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German Pages [512] Year 2016
Bürgertum Neue Folge Studien zur Zivilgesellschaft Herausgegeben von Manfred Hettling und Paul Nolte Band 13
Vandenhoeck & Ruprecht
Moritz Mälzer
Auf der Suche nach der neuen Universität Die Entstehung der »Reformuniversitäten« Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 6 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0890 ISBN 978-3-666-36852-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Großbaustelle der Universität Bielefeld, ca. 1973 © Universitätsarchiv Bielefeld Das Werk wurde für die Veröffentlichung überarbeitet./ This dissertation has been revised for publication. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren: Reformversuche zwischen Tradition und Transfer . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Die Besatzungszeit: Keine »Stunde Null« an den Hochschulen . . 23 1.1.1 Überprüfung der Leitbilder und Popularisierung des Humboldt-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1.2 Impulse der westlichen Besatzer . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.1.3 Universitätsgründungen und Gründungsversuche in den westlichen Besatzungzonen . . . . . . . . . . . . . . 37 1.2 Neue Anforderungen an die Universitäten: Zentrale Diskussionen der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.2.1 Bildung und Erziehung: Neuer Auftrag für die Universität? 49 1.2.2 Forschung: Förderung innerhalb und außerhalb der Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.2.3 Ausbildung: Die unerwartete Expansion . . . . . . . . . . . 78 2. Gründerzeiten: Vorschläge für »Universitäten neuen Typs« . . . . . . 93 2.1 College und Campus: Eine neuartige Universität für Bremen (1960) 95 2.1.1 Das Hochschulexperiment in Wilhelmshaven als Ausgangspunkt der Bremer Pläne . . . . . . . . . . . . . 96 2.1.2 Erziehungsaufgabe im Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.1.3 Campusanlage für die Einheit der Universität . . . . . . . . 101 2.1.4 Handbuch zur Universitätsgründung . . . . . . . . . . . . . 105 2.2 Kollegienhäuser und eine Modelluniversität: Vorschläge des Wissenschaftsrates (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.2.1 Vom Ausbau zum Neubau und zur Reform . . . . . . . . . 107 2.2.2 Kollegienhäuser statt Colleges . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.2.3 Entwicklung einer »Modelluniversität« . . . . . . . . . . . . 123 2.2.4 »Anregungen« statt »Empfehlungen« . . . . . . . . . . . . . 131 2.3 Vorstellungen der Studentenschaften: Keine abgeschotteten Experimente (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.3.1 Ablehnung von Erziehungsversuchen . . . . . . . . . . . . . 143 2.3.2 Umfassende Reformagenda für alte und neue Universitäten . 144
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2.3.3 Große Neugründungen und keine »Reservate« . . . . . . . 146 2.3.4 Aufnahme der studentischen Vorschläge . . . . . . . . . . 147 3. Universität Konstanz: Zwischen Reservat und Modell . . . . . . . . . . 151 3.1 Der lange Weg von der Gründungsidee zum Gründungsbeschluss . 151 3.1.1 »Eine Art Fürstengründung« . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1.2 Von der regionalen Infrastrukturmaßnahme zur »Modelluniversität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.1.3 Gelehrtenberatung à la Humboldt: Mögliche Ziele der Konstanzer Neugründung . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3.1.4 Politische Meinungsbildung: Regierungsdenkschrift und Landtagsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.2 Die Arbeit des Gründungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.2.1 Auf dem Weg zum Konstanzer Gründungsausschuss: Länderwettbewerb und »Bildungskatastrophe« . . . . . . . 190 3.2.2 Zentrale Diskussionen: Strukturen, Fächer, Theorien . . . . 207 3.2.3 Ergebnisse des Gründungsausschusses: (k)ein Modell . . . 219 3.2.4 Aufnahme des Konzeptes: Lob und leise Skepsis . . . . . . 228 4. Universität Bielefeld: Center for Advanced Studies und Universität . . 235 4.1 Von Bochum nach Bielefeld: Universitätsneugründungen in Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.2 Helmut Schelskys Vorarbeiten für das Konzept der Universität Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4.2.1 Schelskys Interesse an Hochschulreform und Universitätsneugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4.2.2 Schelskys erster Vorschlag: »Die Theoretische Universität« im differenzierten Hochschulsystem . . . . . . . . . . . . . 251 4.2.3 Schelskys zweiter Vorschlag: Gründung von Centers for Advanced Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.2.4 »Planungsauftrag« für die neue Universität in Ostwestfalen . 274 4.3 Die Arbeit der Gründungsgremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 4.3.1 Auseinandersetzungen um die Gründungsgruppe . . . . . 284 4.3.2 Schelskys Konzepterweiterung: Ein lang geplanter Abschied? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.3.3 Arbeit der Gründungsgremien mit vielen Unterbrechungen 312 4.3.4 Wiederaufnahme und Abschluss der Arbeiten . . . . . . . . 335
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5. Konzept und Realität: Der Aufbau der Neugründungen in Konstanz und Bielefeld . . . . . . 345 5.1 Die Materialisierung der Gedankengebäude: Bau und Aufbau . . 346 5.1.1 Vorbereitung des Betriebs: Schneller Start in Provisorien . . 346 5.1.2 Aus Ideen wird Beton: Bau- und Campusplanung . . . . . . 355 5.2 Neue große Pläne: Vorschläge der Neugründer zum Umbau des Hochschulsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 5.2.1 Hartmut von Hentigs Pläne zur Verbindung von Schulund Hochschulreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 5.2.2 Dahrendorfs Gesamthochschulplan für Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 5.2.3 Schelskys Forschungsplanung für Nordrhein-Westfalen . . 391 5.3 Von großen Plänen zu großer Ernüchterung: Abschiede, Krisen, Zwischenbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 5.3.1 Dahrendorfs Abschied in die Politik und Schelskys Abschied von der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 5.3.2 Reform und Gegenreform am Beispiel der »Konstanzer Krise« von 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 5.3.3 Zwischenbilanzen der Gründer- und Aufbaugeneration . . 421 6. Ausblick: Gründerzeiten nach Konstanz und Bielefeld . . . . . . . . . 441 6.1 Neugründungen bis zum Ende der 1980er Jahre: Fixierung auf Quantitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 6.2 Mehr »Princeton«: Das ZiF bekommt erlesene Gesellschaft . . . . 447 6.3 Nochmal Reformuniversitäten: Wiederholungsversuche in Erfurt und Bremen . . . . . . . . . . . . 451 6.3.1 Die Universität Erfurt: Eine zweite Chance für die Gründer der 1960er Jahre? . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 6.3.2 Die International University Bremen: Privat statt Staat . . . 459 6.4 Reform durch Neugründung – Reform ohne Neugründung . . . . 465 6.5 Aus neuen Universitäten werden alte: 50-Jahrfeiern in Konstanz und Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
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»Es besteht im Augenblick die große Chance, wie einstens die Berliner Universität so heute eine Modell-Universität zu schaffen, die Vorbild sein kann für die Umgestaltung auch anderer Hochschulen in unserem Bereich.«1
So enthusiastisch reagierte der Verband deutscher Studentenschaften auf die Ankündigung der Gründung neuer Universitäten, die 1960 zusammenfiel mit dem Jubiläum der seit dem frühen 20. Jahrhundert als ideal empfundenen Berliner Universität. Unter Berufung auf ihr 150stes Gründungsjahr wurde 1960 die Erwartung formuliert, erneut eine Modell-Universität zu schaffen, die das Hochschulsystem in Bewegung bringen und an neue Herausforderungen anpassen würde. Und noch bevor die westdeutsche Gesellschaft sich ab Mitte des Jahrzehnts bildungspolitischen Themen intensiv annahm, wurde der mit Reformen verbundene Neugründungsgedanke aus der engeren akademischen Öffentlichkeit hinausgetragen. So lobte die Wochenzeitung »Christ und Welt« im Sommer 1962 ein Preisausschreiben zur Frage aus: »Wie sollen sich die neu zu gründenden Universitäten von den bisherigen unterscheiden?« Für die überzeugendsten Antworten hatte der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft nicht weniger als 12.000 DM Preisgeld zur Verfügung gestellt, was damals in etwa dem Gegenwert von drei fabrikneuen VW-Käfern entsprach. Weit über hundert Vorschläge gingen ein. Was sorgte Anfang der 1960er Jahre unter Professoren, Studierenden, Journalisten und Stiftungen für ein so reges Interesse an der Neugründung von Universitäten und an der Frage, wie sich solche neuen Universitäten von den bestehenden, teils viele Jahrhunderte alten unterscheiden sollten? Zwar hatte es auch in der Vergangenheit im Bestand der Universitäten immer wieder Veränderungen gegeben – Ergänzungen durch Gründungen neuer, aber auch durch Wiedergründungen älterer und zwischenzeitlich aufgegebener Universitäten, Verminderungen des Bestandes durch Schließungen in Folge von Nachfrage-, Qualitäts- oder Finanzierungsproblemen, aber auch nach Abspaltung von Territorien wie zuletzt in Folge des Zweiten Weltkriegs. Neu war in den 1960er Jahren allein schon die Dimension der Entwicklung. Binnen zweier Jahrzehnte wurde die Zahl der bundesdeutschen Universitäten von 18 im Jahr 1960 auf 45 im Jahr 1980 mehr als
1 Bericht des VDS-Hochschulausschusses auf der 46. Delegiertenkonferenz in Berlin, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394.
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verdoppelt.2 Baden-Württemberg hatte noch am Ausgang der 1950er Jahre den Startschuss gegeben und 1959 eine neue Universität in Konstanz angekündigt, die Länder Bremen, Nordrhein-Westfalen und Bayern folgten schnell nach. Diese Expansion der Hochschullandschaft folgte zeitverzögert dem Mitte der 1950er Jahre einsetzenden starken Anstieg der Studierendenzahlen, der bis heute unvermindert andauert. Dem Andrang der jungen Generation, die nach dem Abitur ein Hochschulstudium aufnahm, waren die alten Universitäten nicht mehr gewachsen. So begannen Anfang der 1960er Jahre aus greifbaren quantitativen Erfordernissen der Ausbau der alten und die Gründung neuer Universitäten. Parallel zu dieser vom Bedarf nach zusätzlichen Studienplätzen getriebenen Veränderung artikulierte ein Teil der Universitätsangehörigen und der politischen Akteure Bedarf an Reformen der Institution Hochschule. Diese Forderungen setzten unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein und knüpften teils an ähnliche Diskussionen in der Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre an. Nach langen Diskussionen bot die Expansion des Hochschulsektors vielen Reforminteressierten am Anfang der 1960er Jahre aus ihrer Sicht mit dem Umweg über neue Universitäten endlich die Chance zur Reform in einem großen Wurf. Gegenstand dieser Untersuchung ist, welche Konzeptionen die beteiligten Wissenschaftler, Studenten und Politiker für die neuen Universitäten in den 1960er Jahren erarbeiteten und welche Ziele sie damit verbanden, die sich in den bestehenden älteren Institutionen scheinbar nicht umsetzen ließen. Welche inneren und äußeren, wissenschaftlichen und lebensweltlichen, die Fächerstruktur und Organisation, aber auch die Campusgestaltung und das soziale Miteinander prägenden Aspekte der Universität waren betroffen? Ging es tatsächlich um die Neudefinition einer Kerninstitution dessen, was seit den 1970er Jahren von Soziologen und Ökonomen als Wissensgesellschaft bezeichnet wird? Wer diskutierte mit wem über diese Hochschulreformen und Universitätsneugründungen, wie setzte sich die Gruppe der Reformenthusiasten zusammen, aus welchen Fachgebieten und Generationen stammte sie und wie viel Auslands erfahrung besaß sie? Welche Gestaltungsansprüche formulierten die engagierten Wissenschaftler und wie war ihr Verhältnis zu den Studierenden, sowohl vor als auch während der »Studentenbewegung« in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre? Wie entwickelten sich die Gründungsprojekte schließlich vor dem Hintergrund der ausgearbeiteten Konzeptionen – lassen sich Ursachen ihres Erfolges oder Scheiterns ausmachen? Zwei Leitfragen sollen die Untersuchung dieser Fragen strukturieren. Meine erste Leitfrage betrifft das Funktionsverständnis der Universitäten. Als hohe Schulen haben sie traditionell die Funktionen, den Studierenden Allgemeinund wissenschaftliche Berufsbildung, also Bildung und Ausbildung, zu vermit 2 Diese Zahlen berücksichtigen nur Universitäten/Gesamthochschulen ohne Technische Hochschulen, Medizinische Hochschulen und weitere Hochschultypen.
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teln. Eine weitere Aufgabe haben die Universitäten in der Wissensbewahrung und -vermehrung, also in der Forschung und in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.3 Wie diese Trias der Aufgaben aus Bildung, Ausbildung und Forschung in den Debatten um Hochschulreformen und Universitätsneugründungen verstanden wurde, welche Schwerpunkte die beteiligten Akteure jeweils setzten und welche Spannungen zwischen den drei Funktionen auftraten, ist die erste strukturierende Leitfrage meiner Untersuchung. Andere Reformfelder an den Hochschulen, die die Umsetzung der Aufgabentrias ermöglichen sollen, wie etwa die Verwaltungsorganisation der Universität und ihre rechtlichen Rahmenbedingungen, werden im Vergleich dazu nachrangig verfolgt. Meine zweite Leitfrage richtet sich auf die Inspirationsquellen der an Änderungen interessierten oder aber diese ablehnenden Akteure. Sie betrifft sowohl den Umgang mit der Geschichte und Tradition der Universitäten als auch die Bezugnahme auf neuere internationale Entwicklungen. Zu fragen ist also, welche Funktion die Orientierung an der Tradition der Universitäten hatte und welche Rolle im Vergleich dazu die zunehmende Rezeption oder zumindest Bezugnahme auf internationale Trends in der Hochschullandschaft spielte? Hier ist besonders von Interesse, welche ausländischen Hochschulsysteme für die Neugründungen als vorbildhaft rezipiert wurden und ob deren Rezeption sich gleichermaßen auf wissenschaftliche als auch lebensweltliche Aspekte der Universitäten bezog. Diese Fragen werden im Folgenden an zwei ausgewählten Universitätsneugründungen der 1960er Jahre verfolgt, der Universität Konstanz und der Universität Bielefeld. Was macht den Vergleich der Gründungs- und Aufbauentwicklung genau dieser beiden Institutionen lohnenswert? Aus der Gruppe der ersten Universitätsneugründungen der 1960er Jahre handelt es sich bei Konstanz um die erste und bei Bielefeld um die letzte angekündigte Neugründung – dazwischen lagen Bremen, Bochum und Regensburg, bevor ab Ende der 1960er Jahre sowohl neuartige Hochschultypen (Fachhochschulen, Gesamthochschulen) als auch weitere neue Universitäten hinzukamen, die dann veränderten Zielsetzungen folgten.4 Beide hier untersuchten Neugründungen hatten geistes- und sozialwissenschaftliche Schwerpunkte und erhoben auf unterschiedliche Weise den Anspruch, »Reformuniversitäten« zu sein. Mit den Gründungsprojekten 3 Der Begriff »Universitäten« wird im Folgenden nur auf solche Hochschulen bezogen, die auch das Promotionsrecht und damit das Recht zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses haben. Ist hier von Hochschulen die Rede, sind also entweder solche ohne Promotionsrecht oder aber die Gesamtheit aller Hochschulen einschließlich der Universitäten gemeint. 4 Dazu kommen als weitere hier nicht untersuchte Hochschultypen die Neugründung der Technischen Hochschule Dortmund und verschiedener Medizinischer Akademien etwa in Lübeck, Hannover und Ulm, die teilweise im Gründungsprozess bereits zu Universitätsgründungsvorhaben erweitert wurden.
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in Konstanz und Bielefeld war ferner ein dezidierter hochschulpolitischer Gestaltungsanspruch der Länderregierungen verbunden, in Konstanz unter der CDU-geführten Regierung Kurt Georg Kiesingers und in Bielefeld unter der zunächst ebenfalls CDU-geführten Regierung Franz Meyers. Bei Baden-Württemberg und dem doppelt so einwohnerstarken Nordrhein-Westfalen handelte es sich ferner um Bundesländer, die in der Lage waren, solche extrem kostspieligen Gründungsprojekte aus eigener Kraft anzuschieben.5 Durchaus unterschiedlich war in den beiden hier zu vergleichenden Fällen das Set an Akteuren, die zusätzlich zur Landespolitik Einfluss auf die beiden Gründungskonzepte ausübten. Im Fall Konstanz spielten Wissenschaftler aus dem Planungs- und Beratungsgremium Wissenschaftsrat sowie aus der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine herausgehobene Rolle. In Bielefeld war es mit Helmut Schelsky zunächst ein einzelner Wissenschaftler, der die Konzeptionierung der neuartigen Universität anleitete. Insgesamt beteiligten sich an den Gründungen eine ganze Reihe erfolgreicher und teils auch öffentlichkeitswirksamer Wissenschaftler. Neben Helmut Schelsky zählten dazu auch Ralf Dahrendorf als Vertreter der Soziologie, Rechtswissenschaftler wie L udwig Raiser und Paul Mikat, Vertreter geisteswissenschaftlicher Fächer wie die P hilosophen Hermann Lübbe und Joachim Ritter, der Theologe Wilhelm Hahn, aber auch verschiedene Naturwissenschaftler. Manche dieser Wissenschaftler – wie Paul M ikat, Wilhelm Hahn und Ralf Dahrendorf – vollzogen in diesem Zeitraum auch den Wechsel von der Wissenschaft in die Wissenschafts- und Hochschulpolitik, um Expansion und Reform des Bildungswesens politisch mitzugestalten. Schließlich besteht eine wichtige Gemeinsamkeit der hier vergleichend untersuchten Neugründungsprojekte darin, dass es sich in beiden Fällen um Universitäten handelte, die vom Reißbrett geplant wurden, ohne dass vor Ort bereits Pädagogische-, Philosophisch-Theologische oder andere Spezial- und Teilhochschulen vorhanden waren, auf die die Neugründungen aufsetzten, so wie es für die Mehrzahl der späteren Universitätsgründungen ab Ende der 1960er Jahre dann zutraf. Der Zeitrahmen, in dem die beiden Gründungsprojekte unter fallweiser Berücksichtigung des übrigen Neugründungsumfeldes wie auch der bildungs- und gesellschaftspolitischen Entwicklung untersucht werden, reicht jeweils von der erklärten Gründungsabsicht bis etwa zum zehnten Jubiläum des Lehrbetriebs, als die Gründer erstmals umfänglicher Bilanz zogen und selbst eine Zäsur ausmachten – also im Fall Konstanz von 1959 bis 1976 und im Fall Bielefeld von 1964 bis 1979. Im engeren Bereich der Untersuchung steht dabei in etwa der Zeitraum, der in der Forschung schon seit einiger Zeit als die »langen 1960er Jahre« gilt und die 5 Nordrhein-Westfalen war damals wie heute das einwohnerstärkste Bundesland (1960: 15,8 Millionen), Baden-Württemberg diesbezüglich damals wie heute auf Platz drei (1960: 7,7 Millionen) nach Bayern: Statistisches Bundesamt: Genesis Online Datenbank: https:// www-genesis.destatis.de/genesis/online, letzter Abruf 29.5.2014.
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Jahre 1957/58 bis 1972/73 umfasst. In diesen Jahren entwickelte sich die Grundstimmung der Hochschulreformer von anfänglich tastenden Reformversuchen über reformeuphorische Gründerzeiten bis hin zu einer veritablen Gründerkrise. Zum erweiterten Untersuchungszeitraum gehört hier die Inkubationsphase der Neugründungsprojekte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ein Ausblick auf die weitere Entwicklung der Neugründungsprojekte bis in die Gegenwart. Welche Rolle spielt in dieser Untersuchung der Beitrag der Studierenden und »1968«? Als die Studierendenproteste ab 1967 an Dynamik gewannen, waren die Konzepte der Reformuniversitäten in Konstanz und Bielefeld bereits fertiggestellt. Auf sie hatte der Verband der Deutschen Studentenschaften zumindest mit Blick auf einen Aspekt auch nachhaltig Einfluss genommen, wie zu zeigen sein wird. Der Mitte der 1960er Jahre einsetzende gesellschaftliche und politische Umschwung hat die Projekte aber sehr wohl geprägt, indem er die Hochschulpolitik zu einer Konzentration auf die Verrechtlichung und auf die Quantitäten führte, die sich auf die Ausführung und Umsetzung der Neugründungsprojekte in Konstanz und Bielefeld auswirkte. Die an der Neugründung beteiligten Wissenschaftler haben diese Kursänderung der Hochschulpolitik und deren potentielle Folgen zu unterschiedlicher Zeit realisiert und auch unterschiedliche Konsequenzen daraus gezogen. Der Verband deutscher Studentenschaften, der die Neugründungen der 1960er Jahre in der ersten Hälfte der 1960er Jahre intensiv begleitet hatte, wurde auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 1969 aufgelöst. Bestimmende Akteure und propagierte Themen auf Seiten der Studierenden veränderten sich binnen kurzer Zeit vollkommen und damit auch die Bedeutung der Neugründungen für die studentische Politik. Im Rahmen dieser Untersuchung interessiert der Beitrag der Studenten zu den Neugründungen vor 1968 mit Blick auf die konzeptionellen und nach 1968 mit Blick auf die strukturellen Folgen. In zweifacher Hinsicht werden Grenzen politischer Systeme in dieser Untersuchung nicht überschritten – nämlich weder zur vorangegangenen Entwicklung der Universitäten im Nationalsozialismus noch zur gleichzeitigen Entwicklung in Ostdeutschland. Auch können zwei andere Fragestellungen im Rahmen dieser Untersuchung nicht gelöst werden. Die vergleichende Untersuchung der Gründungsgeschichte beider Universitäten kann Hochschulforschung im heutigen Sinn nicht ersetzen. Deshalb können Fragen danach, welche einzelnen Innovationen an Hochschulen sich den damaligen Konzeptionierungs- und Gründungsarbeiten verdankten oder wie sie abgewandelt implementiert wurden, höchsten in Ansätzen zu beantworten versucht werden, indem die Eigenwahrnehmungen der Akteure vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Anstrengungen untersucht werden. Ferner kann keine Wissenschaftsgeschichte für all die an den Gründungen beteiligten Disziplinen geleistet werden, die Antworten auf die Fragen geben würde, was die beiden Neugründungen für die Entwicklung der an ihnen vertretenen einzelnen Fächer bewirkt und ermöglicht haben. Eine
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Geschichte der Bielefelder Schule der Geschichtswissenschaft oder der Konstanzer Schule in den Literaturwissenschaften kann hier nicht geschrieben werden. Die von mir verfolgte vergleichende Gründungsgeschichte kann also weder Hochschulforschung und Wirkungsgeschichte noch Fachgeschichten ersetzen, sondern will erstmals aus den Quellen untersuchen, welche Ideen mit den Universitätsneugründungen der 1960er Jahre mit Blick auf ihre Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungsfunktion verbunden waren, welche Traditionen und zeitgenössischen Entwicklungen dazu rezipiert wurden und wie die Konzepte vom gesellschaftlichen und politischen Kontext beeinflusst wurden.
Forschungsstand Wie lässt sich diese Fragestellung in die Universitäts- und Zeitgeschichte einordnen und an welche Untersuchungen kann sie anknüpfen? Die Universitätsgeschichte wird in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft von einer sehr überschaubaren Community betrieben, die sich später als die erziehungswissenschaftliche Bildungs- und die lange Zeit vorwiegend naturwissenschaftliche Wissenschaftsgeschichte, nämlich erst in den 1990er Jahren zu professionalisieren begonnen hat.6 Universitätsgeschichte als früher lediglich jubiläumsbezogene Geschichtsschreibung erlebt nach einem weitgehenden Verzicht der Hochschulen auf Rituale und Feierlichkeiten in den 1970er und 1980er Jahren eine Wiederbelebung.7 Dieser Trend betrifft aber nicht nur die Universitäten, sondern gleichermaßen auch die unterschiedlichen Wissenschaftsorganisatio nen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen.8 Auch wenn Jubiläumsgeschichten weiterhin, teilweise in methodisch zunehmend anspruchsvollerer Form, geschrieben werden, hat sich das Spektrum der 6 Als Beispiele gelten die Gründung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin 1994, die Gründung einer Fachgesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1995 und die Gründung eines Jahrbuchs für Universitätsgeschichte 1998. 2006 ist zudem eine Gesellschaft für Hochschulforschung gegründet worden, die allerdings eher sozialwissenschaftlich ausgerichtet ist. 7 Dazu zuletzt, auch unter Verweis auf ältere Forschungsüberblicke, Paletschek, Stand und Perspektiven sowie dies., The Writing of University History. 8 Eine Ausnahme stellt die Hochschulrektorenkonferenz dar. Zur außeruniversitären Forschung etwa zur Fraunhofer-Gesellschaft Trischler/vom Bruch, Forschung für den Markt; zur Max-Planck-Gesellschaft Vierhaus/vom Brocke, Forschung im Spannungsfeld. Die Vorarbeiten für eine neue Untersuchung der Entwicklung der Max-Planck-Gesellschaft seit 1945 wurden 2014 vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte ausgeschrieben. Zu den wissenschaftsfördernden Stiftungen Schulze, Der Stifterverband, zur Volkswagenstiftung VolkswagenStiftung, Impulse geben und gleichzeitig Nicolaysen, Der lange Weg. Zur Deutschen Forschungsgemeinschaft und ihrer Förderpolitik erscheinen seit 2006/2007 beim Steiner Verlag Publikationen in den beiden Reihen »Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft« und »Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft«, etwa Orth/Oberkrome, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und Orth, Autonomie und Planung.
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verfolgten Fragestellungen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren allmählich verbreitert.9 Orientierungsfunktion dafür übernahmen entsprechende Darstellungen in Handbüchern der Sozial- und der Bildungsgeschichte, die zumeist von Soziologen und Erziehungswissenschaftlern und nicht von Historikern verfasst wurden.10 Auch die vierbändige Geschichte der Universität in Europa vom Mittelalter bis in die Gegenwart, das bislang umfangreichste derartige Werk, wurde vom Soziologen Walter Rüegg über fast 20 Jahre hinweg herausgegeben und ist mit Unterstützung der European University Association inzwischen vollständig veröffentlicht worden.11 Rüegg teilte mit einigen Autoren der erwähnten Handbücher der Bildungs- und Sozialgeschichte – etwas Christoph Oehler und Thomas Ellwein – die Eigenschaft, dass er selbst nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Akteur in der Hochschulpolitik der 1960er Jahre war, in seinem Fall in den 1960er Jahren sowohl Rektor der Universität Frankfurt als auch Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz.12 Parallel zum Erscheinen dieser Überblicksdarstellungen entstanden geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zur Entwicklung der Universitäten, deren Untersuchungszeiträume sich der Gegenwart weiter annähern. Parallel mit der seit den 1990er Jahren in der Zeitgeschichtsschreibung einsetzenden Historisierung der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre erschienen in den letzten Jahren auch Untersuchungen zur Nachkriegsentwicklung der Universitätsund Wissenschaftslandschaft sowohl in Deutschland als auch in Europa, die 9 Aktuelle Beispiele sind Jubiläumsgeschichten zum 450. Jubiläum der 1548 gegründeten Universität Jena 1998 (Paletschek zählte 14 entsprechende Monographien zwischen 1997 und 2007) und zum 200. Jubiläum der Humboldt-Universität Berlin 2010 (sechs zwischen 2012 und 2014 erschienene Bände, herausgegeben von Heinz Elmar Tenorth, Rüdiger vom Bruch u. a.). Für eine Gründung der 1910er Jahre Hammerstein, Johann Wolfgang Goethe Universität. Auch die jüngeren Universitäten ziehen in den letzten Jahren nach und veröffentlichen entsprechende, allerdings nicht mehrbändige und auch nicht nur wissenschaftliche Publikationen, sondern auch Aufsatzsammlungen, Zeitzeugenberichte oder Bildbände, beispielsweise zu Augsburg: Lengger/Paulus/Weber, Stätte des Wissens, oder zu Oldenburg: Harms, Mehr Lust als Last. Literatur zu den Neugründungen der 1960er Jahre siehe weiter unten. 10 Beiträge von Christoph Führ, Thomas Ellwein und Christoph Oehler in: Führ/Furck, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichteund Beiträge von Anweiler: Anweiler, Bildungspolitik, 2005, ders., Bildungspolitik, 2007 sowie ders., Bildungspolitik, 2006. Bereits 1977 und 1986 hatte der Sozialwissenschaftler Klaus Hüfner am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung eine zweibändige Studie zur Bildungspolitik veröffentlicht: Hüfner, Konjunkturen der Bildungspolitik und ders., Hochkonjunktur und Flaute. 11 Als letzter Band erschien Rüegg, Geschichte der Universität in Europa, Band IV. 12 Eine Universitätsgeschichte mit zahlreichen Quellen als Lehrbuch verfasst hat Ellwein, Die deutsche Universität. Die bislang letzte kompakte wissenschaftliche Synthese der Universitätsgeschichte stammt von Weber, Geschichte der europäischen Universität. Vergleichende Untersuchungen, die auch die Vereinigten Staaten umfassen, stammten zuletzt von Rothblatt/Wittrock, The European and the American University und Rothblatt, The Modern University.
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inzwischen bis in die späten 1970er Jahre hineinreichen.13 So wie die Universitäten in den 1950er Jahren als Forschungsgegenstand zunächst von Nachwuchswissenschaftlern der Soziologie entdeckt worden waren, von denen einige später sogar noch an der einsetzenden Historisierung der Universitätsentwicklung der Nachkriegsjahre beteiligt waren, sind es in den letzten Jahren wiederum vor allem akademische Qualifikationsarbeiten gewesen, die sich der Hochschul- und Universitätsentwicklung in Vergangenheit und Gegenwart aus sozial- und jetzt auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive widmen und diese näher an die Zeitgeschichte heranrücken.14 Gegenstand von Habilitationsschriften waren die Debatten um Universitätsreform in den allerersten Nachkriegsjahren und Analysen zur Entwicklung des sogenannten Humboldt-Mythos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.15 Dissertationen liegen inzwischen vor zu politischen Aktivitäten der Studierenden an den Universitäten und im Verband der Deutschen Studentenschaften zwischen 1949 und 1969, zu den Versuchen, neue Wohn- und Gemeinschaftsformen an deutschen Universitäten zu etablieren, zur Entwicklung des 1957 gegründeten Beratungsgremiums Wissenschaftsrat, zur Amerikanisierung im deutschen Hochschulwesen, zum Vergleich der Hochschulreform in Bayern und Hessen von 1957 bis 1976 und zum Protest der Professoren gegen Studentenbewegung und bestimmte Hochschulreformen seit den späten 1960er Jahren.16 Die Geschichte der Universitätsneugründungen der 1960er Jahre ist bislang nur für einzelne Standorte, die Geschichte der Universitätsneugründungen der 1970er Jahre (Fachhochschulen und Gesamthochschulen) noch nicht quellenbasiert untersucht worden. Aus den frühen 1960er Jahren sind es bislang drei Neugründungen, die teils im Rahmen von Jubiläen je einzeln, aber nicht vergleichend, und zudem mit ganz unterschiedlichen Akzenten untersucht worden sind, nämlich Bochum, Bremen und Regensburg.17 Zur Campusentwicklung lag 13 Zum Forschungsfeld in seiner Breite Bayer/Sparing/Woelk, Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus, Schleiermacher, Wissenschaft macht Politik. Mit Blick auf eine einzelne Universität etwa Jahr/Schaarschmidt, Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Strukturen und Personen, sowie Jahr/vom Bruch, Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Fachbereiche und Fakultäten. Außerdem Weisbrod, Akademische Vergangenheitspolitik. 14 Weil im Folgenden die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten im Vordergrund stehen, sei nur beispielhaft auf einige sozialwissenschaftliche Dissertationen im Kontext der aktuellen Universitätsreformen verwiesen: Würmser, Auf dem Weg zu neuen Hochschultypen; Kosmützky, Von der organisierten Institution zur institutionalisierten Organisation oder Meier, Die Universität als Akteur. 15 Wolbring, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt; Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition, sowie dies., Die Erfindung der Humboldtschen Universität. 16 Spix, Abschied vom Elfenbeinturm; Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform; von Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus; Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, sowie ders., Der Wissenschaftsrat; Paulus, Vorbild USA; Rohstock, Von der »Ordinarienuniversität« zur »Revolutionszentrale«; Wehrs, Protest der Professoren. 17 Zu Bochum: Stallmann, Euphorische Jahre. Zu Bremen: Gräfing, Bildungspolitik in Bremen sowie dies., Tradition Reform; zu Regensburg Listl, Ein Campus für Regensburg.
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bereits einige Jahre zuvor eine herausragende Studie vor, die sich international vergleichend mit der architekturgeschichtlichen Dimension der Neugründungen der Nachkriegszeit in den USA, Großbritannien und auch in der Bundesrepublik beschäftigte.18 Als Vergleich der Neugründungen in den 1960er und 1970er Jahren liegt bisher nur ein einziger überblicksartiger, aber fundierter wie pointierter Artikel vor, der die Neugründungen Konstanz und Bielefeld mit den späteren Neugründungen der Gesamthochschule Kassel und der »roten Kaderschmiede« Bremen vergleicht.19 Eine Kurztypologie aller Neugründungen ist im Rahmen eines Rückblicks über die Versuche staatlicher Hochschulplanung entstanden.20 Die Gründungsgeschichten von Konstanz und Bielefeld sind zwar bereits Gegenstand zahlreicher Publikationen der an ihrer Entstehungsgeschichte beteiligten Wissenschaftler gewesen, ihre Entwicklung ist – vielleicht gerade auch deshalb – jedoch noch nicht aus den Quellen geschrieben worden. Auf welche methodischen Überlegungen kann sich die vergleichende Untersuchung der Konstanzer und Bielefelder Gründungsgeschichte stützen? Die Veröffentlichungen zur Verortung der Universitätsgeschichte in der Zeitgeschichte sind überschaubar. Mit dem Professionalisierungsschub dieses Teilbereichs in den 1990er Jahren verbanden sich zunächst Forderungen zur Verknüpfung von Wissenschaftsgeschichte und Universitätsgeschichte. Während die Wissenschaftsgeschichte zumeist auf die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Fächer ausgerichtet war, hatte die Geschichtswissenschaft sich bis in die 1960er Jahre hinein auf die Politikgeschichte im nationalen Rahmen konzentriert.21 Der neue Pluralismus auf beiden Seiten erschien als gute Voraussetzung zur gegenseitigen Annäherung, die mit biographischen Ansätzen, einer Historisierung der Wissensgesellschaft und der Neubestimmung der Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse begonnen wurde.22 Während die Neubestimmung der Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse mit der Gründung eines Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte 1994 institutionelle Folgen hatte, gibt es bisher keine historische Meistererzählung, die etwa die deutsche oder europäische Geschichte entlang bildungs- und wissenshistorischer und nicht sozial- oder politikgeschichtlicher Fragestellungen erzählen würde.23 18 Muthesius, The Postwar University. Architekturgeschichtlich jetzt auch die Universitätsbauten mit Warenhausbauten vergleichend: Langenberg, Bauten der Boomjahre. 19 Rudloff, Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens. Außerdem ders., Bildungspolitik als Sozial- und Gesellschaftspolitik; ders., Ansatzpunkte und Hindernisse. 20 Oehler, Staatliche Hochschulplanung in Deutschland. 21 Trischler, Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 241. 22 Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte; vom Bruch, Wissenschaft im Gehäuse; Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte sowie SzöllösiJanze, Wissensgesellschaft in Deutschland. 23 Die Universitätsentwicklung kommt meist eher kurz oder enthält kommentierende Stellungnahme des Miterlebenden – etwa auch bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band, S. 380–385.
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Während der Vorschlag zur Strukturierung der Zeitgeschichte durch die Wissensgeschichte also zumindest mit Blick auf die großen Überblickserzählungen noch nicht aufgenommen wurde, sind eine ganze Reihe neuer Publikationen erschienen, an denen sich die Überlegungen zu neuen biographischen Ansätzen zwischen Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft, auch als Verknüpfung mit Ideen- und Politikgeschichte, überprüfen ließen. Diese Biographien haben bislang eher Wissenschaftler – auch hochschulpolitisch aktive unter ihnen –, als wissenschaftsinteressierte Politiker zum Gegenstand. Sie betreffen allerdings vorwiegend Personen, die für die Entwicklung der Neugründungen in Konstanz und Bielefeld nur am Rande eine Rolle spielten.24 Wo ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Forschungsfortschritte und methodischen Überlegungen meine vergleichende Untersuchung von Universitätsneugründungen zu positionieren? Auch wenn einige Wissenschaftler und Politiker eine herausgehobene Rolle im Gründungsprozess der Konstanzer und Bielefelder Universität spielen, ist sie weder Kollektivbiographie noch Generationengeschichte.25 Indem sie die Konzeptionierung und Entstehung von neuartigen oder zumindest doch neuen Universitäten untersucht, die zwischen Wissenschaftlern, Studenten, Politikern und Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurden, ist sie vergleichende Institutionengeschichte und Konfliktgeschichte eines zentralen politisch-gesellschaftlichen Handlungsfeldes, die dem Aufruf zur Untersuchung der Zeitgeschichte unter den Vorzeichen der Wissensgesellschaft folgt. Zu dieser Art Zeitgeschichte gehören dann auch Debatten zur Bestimmung der Institutionen der Bildung und Ausbildung, Wissensvermehrung und -weitergabe und die Versuche, die neuen Universitäten im sich weiter ausdifferenzierenden Feld von Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen zu verorten. Am Rande berührt die vergleichende Entstehungsgeschichte beider Universitäten damit auch die Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft mit Reform- und Planungsprozessen in den 1960er Jahren und – ebenfalls unter dem Zeichen der Verwissenschaftlichung stehende – Trends zur wissenschaftlichen Politikberatung oder doch zumindest zur Politikberatung durch Wissenschaftler, was nicht zwingend dasselbe sein muss.26 24 Dietze, Nachgeholtes Leben, Dunkhase, Werner Conze und zu eben diesem kurz zuvor Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, sowie Schlak, Wilhelm H ennis. Zu H elmut Schelsky liegt ein neuer Sammelband vor: Gallus, Helmut Schelsky, zu Ralf Dahrendorf bereitet Franziska Meifort, die Dahrendorfs Nachlass bis 2013 für das Bundesarchiv erschlossen hat, eine Monographie vor. Für die Ministerpräsidenten zur Zeit der Universitätsneugründungen in Baden-Württemberg Gassert, Kurt Georg Kiesinger und für Nordrhein-Westfalen sowohl Marx, Franz Meyers als auch Düding, Heinz Kühn. In den Biographien von Meyers und Kühn sind die landespolitisch bedeutsamen Universitätsgründungsprojekte anders als bei Gasserts Biographie zu Kiesinger nur sehr am Rande abgehandelt. 25 Ein alternativer Zugang zum Thema wäre etwa eine Beschränkung des Vergleichs auf die hochschulreformerischen Betätigungen der Soziologen Helmut Schelsky und Ralf Dahrendorf. 26 Dazu Rudloff, Bildungsplanung sowie Ruck, Ein kurzer Sommer.
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Vergleich und Transfer, ebenfalls zentrale Forderungen an eine über den nationalen Tellerrand hinausschauende Geschichtswissenschaft, können für diese Untersuchung leider nur eingeschränkt verfolgt werden. Die ursprünglichen Überlegungen, die Universitätsneugründungen in der Bundesrepublik mit den etwas früher einsetzenden in England zu vergleichen, ließ sich aus praktischen Gründen nicht weiter verfolgen.27 So blieb es bei dem Vergleich zweier Neugründungsprojekte innerhalb der Bundesrepublik, die jedoch in zwei verschiedenen Bundesländern angesiedelt sind, welche sich im Rahmen der Kultur- und Wissenschaftspolitik gelegentlich wie verfeindete Nationalstaaten zu gerieren pflegen. Das Konzept des Transfers wird schließlich dort aufgegriffen, wo Tendenzen der »Westernisierung« und der »Amerikanisierung« zu überprüfen sind.28 Letztlich kann diese Untersuchung auch als Beitrag zu einer imaginären geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin »Reformgeschichte« verstanden werden.29
Quellengrundlage Die Gründung neuer Institutionen als Bestandteil der Expansion des Hochschulwesens hat bereits zeitgenössisch zu zahlreichen Reflexionen Anlass gegeben, doch erst heute sind bessere Voraussetzungen zur Historisierung gegeben. Dazu zählen neben dem Aufbau von Archiven an den neugegründeten Universitäten seit den 1990er Jahren auch später entstandene Quellen wie die publizierten Erinnerungen von Zeitzeugen. So steht heute insgesamt ein beträchtliches Angebot an unveröffentlichten und veröffentlichten Quellen zur Verfügung, um die Universitätsgründerzeit der 1960er Jahre und die auf sie hinleitenden Debatten zu untersuchen. Zu beiden Gründungsprojekten in Konstanz und Bielefeld konnten umfangreiche unveröffentlichte Quellen erstmals ausgewertet werden. Für die Gründungsphase sind diese in den Beständen der Kultusministerien in den jeweiligen Landesarchiven, spätestens mit Einsetzung der Gründungsausschüsse auch an den Standorten der Universitäten selbst zugänglich. Während für Bielefeld der Nachlass Helmut Schelskys eine herausgehobene Rolle spielt, sind es für Konstanz die Vorarbeiten des Wissenschaftsrates, die teils in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates und teils im Bundesarchiv zugänglich sind, wo auch die Unterlagen des früheren Verbandes Deutscher Studentenschaften aufbewahrt werden. Punktuell ergänzt wurden diese Aktenbestände schließlich durch einzelne Dokumente aus der Volkswagenstiftung, die Aufschluss über einzelne Vorarbeiten der Bielefelder Universitätsgründung zwischen 1963 und 1965 geben. 27 Einen deutsch-englischen Vergleich der Universitätsneugründungen Trier und York beinhaltet das Dissertationsprojekt von Kröper, Neue Universitäten – neue Urbanität. 28 Dazu Doering-Manteuffel, Westernisierung, sowie als Literaturbericht Kießling, Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit. 29 Auf ganz unterschiedliche Weise haben sich diesem Feld wissenschaftlich bzw. essayistisch genähert: Nolte, Die Reformzeit und Bollmann, Reform.
