“ 8 oder einer sittlich bestimmten höheren Gerechtigkeit. In der Ästhetik unterscheidet Hegel diese dann noch von der episch dargestellten Nemesis, die nur einen abstrakten Ausgleich von Glück und Unglück oder Hohem und Tiefem auf einem mittleren Niveau zustande bringt. Mit jener höheren, sittlichen Gerechtigkeit ist schließlich die aus der Entgegensetzung der sittlich-göttlichen Mächte und ihrer Individuen hervorgehende höhere Einheit als positives Resultat der ganzen dialektischen Entwicklung erreicht.
3. Dialektik der Sittlichkeit und Krise des Polytheismus in der klassischen Tragödie Die geschilderte Dialektik griechischer Sittlichkeit wird nun in adäquater Weise an den tragischen Schicksalen der Heroen in der klassischen Tragödie dargestellt; zwar kann auch in anderen Einzelkünsten das Tragische zum Inhalt werden; aber nur in der Tragödie wird es in den sich selbst mit ihren Absichten und Gesinnungen aussprechenden und nach ihnen handelnden Helden sowie in deren Kollisionen und in deren Untergang sinngerecht und lebendig gestaltet. In der Tragödie als der eigentlichen Kunstform der Darstellung des Tragischen wird daher ein tragisches Schicksal nicht mehr einfach erlebt und erlitten; es wird vielmehr vor den unmittelbar begreifenden Zuschauern auf der Bühne anschaulich-dramatisch vorgeführt. Diese erkennen darin oftmals die sittlichen Zustände und Verwicklungen ihrer eigenen Vergangenheit. Die Tragik und die Dialektik der Sittlichkeit werden durch die Tragödie auf eine höhere Stufe des Verstehens erhoben; die Zuschauer erleiden nicht wie die dargestellten Heroen das Walten der Götter, sondern begreifen unmittelbar dessen tragischen Sinn. Das Göttliche ist dabei zugleich in der höheren Weise anwesend, daß es sich in der Kunst zu verstehen gibt; die Sphäre der Kunst geht über die Sphäre einfacher Sittlichkeit und ihrer Tragik hinaus und gehört nach Hegel zum absoluten Geist, der in ihr freilich nur ein unmittelbares, nämlich konkretanschauliches Wissen von sich gewinnt. Es ist dasjenige Wissen, das den Zuschauern und dem Künstler auf dem Boden der Mythologie gemeinsam ist. Die antiken griechischen Tragödien gehören nun nach Hegel zur klassischen Kunst-Religion.9 Sie stellen unmittelbar anschaulich die Gegenwart und 8 9
GW 9, 256; vgl. zum folgenden Ästhethik II, 567 f, auch Ms. Hotho (G.-S.), 301. Das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion wird in Hegels Philosophie des Geistes systematisch endgültig erst in der dritten Auflage der Enzyklopädie (1830) geklärt (vgl. § 552 Anm.).
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3. DIALEKTIK DER SITTLICHKEIT
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das Wirken göttlich-sittlicher Mächte in den Heroen dar, die von Schauspielern verkörpert werden und die als menschliche Individuen sich mit jeweils einer dieser Mächte identifizieren. Es ist ein bestimmter Gott selbst, der in einem Heros auftritt. Indem die Heroen handeln und in schicksalhafte Kollisionen geraten, treten die sich darin manifestierenden Götter selbst in ernste Konflikte ein. Dies ist, philosophisch gedeutet, die Darstellung des Ideals in Handlung innerhalb der griechischen Tragödie als klassischer Einzelkunst. Hegel hebt den klassischen Charakter solcher Tragödien gelegentlich auch durch bestimmte Vergleiche hervor. Die unbeugsamen Charaktere der Helden, die eine bestimmte göttlich-sittliche Macht ganz internalisieren und diese in ihrem Handeln, in ihrem Leben und in ihrem Untergang ungebrochen realisieren, sind für Hegel in ihrer Gediegenheit und Plastizität wie griechische Götterskulpturen.10 Sie repräsentieren das geistige Selbstbewußtsein eines Gottes in ihrer individuellen Gestalt, wie die Tragödie sie in Handlungen und Konflikten darstellt. Parallel dazu führt Hegel einen weiteren Vergleich auf. Wie der griechische Tempel die klassischen Götterbilder umgibt, so bildet der Chor in der Tragödie die „geistige Szene“ (Ästhetik II, 563; vgl. Ms. Hotho (G.-S.), 303) für die handelnden Helden. Voraussetzung hierfür ist, wie noch zu zeigen sein wird, daß der Chor für Hegel ein wesentliches Moment der griechischen Tragödie ausmacht. – Diese Vergleiche sollen also die Zugehörigkeit der griechischen Tragödie zur klassischen Kunst und den Idealcharakter der Heroen hervorheben. In der klassischen griechischen Tragödie steht den handelnden Helden der Chor gegenüber, der die allgemeine Grundlage des Sittlichen, aus der die Helden selbst hervorgehen, bedeutet und der damit nach Hegel die zuständliche, unbewegte Sittlichkeit des Volkes repräsentiert. Er handelt selbst nicht, greift nicht in die Konflikte ein, sondern reflektiert nur darüber. Seine Äußerungsweise ist in der Tragödie daher nicht dramatisch, sondern lyrisch. Die Weisheit des Chores aber ist diejenige des den Konflikten vorausgehenden, alten polytheistischen Götterglaubens. So bleibt dem Chor in seinen Betrachtungen des Geschehens die Notwendigkeit der Kollisionen der Helden und ihrer göttlich-sittlichen Mächte im Grunde fremd; denn er hält an der bloßen Verschiedenheit der Götter fest, die in konfliktlosem Nebeneinander verehrt werden können; und dies sind die Götter der substantiellen Sittlichkeit einer archaischen Gesellschaft. Daher schreibt Hegel die Affekte der Furcht vor dem in den Kollisionen hereinbrechenden Schicksal und des Mitleids mit den leiden-
10
Danach gehört die Sittlichkeit im Staat zum objektiven, die Religion zu dem ihm überlegenen absoluten Geist; aber innerhalb dieser gibt es eine religiös fundierte Sittlichkeit, in der Moderne: die Sittlichkeit des Gewissens, die der Sitte und den Gesetzen der Institutionen des Staates übergeordnet ist. Vgl. Ästhethik I, 235, auch II, 548 und unbestimmter I, 217 (nur sehr allgemein im Ms. Hotho (G.-S.), 302, 305); klarer ist der Vergleich 1820/21, s. G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. 1. Textband. Hrsg. von H. Schneider. Frankfurt a.M. usw. 1995, 322.