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Zusätzlich steht eine große Fülle an veröffentlichen Quellen zur Verfügung. Zwei zentrale Quellenbände sowohl zu den Reformdiskussionen der Nachkriegsjahre als auch zur ersten Etappe der Universitätsneugründungen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre mit den Berichten der Gründungsausschüsse und Denkschriften der Länder sind bereits in den 1960er Jahren veröffentlicht worden.30 Ferner kann für den hier relevanten Zeitraum aus einer Überfülle an Debattenbeiträgen ausgewählt werden, wozu Tagungsdokumentationen ebenso zählen wie Beiträge in Tages- und Wochenzeitungen wie »Die Zeit«, »Der Spiegel« und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und Zeitschriften wie »Deutsche Universitätszeitung« und »Konstanzer Blätter für Hochschulfragen«. Vorschläge und Stellungnahmen zu Hochschulreformen und Universitätsneugründungen verfassten einzelne Wissenschaftler zudem in großer Zahl auch als Denk- und Streitschriften, die in Buchform veröffentlicht wurden und die in den 1950er und 1960er Jahren in der Bibliothek der Westdeutschen Rektorenkonferenz, später Hochschulrektorenkonferenz, in Bonn gezielt gesammelt worden sind. Einzelne der an den Gründungen in Konzept- und Aufbauphase dann konkret beteiligten Akteure haben sich nicht nur in der Gründerzeit selbst publizistisch betätigt, sondern in unterschiedlicher Weise auch rückblickend über ihre Arbeiten berichtet. Wilhelm Hahn, Ralf Dahrendorf und Hartmut von Hentig, um nur die prominentesten zu nennen, haben Teile ihrer Autobiographien der Neugründungsarbeit gewidmet.31 Zeitzeugenberichte von den Gründungsarbeiten sind in mehreren Sammelbänden erhalten, die zu Jubiläen der Neugründungen Konstanz und Bielefeld veröffentlicht wurden. Auch wissenschaftliche Arbeiten, die im Zusammenhang mit den Diskussionen um Hochschulreform und Neugründungen entstanden sind, gehören aus heutiger Sicht zum Quellenbestand, wozu empirische Untersuchungen zur Lage der Studierenden und zu Einstellungen und Wahrnehmungen der Professoren ebenso zählen, wie die von Akteuren verfassten Überblicke zur Hochschulpolitik und selbst zur Geschichte des Universitäts- und Wissenschaftssystems.
Aufbau der Untersuchung Die Untersuchung gliedert sich in sechs Kapitel. Zunächst wird die Ausgangslage am Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht, die durch Positionsbestimmungen vieler Universitätsangehöriger und direkt einsetzende Forderungen nach Reformen bestimmt war, während parallel in den westlichen Besatzungs 30 Für die Hochschulreformdebatten der Nachkriegsjahre Neuhaus, Dokumente zur Hochschulreform. Für die Neugründungen der 1960er Jahre: Ders., Dokumente zur Gründung. 31 Biographien und Erinnerungen gründender Professoren gibt es beispielsweise von Dahrendorf, Über Grenzen; von Hentig, Mein Leben; Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte; Autrum, Mein Leben; Morkel, Erinnerung an die Universität; sowie aus ministerialer Perspektive schon vor längerer Zeit: Hahn, Ich stehe dazu.
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zonen bereits verschiedene Hochschulen und Hochschultypen neu gegründet wurden. Der zweite Teil dieses Kapitels ist den 1950er Jahren gewidmet, in denen über die drei zentralen Funktionen der Universitäten – Bildung, Ausbildung und Forschung – in stetig wachsendem Teilnehmerkreis intensiv diskutiert wurde, bis an der Wende zu den 1960er Jahren Ausbau und Neubau von Universitäten auf die Agenda kamen. Die einsetzenden Universitätsgründerzeiten hat das zweite Hauptkapitel zum Gegenstand, in dem drei verschiedene Konzepte neuer und neuartiger Universitäten von unterschiedlichen Akteuren in den Jahren 1960 bis 1962 miteinander verglichen werden. Darauf folgt im dritten Kapitel die Untersuchung der Konstanzer Universitätskonzeptionierung und -gründung als dem ersten Fallbeispiel, die von 1959 bis 1965 andauerte. Die Untersuchung der Konzeptionierung der Universität Bielefeld im vierten Kapitel schließt zeitlich an, weil sie im engeren Sinne nur die Jahre 1964 bis 1967 umfasst. Zwar sind hierzu keine Vorarbeiten des Wissenschaftsrates, wie im Konstanzer Fall, dafür aber umfänglichen Vorarbeiten Helmut Schelskys zu berücksichtigen, die bereits 1960 – also etwa zeitgleich mit den Überlegungen für Konstanz – ihren Anfang nahmen. Das fünfte Kapitel ist der Übersetzung der beiden Gründungskonzepte in Bau und Aufbau gewidmet, die über die ersten zehn Betriebsjahre der Neugründungen bis 1976 bzw. 1979 verfolgt werden. In diesen Zeitraum fallen parallel zum Aufbau der Neugründungen zusätzliche Aktivitäten Schelskys und Dahrendorfs in neuen Landesplanungsgremien, die mit den Universitätsgründungen in ursächlichem Zusammenhang stehen, aber in ihrem Empfehlungsrahmen schließlich weit über diese hinausreichten. Im Schlusskapitel wird ein Ausblick auf die weitere Entwicklung ab den 1970er Jahren gegeben. Dabei wird die Wiederaufnahme einzelner Elemente der Neugründungskonzepte aber auch der Idee der Reform durch Neugründung untersucht und schließlich ein Vergleich der Hochschulreformphasen der 1960er und der späten 1990er Jahre skizziert, da nicht nur viele Reformgegenstände nach dreißig Jahren eine erneute Betrachtung und Umsetzungsversuche erfuhren, sondern auch ein Teil der Personen, die an den Gründungen der ersten Phase bereits zentral beteiligt waren, zwei Neugründungsprojekte der zweiten Phase in Erfurt und Bremen geprägt haben.
1. Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren: Reformversuche zwischen Tradition und Transfer
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die Hochschul- und Wissenschaftslandschaft in Deutschland schwer beschädigt – personell, materiell und ideell. Zahlreiche Studenten und Hochschullehrer waren vertrieben oder getötet worden, die Bausubstanz und Ausstattung von Hörsälen über Bibliotheken bis zu Laboren war mit Ausnahme weniger Standorte schwer in Mitleidenschaft gezogen, die charakterliche Bildungskraft der deutschen Hochschulen und die Integrität der an ihnen lehrenden und forschenden Personen in Frage gestellt. Hier wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen konnte berechtigterweise die Frage aufgeworfen werden, ob ein radikaler Neuanfang gewagt oder dem Wiederanknüpfen an bestehende Traditionen – und wenn ja, welche – der Vorzug gegeben werden sollte. Welche Veränderungsbedarfe wurden von den deutschen Universitätsangehörigen wie auch den Besatzungsmächten gesehen und welche Konsequenzen gezogen?
1.1 Die Besatzungszeit: Keine »Stunde Null« an den Hochschulen 1.1.1 Überprüfung der Leitbilder und Popularisierung des Humboldt-Mythos Wie war es um das Selbstverständnis der Universitäten nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus bestellt? Welche Herausforderungen sahen ihre offiziellen Repräsentanten? Wurde die politische Zäsur auch als eine universitätsgeschichtliche und hochschulpolitische erlebt und dargestellt?1 In einer vergleichenden Auswertung der Festreden zur Wiedereröffnung, die an fast allen der 21 auf dem Gebiet der vier Besatzungszonen verbliebenen Universitäten von ihren Rektoren in den Jahren 1945 und 1946 gehalten wurden, 1 Zu den Reformdebatten in den ersten Nachkriegsjahren Wolbring, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt. Zur Entwicklung der Hochschullandschaft in der Bundesrepublik im Kontext des gesamten Bildungssystems: Führ/Furck, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6: 1.Teilband. Zur deutschen Hochschulgeschichte im europäischen Kontext: Rüegg, Geschichte der Universität in Europa. Band IV. Zum Forschungsstand ausführlich: Sparing/Woelk, Forschungsergebnisse und -desiderate; zu Kontinuitätsfragen im Hochschulbereich: Ash, Konstruierte Kontinuitäten.
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Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren
kommt Eike Wolgast zu dem Ergebnis, dass zwar ein gewisses Maß an Selbstkritik am Verhalten der Institution Universität im Nationalsozialismus geäußert wurde, insgesamt aber ein ungebrochenes Selbstbewusstsein der akademischen Korporation bestand.2 Vorherrschend war – offenbar mit sehr wenigen Ausnahmen – das »Selbstverständnis als intakt gebliebene Institution und als verlässlicher Hüter der Werte von Kultur und Geist«.3 Die zurückliegenden Jahre des Nationalsozialismus wurden in den Reden zumeist rasch abgehandelt, die Entlassungen und Vertreibungen von Hochschulangehörigen nach 1933 durchweg ausgeblendet. Als Defizit formuliert wurde vor allem eine Vernachlässigung des universitären Bildungsauftrags gegenüber der Forschung. In diesem Kontext wurden Antike, Christentum und Neuhumanismus als klassische, überzeitliche und allgemein gültige Werte und Bezugsrahmen zur Abgrenzung von den nationalsozialistischen Ideologien hervorgehoben. Der Bildungsauftrag der Universität – so die vielfach formulierte Forderung – sollte künftig eine größere Rolle spielen.4 Deutlich wird in den Reden der Universitätsrektoren, die im späten Kaiserreich akademisch sozialisiert worden waren und ein breiteres Spektrum fachdisziplinärer Perspektiven vertraten, dass in den ersten Auseinandersetzungen mit der Rolle und Weiterentwicklung der Universitäten nach 1945 weder an radikalen Neuanfang noch an ein Anknüpfen an hochschulpolitische Entwicklungen in der Weimarer Republik gedacht wurde. Bezugspunkt war vielmehr die dem frühen 19. Jahrhundert entstammende Vorstellung von Universität bzw. das, was man seit dem frühen 20. Jahrhundert darunter verstand. Damit nahmen die Wissenschaftler keine Sonderrolle ein. Während sich im allgemeinpolitischen Raum der Nachkriegszeit die Reverenzen an Johann Wolfgang von Goethe großer Popularität erfreuten, waren es im universitären Bereich jene an Wilhelm von Humboldt.5 Der Humboldt-Bezug in den hochschulpolitischen Debatten ab 1945 war indes keine Neuerfindung der Nachkriegszeit, sondern die Wiederaufnahme eines Trends aus dem späten Kaiserreich und der Weimarer Republik, als die Rede von der durch Humboldt geprägten Berliner Universität als Synonym für die moderne deutsche Universität aufkam. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts hatten 2 Zu Reden der Rektoren bei den Wiedereröffnungen der deutschen Universitäten ohne Berücksichtigung von Technischen und andere Hochschulen Wolgast, Die Wahrnehmung des Dritten Reiches, S. 285–328. 3 Ebd., S. 304. 4 Neben den Rektoren als offiziellen Repräsentanten der Universitäten meldeten sich weitere ihrer Mitglieder in diesen ersten Nachkriegsjahren zu Wort und beschrieben die zeitgenössischen Herausforderungen ihrer Institutionen. Entsprechende Aufsätze erschienen in Zeitschriften wie »Universitas«, »Studium Generale«, »Die Sammlung« oder »Die Wandlung«, die in diesen Jahren Foren reger Debatten zur intellektuellen Standortbestimmung waren. Systematisch ausgewertet jetzt bei Wolbring, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt. 5 Zum Goethe-Kult etwa Mandelkow, Der »restaurierte« Goethe.
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die deutschen Universitäten einen dynamischen Veränderungsprozess erlebt, zu dem das starke Wachstum neuer Fachdisziplinen – vor allem in den Naturwissenschaften – und die damit einhergehende zunehmende wissenschaftliche Spezialisierung gehörten, aber auch die Entstehung und baldige Gleichstellung neuer technischer Hochschulen mit den Universitäten durch Verleihung des Promotionsrechts sowie die langfristige Zunahme der Studierendenzahlen. Nicht zuletzt sorgte auch die zunehmende Konkurrenz durch die staatlich geförderte Forschung außerhalb von Universitäten mit der 1911 gegründeten und über alle folgenden politischen Systemwechsel erhaltenen und stets ausgebauten KaiserWilhelm-Gesellschaft (später Max-Planck-Gesellschaft) für Veränderungen in der Hochschul- und Forschungslandschaft. In diesem Kontext wurde kurz vor der Jahrhundertwende Wilhelm von H umboldts Denkschrift »über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« wiederentdeckt, die er im Zusammenhang mit der von ihm mit betriebenen Berliner Universitätsgründung 1810 geschrieben hatte. Sylvia Paletschek hat die auf dieser Wiederentdeckung aufbauenden Diskussionen als »Erfindung der Humboldtschen Universität« dargestellt.6 Was meinte diese Rede von der Humboldtschen Universität? Die Berliner Universität wurde ab den 1910er Jahren zunehmend gleichgesetzt mit einer neuhumanistischen Universitätsidee, die aus verschiedenen Schriften Wilhelm von Humboldts, Friedrich Schleiermachers, Johann Gottlieb Fichtes und Heinrich Steffens konstruiert wurde und fünf zentrale Bausteine umfasste: Erstens die Einheit (im Sinne von Zusammengehörigkeit) und zweitens die Freiheit von Forschung und Lehre, drittens die Fokussierung der Universität auf wissenschaftliche Bildung statt Berufsbildung, viertens die Annahme, dass diese wissenschaftliche Bildung automatisch auch Persönlichkeitsbildung bewirke und fünftens die von der Philosophischen Fakultät zusammengehaltene Einheit aller Wissenschaften. Die »Inthronisierung der neuhumanistischen Universitätsidee«7 rund um die Feierlichkeiten zum hundertsten Gründungsjahr der Berliner Universität 1909/10 wurde wesentlich unterstützt durch publizistische Aktivitäten des Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger (1882–1963), der 6 Die Beschäftigung mit dem Schlagwort der Humboldtschen Universität in historischer Perspektive begann Ende der 1990er Jahre und ist im Kontext der damaligen hochschulpolitischen Reformversuche zu sehen, die zur verstärkten Konfrontation der selbsterklärten Bewahrer der sogenannten Humboldtschen Universität mit den Reformern führte: Ash, Mythos Humboldt, darin u. a. vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt und Jarausch, Das Humboldt-Syndrom, wenig später sehr pointiert Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität; zuletzt Langewiesche, Die »Humboldtsche Universität« als nationaler M ythos. Langewiesche konstatierte nach Auswertung von Rektoratsreden, die zwischen 1871 und 1933 gehalten wurden: »Das Berliner Universitätsmodell ist ein nationalgeschichtliches Ereignis, kein universitäts- und kein wissenschaftsgeschichtliches.«, ebd. S. 91. Aus Anlass des 200jährigen Jubiläums der Humboldt-Universität in 2010 McClelland, Die Universität am Ende. 7 Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität, S. 186.
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Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren
zur Jubiläumsfeier noch Privatdozent, 1919 dann Professor an ebendieser Universität und nach Ende des Zweiten Weltkrieges vorübergehend auch ihr Rektor war. Mit diesem Hintergrund sollte er in den frühen 1960er Jahren nochmals als Ratgeber für eine der Universitätsneugründungen gefragt sein.8 Für die fortdauernde inneruniversitäre Popularität und hohe Stabilität des »Humboldt-Mythos« führt Paletschek mehrere plausible Argumente an: Humboldts unabgeschlossene Schrift legitimierte den seit den 1880er Jahren intensivierten Forschungsimpetus der Universitäten in historischer Perspektive, passte in eine preußenzentrierte Geschichtsbetrachtung und wirkte nicht zuletzt dem Prestigeverlust der Geisteswissenschaften, die seit der Jahrhundertwende zunehmend für die Lehrerausbildung und weniger für die Einheit der Universität zuständig waren, gegenüber den erfolgreichen und anwendbaren Natur- und Technikwissenschaften entgegen. Als nach dem Ersten Weltkrieg von verschiedenen Seiten aufgrund der beschriebenen wissenschaftlichen Veränderungsprozesse und zudem durch die neue Situation eines demokratischen Staates Forderungen nach wissenschaftsund gesellschaftspolitischen Reformen laut wurden, diente die neuhumanistisch-idealistische Universitätsidee zur Abwehr gegen radikale Neuerungen an den Universitäten.9 Zu dem konstruierten Humboldtschen Universitätsmodell kam nun als weiterer wichtiger Topos die Rede von der »Weltgeltung deutscher Wissenschaft« hinzu, die stets ohne konkrete Belege und in einer nicht genau fixierten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgemacht wurde.10 Zweifellos gab es in einigen Fächern große Forschungserfolge in dieser Zeit, doch die Rede von der Weltgeltung der deutschen Wissenschaft, die Spitzenleistungen auf der ganzen Linie suggerierte, wurde vor allem dazu eingesetzt, die Berufung auf die eigene Tradition zu untermauern. Zudem überspielte man damit zahlreiche Probleme der deutschen Universitäten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zu denen neben der Vernachlässigung der Lehre und dem weitgehenden Ausschluss von Frauen auch die häufig elitäre und demokratiefeindliche Sozialisation der Studierenden in nationalistischen Verbindungen gehörte. Obwohl die Hochschul- und Wissenschaftslandschaft in der Weimarer Republik deutlich ausgebaut wurde, indem neue Universitäten in den Großstädten Köln und Hamburg entstanden, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (die spätere Max-Planck-Gesellschaft) auf über 20 Institute expandierte, neue Fördereinrichtungen wie die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (die spätere Deutsche Forschungsgemeinschaft), die Studienstiftung des deutschen Volkes und der Stifterverband der deutschen Wissenschaft sowie Organisationen wie Deut 8 Zentrale Beiträge Jaspers unter annähernd gleichem Titel 1923, 1946 und 1961: Jaspers, Idee der Universität. Zur Rezeption vom Bruch, Berliner Universität 1933–1945. 9 Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität, S. 191 ff. 10 Dazu ebenfalls Paletschek, Was heißt »Weltgeltung deutscher Wissenschaft?«.
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scher Akademische Austauschdienst, die Alexander von Humboldt-Stiftung und Deutsches Studentenwerk entstanden, dauerte die Idealisierung der hochschulpolitischen Entwicklung im untergegangenen Kaiserreich weiter an.11 Auch der preußische Hochschulpolitiker Carl Heinrich Becker (1876–1933) musste diese Erfahrung machen. Von ihm stammen flammende Plädoyers für einzelne Reformen an den Universitäten, deren Umsetzung aber weitgehend scheiterte.12 In der Bilanz überwog nach 1945 inneruniversitär für die Zwischenkriegszeit die Erinnerung an eine krisenhafte Situation, von der die universitären Vertreter sich unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch die geschilderte Rückbesinnung auf das 19. Jahrhundert in ihrer Mehrheit distanzierten. Umso attraktiver erschien stattdessen erneut der »Mythos Humboldt« als inzwischen noch unschärfere Erinnerung an die gute alte Zeit. Diese Beobachtungen aus dem hochschulpolitischen Raum stellen in der nachkriegsdeutschen Gesellschaft keinen Sonderfall dar, sondern decken sich mit den Befunden Sebastian Ullrichs in seiner Studie über die Präsenz Weimars in der allgemeinen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit: »Je negativer sie [die Weimarer Republik] gezeichnet wurde, umso verständlicher musste die eigene Unterstützung Hitlers erscheinen. […] Das negative Weimarbild war hier fester Bestandteil einer Entlastungsstrategie.«13 Ob sich besonders letztere Begründung für die negative Bewertung der Weimarer Republik nach 1945 auch auf den hochschulpolitischen Raum übertragen lässt, muss hier offen bleiben, da die Hochschulreformversuche der Weimarer Jahre und ihre spätere Wirkungsgeschichte bisher kaum erforscht sind.14 Doch spricht einiges dafür, dass auch in den Hochschulen dieser »Weimar-Komplex« weit verbreitet war. Während universitätsintern die Parole galt, dass die Institution selbst weitgehend intakt durch die Zeit zweier Weltkriege und die sie verbindende Krisenzeit gelangt war, gelangten universitätsexterne Beobachter durchaus zu einem anderen Schluss. Zumindest in Zeitschriften wie den »Frankfurter Heften« und »Der Ruf« dominierte eine außerordentlich kritische Haltung, wie Barbara Wolbring nach Auswertung verschiedener Aufsätze zeitgenössisch einfluss reicher und politisch vorrangig dem linken Spektrum nahestehenden Publizisten wie Eugen Kogon, Clemens Münster, Walter Dirks oder Alfred Andersch gezeigt hat.15 Diese universitätsexterne Kritik richtete sich vor allem auf die Funktion der Universität als Ort der Elitenrekrutierung und -ausbildung. Die 11 Dazu überblicksartig John, »Not deutscher Wissenschaft«. 12 Becker, Gedanken zur Hochschulreform und ders., Vom Wesen der deutschen Universität. Zu den Umsetzungsversuchen Rimmele, Die Universitätsreform in Preußen. 13 Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 39 f. 14 Bisher: Rimmele, Die Universitätsreform in Preußen, und als aktuelle Beschreibung von Grundlinien und Forschungslücken John, »Not deutscher Wissenschaft«. 15 Wolbring, »Ein wirklich neuer Anfang; sowie umfangreicher in: dies., Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt.
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Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren Hochschulpolitik in den Nachkriegsjahren
Universität dürfe nicht länger eine Institution der Selbstrekrutierung des Bürgertums sein, denn das Bürgertum als die bisherige Führungsschicht habe versagt und damit sei die Bildungsidee als ihre Ideologie diskreditiert und entwertet, bilanziert Wolbring den Tenor der damaligen Kommentare.16 Vehement wurde daher die Forderung erhoben, die soziale Zusammensetzung der Studenten zu korrigieren und auch Schülern ohne Abitur und ohne die finanziellen Möglichkeiten eines wohlhabenden Elternhauses ein Studium zu ermöglichen, nicht zuletzt um ein Wiederauferstehen des noch in den 1920er Jahren vorherrschenden Korpsgeistes zu verhindern. In diese Richtung ging dann auch wesentliche Kritik der Alliierten an den Hochschulen, auf die nun einzugehen ist. Außerhalb der Universitäten gab es also Stimmen, die unmittelbar nach Kriegsende grundsätzliche Veränderungen und einen Bruch mit bestehenden Traditionen an den Universitäten forderten. Eingebettet waren entsprechende Forderungen in Appelle nach einer strukturellen Neuordnung der Gesellschaft, die darauf zielte, die alten Eliten zu entmachten. Um der Selbstrekrutierung der Eliten etwas entgegensetzen zu können, war die universitäre Bildung und Ausbildung jedoch ein zentraler Faktor. Diese Forderungen entfalteten allerdings auch im hochschulpolitischen Bereich nicht ausreichend Druck auf die Universitäten und die Alliierten, als dass in Anbetracht vieler anderer drängender Probleme grundsätzliche Veränderungen an den Hochschulen in Angriff genommen worden wären.
1.1.2 Impulse der westlichen Besatzer Die westlichen Besatzungsmächte besaßen für den Umgang mit den Organisationsstrukturen und dem inneren Zustand der deutschen Hochschulen keinen Masterplan.17 Dies unterschied sie von den sowjetischen Besatzern, die in ihrem Machtbereich über dirigistische Maßnahmen rasch einen Strukturwandel des Hochschulwesens in Angriff genommen hatten, »um die Universitäten zu Stützen des neuen gesellschaftlichen Systems zu entwickeln«.18 Mitte Dezember 16 Wolbring, »Ein wirklich neuer Anfang«, S. 69. 17 Die Universitäten waren auf die Besatzungszonen wie folgt verteilt: Amerikanische Zone (Erlangen, Frankfurt, Heidelberg, Marburg, München, Würzburg), britische Zone (Bonn, Göttingen, Hamburg, Kiel, Köln, Münster), französische Zone (Freiburg, Mainz, T übingen), sowjetische Zone (Berlin, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig, Rostock). Speziell zur Rolle der Alliierten im Hochschulbereich: vom Bruch, Zwischen Traditionsbezug und Erneuerung; Defrance, Die Westalliierten als Hochschulreformatoren und Malycha, Hochschulpolitik. Zu einzelnen Besatzungszonen: Phillips, Zur Universitätsreform; ders., Pragmatismus und Idealismus; Fassnacht, Universitäten am Wendepunkt; Paulus, Vorbild USA. Zum Übergang in die 1950er Jahre: Schildt, Zwischen Abendland und Amerika; ders./Sywottek, Modernisierung. 18 Überblicksartig und zur aktuellen Forschungslage: Malycha, Hochschulpolitik, sowie ausführlich Schlegel, Zwischen zentralen Vorgaben und Pragmatismus.
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1945, nachdem die Hochschulen in der britischen Besatzungszone bereits größtenteils wiedereröffnet waren, sprach der Direktor der Erziehungsabteilung in der Kontrollkommission, Donald Charles Riddy (1907–1979), vor den versammelten Rektoren und Hochschulpolitikern der britischen Zone. Riddy erklärte den Teilnehmern, »Aufgabe der Militärregierung sei nicht zu lehren, sondern denen zu helfen, die die Wahrheit lehren wollten; dabei werde sie Deutschland weder ein britisches noch überhaupt ein fremdes System aufzwingen wollen.«19 Damit war für die deutsche Seite früh Klarheit geschaffen, dass sie – zumindest in der britischen Zone – mit einer Unterstützung eigener Initiativen rechnen konnte. Zu welchen Initiativen kam es daraufhin von deutscher Seite und welche Agenda verfolgten die westlichen Besatzer in ihren Zonen? Die Alliierten genehmigten zunächst eine schnellen Wiedereröffnung der Universitäten – sofern sie überhaupt geschlossen worden waren – und beaufsichtigten die Lösung der konkreten alltäglichen Aufgaben im Wiederaufbau durch die Installation von Hochschuloffizieren vor Ort. Im Vordergrund stand dann – nachdem rüstungsrelevante Forscher wie Forschungsausstattung ge sichert worden waren – zunächst die Entnazifizierung, mit der durch umfangreiche Überprüfungen des Lehrkörpers die nationalsozialistische Ideologie beseitigt werden sollte. Die Alliierten gingen hierbei unterschiedlich vor, die quantitative Dimension dieses Prozesses war aber bei allen vergleichbar, so dass die Entnazifizierung der Hochschulen vom Kriegsende in mehreren Wellen bis 1947 andauerte, als der größte Teil der zunächst entfernten Personen wieder eingestellt wurde. Diese Kehrtwende wurde einerseits durch die rasche Wiedereröffnung der Universitäten und die schnell ansteigenden Studierendenzahlen notwendig und folgte andererseits aus der Konzentration der Allliierten auf den Wiederaufbau und die umfassende Stabilisierung der jeweiligen Zone. In der Bilanz scheint die Entnazifizierung der Universitäten, die anfangs energisch verfolgt wurde, daher als »letztlich gescheitertes Verfahren zur personellen Erneuerung an den Universitäten«.20 Abgesehen von der bedeutenden Gruppe 19 Heinemann, Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen, mit den Protokollen der Treffen von Vertretern der Hochschulen, der Hochschulverwaltungen und der Militärregierung in der britischen Zone ab September 1945. In der amerikanischen Zone fanden entsprechende Treffen erst ab Ende 1946 statt, ab Juli 1947 dann gemeinsam mit den Hochschulvertretern der britischen Zone. Vgl. Heinemann, Süddeutsche Hochschulkonferenzen. In der französischen Zone hat es entsprechende Treffen als Vorläufer der Westdeutschen Rektorenkonferenz nicht gegeben. Neben Kultusministern und Vertreter der Besatzungsmächte nahmen an den Konferenzen – allerdings nur vorübergehend – auch Vertreter von Studierenden und Gewerkschaften teil. Erst ab April 1949 bestand die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) als Zusammenschluss westdeutscher Hochschulleitungen. Zitat nach Heinemann, Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen, S. 82. 20 Malycha, Hochschulpolitik. Dort und bei Ash, Konstruierte Kontinuitäten, auch Verweise auf die aktuelle Forschungslage und die zahlreichen noch nicht erforschten Aspekte der Nachkriegsentwicklung im Hochschulbereich.
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der dauerhaft vertriebenen, gefallenen oder ermordeten Wissenschaftler geht die entsprechende Forschung von einer personalen Kontinuität aus, die Folgen für das Selbstverständnis der Universitäten haben musste. Diese Kontinuität betraf allerdings nicht nur die Universitätsangehörigen, sondern auch die Kultusverwaltungen der Länder, wo auf der Führungsebene zumeist auf – vermeintlich weniger belastete – ältere Beamte zurückgegriffen wurde. Diese hatten die Universitätsentwicklung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik begleitet, als die deutsche Universität sich – wie geschildert – auf einem Höhepunkt ihres Selbstbewusstseins und teils auch ihres internationalen Ansehens befand. Zum Erfahrungshorizont der Administration gehörte damit, wie der »Mythos Humboldt« und die Rede von der »Weltgeltung deutscher Wissenschaft« in den 1920er Jahren die Forderungen nach Reformen ausgestochen hatten. Jenseits der Entnazifizierung richteten vor allem die Briten und Amerikaner ihre Aktivitäten darauf, einen standortübergreifenden Austausch der Hochschulvertreter zu ermöglichen und Gespräche über den Zustand und sinnvolle Veränderungen der Hochschulen anzuregen.21 Die Protokolle dieser sogenannten Nordwestdeutschen Hochschulkonferenz, bei der die Vertreter der Hochschulen in der britischen Besatzungszone zwischen 1945 bis 1948 zunächst mit Hochschulverwaltungen und Militärverwaltung zusammentrafen, vermitteln ein Bild der aus Sicht von Besatzern und Besetzten dringlichen hochschulpolitischen Themen. Viele Tagesordnungspunkte waren der Lösung ganz konkreter Probleme und dem Umgang mit materiellen Nöten gewidmet; in überschaubarem Umfang kamen daneben Veränderungsvorschläge struktureller Art zu unterschiedlichen Bereichen der Universitäten auf die Tagesordnung. Die Wiederherstellung der akademischen Selbstverwaltung und größtmöglicher Autonomie gegenüber der staatlichen Seite hatte aus Sicht der Universitätsvertreter höchste Priorität, das Ausmaß an Selbstkritik war, wie schon bei den programmatischen Wiedereröffnungsreden, auch hier durchaus überschaubar. Sowohl von den Rektoren als auch von Teilen der Besatzungsmächte wurde »Hochschulreform« zunächst vor allem als Verfassungs- oder Satzungsreform begriffen und stets in der Einzahl verwendet. Die Amerikaner richteten mit den sogenannten Marburger Gesprächen im Juni 1946 ein von der Lösung der ganz konkreten Probleme abgekoppeltes Forum für die Diskussion hochschulpolitischer Fragen ein. Tatsächliche Beschlüsse gab es bis 1948 nicht – nur eine Resolution über die »Freiheit der Wissenschaft«. Ein vergleichsweise konkretes Ergebnis hochschulpolitischer Diskussionen in der amerikanischen Zone entstand Ende 1946 nach einer ersten Zusammenkunft der Hochschulspitzen in der amerikanischen Zone, bei der die Amerikaner für einzelne Elemente ihres eigenen Hochschulsystems – Hochschulräte, mehrjährige 21 Die Franzosen verfolgten teils eine abweichende Politik und gründeten bereits früh einige neue Institutionen.
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Rektorate und die stärkere Beteiligung der Studierenden an universitären Gremien – geworben hatten.22 In der Folge befasste sich eine Gruppe von Rektoren und Ministerialbeamten mit standortübergreifenden Richtlinien für Hochschulverfassungen. Im Dezember 1947 wurden entsprechende Vorschläge – nach dem Ort der Tagung benannt – als »Schwalbacher Richtlinien« verabschiedet. Sie enthielten Empfehlungen zur Stärkung der universitären Selbstverwaltung, zur Ausdehnung der Rechte der Extraordinarien und der Studierenden. Die weitergehenden amerikanischen Vorschläge zur Professionalisierung des Rektorenamtes und zur Einführung von Kuratorien oder Hochschulräten wurden allerdings nicht in den Anforderungskatalog aufgenommen. Hierzu wurden von deutscher Seite zunächst weitere Beratungen für erforderlich gehalten.23 Anderthalb Jahre nach Kriegsende und kurz bevor die Westalliierten die Kontrolle des Bildungswesens zurück in deutsche Hände legten, entstanden als späte Reaktionen auf die Konzeptlosigkeit der alliierten Hochschulpolitik und das sehr gemäßigte Reforminteresse der deutschen Hochschulvertreter sowohl in der britischen als auch in der amerikanischen Zone Bestandsaufnahmen des Hochschulwesens, die im Auftrag der Besatzungsmächte von einzelnen oder mehreren Experten angefertigt wurden.24 In der britischen Zone bereiste Anfang Januar 1947 eine Delegation der britischen Association of University Teachers die meisten Universitäten und technischen Hochschulen und sprach vor Ort mit Rektoren, Professoren, Dozenten und Studenten.25 In ihrem Bericht hielt diese Delegation fest, dass abgesehen von der Entnazifizierung und den Bemühungen, die Unabhängigkeit der Universitäten von staatlichen Stellen zu stärken, grundlegende Veränderungen an den einzelnen Standorten nicht einmal erörtert worden seien. Neben den gravierenden materiellen Problemen in Folge des Krieges hatte dies in den Augen der Kommission vor allem zwei Ursachen: »(i) The German universities are now dominated […] by a compact group of elderly conservative and nationalist professors […] who are stubbornly unresponsive to new ideas, and whose main aim is to restore as completely and rapidly as possible the academic system and the academic ideals which prevailed before 1914. 22 Vgl. Vorschläge des Leiters der Abteilung Higher Education der US-Militärregierung, Dr. Fritz Karsen, in der Hochschulkonferenz vom 25.–27.11.1946 in Heidelberg, bei der Hochschulvertreter aus amerikanischer und britischer Zone zusammenkamen. Heinemann, Süddeutsche Hochschulkonferenzen, S. 93. 23 Vgl. Heinemann, Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen, S. 452 ff. 24 Dazu Paulus, Vorbild USA, S. 26 ff. 25 The Universities in the British Zone of Germany. Report of the Delegation of the Association of University Teachers, abgedruckt im Anhang zu Phillips, Zur Universitätsreform, S. 111–150, hier S. 114. Dort finden sich auch weitere Informationen zur Vorgeschichte der Delegation und der Aufnahme ihrer Ergebnisse. Die deutsche Übersetzung ist erschienen in: Die Sammlung, Februar 1948.
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(ii) The social structure of the universities is bound up […] with the traditional structure of German society as a whole, so that reform of the educational system is unlikely to be brought about save in the context of a much wider movement of social reform.«26
Zu den Vorschlägen der britischen Hochschullehrervereinigung, die vor allem aber auf die Struktur und Verfassung der Universitäten sowie ihr Verhältnis zur Gesellschaft gerichtet waren, gehörten – wie schon in der amerikanischen Zone – die Einrichtung von Universitätsräten aus akademischen und nicht-akademischen Mitgliedern für jede Universität, die breitere Besetzung von inneruniversitären Gremien zur Diskussion universitätspolitischer Fragen – dies, um dem Vorwurf entgegenzuwirken, als Klasseninstitutionen und Zentren politischer Reaktion zu fungieren, wie er etwa von in den »Frankfurter Heften« erhoben wurde –, aber auch der Ausbau nicht spezialisierter Vorlesungen über Gegenwartsfragen, um Studenten mit den neueren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Welt bekannt zu machen. Die Delegation betonte allerdings, dass entsprechende Veränderungen nur von den Deutschen selbst herbeigeführt werden könnten, dies aber vermutlich noch lange dauern werde. Hoffnung versprach sie sich vor allem davon, den wissenschaftlichen Nachwuchs innerhalb der Universitäten mit größeren Einflussmöglichkeiten auszustatten und durch die Herstellung von Verbindungen ins Ausland mit den dortigen Verhältnissen vertrauter zu machen und so Modernisierungsimpulse zu transferieren. Nicht zuletzt kritisierte die Delegation die Entscheidung der britischen Besatzungsmacht als vorschnell, die Verantwortung für den Hochschulbereich wie auch das übrige Bildungswesen am 1. Januar 1947 – also bereits kurz vor dem Delegationsbesuch – an die deutschen Länderregierungen rückzuüberantworten, da der Militärregierung in einer grundsätzlich reformbedürftigen Situation somit nur noch beratende Funktionen verblieben. Auf diesen kritischen britischen Bericht, der in deutscher Übersetzung in der »Sammlung« erschien, antwortete im Frühjahr 1948 in der »Göttinger Universitätszeitung«, aus der wenig später die »Deutsche Universitätszeitung« hervorging, der Jurist Walter Hallstein (1901–1982). Hallstein hatte in der amerikanischen Zone als Rektor der Universität Frankfurt sowohl an den Marburger Hochschulgesprächen als auch der Erstellung der Schwalbacher Richtlinien mitgewirkt und konnte einigen Vorschlägen der britischen Delegation durchaus etwas abgewinnen. Doch sah er die Besatzungsmacht nicht mehr im Fahrersitz der Reform, was faktisch inzwischen ja zutraf und von dieser auch thematisiert worden war. Hallstein vermutete: »Keine Reform wird lebendig werden können, wenn sie nicht von dem Bewusstsein der Notwendigkeit in denen, die sie zu verwirklichen haben, getragen wird. […] Die überzeugenden Gründe aber werden sich uns in einer viel gründlicheren Diskussion 26 Phillips, Zur Universitätsreform, S. 114 f.
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gewinnen lassen, als sie bisher geführt werden konnte; die Zeit dazu muss und kann man sich nehmen.«27
Weniger geduldig als Hallstein bemerkte etwa zeitgleich der Rektor der Göttinger Universität, Ludwig Raiser (1904–1980) – ebenfalls Jurist und in den kommenden Jahren ein Vertreter der reformfreudigen unter den hochschulpolitisch aktiven Professoren – in einer kurzen Aussprache, die es in der Nordwestdeutschen Hochschulkonferenz zu diesem Gutachten gab: »Das Hauptziel sollte jetzt sein, über die allgemeine Apathie hinwegzukommen.«28 Als die Briten ihre Zuständigkeit für den Kultusbereich bereits abgegeben hatten, entstand schließlich in deutsch-britischer Zusammenarbeit doch noch ein zentrales Dokument, das die Diskussionen im folgenden Jahrzehnt stimulierte und für viele Jahre ein wichtiger Referenzpunkt bleiben sollte. Die sorgsam ausbalanciert zusammengesetzte »Commission of Enquiry to Examine the Need of Reforms in Universities and Colleges of University Status in British O ccupied Germany« – kurz »Studienausschuss für Hochschulreform« – erarbeitete bis zum Herbst 1948 umfangreiche Empfehlungen. Prozedural nahm die Kommission zugleich die Arbeitsweise des rund zehn Jahre später etablierten Wissenschaftsrates vorweg, in dem Vertreter aus Wissenschaft, Gesellschaft und Wissenschaftsadministration mit Sachverständigen aus dem In- und Ausland themenbezogene Empfehlungen konsensorientiert erarbeiten würden.29 Grundlegende Materialien für ihre Sitzungen waren zeitgenössische Publikationen zur Situation der englischen und der deutschen Universitäten. Dazu kam – wie bei der rein britischen Delegation im Vorjahr – aber vor allen auch die Anschauung aus zahlreichen Ortsbesuchen, zusätzliche Gespräche mit Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern aus Großbritannien sowie ein kurzfristig erstellter umfangreicher Fragebogen, der an fast 800 Personen verschickt wurde und einen breiten Input von Studenten, Professoren und verschiedenen Körperschaften außerhalb der Universität ermöglichen sollte.30 Nach Bearbeitung dieser 27 Hallstein, Deutsche Universitäten, S. 15 f. 28 Protokoll der Sitzung am 22./23.3.1948, in: Heinemann, Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen, S. 455 f. Raiser äußerte sich am Anfang der 1950er dann enttäuscht über die langsamen Fortschritte in der Besatzungszeit. Raiser, Schleppende Reform. 29 Zu den Wissenschaftlern in der Kommission zählten vom Göttinger Max-Planck- Institut für Physik Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) – nach Kriegsende wegen seiner Beteiligung an den Forschungen für eine deutsche Atombombe zunächst in England interniert – und von der Hamburger Universität der Altphilologe Bruno Snell (1896–1986). Als ausländische Mitglieder wurden von der ETH Zürich der Schweizer Historiker Jean Rudolf von Salis (1901–1996), der einer breiteren Öffentlichkeit durch seine Radiokommentare aus der Schweiz zur weltpolitischen Lage während des Krieges bekannt war, und der britische Philosophieprofessor Alexander Dunlop Lord Lindsay of Birker (1879–1952) aus Oxford benannt, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Aufbau der ersten britischen Universitätsgründung des 20. Jahrhunderts in Keele beschäftigt war. 30 Dazu ausführlich ebd., S. 13–36.
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außerordentlich umfangreichen Materialien erschien nach wenigen Monaten schon das »Gutachten zur Hochschulreform«, das nach der Umschlagfarbe später zumeist »Blaues Gutachten« genannt wurde.31 »Die Kommission ist einig über die Notwendigkeit einer Reform der Hochschulen«, lautete bereits die Eingangsbotschaft des Blauen Gutachtens. Doch Reform in der Einzahl war nun viel umfassender gemeint als nur Satzungsreform. Im Zentrum der 95, nach Themenbereichen gruppierten Empfehlungen – eine auffällige zahlenmäßige Übereinstimmung mit Luthers Reformthesen von 1517 – standen die Öffnung der Universität zur Gesellschaft hin und ihre engere Bindung an diese. Dazu gehörten für die Kommissionsmitglieder vor allem die Schaffung neuer Gremien zur Verbindung der Hochschulen mit Staat und Öffentlichkeit, die stärkere Berücksichtigung unterrepräsentierter Gesellschaftsgruppen beim Zugang zur Universität sowie Bildung und Erziehung der Studenten durch ein Bündel von Maßnahmen. Es handelte sich also um ein Anknüpfen an bereits von den Alliierten gemachte Vorschläge, die von den offiziellen Universitätsvertretern bisher nicht gerade euphorisch aufgenommen worden waren, nun aber nachträglich noch fast mit einem Planübersoll erfüllt wurden, indem statt einem gleich zwei neue Aufsichtsgremien vorgeschlagen wurden.32 Die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft, ein zweiter Empfehlungsschwerpunkt im Blauen Gutachten, war zuvor ebenfalls schon Thema gewesen, als die britische Besatzungsmacht im Sommer 1946 eine außerordentliche Sitzung der Nordwestdeutschen Hochschulkonferenz zur Erörterung einer sozialen Öffnung der Universität angeregt hatte. Vor dem Hintergrund der übersichtlichen Veränderungen seitdem konstatierte das Blaue Gutachten: »Mit allen Mitteln muss danach getrachtet werden, dass entsprechend der Veränderungen der Struktur der Gesellschaft begabte Kinder aus dem Arbeiterstand in weit stärkerem Maße als bisher den Zugang zur Hochschule finden. Nur dann wird es möglich sein, das Misstrauen der Arbeiterschaft gegen die Universität zu überwinden.«33
Diese Forderung war 1948 noch weit davon entfernt, Konsens zu sein. Popularität erreicht die Forderung nach mehr Arbeiterkindern an westdeutschen Universitäten erst anderthalb Jahrzehnte später – unter anderem durch die Arbeiten 31 Gutachten zur Hochschulreform vom Studienausschuss für Hochschulreform (»Blaues Gutachten«), Wiederabdruck in WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 289–368. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Phillips, Pragmatismus und Idealismus. 32 Dazu sollte je Hochschule ein Hochschulbeirat dienen, der die Verbindung zur Öffentlichkeit durch verschiedenste Vertreter unpolitischer Körperschaften herstellen sollte, sowie ein Hochschulrat, der als höchstes Organ der Selbstverwaltung die Verbindung von autonomer Hochschule und staatlicher Gewalt gewährleisten könne (bestehend zu je einem Drittel aus Vertretern von Hochschulbeirat, Senat und Landesregierung). 33 WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 334.
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Ralf Dahrendorfs. Auch in anderen Punkten boten die Forderungen des Blauen Gutachtens viele Anknüpfungspunkte für spätere Reformen: Etwa mit Blick auf einen Ausbau des Stipendienwesens, der hier 1948 empfohlen, dann aber erst ab 1955/57 in gesamtwirtschaftlich veränderter Situation mit dem sogenannten »Honnefer Modell« Wirklichkeit werden sollte; aber auch mit der Forderung von Studienprofessoren und -dozenten für die Wahrnehmung pädagogischer Aufgaben gegenüber solchen Studenten, die nicht zum Forschen berufen seien. Mit Blick auf den dritten Empfehlungsschwerpunkt, die Bildung und Erziehung der Studenten, wurde die Bedeutung der Bildung über Fachgrenzen hinaus hervorgehoben, der nicht nur wissenschaftliche, sondern auch eine enorme gesellschaftliche Bedeutung zugemessen wurde. Vor Augen stand damals als Problem der Prototyp eines Wissenschaftlers, der den Nationalsozialisten seine Expertise treu angedient hatte. Nun sollte es aber nicht mehr nur um Wissenschafts-, sondern auch um Charakterbildung guter Staatsbürger gehen. Jedoch entwickelte die Kommission keine konkreten Vorgaben für das von ihr emp fohlene Studium generale, sondern verwies nur auf bestehende Beispiele in Göttingen und an der Technischen Universität Berlin sowie auf die Kombination eines solchen Grundstudiums mit der Unterbringung in neuen Wohnheimen in Tübingen und Heidelberg, wobei eine allgemeine Wohnverpflichtung in derartigen Einrichtungen explizit abgelehnt wurde. Diese Empfehlungen zur Stärkung der Allgemeinbildungsfunktion der Universität über ein Studium generale geht wohl vor allem auf das englische Kommissionsmitglied Alexander Dunlop Lindsay und dessen gleichzeitige Aufbauarbeit der Universität Keele zurück, wo ein vorgeschaltetes allgemeinbildendes foundation year eingeführt wurde.34 In diesen Zusammenhang gehörte auch die Forderung nach Ergänzung der Technischen Hochschulen um eine geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, wie sie an der Technischen Universität Berlin – im britischen Sektor gelegen – 1946 erstmals eingeführt worden war. Auch zum Bereich des studentischen Lebens, der großen Leerstelle der deutschen Universität, die in der Vergangenheit vor allem von den studentischen Verbindungen gefüllt worden war, äußerte sich die Kommission und empfahl die Einrichtung von Studentenhäusern an jeder Hochschule. Mit Blick auf studentische Gemeinschaften wurde auf das breite Spektrum an Burschenschaften, christlichen Gruppen und Jugendbewegung in der Zeit der Weimarer Republik verwiesen, »aber zum Teil sind diese Traditionen zu unzeitgemäßen Formen sozialer Exklusivität erstarrt, zum Teil haben sie ihre prägende Kraft verloren. Die heutige Studentenschaft ist sich der Notwendigkeit, neue, angemessene Formen der Lebensgemeinschaft zu entwickeln, bewusst. Solche Formen können nicht von oben her ›eingerichtet‹ werden, sondern sie müssen wachsen.«35 34 Dazu als Erinnerung eines Zeitgenossen Lindsays in Keele: Gallie, A New University. 35 WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 340.
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In der Gesamtschau war das Blaue Gutachten im Umfang der behandelten Themen als auch in der Breite der Informationsgrundlage für die Besatzungszeit einzigartig. Nachdem die Briten sich mit Blick auf das Hochschulwesen in ihrer Zone zunächst abwartend verhalten und erklärt hatten, deutsche Initiativen in ihrem Einflussbereich zu unterstützen, markierte das Gutachten eine späte Wende. Erst nach Rückgabe der Verantwortung für den Bildungsbereich an die Länder hatte die entsprechende Abteilung der Kontrollkommission – veranlasst durch die außerordentlich kritische Bestandsaufnahme der Delegation des britischen Hochschullehrerverbandes – die aktive Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrem Hochschulsystem durch die Einsetzung einer eigenen Kommission eingefordert. Zwischen den Ergebnissen beider Kommissionen bestanden – wenig überraschend – zahlreiche Überschneidungen, die hier nicht weiter verfolgt werden brauchen. Die Reformvorstellungen der wesentlichen Akteure gegen Ende der Besatzungszeit sind in dieses Gutachten eingeflossen. Da der Fokus erst einmal auf der Demokratisierung und der Erziehung zum Staatsbürger lag, blieb die Funktion der Universität in der Forschung allerdings ausgeklammert. Bemerkenswert ist ferner, dass im Blauen Gutachten kaum explizite Bezüge auf ausländische Vorbilder zu finden sind und auch hier ein weiteres Mal so gut wie keine Verbindungen zu Reformdiskussionen in der Zeit der Weimarer Republik gezogen werden, obwohl die Einflüsse beider Linien klar erkennbar sind.36 Allein die Tatsache, dass eine umfassende Bestandsaufnahme der universitären Situation unter Einbezug unterschiedlicher Perspektiven innerhalb und außerhalb der Universitäten von nun an einen zitierbaren Bezugspunkt für weitere universitätsinterne und auch öffentliche Diskussionen bot, kann in der Folgewirkung kaum überschätzt werden. Einzelne Kommissionsmitglieder wie Weizsäcker und Snell engagierten sich in den nächsten Jahren intensiv in weiteren Diskussionen um Hochschulreformen, insbesondere für Alternativen zu den studentischen Verbindungen. Ein Anfang war gemacht, die kritische Überprüfung des überkommenen Status quo der deutschen Universitäten auch in breiteren Kreisen zu diskutieren. Hochschulreform war spätestens jetzt nicht mehr nur als Hochschulverfassungsreform zu verstehen und musste mehr sein als ein einmaliger Gesetzesakt. Erwartungen, dass die Empfehlungen kurzfristig und eins zu eins umgesetzt würden, hatten die Autoren allerdings direkt selbst gedämpft. Ungeachtet der Offenheit des weiteren Vorgehens – die einzelnen Empfehlungen waren nicht an konkret benannte Adressaten in Universitäten oder Landesministerien gerichtet – war das Presseecho auf das Blaue Gutachten groß und weitgehend positiv. Der Ball lag nun im Feld der deutschen
36 Zu Lindsays Einfluss ausführlich bei Phillips, Pragmatismus und Idealismus, S. 62 f., S. 88 ff., S. 98 f.
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Hochschulen und Kultusministerien, die für die weitere Entwicklung wieder selbst verantwortlich waren.37 Zusammenzufassen ist an dieser Stelle noch einmal die Rolle, die die Briten und Amerikaner als Berater und Impulsgeber spielten, um die Deutschen auf Reformbedarfe im Hochschulbereich hinzuweisen und den Austausch über die damit zusammenhängenden Fragen zu ermöglichen und zu intensivieren. Der Strategiewechsel, den insbesondere die Amerikaner seit 1948/49 vollzogen, indem sie ihre Förderaktivitäten auf den Austausch von Forschenden, Lehrenden und Studierenden und den Ausbau von Fächern wie Amerikanistik und Politikwissenschaften ausrichteten, ist an anderer Stelle ausführlich beschrieben worden.38 Was die Beweggründe für die insgesamt zurückhaltende Rolle der westlichen Alliierten bei der Umsetzung unmittelbarer Veränderungen im Hochschulbereich betrifft, werden in der Forschungsliteratur unterschiedliche Vermutungen angestellt: Die Zurückhaltung passte zur Grundlinie der Re education, die die Deutschen zu eigenen Veränderungen hin zur Demokratisierung ermutigen wollte, erklärte sich zudem aus der Konzentration der Besatzer auf Fragen des Schulwesens und hing nicht zuletzt wohl auch mit dem Respekt vor den Forschungsleistungen zusammen, die im deutschen Universitäts- und Wissenschaftssystem in der Vergangenheit erbracht worden waren.
1.1.3 Universitätsgründungen und Gründungsversuche in den westlichen Besatzungzonen Zur Entwicklung der hochschulpolitischen Situation in den ersten Jahren nach dem Krieg gehören neben der Verständigung über neue Leitbilder der Universitäten auch verschiedene institutionelle Neugründungen. Im Zuständigkeitsbereich aller drei westlichen Besatzungsmächte entstanden in den frühen Nachkriegsjahren neue Hochschulen. Um welche Hochschulen handelte es sich, welche Ziele waren mit ihrer Gründung verbunden, welche Neuerungen an ihnen erprobt und wie wurden diese Neugründungsprojekte von den bestehenden Hochschulen aufgenommen? Waren sie ein Bezugspunkt für die Gründungen der Reformuniversitäten in den 1960er Jahren?
37 Zu Presseecho und politischer Diskussion: ebd., S. 105–124. An einem Abgleich der Vorschläge mit ihrer Umsetzung versuchte sich später der Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz Jürgen Fischer, Hochschulrevolution oder Hochschulreform?, in: Deutsche Universitätszeitung 1 (1962), S. 28–32. 38 Ausführlich etwa bei Paulus, Vorbild USA, S. 169 ff.
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Gründungen in der französischen Besatzungszone: Ambitionierte Vorhaben in Mainz, Saarbrücken und Speyer Aus dem Kreis der westlichen Besatzungsmächte setzten allein die Franzosen auf die aktive Gründung neuer Hochschulen in ihrem Einflussbereich und veranlassten in rascher Abfolge den Aufbau zweier neuer Universitäten in Mainz (1945/46) und Saarbrücken (1947/48) sowie einer neuartigen Hochschule in Speyer (1946/47), was angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation der ersten Nachkriegszeit bemerkenswert war.39 Das unterschiedliche Vorgehen der westlichen Alliierten erklärt Defrance mit den schwierigen deutsch-französischen Beziehungen seit dem 19. Jahrhundert, die ein besonderes Misstrauen der Franzosen gegenüber den deutschen Bildungsstrukturen begründet hätten. Die von ihr für das französische Handeln der Besatzungszeit gewählte Formel »Neugründen statt Reformieren« ist allerdings wohl zu pointiert, da die Universitäten Freiburg und Tübingen als bereits bestehende Universitäten in der französischen Besatzungszone schnell wiedereröffnet wurden und dort durchaus verschiedene Reformmaßnahmen von der Besatzungsmacht angeregt und unterstützt wurden, wie etwa ein Studium generale.40 Die Neugründungen stellten also eher eine Erweiterung der französischen Reformbemühungen dar. Als erstes der drei Gründungsvorhaben in der französischen Besatzungszone wurde der Aufbau einer Universität Mainz bereits ab Ende 1945 verfolgt.41 Dem Leiter der Kulturabteilung der französischen Militärregierung, dem französischen Germanisten Raymond Schmittlein (1904–1974), ging es besonders um eine Ausbildungsstätte für eine neu denkende, möglichst frankophile Elite, mit deren Unterstützung er gegen die »Verpreußung« in der deutschen Gesellschaft anzugehen gedachte.42 Die damit in Zusammenhang stehenden Bemühungen betrafen zwei Bereiche: Einerseits wurde für alle Studierenden ein Studium generale eingeführt, das wenig später auch im Blauen Gutachten sowie in einer Bestandsaufnahme der Studium-generale-Aktivitäten Anfang der 1950er Jahre beschrieben wurde. Andererseits wurden in der Rechtswissenschaftlichen und der Philosophischen Fakultät Lehrstühle bzw. Institute für Vergleiche mit dem französischem Rechtssystem, der französischen Literatur und Geschichte eingerichtet und an die Universität ein Institut für Europäische Geschichte angeglie 39 Überblicksartig zur Rolle der französischen Besatzer: Defrance, Die Westalliierten als Hochschulreformatoren sowie ausführlicher dies., Les alliés occidentaux. Zu den alten Universitäten der französischen Besatzungszone und der Neugründung Mainz: Fassnacht, Universitäten am Wendepunkt; ebenfalls zu Mainz: Zauner, Die Johannes Gutenberg-Universität. Zur Neugründung in Saarbrücken: Hudemann/Heinen, Universität des Saarlandes. Zur Neugründung in Speyer: Lüder, Staat und Verwaltung. 40 Defrance, Die Westalliierten als Hochschulreformatoren, S. 37 f. 41 Statuten der Universität Mainz vom 27.2.1946, abgedruckt in: Freunde der Universität Mainz, Die Wiedereröffnung der Mainzer Universität 1945/46, S. 105 f. 42 Zu Schmittlein: Defrance, Raymond Schmittlein.
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dert, in dem mit Stipendien, Tagungen und Publikationsmöglichkeiten eine »antiborussische Generation von Historikern« ausgebildet werden sollte.43 So traten neben die ergänzte Ausbildung von Studierenden, die auf eine neue Charakterbildung und auch Demokratieerziehung zielte, zusätzliche Bemühungen, das Themenspektrum der Forschung durch die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern um kulturvergleichen Elemente zu erweitern. Als weiteres Gründungsmotiv kam die Regionalversorgung mit Hochschulabsolventen hinzu. Das von der Besatzungsmacht neu geschaffene Land Rheinland-Pfalz besaß nämlich im Gegensatz zum Süden der der französischen Zone (Freiburg und Tübingen) bis dahin keine eigene Universität, wobei allerdings die künftige Landeshauptstadt Mainz bis 1798 schon einmal eine Universitätsstadt gewesen war. Nach nur wenigen Monaten Vorbereitungszeit wurde die neue Universität im Mai 1946 eröffnet und startete unter schwierigen Bedingungen mit 2.000 Studierenden in das erste Semester; zwei Jahre später zählte man schon über 6.000 Studierende. Möglich wurde dieser schnelle Beginn mit sehr hohen Studierendenzahlen durch die Umnutzung einer weitgehend unzerstört gebliebenen, von der Wehrmacht Mitte der 1930er Jahre errichteten Kaserne am Rand von Mainz. Diese Umwidmung eines Kasernengeländes wurde positiv gewendet und statt als Notlösung dann als neuartiger Campus beworben – eine bedeutende Parallele übrigens zu weiteren Hochschulgründungen der ersten Nachkriegsjahre, auf die noch zurückzukommen ist.44 Weitergehende institutionelle Neuerungen – etwa mit Blick auf die Leitungsstruktur der Hochschule oder die interne Gliederung – enthielten die Statuten der neuen Universität Mainz aber nicht. Als 1948/49 die Grenzen der französischen Besatzungszone durchlässiger wurden, musste sich die Universität Mainz nach Darstellung von Fassnacht und Zauner verstärkt dem Wettbewerb mit den übrigen westdeutschen Hochschulen stellen, was zu einer Anpassung und einem »Verblassen ihres Modellcharakters« geführt habe, der bis dahin ja vor allem auf die etablierten Universitäten innerhalb der gleichen Besatzungszone in Freiburg und Tübingen abzielte.45 Das verpflichtende Propädeutikum wurde Ende 1948 in ein freiwilliges und parallel zum Fachstudium verlaufendes Studium generale überführt. »Die in Mainz betriebene Forschung und Lehre sollte von den anderen Hochschulen akzeptiert und der ›Neuling‹ so schnell wie möglich in die deutsche Universitäts-Landschaft integriert werden. Nur so schien es möglich, angesehene Wissenschaftler und eine große Zahl von Studierenden auf Dauer anzuziehen«46, so resümiert Fassnacht 43 Fassnacht, Universitäten am Wendepunkt, S. 224. Zur Geschichte des noch heute bestehenden Instituts der Jubiläumsband: Institut für Europäische Geschichte, Institut für Europäische Geschichte Mainz 1950–2000. 44 Zur Mainzer Campus-Entwicklung als Ergebnis eines Studierendenprojektes: Kita/ Vinzenz, Von der Flak-Kaserne zum Glashaus. 45 Zauner, Die Johannes Gutenberg-Universität, S. 136. 46 Fassnacht, Universitäten am Wendepunkt, S. 224 ff.
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die weitere Entwicklung und geht also von einem raschen Angleichungsprozess als Folge eines Homogenisierungsdrucks im Hochschulsystem aus. Eine zweite Universität gründeten die Franzosen im zunächst vollständig von den westlichen Besatzungszonen abgetrennten Saarland. Auch hier war es eine Kombination aus strukturpolitischen und auf die Réeducation bezogenen Motiven, die zur Neugründung führte. Zunächst entstand ab 1947 in Homburg eine Außenstelle der französischen Universität Nancy für die Medizinerausbildung. Im gleichen Jahr wurden dann aber noch Pläne für eine eigenständige Universität im nahegelegenen Saarbrücken entwickelt, die ab 1948 zu einer mit Blick auf Lehrkörper, Studierende und Lehre zweisprachigen Universität aufgebaut wurde.47 Wie in Mainz wurde auch in Saarbrücken eine für die Wehrmacht erst Mitte der 1930er Jahre etwas von der Stadt entfernt errichtete Kaserne nach gerade einmal zehn Jahren militärischer Nutzung für die neue Universität einer komplett anders gearteten Verwendung zugeführt. Ab Anfang der 1950er Jahre begann man diesen Campus zu erweitern. Die neue Universität erhielt 1951 ein Europa-Institut und widmete – wie schon die Universität in Mainz – eine Reihe von Lehrstühlen vergleichenden Studien, beispielsweise in den Wirtschaftswissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Literaturwissenschaft. Unter dem Rektorat des französischen Germanisten Joseph-Francois Angelloz (1893–1978) stellte sich die Universität seit den frühen 1950er Jahren offensiv als erste wirklich europäische Universität dar, was die Wochenzeitung »Die Zeit« 1954 in einem Artikel über die neue Universität allerdings skeptisch kommentierte.48 Nach Aufnahme des Saarlandes in die Bundesrepublik 1957 fand in Saarbrücken wohl ebenfalls ein Anpassungsprozess an die westdeutschen universitären Gegebenheiten statt, wobei diese Entwicklung – wie im Fall von Mainz – bislang nicht näher untersucht worden ist. Ein neues Universitätsgesetz unternahm den Versuch, die deutschen und französischen Studiensysteme und -abschlüsse zu harmonisieren. Die Universität wuchs ab Mitte der 1950er jedenfalls schneller. Als sich am Ende der 1950er Jahre Diskussionen über die Neugründung einer europäischen Universität – zunächst ohne konkreten Standort – intensivierten, blickte man auch nach Saarbrücken und auf die dortigen Erfahrungen mit einer Hochschule, die in und zwischen zwei nationalen Bildungstraditionen stand.49 Und als die große Welle der Neugründungen Mitte der 1960er Jahre begann, steuerte Saarbrücken schließlich einige Akteure zu diesen Vorhaben bei, beispielsweise den dort 1957 habilitierten Soziologen Ralf Dahrendorf für die Neugründung in Konstanz und den Juristen Werner Maihofer, der 1955 seine erste 47 Heinen, Sachzwänge. Burg, Das Projekt einer Europäischen Universität des Saarlandes. 48 Heinrich David, Alma Mater Saraviensis. Europäische Universität oder französisches Propaganda-Institut?, in: Die Zeit, 9.12.1954, Nr. 49. 49 Dazu etwa Albert Seyler, Eine Hochschule ohne die Last der Tradition. An der SaarUniversität herrscht pulsierende Leben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1960.
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Professur im Saarland übernahm und nach anderthalb Jahrzehnten und Übernahme des dortigen Rektorenamtes in den (hochschul-)politisch bewegten Jahren 1967–1969 von der nun nicht mehr ganz neuen Neugründung Saarbrücken an die frisch eröffnete Neugründung in Bielefeld wechselte. Die dritte Gründung der französischen Besatzer ist deshalb bemerkenswert, weil sie keine klassische Volluniversität mit breitem Fächerspektrum, sondern eine Spezialhochschule darstellte und ein neues Hochschulmodell transferierte. Die Entscheidung für die Gründung der höheren Verwaltungsakademie in Speyer, der heutigen Universität für Verwaltungswissenschaften, fiel im Sommer 1946 und erfolgte in Teilen nach dem Vorbild der neuartigen Pariser École Supérieure d’Administration, die selbst erst im Vorjahr gegründet worden war.50 Ausschlaggebendes Motiv war es, Juristen, die auch nach Ansicht der Franzosen zu den Hauptstützen des Nationalsozialismus zählten, außerhalb der alten Jura fakultäten für den Staatsdienst auszubilden. Im Unterschied zu den Neugründungen in Mainz und Saarbrücken handelte es sich in Speyer also um eine spezielle Ausbildungsstätte für Postgraduierte, d. h. bereits examinierte Studenten und berufstätige Beamte aus den Ländern der französischen Besatzungszone – Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg-Hohenzollern. Die neuartige Hochschule in Speyer stieß, auf Widerstand in den von Juristen dominierten Landesverwaltungen. Direkt nach Ende der französischen Besatzung wurde sie neuausgerichtet, 1950 auch formal neugegründet und fortan gemeinsam von den Ländern Rheinland-Pfalz, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein betrieben. Bis heute ist sie als von allen Ländern gemeinsam getragene Universität mit Promotionsrecht eine Ausbildungsstätte für Regierungsreferendare, die postuniversitäre und berufspraktische Ausbildung mit verwaltungswissenschaftlicher Forschung verbindet, wobei die Integration verschiedener Fächerperspektiven als Gedanke der französischen Gründer erhalten geblieben ist. Die Funktion der Jurafakultäten hat sie nicht ersetzt, sondern ergänzt.
Gründungsversuche in der amerikanischen Besatzungszone: Die Freie Universität als späte aber erfolgreiche Gründung Während die Franzosen als Hochschulgründer also sehr aktiv waren und 1946 bis 1948 drei Hochschulen begründeten, die bis heute – wenn auch in veränderter Form – bestehen, verfolgten die übrigen westlichen Alliierten keine vergleichbaren Pläne. Dennoch kam es in ihren Verantwortungsbereichen zu Neugründungen, die von den Besatzern gebilligt oder sogar unterstützt wurden. Der prominenteste Fall im amerikanischen Verantwortungsbereich ist die Freie Universität Berlin (FU). Seit Kriegsende lag die 1810 gegründete Berliner Universität, die bald den Namen Humboldt-Universität erhielt, im sowjetisch 50 Morsey, 50 Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.
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besetzten Teil Berlins. Eduard Spranger, der Exeget der bildungspolitischen Aktivitäten Wilhelm von Humboldts, hatte sich in den ersten Nachkriegsmonaten zunächst glücklos als ihr Rektor versucht. Als die Repressionen der sowjetischen Besatzer auch gegenüber den Studierenden zunahmen, riefen einige von ihnen im April 1948 zur Gründung einer Freien Universität im Westteil der Stadt auf.51 Von den Franzosen versprachen sich die Studierenden wohl nicht die nötige Unterstützung für ein solches Unternehmen, vielleicht in Unkenntnis der Gründungsvorhaben in der französischen Besatzungszone. In der britischen Zone lag bereits die 1879 gegründete Technische Hochschule Charlottenburg. Sie hatte als erste TH 1899 das Promotionsrecht erhalten und war nun der Ort einer weiteren Neuerung: Unter Aufsicht der Briten wurde sie 1946 als Technische Universität wiedereröffnet und erhielt nun eine Humanistische Fakultät und ein zunächst verpflichtendes Studium generale. Die Amerikaner, die von den westlichen Besatzungsmächten zunächst an Hochschulfragen und damit auch an den Problemen der Berliner Studierenden in den ersten Nachkriegsjahren am wenigstens interessiert waren, änderten in einer 1948 inzwischen verschärften Konfrontation zwischen Ost- und West ihre Haltung und zeigten sich aufgeschlossen, das Gründungsunternehmen FU nicht nur moralisch, sondern auch finanziell zu unterstützen. Möglicherweise hatten die Studierenden bei ihren Sondierungen ab 1947 zudem von den Plänen des für die Amerikaner tätigen Remigranten Fritz Karsen (1885–1951) gehört. Der vor den Nationalsozialisten geflogene Reformpädagoge, der sich in den 1920er Jahren aus Berlin intensiv für Schulreformen engagiert hatte, arbeitete nun für die amerikanische Militärregierung und schlug in dieser Position 1947 die Gründung einer Deutschen Forschungshochschule Berlin vor, die die in Dahlem verbliebenen Kaiser-Wilhelm-Institute zusammen mit weiteren Forschungsinstituten für die Ausbildung von Postgraduierten erschließen sollte. Die Pläne für eine solche in Deutschland neuartige Forschungshochschule, als deren Vorbild Karsen das 1930 gegründete Institute for Advanced Studies in Princeton anführte, waren 1948 allerdings trotz Gründung einer entsprechenden Stiftung noch nicht weit vorangeschritten und Karsen wohl auch nicht einflussreich genug, um sie durchzusetzen. So zog das Gründungsprojekt Freie Universität an der Deutschen Forschungshochschule vorbei und die Unterstützung der amerikanischen Besatzer für dieses Projekt schien in der Situation von 1948 nicht zuletzt symbolisch wichtiger als jenes der Forschungshochschule, galt es doch, der von den Sowjets intensiv geförderten Universität im Ostteil der Stadt etwas entgegenzusetzen. Die Freie Universität nahm zum Wintersemester 1948 unter dem Rektorat des Historikers Friedrich Meinecke (1862–1954) den Lehrbetrieb auf, wobei zunächst in vielerlei Hinsicht improvisiert werden musste, auch räumlich, da an 51 Tent, Freie Universität Berlin. Zuletzt zur FU auch: Paulus, Vorbild USA, S. 169–204.
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ders als in Mainz und Saarbrücken keine ehemalige militärische Liegenschaft zur Umnutzung bereitstand. Zwei Eigenheiten sorgten aber dafür, dass mit Blick auf diese Universitätsneugründung schon bald vom »Berliner Modell« gesprochen wurde.52 Zum einen die in der Satzung festgelegte umfangreiche Beteiligung der Studierenden an der Selbstverwaltung der Universität, die aus dem Gründungsimpuls dieser Gruppe für diese Universität erklärt werden kann, zeitgenössisch aber unerhört war; zum anderen die Einrichtung eines Kuratoriums, das die Universität in neuer Weise der gesellschaftlichen Kontrolle unterwerfen sollte. Dieses Kuratorium, das auch über die Finanzen der Universität entschied, setzte sich aus Vertretern der Universität (Rektor, Prorektor, Studierende), der Berliner Verwaltung sowie des öffentlichen Lebens zusammen. Es entsprach weitgehend den Vorschlägen, die Briten und Amerikaner den Vertretern bestehender Hochschulen in ihren Zonen seit Kriegsende nahegelegt hatten, die dort aber – wie geschildert – nicht auf besonders reges Interesse gestoßen waren. Die Neugründung bot nun die Möglichkeit, dieses Instrument – das im Herbst 1948 erneut im Blauen Gutachten aufgegriffen worden war – zu erproben, weil es nicht erst gegen Widerstände an einer bestehenden Universität durchgesetzt werden musste. Trotz der schwierigen ersten Aufbauzeit während der Berlinblockade etablierte sich die Freie Universität rasch und erlebte – auch durch den enormen Zustrom ostdeutscher Studierender – ein rapides Wachstum auf rund 12.000 Studierende zu Beginn der 1960er Jahre. Damit war sie binnen kürzester Zeit zu einer der größten deutschen Universitäten geworden. Neben der Beteiligung der Studierenden an der Selbstverwaltung und dem besonderen Kuratorium gab es bereits im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens verschiedene weitere Neuerungen. Dazu zählte unter anderem ein Tutorensystem für Studienanfänger, das ab 1951/52 zunächst am Institut für Geschichtswissenschaft erprobt und bald auch an anderen Instituten eingeführt wurde, der starke Ausbau der Sozialwissenschaften sowie auch die Errichtung eines großen Studentendorfes am Schlachtensee. Als erste Universität in der Bundesrepublik bot die FU Berlin ab 1956/57 zudem den Studienabschluss Magister an.53 Die Fakultätsgliederung dagegen blieb weitgehend traditionell. Erleichtert wurde der Ausbau der Freien Universität durch umfangreiche finanzielle Unterstützung amerikanischer Stiftungen, aber auch durch öffentliche Mittel aus den Vereinigten Staaten, die sich bis Mitte der 1960er Jahre bereits auf über 30 Millionen DM summierten.54 Die amerikanische Unterstützung für die FU Berlin dauerte schließlich viel länger als jene für die TU Berlin durch die Briten, die sich am Ende der 1940er Jahre dort zurückzogen. 52 Zeitgenössisch dazu von Friedeburg, Freie Universität und politisches Potential der Studenten. Inzwischen auch Spix, Abschied vom Elfenbeinturm. 53 Spix, Abschied vom Elfenbeinturm, S. 60 f. 54 Ebd., S. 57.
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Wie bereits im Fall von Mainz und Saarbrücken, deren Gründungsgeschichte etwa zeitgleich mit jener der Freien Universität in den späten 1980er Jahren erstmals umfangreicher, allerdings nur je auf den einzelnen Standort bezogen, aufgearbeitet wurde, hält James Tent mit Blick auf Ausstrahlung und Vorbildwirkung der FU auf die übrigen westdeutschen Universitäten fest, »dass die Freie Universität als Produkt einer ungewöhnlichen Konstellation gesellschaftlicher und politischer Bedingungen ein Modell ohne Ausstrahlung blieb. Weit davon entfernt, Einfluss auf ihre Schwesteruniversitäten in Westdeutschland ausüben zu können, sah sie sich im Endeffekt gezwungen, sich ihnen anzupassen.«55 Auch Boris Spix verweist darauf, dass die Schwierigkeiten bei der Gewinnung westdeutscher Wissenschaftler in den 1950er Jahren Anpassungsdruck auf die FU ausgeübt und Bemühungen zum Rückbau der studentischen Beteiligungsrechte befördert hätten.56 So trifft das skeptische Urteil Tents über eine geringe Abstrahlwirkung der FU kurzfristig wohl zu, doch seit den 1950er Jahren entfalteten einzelne Innovationen des Berliner Modells durchaus Modellcharakter, wie etwa regionalwissenschaftlichen Institute und letzten Endes dann auch noch die studentische Mitbestimmung. Eine vergleichende Untersuchung der Gründungen in der Besatzungszeit im Kontext der übrigen Hochschulentwicklung käme vermutlich zu einem positiveren Urteil, als es die Beiträge zu den einzelnen Gründungsgeschichten bisher nahegelegt haben. Neben der erfolgreichen Gründung der FU Berlin wurden im amerikanischen Verantwortungsbereich weitere Gründungsversuche von unterschiedlichen lokalen Initiativen verfolgt. In Bremen – Nachschubhafen und amerikanische Enklave in der britischen Besatzungszone – entwickelten verschiedene Personen Pläne für die Gründung einer internationalen Universität, die zunächst nicht umgesetzt werden konnten. In Bamberg und in Regensburg wollten lokale Unterstützergruppen bestehende Philologisch-Theologische Hochschulen zu Universitäten ausgebaut sehen und warben seit 1948 über viele Jahre hinweg für diese Vorhaben. Eine in diesem Kontext veröffentlichte Denkschrift enthielt für Regensburg den Appell: »Es geht nicht an, dass das wichtige süddeutsche Grenzland weiterhin vernachlässigt wird, im Gegenteil, es gilt, in Ostbayern dem christlich-humanistischen Geist unserer abendländischen Zivilisation und Kultur einen neuen, würdigen und ausstrahlungskräftigen Stützpunkt in der Form einer Universität in Regensburg zu geben und damit diesem besonders dafür geeigneten Ort ein geistiges Bildungszentrum zu schaffen, das sich die geistige und materielle Stärkung dieses Grenzlandraumes zum Wohl der Bevölkerung zum Ziel setzt.«57 55 Tent, Freie Universität Berlin, S. 200. 56 Spix, Abschied vom Elfenbeinturm, S. 63 f. 57 Universität Regensburg. Denkschrift, S. 17. Auch: Die vierte bayerische Landesuni versität.
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Hier zeigt sich in einer bemerkenswerten Terminologie, das erst ab den 1960er Jahren voll zu Entfaltung kommende Prinzip, nach dem sich viele Städte von der Universitätsgründung eine Aufwertung und Standortstärkung versprachen und die Landespolitik entsprechend unter Druck setzten. Das vorrangige Motiv ist hierbei das der Strukturpolitik, nicht der Wissenschafts- oder Gesellschaftsreform. Die Politik im Freistaat Bayern, der zu diesem Zeitpunkt noch agrarisch geprägt war, hatte in den 1940er Jahren außerhalb Münchens Wissenschaftsund Hochschulpolitik allerdings noch nicht als Aktionsfeld erschlossen. Erst nachdem Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in den frühen 1960er Jahren eine aktivere Hochschulpolitik aufnahmen und sich das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld auch in Bayern veränderte, konnten derartige Gründungsvorschläge wiederaufgegriffen und in Regensburg, Augsburg und Bamberg und schließlich sogar noch in weiteren Städten umgesetzt werden.
Gründungen in der britischen Besatzungszone: Neue Hochschultypen In der britischen Besatzungszone wurden ebenfalls neue Hochschulen gegründet, aber auch hier offenbar nicht vorrangig auf Betreiben der Besatzer. Es handelte sich nicht um traditionelle Volluniversitäten wie in Mainz, Saarbrücken oder Berlin, sondern um Hochschulen bzw. Akademien für Arbeit, die zwischen 1946 und 1949 in Dortmund, Hamburg und Wilhelmshaven entstanden.58 Nach dem Vorbild der Akademie für Arbeit, die 1921 an der neuen Universität Frankfurt entstanden war, sollten diese Einrichtungen mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen: Sie sollten der Erwachsenenbildung dienen und ein Studium auch ohne Abitur ermöglichen, Führungsnachwuchs für die Gewerkschaften ausbilden sowie den im internationalen Vergleich in Deutschland noch kaum ausgebauten Sozial-wissenschaften eine Heimat geben. Diese Hochschulen, deren Geschichte bisher ebenfalls nicht vergleichend untersucht worden ist, gingen wesentlich auf die Initiative der Gewerkschaften zurück, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Universitäten offenbar sehr kritisch gegenüberstanden. Die im Eingangskapitel geschilderte Kritik von links an der Rolle der Universitäten im Nationalsozialismus und ihre erforderliche Anpassung an veränderte gesellschaftliche Umweltbedingungen, fand hier durch die Gründung von neuen Hochschulen offenbar einen Weg in die Umsetzung. Im Blauen Gutachten wurden diese neuen Institutionen Ende 1948 bereits als »Ergänzung und Erweiterung der Universitätsidee« lobend erwähnt.59 Zu den Lehrenden an diesen drei Akademien – insbesondere in Hamburg – zählten zahlreiche später prominente Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Schulen 58 Von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus. Pusback, Von der Akademie für Gemeinwirtschaft zur Hochschule für Wirtschaft und Politik. Dahrendorf/Ortlieb, Der zweite Bildungsweg. 59 WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 361–364, hier S. 364.
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wie etwa Wolfgang Abendroth, Helmut Schelsky und Ralf Dahrendorf, die allesamt später als Hochschulgründer aktiv werden sollten. Langfristig hatten diese Hochschulen in eigenständiger Form allerdings keinen Bestand. Mindestens zwei Faktoren dürften dabei zu ihrer Schwächung geführt haben: Die zeitweise verstärkte Aufmerksamkeit der Bildungspolitik für die Berücksichtigung unterrepräsentierter sozialer Schichten an den Hochschulen seit Anfang der 1960er Jahre sowie der allgemeine Ausbau der sozialwissenschaftlichen Fächer an den übrigen Universitäten. Die Wilhelmshavener Hochschule ging in der Universität Göttingen auf, die Hamburger Akademie als Hochschule für Wirtschaft und Politik schließlich in der Universität Hamburg und die Dortmunder Akademie in der dortigen Technischen Universität.