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den Helden zuerst dem Chor zu, dessen Mitglieder die Zuschauer innerhalb der Tragödie selbst sind.11 Gleichwohl ist der Chor als Repräsentant der archaischen Sittlichkeit und des alten Polytheismus ein notwendiger Boden innerhalb der griechischen Tragödie, auf dem als Grund und vor dem als Folie die Konflikte der Heroen ihre Plastizität und sittlich-religiöse Brisanz gewinnen. Den Verfall des Chores in der späteren Tragödie betrachtet Hegel daher als Zeichen des Verfalls der klassischen Tragödie überhaupt. Anders als Schiller in der Braut von Messina und in der Vorrede dazu betont Hegel jedoch, daß in modernen, der romantischen Kunstform angehörigen Tragödien die Restitution des Chores künstlich ist, da er für die modernen, rein aus subjektivem Wissen und Wollen handelnden Charaktere nicht mehr die archaische Sittlichkeit des Volkes als das substantiell Zugrundeliegende für die Handlungen und Konflikte in der Tragödie repräsentieren kann. Über diese substantielle, konfliktlose Sittlichkeit und ihren Polytheismus, der bei Hegel im wesentlichen zugleich der Polytheismus der in den Götterskulpturen gestalteten Homerischen Götter ist, gehen die handelnden Heroen und die in ihnen inkarnierten sittlich-göttlichen Mächte hinaus. Der von Hegel – mit Schiller – als bunt und heiter apostrophierte griechische Polytheismus verdüstert sich in der Tragödie. Durch die Dialektik der griechischen Sittlichkeit wird die Entgegensetzung der jeweils einseitigen sittlich-göttlichen Mächte oder Götter notwendig, und damit werden die Konflikte der Heroen unausweichlich. Diese Dialektik bringt ferner die Tragik der Heroen notwendig mit sich; die realen Entgegensetzungen und Kollisionen der sittlich-göttlichen Mächte in den Heroen fordern deren Untergang als Individuen. Die Tragödie zeigt jedoch zugleich, daß dieser Untergang nicht bloß Grauen und Schrecken erregend oder entsetzlich und sinnlos ist; er ist vielmehr sittlich berechtigt und führt auf eine höhere Ebene der Sittlichkeit, da der Untergang der Heroen, die jeweils einer begrenzten, einseitigen sittlich-göttlichen Macht folgten und damit die entgegengesetzte verletzten, zugleich das Zutagetreten einer schicksalhaften höheren Gerechtigkeit bedeutet, in der jene Einseitigkeiten aufgehoben sind. Im inhaltlichen Verstehen dieses Prozesses liegt nach Hegel bei den Zuschauern die von Aristoteles geforderte Reinigung der Affekte der Furcht und des Mitleids sowie das unmittelbare Einleuchten einer tragischen Versöhnung. Dies ist ein höheres Verständnis, zu dem der im alten Polytheismus verharrende Chor nicht gelangt. Hegels Lehre von der tragischen Versöhnung ist kein Ausweichen vor der Härte und Unerbittlichkeit der Kollisionen und des Zu11
Vgl. vor allem GW 9, 392 f, Ästhethik II, 562 f. In der Phänomenologie äußert sich Hegel zum antiken Chor dem Tenor nach kritischer als später. Schiller übersteigert und enthistorisiert nach Hegels Auffassung die Bedeutung des Chores, wenn er ihn als „Riesengestalt“ betrachtet, durch die die Handelnden allererst „tragische Größe“ erhalten (F. Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von G. Fricke und H.G. Göpfert. München 1958 ff. Bd. II, 822). Zu Schillers Tragödientheorie vgl. G. Pinna: “Il sublime in scena. Sulla teoria schilleriana della tragedia”. In: Strumenti critici 14 (1999), 175-203, ebenso W. Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln 1967, bes. 121-205.
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nichtewerdens; die Trauer über das Zugrundegehen von Individuen bleibt. Die tragische Versöhnung ergibt sich aber notwendig aus der Dialektik der Sittlichkeit und ihres religiösen Pendants.12 In der Phänomenologie hebt Hegel die religionsphilosophische Konsequenz deutlicher hervor als später; die Entgegensetzungen der Götter, das Zugrundegehen ihrer Einseitigkeiten und das Auftreten des gerechten Schicksals führen eine „Entvölkerung des Himmels“ 13 herbei. Die Tragödie stellt insofern die Krise des vormals heiteren Polytheismus dar und enthält darin eine Tendenz zum Monotheismus, den sie freilich selbst nicht mehr zu gestalten vermag. – In der Ästhetik bleibt dieser Gedanke einer höheren sittlichen Gerechtigkeit, die über den Polytheismus hinausführt, erhalten; er tritt aber zurück hinter die speziell ästhetische Konzeption, daß die attische Komödie über das Verständnis des Göttlichen in der attischen Tragödie noch hinausführe. In jener Komödie werden die Götter vollständig ihres den Menschen beherrschenden Machtcharakters beraubt; der Mensch in seiner Endlichkeit und Zufälligkeit wird ironischerweise ihr Meister; so werden sie vollständig subjektiviert und können nicht mehr als Ideale dargestellt werden.14 Soll Kunst als Darstellung des Göttlichen gleichwohl weiterhin möglich sein, so kann dies nur aufgrund eines weltgeschichtlich neu auftretenden Prinzips der Gottesverehrung im Inneren der Subjektivität selbst geschehen, wie es Hegel im Christentum sieht.
4. Geschichtlichkeit und Paradigmencharakter der klassischen Kunst Die klassische Kunstform vollendet sich nach Hegel in der Skulptur; diese ist die signifikante Einzelkunst der klassischen Kunstform. Insbesondere die griechischen Götterstatuen realisieren nach Hegel das ästhetische Ideal; sie brin12
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14
Hegels Theorie wird exemplarisch realisiert in der Antigone, wie er sie deutet. Nicht immer aber müssen die Heroen in einer griechischen Tragödie untergehen; das Tragische wird dann nicht rein dargestellt; in den Eumeniden des Aischylos geht der Heros nicht unter, und die entgegengesetzten Götter werden versöhnt, was Hegel mehrfach interpretiert; im Ödipus auf Kolonos wird der erblindete ehemalige König zum Seher, der am Ende entrückt wird, ein versöhnender Schluß, der, wie Hegel sagt, an christliche Versöhnung gemahnt. Eine ähnliche Auffassung scheint bei Hölderlin angedeutet zu sein. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd. 2. Halbband 1, 157; Hölderlin: Sämtliche Werke, a.a.O. (Anm. 7). Bd. V, 270. Zur Deutung sei der Hinweis gestattet auf die Darlegung des Verfs.: „Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel“, a.a.O. (Anm. 6), 64 f. GW 9, 396. Hierzu mag der Hinweis auf den fünften Vortrag über „Vollendung und Ende der klassischen Kunst. Hegels Ästhetik“ erlaubt sein in ders.: Hegel e l’antichità classica. Napoli 2001, 97-115. Zu Hegels Theorie der Komödie vgl. den Beitrag von Annemarie Gethmann-Siefert: „Drama oder Komödie? Hegels Konzeption des Komischen und des Humors als Paradigma der romantischen Kunstform“. In: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert u.a. München 2005, 175-187. – Den letzten Ausläufer zu Ende gehender klassischer Kunst sieht Hegel an anderer Stelle in der römischen Satire (vgl. Ästhethik I, 493 ff, vgl. auch II, 552, Ms. Hotho (G.-S.), 178 f.
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gen das geistige Selbstbewußtsein eines Gottes zu adäquater sinnlicher Darstellung in einer menschlichen Einzelgestalt, die in zurückhaltend idealisierender Weise modelliert wurde. Hierin wird das Ideal in Ruhe geformt, dessen Hintergrund der heitere griechische Polytheismus ist. Die klassische Tragödie dagegen setzt einen weiterentwickelten Standpunkt voraus; sie stellt das Ideal in Handlung dar und damit in den Gegensätzen und Kollisionen, in die die kämpfenden Heroen eintreten und mit ihnen die göttlich-sittlichen Mächte, die sie repräsentieren. Mit diesen Gegensätzen, aber auch mit dem Untergang der Heroen zeigt sich, wie dargelegt, die Krise des Polytheismus und mit dem auftretenden gerechten Schicksal die Tendenz zum Monotheismus, den die Tragödie allerdings noch nicht selbst auszuführen vermag. Mit der Komödie als der Umkehrung des Verhältnisses von Göttern und Menschen oder der völligen Subjektivierung der Götter – und mit der Satire, wie man hinzufügen muß, – endet nach Hegel die klassische Kunst.15 Die bedeutungsreichste, bewegendste und erschütterndste Einzelkunst der klassischen Kunstform, die Tragödie, zeigt also zugleich das nahende Ende dieser Kunstform an. So stellt sich die Frage, ob Hegel mit dieser vielgestaltigen und vielschichtigen Darstellung klassischer Einzelkünste und ihrer Entwicklungen das Klassische in der Kunst selbst historisiert. Für solche geschichtliche Betrachtung scheint speziell in Hegels Tragödientheorie einiges zu sprechen. Sie unterscheidet in der griechischen Tragödie, wie sich zeigte, drei Stufen des Verständnisses von Sittlichkeit und Religion, die zugleich unterschiedlichen geschichtlichen Epochen entsprechen. So vertritt auf der ersten Ebene der Chor die archaische griechische Sittlichkeit in ihrer konfliktlosen Substantialität sowie den alten Polytheismus, der die Götter in ihrem Nebeneinander verehrt. Auf diesem Boden und vor diesem Hintergrund ereignen sich auf einer zweiten Ebene die unvermeidlichen Konflikte der Heroen und die notwendigen Kollisionen der als einseitig hervortretenden göttlich-sittlichen Mächte. Daraus geht, was in der Regel erst die Zuschauer in tragischer Versöhnung verstehen, auf einer dritten Ebene das Eine gerechte Schicksal hervor, das die Einseitigkeiten der sittlich-göttlichen Mächte und der Heroen aufhebt. So zeigt die Tragödie selbst synchron die stufenartige Entwicklung von Epochen sittlich-religiösen Verstehens. Doch diese Entwicklung ist nicht zufällig; rein philosophisch und begrifflich läßt sich ihre ideale Substruktur und ihr bewegender Grund erfassen in der dialektischen Entwicklung griechischer Sittlichkeit. Gleichwohl ist für Hegel wie für Schiller die griechische Welt und die klassische Kunst unwiederbringlich vergangen. Mit dem weltgeschichtlichen Auftreten des Christentums entstand ein neues Zeitalter und in diesem eine neuartige Kunstform, die romantische oder christliche Kunst. So ist die Abfolge der Kunstformen an die epochale Abfolge der Religionen gekoppelt. In der geschichtlichen Realität sind daher Kunst und Religion miteinander verflochten 15
Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: „Die Funktion der Kunst in der Geschichte“. In: HegelStudien. Beiheft 25. Bonn 1984, 228 ff.
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und nicht in der Weise voneinander geschieden, wie es in den ungeschichtlichen, idealtypisch konzipierten Systemsphären: Kunst, Religion und philosophische Wissenschaft der Fall ist, die drei voneinander abgehobene Selbsterfassungsweisen des absoluten Geistes bedeuten. Da die romantische Kunst im Gefolge des Christentums entsteht, stellt sie keine immanent ästhetische Überbietung oder Überwindung der klassischen Kunst dar; diese bleibt vielmehr Kunst im Status der Vollendung; aber die romantische Kunst ist ein Fortschritt gegenüber der vormaligen weltgeschichtlichen Bedeutung der klassischen Kunst, der nach Hegel notwendig ist; denn die selbstbewußte Geistigkeit der Idee kann sich nicht in ihrer eigenen inneren Bedeutung entfalten, wenn ihre Wirklichkeit an die sinnlich-äußere, leibliche Gestalt gebunden bleibt (vgl. Ästhetik I, 85). Sie muß sich vielmehr für sich selbst herausbilden; die romantische Kunst wird auf diese Weise zur Kunst der Innerlichkeit und Subjektivität, in der das Göttliche konkret gefühls- oder vorstellungsmäßig gegenwärtig ist. – So entsteht im Laufe der Entwicklung der romantischen Kunstform auch die romantische Tragödie. In ihr werden moderne, nur nach ihrem subjektiven Wissen und Wollen handelnde und verantwortliche Helden als Charaktere dargestellt, die entweder in antike Kollisionen geraten und scheitern oder selbst als antikisierende Helden an Konflikten mit der modernen sittlich-politischen Wirklichkeit zugrunde gehen. Dabei muß man nach Hegel beachten, daß die Versöhnung im Christentum an sich schon geschehen ist; in ihm gibt es keine Tragik, wohl allerdings Tragödien, die moderne Helden in solchen ihrer Bewußtseinslage eigentlich unangemessenen Konflikten darstellen. In ihnen kann jedoch das Eidos des Klassischen gerade nicht restituiert werden.16 Wenn also angesichts der romantischen Kunst die klassische als vergangen und als nicht restituierbar gelten muß, da sie zudem das Signum ihres eigenen Endes in sich trägt, hat Hegel dann in seiner Ästhetik das Klassische in der Kunst historisiert? Nach den bisherigen Überlegungen muß die Antwort zweigeteilt ausfallen: Einerseits ist die klassische Kunst in ihrer Vielfalt und in ihrer Entwicklung eine geschichtlich transitorische Realität; sie hatte nach Hegel weltgeschichtliche Bedeutung, insofern den Griechen ihre Götter in der Kunst, vollendet und einfach in der Skulptur, bedeutungs- und problemreich in der Tragödie gegenwärtig waren. Diese Kunst war Kunstreligion; aber die Kunstreligion läßt sich nicht wiederherstellen, wie Hegel auch gegen zeitgenössische Versuche geltend macht. Andererseits ist die klassische Kunst Gestaltung und Realisierung des ästhetischen Ideals, sei es in Ruhe wie in der Skulptur, sei es in Handlung wie in der Tragödie. Wenn nun dies Ideal adäquate sinnlich geformte Wirklichkeit erhält, erfüllt das entsprechende Kunstwerk, was Kunst in vollendeter Weise leisten kann. Klassische Kunst ist für Hegel Kunst in ihrer 16
Zu Hegels Theorie der romantischen Tragödie sei der Verweis erlaubt auf die Darlegung des Verfs.: „Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel“, a.a.O. (Anm. 6), 79 ff; vgl. ebenso Ch. Fan: Sittlichkeit und Tragik, a.a.O. (Anm. 6), 146 ff.