Resonanz auf die neuen Universitäten Die Neugründungsvorhaben im Verantwortungsbereich der westlichen Alliierten zeichnete aus, dass sie Neuerungen einführten, die unter anderem den Empfehlungen im Blauen Gutachten oder auch den Forderungen universitätsexterner Kritiker nachkamen – bei den Franzosen war dies etwa die europäische Ausrichtung, bei den Amerikanern der größere Einfluss der Studierenden sowie die Einrichtung eines Kuratoriums und bei den Briten der leichtere Zugang nichtelitärer Schichten zu universitärer Bildung. Gemeinsames Schicksal der Neugründungen war, dass die Interessenvertretung der bereits bestehenden westdeutschen Universitäten ihren Aufbau nicht eben wohlwollend begleitete. Zu den Gründungen in der französischen Besatzungszone gaben die Rektoren aus den beiden anderen westlichen Besatzungszonen zunächst weder unterstützende noch skeptische, sondern überhaupt keine Stellungnahmen ab, was wohl auch an ihrer zunächst noch fehlenden überregionalen Organisation lag.60 Erst im Vorfeld der Gründung der Freien Universität Berlin diskutierten die Rektoren der amerikanischen und britischen Zone, ob sie sich unterstützend äußern sollten, lehnten dies schließlich aber ab.61 Hinter den Bedenken gegenüber der Berliner Neugründung standen unausgesprochen wohl die antitotalitaristische Ausrichtung, die Gründungsrolle der Studenten und ihre Beteiligung an den universitären Gremien, möglicherweise aber auch die Sorge, sich von der für das eigene Leitbild so wichtigen Berliner Universität durch Unterstützung einer lokalen Konkurrentin ohne Erfolgsgarantie zu trennen. So erschien zur kurz da rauf abgehaltenen Gründungsfeier der FU keine offizielle Delegation der westdeutschen Hochschulen. 60 Die Westdeutsche Rektorenkonferenz existierte erst ab April 1949, vorher aber ähnlich Zusammenschlüsse auf Ebene der Besatzungszonen. Eine Auswahl der Beschlüsse ab 1945 in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959. 61 Dazu die Protokolle der Konferenzen vom 26.7.1948 und vom 6./7.11.1948 in Heinemann, Nordwestdeutsche Hochschulkonferenzen, S. 496 und hier 536 f.
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Sieht man von der Sondersituation der in West-Berlin gegründeten Freien Universität ab, waren es vor allem zwei Argumente, die die Rektoren gegen die Gründung neuer Hochschulen anführten. Das erste Gegenargument betraf die Finanzen: »Neugründungen verzehren die materiellen Mittel, die den bestehenden Hochschulen fehlen«,62 so formulierte die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) sechs Jahre nach Kriegsende. Weitere sechs Jahre später – als 1956/57 Ideen für eine zweite Technische Hochschule in Nordrhein-Westfalen aufkamen – argumentierte die WRK unverändert und empfahl anstelle von Neugründungen »zunächst die vorhandenen Universitäten und Technischen Hochschulen sowie die anderen Forschungszentren derart auszustatten und auszubauen, dass sie den Anforderungen in Forschung und Lehre so nachkommen können, wie es sachlich notwendig ist und im Hinblick auf die Anstrengungen anderer Staaten wünschenswert erscheint.«63 Ihre Ablehnung neuer Hochschulen dehnte die WRK Ende der 1950er Jahre – so viel im Vorgriff – schließlich auf ein Projekt aus, das die Finanzierungsbasis der westdeutschen Hochschulen zunächst gar nicht betraf, nämlich die im Euratom-Vertrag von 1957 festgelegte Gründung einer Europäischen Universität. Hier zeigte sich, dass zur Sorge um Ressourcenkonkurrenz durch Neugründungen als zweites Abwehrargument die Statuskonkurrenz hinzutrat. Im Juni 1959 erklärte die WRK zur Gründung einer Europäischen Universität diese würde »eine falsche Schichtung im europäischen Hochschulwesen hervorrufen«.64 Die Hochschulvertretung organisierte in dieser Frage sogar ein gemeinsames Memorandum mit dem Hochschulverband, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Akademischen Austauschdienst, mit dem augenscheinlich verhindert werden sollte, dass eine europäische Spitzeninstitution oberhalb der deutschen Universitäten geschaffen würde.65 Vorstellen konnte man sich immerhin europäische Forschungsinstitute für besonders teure naturwissenschaftliche Felder oder besondere Einrichtungen in den Geisteswissenschaften, die »den Charakter von Instituten der ›advanced studies‹ tragen«, zwei institutionelle Innovationen auf die noch zurückzukommen ist. Gegen den gut organisierten Widerstand der westdeutschen Universitäten konnten die Fürsprecher der Idee einer europäischen Universität vorerst scheinbar wenig ausrichten. Kaum Hinweise gibt es darauf, wie die Neugründungsvorhaben der Besatzungsjahre jenseits der Interessenvertretung der bereits bestehenden Universitäten wahrgenommen wurden. Nur wenige Artikel hierzu enthält die »Göttinger Universitätszeitung«, die 1945 auf Anregung der Britischen Besatzer gegründet 62 Beschluss der WRK in Heidelberg am 4.1.1951, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 43. 63 Beschluss der WRK in Aachen am 24.5.1957, in: ebd., S. 79. 64 Beschluss der WRK in München am 25.6.1959, in: ebd., S. 98 f. 65 Wiederabgedruckt ebd., S. 100–103.
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und seit Oktober 1949 unter dem Titel »Deutsche Universitätszeitung« (DUZ) erschien. Diese Artikel berichten zumeist von der Haltung der Westdeutschen Rektorenkonferenz gegenüber den Neugründungen, die aus Gründen der befürchteten Ressourcen- und Statuskonkurrenz oder weil Abweichungen vom bisher vorherrschenden Typ der Volluniversitäten kritisiert wurden, ablehnender Natur war. Lediglich ein längerer Bericht aus dem Herbst 1948 findet sich, in dem der Göttinger Historiker Wilhelm Treue (1909–1992) unter dem Titel »Gründerzeit« die Neugründungen seit 1945 zu charakterisieren versuchte.66 Treue erkannte eine Vielzahl von Motiven für die Neugründungen der Jahre 1945 bis 1948, die von steigender Nachfrage nach Studienplätzen bei verknapptem Bestand an Hochschulen, über Prestigegesichtspunkte im Wettbewerb der teils neu geschaffenen Länder, Bemühungen um Stärkung der Bildungsfunktion, die Rezeption ausländischer Modelle bis hin zu strukturpolitischen Motiven reichten. Auffällig ist jedoch, dass jenes sich rund zehn Jahre später verbreitende Motiv einer »Hochschulreform durch Neugründung« für Treue bei der Bilanz der ersten Nachkriegsgründungen noch kein ausschlaggebendes war. So scheint »Hochschulreform durch Neugründung« zwischen 1945 und 1948 lediglich an der Peripherie – inhaltlich wie auch räumlich verstanden – eine Rolle gespielt zu haben, etwa bei der französischen Hochschulgründung in Speyer oder den Hochschulgründungen in Wilhelmshaven und Hamburg. In der öffentlichen Wahrnehmung verbanden sich mit diesen Projekten offenbar nur selten Reformerwartungen oder gar eine besondere Faszination des Neuen. Da die Forschungslage zu den erfolgten Neugründungen bislang aber ganz auf die einzelnen Standorte bezogen ist, ermöglicht sie kaum Aussagen zur Interaktion mit den bereits bestehenden älteren Hochschulen oder erfolgten Beeinflussungen zwischen neuen und alten Institutionen in beide Richtungen. Klar erkennbar ist lediglich die Haltung der Hochschulrektoren gegenüber den Neugründungen, die alles andere als enthusiastisch und vor allem von der Sorge um Ressourcen- und Statuskonkurrenz geprägt war.
1.2 Neue Anforderungen an die Universitäten: Zentrale Diskussionen der 1950er Jahre Die skeptische Haltung vieler Universitätsangehöriger gegenüber raschen Reformen in den ersten Nachkriegsjahren hatte Walter Hallstein als erster gewählter Nachkriegsrektor der Frankfurter Universität im Frühjahr 1948 noch verteidigt und in einem Appell an die Besatzungsmächte um Geduld gebeten. Zehn Jahre später sah er in neuer Rolle den Punkt gekommen, an dem die gründlichen Diskussionen auch einmal zu Ergebnissen führen könnten. H allstein war 66 Treue, Gründerzeit.
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inzwischen von der Hochschulseite in die Politik gewechselt und erster Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im Zuge seiner Europapolitik hatte er die Gründung einer europäischen Universität vorgeschlagen, die – ebenso wie die anderen Neugründungsversuche der Nachkriegsjahre – auf den Widerstand der bestehenden Hochschulen gestoßen war. Wiederum in der »Deutschen Universitätszeitung« kommentierte Hallstein nun: »Universitäten sind ihrem Wesen nach konservativ, und das gehört zu dem Besten, was über sie gesagt werden kann. […] Immer in der Universitätsgeschichte sind darum grundlegende Neuerungen durch neue Gründungen durchgesetzt worden. […] Nicht also um die vorhandenen Universitäten beiseite zu setzen, wird die [europäische] Neugründung empfohlen. Sie ist vielmehr […] das systemkonforme Mittel, um die vorhandenen Universitäten zu einer neuen und umfassenden Anstrengung anzuregen.«67
Reform durch Neugründung rief Hallstein also Ende der 1950er als Parole aus. Tatsächlich sollte dieser Gedanke ab 1959 dann rasch an Popularität gewinnen, nachdem im Verlauf der 1950er Jahre zunächst – wie von Hallstein vorausgesagt – sich stetig intensivierende Diskussionen über Reformbedarfe an den einzelnen Aufgaben der Universitäten geführt worden waren. Welche Themen umfassten diese Diskussionen über Hochschulreformen, wer brachte sich in die Debatte ein und zu welchen Erkenntnissen führten sie? Um diesen Fragen als Grundlage der in den 1960er Jahren anschließenden Neugründungskonzepte nachzugehen, werden die Diskussionen bis Ende der 1950er Jahre – mit einigen Ausblicken in die 1960er – entlang der drei damals zentralen Funktionen und Aufgaben der Universitäten in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Forschung betrachtet.
1.2.1 Bildung und Erziehung: Neuer Auftrag für die Universität? Unter der Überschrift der Bildungs- und Erziehungsaufgaben wurde seit Kriegsende und vor allem in der ersten Hälfte der 1950er Jahre nun mit zunehmender Intensität über ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen gesprochen. Für die besonders engagierten Akteure waren die damaligen Bemühungen um Hochschulreform im Wesentlichen deckungsgleich mit den Ideen für ein Studium generale und mit neuen Gemeinschaftsformen.68 Die Forderung nach mehr Bildung und Erziehung an den deutschen Universitäten konnte, da die Begriffe in der Regel nicht definiert und auch nicht klar voneinander abgegrenzt w urden, 67 Hallstein, Die Kulturelle Einheit Europas, S. 177. 68 Die folgenden Ausführungen stützen sich neben der Auswertung der Quellen auf die Untersuchungen von Papenkort, Studium generale, S. 74–94; Paulus, Vorbild USA, S. 147–156 und Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus.
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Fachbildung, Allgemeinbildung, Persönlichkeits- oder Charakterbildung und nicht zuletzt auch – was nach der Befreiung vom Nationalsozialismus auch außerhalb der Hochschulen von besonderer Relevanz war – politische Bildung oder Demokratieerziehung meinen. Alle diese Bedeutungen von Bildung waren im Blauen Gutachten angesprochen worden. Die Formate, über die sie verfolgt werden sollten, waren entweder besondere studienbegleitende Veranstaltungen – meist Studium generale genannt – oder neue Wohn- und Gemeinschaftsformen. Unübersichtlich war die Diskussion von Anfang an dadurch, dass mit dem Studium generale unter dem gemeinsamen Dach eines zusätzlichen Studienangebotes Ziele verfolgt wurden, die – je nach Interesse – mehr der Forschungsreform oder mehr der Studienreform oder auch beiden dienen konnten. Diese Ausprägung des Studium generale – die in der Nachkriegszeit insgesamt im Vordergrund stand – meinte vor allem eine das Fachstudium ergänzende Allgemeinbildung. Wesentlicher Motor hinter diesen Studium-generale-Vorschlägen im Blauen Gutachten war das britische Kommissionsmitglied Lord Lindsay gewesen. Lindsays Werben für general education wurde – wie Papenkort rekonstruiert hat – von der Kommission ins Zentrum der Empfehlungen aufgenommen. Beim dafür gewählten Begriff »Studium generale« handelte es sich um »eine gewissermaßen humanistische Übersetzung des Ausdrucks ›general education‹«.69
Bekanntmachung der Ideen über Tagungen und Publikationen Verbreitet und beworben wurden die unterschiedlichen Bildungs- und Erziehungsideen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre sowohl über Publikationen einzelner Personen als auch über eine ganze Reihe von Tagungen. Eine erste kleinere Tagung fand im Oktober 1950 auf Einladung der Universität Tübingen am dortigen Leibniz-Kolleg statt, das 1948 als so genanntes Propädeutikum eingerichtet wurde, um eine einjährige allgemeinbildende Zwischenstufe zwischen Schule und Universität zu erproben, in der zugleich ein gemeinsames Leben im Kolleg für die circa 60 jungen Erwachsenen vorgesehen war. Im Vordergrund stand dort allerdings zunächst nicht die Idee der Gemeinschaftsbildung, sondern die Vermittlung eines klassischen humanistischen Bildungskanons.70 Auf der Tübinger Tagung wurden die im Blauen Gutachten 1948 noch separat behandelten Themen Studium generale und studentische Gemeinschaftserziehung nun gemeinsam diskutiert. Die Verbindung zur Autorengruppe des Blauen Gutachtens stellte dabei Carl Friedrich von Weizsäcker her.71 69 Ebd., S. 77. 70 Dazu Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 180. Das Kolleg existiert bis heute mit diesem Auftrag, allerdings nicht mehr im Betrieb der Universität. Vgl. Artikel von Christine Brinck, Ein intellektuelles Treibhaus, in: Die Zeit 24.2.2013. 71 Von Weizsäcker, Denkschrift, S. 1. Zur Tagung und zum Hintergrund der einzelnen Teilnehmer ausführlich Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 182–193.
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Schon diese erste Tagung in Tübingen, die im Oktober 1950 noch ohne amerikanische Unterstützung veranstaltet wurde, gab den Impuls zur Erstellung von zwei Bestandsaufnahmen über das Studium generale und das studentische Gemeinschaftsleben. Die erste stammte vom Historiker Walther Peter Fuchs (1905–1997) und bezog sich auf jene Linie der Bildungs- und Erziehungsdiskussionen, die auf eine Umsetzung in neuen Studentenwohnheimen und Gemeinschaftshäusern setzte.72 Fuchs hatte am Tübinger Treffen als Leiter des Collegium Academicum der Universität Heidelberg teilgenommen.73 Dieses Collegium Academicum war von der Universität 1945 in einem früheren Jesuitenseminar aus dem 18. Jahrhundert eingerichtet worden, um Studierenden eine Unterkunft zu bieten und insbesondere die Notabiturienten und Kriegsheimkehrere mit Vorsemesterkursen auf die Universität vorzubereiten.74 Vage waren von der Universität darüber hinaus Pläne formuliert worden, aus dieser Einrichtung ein Reformprojekt nach dem Muster amerikanischer Colleges zu machen. Die konkrete Ausgestaltung des Kollegs, das auch als Gegenmodell zu den traditionellen Heidelberger Studentenverbindungen gedacht war, blieb weitgehend den jeweiligen Leitern selbst überlassen. Fuchs übernahm diese Leitungsaufgabe 1949 vom Gründungsleiter und Lehrer Joachim Boeckh (1899–1968), der von einem reformpädagogischen Landerziehungsheim im Odenwald kam, und gab sie 1952 an den Literaturwissenschaftler Peter Wapnewski (1922–2012) ab, der drei Jahrzehnte später ein weiteres Kolleg, allerdings für Forschende und nicht für Studierende – das Berliner Wissenschaftskolleg – mit ins Leben rief. Ein College ist aus dem Heidelberger Kolleg allerdings nie geworden, es wurde 1975 geschlossen. Die Korporationen hatten in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt als wichtigste extrauniversitäre Sozialisationsorte der Studenten erlebt, standen bereits in den Jahren der Weimarer Republik in der Kritik und waren schließlich durch die Nationalsozialisten – dann allerdings aus inhaltlich anderen Gründen, nämlich zur Stärkung der NS-Kameradschaftshäuser – verboten worden. Ende der 1940er Jahre hatten sie jedoch zumindest in den kleinen Studentenstädten wieder stark an Popularität gewonnen. Die Westdeutsche 72 Fuchs/von Langen, Studentische Wohnheime und Gemeinschaftshäuser. Zu Fuchs’ und von Langens Studie auch Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 176–182. 73 Peter Wapnewski engagierte sich Anfang der 1980er Jahre als Planungsbeauftragter und Gründungsrektor für den Aufbau des von Peter Glotz ersonnenen Berliner Wissenschaftskollegs, worauf er in seinen Memoiren im Gegensatz zur Aufgabe am Heidelberger Collegium Academicum auch ausführlich eingeht, vgl. Wapnewski, Mit dem anderen Auge. Zum Schicksal des Heidelberger Collegium Academicum: Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 320 ff. 74 Ausführlich zum Collegium Academicum zeitgenössisch: Schweitzer, Kollegienhaus in der Krise, vergleichend mit ähnlichen Projekten in der amerikanischen Besatzungszone in Marburg, Frankfurt und Berlin: Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 265–326. Zuletzt auch Wolbring, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt, S. 205 ff.
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Rektorenkonferenz hatte dies im Herbst 1949 zum Anlass genommen, ihre »ernste Sorge« über die Wiederherstellung solch »überlebter Gemeinschaftsformen« zu äußern und sich einem ausführlichen verbindungskritischen Beschluss des Großen Senats der Universität Tübingen anzuschließen, auch aus Sorge über negative Schlagzeilen im In- und Ausland: »An der Frage, in welchem Geist jetzt die Aufgabe der Gemeinschaftsbildung gelöst wird und welche Formen für das Zusammenleben gefunden werden, nicht weniger als die Zukunft der deutschen Hochschule sich entscheidet«.75 Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung mit den Studentenverbindungen und Fuchs’ Aufgabe am neuen Heidelberger Collegium Academicum richtete dieser den Fokus seiner Bestandsaufnahme nicht auf das normale Studentenwohnheim, sondern auf den neuen Typus Gemeinschaftshaus. Fuchs warb für diesen inhaltlich von ihm jedoch nicht genau definierten neuen Typ Einrichtung, der »das gemeinsame Wohnen in einem wie auch immer gearteten erzieherischen Sinne umsetzt.«76 Er verwies auf eine ganze Reihe von weiteren Projekten für derartige studentische Gemeinschaftshäuser in Göttingen (Akademische Burse), Heidelberg (Collegium Academicum), Köln (Burg Wahn), Marburg (Collegium Gentinum), München, Münster und Tübingen (LeibnizKolleg). Ein mögliches Hindernis, die Erziehungsaufgaben über neue Wohnformate zu verwirklichen, führte er aber auch ganz offen an: »Seit dem zweiten Weltkrieg ist die Abneigung gegen jede Art von Gemeinschafts leben an deutschen Universitäten und Hochschulen besonders ausgeprägt. Die Erfahrungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Erziehung, des Militärdienstes und der Gefangenschaft wirken dabei entscheidend nach. Man wird aber […] solche zeitbedingte Ablehnung nicht überbewerten dürfen.«77
Fuchs’ Annahme war, dass die Skepsis vorübergehend sein und von einer folgenden, jüngeren Generation Studenten nicht geteilt würde. Er plädierte für die Weiterförderung der begonnenen Experimente. Was waren die Vorbilder für die Gemeinschaftshausexperimente, die Fuchs 1951 vorstellte? Welche Rolle spielten einerseits eigene universitäre Traditionen jenseits der in der Kritik stehenden Korporationen und andererseits das englische College sowie das von den Amerikanern modifizierte englische Modell? Diese möglichen Einflüsse müssen zudem vor dem Hintergrund der zeitgenös sischen Hochschulreformzugänge – idealtypisch differenziert in Rückwendung auf eigene Traditionen gegenüber Aufnahme internationaler Entwicklungen – 75 Beschluss der Westdeutschen Rektorenkonferenz zur Neubildung studentischer Gemeinschaften, Tübingen, 11. Oktober 1949, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 37 ff. 76 Fuchs/von Langen, Studentische Wohnheime und Gemeinschaftshäuser, S. 26. 77 Ebd., S. 11. Fuchs bezog sich auf Versuche in der NS-Zeit, die Anfangssemester stärker zu kasernieren. Zu diesen Plänen Grüttner, Studenten im Dritten Reich.
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betrachtet werden. Weizsäcker hatte dazu im Bericht zur Tübinger Tagung bereits zu bedenken gegeben, dass es in dieser Hinsicht keine aktivierbare deutsche Tradition gebe. Das College-System in Großbritannien und den USA wurde von ihm als Referenz genannt, aber dessen jeweilige landestypische Ausprägungen nicht differenziert betrachtet, da eine entsprechende bauliche Verwirklichung in der deutschen Nachkriegssituation, in der zunächst viele grundlegende Infrastrukturen wiederzuerrichten waren, von ihm ohnehin als unrealistisch erachtet wurde. Der Historiker Fuchs dagegen führte als Vorbild der neuen Gemeinschaftshäuser die Bursen und Collegia der mittelalterlichen europäischen Universität an und verschloss sich offenbar Alternativen, die einer anderen Tradition entsprangen. Dass Fuchs’ Ansicht keine Ausnahme darstellte, hat Konstantin von FreytagLoringhoven bei seiner Untersuchung der Rezeption des amerikanischen Colleges in Deutschland gezeigt, die nach dem Ersten Weltkrieg zwar stattfand, aber vor allem in Fachdiskursen weniger Reformpädagogen wie Erich Hylla oder Paul Ziertmann, und ohne politischen Einfluss blieb.78 Eduard Spranger, der Popularisierer der Humboldtschen Universitätsidee, hatte in einem Aufsatz über »Gefährdung und Erneuerung der deutschen Universität« 1930 zwar das Fehlen einer College-artigen Stufe nach amerikanischem Vorbild bedauert.79 Bei dieser Art der Rezeption stand jedoch nicht die Idee des amerikanischen Colleges mit dem geschlossenen Lebensraum eines Campus im Vordergrund, in dem durch Interaktion der Studierenden ein wesentlicher Effekt der Erziehung des Undergraduate zum Menschen und Staatsbürger erreicht wurde, sondern eben die Möglichkeit, einen Teil der wachsenden Studierendenzahlen aus der Forschungsuniversität auszulagern. Eine weitere Auseinandersetzung mit der amerikanischen College-Idee war schließlich seit 1933 durch die Emigration zahlreicher an den Vereinigten Staaten orientierter Wissenschaftler zusätzlich erschwert worden. Diese mangelnde Rezeption dürfte die Aufnahme solcher Ideen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschwert haben. Komplementär zu Fuchs’ Überblick über die Wohnheime und Gemeinschaftshäuser erschien 1952 eine zweite Überblicksdarstellung, die Studium generale und studentischem Gemeinschaftsleben gewidmet war. Sie stammte vom Germanisten Walter Killy (1917–1995), dem Organisator der Tübinger Tagung von 1950 und damaligen Leiter des Leibniz-Kollegs. Erstellt wurde sie mit Mitteln des Deutschen Studentenwerks und herausgegeben von der Kommission für Hochschulreformfragen, die im Vorjahr von der Westdeutschen Rektorenkonferenz eingesetzt worden war.80 Im Sommer 1951 hatten auch die Hochschulrektoren 78 Dazu Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 87 ff. 79 Dazu ebd., S. 56 f. 80 Killy, Studium Generale. Killy wiederholte allerdings auch Fuchs’ Plädoyer für Kollegienhäuser und schilderte erneut einige Beispiele, S. 49–59.
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auf ihrer Jahresversammlung in Köln die Forderung nach einem Studium generale erneuert. Ihr Beschluss zeigte jedoch nochmals, wie sehr das Studium generale als Allzweckwaffe eingesetzt werden konnte: Vertiefung des Fachstudiums und Verbindung mit Nachbarfächern, politische Bildung und »Pflege eines echten akademischen Gemeinschaftslebens« wurden gleichermaßen als Ziele genannt, Kollegienhäuser als adäquate Einrichtungen betrachtet und ihr Ausbau sogar dringlich empfohlen. Auch hier wurde das genaue Vorgehen aber wieder den Hochschulen selbst überlassen.81 Killy kritisierte die infolge der Vielzahl der Motive bedingte uneinheitliche Lage und die unabgestimmten Vorstöße zum Studium generale an den Universitäten. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass die Universitäten sich untereinander über die Entwicklung ihrer Institution nicht austauschten, zumindest nicht so, wie Wissenschaftler sich über den Fortschritt in ihren Forschungen austauschten. Um dieser Situation abzuhelfen und weiteren Fortschritt in Sachen Studium generale zu befördern, beschrieb Killy die größten existierenden Studium-generale-Angebote. Diese wurden an der Universität Freiburg ab Ende 1949 unter dem Rektorat Gerd Tellenbachs, an der von den französischen Besatzern neu gegründeten Universität Mainz und an der Technischen Universität Berlin bereits seit 1948 von jeweils eigenen Abteilungen organisiert. Alle drei hatten nach Killys Recherchen gemeinsam, dass sie zunächst als propädeutische Angebote für die Studenten gedacht waren, die vom Erziehungssystem des Nationalsozialismus geprägt und zu großen Teilen mit dem Notabitur der letzten Kriegsjahre oder aus Kriegsgefangenschaft an die Universitäten gekommen waren. An der TU Berlin etwa war 1946 eine »Humanistische Fakultät« eingerichtet worden, die für alle Studenten zwei verpflichtende Eingangssemester mit allgemeinbildenden Veranstaltungen organisieren sollte. Diese Pläne einer verpflichtenden Vorbereitungszeit für alle Studierenden waren zur Zeit von Killys Erhebung – wenige Jahre nach ihrer Einführung – allerdings schon wieder zu Gunsten einer studienbegleitenden Lösung aufgegeben worden. Es folgten Informationen zur weiter verbreiteten Variante von Ringvorlesungen und »Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten«, für die in den Nachkriegsjahren an vielen Universitäten ein ganzer oder halber Wochentag reserviert wurde. Auch hier konstatierte Killy am Anfang der 1950er bereits einen gewissen Rückgang der Aktivitäten. Diese Befunde lassen darauf schließen, dass den vielfach erhobenen Forderungen nach einem Studium generale keine konsequente Umsetzung dieses Gedankens folgte bzw. diese offenbar im universitären Betrieb rasch an Priorität verlor. Umfangreicher als die Übersicht der Studium-generale-Aktivitäten und -Formate fiel bei Killy die anschließende Inventur der zeitgenössischen studentischen Gemeinschaftsaktivitäten aus. Die evangelischen und katholischen Stu 81 Beschluss der Westdeutschen Rektorenkonferenz zum Studium generale, Köln, 30. Juli 1951, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 44.
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dentengemeinden wurden von Killy besonders positiv bedacht. Sie seien nach Auffassung vieler seiner Gesprächspartner »die lebendigsten und vielseitigsten Gemeinschaftsgebilde an den Hochschulen«.82 Killys Schilderung legt nahe, dass die Studentengemeinden in den frühen 1950ern anscheinend erfolgreich in die Lücke gestoßen waren, die das Verbot der Studentenverbindungen bis in die späten 1940er Jahre und ihre kritische Bewertung durch viele Zeitgenossen erzeugt hatten.83 Ohne dass dieser Vergleich von ihm gezogen wurde, klingt hier an, dass die Studentengemeinden offenbar vielerorts für große Studentengruppen schon das leisteten, was die von Fuchs geschilderten Gemeinschaftshäuser an wenigen Orten für eine kleine Zahl von Studenten erst erprobten. Killys Appell lautete schließlich, dass Studium generale und studentisches Gemeinschaftsleben am Anfang der 1950er Jahre nun den Übergang aus dem Bereich der Provisorien und Experimente in beständige Einrichtungen finden müssten. Dazu seien, so beruhigte er, keine großen Mittel erforderlich und doch könne »das Problem der Gliederung der anonymen Massen der Studierenden« erfolgreich angegangen werden.84 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Killy und Fuchs mit ihren Überblicksdarstellungen von 1951 und 1952 den Bereich von Studium generale, studentischen Wohnformen und Gemeinschaftsleben sowie deren Entwicklung in den ersten Nachkriegsjahren einer Inventur unterzogen, allerdings unter weitgehendem Verzicht auf Einbettung in eine Traditionslinie der deutschen Universitätsentwicklung oder in ausländische und insbesondere angelsächsische Vorbilder. In der Tendenz legte Fuchs mehr Wert auf überlieferte Traditionen der deutschen Universitäten und den Rückgriff auf mittelalterliche Einrichtungen wie die Bursen, während Killys ausführliche Schilderung und positive Bewertung des studentischen Gemeinschaftslebens unausgesprochen vom Vorbild des amerikanischen Campuslebens motiviert zu sein scheint. Killy und Fuchs, die sich als Leiter entsprechender Einrichtungen in Tübingen und Heidelberg bei der Entwicklung der Formate engagierten, vertraten die Themen ihrer Überblicksdarstellungen, in die ganz offenbar auch einiges Herzblut geflossen war, auch auf den Tagungen in Weilburg und Hinterzarten und noch darüber hinaus. Fuchs wurde wenig später Wohnheimbeauftragter der Westdeutschen Rektorenkonferenz und warb für die Idee der Kollegienhäuser nochmals vehement, dann als Sachverständiger des Wissenschaftsrats, im Zusammenhang mit den ersten Konzepten für neue Universitäten Anfang der 1960er Jahre. Killy blieb als Dozent und ab 1956 auch als Professor an der Freien Universität mit dem Thema verbunden, engagierte sich dort bei Planung 82 Ebd., S. 99. 83 Die Geschichte christlicher Studentengemeinden in der Bundesrepublik ist unge schrieben. 84 Ebd., S. 116 ff.
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und Bau des großen Studentendorfs am Schlachtensee (Eröffnung 1959), und sollte später die Gründung der neuen Universität Bremen mitzugestalten versuchen, die in einem ersten Entwurf als Campusuniversität mit zugehörigen Gemeinschaftswohneinrichtungen geplant war.85 Doch auch ältere Kollegen von Killy und Fuchs setzten sich für Experimente mit neuen Gemeinschaftshäusern ein. Bruno Snell etwa, Mitglied der Kommission zum Blauen Gutachten, sorgte 1953 als Rektor der Universität Hamburg für die Gründung und zunächst auch die Leitung eines Europa-Kollegs, das dem studentischen Gemeinschaftsleben ebenso eine neue Form geben sollte, wie es die europäische Idee popularisieren sollte.86 Ludwig Raiser unterstützte ebenfalls ein ähnliches Experiment in Göttingen ab 1954 und räumte dem Thema neue studentische Gemeinschafts- und Wohnformen zudem breiten Raum in den Ausgaben der »Deutschen Universitätszeitung« ein, die er mit Helmuth Plessner und weiteren Göttinger Kollegen zusammen herausgab.87 Nach der Tübinger Tagung von 1950, die den Anstoß zu den Berichten von Fuchs und Killy gegeben hatte, übernahm der amerikanische hochschulpolitische Berater bei der Alliierten Hohen Kommission, Julius J. Oppenheimer (1890–1983), sozusagen den Staffelstab vom seinem ehemaligen britischen Kollegen Robert Birley, der das Blaue Gutachten angestoßen hatte. Oppenheimer ermöglichte weitere Diskussionsrunden zum Bildungs- und Erziehungsgedanken, indem er als Impulsgeber und Finanzier zweier Tagungen in Weilburg an der Lahn im August und September 1951 und Hinterzarten im August 1952 fungierte und trug damit erheblich zur Auseinandersetzung mit den neuen Gedanken bei. Die Tagung in Weilburg war auf Oppenheimers Anregung hin ausschließlich dem Thema Studium generale gewidmet, jene in Hinterzarten sollte, wie der Titel »Probleme der deutschen Hochschulen« nahelegte, ein breiteres Themenspektrum bearbeiten. Faktisch ging es aber auch hier, wie Programm und Tagungsbericht zeigen, zu großen Teilen erneut um das Studium generale und das Thema »Hochschule als Gemeinschaft«.88 Wie schon 1946 mit den Marburger Hochschulgesprächen förderten die Amerikaner also Anfang der 1950er Jahre nochmals den standortübergreifenden Austausch deutscher Professoren in besonderen Gesprächsforen. Zunächst sah es auch so aus, als ob die 85 Zu Entstehung und Entwicklung des Studentendorfs Schlachtensee: Zünder, Studentendorf Schlachtensee. Außerdem Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 485–499. 86 Das Kolleg besteht noch, vgl.: https://europa-kolleg-hamburg.de, letzter Abruf: 16.4.2016. 87 Zu der von Raiser ab 1947 unterstützten Juristenrunde, die ab 1954 auch ein Wohnhaus baute, siehe Wolbring, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt, S. 215. Zahlreiche Artikel zu neuen Gemeinschaftshäusern, abr auch Berichte über Colleges in England finden sich vor allem in den DUZ-Ausgaben der Jahre 1950 und 1951. 88 Tenbruck/Treue, Studium Generale. Tellenbach, Probleme der Deutschen Hochschulen. Zur Tagung in Hinterzarten außerdem drei Beiträge des Mitorganisators Gerd Tellenbach in ders., Der sibyllinische Preis, S. 79–104.
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Ideen von Studium generale und Gemeinschaftsformen sich über die Tagungen in Weilburg 1951 und Hinterzarten 1952 erfolgreich verbreiten ließen. Mit jeweils mehr als 100 Teilnehmern, unter denen in beiden Fällen auch Gäste aus den USA, Frankreich und Großbritannien waren, handelte es sich bei diesen Tagungen um relativ große Veranstaltungen, die die Ideen weit streuen sollten. Insbesondere »Hinterzarten« blieb in den 1950ern ein Referenzpunkt, offenbar war diese Tagung in Georg Pichts Landschulheim Birklehof für die Teilnehmenden eine besonders prägende Erfahrung gewesen – in Tellenbachs deutlich bewegten Worten: »Die etwa 150 Teilnehmer der beiden Hinterzartener Tagungen waren so ergriffen von der gegenwärtigen Not der deutschen Hochschule und von dem Wunsch, ihr abzuhelfen, dass es kaum vorkam, dass jemand sich durch das heitere Sommerwetter und die lockenden Schwarzwaldhöhen von der gemeinsamen Arbeit ablenken ließ. Selbst in der Mittagspause und bis in die tiefe Nacht hinein verfassten und feilten die Kommissionen ihre Entwürfe.«89
Die Empfehlungen am Ende der Tagung waren vielfältig, häufig aber sehr vage formuliert. Weitere »Bemühungen um ein recht verstandenes Studium Generale« wurden erneut gefordert, trotz oder gerade wegen der »vielen mühevollen Gespräche über ein Studium Generale, die seit Jahren nicht zur Ruhe kommen«.90 Sowohl die Tagungsergebnisse als auch weitere Vorträge zum Thema wurden in der Schriftenreihe des deutschen Hochschulverbandes publiziert, der so die Beschäftigung mit Reformfragen gegenüber seinen Mitgliedern – den deutschen Professoren – in gewisser Weise hoffähig machte.91 Parallel zu den drei Tagungen in Tübingen, Weilburg und Hinterzarten fand zudem eine erste Institutionalisierung der Hochschulreformdiskussionen statt, indem die 1949 gegründete Westdeutsche Rektorenkonferenz und der 1950 wiedergegründete Hochschulverband als Interessenverbände von Hochschulen und Hochschullehrern Ende 1951 einen Ausschuss für Hochschulreformfragen ins Leben riefen, dessen Vorsitz der in beiden Verbänden engagierte Historiker Gerd Tellenbach übernahm. Nochmals wurden die Ergebnisse der drei Tagungen schließlich Ende der 1950er Jahre in einem Quellenband abgedruckt, was die zeitgenössische Bedeutung dieser Diskussionen aus Sicht der Herausgeber unterstrich.92
89 Tellenbach, Einleitung in die Empfehlungen der Hinterzartener Tagung, S. 93. 90 Empfehlungen der Hinterzartener Arbeitstagungen, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 400–433, hier S. 406. 91 Beispielsweise Theodor Litts Vortrag zum Bildungsauftrag der deutschen Hochschule bei der Tagung des Hochschulverbandes in Marburg 1952 als Heft 2 der Schriften des Hochschulverbandes und die Ergebnisse der Tagung in Hinterzarten 1952 als Heft 3 der Schriftenreihe. Litt, Der Bildungsauftrag und Tellenbach, Probleme der Deutschen Hochschulen. 92 WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959.
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Wirksamkeit und Kritik: Verlegung der Hochschulreform in die Wohnheime? Mit den geschilderten drei Tagungen und den beiden Publikationen war zwischen 1950 und 1952 ein Höhepunkt der Diskussionen über Studium generale und studentisches Gemeinschaftsleben erreicht. Wie lässt sich die Wirkung dieser Diskussionen bestimmen? Was kam von diesen Impulsen in den deutschen Universitäten und bei den einzelnen Hochschullehrern an? Noch von der Konferenz in Hinterzarten ging 1952 der Impuls aus, die Informationslage über Zustand und Reformbedürftigkeit der Universitäten zu verbessern. Das Deutsche Studentenwerk hatte im Wintersemester 1951/52 erstmals alle Studierenden bei der Einschreibung einen Fragebogen ausfüllen lassen und im Frühjahr 1952 die Auswertungen veröffentlicht. Sicher auch stimuliert von der daraus hervorgegangenen Publikation »Das soziale Bild der Studentenschaft« befasste sich in der Folge nun eine ganze Reihe junger Nachwuchswissenschaftler in der Soziologie als Teil ihres akademischen Qualifikationsweges mit der Universität als Forschungsgegenstand.93 Friedrich Tenbruck (1919–1994), der für die Dokumentation der Weilburger Tagung zum Studium generale verantwortlich zeichnete und im Weilburger Tagungsband als Mitarbeiter der Alliierten Hohen Kommission geführt wurde, erstellte die Konzeption für drei Teilstudien zur Befragung von Studenten, Professoren und Arbeitgebern, die in den folgenden Jahren am Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt von Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor Adorno (1903–1969), an der 1951 gegründeten Hochschule für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt auf Anregung Erich Hyllas (1887–1976) und an der Universität Mannheim schließlich mit Unterstützung Eduard Baumgartens (1898–1982) erstellt wurde. Beteiligt waren an diesen Arbeiten neben Tenbruck als ausführendem Mitarbeiter vor allem Ludwig von Friedeburg (1924–2010), Christoph Oehler (1928–2001) und Jürgen Habermas (*1929), kurzzeitig auch Ralf Dahrendorf (1929–2009).94 Von Interesse ist hier die dritte Teilstudie, die »Professorenbefragung«, die unter dem Titel »Probleme der deutschen Universität« veröffentlicht wurde. Sie beruhte auf fragebogengestützten Interviews eines repräsentativen Querschnitts von Professoren und Dozenten an den Universitäten in Bonn, Frankfurt, Heidel berg und Kiel im Wintersemester 1953/54. Hauptautor der Untersuchung ist Hans Anger (1920–1998) für den die 1960 erschienene Studie zugleich seine Habilitation darstellte.95 Weil sich das Erkenntnisinteresse von Angers Studie vor allem entlang der Themenfelder bewegte, die auf den Konferenzen in Weilburg und 93 Deutsches Studentenwerk, Das soziale Bild der Studentenschaft. 94 Siehe auch Dahrendorfs Schilderung dieser Episode am Frankfurter Institut für Sozialforschung in Dahrendorf, Über Grenzen, S. 169 ff. Weitere Studien außerhalb dieser Institutionen waren anderen Aspekten der Hochschulreform gewidmet, etwa: Neidhardt, Studenten im internationalen Wohnheim. 95 Anger, Probleme der deutschen Universität, S. 2.
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Hinterzarten diskutiert worden waren, enthält sie aufschlussreiche Auswertungen zu den Bereichen Studium generale und studentisches Gemeinschaftsleben. Sie kontrastierte die zwei bzw. drei Jahre vor den Befragungen Angers – ohne einen soziologischen Werkzeugkoffer – entstandenen Inventuren des Historikers Fuchs und des Germanisten Killy, indem sie diesen werbenden Bestandsaufnahmen nun eine empirisch fundierte Lagebeschreibung gegenüberstellte. Angers Studie ermöglichte es, den Status quo der verschiedenen Elemente einer neuen Bildungs- und Erziehungsfunktion der Universität unter ihren Lehrenden abzubilden. Nach den Hauptaufgaben der Universität gefragt, ergaben die Antworten an erster Stelle die erwartbare Aussage »wissenschaftliche und Fachausbildung« (78 Prozent) und an zweiter Stelle »Forschung« (51 Prozent). Vier weitere universitäre Aufgaben erschienen den Dozenten aller Fächer danach fast gleichrangig – »Allgemeinbildung« (27 Prozent), »kritisch-methodisches Denken« (24 Prozent), »gesellschaftliche und politische Aufgaben« (24 Prozent) und »Berufsausbildung« (23 Prozent) –, abgeschlagen landeten auf einem letzten Platz »menschliche und erzieherische Aufgaben« (17 Prozent).96 Die charakterliche Formung der Studierenden also, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit einige Aufmerksamkeit erfahren hatte, wurde ein Jahrzehnt nach Befreiung vom Nationalsozialismus immer noch an letzter Stelle der universitären Aufgaben genannt. Anger konstatierte in seinen Auswertungen, dass ein großer Teil der Befragten sie zwar für wünschenswert, allerdings nicht für durchführbar hielt.97 Nicht wesentlich anders war das Bild, das sich 1953/54 auf die Frage nach einer Implementierung eines politischen Bildungsauftrages der Universität ergab.98 Ein umfangreicher Teil der Studie war dem studentischen Gemeinschaftsleben und hier insbesondere der Wahrnehmung der Korporationen gewidmet. Angers Befragungsergebnisse zeigten, dass 1953/54 jeweils etwa ein Drittel der Befragten den Korporationen gegenüber negativ, positiv oder indifferent gegenüberstanden. Insbesondere der hohe Anteil der Unentschiedenen überraschte ihn offenbar, ebenso wie das geringe Interesse für alternative Wege der studentischen Sozialisation im sogenannten freistudentischen Gemeinschaftsleben, das Killy 1952 so ausführlich beschrieben hatte: »In deutlichem Gegensatz zu den lebhaften und ausführlichen Kommentaren, die unsere Fragen nach dem Für und Wider der Korporationen ausgelöst haben, stehen die verhältnismäßig mageren Ergebnisse der Befragung in Bezug auf andere Formen des studentischen Gemeinschaftslebens, vor allem im Hinblick auf die zahlreichen konfessionellen, wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und anderen ›freien‹ Gruppen, die meist nach dem Kriege neu entstanden sind und an die alten Traditionen des Verbindungswesens bewusst nicht anknüpfen. […] Bei der überwiegenden Mehrzahl der 96 Ebd., S. 299. 97 Ebd., S. 334 ff. 98 Ebd., S. 346.
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befragten Professoren liegt freilich kein Anlass vor, eingehende Informationen oder gar ein tätiges Interesse für studentische Gruppen und Vereinigungen zu vermuten.«99
Auch zum Studium generale erstellte Anger Auswertungen unter der Rubrik »Einheit der Universität«. Deren Gefährdung durch Spezialistentum und Fächerausdifferenzierung, aber auch durch das einsetzende Größenwachstum der Einrichtungen in den späten 1940er Jahren war für die Autoren des Blauen Gutachtens und weitere Zeitgenossen ein wichtiger Anlass zur Empfehlung des Studium generale gewesen. Die Klage über den Zerfall der Einheit war Mitte der 1950er zwar mehrheitsfähig geworden, wie Anger zeigen konnte, denn rund zwei Drittel der Lehrenden sahen die Einheit der Universität nun aufgelöst oder zumindest bedroht. Scheinbar entsprach dieser allgemeinen Klage jedoch kein Einvernehmen über adäquate Reaktionen. Die offiziellen Empfehlungen, Entschließungen und Bemühungen zum Studium generale als einem »Allheilmittel für die Probleme der Universität«100 stünden in einem bemerkenswerten Kontrast zu dessen Aufnahme bzw. Umsetzung bei Studenten und Professoren, bilanziert Anger. Und auch hier stand eine pointierte Bewertung am Schluss der Interview-Auswertungen: »Soweit der Gedanke des studium generale zur Sprache kommt, findet er zwar eine verhältnismäßig günstige Beurteilung, offenbar aber nur in dem sehr allgemeinen und unbestimmten Sinne, dass in dieser Richtung irgendwelche Anstrengungen gemacht werden müssten. Was alle praktischen Versuche zur Verwirklichung des studium generale an den verschiedenen Universitäten betrifft, so überwiegt bereits die Kritik. Im allgemeinen gelten sie wohl als ›gescheitert‹.«101
Diese auf Befragungen im Wintersemester 1954 basierenden Analysen hätten, wären sie nicht erst 1960 veröffentlicht worden, für die Befürworter der Bildungsund Erziehungsideen schon Mitte der 1950er Jahre je nach individueller Disposition entweder ernüchternd und demotivierend oder eben gerade Ansporn für eine besser abgestimmte Betätigung sein können. Sehr klar wurde bei Anger jedenfalls, dass den seit 1945 beworbenen Ideen auch nach einem ganzen Jahrzehnt keine breite Aktivierung der Professorenschaft für diese Belange entsprach. Die offenbar überwiegende Gleichgültigkeit gegenüber den Bestrebungen zur Stärkung der Bildungs- und Erziehungsfunktion der Universität in der breiten Professorenschaft wurde ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend durch die Formulierung von Gegenpositionen ergänzt. Die Kritik einer Bildungs- und Erziehungsfunktion oder die Sorge vor weiteren unbeabsichtigten Effekten dieser Ergänzung der Universität wurden nun auch offen ausgesprochen. Als Beispiel für eine noch eher verhaltene Gegenrede, die vor allem Sorge vor weiteren Kon 99 Ebd., S. 125 und S. 153. 100 Ebd., S. 252. 101 Ebd., S. 273.
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sequenzen dieser Rollenergänzung formulierte, kann der Vortrag des Historikers Hermann Heimpel (1901–1988) gelten, den er als Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz bei der Eröffnung des Deutschen Studententages 1954 in München hielt. Heimpel warb für die im Mythos und Leitbild der Humboldtschen Universität transportierte Vorstellung, dass Bildung vorrangig durch Wissenschaft vermittelt werde und zusätzliche Allgemeinbildungsaufgaben und pädagogische Anstrengungen demgegenüber nachrangig seien, zumindest aber nicht die Forschung verdrängen dürften, die für das Selbstbild der Hochschullehrer zentral war. Weitaus offener äußerte 1957 Helmut Schelsky (1912–1984) seine Kritik an den Bemühungen um Bildung und Erziehung in den Universitäten der Nachkriegszeit. Im Gegensatz zu Heimpel formulierte der Soziologe Schelsky seine Kritik nicht aus einem hohen hochschulpolitischen Amt heraus, sondern als universitärer Vertreter einer wissenschaftlichen Perspektive auf gesellschaftliche Fragen, gewissermaßen aus einer gleichzeitigen Innen- und Außenperspektive auf die Universität. Die Kritik war ein Nebenaspekt seiner Analyse der Nachkriegsjugend unter dem Titel »Die skeptische Generation – eine Soziologie der deutschen Jugend«. In diesem, bald zum Bestseller avancierenden wissenschaftlichen Sachbuch, das im Titel auf den für die amerikanische Jugend nach dem ersten Weltkrieg geprägten Begriff der lost generation anspielte, verband der damals bereits sehr öffentlichkeitswirksame Soziologe empirische Studien über die westdeutsche Nachkriegsjugend aus unterschiedlichsten Quellen zu einer Synthese über die Generationengestalt der etwa zwischen 1920 und 1930 geborenen Jugendlichen.102 In Folge politischer Aufklärung und Reeducation, mehr aber noch durch erlebte politische und soziale Tatsachen – so Schelskys Argumentation – zeichne sich diese »skeptische Generation« durch Entpolitisierung und Entideologisierung ihres jugendlichen Bewusstseins aus, verbunden mit Organisationsmüdigkeit sowie einer Konzentration auf Familie, Ausbildung und berufliches Fortkommen.103 Schelsky stempelte die Studium-generale-Ideen zur Allgemeinbildungsvermittlung als hoffnungslose Bemühungen ab, die vor allem von Vertretern solcher altmodischer Fächer betrieben würden, die ihre Felle davon schwimmen sähen. Auch die Vorschläge für neue Wohn- und Gemeinschaftsformate blieben von seiner Kritik nicht verschont. Ein eigenständiges studentisches Gemeinschaftsleben sei heute, so Schelskys Fazit, nicht mehr kennzeichnend für das Dasein des durchschnittlichen Studenten: »Die entscheidende Einsicht, die alle diese verständlichen Bemühungen um eine pädagogisch fruchtbare Neubildung studentischer Gemeinschafts- und Gesellungsformen zu vergeblichen Restaurationsversuchen stempelt, scheint mir darin zu liegen, dass ein 102 Schelsky, Die skeptische Generation. Zur Wirkungsgeschichte vgl. Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation«. 103 Schelsky, Die skeptische Generation, S. 84–95.
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Gemeinschaftsbedürfnis rein studentischer Kommunikation in dieser Studentengeneration gar nicht mehr in belangvollem Ausmaße vorhanden ist. Man assoziiert sich zu konkreten Zwecken, aber man will nichts weniger als Gemeinschaften bilden. Gerade die in solchen Gemeinschaftsbildungen steckenden Ansprüche auf die Totalität des studentischen Daseins werden abgelehnt und passen auch nicht in die konzentrierte Berufseinstellung, mit der man sein Studium durchführt. […] Die Selbstanklage der deutschen Universitäten, d. h. der Professoren, dass es ihnen nach 1945 nicht gelungen wäre – weshalb eigentlich ihnen, und nicht den Studenten? –, neue Formen des studentischen Gemeinschaftslebens zu schaffen, halte ich daher für unbegründet.«104
Schelsky hielt also nicht nur die Bildungsbemühungen sondern auch die Ideen zu neuen Gemeinschaftsformen an den Universitäten für hoffnungslos altmodisch. Seine Beobachtungen zur Spannung zwischen Bildungs- und Ausbildungsfunktion sowie zum studentischen Gemeinschaftsleben waren seine erste Beschäftigung mit hochschulpolitischen Fragen jenseits der Fachinteressen der Soziologie. Detaillierter und dann noch öffentlichkeitswirksamer beschäftigte er sich erst ab 1960 mit dem universitären Reformfeld, als die universitäre Neugründungswelle begann. Zu den Materialien, die Schelsky für seine Synthese von 1957 heranzog, gehörte auch ein Artikel von Jürgen Habermas, der im gleichen Jahr, kurz vor Fertigstellung von Schelskys Buch, in der Zeitschrift »Merkur« veröffentlicht worden war. Mit ihm hatte der damals 28jährige Post-Doc auf eine noch unveröffentlichte Studie »Universität und Gesellschaft« neugierig machen wollen – eine der drei Studien, zu denen auch die bereits vorgestellte Studie Hans Angers gehörte. Bei Habermas’ »Merkur«-Artikel »Das chronische Leiden der Hochschulreform« handelte es sich um die gekürzte Einleitung zur Studie, deren Langfassung den noch pointierteren Titel »Die gescheiterte Hochschulreform« trug.105 Nach Habermas’ Einschätzung waren all die Versuche, »der Universität die Bildungsfähigkeit und die politische Verantwortung zurückzugeben, mit der sie ihre Freiheit wahren und ihre Mitglieder zur Einrichtung und Einhaltung einer demokratisch organisierten Gesellschaft erziehen sollte«, gescheitert.106 Teil des Problems waren für die zur Soziologie »konvertierten« Geisteswissenschaftler Habermas wie Schelsky offenbar die Hochschulreformversuche aus dem Geist der Geisteswissenschaften, die die veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeiten ignorierten. »Jener Kern der philosophischen Fakultät, der zu Humboldts Zeit noch der Kern der ganzen Universität war, ist heute an die Peripherie gerückt. Es handelt sich um die Geisteswissenschaften […] Sie werden defensiv und zum Träger des Kulturprotestes.«107 104 Schelsky, Die skeptische Generation, S. 422. 105 Habermas, Das chronische Leiden der Hochschulreform. 106 Ebd., S. 267. 107 Ebd., S. 275.
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Diese Analyse hatte Schelsky in seine Lagebeschreibung übernommen. Das Studium generale wiederum war Habermas zufolge der Versuch der Geisteswissen schaften, sich als Spezialwissenschaft für Generelles in neue Zeiten hinüber zu retten. Habermas hielt die Bildungsbemühungen der Nachkriegszeit für ein Ablenkungsmanöver: »Das Scheitern des hochschulreformerischen Versuchs, Bildung und staatsbürgerliches Bewusstsein zu fördern, bewahrte sie [die Geisteswissenschaften] vor einer öffentlichen Rechenschaftslegung gleichzeitig über ihr Vermögen der Selbstreflexion wie über das, die gesellschaftliche Situation mit ihren Instrumenten kritisch zu durchdringen. Deshalb lag hinter der Ablehnung des Studium generale nicht nur die sinnvolle Abwehr einer kurzschlüssigen Flucht in einen didaktischen Seitenweg. Sie war selber eine Flucht: und zwar vor der Notwendigkeit, die Kritik der Wissenschaften zum Kernstück der Reform zu machen.«108
Habermas’ Kritik war ebenso urteilsfreudig und pointiert formuliert wie jene von Schelsky. Beide Soziologen – der Nachwuchswissenschaftler und der bereits etablierte Ordinarius – trugen ihre Analysen zudem mit großem Selbstbewusstsein vor. Ihre 1957 in kurzem zeitlichem Abstand publizierten Texte zeigen, dass sich das Spektrum der Teilnehmer an den Debatten über Hochschulreform Mitte der 1950er Jahre allmählich verbreiterte. Das Thema wurde jetzt neben Philosophen, Pädagogen, Historikern und Germanisten auch von den Soziologen als Vertretern einer aufstrebenden Wissenschaft entdeckt und bekam damit eine empirische Seite. Die neuen Debattenteilnehmer waren als Vertreter eines allmählich in der Bundesrepublik an Bedeutung gewinnenden Fachgebietes freilich nicht frei von eigenen Interessen, wie sich noch zeigen sollte. Was H abermas’ und Schelskys Kritik an den aus ihrer Sicht geisteswissenschaftlichen und bildungsbürgerlichen Reformversuchen Ende der 1950er Jahre allerdings schon ausblendete, war, dass die Auseinandersetzung um Bildung und Erziehung nach 1945 zunächst von besonderen Voraussetzungen ausgegangen war, die einerseits auf die frühe und entschiedene Radikalisierung der Studenten für den Nationalsozialismus reagierten und andererseits auf Sonderbedürfnisse der Kriegsteilnehmer und Notabiturienten eingingen. Unabhängig vom Fortbestehen dieser Herausforderungen in den 1950er Jahren blieb natürlich die Frage zu beantworten, wie weit der Aufgabenkreis der Universität abzustecken war und ob Bildung und Erziehung in unterschiedlichen Ausprägungen in diesen hineingehörten. Die Mehrheit der Professoren schien diese Frage am Ende der 1950er Jahre trotz aller vorangegangenen Bemühungen zu verneinen.
108 Ebd., S. 283.
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1.2.2 Forschung: Förderung innerhalb und außerhalb der Universitäten Anders als Bildung und Erziehung spielte die Forschung an Universitäten in den ersten Nachkriegsjahren anfangs keine herausgehobene Rolle in den hochschulund wissenschaftspolitischen Debatten. Erst ab Mitte der 1950er Jahre erfuhren Forschung und Forschungsförderung eine verstärkte Aufmerksamkeit, als ein funktionsfähiger Bestand an Akteuren und Institutionen für die Forschungsförderung etabliert, die Forschungskontrolle durch die Alliierten in militärisch relevanten Bereichen beendet, die Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte verbessert und die Universitäten in eine neue Konkurrenzsituation geraten waren.109 In welcher Weise wurde nun die Forschung gefördert und welche neuen Herausforderungen wurden gesehen?
Ausbau der Forschungsförderung und Nachholbedarf der Universitäten Zentral für die Wiederaufnahme der Forschungsförderung an den Universitäten war die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die Anfang 1949 in Köln erneut gegründet und in das Vereinsregister Bonn eingetragen wurde, ihre endgültige Form aber erst fand, als sie mit dem Deutschen Forschungsrat, der in Göttingen vom Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901–1976) fast zeitgleich gegründeten Konkurrenzorganisation, 1951 zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) fusioniert wurde.110 Einen ersten hauptamtlichen Präsidenten erhielt die DFG 1952 mit dem Juristen Ludwig Raiser. Eine moderne, von Sep Ruf entworfene Geschäftsstelle wurde Ende 1954 bezogen und zeigte in den Worten des Generalsekretärs das Bemühen, »nicht behördenmäßig zu wirken, sondern durch Helle und Leichtigkeit […] dem Besucher zu sagen, er komme nicht zu Vorgesetzten, sondern zu Helfern und Freunden.«111 Nun in Nachbarschaft zur Bundesregierung angesiedelt, begann die DFG im Rahmen ihrer »Helferrolle« direkt mit der Veranstaltung parlamentarischer Abende zum Austausch über Wissenschaftspolitik.112 Damit war eine wichtige Voraussetzung zur För 109 Grundlegend dazu: Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung und auch Osietzki, Wissenschaftsorganisation und Restauration. 110 Zur Geschichte der DFG die zeitgenössische Broschüre Deutsche Forschungsgemeinschaft, Aufbau und Aufgaben sowie ausführlich zu Geschichte und Förderaktivitäten ihr damaliger Generalsekretär nach seiner Pensionierung: Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen. Der aktuelle Forschungsstand ist dokumentiert bei Orth/Oberkrome, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie Orth, Autonomie und Planung. 111 Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 314. 112 Zierold hatte bei einer Reise nach London 1951 die britische Parlamentarisch-Wissen schaftliche Gesellschaft kennengelernt und zum Vorbild für entsprechende Aktivitäten in Bonn genommen, die Raiser Unterstützung fanden, siehe Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 466 f.
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derung der universitären Forschung und begleitender Lobbyarbeit im politischen Raum genau zu dem Zeitpunkt geschaffen, als die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Debatten um Bildung und Erziehung an den Universitäten bereits ihren Höhepunkt überschritten hatten. Der Zeitpunkt war somit günstig, die Aufmerksamkeit auf ein neues Thema – die Forschungsfunktion der Universität – zu richten. Wie sah die Forschungsförderung der DFG für die Universitäten in den 1950er Jahren aus, welchen Umfang hatte sie, welche Bereiche umfasste sie und welche Akzente setzte sie? War die DFG 1949 noch mit spärlichen 2,7 Millionen DM Jahresetat gestartet konnte sie im Verlauf des Jahrzehnts stetig steigende Mittel verteilen und ihren Etat bis zum Ende der 1950er Jahre spektakulär auf dann rund 75 Millionen steigern. Ganz überwiegend stammten diese Mittel von Bund und Ländern, deren Zuwendungen sich allerdings im Verlauf der 1950er Jahre von einer zwei-Drittel-Länderfinanzierung zu einer zwei-Drittel-Bundesfinanzierung umkehrten, bevor erst 1965 der langfristige Finanzierungsmodus einer je hälftigen Finanzierung durch Bund und Länder gefunden wurde.113 Das Konzept der Forschungsförderung durch die DFG umfasste zuerst nur die an vielen Orten zerstörten oder stark beschädigten Bibliotheksbestände sowie vor allem die sogenannte Normalförderung, in der gefördert werden konnte, was eben beantragt und für förderungswürdig befunden wurde. Diese Art von – in heutiger Sprache – bottom-up beantragter Forschungsmittel sah man als das Normale an, daher »Normalverfahren«. Lenkende oder planende Eingriffe in die Forschungsförderung hatten dagegen in den Gremien der DFG kaum Fürsprecher.114 Mit der Fusion von Notgemeinschaft und Forschungsrat hatte sich nach Karin Orth das von ihr als »verwaltend-evolutionär« beschriebene Prinzip der Notgemeinschaft nämlich gegenüber dem »politisch-planerischen« Prinzip des Forschungsrates durchgesetzt.115 Erst nach längeren DFG-internen Beratungen wurde 1953 auf Betreiben des DFG-Präsidenten Ludwig Raiser und des DFG-Generalsekretärs Kurt Zierold (1899–1989) neben dem Normalverfahren auch ein Schwerpunktverfahren eingerichtet und das bis dahin vorherrschende Prinzip der »Förderung der freien Forscherpersönlichkeit« vorsichtig ergänzt.116 Anlass zu dieser Ergänzung waren umfangreiche Sondermittel des Bundes, die zügig und möglichst sinnvoll ausgegeben werden sollten. Zu den weiteren Motiven für die neue Schwerpunktförderung gab eine DFG-Broschüre von 1955 Auskunft: »Auf die Dauer kann die DFG sich nicht darauf beschränken, nur diejenigen Forschungsaufgaben zu fördern, für die mehr oder weniger zufällig Anträge gestellt werden. […] Kriegsverluste im Persönlichen und Sachlichen haben große Forschungslücken 113 Orth, Autonomie und Planung der Forschung, S. 64. 114 Ebd., S. 65 ff. 115 Ebd., S. 29 ff. 116 Ebd., S. 70 ff.
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hervorgerufen. Neue Forschungsgebiete sind aus dem Fortschreiten der Wissenschaft entstanden (Atomphysik!) und harren der Bearbeitung. Ein wissenschaftlicher Vorsprung des Auslandes ist in dieser oder jener Disziplin zwischen 1933 und der Wieder aufbauzeit nach 1945 entstanden und soll durch steuernde Maßnahmen ausgeglichen werden.«117
Mitte der 1950er Jahre hatte sich in der Forschungsförderung also der Eindruck festgesetzt, dass es nicht nur die immer noch sichtbaren Kriegsschäden in der deutschen Forschungslandschaft, sondern auch die Folgen der nationalsozialis tischen Vertreibungen von jüdischen und politisch unliebsamen Gelehrten aus den Universitäten wettzumachen galt. Der deutschen Forschung wurde im internationalen Vergleich Nachholbedarf diagnostiziert und ein Zugewinn an planvollem Vorgehen konnte bei Aufholversuchen nur hilfreich sein.118 Für das Schwerpunktprogramm wurden umfangreiche Mittel zur Verfügung gestellt. Bis 1967/1968, als ein weiteres neues Förderformat eingeführt wurde, summierten sich die Ausgaben für die ersten rund 150 Schwerpunktprogramme, die zumeist auf neun Jahre gefördert wurden, auf fast 430 Millionen DM.119 Bemerkenswert ist die Verteilung auf die Wissenschaftsbereiche. Im ersten Förderjahr 1953 gingen fast die Hälfte aller Mittel an die Naturwissenschaften, jeweils rund 20 Prozent an die Ingenieurwissenschaften sowie die Agrarwissenschaften und jeweils unter zehn Prozent an die Medizin und die Geisteswissenschaften. Diese starke Ungleichverteilung blieb fast auf die Prozentzahlen genau über die nächsten anderthalb Jahrzehnte gleich.120 Sowohl von der Schwerpunktförderung als auch vom Normalverfahren profitierten in den 1950er Jahren vor allem die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Die Geisteswissenschaften konnten dagegen, trotz ihrer überproportionalen Vertretung im Senat der DFG, nur vergleichsweise geringe Summen akquirieren. Daran ließ sich ungeachtet der wiederholten Bemühungen des zweiten DFG-Präsidenten Gerhard Hess – eines Romanisten – nur wenig ändern, weil aus den Geisteswissenschaften kaum Anträge für Schwerpunkte kamen und deren Fachvertreter im DFG-Senat sich nicht zu einem abgestimmten Vorgehen entschließen konnten.
Ausbau der außeruniversitären Forschung Während die universitäre Forschung zumeist auf die jeweils zuständigen Länder und die DFG angewiesen war und weitere Akteure, wie die großen wissenschaftsfördernden Stiftungen Thyssen, Körber und Volkswagen erst ab Ende der 117 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Aufbau und Aufgaben, S. 41. 118 Ausführlich zur Etablierung und Durchführung des Schwerpunktprogramms: Orth, Autonomie und Planung der Forschung, S. 131 ff. 119 Ebd., S. 142 f. 120 Detaillierte Angaben bei Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 408.
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1950er Jahre entstanden, als sich der Bedarf nach Wissenschaftsförderung weiter herumgesprochen hatte, erlebte die Forschung in öffentlich finanzierten Instituten außerhalb der Universitäten seit dem Beginn der 1950er Jahre eine erhebliche Stärkung. An vorderster Stelle stand die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), die im September 1946 in der britischen Besatzungszone als MaxPlanck-Gesellschaft (MPG) wiedergegründet wurde. Die französischen und amerikanischen Besatzer standen der Fortführung der zentralen Organisation der MPG zunächst unentschlossen gegenüber, doch zahlreiche prominente Wissenschaftler setzten sich für die Rettung ihrer Forschungseinrichtungen und die Vereinigung der in den Besatzungszonen verstreuten ehemaligen KWG-Institute unter einem zentralen Dach ein und setzten den zunächst uneinigen Besatzern eine gemeinsame Position entgegen. Einig waren sich schließlich auch die Länder, als sie im Frühjahr 1949 das Königsteiner Staatsabkommen schlossen, in dem sie sich zu einer gemeinsamen Finanzierung der Max-Planck-Gesellschaft bekannten. Der bald darauf gegründete Bund blieb hiervon zunächst ausgeschlossen, was nach Ansicht der Länder, die die Wissenschaftspolitik ganz für sich behalten wollten, eigentlich auch so bleiben sollte.121 Die MPG wurde somit zunächst nur von den Ländern finanziert, was ihr eine hohe Unabhängigkeit garantierte, da die Länder nicht leicht zu gemeinsamen Positionen finden konnten. In Göttingen entstand eine neue Generalverwaltung, die bis 1955 die MPG erfolgreich konsolidieren konnte. Der Etat der MPG steigerte sich in diesen Jahren von rund 22 Millionen DM im Jahr 1952 auf bereits 114 Millionen zu Beginn der 1960er Jahre, erheblich mehr also als die Mittel der DFG zur zusätzlichen Unterstützung der universitären Forschung.122 Die militärisch relevanten Forschungsbereiche früherer KWG-Institute wurden aufgegeben und die Grundlagenforschung als neues, die angewandte Forschung als ursprüngliches Leitbild nun verdrängendes ausgegeben, was allerdings das Potential hatte, die Konkurrenz zu den Universitäten zu vergrößern. Versuche zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Universitäten und Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft hatte die MPG erfolgreich abgewehrt – insbesondere den in Berlin von Fritz Karsen seit 1947 verfolgten Plan eines Postgraduiertenstudiums in einer neuartigen Forschungshochschule, welche die in Berlin-Dahlem verbliebenen Kaiser-Wilhelm-Institute und einzelne weitere Forschungsinstitute zur Basis haben sollte. Was den »Karsen-Plan« betraf, befürchteten einige Hochschul- und Ländervertreter eine Abwertung ihrer Institutionen bzw. Landeshochschulen durch die Konkurrenz einer besonderen, 121 Zwar durfte sich der Bund ab 1956 an der Finanzierung beteiligen, grundsätzlich neugestaltet wurde die Situation aber erst 1964 durch ein neues Abkommen von Bund und Ländern. Grundsätzlich dazu Hohn/Schimanck, Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem, S. 115 ff. 122 Nach ebd., S. 121.
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zentral finanzierten Auslesehochschule. Vertreter der Max-Planck-Gesellschaft wiederum sorgten sich vor einem Absinken des Forschungsniveaus bei Integration von Lehraufgaben.123 Auf Seiten der beteiligten deutschen Akteure bestand also Ende der 1940er Jahre nicht der Eindruck einer für beide Seiten gewinnbringenden Reformmöglichkeit. So wurden die Berliner Institute nach Gründung der auf studentische Initiative zurückgehenden Freien Universität 1948 dann ab 1951 doch wieder in die MPG und nicht in die neue Universität in Dahlem eingegliedert und die bereits gegründete Stiftung Deutsche Forschungshochschule am 2. April 1954 wieder aufgelöst. Damit blieb den Universitäten die seit 1910/11 erwachsene und im Gegensatz zu ihnen als Ländereinrichtungen stärker zentral organisierte und finanzierte Konkurrenz in der Forschung dauerhaft erhalten. Das Experiment der forschungsstarken Postgraduiertenuniversität in Berlin endete, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. War die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft anfangs auf naturwissenschaftliche Fächer konzentriert, erfolgte in der Nachkriegszeit eine beschränkte Ausweitung auf andere Wissenschaftsbereiche. Ein geschichtswissenschaftliches Institut wurde 1955 in Göttingen gegründet, eines für vergleichende bzw. europäische Rechtsgeschichte 1961 in Frankfurt. Bemerkenswert ist, dass in beiden Fällen hohe Funktionsträger in der Wissenschaftspolitik mit der Leitung dieser neuen Institute betraut wurden. Im Fall des Göttinger MPIs der Historiker Hermann Heimpel, der unmittelbar zuvor für zwei Jahre Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz gewesen und immer noch Vizepräsident der DFG war; im Fall des Frankfurter MPIs der Jurist Helmut Coing, der zuvor sowohl Vorsitzender des Wissenschaftsrates als auch Präsident der Rektorenkonferenz gewesen war.124 Als die Hochschulexpansion bald volle Fahrt aufnahm, folgte Anfang der 1960er zudem die Gründung des Instituts für Bildungsforschung unter Hellmut Becker, dem Sohn des reformfreudigen preußischen Bildungsministers Carl Heinrich Becker.125 Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Max-Planck-Gesellschaft in jenen Jahren Institutsgründungen auch geschickt dafür einsetzte, ihren Status gegenüber den ab Mitte der 1950er Jahre durch Wachstum der außeruniversitären Forschung und Expansion der Studierendenzahlen zunehmend in Bedrängnis geratenen Universitäten zu verteidigen. 123 Die letztlich erfolglose Entwicklung der Deutschen Forschungshochschule ist bisher nicht genauer aufgearbeitet worden. Am Rande dazu Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 101 ff. und Heinemann, Der Wiederaufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, S. 455 ff. 124 Zur (Wieder-)Gründung des Göttinger MPIs für Geschichte und Heimpels Rolle dabei der ehemalige Mitarbeiter des 2006 geschlossenen Instituts: Rösener, Das Max-PlanckInstitut für Geschichte. Das Buch enthält auch Informationen zur Vorgeschichte des MPIs als Einrichtung der KWG von 1917 bis 1944, nicht aber zum Kontext außeruniversitärer geschichts- und weiterer geisteswissenschaftlicher Forschung in den 1950er Jahren. 125 Dazu Zeittafel in: Vierhaus/vom Brocke, Forschung im Spannungsfeld, S. 913 ff.
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Die Max-Planck-Gesellschaft sah sich anlässlich ihrer 50-Jahr-Feier 1961 jedenfalls veranlasst, das Verhältnis zu den Universitäten zu entspannen. Demonstrativ erinnerte ihr Präsident Adolf Butenandt (1903–1995) an die nicht weiter verfolgten Pläne für die überregionale »Forschungshochschule«, in der »Äquivalente für das Promotions- und Habilitationsrecht geschaffen werden könnten«. Man habe solche Pläne »im Interesse der Einheit der deutschen Wissenschaft immer abgelehnt und werde das auch in Zukunft tun«.126 Diese Begründung hatte mit den wirklichen Begebenheiten in den späten 1940er Jahren wohl wenig zu tun, war aber geeignet, den offenbar schwelenden Konflikt mit den Universitäten, die ihre Forschungsmöglichkeiten zunehmend beschnitten sahen, zumindest nicht weiter anzuheizen. Für die Forschung in den Universitäten blieb die Max-Planck-Gesellschaft nicht die einzige Konkurrenz. In den Nachkriegsjahren entstand eine ganze Reihe weiterer Institutionen, so dass sich im Ergebnis eine im internationalen Vergleich besonders ausgeprägte duale Struktur der öffentlich finanzierten Forschung in der Bundesrepublik in Universitäten einerseits und verschiedensten Instituten außerhalb der Hochschulen andererseits entwickelte.127 Als weitere Dachorganisation solcher sogenannten außeruniversitären Institute trat neben die Max-Planck-Gesellschaft bald die Fraunhofer-Gesellschaft, die ab Mitte der 1950er Jahre eigene Institute erhielt und sich schließlich, als eine arbeitsteilige Struktur der außeruniversitären Institute entstand, auf anwendungsorientierte Forschung in Natur- und Ingenieurwissenschaften spezialisierte. Schließlich folgte die sogenannte Großforschung mit einer zunächst nur atomphysikalischen Grundausrichtung, deren Einrichtungen ab Ende der 1950er Jahre zwar noch nicht die Gründung einer Dachorganisation aber die Abstimmung ihrer Interessen in einer »Arbeitsgemeinschaft deutscher Reaktorstationen« verfolgen. Diese anwendungsorientierte Großforschung war möglich geworden, weil fast unmittelbar nach Erlangung der staatlichen Souveränität am 5. Mai 1955 die Forschungsbeschränkungen in militärisch relevanten Bereichen wegfielen. Konrad Adenauer reagierte darauf prompt und ergänzte sein Kabinett demonstrativ um einen Bundesminister für Atomfragen. Das Atomministerium war international ein Unikat, wirkte mit seiner Zuständigkeit für Atom- und bald auch Raumfahrtforschung allerdings nach Joachim Radkaus Wortspiel mittelfristig
126 Butenandt, Das Werk eines Lebens. Bemühungen um eine Entspannung des Verhältnisses zu den Universitäten zeigen viele weitere Ansprachen Butenandts zu den jährlichen Festversammlungen der MPG zwischen 1960 und 1972. 1964 bespielsweise verweist er auf den Beitrag der MPGs zur Nachwuchsausbildung und zur universitären Lehre (S. 75), 1965 auf die Unterstützung der Universitäten bei der Etablierung neuer Fachrichtungen durch die Ansiedelung von neuen MPIs in ihrer Nähe (S. 90 f.), 1968 auf den Bedarf die universitäre Forschung stärker zu stützen, um Druck von der MPG zu nehmen (S. 124 f.). 127 Dazu Hohn/Schimanck, Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem, S. 63 ff.
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als »Trägerrakete« für die Forschungspolitik des Bundes, der sich gegenüber den Ländern erst Aktionsraum eschließen musste.128 Aus dem anfangs von Franz Josef Strauß (1915–1988) geleiteten Ministerium ging 1962 das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung hervor. So wurde die Atomforschung Mitte der 1950er Jahre zum Instrument des Bundes, um gewissermaßen durch die Hintertür Zugang zur Wissenschaftspolitik zu erhalten. Die Bundesrepublik hatte sich auf diesem Gebiet zunächst an der euro päischen Kernforschung, mit dem 1953 in Genf gegründeten europäischen Projekt CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire), und kurz darauf auch an der europäischen Weltraumforschung beteiligt. 1957 trat sie dem Eura tom-Vertrag bei, was fast zur Gründunge der bereits erwähnten europäischen Forschungsuniversität geführt hätte. Und ab 1956/57 entstanden binnen weniger Jahre nach dem Vorbild des amerikanischen Manhattan-Projekts zum Bau der Atombombe mehrere große Kernforschungszentren bei Karlsruhe, in Jülich, Geesthacht bei Hamburg und Berlin mit Mitarbeiterzahlen und Ressourcenausstattungen, die im Vergleich mit der universitären Forschung völlig ungekannte Ausmaße annahmen.129 Der Betrieb solcher Großforschungsanlagen vermochte pro Jahr gleiche oder sogar höhere Summen in Anspruch zu nehmen, als sie für eine ganze Universität einschließlich ihrer Forschungsleistungen nötig waren. Dazu kamen ab Ende der 1950er Jahre neuartige und extrem teure wissenschaftliche Großgeräte, wie etwa das in Hamburg aufgebaute Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY. All diese Projekte wurden fast vollständig außerhalb der DFG finanziert, die keinen Einfluss auf diesen neuen Forschungsbereich entfalten konnte. Einige der neuen Großforschungszentren wurden allerdings über Kooperationen mit einzelnen Universitäten verbunden (z. B. das Kernforschungszentrum Jülich mit den Universitäten in Aachen, Köln und Bonn). Die skizzierte Entwicklung in den Nachkriegsjahren setzte einen langfristigen Trend über den Zweiten Weltkrieg hinweg fort. Nachdem die Forschung sich um 1800 zunächst an den Universitäten konzentriert hatte, erwuchs ihr schon Mitte des 19. Jahrhunderts Konkurrenz durch Industrieforschung (z. B. in Chemie und Elektrotechnik), Ende des 19. Jahrhunderts dann durch staatlich betriebene sogenannte Ressortforschung (z. B. Physikalisch-Technische Reichsanstalt) und neue Technische Hochschulen sowie im frühen 20. Jahrhundert schließlich durch die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Zwischen 1949 und 1959 entstand dann eine umfangreiche, öffentlich finanzierte außeruniversitäre Forschungslandschaft in der Bundesrepublik teils wieder und in großen Teilen ganz neu, wobei diese Entwicklung keineswegs einem besonderen Plan folgte und sich eher einem Machtkampf von Bund und Ländern um Einfluss in 128 Zur Entstehung des Atomministeriums und der Entwicklung zum Forschungsministerium Radkau, Der atomare Ursprung der Forschungspolitik des Bundes, S. 36. 129 Dazu Ritter, Großforschung und Staat.
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der Wissenschaftspolitik verdankte. Langfristig erwies sich diese einmal etablierte außeruniversitäre Struktur jedoch als außerordentlich stabil – sie wuchs dauerhaft weiter. Erstes Überblickswissen über das gesamte Ausmaß dieser Entwicklung lag den interessierten Zeitgenossen allerdings nicht vor Mitte der 1960er Jahre vor, als ein erster Bundesforschungsbericht sowie eine Bestandsaufnahme des Wissenschaftsrates zum Feld der außeruniversitären Forschung veröffentlich wurden.130 Bis dahin war der Bereich der außeruniversitären Forschung weitgehend konsolidiert und hatte eine Form angenommen, die er mit geringfügigen Modifikationen auch heute noch hat.
Diskussionen um Stand und Rückstand der Forschung Ab Mitte der 1950er Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaftspolitik zunehmend auf den Stand der deutschen Forschung im internationalen Vergleich. Nachdem im Frühjahr 1956 vom zuständigen Berufsverband der Ingenieure öffentlichkeitswirksame Warnungen vor einem Ingenieurmangel verbreitet worden waren, etablierte sich im politischen Raum parteiübergreifend die Rede vom »Kalten Krieg der Hörsäle«.131 Der internationale Wettbewerb im Wissenschaftsbereich und dessen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung des eigenen Landes wurde also bereits anderthalb Jahre vor dem »SputnikSchock«, der im Oktober 1957 im Westen auf den ersten erfolgreichen Satelliten-Flug der Sowjetunion folgte, zum Thema. Der Stifterverband setzt im April 1956 einen Gesprächskreis »Wirtschaft und Wissenschaft« ein, der in den folgenden Jahren nicht nur ein Forum für den Austausch zum Thema, sondern auch Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen, etwa zu internationalen Vorbildern im Wissenschaftsbereich war.132 Welche Herausforderungen wurden für die Forschung gesehen und welche konkreten Lösungsvorschläge gemacht? Auf die neue Aufmerksamkeit für die Problemlage reagierte die DFG recht rasch mit zwei Maßnahmen. Die erste betraf den Vorschlag einer neuen Institution. Im Juli 1956 forderte der im Vorjahr in Nachfolge von Raiser zum DFGPräsidenten gewählte Heidelberger Romanist Gerhard Hess (1907–1983), der Anfang der 1950er bereits Präsident der Hochschulrektorenkonferenz gewesen war, in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die Einrichtung eines »Zentralrates für die Wissenschaft«. Dieser Zentralrat sollte nach Hess’ Wunsch einen Plan für 130 Siehe hierzu: Bericht der Bundesregierung 1965. 131 Zur Diskussionslage 1956/57 Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 195 ff. Zahlreiche Belege für die Verwendung des Begriffs bei Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 42. In diesem Kontext entstand auch die Forderung einer TH-Gründung in Nordrhein-Westfalen sowie eine Publikation des Bundesinnenministeriums: Gutachten über die Errichtung einer zweiten Technischen Hochschule im Lande Nordrhein-Westfalen sowie Scheidemann/Gassert, Technischer Nachwuchs. 132 Zum Gesprächskreis: Schulze, Der Stifterverband, S. 224 ff. Als Beispiel für diese Publikationen etwa die des Physikers Siegfried Flügge, Um die wissenschaftliche Geltung.