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Vollendung; und dies bleibt sie auch, wenn sie vergangen und eine andere Kunstform aufgetreten oder Kunst in weltgeschichtlicher Bedeutung überhaupt zu Ende ist. Dieser paradigmatische Charakter der klassischen Kunst bestimmt Hegels Konzeption der gesamten Ästhetik und ist begrifflich fundiert in Hegels ästhetischem Platonismus innerhalb dieser Ästhetik, insbesondere in seiner Theorie des Ideals. Die drei geschichtlich-epochal aufgetretenen Kunstformen der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform bedeuten für ihn ein „Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals“ (Ästhetik I, 88).17 Die ganze Entwicklung der Kunstformen, Einzelkünste und Kunstwerke wird daher am Maßstab des ästhetischen Ideals gemessen; und dieser ist für Hegel ungeschichtlich gültig. Was Kunst in Vollendung ist und zustande bringen kann, zeigen klassische Kunstwerke, die das Ideal verwirklichen; und solche Betrachtung von Kunst ist auch nach dem Ende der klassischen Kunst, ja der Kunst überhaupt, wenn aus ihr der religiöse Gehalt geschwunden ist, von bleibender Bedeutung, da Kunst eine ideale Stufe der Selbstverwirklichung und Selbstvergewisserung des absoluten Geistes auf der Ebene der Anschauung ist. Die Kunst, die Hegel bei aller Orientierung seines ästhetischen Platonismus am ästhetischen Ideal deskriptiv und begrifflich so vielfältig und reichhaltig zu bestimmen vermag, bleibt daher, selbst wenn sie in ihrer eigensten Bedeutung geschichtlich vergeht, ein unverlierbarer Bestandteil der Welt des Geistes.
17
Die „Vollendung der Schönheit“, so erklärt Hegel auch in der Enzyklopädie (1830), liegt nur „in der klassischen Kunst“ (§ 561, GW 20, 546).
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VERZEICHNIS DER QUELLEN
I. Logik und Dialektik 1. „Identität und Widerspruch. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Dialektik Hegels“. In: Giornale di Metafisica. N.S. 6 (1984), 315-358. 2. „Hegels Dialektik. Der dreifache Bruch mit dem traditionellen Denken“. In: Philosophia perennis. E. Heintel zum 80. Geburtstag. Hrsg. von H.-D. Klein und J. Reikerstorfer. Frankfurt a.M. usw. 1993. 126-138. 3. „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“. In: Hegels Wissenschaft der Logik. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1986, 15-38 (synchron erschien eine Übersetzung ins Russische). 4. „Dialektikmodelle. Platons Sophistes sowie Hegels und Heideggers Umdeutungen“. In: Das Problem der Dialektik. Hrsg. von D. Wandschneider. Bonn 1997, 4-18. 5. „Antinomie und Dialektik. Endlichkeit und Unendlichkeit in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre“. In: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hegel-Kongress in Padua und Montegrotto Terme 2001. Hrsg. von F. Menegoni und L. Illetterati. Stuttgart 2004, 35-57.
II. Metaphysik und Subjektivitätstheorie 1. „Phänomenologie und spekulative Logik. Untersuchungen zum ’absoluten Wissen’ in Hegels Phänomenologie“. Deutsche Originalfassung von: „Fenomenología y lógica especulativa. Indagaciones sobre el ’saber absoluto’ en la Fenomenología de Hegel“ (übers. von A. Carasco Conde). In: Hegel. La Odisea del Espíritu (Kongress zu Hegels Phänomenologie. Madrid 2007). Hrsg. von F. Duque. Madrid 2010, 293311. 2. „Ontologie bei Aristoteles und Hegel“. In: Hegel-Studien 32 (1997), 61-92. 3. „Subjektivität in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Ein programmatischer Überblick“. Deutsche Originalfassung von: „La subjetividad en la filosofía clásica alemana de Kant a Hegel. Una panorámica a modo de programa“ (übers. von M.H. Marcos). In: Azafea 4 (2002), 97-121. 4. „Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel“. In: Hegel und die „Kritik der Urteilskraft“. Hrsg. von H.-F. Fulda und R.-P. Horstmann. Stuttgart 1990, 139157). 5. „Kategorien als Bestimmungen des Absoluten? Untersuchungen zu Hegels spekulativer Ontologie und Theologie“. In: Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter HegelKongress 2005. Hrsg. von R. Bubner und G. Hindrichs. Stuttgart 2007, 164-181.
III. Praktische Philosophie 1. „Politische Ethik bei Plato und Hegel“. In: Hegel-Studien 19 (1984), 95-145.
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VERZEICHNIS DER QUELLEN
2. „Die Bestimmungen des freien Willens und die Freiheit des Begriffs bei Hegel“. Deutsche Originalfassung von: „Le determinazioni della volontà libera e la libertà del concetto in Hegel“ (übers. von G. Rametta). In: La libertà nella filosofia classica tedesca. Hrsg. von G. Duso und G. Rametta. Milano 2000, 133-146.