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den Ausbau von Hochschulen und Forschungsinstituten und deren Finanzierung aufstellen.133 Mit Unterstützung des damaligen Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, des Frankfurter Juristen Helmut Coing (1912–2000), und schließlich auch mit Hilfe des Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884–1963), gelang es Hess, diesen Vorschlag relativ rasch umzusetzen. Nach einigen Verhandlungen entstand binnen weniger Monate bis September 1957 der Wissenschaftsrat als ein neues, zunächst nur für beschränkte Zeit gegründetes Gremium. In ihm sollten Wissenschaftler mit Wissenschaftspolitikern aus Bund und Ländern an einen Verhandlungstisch kommen, um einen Gesamtplan für die Förderung der Wissenschaften zu erstellen. Die Selbstverwaltungsorganisationen DFG und WRK hatten geschickt agiert, um die neue Institution durchzusetzen, mit der das Set an Akteuren in der Wissenschaftspolitik nun komplettiert und für Jahrzehnte unverändert blieb. Der neue Wissenschaftsrat wurde direkt in den munteren Ringtausch von Leitungspositionen zwischen den Wissenschaftsorganisationen einbezogen. Coing wechselte 1957 nahtlos vom Vorsitz der Rektorenkonferenz auf jenen des Wissenschaftsrates, so wie Hess mit vier Jahren Abstand von der Rektorenkonferenz zur DFG gewechselt war und Raiser mit immerhin sechs Jahre von der Spitze der DFG an jene des Wissenschaftsrats in Nachfolge Coings, um nur drei Beispiele zu nennen. Zwischen den Wissenschaftsorganisationen entstand nun ein Geflecht, das Ähnlichkeiten mit jener »Deutschland AG« zwischen den großen Wirtschaftsunternehmen hatte, in der Absprachen nach innen über eine Begrenzung der Konkurrenz und für ein geschlossenes Auftreten nach außen sorgten. Statt von einer »Deutschland AG« sprach man im Wissenschaftsbereich in Anlehnung an die 1815 geschlossene Beistandserklärung Russlands, Großbritanniens und Österreichs von der »heiligen Allianz« (später nur »Allianz«), zu der neben MPG, DFG und WRK auch der Wissenschaftsrat und später noch weitere Wissenschaftsorganisationen zählten. Der zweite Vorstoß der DFG neben der Gründung des Wissenschaftsrates zielte darauf, ein besseres Bild von der Lage in den einzelnen Fächern zu gewinnen, auch als Basis für die im Wissenschaftsrat zu erarbeitenden Pläne. Ähnlich wie Fuchs und Killy in den Jahren 1951 und 1952 jeweils die Themen Studium generale, studentische Wohnformen und studentisches Gemeinschaftsleben gründlichen Inventuren unterzogen hatten, um die Weiterentwicklung dieser Felder zu befördern, so begann die DFG Mitte der 1950er Jahre Bestandsaufnahmen zum Entwicklungsstand und Förderungsbedarf einzelner Fachgebiete zu erarbeiten – allerdings mit einer viel stärker international vergleichende Perspektive, als es zuvor im Fall der Erziehung-, Bildungs- und Wohnideen gesche 133 Ausführlich zur Gründungsgeschichte des Wissenschaftsrates Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 202–223, sowie auf Basis weiterer Quellen Bartz, Der Wissenschaftsrat, S. 24–36.
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hen war. Der unbestimmte Eindruck, nachdem »in dieser oder jener Disziplin« Nachholbedarf bestünde, sollte nun präzisiert werden.134 Passend zur Klage über den Nachwuchsmangel der Ingenieure untersuchte die DFG 1956/57 zunächst die angewandte Forschung und anschließend weitere Fächer. Nach Beratung mit zahlreichen Wissenschaftlern wurde 1958 als zweite Bestandsaufnahme eine Denkschrift zur Chemie veröffentlicht, als deren Adressat DFG-Präsident Hess die Parlamente, Hochschulverwaltungen und Wissenschaftsorganisationen ansah: »Sie sind aufgefordert, die hier vorgetragenen, begründeten und maßvollen Forderungen verwirklichen zu helfen.«135 Die nächste Denkschrift galt der Biologie. Sie erschien ebenfalls noch 1958, also im Jahr nach dem Sputnik-Schock, und ihr Autor Arwed Meyl kam direkt in der Einführung auf den Punkt: »In der vorletzten Generation hatten fast alle führenden Biologen des Auslandes eine deutsche Schulung genossen. […] Und heute müssen wir, um den Anschluss an Methoden und Problemstellungen in den seit etwa 20 Jahren neu erschlossenen, wichtigen biologischen Forschungsgebieten (moderne Genetik, Mikrobiologie, Bakterien- und Virusforschung u. a.) zu finden, junge Forscher zur Ausbildung nach den USA oder an Institute in anderen Ländern schicken – und wenn sie sich dort bewähren, kommen sie nicht wieder zurück, weil sie in Deutschland weder Einrichtungen noch persönliche Stellen für die Betätigung in den neu entwickelten Richtungen finden.«136
Besonders im Fokus stand bei Meyl die Forschung an den Genen, die jetzt als die Atome der Biologen galten.137 So wie die Atomphysik seit den 1930er Jahren für Energiegewinnung und militärische Nutzung völlig neue Möglichkeiten versprach, erhoffte man sich nun von der Molekulargenetik die Entschlüsselung der Geheimnisse des Lebens. Mit der Entdeckung der DNA-Struktur einer Doppelhelix waren die Amerikaner Francis Crick und James Watson diesem Ziel 1953 ein Stück näher gekommen. Meyl machte allerdings einen Bogen um die Ursache des amerikanischen Vorsprungs und verwies lediglich darauf, dass Deutschland nach 1933 eine Reihe führender Genetiker »verloren« habe und sich auf Rassenbiologie und Rassenhygiene konzentriert habe, während in den USA, Japan und anderen Ländern Biologen, Physiker und Chemiker fachübergreifend die For 134 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Aufbau und Aufgaben, S. 41. In diesem Zusammen hang wurde die Forderung einer zweiten Technischen Hochschule für Nordrhein-Westfalen erneuert: Gutachten über die Errichtung einer zweiten Technischen Hochschule im Lande Nordrhein-Westfalen. 135 Gerhard Hess im Vorwort der ersten Denkschrift: Behrens, Denkschrift über die Lage auf dem Fachgebiet Chemie. 136 Meyl, Denkschrift zur Lage der Biologie, S. 1. 137 So die Formulierung Fischers in: Fischer, Das Atom der Biologen. Zur Nachkriegsentwicklung in der deutschen Molekularbiologie, den Orten ihrer Institutionalisierung und den verschiedenen Förderungsversuchen: Wenkel, Molekularbiologie in Deutschland.
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schung in der Genetik vorangetrieben hätten – der Name Max Delbrücks etwa fiel ebenso wenig wie die anderer Wissenschaftler, die in die USA emigriert waren und dort sehr erfolgreich auf den neuen Gebieten forschten. So zurückhaltend hier mit dem nationalsozialistischen Erbe umgegangen wurde, so klar war die Beschreibung der nun notwendigen Schritte: Aktuell seien an bundesdeutschen Universitäten viel zu wenige Professuren den neuen Forschungsfeldern gewidmet und auch ein unterstützender Mittelbau fehle. Ferner sei der Aufbau der Institute zu hierarchisch. Während im Ausland in Arbeitsgruppen geforscht werde, herrsche in der Bundesrepublik immer noch das »Ein-Mann-Institut« vor. Auch sei die materielle Ausstattung der Institute mit Räumen, Apparaturen und Großgeräten zwar sehr unterschiedlich, insgesamt aber überwiegend unzureichend. Meyl hatte für die Denkschrift über die Lage der Biologie Fragebögen an alle deutschen Universitäten verschickt und die Empfehlungen mit zahlreichen Wissenschaftlern rückgekoppelt, die in der Denkschrift auch namentlich genannt wurden. Zwei von den herangezogenen Sachverständigen, Hans Jochen Autrum und Georg Melchers, spielten später im Kontext der späteren Konstanzer Universitätsneugründung eine wichtige Rolle. Meyls Fazit lautete 1958, dass in der Biologie nicht nur die kriegsbedingten Verluste wettgemacht und der internationale Vorsprung aufgeholt, sondern eben auch die Organisationsformen verändert werden müssten, um dieses Ziel zu erreichen: »Die biologischen Wissenschaften befinden sich in einer ihre gesamte herkömmliche Struktur verändernden Evolution, deren Dynamik die der Lehre und Forschung dienenden Institutionen angepasst werden müssen.«138 Die Forschungen, so Meyls Bilanz, würden nur vorankommen, wenn die Vertreter der beteiligten Fächer besser miteinander kooperieren würden – Interdisziplinarität war als Begriff noch nicht im Vokabular der deutschen Wissenschaftspolitik etabliert. Weitere Denkschriften folgten auf jene in Chemie und Biologie. Auch die Lage der Politikwissenschaften und Soziologie wurde in einem Doppelband von M. Rainer Lepsius (1928–2015) aufgearbeitet. Lepsius war beim Verfassen der Doppeldenkschrift noch nicht habilitiert, hatte aber bereits Auslandsaufenthalte an der London School of Economics und an der Columbia University in New York absolviert, so dass er – wie viele seiner Generationsgenossen, die damals von den Förderungen der Fulbright-Kommission oder des 1950 wiedergegründeten Deutschen Akademischen Austauschdienstes profitierten – mit der internationalen Entwicklung der Forschung auch aus eigener Anschauung vertraut war, offenbar besser als die an neuen Wohn- und Gemeinschaftshausformen interessierten Akteure mit den angelsächsischen Colleges.139 Die von Lepsius für die 138 Ebd., S. 43. 139 Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie. Lepsius verfasste die Denkschrift damals wie gesagt als noch nicht habilitierter Assistent. Nach eigener Darstellung wurde seinem
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DFG untersuchten Fächer unterschieden sich von den vorangegangenen in zweifacher Hinsicht, nämlich indem es sich um wissenschaftliche Disziplinen handelte, die in der Bundesrepublik nicht nur mangelnd ausgebaut, sondern insgesamt noch kaum verankert waren. Zudem enthielten sie »Bildungsfunktionen« in dem Sinne, wie sie in den frühen Nachkriegsjahren über ein neues Studium generale gefördert werden sollten. So wie die Atomforschung also die Kontrolle über zivil und militärisch nutzbare Energie versprach und die Molekulargenetik den Bauplan des Menschen, so versprachen Soziologie und Politikwissenschaften Relevanz und Aktualität durch die – womit Lepsius Helmuth Plessner zitierte – »institutionalisierte Dauerkontrolle der gesellschaftlichen Verhältnisse in Wissenschaftsform.« Auch bei Lepsius war es neben dem Nachhol- und Ausbaubedarf somit ein expliziter Anspruch auf Relevanz, der mit der Denkschrift zur Lage des Faches verknüpft wurde. Lepsius rekonstruierte die Entwicklung der beiden Fächer und schilderte die nun bestehende Herausforderung als dritten Anlauf, sie an den deutschen Universitäten nachhaltig zu etablieren, nach eingeschränkt erfolgreichen Versuchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den 1920er Jahren. Auch wenn Lepsius die Emigration anders als Meyl für die Biologie in ihrem Umfang genauer beschrieb, kam er zum gleichen Schluss, »dass Deutschland trotz glänzender wissenschaftlicher Leistungen in der Vergangenheit, die von bestimmendem Einfluss auf die internationale Entwicklung dieser Wissenschaften waren, heute im Vergleich zum Ausland seine ehemals führende Position verloren hat und stark zurückgeblieben ist.«140
Ursache dieser Lage, die man freilich nicht dramatisch genug schildern konnte, wenn man am Ausbau seines Faches interessiert war, war nach Lepsius nicht nur der langsame Fortschritt des Demokratisierungsprozesses in Deutschland mit erneutem Rückschlag durch den Nationalsozialismus, sondern auch »die Fixierung des Bildungsideals auf den Neuhumanismus« und seine Verengung auf historisch-philologische Disziplinen.141 Dieses alte Bildungsideal aus dem frühen 19. Jahrhundert wirkte immer noch in der Abwertung naturwissenschaftlichtechnischer Bildung und den in ihrer Folge gegründeten Technischen Hochschulen an Stelle der Integration in die Universitäten fort, aber auch in der mangelnden Berücksichtigung von Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaft im Bildungskanon und damit auch an den Universitäten, trotz aller Bemühungen Kollegen Knut Borchardt vom Dekan in München die Übernahme dieser Aufgabe für den Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und ihm für die Politikwissenschaften und Soziologie nahegelegt, wenn sie sich an dieser Fakultät erfolgreich habilitieren wollten: Lepsius, Vorstellungen von Soziologie, S. 226 f. Zur Etablierung der Soziologie in der Nachkriegszeit Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 235 ff. 140 Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie, S. 13. 141 Ebd. S. 20.
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um die staatsbürgerliche Erziehung der Studierenden in der frühen Nachkriegszeit mit dem Ziel einer Immunisierung gegen den Nationalsozialismus. Lepsius’ Kartierung der vorhandenen Lehrstühle in der Bundesrepublik ergab für die Soziologie lediglich 14 planmäßige Lehrstühle in 1960. Nur zwei größere Institute mit Sonderstellung gab es, das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt und die Sozialforschungsstelle in Dortmund an der Universität Münster. Darüber hinaus enthielt auch Lepsius’ Denkschrift eine Reihe von Empfehlungen für die Institutionalisierung der Soziologie und der Politikwissenschaft,die er mit einflussreichen Vertretern der Disziplinen wie Helmuth Plessner, Otto Stammer und auch Helmut Schelsky abgestimmt hatte, der in den folgenden Jahren eine zentrale Rolle bei der Neugründung der Universität Bielefeld und der dortigen Förderung der Soziologie übernehmen sollte. Die Arbeiten an den Denkschriften zur Lage einzelner Fächer kulminierten schließlich – so viel im Vorgriff auf die 1960er Jahre – in einer großen Debatte über den Stand und Rückstand der deutschen Forschung. 1962 hatte der frisch zum Präsident der amerikanische gewählte Physiker Frederick Seitz (1911–2008) nämlich verschiedene Gründe für den naturwissenschaftlichen Vorsprung des amerikanischen vor dem europäischen Wissenschaftssystem aufgeführt, die vom Stifterverband ins Deutsche übersetzt und in der Bundesrepublik intensiv diskutiert wurden.142 Adolf Butenandt antwortete als Präsident der Max-PlanckGesellschaft im Mai 1963 und nahm die MPG-Institute aus der Schusslinie. In der MPG seien herausragende Forschungsergebnisse belegbar und die Strukturen seien – wie gefordert – disziplinenübergreifend ausgelegt, weil am Problem orientiert. Die von Seitz geschilderten Probleme beträfen doch eher die Uni versitäten und für diese sah Butenandt am Horizont Hoffnung und kommentierte süffisant: »Der Gedanke der Universitätsreform lebt seit der Zeit des beginnenden Wiederaufbaus. Zugegeben, dass die Hochschulreform sehr langsam voranschreitet, aber ihre Tangente ist in den letzten Jahren gut.«143 Etwas nervöser als die MPG reagierte die DFG, die ja für die Förderung der universitären Forschung mit zuständig war, mit der Produktion einer weiteren Denkschrift. Auf Seitz’ Beitrag hin ließ sie 140 Wissenschaftler zu ihrer Einschätzung der Lage befragen und veröffentlichte die Ergebnisse unter dem Titel »Stand und Rückstand der Forschung in Deutschland in den Naturwissenschaften und den Ingenieurwissenschaften«.144 Vorgestellt wurden sie vom DFG-Präsidenten Gerhard Hess am 9. Juli 1963 auf der Jahresversammlung der DFG: Zentrales Ergebnis war, dass die Forschung in den klassischen Gebieten und mit klassischen Methoden der Natur- und Ingenieurwissenschaften gut 142 Dazu Orth, Autonomie und Planung der Forschung, S. 121 ff. Übersetzt und ver öffentlicht wurde Seitz’ Position vom Stifterverband: Seitz, Wissenschaft im Vormarsch. 143 Butenandt, Zur Frage des Leistungsstandes, S. 13. 144 Clausen, Stand und Rückstand.
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aufgestellt sei. In den Gebieten am Rande der klassischen Fächer aber und zwischen ihnen, in denen es auf die Zusammenarbeit verschiedener Fachvertreter ankomme, um in Neuland vorzustoßen, seien nur einzelne Leistungen von internationalem Niveau und im Ganzen leider ein Rückstand zu verzeichnen. So wurde die Forderung nach interdisziplinärem Arbeiten und mehr Kooperation in und zwischen den Fächern nach ihrer Beglaubigung durch die DFG zur zentralen Forderung der Wissenschaftspolitik. Diese Schlussfolgerung hatte sich in mehreren Denkschriften zur Lage einzelner Fächer bereits seit Mitte der 1950er klar abgezeichnet und auf die Universitätsneugründungen in Konstanz und Bielefeld erhebliche Auswirkungen. Still blieb es bei den Bemühungen der DFG um die Kartierung der Forschungslage in den einzelnen Fächern allerdings um die Geisteswissenschaften. Während seit 1957 Bestandsaufnahmen zu Chemie, Biologie, Physik, Landbauwissenschaft, Forstwissenschaft, Astronomie, aber auch Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie erschienen, lässt sich in im entsprechenden Zeitraum nur eine einzige Denkschrift im Bereich der Geisteswissenschaften ausmachen, die zudem nicht direkt ein zentrales Fach betraf. Es war die Bestandsaufnahme von Adam Falkenstein (1906–1966) zur Orientalistik.145 Sie erschien 1960 und ergab, dass die Orientalistik in ihren zahlreichen Bestandteilen an den bundesdeutschen Universitäten eigentlich recht gut ausgebaut war, was sich offenbar dem von Lepsius so sehr kritisierten Bildungskanon mit historisch-philologischem Schwerpunkt verdankte. Das größte Defizit, das Falkenstein im Vergleich mit Frankreich, England, den USA und der Sowjetunion auszumachen vermochte, war, »dass in Deutschland die Ausrichtung auf die lebenden Sprachen und Kulturen weit weniger fortgeschritten ist«.146 Diese Konzentration auf Vergangenes erwies sich für seinen Fachbereich anscheinend als nachteilig, da mit der weltweiten Dekolonisation und auch der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Orient die Nachfrage von Beratungsleistungen durch Politik und Wirtschaft zunahm.147 Jenseits der Orientalistik herrschte unter den Geisteswissenschaftlern in der DFG aber scheinbar kein Bedürfnis, die Politik zur gezielten finanziellen Unterstützung zu mobilisieren. Das unterschied sie klar von den Naturwissenschaftlern etwa in der Biologie, die ihren Ausbaubedarf in der Forschung klar benennen konnten, und auch von den Sozialwissenschaftlern, die nicht nur einen Ausbau- sondern einen Aufbaubedarf für ihre Fächer markierten. Jan Eckel diagnostiziert in seiner Untersuchung den Umbruch der Forschungskonzeptionen der Geisteswissenschaften in langfristiger Perspektive auf den mit einem Generationenwechsel verbundenen Zeitraum von Mitte der 1950er bis Mitte der 145 Falkenstein, Denkschrift zur Lage der Orientalistik. 146 Ebd., S. 45. 147 Ebd., S. 2 f.
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1960er Jahre, was erklären könnte, warum die in den Gremien der Selbstverwaltung vertretenen etablierten Wissenschaftler Mitte der 1950er Jahre keinen Anlass zu Bestandsaufnahmen in der Reihe der DFG-Denkschriften sahen.148 Bilanziert man die Entwicklungen rund um die Forschungsfunktion der Universitäten in den 1950er Jahren knapp, lässt sich festhalten, dass es sich um einen sehr dynamischen Zeitraum handelte, der keineswegs nur von einem Andiskutieren von Problemlagen geprägt war. Die universitäre Forschung erhielt einerseits erhebliche Konkurrenz durch wieder errichtete und verschiedene neue, ebenfalls öffentlich finanzierte, aber ganz auf Forschung konzentrierte Institutionen. Andererseits wurde ein Förderbedarf der universitären Forschung erkannt, da deren Querfinanzierung durch die Ausbildungsfunktion der Universität offenbar schwieriger wurde und die Vernetzung der Fächer untereinander mangelhaft war. Auf diese Situation wurde mit zahlreichen Maßnahmen reagiert, zu denen die Schaffung eines neuen DFG-Programms, der Aufwuchs der DFG-Fördermittel insgesamt, die Gründung des Wissenschaftsrates als Planungsgremium und Bestandsaufnahmen der Lage in einzelnen Fächern bei Abgleich mit dem Entwicklungsstand im Ausland zählten.
1.2.3 Ausbildung: Die unerwartete Expansion Der dritte zentrale Themenbereich in den Diskussionen der 1950er Jahre betraf die Aufgabe der Universitäten in der wissenschaftlichen und der Fachausbildung, die die Professoren in Angers Umfrage von 1953/54 klar als vorrangige Funktion der Universität anerkannt hatten. Die Diskussionen, die sich in diesem Bereich entwickelten, erreichten ihren Höhepunkt ganz am Ende der 1950er Jahre quasi an dritter Stelle, nachdem eine Auseinandersetzung mit Bildung und Erziehung vor allem in den frühen 1950ern und die Fokussierung auf die Forschung im internationalen Vergleich seit Mitte der 1950er Jahre stattfand. Welche Herausforderungen standen in diesem Themenfeld im Vordergrund der Diskussionen und welche Voraussetzungen wurden hier für die späteren Reformuniversitäten geschaffen?
Reformdiskussionen in unterschiedlichen Formaten: Bad Honnef, Hofgeismar und der Wissenschaftsrat Insgesamt veränderten sich die Beteiligung an der Hochschulreformdiskussion und ihr Tenor in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre merklich. Es verbreitete sich der Eindruck eines – auch wenn dieser Begriff zeitgenössisch nicht verwendet wurde – umfassenden Reformstaus. Als Ausdruck dieser Veränderungen kann eine Tagung gelten, die 1955 unter dem Titel »Gegenwartsprobleme der deut 148 Eckel, Geist der Zeit, S. 117 ff.
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schen Hochschulen« in Bad Honnef stattfand und in Anlehnung an die drei Jahre zuvor in Hinterzarten veranstaltete erste große Tagung dieser Art – damals unter dem Titel »Probleme der deutschen Hochschulen« – auch » Hinterzarten II« genannt wurde. Organisiert wurde sie, wie schon die vorangegangene Konferenz, von Gerd Tellenbach als Vorsitzendem des Ausschusses für Hochschulreformfragen der Rektorenkonferenz. Einen Anstoß oder finanziellen Beitrag der früheren Besatzungsmächte gab es nun nach Wiedererlangen der staatlichen Souveränität anscheinend nicht mehr. Stattdessen engagierte sich erstmals die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) als Mitveranstalter neben Westdeutscher Rektorenkonferenz (WRK) und Hochschulverband, so dass die Hochschulen nicht mehr nur unter sich, sondern mit Vertretern der Länder über die bestehenden Herausforderungen sprachen. Der Hochschulausschuss der KMK hatte sich bereits 1953 für eine Fortsetzung der Hinterzartener Konferenz ausgesprochen, wünschte sich allerdings, »dass die Ergebnisse konkreter und verbindlicher werden«.149 Wohl auch deshalb war das Programm stark eingedampft worden auf zwei konkrete ausbildungsbezogene Themen: die Ergänzung und Gliederung des Lehrkörpers und die Studentenförderung. Die Themen Studium generale und Hochschule als Gemeinschaft waren hingegen vom Programm verschwunden. Damit verlagerte sich der Schwerpunkt von der Diskussion einer neuen Erziehungs- und Bildungsfunktion der Universität auf ihre Kernaufgabe Ausbildung, deren Finanzierung und praktische Durchführung durch die Lehrenden. Hermann Heimpel, der bereits im zweiten Jahr als Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz an der Spitze der Hochschulvertretung stand – ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an Leitungskontinuität in der Interessenvertretung der Universitäten –, eröffnete diese Hochschultagung mit einer atmosphärischen Einordnung der Situation: »Die Stimmung ist je nach Temperament ein wenig verdrossen oder resigniert, oder von dem Gefühl bestimmt, dass wir eine gewisse Müdigkeit gegenüber oft erörterten Themen überwinden wollen, und dass wir nun endlich etwas zu Stande bringen müssen. Verdrossenheit bedroht uns, weil von Hochschulreform seit zehn Jahren zum zweiten Mal, wie vor 35 Jahren zum ersten Mal so viel gesprochen wird, dass wir die einschlägigen Worte und Sätze am liebsten nicht mehr hören würden – dass die Hochschule aber noch immer nicht reformiert ist.«150
149 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Hochschulausschusses der Kultusministerkonferenz am 13./14.1.1954 in Frankfurt am Main, in: Landesarchiv NordrheinWestfalen, Düsseldorf (NW) 178–1424. 150 Heimpel, Probleme und Problematik der Hochschulreform, S. 1 f. Heimpel war ein prominenter und öffentlichkeitswirksamer Historiker der 1950er Jahre; von 1953 bis 1955 war er Präsident der WRK – erster über mehrere Jahre –, ab 1956 erster Direktor des MPI für Geschichte sowie Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.
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Heimpel stellte für den Hochschulbereich Vergleiche zwischen der gegenwärtigen Situation der Universitäten in der Bonner Republik und ihrer Lage am Anfang der Weimarer Republik an, ein Jahr bevor der Schweizer Journalist Fritz René Allemann diesem Vergleich der beiden politischen Systeme sein Buch »Bonn ist nicht Weimar« widmete, dessen Titel zum geflügelten Wort wurde. Was den Hochschulbereich betraf, war Bonn aber doch ziemlich viel Weimar, wie Heimpel feststellte.151 Heimpel zog eine direkte Kontinuitätslinie von den Reformversuchen des preußischen Hochschulpolitikers Carl Heinrich Becker ab 1919 über das Blaue Gutachten 1948 bis zur Konferenz von Hinterzarten 1952 und zeigte auf, dass die deutschen Universitäten auch mit Blick auf die Ausbildungsfunktion eine Reihe von unerledigten Aufgaben aus der Vergangenheit mit sich herumschleppten. Bemerkenswert ist, wie wenig Heimpel in seinem Zwischenfazit der für die Nachkriegszeit gewissermaßen liegen gebliebenen Aufgaben dabei den Impulsen durch die früheren Besatzer abgewinnen wollte. Im Jahr der wiedererlangten Souveränität der Bundesrepublik hielt er es für angebracht, in den Bemühungen zur Reeducation nicht Abhilfen sondern Ursachen für die schleppenden Reformbemühungen zu erkennen: »Auch dies war eine Belastung für die Hochschulreform, dass sie zunächst als reeducation auftrat. Das bedeutete eine unangenehme psychologische Hemmung. Statt unbefangen vom Auslande zu lernen, wirklich im internationalen Kreis der Akademiker zu diskutieren, Passendes aufzunehmen und Nichtpasssendes oder echte Tradition Zerstörendes auf sich beruhen zu lassen, gabelten sich die Diskussionen besonders über das Blaue Gutachten […] in eine bald erlahmende Anglophilie der Modernisten und eine sofort Boden gewinnende konservative Richtung, welche noch heute die Mehrzahl unserer Kollegen beherrscht, ja in eine skeptische Passivität, die damals fast so etwas wurde wie ein nationaler Ehrenstandpunkt.«152
So kam es also nach Heimpels kühner These dazu, dass es mit den Themen der Honnefer Tagung – Personalstruktur an den Universitäten sowie breite Studentenförderung statt nur Hochbegabtenförderung – bislang nicht vorangegangen war – nicht obwohl, sondern gerade weil ihre Dringlichkeit im Blauen Gutachten von 1948 bereits unterstrichen worden war. Was konnte die Tagung von 1955 an konkreten Ergebnissen verzeichnen? Aus der Konferenz gingen Vorschläge zur Einführung eines akademischen Mittelbaus und einer umfangreichen Studierendenförderung hervor, beides drängende Themen für die wachsenden Universitäten. Umgesetzt wurden die Empfehlungen zur breiten Studienförderung allerdings erst zwei Jahre später, nachdem der Verband Deutscher Studentenschaften, der ganz maßgeblich 151 Heimpel, Probleme und Problematik der Hochschulreform, S. 3. 152 Ebd., S. 4.
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an ihrer Erarbeitung und konkreten Ausgestaltung beteiligt war, im Wahljahr 1957 erheblichen öffentlichen Druck auf die Politik ausübte.153 Ab 1. Juli 1957 begann die Förderung von bis zu 20 Prozent eines Studierendenjahrgangs. Zur Erinnerung an ihren Entstehungskontext auf der Honnefer Tagung von 1955 trug sie den Namen »Honnefer Modell«, bis sie 1969 vom Bundesausbildungsförderungsgesetz (BaFöG) abgelöst wurde. Zentrales Ziel war es, die Studenten, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen, von der Erwerbsarbeit neben dem Studium zu entlasten – die aktive Erschließung neuer Milieus hingegen wurde erst zehn Jahre später zum Ziel ausgerufen. Als weiteres positives Ergebnis der Tagung aus Sicht der Politik resümierte der Hamburger Senatssyndicus Hans von Heppe für die KMK, dass durch die gemeinsame Tagungsveranstaltung von Politik und Hochschulseite unter Begleitung durch die Presse die herkömmlichen Vorstellungen von Fronten zwischen einer bürokratischen Hochschulverwaltung und einer freiheitlich gesonnenen Hochschule gelockert worden seien. Insgesamt äußerte er sich dennoch skeptisch, was den Ertrag weiterer derartiger Tagungen betraf: »Die Ansicht, dass wirksame Hochschulreformmaßnahmen nicht ohne einschneidende Strukturänderungen in unserem Hochschulwesen durchgeführt werden können, hat die Honnefer Tagung verstärkt. Vorschläge für derartige Veränderungen werden kaum von den offiziellen akademischen Gremien, vor allem von der Rektorenkonferenz und dem Hochschulverband erwartet werden können.«154
Trotz seiner Skepsis gegenüber den Akteuren der anderen Seite unterstützte von Heppe den auf der Honnefer Tagung vom nordrhein-westfälischen Kultusminister Werner Schütz unterbreiteten Vorschlag eines »Zwölfer-Ausschusses« aus KMK und WRK, der die Umsetzung der Honnefer Empfehlungen begleiten und eine weitere Reformtagung vorbereiten sollte. Die Politik suchte nun ein den Hochschulreformausschuss der WRK ergänzendes Format, in dem die Arbeit an Hochschulreformen im Austausch von Wissenschaft und Politik vorangebracht werden konnte, nachdem noch im Vorjahr ein solches, aus regelmäßigen Tagungen hervorgehendes neues Organ von der KMK abgelehnt worden war.155 Als Alternativen zu einem regelmäßigen offiziellen Tagungsformat oder gar einer dauerhaften Institution, in der die notwendigen Anpassungen der Universi
153 Zum Entstehungsprozess des Honnefer Modells und dem Einsatz des Verbandes Deutscher Studentenschaften von 1953–1957: Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform, S. 101 ff. 154 Referat über Honnef, Anlage zur Niederschrift über die Sitzung der Kultusminister 20./21. Januar 1956 in Stuttgart, in: NW 178–1426. 155 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Hochschulausschusses der Kultusministerkonferenz am 13./14.1.1954 in Frankfurt am Main, in: NW 178–1424.
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täten an die veränderten gesellschaftlichen Herausforderungen diskutiert werden konnten, hatten bis Mitte der 1950er Jahre Denkschriften einzelner Personen oder Zusammenschlüsse von gleichgesinnten Reforminteressierten gestanden. Zu letzteren gehörte der »Hofgeismarer Kreis«, dessen Mitglieder auf der Honnefer Tagung eigene Vorschläge zum Thema Lehrkörperreform vorgetragen hatten, die dort allerdings keine Mehrheit gefunden hatten. Dieser Kreis stand außerhalb der etablierten Institutionen, bestand aber aus etablierten Ordinarien, die sich bei der Hamburger Tagung des »Kongresses für die Freiheit der Kultur« 1953 gefunden hatten, und bis 1965 in unregelmäßigen Abständen zu Treffen an der Evangelischen Akademie im hessischen Hofgeismar zusammenkamen. Zu den rund 20 engagierten »Hofgeismarern« gehörten aus Heidelberg Gerhard Hess – inzwischen Präsident der DFG –, vom Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt Max Horkheimer, der Bonner Pädagoge Theodor Litt, der Göttinger Soziologe Helmuth Plessner, der Göttinger Jurist und Vorgänger Hess’ als Präsident der DFG Ludwig Raiser und der Münchner Ingenieur August Rucker, 1954–1957 amtierender bayerischer Kultusminister und vorher Rektor der TH München. Den Vorsitz des Kreises führte der Hamburger Philologe Bruno Snell, der bereits am Blauen Gutachten von 1948 mitgearbeitet hatte und wie viele der Hofgeismarer sich seit Kriegsende für eine Modernisierung der Universitäten einsetzte.156 Wenige Monate nach der Honnefer Tagung publizierten diese »Hofgeismarer« ihre Ideen unter dem Titel »Gedanken zur Hochschulreform – Neugliederung des Lehrkörpers«.157 Weitere Schriften aus ihrem Kreis folgten. Die Mitglieder des Hofgeismarer Kreises, die in den folgenden Jahren teils großen Einfluss auf die Hochschulpolitik und auch auf die Gründung neuer Universitäten haben würden, zeichneten in ihrer ersten Veröffentlichung als Hintergrund ihrer Reformvorschläge ein Bild, das deutlich kritischer als das von Heimpel ausfiel, für den das Humboldtsche Ideal weiterhin intakt und umfassend war und der sich grundlegenden Erneuerungen damit weiterhin verschloss. Heimpel hatte im Nachgang zur Tagung von 1955 ausgeführt, »dass die der deutschen Universität zu Grunde liegende Bildungsidee des deutschen Idealismus im Sinne Fichtes vielleicht erschüttert, aber nicht bestritten ist. […] Alle Hochschulreform ist somit ergänzende, den Kern bewahrende Reform. Sie ist […] im Grunde beschlossen in der Überzeugung, dass zu den beiden Wesensmerkmalen von Forschung und Lehre die Erziehung als drittes Wesensmerkmal der Hochschule gefügt werden soll […] [als eine] außerhalb der Wissenschaft erstrebte pädagogische Einwirkung auf die Studenten.«158
156 Zum Hofgeismarer Kreis Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive, S. 430–437. 157 Hofgeismarer Kreis, Gedanken zur, S. 466–504. 158 Heimpel, Probleme und Problematik der Hochschulreform, S. 2 f.
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Dieser Interpretation einer intakten Institution, die lediglich um eine auch von Heimpel erneut nur wenig präzise beschriebene Zusatzaufgabe zu ergänzen sei, hielten die Hofgeismarer eine deutlich skeptischere Einschätzung der Lage entgegen: »Das immer wieder beschworene Humboldtsche Universitätsideal, durch Arbeit mit und an der Wissenschaft zu hoher menschlicher Bildung zu führen, ist durch die Spezialisierung der Forschung, aber auch dadurch fragwürdig geworden, dass den Hochschulen inzwischen die Aufgabe zugefallen ist, Fachkräfte in großer Zahl für die moderne Massengesellschaft auszubilden.«159
Die Hofgeismarer plädierten dafür, bei allen Versuchen, die Bildungs- und Erziehungsfunktion zu stärken, die Ausbildungsfunktion nicht zu vernachlässigen und verwiesen darauf, dass der weiter vorherrschende Aufbau des Lehrkörpers überholte gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse voraussetzte (noch existierten Studiengebühren unter dem Namen »Kolleggelder«), während die Studentenzahlen in den vorangegangenen Jahrzehnten enorm angewachsen waren. Auch seien die Forschungsaufgaben komplexer und für die Allgemeinheit relevanter geworden, wofür die Hochschulen aber ebenfalls in Personal und Ausstattung nicht adäquat aufgestellt seien. Die schleppende Umsetzung von als notwendig erkannten Reformen sei erklärlich mit der »natürlichen Zählebigkeit jahrhundertealter Institutionen« und vorzugsweise kurzfristigem Agieren der Politik. Deshalb plädierte der Hofgeismarer Kreis für den pragmatischen Beginn mit einer Teilreform – der Struktur des Lehrkörpers –, und hielt damit ein Plädoyer für kleine Schritte anstatt entweder von einer Totalreform zu träumen oder aber gar nichts zu unternehmen. Man plädierte für eine Spezialisierung der Professoren auf Forschung oder auf Lehre und die Ergänzung der Profesorenschaft um neue Lehrkräfte zur ihrer Entlastung. Der Hofgeismarer Kreis vereinte eine Riege von reputierten Wissenschaftlern in hohen wissenschaftspolitischen Positionen, die Reformwillen mit Pragmatismus vereinten und konkrete Reformvorschläge vorbereiteten. Was aus der Honnefer Tagung von 1955 mit zwei Jahren Verzögerung folgte, war einerseits die Einführung einer breiten Studierendenförderung im Honnefer Modell und andererseits die im Kapitel zur Forschungsförderung bereits erwähnte Gründung des Wissenschaftsrates als neuem Planungsgremium von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. Der Wissenschaftsrat, den Gerhard Hess – einer der Hofgeismarer – mit Unterstützung weiterer Akteure erfolgreich etabliert hatte, sollte als neu geschaffene Institution eine Schnittstelle zwischen den Diskussionen um die Erfordernisse der Forschung und jenen um die Bedarfe der Ausbildung bilden. Mit seiner Etablierung 1957 war das auf der Bad Honnefer Konferenz 1955 vom nordrhein-westfälischen Kultusminister Schütz vorgeschla 159 Hofgeismarer Kreis, Gedanken zur Hochschulreform, S. 9 f.
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gene Gremium eines Ausschusses von Kultusministern und Hochschulrektoren, das sich dauerhaft mit Hochschulreformfragen beschäftigen sollte, obsolet geworden. Doch erst kurz bevor der Wissenschaftsrat seine ersten Empfehlungen vorlegen sollte, fiel der Rektorenkonferenz auf, dass das ursprünglich ersonnene Reformgremium immer noch in der Schwebe war. So schrieb der auf Coing folgende Präsident der WRK, Hermann Jahrreiß (1894–1992), Anfang 1959 an Schütz ins Düsseldorfer Kultusministerium in vorsichtigen Worten: »Durch Umstände, die uns im einzelnen nicht bekannt sind, ist jedoch der [Zwölfer-]Ausschuss niemals einberufen worden. Es vollzogen sich vielmehr einige kulturpolitische Bewegungen welche die Notwendigkeit des Ausschusses mehr und mehr in Frage stellten.« Zu diesen »Bewegungen« zählte Jahrreiß neben der Gründung des Wissenschaftsrates ganz freimütig »die erhöhte Arbeitsfähigkeit der Ständigen Konferenz der Kultusminister und der Westdeutschen Rektorenkonferenz«.160 Das 1955 erdachte Hochschulreformgremium war über der Reformdiskussion irgendwie in Vergessenheit geraten, aber jetzt hatte man ja ein anderes.
Die »Sturzflut« der Studierenden Wie bei der Entwicklung des außeruniversitären Forschungsbereichs setzte sich auch bei den Studierendenzahlen nach dem Zweiten Weltkrieg der langfristige, auch international weit verbreitete Wachstumstrend fort, der im späten 19. Jahrhundert eingesetzt hatte und in den späten 1920ern bzw. den 1930ern in Deutschland lediglich unterbrochen worden war. Eine Parallele zwischen dem Ausbau der außeruniversitären Forschung und den ansteigenden Studierendenzahlen bestand allerdings auch dahingehend, dass umfassende Informationen über diese Trendentwicklung zeitgenössisch zunächst nicht vorhanden waren. Während das deutsche Studentenwerk ab 1952 eine umfangreiche Erhebung zur sozialen Lage der Studierenden aufnahm, Daten über ihre Herkunft, finanziellen Möglichkeiten, Wohnformen und anderes mehr erhob, lag eine übergreifende Studierendenstatistik als Zusammenfassung der lokalen Erhebungen und Prognosen über die weitere Entwicklung erst ab Ende der 1950er Jahre und in wirklich umfassender Form sogar erst am Ende der 1960er Jahre nach Gründung der Hochschul-Informations-System GmbH HIS vor.161 Auf Grundlage der dann verfügbaren Daten ist erkennbar, dass die Durchschnittszahl der Studierenden je Universität zwischen den 1880er Jahren und dem Ende der Weimarer Republik bereits von circa 600 auf über 4.000 anstieg, wobei die Großstadtuniversität Berlin mit rund 15.000 Studierenden um 1930, aber auch Leipzig und München eine Sonderstellung als erste »Massenuniversitäten« innehatten, da an ihnen zusammen insgesamt ein Drittel aller Studierenden 160 Schreiben des Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz Hermann Jahrreiß an den nordrhein-westfälischen Kultusminister Schütz vom 23.2.1959, in: NW 178–1427. 161 Deutsches Studentenwerk, Das soziale Bild der Studentenschaft.