IV. Ästhetik 1. „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Homburg v.d.H. in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981, 101-117 ( auch übersetzt ins Japanische). 2. „Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung“. In: Hegel-Studien 21 (1986), 87-128. 3. „Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik“. In: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. Hrsg. von A. GethmannSiefert, L. de Vos und B. Collenberg-Plotnikow. München 2005, 145-158.
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Namenverzeichnis Aertsen, J. 157 Alvarez- Gomez, M. 175 Ameriks, K. 102 Aristoteles 11f, 54, 65, 71, 75, 86f, 97, 99, 102, 108f, 122, 131-158, 180, 188, 191ff, 197, 199, 201, 203, 209f, 216, 221, 234, 238, 241f, 244, 250, 252, 257, 259f, 270, 275, 313, 325 Avineri, S. 260 Baptist, G. 120f Baum, M. 16, 57, 95, 161 Beierwaltes, W. 87, 208, 210, 324, 335 Berti, E. 19, 34, 95, 138, 141 Biard, J. 31, 34, 38, 104 Biemel, W. 298, 303, 307 Bienenstock, M. 266, 272 Binder, W. 288 Biscuso, M. 118, 195 Blumenbach, J.F. 184f Bodei, R. 298 Bonsiepen, W. 117, 297 Bosio, F. 102 Bourgeois, B. 273 Bruno, G. 282, 288 Bubner, R. 206 Burkhard, B. 102 Cantillo, G. 339 Cassirer, E. 100, 289 Cesa, C. 170, 248, 272 Chiereghin, F. 26, 110, 117, 176, 274, 339 Cusanus, N. 82 Dahlstrom, D.O. 90 Derbolav, J. 105, 234 Descartes, R. 162f, 167, 183, 185 Dilthey, W. 44 Doz, A. 146, 180 Dürr, A. 41, 43 Düsing, E. 170f, 215, 266, 271 Düsing, W. 310, 325 Duso, G. 35, 205, 266, 272, 274 Fan, Ch. 339 Ferrarin, A. 133, 147 Fichte, J.G. 13, 18, 25, 45f, 117ff, 121, 127, 160, 165, 167-173, 175-178, 180, 204, 248f, 266ff, 271, 273, 275, 282, 284ff, 295, 305, 320, 324 Ficino, M. 84, 282, 335
Fleischer, M. 237 Fleischmann, E. 34, 55 Fritz, K. von 338 Fulda, H.F. 70f, 121, 124, 175, 207, 213 Funke, G. 102 Gadamer, H.-G. 35, 54, 77, 83, 88, 90, 132, 156, 205, 225, 238, 241, 274, 298, 307 Gethmann-Siefert, A. 334 Gigon, O. 228, 230f, 236, 238 Goethe, J.W. von 282, 298 Görland, I. 319 Gueroult, M. 102, 168, 195 Günther, G. 33 Guyer, P. 302ff Haering, Th. 175 Halfwassen, J. 138, 156, 180, 208, 210 Harris, H.S. 292 Harrison, R.B. 283f, 287 Hartmann, N. 132, 148, 151, 241 Haym, R. 242 Heede, R. 52, 60, 212 Heidegger, M. 77, 86f, 131, 141, 163, 166, 208, 299ff, 302, 336 Heidemann, D.H. 100, 115, 118, 163 Heimsoeth, H. 99, 105, 170, 196, 260, 297, 313, 315 Heintel, E. 43, 45, 52, 54 Henrich, D. 13, 24, 31, 43, 64, 153, 161, 168f, 203, 256, 286, 294, 301 Heraklit 11, 83, 204, 286, 289 Hoffmeister, J. 13, 290, 294 Hölderlin, F. 13ff, 44, 46, 168, 190, 222, 281-295, 316, 318, 335, 339, 343 Holz, H. 292 Horstmann, R.-P. 41, 43, 242, 247, 253 Hösle, V. 104, 268, 273, 339 Hotho, H.G. 334 Husserl, E. 161 Hyppolite, J. 116, 121, 176 Ilting, K.-H. 197, 223, 242, 260, 273 Jacobi, F.-H. 286, 288f Jaeschke, W. 31, 215 Jamme, Chr. 13 Janicaud, D. 242, 255 Janke, W. 168 Jarczyk, G. 55, 67, 69 Johannes (Evang.) 45f
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NAMENVERZEICHNIS
Kant, I., Kantisch 11, 14, 48, 62, 69, 86f, 93-110, 117, 131f, 144, 154f, 158-171, 174, 178ff, 181, 183-199, 203, 209, 221f, 242f, 245f, 248f, 251, 253, 259, 265, 270, 273-276, 281-286, 291, 293ff, 297-332, 334f Kern, W. 132, 147, 152, 154, 210 Kimmerle, H. 57, 70, 244, 253 Klein, H.-D. 54 Köhler , D. 117, 124 Krämer, H.J. 134, 228 Kroner, R. 33, 298 Kuhn, H. 336 Kulenkampff, J. 304 Lakebrink, B. 55 Lau, Ch.-F. 212 Lauth, R. 19 Leibniz, G.W. 37, 100, 103, 105f, 139, 167, 183, 185, 314 Lemaigre, B.M. 26 Leone Ebreo 282 Lichtenberg, G.Chr. 162 Longato, F. 21, 34 Longuenesse, B. 34 Lugarini, L. 16, 18, 24, 95, 104, 179f, 205, 266, 298, 322 Lukács, G. 298 Mach, E. 159 Maluschke, G. 62, 102 Manuwald, B. 228 Marcucci, S. 186, 301f Marcuse, H. 31, 55, 62, 319 Marx, We. 117, 176, 212, 266 Mc Taggart, J. und E. 55 Meist, K.R. 95 Mendelssohn, M. 312 Menke, Chr. 339 Meulen, J. van der 55, 301 Milan, R. 34 Moretto, A. 107 Movia, G./Milan, R. 206 Mure, G.R.G. 33, 55, 268 Natorp, P. 163 Nuzzo, A. 269 Opiela, S. 31, 34 Ottmann, H. 126, 273 Paetzold, H. 339 Pannenberg, W. 215 Pareyson, L. 308 Parmenides 11, 79, 83, 88, 201, 204, 286