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eingeschrieben war. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hatte es eine starke Zunahme der Studierendenzahlen gegeben, die durch die drastischen Zugangsbeschränkungen durch die Nationalsozialisten zunächst abrupt gestoppt worden war.162 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Studierendenzahlen zunächst wieder auf dem Stand von direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Erst ab 1953 wurde das nachholende Wachstum, das dann durch weitere Faktoren zusätzlich verstärkt wurde, für die Zeitgenossen deutlich spürbar. Dabei hing das Erleben allerdings stark davon ab, an welchem Standort und in welchem Fachbereich man als Hochschullehrer tätig war. Waren zur Gründung der Bundesrepublik im Wintersemester 1949/50 rund 77.000 Studierende an den Universitäten eingeschrieben (und weitere 23.000 an Technischen Hochschulen), wuchs ihre Zahl binnen eines Jahres sprunghaft auf rund 84.000 und ab 1953 dann kontinuierlich im hohen einstelligen Prozentbereich bis zum Stand der Verdoppelung binnen eines Jahrzehnts auf fast genau 150.000 im Wintersemester 1959/60 (plus 49.000 an Technischen Hochschulen).163 Für die erste Verdoppelung der Studierendenzahlen benötigten die westdeutschen Universitäten in der Nachkriegszeit also lediglich zehn Jahre.164 Die Gründe für das Wachstum der Studierendenzahlen in den 1950er Jahren waren vielfältig und reichten vom stetig anschwellenden Flüchtlingsstrom aus Ostdeutschland, über eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation bis hin zum Start einer breiten Studienförderung durch das Honnefer Modell ab 1957. Langsam veränderte sich auch die Zusammensetzung der Studierenden. Die Beamtenkinder stellten an den Universitäten anfangs noch die größte Gruppe. Ihr relativer Anteil sank aber von 1950 bis 1959 von 40 auf 34 Prozent, so wie jener der Kinder von Selbständigen von 36 auf 32 Prozent, dafür stiegen die Anteile der Angestelltenkinder von 20 auf 25 und die der Arbeiterkinder, allerdings von zunächst nur vier auf sechs Prozent. Die Anzahl der Studentinnen – Frauen durften in Deutschland überhaupt erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts an allen Universitäten studieren – verdreifachte sich in den 1950er Jahren fast, so dass sie schließlich ein Viertel der Studierenden stellten. Sowohl um Arbeiterkinder als auch Frauen wurde allerdings von Hochschulen und Politik noch nicht aktiv geworben. Betrachtet man die Entwicklung der Studieninteres 162 Zur historischen Entwicklung, die seit den 1980ern im Kontext erneut stark ansteigender Studierendenzahlen bei gleichzeitiger zunehmender Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen detaillierter untersucht wurde: Titze u. a., Das Hochschulstudium in Preußen; Titze, Wachstum und Differenzierung und Windolf, Die Expansion der Universitäten. 163 Alle folgenden Daten ab 1949 nach Lundgreen, Berufliche Schulen und Hochschulen. 164 Die nächste Verdoppelung der Studierenden an Universitäten erfolgte nach weiteren zehn Jahren um 1970 (auf 300.000), die nächste etwa bis 1980 (600.000), die vorerst letzte kurz nach 1990 (auf rund 1,2 Millionen). Im Wintersemester 2012/2013 waren zuletzt 1,7 Millionen Studierende an Universitäten eingeschrieben.
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sen, war der Zuwachs der Studierendenzahlen am stärksten in den Sprach- und Kulturwissenschaften (von 13 auf 21 Prozent) sowie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (von 11 auf 14 Prozent), etwa gleich blieb er Anteil der Ingenieurwissenschaften und der Naturwissenschaften mit Mathematik (mit jeweils 16 Prozent), wohingegen er in der Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und Agrarwissenschaft unterschiedlich stark sank, was jedoch nicht hieß, dass die absoluten Studierendenzahlen in diesen Bereichen gesunken wären.165 Schaut man schließlich auf die Standorte, so war nicht mehr Berlin, wie noch in den 1920er Jahren, sondern nunmehr München mit rund 11.000 Studierenden im Jahr 1950 die größte bundesdeutsche Universität, die sich bis 1960 auf 19.000 vergrößerte. Bayern hatte zu dieser Zeit außerhalb Münchens nur kleine Universitäten in Würzburg und Erlangen-Nürnberg, so dass sich der Zulauf in der Hauptstadt des noch agrarisch geprägten Freistaates bündelte. Auf Platz zwei stand 1950 bundesweit noch die Universität Bonn, die bis 1960 von 6.500 auf fast 9.500 Studierende wuchs. Die meisten Universitäten verdoppelten ihre Studierendenzahl im Verlauf der 1950er, so wie die Freie Universität Berlin (auf 11.700), Frankfurt am Main (auf 8.500), Freiburg (auf 8.800), Heidelberg (auf 8.200) oder Marburg (auf 6.000). Am stärksten war die Zunahme der Studierenden in Aachen (von 3.600 auf 9.700) und den beiden nach dem Krieg besonders stark zerstörten Städten Hamburg (3.900 auf 10.900) und Köln (5.500 auf 13.600).166 Die skizzierten Dimensionen waren für die Zeitgenossen – je nach Standort und Fach, aber natürlich auch nach persönlichem Standpunkt – beeindruckend oder alarmierend und warfen grundsätzliche Fragen auf. Viele hatten offenbar zunächst angenommen, dass die Studierendenzahlen nach dem Ausscheiden der Kriegsgeneration sinken würden. Der Jurist Hermann Jahrreiß, 1958 Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, schilderte die stattdessen aber eingetretene Situation anlässlich seiner Rektoratsübergabe an der Universität Köln Ende 1958 zunächst aus Sicht der von ihm vertretenen Hochschule, um deren Probleme dann zu generalisieren, obwohl Köln ja – wenn man über das Gesamtbild verfügte – in einer klaren Sondersituation war. In Köln hatte die Zahl der voll immatrikulierten Studierenden von 1956 bis 1958 nach Jahrreiß um 26 Prozent zugenommen, wobei er von einer weiteren Beschleunigung des Wachstums ausging. Jahrreiß bescheinigte den Ländern als Träger der Hochschulen zwar guten Willen beim Wiederaufbau und beim Ausbau der Universitäten, mahnte aber eine insgesamt höhere Priorisierung der öffentlichen Bildungs- und Forschungsausgaben im Verhältnis zu anderen Staatsausgaben an. Doch rief er nicht nur nach mehr Investitionen in die Universitäten, sondern 165 Diese Angaben berücksichtigen alle Hochschularten und nicht nur die Universitäten. Der Anteil von Sport- und Kunstwissenschaften war und blieb unter einem Prozent. 166 Die Angaben zur Größenentwicklung der Standorte nach Albert/Oehler, Materialien zur Entwicklung der Hochschulen, S. 105. Hier auch Angaben nach Ländern.
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verwies auch auf deren ungeklärte Aufgabenbestimmung in Anbetracht der in kurzer Zeit so drastisch veränderten Nachfragesituation der Studierenden: »Auf unseren Hohen Schulen lastet, dass sie für die heutigen Massen an Studierenden einfach nicht eingerichtet sind, auch dann nicht, wenn man in den ›Massenfächern‹ das Forschen sein lässt und nur noch ausbildet; […] damit sind wir bei der Basis-Not unserer wissenschaftlichen Hochschulen, bei der Tatsache, dass sie in Unsicherheit über ihr Wesen gestürzt worden sind.«167
Die von Jahrreiß thematisierte Unsicherheit bestand in der zunehmenden Unklarheit darüber, ob am Leitbild einer das Forschen lehrenden Universität festgehalten und in welcher Qualität das Gros der Studierenden denn künftig ausgebildet werden sollte. Als gewähltem Repräsentant der westdeutschen Universitäten blieb Jahrreiß aber 1958 offenbar – wenn er den Comment nicht brechen wollte – nichts anderes übrig, als am seit 1945 intensiv beschworenen Leitbild der Forschung und Lehre verbindenden Universität festzuhalten – wie es in gleicher Rolle auch Heimpel schon 1954 mit seiner Kritik der Vorschläge für eine auf Bildung und Ausbildung konzentrierten Universität getan hatte. Jahrreiß folgertedass der Staat eben mehr Mittel zur Verfügung stellen müsste, um dem Leitbild der Humboldtschen Universität weiterhin Genüge zu tun. Offen ist, ob Jahrreiß zum Zeitpunkt seiner Rede bereits den im gleichen Jahr erschienenen Forschungsbericht aus dem Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel kannte. Friedrich Edding (1909–2002) hatte damit die erste bildungsökonomische Studie vorgelegt, um die Bildungsausgaben der Bundesrepublik im internationalen Vergleich darzustellen.168 So wie die DFG mit Blick auf den Stand der Forschung ab 1956/57 mit ihrer Denkschriftenreihe den internationalen Vergleich vorantrieb, unternahm Edding diesen Versuch für die Ausbildungsentwicklung. Wer es wissen wollte, konnte hier gebündelt Informationen zum international sehr ähnlichen Anstieg der Bildungsausgaben wie auch der Studierendenzahlen finden, die nüchtern mit dem Wettbewerb um soziale Chancen und wirtschaftlichen Erfolg begründet wurden. Die Bundesrepublik hatte nach Eddings Vergleich, was etwa den Anteil Studierender an der Gesamtbevölkerung betraf, noch deutlich Luft nach oben. Andere Länder bildeten größere Anteile ihrer Schulabgänger an Universitäten und anderen Hochschulen aus. Bereits 1952 hatte eine Vorstudie der UNESCO nahegelegt, dass die Westdeutschen wie auch ihre europäischen Nachbarländer im direkten Vergleich der Studierendenquoten mit den Supermächten USA und Sowjetunion abgeschlagen waren.169 Eddings Studie bot auf mehr als 300 Seiten erstmals eine detaillierte Auseinan 167 Hermann Jahrreiß, Vortrag zur Rektoratsübergabe an der Universität Köln am 20.11.1958, in: NW 122–122. 168 Edding, Internationale Tendenzen. Zu Vorgeschichte und Aufnahme der Studie Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 199 f. 169 Department of Social Science, UNESCO, Preliminary Report.
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dersetzung mit der international verfügbaren Statistik zum Thema. Sie enthielt sich aber prägnanter politischer Forderungen und machte es dem »schnellen Leser« nicht einfach. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit der nur knappe 19 Seiten umfassenden, im Folgejahr 1959 erschienenen Studie aus dem Bundesinnenministerium, die gleich im Titel ihre zentrale Botschaft leicht verständlich transportierte: »Überfüllung der Hochschulen«. Dieses Heft befeuerte die Diskussionen um die Studierendenzahlen deutlich und trat letzten Endes die Debatte um Neugründungen von Universitäten los.170 Der Ministerialrat Karl Friedrich Scheidemann, unter dessen Namen die Studie ungewöhnlicherweise veröffentlicht wurde, stellte hier die Entwicklung der Studierendenzahlen dem geschätzten Fassungsvermögen der Hochschulen gegenüber, prognostizierte die weitere Entwicklung und schlug entschiedene Maßnahmen zur Lösung der bestehenden Probleme vor. Scheidemann veranschlagte die künftige Studierendenzahl über alle Hochschularten auf rund 250.000 mit einer vorübergehenden Spitze von 260.000 in 1965, wozu er noch zehn Prozent ausländische Studierende hinzuzählte. Schwerer fiel es Scheidemann, das Fassungsvermögen der Hochschulen festzustellen, welches er sehr frei anhand des von den Hochschulen an den Wissenschaftsrat für dessen Planungsarbeit gemeldeten ungedeckten Personalbedarfs auf rund 140.000 Studierende schätzte, so dass er für die kommenden Jahre einen Überhang von bis zu 135.000 Studierenden diagnostizierte, der tatsächlich dramatisch erscheinen musste. Als Konsequenz seiner Berechnungen, die halb so viele Studienplätze wie benötigt ergaben, schlug Scheidemann vor, zwar auf Maßnahmen der Berufslenkung wie in Ostdeutschland zu verzichten, aber zu überlegen, »nach einem strengen Begabungs- und Leistungsmaßstab etwa jeden vierten Hochschulbesucher aus der Hochschule ›herauszuprüfen‹, damit für die wirklichen Studenten Platz geschaffen wird (Eignungsprüfung)«. Gleichzeitig sollte die staatliche Seite für einen entsprechenden Hochschulausbau sorgen, um ihre Hausaufgaben für eine Beseitigung der Überfüllung zu leisten und im »kalten Krieg der Hörsäle« mitzuhalten. Diese Rhetorik gipfelte vier Jahre nach Wiederbewaffnung der wieder souveränen Bundesrepublik in der Feststellung: »Erst dann würden wir mit Hochschulen rechnen können, wie sie in einem ›modernen Bildungsstaat‹ als ein wesentliches Stück unserer ›Bildungs-Aufrüstung‹ unerlässlich sind.«171 Wie sicher beabsichtigt, war das Echo auf diese Studie und ihre prägnanten, politisch kommunizierbaren Forderungen enorm. Die »Deutsche Universitätszeitung« räumte der Debatte fast eine ganze Ausgabe frei.172 Zunächst waren es vor allem die Kultusminister der Länder, die sich gegenüber der Darstellung aus 170 Scheidemann, Überfüllung der Hochschulen. 171 Ebd., S. 19. 172 Die Januarausgabe 1960 der »Deutschen Universitätszeitung« wurde weitgehend der Studie Scheidemanns aus dem Bundesinnenministerium und dem Echo darauf gewidmet.
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dem Bundesinnenministerium, die ihnen als im Föderalismus zuvorderst Zuständigen unausgesprochen mangelndes Handeln unterstellte, zu verteidigen suchten und auf die gestiegenen Investitionen in die Hochschulen hinwiesen.173 Sie verwiesen ferner auf die seit 1958 laufenden Arbeiten des Wissenschaftsrates zur Erstellung eines Gesamtplanes für den Ausbau der Hochschulen und lehnten restriktive Zugangsbeschränkungen ab: »Die Kultusminister sind überzeugt, durch weitere Steigerung der Länderleistungen allen förderungswürdigen und begabten jungen Menschen den Weg zu einer guten Bildung und Ausbildung auf jeder Stufe bereiten zu können.«174 Daneben kommentierten Wissenschaftler und Journalisten Scheidemanns Studie. Hervorzuheben ist der Artikel Ludwig Raisers, des früheren Göttinger Rektors und ehemaligen Präsidenten der DFG, der inzwischen Mitglied des neuen Wissenschaftsrates war:
Auf dem Trittbrett der Expansion: Reform durch Neugründung Bevor sich Raiser als einer der seit Kriegsende hochschulpolitisch engagierten und veränderungswilligen Akteure zur Überfüllungsdebatte zu Wort meldete, hatte er 1958 eine längere Abhandlung zum Verhältnis von Universitäten und Staat verfasst, die als Schrift des aus reforminteressierten Professoren bestehenden Hofgeismarer Kreises erschienen war. Mit Blick auf die Bemühungen der zurückliegenden Jahre resümierte Raiser dort: »Auch lehrt die Geschichte der zahlreichen Reformvorschläge seit 1945, dass das Beharrungsvermögen der Hochschulen stärker ist als alle Generalpläne. […] Da an die Neugründung einer Universität aus neuen Bauprinzipien einstweilen nicht zu denken ist, bleibt nur der langsamere Weg von örtlichen Teilreformen.«175
Auch der deutlich jüngere, eben aus den USA zurückgekehrte und auf seine erste Professur an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft berufene Ralf Dahrendorf schrieb Anfang 1959, dass gegenüber den Entwicklungen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion »die fehlende Unruhe in Dingen des Bildungswesens in Deutschland merkwürdig und besorgniserregend [sei]. […] Niemand ist mit dem Bestehenden zufrieden, aber die Kritik hält sich hinter verschlossenen Türen: sei es denen der Konferenzen von Experten oder denen privater Gesellschaften«.176 173 Seit 1960 veröffentlichten die Kultusministerkonferenz im zweijährigen Rhythmus eine nach Ländern sortierte Leistungsschau zur Bildungs- und Hochschulpolitik mit Leuchtturmprojekten, Beschlüssen der KMK und Daten zu den Ausgaben in den einzelnen Bereichen der Kultuspolitik: Ständige Konferenz der Kultusminister: Kulturpolitik der Länder 2 (1960), Köln 1961. 174 Presseerklärung der Ständigen Konferenz der Kultusminister vom 6.11.1959, in: NW 122–122. Dort auch ein KMK-interner Vermerk zu Echo und Vorgeschichte der Studie. 175 Raiser, Die Universität im Staat. 176 Dahrendorfs Einleitung in: Dahrendorf/Ortlieb, Der zweite Bildungsweg, S. XIII.
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Doch nur wenige Monate später sah die Situation ganz anders aus. Nun erhob Raiser öffentlich eine Forderung, die er im Vorjahr noch ausgeschlossen hatte, und konnte sogar Hoffnung auf ihre Umsetzung haben. Binnen kürzester Zeit hatte sich nämlich 1959 die hochschulpolitische Situation verändert. In einem Zeitungsartikel zur Reaktion auf Scheidemanns Studie »Überfüllung der Hochschulen« schilderte Raiser die Zunahme der Studentenzahlen unter Verzicht auf jeden alarmistischen Ton als Ausdruck veränderter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse, hielt die expansive Entwicklung für nicht vorübergehend, sondern dauerhaft und beschrieb das denkbare Spektrum an Lösungsmöglichkeiten.177Geboten sei ein umfangreicher und zügiger Ausbau der bestehenden Universitäten und übrigen Hochschulen, an dessen Planung der Wissenschaftsrat und er als sein Mitglied bereits arbeiteten. Daneben sollten laut Raiser auch Neugründungen von Universitäten erwogen werden: »Vielleicht sollte man auch (nach dem Vorbild der englischen University Colleges) den Mut haben, statt neuen Volluniversitäten mit ihrem enorm kostspieligen Apparat an naturwissenschaftlichen Instituten und Kliniken nur Teiluniversitäten für Geistesund Sozialwissenschaften in organisatorischer Anlehnung an eine alte Volluniversität zu gründen. Der Gedanke würde auch die Möglichkeit in sich bergen, an solchen neuen Einrichtungen Reformgedanken versuchsweise in die Tat umzusetzen, ohne damit gleich das ganze, höchst empfindliche innere Gefüge der alten Universitäten riskanten Experimenten auszusetzen.«
Diese Idee, neue Universitäten zur Entlastung für stark nachgefragte Fachbereiche und gleichzeitig zur Reformerprobung zu gründen, sollte binnen weniger Monate bis zum Frühjahr 1960 zu einer offiziellen Empfehlung des neuen Planungsgremiums Wissenschaftsrat werden. Raiser kombinierte mit seiner Idee geschickt den enormen politischen Druck, der sich binnen kurzer Zeit durch die starke Zunahme der Studierendenzahlen aufgebaut hatte, mit dem Ruf nach Reformen in unterschiedlichen Bereichen der Universitäten, der seit 1945 von ihm und anderen ausging und in den seit Mitte der 1950er Jahre allmählich breitere Kreise einstimmten. Dazu kam bei Raiser die explizite Rezeption ausländischer Vorbilder, hier der englischen Hochschulgründungen. Dass Raisers Ideen damit noch nicht erschöpft waren und Vergleiche mit dem Ausland weitere Inspirationsmöglichkeiten bereithielten, zeigte sein nächster Vorschlag: Raiser warb für die Einführung eines Bachelor-Studiums für den Großteil der Studierenden und eines Graduierten-Studiums für die Minderzahl, denn »dem geistigen Habitus eines großen Teils der heutigen Studentenschaft, der auf der Universität nicht Teilhabe an reiner, von der sozialen Wirklichkeit distanzierter Forschung, sondern eine tüchtige Ausbildung für einen erfolgreichen Start ins Berufsleben sucht, würde eine solche Zweiteilung des Studiums auch bei uns entgegenkom 177 Raiser, Die Hochschulen drohen vor ihrer Bildungsaufgabe zu versagen.
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men.« Diese Zweiteilung der universitären Ausbildung war Raiser zufolge eine Antwort auf die veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse. Hatte Raiser mit den weiteren Hofgeismarern in deren erster Denkschrift 1956 in Anbetracht der zähen Reformdiskussionen seit Kriegsende noch dia gnostiziert, »angesichts solcher Hemmnisse mehren sich die Stimmen, die die Hochschulreform für ein hoffnungsloses Beginnen halten«178, schien sich nun am Ende der 1950er Jahre plötzlich eine zweite Chance zur Umsetzung neuer Ideen zu bieten, nachdem mit dem Honnefer Modell und der Gründung des Wissenschaftsrates erste Schritte unternommen worden waren. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, dass der Startschuss für die schließlich vom Wissenschaftsrat 1960 vorgeschlagene Gründung mehrerer neuer Universitäten, die sich mit der Hoffnung auf institutionelle Innovationen verband, ausgerechnet 150 Jahre nach der Gründung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität fiel. Obwohl die von Wilhelm von Humboldt gegründete Universität, die seit 1949 auch seinen Namen und den seines Bruders Alexander trug, nun im Ostteil Berlins lag, wurde ihr Jubiläum von den westdeutschen Universitäten und ihrer Interessenvertretung feierlich begangen. Der Berliner Universität, in der seit den 1910er Jahren viele die Modellinstitution aller modernen deutschen Universitäten und das zu anzustrebende Leitbild erblickten, wurden im Jubiläumsjahr in Ost- und Westdeutschland Festschriften gewidmet – im Westen als »Berliner Universität« im Osten als »Humboldt-Universität«.179 Mit dem Aus- und Neubaubeschluss im großen Jubiläumsjahr 1960 fielen Expansionsbeginn und Traditionsbesinnung also zeitlich zusammen. Die spannende Frage war nun, ob die Neugründung von Universitäten tatsächlich ein geeigneter Weg zur Umsetzung der teils seit Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeschobenen und teils erst in den 1950er Jahren hinzugekommenen Reformideen war.
178 Hofgeismarer Kreis, Gedanken zur Hochschulreform, S. 12. 179 Aus West-Berlin: Weischedel/Müller-Lauter/Theunissen, Idee und Wirklichkeit einer Universität; aus Ost-Berlin: Berthold/Krüger, Die Humboldt-Universität sowie Göber, Forschen und Wirken.
2. Gründerzeiten: Vorschläge für »Universitäten neuen Typs«
Das Ende der Nachkriegszeit rief Bundeskanzler Ludwig Erhard in seiner ersten Regierungserklärung am 18. Oktober 1963 aus und skizzierte auch die Größe der anstehenden Aufgaben der Bildungs- und Wissenschaftspolitik: »Es muß dem deutschen Volk bewußt sein, daß die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert.«1 Tatsächlich aber schien mit Blick auf die Hochschulen schon einige Jahre früher ein neuer Zeitabschnitt seinen Anfang zu nehmen. Die starke Zunahme der Studierendenzahlen und die wachsende Möglichkeit und Bereitschaft der öffentlichen Hand, in die wissenschaftliche Infrastruktur zu investieren, erzeugten in Kombination mit den Reformvorschlägen, die im Verlauf der 1950er Jahre zu allen wesentlichen Aufgaben der Universitäten entstanden waren, eine Aufbruchstimmung und ein Neugründungsklima. Die Idee, »Universitäten neuen Typs« nicht nur zur Entlastung der explosionsartig wachsenden alten Universitäten, sondern auch für die Implementierung verschiedener Reformen zu nutzen, gewann – zunächst nur im Kreis einer Fachöffentlichkeit – rasch an Popularität.2 150 Jahre nach Gründung der vielbeschworenen Berliner »Humboldtschen« Universität schien nicht nur das Ende der Nachkriegszeit, sondern in Universitätsfragen mit gewaltiger Verspätung auch das Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. Am Anfang der nun einsetzenden Universitäts-Gründerzeit entstanden zwischen 1960 und 1962 zunächst drei Konzeptionen für neue Universitäten, die auf unterschiedliche Weise an die Reformdiskussionen und Gründungsversuche seit 1945 anknüpften und die Auseinandersetzung mit internationalen Vorbildern suchten. Diese kurz nacheinander veröffentlichten Entwürfe neuer Universitäten stammen von drei verschiedenen Akteuren: Den Anfang machte die Hansestadt Bremen, die im Dezember 1960 ein Auftragsgutachten »über die Gründung einer Universität zu Bremen« veröffentlichte. Es folgten im Mai 1962 die »Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestalt neuer Hochschulen«, die Vorschläge des neuen Planungsgremiums bündelten. Schließlich veröffentlichte im Oktober 1962 der Verband Deutscher Studentenschaften als Interessenvertretung der Studierenden sein Gutachten »Studenten und die neue Universität« und markierte 1 Deutscher Bundestag, 90. Sitzung, Bonn, den 18. Oktober 1963, online verfügbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/04/04090.pdf, hier S. 4201. (letzter Abruf 16.4.2016) 2 So der Titel einer entsprechenden Reformtagung im November 1961: Universität neuen Typs? Vorträge einer Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum.
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damit den Anspruch, mit substantiellen Vorschlägen zur Gestalt der neuen Institutionen beizutragen. Von der Campusuniversität über eine spezielle Interpretation des Collegelebens, die Förderung neuer Forschungsrichtungen und -formen bis zur Einführung neuer Studienabschlüsse und der Demokratisierung der Selbstverwaltung enthielten diese drei Blaupausen von neuen Institutionen ein enorm breites Spektrum an Reformvorschlägen. Sie machen deutlich, wie sehr die Vorstellung davon, was eine Universität sein sollte, im Umbruch war und welch unterschiedliche institutionelle Reformvorschläge diese Entwicklung mündete. Parallel zur Erarbeitung der drei, in diesem Kapitel genauer zu beleuchtenden Konzepte begannen neben Bremen auch die Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und schließlich Bayern konkrete Gründungsvorhaben vorzubereiten. Die Länder beschleunigten ihre diesbezüglichen Aktivitäten nach kurzer Anlaufzeit erheblich, so dass erste Beratungs- und Gründungsausschüsse zur Vorbereitung der neuen Institutionen von ihnen eingesetzt wurden, noch bevor alle drei frühen Konzeptionen, die als vorbereitende Arbeiten gedacht waren, ganz fertiggestellt und breit rezipiert worden waren. Für Konstanz traf sich seit dem Sommer 1961 ein informeller Beraterkreis des Kultusministers, der Gründungsausschuss für die Universität Bochum wurde im September 1961 konstituiert, jener für Bremen im November 1961 und im Mai 1962 legte Bayern eine Denkschrift zum Vorgehen bei einer Regensburger Universitätsgründung vor. Je konkreter diese Vorhaben der Länder wurden, desto mehr Wissenschaftler, Hochschulangehörige und Politiker ließen sich schließlich von der Gründungsstimmung anstecken. So bestand bald ein wesentlicher Unterschied zur Neugründungswelle zwischen 1945 und 1949 darin, dass die Überlegungen an vielen Orten diskutiert und außerhalb der akademischen Öffentlichkeit durch Journalisten intensiv begleitet wurden. Bereits über die Tagung »Universitäten neuen Typs« im Herbst 1961 an der Evangelischen Akademie in Loccum wurde in verschiedenen Zeitungen ausführlich berichtet; die konservative Zeitung »Christ und Welt« lobte 1963 selbst ein Preisausschreiben zu Ideen für neue Universitäten aus. Verschiedene Stiftungen und der Stifterverband begleiteten die Entwicklung mit eigenen Diskussionsveranstaltungen. 1963 gründete sich sogar eine Wissenschaftliche Gesellschaft für eine neue deutsche Universität e. V.3 All diese Aktivitäten, die in unterschiedlicher Weise mit den drei zentralen Konzepten für neue Universitäten verbunden waren, erfolgten, noch bevor 1964 eine breite Öffentlichkeit – auch durch Georg Pichts Veröffentlichungen – für das Thema Bildungspolitik und -reform interessiert werden 3 Siehe hierzu Universität neuen Typs?; Fritz Heerwagen, Reform heißt heute vor allem Ergänzung. Loccumer Gespräch über die Universität neuen Typs, in: Handelsblatt, 24./25.11.1961. Zum Preisausschreiben: Gesprächskreis Wissenschaft und Wirtschaft, Zur Gestalt der neuen deutschen Universität. Wissenschaftliche Gesellschaft für eine neue deutsche Universität e. V., Aufruf.
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konnte. Zunächst stehen aber im folgenden Kapitel die Hauptziele der drei Konzepte aus Bremen, dem Wissenschaftsrat und dem Verband Deutscher Studentenschaften im Fokus und die Frage, wie sie zustande gekommen waren.
2.1 College und Campus: Eine neuartige Universität für Bremen (1960) Den Übergang von den Reformdiskussionen und den wenig beachteten und skeptisch begleiteten Neugründungen der Nachkriegsjahre in die Universitätsgründerzeiten der 1960er Jahre bildete das umfangreiche Gutachten »Über die Gründung einer Universität zu Bremen« vom Dezember 1960.4 Rund ein Jahr, nachdem die Diskussionen über den Anstieg der Studierendenzahlen Ende 1959 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten und nur ein halbes Jahr, nachdem der Wissenschaftsrat im Mai 1960 Universitätsneugründungen empfohlen hatte, bot dieses Gutachten den ausführlich ausgearbeiteten Plan einer neuen und in Teilen ganz neuartigen Universität. Nicht zuletzt wegen seiner Veröffentlichung in diesem günstigen Moment erfuhr das Gutachten für eine Universität Bremen in den ersten Jahren der Universitätsgründerzeit eine große Beachtung und diente weiteren Akteuren zur Entwicklung und Abgrenzung ihrer eigenen Gründungsideen. Warum nahmen die Universitäts-Gründerzeiten nun ausgerechnet in Bremen ihren Ausgang? Am Ende der 1950er Jahre war die Hansestadt in der Sonder situation, als einziges Land in der Bundesrepublik keine Universität zu besitzen. Während selbst Hamburg 1919 eine Universität gegründet hatte, war in Bremen nach Kriegsende zwar der Anlauf zur Gründung einer »Internationalen Universität« unternommen worden aber zunächst erfolglos geblieben, obwohl im Dezember 1948 ein entsprechendes Gesetz der Bremer Bürgerschaft verabschiedet wurde.5 Einige Hinweise auf die damalige Idee gibt ein Vortrag des mit der Planung beauftragten Professors für Geographie, Erich Obst (1886–1981), den dieser kurz vor dem Gründungsbeschluss vor der Bürgerschaft hielt. Obst trug darin zentrale, in den späten 1940er Jahren diagnostizierte Reformvorschläge zusammen und beschrieb als Aufgaben einer neuen Universität in Bremen, die Einheit 4 Das Gutachten Hans Werner Rothes »Über die Gründung einer Universität zu Bremen. Denkschrift vorgelegt der Universitätskommission des Senats der Freien Hansestadt Bremen« wurde 1961 selbständig veröffentlicht und ist wiederabgedruckt in WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen, S. 265–483. Diesem Wiederabdruck sind alle hier wiedergegebenen Zitate entnommen. Zur Bremer Universitätsgründung: Gräfing, Bildungspolitik in Bremen, sowie erweitert bis zur Gegenwart dies., Tradition Reform. Zur CampusIdee Rothes, deren Kontext und Wirkung, aber auch zur Debatte um studentisches Wohnen: Muthesius, The Postwar University, S. 203–246 und auch Paulus, Vorbild USA, S. 483–494. Zur Bremer Gründung im Kontext der Gründungen der 1960er Jahre: Rudloff, Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens, S. 77–101. 5 Dazu Gräfing, Bildungspolitik in Bremen, S. 173–178.
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der Universität durch den Abbau der Fakultätsgrenzen zu stärken, die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden mit einem Studium generale zu fördern, eine neue Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Entwicklungen zu zeigen und schließlich den Nationalismus ganz praktisch zu überwinden, indem die Professorenschaft und die Studierenden möglichst international zusammengesetzt würden. Als passende Form schlug er eine von ihm als »Heim-Universität« bezeichnete neue Hochschule vor: »Die Bremer Universität soll im tiefsten Sinne des Wortes eine Gemeinschaft der Lehrenden und der Lernenden bilden und zu diesem Zwecke als Heim-Universität (College) entwickelt werden.«6
Anhand des Vortragsmanuskripts von 1948 lässt sich nicht erkennen, ob für diese Planungen eine intensivere Auseinandersetzung mit der angelsächsischen College-Idee stattfand oder die Inspiration nicht vielmehr von der Mainzer Universitätsgründung und dem dort verfügbaren Kasernengelände ausging. Auf die Parallele zur Unterbringung der neuen Universität Mainz in einer vormaligen Wehrmachtskaserne verwies Obst jedenfalls explizit, während der College-Begriff nicht weiter erläutert wurde.7 Der Plan zerschlug sich, als die 1948 ins Auge gefasste Kaserne in Bremen-Grohn zunächst als Flüchtlingunterkunft und anschließend wieder militärisch genutzt wurde. Erst 50 Jahre später wurde an gleicher Stelle tatsächlich eine International University Bremen in privater Trägerschaft aufgebaut werden (seit 2006 Jacobs University Bremen), bei der die Orientierung am angelsächsischen Modell des College- und Campus-Lebens eine zentrale Rolle spielte.
2.1.1 Das Hochschulexperiment in Wilhelmshaven als Ausgangspunkt der Bremer Pläne Etwa zehn Jahre nach dem Scheitern der frühen Nachkriegspläne eröffnete sich am Ende der 1950er Jahre die zweite Chance auf eine Bremer Universität, als das Land Niedersachsen die Übernahme der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven (zuerst: Akademie für Arbeit, Politik und Wirtschaft) als erweiterbaren Kern einer neuen Universität anbot.8 Die Gründung 6 Obst, Die internationale Universität Bremen. 7 Auch bei Gräfing, Bildungspolitik in Bremen, gibt es dazu keine Informationen und auch keine Verweise auf in Bremen möglicherweise verfügbare Archivalien. 8 Zur Geschichte dieser Hochschule für Sozialwissenschaften ihr ehemaliger Student Gerd Diers, Die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft. Erstmals auf Basis umfangreicher Archivrecherchen jetzt Schael, Von der Aufgabe der Erziehung. Zur den langwierigen und letztlich erfolglosen Verhandlungen zwischen Bremen und Niedersachsen über die Übernahme der Hochschule siehe Gräfing, Bildungspolitik in Bremen, S. 184–192.
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der Hochschule war Ende 1947 etwa zeitgleich zur Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft (später Hochschule für Wissenschaft und Politik, schließlich Teil der Universität Hamburg) vom Niedersächsischen Landtag beschlossen worden, um einen neuen Ansatz in der Erwachsenenbildung und der Förderung der Sozialwissenschaften zu verfolgen. Darüber hinaus sollten der weitgehend hochschulfreie Norden des in der Besatzungszeit neu geschaffenen Landes Niedersachsen und der vormalige Marinestützpunkt Wilhelmshaven gefördert werden. Wichtige Anregungen für die Hochschulgründung stammten offenbar von Alexander Lindsay, der damals den Aufbau einer ebenfalls neuartigen Universität in Keele vorantrieb und beim Blauen Gutachten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Auch Jugendbewegung und Reformpädagogik der Weimarer Jahre entfalteten ihren Einfluss bei dem neuen Projekt im ehemaligen Marinehafen.9 Der Aufbau der Hochschule in Wilhelmshaven ab 1949 gestaltete sich allerdings schwieriger, als von ihren Fürsprechern, dem sozialdemokratischen niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme (1889–1963) und dem mit der Leitung betrauten, in der NS-Zeit politisch verfolgten und 1947/48 zunächst in Leipzig und Jena zum Professor berufenen Politologen Wolfgang Abendroth (1906–1985), wohl erhofft. Die Hochschule stieß mit ihrem Konzept nämlich auf entschiedenen Widerstand sowohl der bis dahin einzigen niedersächsischen Landesuniversität Göttingen als auch der Westdeutschen Rektorenkonferenz, die der fachlichen Ausrichtung der Neugründung und ihren Reformambitionen skeptisch gegenüberstanden. Auf den Konflikt mit diesen beiden Institutionen ließ sich das Land Niedersachsen ein Stück weit ein, indem es aus der Akademie eine Hochschule machte und sie Anfang der 1950er Jahre auch mit dem Recht zur Vergabe des neuen Titels Diplom-Sozialwirt sowie mit dem Promotionsrecht ausstattete. Die Hochschule selbst versuchte sich wiederholt aktiv als Reformexperiment zu bewerben und stellte dafür ihren interdisziplinären Ansatz in den Sozial wissenschaften sowie das gemeinschaftliche Leben und Arbeiten im Hochschul dorf aus früheren Militärbaracken als College-Experiment heraus. Über letzteres berichtete Walther Peter Fuchs in seiner bereits geschilderten Bestandsaufnahme zu Studentenwohnheimen und Gemeinschaftshäusern von 1951. Das »Hochschuldorf« in Wilhelmshaven-Rüstersiel verbinde Lehr- und Forschungsstätte mit der Wohnung von Studenten und Dozenten zu einem »völlig neuartigen Ganzen«. »In einem viel umfassenderen Sinne, als es der traditionelle Typ der deutschen Studentenwohnheime zulässt, ist das Hochschuldorf der Schauplatz des gesamten akademischen Lebens, sei es nun Spiel oder Sport, Vorlesungen, wissenschaftliche Arbeit oder das Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden.«10 9 Dazu Schael, Von der Aufgabe der Erziehung, S. 57 ff. 10 Fuchs/von Langen, Studentische Wohnheime und Gemeinschaftshäuser, S. 131–134.
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Mit großer Sympathie beschrieb Fuchs das vor der Stadt gelegene »Hochschuldorf«, dessen nur 200 Studierende in einfachen Baracken lebten: Nichts erinnere mehr an eine Kaserne, vielmehr sorgten der in der Nähe gelegene Strand und ein Segelhafen für den »Charakter eines angenehmen Ferienaufenthalts«; zweimal in der Woche gebe es warmes Wasser. Fuchs schilderte auch die Mentorenfunktion der sechs Lehrstuhlassistenten für die Studierenden und die selbstverwaltete Studierendengemeinschaft mit »Dorfparlament« und »Dorfbürgermeister«. Für Fuchs war das Hochschuldorf Wilhelmshaven-Rüstersiel ein »wohlgelungener Versuch, die akademische Jugend aus ihrer politischen Desintegration herauszuführen und zu verantwortlicher Mitarbeit im öffentlichen Leben zu erziehen«.11 Auch die »Deutsche Universitätszeitung« schrieb in der ersten Hälfte der 1950er Jahre wiederholt über das Wilhelmshavener Experiment, ebenso wie die Wochenzeitung »Die Zeit«, die Ende 1955 in einem längeren Bericht werbend berichtete, in Wilhelmshaven handele es sich um einen der »wenigen Versuche nach 1945, etwas Neues aufzubauen, einen neuen Typ von akademischer Bildungsstätte in Deutschland zu entwickeln«.12 Doch letztlich fehlte der Wilhelmshavener Hochschule nicht nur ein starker Fürsprecher, insbesondere nach Grimmes Fortgang aus dem Ministerium zum Norddeutschen Rundfunk. Die Hochschule selbst änderte nach dem Fortgang ihres Gründungrektors Abendroth 1951 auch ihren bisherigen Kurs und verlor die Unterstützung der Gewerkschaften, die eine verstärkte Konkurrenz zu den Sozialakademien fürchteten. So sorgte die Westdeutsche Rektorenkonferenz unter Vorsitz des Historikers Heimpel, der an der traditionsreichen Landesuniversität in Göttingen lehrte, schließlich dafür, dass die bereits in schweres Fahrwasser geratene Einrichtung nicht in die WRK aufgenommen wurde.13 Dabei erweckte Heimpel zwangsläufig den Anschein, im Interesse seiner Göttinger Kollegen in der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät zu agieren. Spätestens nach dem Konflikt mit der WRK musste eine Lösung für die Wilhelmshavener Hochschule organisiert werden, da nun die Rekrutierung von Lehrenden und Studierenden unsicher blieb bzw. erschwert wurde. Die Wissenschaftliche Kommission des Wissenschaftsrates riet im Oktober 1959 zur Verlegung der Hochschule
11 Ebd., S. 131 ff. 12 Paul Hühnerfeld, Eine Akademie weit von der »großen Welt«. Leistung, Schicksal und Probleme der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, in: Die Zeit, 8.12.1955. Die »Deutsche Universitätszeitung« berichtete vor allem 1951 und 1952 mehrfach zur Entwicklung in Wilhelmshaven. Zudem: Schewe, Hochschulreform und Hochschulexperiment, S. 673–678. 13 Vgl. Diers, Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft, S. 119 ff. Als Beispiel der Göttinger Kritik an der Wilhelmshavener Konkurrenz: Bockelmann, Zur Problematik der Wilhelmshavener Hochschule, S. 15 f.
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nach Bremen als Kern einer neuen Universität, was den Bremer Senat zur Ausarbeitung eben jenes Gutachtens zur Universitätsgründung veranlasste.14 Mit dieser zwölfjährigen Vorgeschichte war Hans Werner Rothe konfrontiert, als er von der Bremer Senatsverwaltung den Auftrag erhielt, ein Gutachten zur Frage einer Bremer Universitätsgründung abzufassen. Rothe, der bis dahin als Mitarbeiter der Universitätsverwaltung in Göttingen weder ausgewiesener Experte der Universitätsentwicklung noch prominenter Akteur der zeitgenössischen Reformdiskussionen war, verfasste innerhalb weniger Monate ein rund 400 Seiten starkes Gutachten zur Universitätsgründung in Bremen. Als Materialbasis griff er dabei auf die Gründungen und den Hochschulreformdiskurs des 20. Jahrhunderts – vor und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg – zurück und schloss an die Projekte in Bremen und Wilhelmshaven aus den späten 1940er Jahren an. Dabei setzte er zwei wesentliche Akzente: Er nahm erstens die seit 1945 vielerorts formulierten Forderungen nach einer Erziehungskomponente der Universität als so bezeichneter dritter Säule neben Forschung und Lehre auf und stellte sie ins Zentrum seines Universitätsplanes; zweitens schlug er die Umsetzung dieses Zieles in Form einer Campusanlage vor.