Paton, H.J. 161, 299 Peddle, F. 102 Pellegrini, A. 294 Peperzak, A. 13, 45, 109, 243, 255, 259, 266, 275 Philonenko, A. 185 Pippin, R.B. 109, 118, 267 Planty-Bonjour, G. 133, 210 Platon, Platonisch, Platonismus 11ff, 22, 34, 44, 48, 54, 71, 77-92, 95, 97, 132137, 140f, 147-150, 152, 156, 158, 174, 188, 195, 206, 208, 221-263, 270, 274f, 281-296, 312f, 323f, 328, 330, 334f, 346 Plotin 82, 154, 180, 210, 216, 281, 313 Pöggeler, O. 13, 28, 87, 90, 116, 120, 124, 175, 243, 247, 292ff, 336, 338 Popper, K.R. 236, 273 Rameil, U. 100, 245, 259 Reiner, H. 223 Ricoeur, P. 339 Riedel, M. 242, 247, 269, 272 Rockmore, T. 121 Rosales, A. 161 Rosenkranz, K. 19, 23, 34, 52, 126f, 242, 246, 251, 294f Rosenzweig, F. 242, 292 Rotenstreich, N. 62, 71 Rousseau, J.J. 272f, 286 Samonà, L. 133,147 Sarlemijn, A. 19, 41, 43 Schäfer, R. 95, 180, 205 Schelling, F.W.J. 47ff, 117ff, 160, 168, 172-178, 180, 183, 190, 253, 266, 286, 293, 295, 297f, 304f, 307, 316ff, 320325, 328ff, 334 Schiller, F. 281-287, 291, 293f, 297, 310, 316ff, 321, 325ff, 329, 335f, 342, 344 Schmitz, H. 59, 124, 134, 140, 175 Sedgwick, S. 102, 179 Sextus Empiricus 115, 295 Siep, L. 121, 176, 242, 246, 266, 272 Sophokles 50, 338f Sokrates 137, 226, 256, 291 Spinoza, B., Spinozismus 13, 16, 24, 26, 48, 172, 183, 190f, 204, 208f, 253, 282, 286, 288f, 324 Stanguennec, A. 102. 192 Stenzel, J. 224, 236 Theunissen, M. 109, 196, 212, 328 Tilliette, X. 172, 174, Tommaso, G.V., di 174
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NAMENVERZEICHNIS
Trendelenburg, A. 52, 55, 71, 85 Tuschling, B. 19 Uehling, Th.E. 303 Verra, V. 110, 132, 179, 193, 210, 298, 322, 325 Vetö, M. 174 Vieillard-Baron, J.-L. 206, 242, 244, 255, 274 Vlastos, G. 225, 234 Vollrath, E. 133
Vos, L., de 121, 213 Wieland, W. 224, 231 Winckelmann, J.J. 289,303, 307, 335f Wittgenstein, L. 159 Wohlfart, G. 52, 60, 212 Wolff, Chr. 105, 203 Wolff, M. 19, 34, 39, 104 Wundt, M. 196 Zenon (von Elea) 40, 79, 81, 97, 108
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Sachverzeichnis Absolutes 17-20, 44-47, 49, 53, 93ff, 111, 146, 179, 190, 201f, 207ff, 213, 216, 250, 253f, 286, 295, 316f, 319f, 336 Ästhetik, ästhetisch 252, 281-285, 287f, 290, 292ff, 296-299, 302-308, 310, 316321, 324-329, 331-334, 336f, 343, 345f Allgemeines, Allgemeinheit 46, 65f, 6973, 135, 137f, 140, 146, 148, 150f, 155, 265, 267-273, 275, 311, 313, 322f, 325, 330f -, konkrete 58, 65, 74, 128, 149, 151, 179, 193, 196f, 199, 213, 215ff, 252ff, 257f, 269, 271-277, 310, 313, 321f, 331 Anderes 206 Anschauung 15, 17, 20, 49, 100f, 107, 161, 166f, 169, 173ff, 185, 188ff, 204, 213, 243, 252, 286, 290, 295, 299-302, 304308, 311-314, 317f, 320-324, 326f, 330f, 334, 346 Anschauungsmannigfaltiges 101, 163, 166f, 299f, 311 Antinomie 14ff, 48, 57, 93-100, 104, 106110, 183f, 186f, 194f, Apperzeption 62, 160f, 163ff, 167f, 170, 178f, 196, 319, 332 Begriff 27, 60, 62ff, 67, 69ff, 73, 75, 139, 151, 180f, 191ff, 197, 210, 212, 215, 252, 265, 268-271, 290, 308, 311ff, 318, 322ff, 330 Besonderes, Besonderheit 65f, 69, 72f, 146, 151, 215, 217, 253, 258, 268ff, 274, 311f, 321ff, 325f, 331 Bewußtsein 14, 116, 118f, 123f, 165, 167, 176, 269, 283, 285, 305, 307, 322, 324, 327, 338f Bourgeois 244, 247f, 259 Christentum, christlich 120ff, 202, 209, 213-216, 252, 254, 260f, 281, 289, 291, 321, 327, 343ff Denken 12, 16f, 36, 40ff, 97, 110, 126, 144, 167f, 180f, 189, 201-204, 209, 212f, 215f, 253, 271, 322f, 327, 332 Denken seiner selbst 62, 122, 127, 142f, 153, 155ff, 160, 179f, 202, 210ff, 214, 267, 269, 313, 323, 331 Dialektik, dialektisch 11f, 15, 17, 20, 26ff, 40-43, 47-56, 59ff, 63, 66ff, 70, 73ff, 7789, 91f, 93-97, 101, 103f, 108-111, 118,
123, 125f, 131, 155, 158, 160, 177, 180, 195, 202-213, 215f, 222, 235, 253, 270, 296, 331, 339f, 342ff Ding an sich 103f, 107, 110, 187, 195, 256, 315 Dynamis s. Möglichkeit Eidos 134f, 137-145, 147, 150-156, 191f, 197, 199, 226, 234, 261, 307 Einbildungskraft 160, 165-168, 171, 175, 178, 196, 283, 297-308, 310, 318-323, 326, 328, 331 Einheit 16, 26, 39, 46, 50f, 69, 73, 84, 94f, 98, 110, 156, 168, 224ff, 230, 250, 268, 275, 277, 286, 290, 293ff, 300, 316f, 319, 321ff, 328f, 340 Einzelnes, Einzelheit 46, 65f, 69, 73f, 135143, 146, 148, 151f, 155, 215, 217, 222f, 227-242, 246, 248-252, 254, 256ff, 261, 263, 265, 269, 272-276, 311f, 322f, 331, 336 Endlichkeit, endlich 16f, 24, 93-104, 110f, 193, 198, 207, 212, 217,243, 284f, 287, 324, 330, 338 Energeia s. Wirklichkeit Erscheinung 103f, 107f, 110, 120, 187, 256, 274, 288, 309, 322ff Ethik 221ff, 225, 228ff, 235, 238-244, 249f, 252, 254f, 257-263, 265, 272, 275f, 295 Etwas 72, 85f, 205f, 211 Freiheit, frei 189, 194, 229, 244ff, 248, 250f, 254f, 258, 261, 263, 265-274, 293f, 297, 305-310, 315, 326f Ganzes 151, 185f, 188, 193, 221, 225f, 231, 234, 244f, 249-253, 275, 277, 285288, 295, 311-315, 325, 330, 339 Gedankenbestimmung s. Kategorie Gegensatz 21, 36-39 Geist 46, 54, 103, 117, 121-125, 127, 160, 176, 194, 214ff, 250ff, 254, 256, 266f, 269, 271f, 276, 295, 317, 326ff, 331, 334, 337 -, absoluter 120, 253, 261, 276, 326, 340f, 345f Genie 160, 173ff, 298, 306-310, 317, 321, 328f, 331, 334 Geschichte, Geschichtlichkeit, geschichtlich 119f, 170, 173, 343-346
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SACHVERZEICHNIS
-, des Selbstbewußtseins 26, 116-120, 125, 129, 160, 170-173, 175ff, 254, 266, 271, 302, 305, 320, 332 Gott 44-46, 120, 122, 139, 142f, 145, 152157, 174, 180, 202, 204, 207-212, 214ff, 251, 254, 281f, 285, 287, 292, 295, 308, 314, 316, 328, 336, 339, 341, 343f Gutes 93, 221, 224f, 227, 231f, 234f, 239, 241, 281f, 285, 294 Ich (s. auch Subjekt, Subjektivität) 13, 27, 53f, 59, 61, 106, 120ff, 159-174, 179, 210, 266, 268, 286f, 295, 305, 317 Ideal 333-337, 341, 343-346 Idealismus 57, 97, 103, 116, 153, 172f, 190, 265, 281, 286, 292, 299, 306, 327 Idee 54, 78f, 82, 85-88, 134-137, 140, 143, 147-150, 152f, 157, 180, 188, 192f, 196f, 209ff, 214f, 222, 226, 234f, 238241, 255, 257, 259, 261, 265, 272, 274, 277, 281, 283-288, 290f, 293ff, 298, 306, 308, 313, 316ff, 321-325, 327-331, 335ff, 345 Identität 11, 13, 17-28, 33-36, 58, 80f, 85, 122, 178f, 206, 225, 286, 317f, 320ff, 324, 328 Individuum 106, 139f, 147, 151, 184ff, 192, 221, 236, 246, 250, 253-256, 258261, 263, 270, 272-277, 287, 291, 338343 Kategorie, kategorial 54, 70f, 97, 103, 107, 109f, 116, 123f, 126ff, 131f, 144, 146, 156ff, 164, 175, 177-180, 195f, 201ff, 205f, 209ff, 213f, 216 Kausalität 99f, 309 -, finale 309, 315 Klassik, klassisch, klassizistisch 303, 307, 333, 336f, 340-346 Konkretes, konkret s. konkrete Allgemeinheit Kunst, Künstler, künstlerisch 118, 160, 217, 252, 282, 290f, 294, 298, 302ff, 306f, 321, 326-329, 331-337, 340f, 343346 Kunst-Religion 340, 345 Leben 13ff, 16f, 44f, 124f, 183, 185f, 190, 192, 196f, 247, 250f, 269, 274, 277, 295, 326 Liebe 44, 215, 246f, 281-285, 287, 289292, 295 Logik 11, 17f, 27, 47f, 55f, 124, 133, 135, 146, 161f, 164f, 170, 202ff, 207, 243, 252
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-, formale, formallogisch 11, 33, 66, 92, 165, 180 -, spekulative 11, 55, 59, 61, 115, 117, 123f, 129, 147f, 157, 176ff, 180, 208, 210, 268f, 271, 331 Macht 271,273, 338-342, 344 Mechanismus, mechanistisch 183f, 186f, 194f, 198, 316 Metaphysik, metaphysisch 12, 17f, 20ff, 24f, 27, 46f, 49, 54, 57, 59, 76, 93-96, 98, 109f, 133, 145f, 152, 154, 157, 162, 176, 180, 183f, 189, 193, 195-199, 202ff, 207ff, 211, 222f, 240, 250-254, 256f, 265, 281, 283, 287, 290, 293, 295, 298, 306f, 312, 315, 319-325, 327f, 330, 332 Metaphysikkritik 93f, 96ff, 109, 162, 184, 194ff, 319, 324 Methode 53f, 70, 73ff, 158, 180, 202ff, 210f, 331 Möglichkeit (vgl. Dynamis) 138, 141ff, 148, 152f, 155f, 185, 189, 314f, 322 Moralität, moralisch 248f, 259, 271, 310, 316, 327 Mythologie 174, 333f, 340 Negation 26, 41,50f, 123, 177, 208, 268 Negatives, Negativität 27, 37ff, 72f, 89, 110, 121, 149, 204, 253, 268, 273, 314, 324 Noesis Noeseos (s. auch Denken seiner selbst) 54, 122, 132, 154, 188, 202, 210, 214, 216, 331 Objektivität 64, 69, 154, 163f, 180, 197f, 209f, 273 Ontologie, ontologisch 11ff, 40, 64, 7780, 82f, 86-92, 97, 106, 127f, 131-135, 138, 140f, 143-147, 150f, 154-158, 166, 180, 191f, 197, 199, 201-209, 211ff, 216f, 222, 235, 238, 240f, 253, 255-258, 261, 265, 281, 285, 287f, 296, 299, 314, 325 Ontotheologie, ontotheologisch 64, 87, 145, 150, 156f, 180, 201, 314 Organismus, Organisches 183-190, 192ff, 197f, 311, 314f, 325, 330 Ousia (s. auch Substanz) 59, 89, 132ff, 137- 147, 149f, 203, 226, 240 Pantheismus, pantheistisch 15, 44, 209, 282, 287-291,295, 324 Phänomenologie, phänomenologisch (im 20. Jh.) 87-91, 163
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SACHVERZEICHNIS
Phänomenologie (systematisch bei Hegel) 115 Polis 221f, 227-242, 248, 252, 254, 256261 Positives 37ff, 72f, 110, 273 Produktion, produktiv 188f, 210ff, 300304, 306ff, 310, 314, 319, 328, 331 Recht, Rechtssystem 247, 254, 265, 271f, 274f, 277, 337f Rechtschaffenheit 238, 247f, 259, 275f Reflexion 15, 17f, 20, 31, 36f, 44f, 48f, 95, 146, 253 Reflexionsbestimmung 12f, 20, 28, 30, 3235, 37 Religion, religiös 14, 118, 120ff, 209, 214, 216f, 243f, 251f, 254, 261, 276, 287, 290ff, 295, 316, 320, 326f, 329, 334-346 Religionsphilosophie 121, 260, 291 Satz, spekulativer 46, 52f, 59f, 145, 212 Schluß 53, 55-58, 60ff, 64-70, 72ff, 212f, 323, 331 Schönes, Schönheit 14, 17, 156, 168, 214, 222, 252, 254, 281-295, 302-308, 310, 317-321, 324-329, 331, 334ff Schuld, schuldig 338ff Seiendes 11f, 69f, 79-83, 85, 88-91, 93, 131, 139, 141-144, 149, 152, 155f, 158, 201-205, 207, 209, 211f, 282f, 286, 288, 290, 313, 323f Sein 14-17, 44f, 83, 88f, 124, 126ff, 131, 140, 143, 153, 156, 168, 180, 202-205, 207, 209, 211f, 240f, 255, 286ff, 293, 295 Selbst (s. auch Ich) 177, 301, 332 Selbstbewegung des Begriffs 53, 60, 73, 127 Selbstbewußtsein (s. auch Geschichte des Selbstbewußtseins) 62, 105, 122, 127,159-163, 165, 170ff, 174, 176, 181, 214ff, 254, 266, 271, 273, 286f, 301, 304f, 320, 324, 336, 338, 341, 344f Selbstbeziehung 62f, 69, 92, 122, 153, 164, 168f, 172, 175, 178f, 181, 204, 209, 215, 271, 274, 332 Sitte, Sittlichkeit, sittlich 213, 216f, 221.225, 227f, 230ff, 235ff, 239f, 242-254, 256-263, 265, 267, 271-277, 309f, 315, 326,333, 337-345 Skeptizismus 20, 48f, 97, 115f, 118, 122f, 129, 177 Spekulation, spekulativ (s. auch Satz, spekulativer) 12, 19, 22, 26, 33, 35f, 38, 42, 52, 56, 98, 110, 123ff, 132, 149, 154,
178f, 188, 190f, 193f, 209, 212ff, 215f, 268f, 271, 275, 281, 297f, 300, 315f, 318f, 321, 323, 325ff, 329-332 Staat 223, 228, 235f, 242ff, 247-251, 255, 257, 259-263, 272-277, 341 Stand 230-237, 239, 244f, 247-250, 252, 258, 274 Subjekt, Subjektivität, subjektiv 25ff, 41, 49, 53f, 59f, 62, 73f, 85, 87, 90f, 111, 117-122, 125-129, 132, 145, 150f, 153160, 162, 164-168, 170-175, 178-181, 199, 202, 210ff, 214ff, 222, 242, 249, 254ff, 258, 260f, 269, 273, 285, 297f, 300ff, 306f, 309, 324, 331f, 336f, 343ff Substanz, substantiell (s. auch Ousia) 24, 26, 48, 62, 104f, 131, 134, 138, 143, 145f, 152f, 156ff, 172, 178, 202ff, 209, 212, 214, 222, 253f, 259f, 269, 273f, 286, 295, 320, 324, 336-339, 341f, 344 Syllogistik 55f, 66, 69, 74f, 213 Teleologie, teleologisch 132, 143f, 154ff, 183f, 186f, 190-199, 298, 309, 316ff, 322, 325f, 330 Teleonomie 183, 186, 198 Theologie, theologisch 54, 131f, 143, 145, 154-157, 201f, 204, 207ff, 211-217, 281f, 312, 314, 323f, 330 Tragik, tragisch, Tragödie 50f, 259, 295, 321, 333, 337-345 transzendental 265,300f, 304ff, 314, 323 Tugend 221-242, 244-250, 257-261, 263, 274ff Übergang von der Natur zur Freiheit 189f, 197, 308ff, 315, 317f, 326f Unendlichkeit, unendlich 15ff, 24, 26, 41f, 44ff, 49, 51, 53, 93-104, 106-111, 128, 179, 204, 267f, 284ff, 289, 308 Unterschied 36f Urteil 11, 13, 45, 63, 86, 131, 141, 144, 158, 161, 202f, 212, 303, 318, 325ff Urteilkraft 155, 183f, 186f, 189f, 192, 196ff, 299, 304f, 309ff, 315, 317f, 325 Verschiedenheit, verschieden 34-37, 79ff, 84, 86, 206, 230f Verstand, verständig 15, 18, 32f, 45, 101, 166f, 187, 198, 270, 301f, 304ff, 309ff, 314, 320, 326 -. diskursiver 187ff, 193, 311, 313ff -, intuitiver 154, 183, 188ff, 191, 193f, 297ff, 308, 310-316, 321-325, 330f Volksgeist 251, 253, 256f
Klaus Düsing - 978-3-8467-5210-4
SACHVERZEICHNIS
Wahrheit, Wahres 18, 22, 73, 90, 121, 124f, 176f, 181, 193, 214ff, 254, 293f, 310, 323, 327, 329f Wesen 28-31, 202ff, 207, 209, 211, 234, 240f Wesenslogik 28 Widerspruch 11f, 17-28, 39ff, 45f, 48, 50f, 63, 73, 75, 84f, 101, 103f, 110, 149, 195, 206, 217, 289 -, Satz vom 11ff, 15, 17f, 19, 35, 45, 49, 51f, 68, 82, 86, 95, 165, 206, 217 Wille, Wollen 160, 171, 173, 259, 265-275
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Wirklichkeit (vgl. Energeia) 138, 141ff, 149, 152-156, 185, 189, 245, 251, 253, 255ff, 259f, 272-277, 285, 288, 290, 314f, 322, 345 Wissen, absolutes 115-118, 120-123, 125129, 176, 178 Zweck 155, 185-193, 196f, 199, 245, 249, 258, 260, 268, 270, 274, 309, 312, 314f, 325f, 330 Zweckmäßigkeit 154f, 183f, 186f, 189, 191ff, 197, 199, 214, 305, 309-312, 315, 325f, 330
Klaus Düsing - 978-3-8467-5210-4