2.1.2 Erziehungsaufgabe im Zentrum Im Hinblick auf die prominente Rolle der Bildung und Erziehung in seinem Plan orientierte sich Rothe eng an der seit 1945 geführten Diskussion um eine Funktionserweiterung der sogenannten Humboldtschen Universität. An den Beginn stellte er deshalb eine ausführliche Reflexion der damals immer wieder beschworenen »Idee der deutschen Universität«, die sich auf die zeitgenössisch vier aktivsten Interpreten der deutschen Universitätstradition seit Wilhelm von Humboldt stützte: die beiden älteren Philosophen Eduard Spranger und Karl Jaspers, sowie die eine Generation jüngeren konservativen Historiker Hermann Heimpel und Ernst Anrich. Zahlreiche Zitate dieser vier Geisteswissenschaftler fügte Rothe collageartig zur Einleitung seines Gutachtens zusammen und ließ sie in Hermann Heimpels Diktum von 1955 gipfeln, wonach alle Hochschul reform lediglich »ergänzende, den Kern bewahrende Reform« sei und der Kern aller Hochschulreformen nun in der als dritte Säule neben Forschung und Lehre tretenden, »außerhalb der Wissenschaft erstrebte[n] pädagogische[n] Einwirkung auf die Studenten« bestehe. Rothe nahm diesen Appell Heimpels, der wohl mehr als Sonntagsrede, denn als konkrete Handlungsanweisung gedacht war, ganz wörtlich und schlussfolgerte: 14 Gutachten der Wissenschaftlichen Kommission zur Frage der Entwicklung der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven, abgedruckt in: Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 451 ff.
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»In der Forderung nach Anerkennung der außerwissenschaftlichen, das heißt allgemei nen und staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung, die unabdingbar die Pflege der Leibesübungen und des Musischen einschließt, als des neben Forschung und Lehre dritten Wesensmerkmals der Hochschule, liegt die entscheidende neue Aufgabe der neuen Universität. […] Während die bestehenden Hochschulen diese neue Erziehungsaufgabe infolge innerer und äußerer Schwierigkeiten nur sehr langsam ergreifen können, muss und kann eine neue Universität sie von Anbeginn an mit ganzer Kraft zusammen mit den traditionellen Aufgaben der Forschung und Lehre aufnehmen.«15
Rothe griff also den in den Diskussionen seit 1945 vielfach verwendeten, dabei aber stets unscharf bleibenden Erziehungs- und Bildungsbegriff auf und erweiterte ihn um die Komponenten Sport, Musik und Kunst, die zudem in Bremen nicht nur der Eigeninitiative der Studenten überlassen bleiben sollten. Mit heutigen Worten würde man wohl von einem ganzheitlichen Bildungsbegriff sprechen, der Rothe vorschwebte. Rothe nahm auch explizit Bezug auf ausländische Vorbilder und merkte an, dass beispielsweise der Sport an den englischen und amerikanischen Hochschulen eine bedeutendere Stellung einnehme als in Deutschland und dort seit langem anerkannt sei »als ein Mittel der Charakterbildung der Studentenschaft sowie zur Herstellung eines starken Körperschaftsbewusstseins innerhalb der einzelnen Hochschulen«.16 Als weitere populäre Forderung aus den auf Humboldt bezogenen Universitätsreformdiskussionen der Nachkriegsjahre griff Rothe die Stärkung der sogenannten »Einheit der Universität« sowohl als Personenverbund als auch als Wissensraum auf und versuchte sie mit der Erziehungsaufgabe zu verkoppeln. Daraus sprach der seit den fachlichen Spezialisierungsentwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhundert und seit 1945 mit Blick auf die wachsenden Studierendenzahlen verstärkt geäußerte Wunsch nach Rückgewinnung von Übersichtlichkeit. In den Worten Rothes sollten die Studierenden der Universität nicht als anonyme »Anstaltsbenutzer« gegenüberstehen. Zusätzlich zur Förderung der universitären Einheit durch Gemeinschaftsbildung sowohl bei Studierenden als auch Lehrenden sollte ein stärkeres Zusammendenken des verfügbaren Wissens erreicht werden. Hier schloss Rothe an die insbesondere von prominenten Geisteswissenschaftlern formulierte bildungshumanistische Klage an, die die deutschen Universitäten als beziehungsloses Nebeneinander einzelner Fachgebiete schilderten, aus denen zudem »das Philosophische als die tragende Substanz auch jeder Einzelwissenschaft geschwunden ist«.17 Zu all diese Forderungen konnte Rothe einen umfangreichen Bestand an Literatur zitieren.
15 Hans-Werner Rothe, Über die Gründung einer Universität zu Bremen, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 300. 16 Ebd., S. 336. 17 Ebd., S. 304.
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2.1.3 Campusanlage für die Einheit der Universität Rothes Ansatz zur Lösung der von vielen Zeitgenossen als problematisch wahrgenommenen Entwicklungen der Spezialisierung, Isolierung und Anonymität war ein neuartiger Universitätscampus. Der »Zerfall der Universitäten zu Spezialschulen« und das sogenannte »Institutsdenken« hatten nach Rothe ihre Ursachen nämlich auch in der Aufteilung der Universitätseinrichtungen über das Stadtgebiet. Die neue Universität in Bremen sollte diese räumliche Zersplitterung ihrer Anlagen vermeiden und auch mit baulichen Mitteln eine »geistige Wiedervereinigung« erstreben. Um eine »wahrhaft akademische Gemeinschaft und ein starkes Bewusstsein von der Einheit aller wissenschaftlichen Arbeit« zu erreichen, schlug er eine neue bauliche Anlage der Universität als Campus vor.18 Dafür gebe es kein deutsches Wort, so Rothe, »weil das, was es bezeichnet, in Deutschland noch nicht in reiner Form vorhanden ist«. So definierte Rothe den Campus als »aus dem inneren Wesen der Universität heraus gestaltete Vereinigung aller Universitätsgebäude nebst Studentenwohnheimen und Sportanlagen am Rande der Stadt (…). Das Besondere des Campus liegt in der in ihm ständig wirkenden Spannung zwischen ›konzentrierter Stille‹ und Weltoffenheit. Hier kann die den deutschen Universitäten leider verlorengegangene Dreiheit von Forschung, Lehre und gemeinsamen Lebensformen wieder errungen und der der neuen Universität gestellte Erziehungsauftrag in ganz anderer Weise verwirklicht werden, als es bei den meisten der bestehenden deutschen Hochschulen infolge ihrer räumlichen Zersplitterung möglich ist.«19
Zu einem solchen Campus gehörte für Rothe ein zentraler Ort mit Aula, Hörsaalgebäude, Studentenhaus, Rektorats- und Verwaltungsgebäuden sowie der Bibliothek, wobei diese wiederum den Schwerpunkt des Forums bilden sollte als das »Herz der Universität«.20 Die Bibliothek verkörpere die Grundprinzipien von Universalität und Wissenschaftlichkeit und repräsentiert durch ihr Gebäude und ihre Bestände die Einheit aller wissenschaftlichen Arbeit. Diese Hervorhebung der zentralen Bibliothek zeigte, dass Rothe einerseits die zeitgenössischen Entwicklungen im Bibliothekswesen rezipiert hatte, zu denen die Neuordnung des Verhältnisses von Zentral- und Institutsbibliotheken, die Öffnung der Bestände für Benutzer und der direkte Zugang zu den Büchern gehörten, andererseits stark an die Bedürfnisse einer von Buchwissenschaften geprägten Universität dachte. Doch woher nahm Rothe die Campus-Idee? Stefan Paulus geht davon aus, dass Ruth Maccarios 1959 frisch erschienene Studie über »Das wissenschaftliche Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika« die wesentliche Inspirations 18 Ebd., S. 307 f. 19 Ebd., S. 308. 20 Ebd., S. 311.
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quelle gewesen sein könnte.21 Allerdings enthält diese umfangreiche Studie, die als Publikation des Stifterverbandes die deutschen Leser über die Lage in den USA ausführlich aufklären sollte, nur wenige Angaben zum Campusleben und dessen baulicher Anlage. Rothe selbst verweist in Fußnoten seines Gutachtens auf Aufsätze in der Zeitschrift »Baukunst und Werkform«, die 1954 und 1958 über internationale Universitätsbauprojekte, etwa in Chicago, berichtete, aber auch über »einheitlich konzipierte Universitätsstädte« in Lateinamerika (Mexico-City und Caracas), Afrika und Indien.22 Die dort verwirklichten modernistischen Großplanungen könnten durchaus nachhaltigen Eindruck auf Rothe gemacht haben. Die von ihm empfohlene Stadtrandlage des neuen Campus hatte Rothe schon in der Bundesrepublik, nämlich in Heidelberg und Tübingen beobachtet, wo die Universitäten zeitgenössisch bereits große Erweiterungsgelände außerhalb der Altstädte zu erschließen begannen. Wovon er sich – anders als Obst 1948 – hingegen explizit abgrenzte, waren die in Mainz und Saarbrücken genutzten Kasernengelände. Dennoch scheint diese Umnutzung der Kasernen in den 1940er Jahren, die ja auch in Bremen 1948 anvisiert und in Wilhelmshaven seit 1949 praktiziert wurde, einen Ausgangspunkt für die zeitgenössischen Überlegungen darzustellen. In der wirtschaftlich verbesserten Situation am Ende der 1950er Jahre war es nun einfacher, sich von einer derartigen Umnutzung zu distanzieren. So urteilte Rothe: »Bauliche Notlösungen stellen auch geistige Notlösungen dar. Eine vergangene Form kann nicht der Rahmen für eine künftige Lebensform sein.«23 Auffällig ist, dass angelsächsische Vorbilder für den Campus nicht explizit benannt werden, obwohl der Vergleich mit den Hochschulentwicklungen im westlichen Ausland seit Mitte der 1950er Jahre allgemein intensiviert wurde. Auch der Begriff des College-Lebens, für das der Campus den Rahmen abgibt, wurde von Rothe nicht vertieft. Vielmehr leitete er, um seinen Vorschlag legitimatorisch abzusichern – und hierbei konnte er sich im Gegensatz zum ersten Akzent seines Gutachtens nicht auf Spranger, Jaspers, Heimpel und Anrich stützen – den neuen Campus nicht aus England und den USA, sondern aus dem alten Griechenland her: »Man darf in der Platonischen Akademie nicht nur die Urform der Universität, sondern in der Art der äußeren Gestalt auch die Urform des Campus erblicken.«24 Welcher humanistisch gebildete Leser würde jetzt noch zu widersprechen wagen? Rothe fügte dem Gutachten die schema 21 Paulus, Vorbild USA, S. 483 ff.; Maccario, Das wissenschaftliche Leben. 22 Etwa Kultermann, Internationale Hochschularchitektur und ders., Die Universitätsstadt von Caracas. Die gleiche Zeitschrift hatte im Juni 1960 auch ein Heft mit dem Themenschwerpunkt Bau von Studentenwohnheimen herausgegeben, das unter anderem ein Interview mit dem omnipräsenten Walther Peter Fuchs enthielt. Zum Gesamtbereich der internationalen Hochschularchitektur der Nachkriegszeit Muthesius, The Postwar University. 23 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 308 f. 24 Ebd., S. 310.
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tische Zeichnung eines denkbaren Campusplanes bei, worauf das beschriebene Forum im Zentrum lag. Darum herum waren auf zwei Ringen die Gebäude der verschiedenen Fakultäten angesiedelt, noch weiter außen lagen die locker verteilten Studentenwohnheime, Sportanlagen, ein Botanischer Garten, eine Universitätskirche sowie diverse weitere Einrichtungen.25 Während es mit Blick auf die Gesamtanlagen neuer Universitäten in Deutschland am Ende der 1950er Jahre offenbar noch keine regen Diskussionen und kaum Fachveröffentlichungen gab, wohl auch, weil die deutschen Nachkriegsneugründungen nicht in für sie errichteten Neubauten gestartet waren und der Wiederaufbau der Universitäten in der Bundesrepublik zu großen Teilen von öffentlichen Bauämtern und nicht von freien Architekten vorgenommen wurde, konnte Rothe bei der baulichen Umsetzung der Ideen von Erziehung und der zu stärkenden Gemeinschaft der Studierenden und Lehrenden auf verschiede Vorarbeiten zurückgreifen. Dazu zählten der im Deutschland der Nachkriegszeit neue und vorrangig sozial motivierte öffentliche Studentenwohnheimbau und die bereits vorgestellten, reformpädagogisch und teils noch durch die Jugendbewegung motivierten Diskussionen und Modellprojekte besonderer Gemeinschaftshäuser etwa in Heidelberg, Tübingen, Wilhelmshaven oder Göttingen. Rothe nahm vor allem die pädagogischen Vorstellungen von Killy, Fuchs und anderen auf, die weniger an angelsächsischen Vorbildern als an mittelalterlichen, kontinentaleuropäischen Kollegienhäusern, Bursen und Konvikten orientiert waren. Die neue Erziehungs- und Bildungsaufgabe könne, so betonte Rothe mehrmals, nur innerhalb einer wirklichen Hochschulgemeinschaft bewältigt werden, wenn die Studierenden stärker als bisher in die Universität »hineingenommen« würden und Studentenhaus sowie Studentenwohnheime von vornherein als selbstverständliche Bestandteile der Hochschule betrachtet würden, ohne deren Vorhandensein der der neuen Universität gestellte Erziehungsauftrag nicht bewältigt werden könne. Ein Studentenhaus als »humanistisches Zentrum« müsse den Mittelpunkt des studentischen Lebens bilden mit Mensa, Aufenthaltsräumen, Lesehalle, Hobbyräumen, AStA, Studentenarzt, Studentenpfarrer, Studentenwerk, Friseur und Ladenzentrum. Ferner sollten Studentenwohnheime für mindestens ein Drittel der für 6.000 Studierende ausgelegten Universität bereitgestellt werden, wofür Rothe wenigstens 20 Studentenwohnheime und zusätzlich noch 250 Dozentenwohnungen für erforderlich hielt.26 Als vorbildliche Wohnheimtypen führte er explizit das Collegium Academicum in Heidelberg und das Tübinger Leibniz-Kolleg an.27 Das seit 1953 geplante, mit
25 Ebd., S. 365. 26 Ebd., S. 443. 27 Ebd., S. 322.
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amerikanischen Mitteln errichtete und 1959 eröffnete Studentendorf Schlachtensee der FU Berlin hingegen erwähnte er nicht, passend zu seiner Distanz gegenüber angelsächsischen Vorbildern. Rothe diagnostizierte, dass die Entwicklung der Studentenwohnheime noch überall in Fluss sei. Auf diesem Feld in Bremen voranzugehen, Typenexperimente zu unternehmen, indem man Wohnheime nach Ideen oder Themen gestalte, und also insgesamt mehr zu wagen als die bestehenden Universitäten, sah er als Chance und Aufgabe für Bremen an. Dabei aber eine Unterbringung aller Studierenden anzuzielen, gar eine Wohnpflicht wie es sie an amerikanischen Colleges für die Undergraduate-Studenten gebe, hielt Rothe für verfrüht. Er betonte, dass die Studentenwohnheime, in denen Wissenschaftler als »Protektoren« und weitere Tutoren wohnen würden, keinen Internatscharakter haben sollten. Rothe vergaß bei all dem nicht zu erwähnen: »Eine wichtige Rolle fällt bei der Herstellung der rechten Hausatmosphäre der Frau des Heimleiters zu.«28 Den Typ akademischer Kollegien, wie Fuchs sie beschrieben hatte, als Norm für die Gestaltung aller Studentenwohnheime festzulegen, bemerkte Rothe realistisch, hätte eine Revolution für das deutsche Hochschulwesen bedeutet: »Vielleicht ist dies nach Voranschreiten der Hochschulreformmaßnahmen, wozu ja gerade die neue Universität beitragen soll, in einigen Jahrzehnten möglich.«29 Bilanzierend stellte Rothe zu dem sehr detailliert ausgeführten Gutachtenteil über die Studentenwohnheime fest: »Für die neue Universität liegt hier die wichtigste Aufgabe, deren Bewältigung über ihr ›Gelingen‹ entscheiden wird.«30 Was Rothe offenbar nicht als seine Aufgabe ansah war, die zeitgenössische Kritik an den Erziehungsvorhaben der Gemeinschaftshausbefürworter – etwa durch Habermas und Schelsky – zu berücksichtigen, die es durchaus gab und die auch in die Öffentlichkeit getragen wurde. »Die Zeit« hatte beispielsweise im Oktober 1959 unter der Überschrift »Die Begabten unter der Käseglocke« über eine Wohnheimkonferenz des Deutschen Studentenwerks berichtet und das Bewerben der neuen Gemeinschaftshäuser mit Bildungsprogramm als falsche »›Reform der Universität‹ von hinten herum über die Wohnheime« kritisiert. Statt »den Hang zur Bequemlichkeit, die Lust am Versorgtwerden, die Bereitwilligkeit zu organisierter Gemeinschaft« der heutigen Studenten zu unterstützen, plädierte der Zeit-Redakteur dafür, einfach mehr Dozenten einzustellen, um die Betreuung in der Lehre zu verbessern.31
28 Ebd., S. 327. 29 Ebd., S. 323. 30 Ebd., S. 329. 31 Manfred Sack, Die Begabten unter der Käseglocke. Studentenwohnheime, Wunsch und Wirklichkeit – Kritische Notizen von einer Konferenz, in: Die Zeit 42 (1959), 16.10.1959.
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2.1.4 Handbuch zur Universitätsgründung Rothes Bremer Universitätsplan enthielt in weiteren Abschnitten Informationen zur Verwaltungsorganisation, zur Fächerauswahl und zu den Kosten der neuen Universität. Dabei stützte er sich bereits auf die im November 1960 – also kurz vor Fertigstellung seines eigenen Gutachtens – veröffentlichten ersten Empfehlungen des Wissenschaftsrates, der neue Universitäten ausschließlich als Vollhochschulen und nicht als Teil- oder spezialisierte Fachhochschulen gegründet sehen wollte. Nochmals mit Spranger argumentierend und dessen beratende Einflussnahme auf die Hamburger Universitätsgründung der 1910er Jahre zitierend, plädierte Rothe für die Beibehaltung der traditionellen Fakultätsstruktur gegenüber den von manchen nun vorgeschlagenen Abteilungsstrukturen nach amerikanischem Vorbild: Neben die vier klassischen Fakultäten (Theologische, Rechtwissenschaftliche, Medizinische, Philosophische) sollten als Abspaltungen der Philosophischen eine Mathematisch-naturwissenschaftliche sowie eine Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät treten.32 Zur Sonderfrage der Integration einer Technischen Fakultät hingegen, verglich Rothe die Meinungen seiner Gewährsmänner Jaspers – der diese Einbindung 1946 zur Zivilisierung der Technik gefordert hatte –, Anrich und Heimpel, und schloss die nachholende Integration der Technikwissenschaften aus finanziellen Gründen und mit Verweis auf eine seit Mitte der 1950er Jahre vom Nordrhein-Westfälischen Landtag diskutierte Neugründung einer Technischen Hochschule schließlich aus.33 Zum Aufbau des Lehrkörpers der Universität schlug Rothe ein Verfahren vor, nach dem dann auch alle Gründungsvorhaben der nächsten Jahre abliefen: »Es wird also nötig sein, zunächst einige hervorragende Gelehrte zu berufen, die mit der Konzeption der neuen Universität übereinstimmen und gewillt sind, den Universitätsaufbau in Bremen zugleich zu einem Teil ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes zu machen. Diese Professoren, die den Kern der künftigen Universität darstellen, bilden das Gremium, das dann die weiteren Berufungslisten aufstellt und nach Möglichkeit schon bei der Planung der Bauten der Universität mitwirkt.«34
Als Gesamtkosten präsentierte das Gutachten die enorme einmalige Investitionssumme von 280 Millionen DM für Grundstücke, Bauten und Erstausstattung einer neuen Universität in Bremen sowie 30 Millionen DM jährliche Personal- und Sachmittelkosten. Von den Investitionen waren immerhin rund zehn Prozent für Studentenhaus und Studentenwohnheime vorgesehen, also ein sub 32 Zur Einordnung in die langfristige Entwicklung der Fakultätenstruktur: Weber, Geschichte der europäischen Universität, S. 195 ff. 33 Jaspers, Die Idee der Universität, S. 87, sowie ders./Rossmann, Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen, S. 108–113. 34 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1945–1959, S. 476.
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stantieller Teil für die Verwirklichung der zentralen Bildungs- und Erziehungsaufgabe reserviert, die folglich nicht nur ein soziales, sondern auch ein finanziell relevantes Experiment werden würde. Nach drei Jahren Planungszeit und weiteren drei Jahren Bauzeit erwartete er erste nutzbare Bauabschnitte der neuen Universität. Das Gutachten schloß mit einer Bemerkung ab, die den Ehrgeiz der Hansestadt im Wettbewerb mit den übrigen Bundesländern wecken sollte und zugleich eine Anspielung Rothes auf den Schlüssel im Bremer Wappen war: »Bremen hat heute den Schlüssel dazu in der Hand, nicht die größte, vielleicht aber die modernste Universität Deutschlands, die neue deutsche Universität zu schaffen.«35 Insgesamt liest sich das umfangreiche Gutachten aus heutiger Sicht wie ein Handbuch zur Universitätsgründung. Rothes Modell beleuchtete alle Aspekte einer Neugründung: Inhalt, Form und Kosten. Abgesehen von diesem damals völlig neuen Grad an Konkretion war sein Gutachten fest verankert im Hochschulreformdiskurs der 1940er und 50er Jahre und folgte dem Mainstream bildungshumanistischer und konservativer Reformer und Humboldt-Exegeten wie Jaspers, Spranger, Anrich und Heimpel. Rothe kombinierte in Nachahmung der damaligen Diskussionen seine Lösungsversuche häufig mit Verweisen auf Vorbilder in der Vergangenheit und eine wiederherzustellende Tradition. So wurde die Einführung der dritten Säule Erziehung eher als Vervollständigung der frühmodernen Berliner Universität präsentiert und weniger aus den Dis kussionen der ersten Nachkriegsjahre hergeleitet. Die Erschaffung eines neuen universitären Bildungserlebnisses durch die Kombination moderner CampusAnlagen mit Kollegienhäusern wurde nach Fuchs und Killy als Revitalisierung der mittelalterlichen Universitätsgemeinschaft verpackt. Was bei Rothe hingegen keine Rolle spielte, waren neue Ansätze zur Förderung der Forschung und zum Aufbau bestimmter Fachdisziplinen, die seit Mitte der 1950er Jahre diskutiert wurden. Hier fehlten ihm offenbar Verbindungen zur Deutschen Forschungsgemeinschaft oder Hinweise auf deren entsprechende Aktivitäten. Sein Gutachten war ganz auf die Bildungs- und Erziehungsseite der Universität konzentriert. Nur wenige explizite Verweise auf zeitgenössische internationale Vorbilder finden sich in seinem Gutachten – dann vor allem in Sachen Campusplanung. Originell war Rothes ausführliche Beschäftigung mit den bis dahin häufig unterbelichteten Aspekten der Form, in die der Inhalt einer neuen Universität zu gießen sei. Und so spornte die Mischung aus den populären Forderungen nach Erziehung und der neuen Bauform die Phantasie des Bremer Senats an, etwas Relevantes und Innovatives aufbauen zu können. Dies schien der Landespolitik letztlich attraktiver als die Übernahme einer mit Problemen behafteten und von der Standesvertretung der westdeutschen Hochschulen kritisch beurteilten Einrichtung, so dass Bremen schließlich seine eigenen Gründungs 35 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 479.
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pläne verfolgte und die Nachkriegsgründung in Wilhelmshaven 1961/62 der Universität Göttingen als neue Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakul tät eingegliedert wurde. Der »Spiegel« sprach bald vom Göttinger »Triumph über eine junge Nebenbuhlerin«.36
2.2 Kollegienhäuser und eine Modelluniversität: Vorschläge des Wissenschaftsrates (1962) Als zweiter Akteur nach dem Bremer Senat legte der Wissenschaftsrat Vorschläge zu Universitätsneugründungen vor – in zwei Schritten. Wenige Wochen vor der Fertigstellung von Rothes Bremer Plan veröffentlichte das Planungsgremium im November 1960 seinen allerersten, zunächst ganz auf die bestehenden Universitäten bezogenen Plan zur Wissenschaftsförderung, der in fast drei Jahren Arbeit durch vom Bundespräsident berufene Wissenschaftler sowie von Bundes- und Länderregierungen entsandte Vertreter erstellt worden war.37 Erst in einem zweiten Schritt verständigte man sich auf Vorschläge für völlig neue, den Ausbau der bestehenden Universitäten ergänzende Institutionen, die im Mai 1962 veröffentlicht wurden. Wie hingen die Überlegungen zum Ausbau und zur Neugründung von Universitäten zusammen und auf welche Vorschläge für neue Institutionen konnten sich Wissenschaft und Politik in diesem neuen Gremium gemeinsam verständigen?
2.2.1 Vom Ausbau zum Neubau und zur Reform Um sich ein Bild von der Lage der einzelnen Hochschulen zu machen, hatte der Wissenschaftsrat, ähnlich wie die Kommission zum Blauen Gutachten, 1958 zunächst Fragebögen an die einzelnen Hochschulen geschickt. In ihnen ging es allerdings anders als 1948 weniger um den Bedarf an qualitativen Reformen, sondern um den quantitativen Ausbau von Lehrpersonal, Studienplätzen und Gebäudeinfrastruktur. Nach Anmeldung der Bedarfe folgten Ortsbesuche aller Standorte, bei denen Unterarbeitsgruppen des Wissenschaftsrats die eingesandten Ausbau- und Entwicklungspläne der Hochschulen überprüften und nach Überarbeitung dieser Wunschlisten schließlich die Erstellung eines mehr als 500 Seiten starken Ausbauplans vornahmen, der je Universitätsstandort die neu zu schaffenden Studienplätze, Stellen und Bauten auflistete. Diese Strategie eines 36 Wilhelmshaven an die Leine, in: Der Spiegel, 26.7.1961. 37 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960. Zur Entstehung der Empfehlungen von 1960 ausführlich Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 35–97 und pointierter Bartz, Der Wissenschaftsrat, S. 50–69.
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Ausbaus der bestehenden Universitäten in ihrer hergebrachten Form wurde erst wenige Monate vor Abschluss der Arbeiten an den Ausbau-Empfehlungen ergänzt, in dem die Gründung mehrerer neuer Universitäten gefordert wurde. Die Meinungsbildung des Wissenschaftsrates zu Neugründungen hatte im Sommer 1959 eingesetzt, angetrieben von unterschiedlichen Entwicklungen, die sich im Herbst 1959 verdichteten. Zunächst forderten zwei Neugründungsprojekte eine Positionierung heraus. Auf Bitten des Landes Niedersachsen musste sich die Wissenschaftliche Kommission des Wissenschaftsrates mit der Zukunft der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven beschäftigen und schlug im Oktober die bereits erwähnte Umsiedelung nach Bremen und einen Ausbau zur Volluniversität vor – de facto also eine Neugründung. Aus dieser Empfehlung resultierte die Beauftragung Hans Werner Rothes durch das Land Bremen mit dem vorgestellten Gutachten, das dieser im Laufe des Jahres 1960 verfasste, als der Wissenschaftsrat in Sachen Ausbau-Empfehlungen auf die Zielgerade einbog. Als zweites Neugründungsprojekt aus den Nachkriegsjahren erlebte auch die Idee einer europäischen Universität 1959 eine Wiederauflage. Die Anfänge dieses Vorhabens liegen bisher weitgehend im Dunkeln wie auch ihr Zusammenhang mit dem 1950 in Brügge eröffneten Collège d’Europe.38 Im Zusammenhang mit dem intensivierten Vergleich der technischen Leistungsfähigkeit von Ost und West sowie dem Ausbau europäischer Institutionen wurde seit 1955 an die ursprüngliche Idee erinnert und 1957 ging eine entsprechende Absichtserklärung in den Euratom-Vertrag ein. Walter Hallstein gehörte nach seinem Wechsel von der Universität Frankfurt ins Bundesaußenministerium und dann ins Präsidentenamt der EWG-Kommission zu den Verfechtern der Idee einer europäischen Universität und wollte damit »zu einer geistigen Erneuerung Europas« beitragen.39 Die »Frankfurter Allgemeine« berichtete über den Stand der Projektdiskussion auf europäischer Ebene im Oktober 1959: »Nach den letzten Vorstellungen der damit bisher betrauten Euratomkommission soll es sich nicht mehr um eine normale Volluniversität handeln, sondern um eine hohe Forschungsstätte für fortgeschrittene Studien- und Forschungsarbeiten, eine Graduate School etwa nach dem Muster der amerikanischen Universität Princeton. Sie soll allerdings mehr als eine atomwissenschaftliche Fachschule werden und alle Fakultäten umfassen.«40
Die Pläne lösten im Verlauf des Jahres 1959 rege Diskussionen in der Rektoren konferenz und zwischen den Wissenschaftsorganisationen aus und wurden 38 Dazu knapp Rüegg, Themen, Probleme, Erkenntnisse. Zeitgenössisch Nikuradse, Zur Idee der Europäischen Universität, sowie der Gründungsrektor des College d’Europe, Hendrik Brugmans, Probleme einer Europäischen Universität. 39 Hallstein, Die Kulturelle Einheit Europas. 40 Neue Bemühungen um die europäische Universität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1959.
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schließlich einvernehmlich abgelehnt. Erst nach sehr langwierigen Verhandlungen entstand 1976 ein Europäisches Universitätsinstitut bei Florenz (EUI), das als Kompromiss eine Art europäisches Graduiertenkolleg in den Sozialund Geisteswissenschaften beinhaltete und mit der Ursprungsidee einer europäischen Universität nicht mehr viel gemein hatte.41 Parallel zur Diskussion um die Zukunft der speziellen Hochschule in Wilhelmshaven und der europäischen Neugründungsidee im Herbst 1959 wuchs zum anderen infolge der schnell ansteigenden Studierendenzahlen der Druck auf die Politik, Lösungen für Studierende wie Lehrende zu finden, und damit auch auf den mit der planvollen Gestaltung der Wissenschaftsförderung beauftragten Wissenschaftsrat, seine ersten Empfehlungen endlich vorzulegen. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« beispielsweise schilderte am 3. September 1959 unter dem Titel »Überfüllte Universitäten« die Situation und brachte eine umfangreiche Liste der an allen Hochschulstandorten in einzelnen Fächern inzwischen verhängten Zulassungsbeschränkungen. Anfang Oktober 1959 diskutierte die Wissenschaftliche Kommission des Wissenschaftsrats erstmals über notwendige Konsequenzen dieser Überfüllung. In der gleichen Sitzung, in der man sich über die Informationslage austauschte und zur Meinung gelangte, dass die Kapazitäten der Hochschulen in den nächsten Jahren überfordert sein würden, war aus England Sir Keith Murray zu Gast. Der Vorsitzende des für die Verteilung der öffentlichen Mittel an die Universitäten zuständigen University Grants Committee berichtete den Mitgliedern des deutschen Wissenschaftsrates über Planung und Finanzierung einer Reihe neuer Universitäten in England.42 Als wenige Wochen darauf die Studie Scheidemanns aus dem Bundesinnenministerium erschien, die restriktive Zulassungsbeschränkungen und das »Herausprüfen« vieler Studierender ins Gespräch brachte, begann die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates Informationen zur Entwicklung der Studierendenzahlen in Westdeutschland und Westeuropa seit Ende des Ersten Weltkrieges zusammenzutragen und die Puzzleteile der inländischen, europäischen und englischen Neugründungsimpulse zusammenzusetzen. Die aufbereiteten Daten zeigten Anfang Februar 1960 zunächst, was Eddings Studie bereits 1958 nahegelegt hatte, dass nämlich die Zunahme der Studierendenzahlen im Einklang mit gleichartigen Entwicklungen in vielen westeuropäischen Nachbarländern lag, es also in Westdeutschland nicht zu viele Studierende, sondern zu wenig Studienplätze gab. Desweiteren offenbarte der Abgleich der prognostizierten Studierendenzahlen mit den beim Wissenschaftsrat angemel 41 Ähnlich erging es der EU-Kommission am Anfang des 21. Jahrhunderts mit ihrem Vorschlag einer europäischen Spitzenuniversität, aus der fünf Jahre nach dem ursprünglichen Vorschlag 2010 das ortsverteilte European Institute of Technology (EIT) entstand. 42 Protokoll der 11. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates am 8.10.1959 in Köln, in: AdWR.
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deten Ausbaubedarfen der einzelnen Universitäten eine auch nach dem geplanten Ausbau bis 1965 immer noch verbleibende Lücke von etwa 35.000 bis 55.000 Studienplätzen, die durch die Gründung neuer Hochschulen geschlossen werden müsse.43 Neugründungen waren also zur Befriedigung der Nachfrage nach Studienplätzen nötig, wenn man die alten Universitäten nicht über das von ihnen selbst angestrebte Maß hinaus weiter ausbauen wollte. Die Fraktion der Reformer nutzte diese Chance nun, um weitere Ziele an die Neugründungen anzuhängen. Zunächst wurde im Wissenschaftsrat eine kleine Arbeitsgruppe eingesetzt, zur der auch Ludwig Raiser gehörte, der seit dem Herbst des Vorjahres den Vorsitz der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates übernommen hatte. Raiser selbst, der im Reformdiskurs und in verschiedenen Spitzenämtern seit Kriegsende engagiert war, hatte Ende 1959 im bereits zitierten Artikel in der »Stuttgarter Zeitung« die Gründung neuer Hochschulen gefordert. Damit signalisierte er sowohl für den Bremer Plan als auch für den Anfang September 1959 verkündeten Vorschlag des Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger, eine neue Universität in Konstanz zu gründen, seine Unterstützung. Weitere vier Wochen nach der Diskussion über die entdeckte Kapazitätslücke legte die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates auf Bitten Raisers im März 1960 den Entwurf einer Plenarempfehlung zur Gründung neuer Hochschulen sowie bereits einen groben Kostenplan für ein derartiges Unterfangen vor, der von rund 250 Millionen DM Kosten je Neugründung ausging. Auch der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Helmut Coing, drängte jetzt auf eine entsprechende öffentliche Äußerung, da inzwischen Pläne für Neugründungen in Bremen, Konstanz und auch in Nordrhein-Westfalen – dort noch ohne genauen Standort – bestünden, zu denen der Wissenschaftsrat – das erschien eine Prestigefrage für das neue Gremium – sich beratend äußern müsse. Am 7. Mai 1960 fiel dann der Startschuss zur Universitätsgründerzeit der 1960er Jahre. Die Vollversammlung des Wissenschaftsrates, wie das Plenum aus Wissenschaftlicher und Verwaltungskommission genannt wurde, verabschiedete die von Raiser vorgeschlagene Stellungnahme, in der öffentlich gefordert wurde, den Ausbau der bestehenden Hochschulen mit allem Nachdruck zu fördern und zugleich die Neugründung neuer wissenschaftlicher Hochschulen vorzubereiten – rund ein halbes Jahr vor Fertigstellung des ersten Planes des Wissenschaftsrates, der noch ganz dem Ausbau des Bestehenden gewidmet sein sollte.44 Damit fiel eine Vorentscheidung zugunsten der Fraktion, die einen breiteren Zugang zur Universität befürwortete und die alte Exklusivität der höchs 43 Protokoll der 13. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates am 5.2.1960 in Köln, in: AdWR. 44 Beschluss vom 7.5.1960, abgedruckt in: Wissenschaftsrat: Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 448 ff.
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ten Bildungseinrichtung aufzugeben bereit war.45 Was die Plenarempfehlung vom Mai 1960 allerdings nicht enthielt, war die Ende 1959 von Raiser schon unterbreitete Idee, die neuen Universitäten nicht nur zur Entlastung der alten, sondern auch als neue Hochschultypen und zur Verfolgung besonderer Reformexperimente zu nutzen. Erst im Lauf der kommenden Monate – in denen Rothe in Bremen an der Fertigstellung seines Gutachtens arbeitete – sollte sich dieser Gedanke einer Verbindung von Entlastung und Reform in neuen Universitäten weiter verbreiten. Zur Verbindung von Ausbau und Reform trug neben Raiser und außerhalb des Wissenschaftsrates im ersten Halbjahr 1960 besonders effektvoll der Soziologe Eduard Baumgarten (1898–1982) bei, der die bereits vorgestellte, aus der Konferenz von Hinterzarten 1952 hervorgegangene Studie Hans Angers über die Probleme der Deutschen Universitäten begleitet hatte und ihre Ergebnisse Anfang Juli 1960 vor dem Plenum des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) vorstellte,.46 Baumgarten nutzte seine Einladung als Redner zum zehnjährigen Jubiläum des DHV, das ausgerechnet an der Nachkriegsneugründung Saarbrücken stattfand, um zum festlichen Anlass eine eher ungemütliche Stimmung zu verbreiten, indem er scharfe Kritik an der Haltung der Hochschullehrer äußerte. Die Studie Angers zeigte nach Baumgarten »die zwar erwartete, aber dann doch überraschend weit verbreitete Unzufriedenheit der Hochschullehrer mit den bestehenden Zuständen, darüber hinaus aber sehr auffällige Grade von Entschlusslosigkeit […]. Eine Gruppe nur zeigt Entschlossenheit. Das sind die, die gegen Reformen überhaupt sind.«
Baumgartens quasi empirisch fundiertes Fazit vor den versammelten Honoratioren, einschließlich des Bundespräsidenten Theodor Heuss, lautete, dass eine Modell-Universität, so wie 1809 in Berlin entworfen werden müsse.47 Humboldts Berliner Universitätsgründung war, wie sich an Baumgartens Verwendung erneut zeigte, vielseitig einsetzbar – sie eignete sich zum Plädoyer für die Bewahrung der Tradition ebenso wie als Legitimation der Modernität verheißenden Reform. Kurz nach Baumgartens öffentlichkeitswirksamem Plädoyer kam die von Raiser geleitete »Arbeitsgruppe zur Vorbereitung von Empfehlungen zur Gründung neuer Hochschulen« des Wissenschaftsrates in prominenter Besetzung erstmals zusammen. Aus der Wissenschaftlichen Kommission nahmen Coing und Raiser teil, die zugleich den Vorsitz der Kommission bzw. des Plenums 45 Im Bundesinnenministerium war man im Frühjahr 1960 noch unterschiedlicher Meinung, ob ein Neugründungsaufruf jetzt schon zum richtigen Zeitpunkt käme, wie ein entsprechender Vermerk zeigt: Bemerkungen zur Empfehlung betr. Neugründung von Hochschulen und Numerus Clausus, in: BArch B/138: 6197. 46 Baumgarten, Gedanken zur künftigen Hochschule. 47 Beide Zitate aus: ebd.
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aus beiden Kommissionen innehatten, desweiteren der Mediziner Wolfgang Bargmann (1906–1978), zuvor Rektor der Universität Kiel und Vizepräsident der DFG, der Ingenieurwissenschaftler Kurt Klöppel (1901–1985), ebenfalls Vizepräsident der DFG, sowie Carl Wurster (1900–1974), als Vorstandsvorsitzender der BASF sogenannter Vertreter des öffentlichen Lebens im Wissenschaftsrat und auch V izepräsident der Max-Planck-Gesellschaft; aus der Verwaltungskommission von Bund und Ländern nahmen die Kultusminister von Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie ein Staatssekretär aus dem Bundesinnenministerium teil.48 Für das große Interesse der Ländervertreter an dieser Arbeitsgruppe spricht die Tatsache, dass die Kultusminister bis zum Abschluss der Arbeiten im Mai 1962 fast immer persönlich an den Sitzungen teilnahmen. Angesichts des vor dem Scheitern stehenden Neugründungs experiments in Wilhelmshaven sowie den angekündigten Neugründungen in Konstanz und im Ruhrgebiet suchten die Minister den direkten Austausch über die weitere Entwicklung. Nachdem auch die Westdeutsche Rektorenkonferenz im Juli 1960 ihren Verweigerungskurs aufgegeben hatte und Neugründungen zumindest nicht mehr grundsätzlich ablehnen wollte, stieß auch ihr Präsident, der Ingenieurwissenschaftler an der TH Darmstadt, Hans Leussink (1912–2008), ab dem Folgejahr auch Mitglied des Wissenschaftsrates, zur Arbeitsgruppe hinzu.49 Bis zum Herbst 1960 war die Arbeit des Wissenschaftsrats allerdings noch ganz auf die Fertigstellung der Ausbau-Empfehlungen als erstem Plan gerichtet, so dass es nur zu ersten Erörterungen der Neugründungsfragen kam. So erklärt sich auch, dass die Empfehlungen zum Ausbau der Hochschulen vom November 1960 trotz der Plenarempfehlung vom Mai zur Befürwortung von Neugründungen lediglich einige Seiten zur »Errichtung neuer wissenschaftlicher Hochschulen« enthielten. Darin wurden Standorte für neue Universitäten im Raum München, in Norddeutschland sowie im Ruhrgebiet empfohlen – der Vorschlag Kiesingers für Konstanz wurde dagegen noch nicht aufgegriffen. In den genannten Regionen sollten in Übereinstimmung mit der Meinung der WRK »Vollhochschulen« gegründet werden. Lediglich im Fall der Medizin empfahl man mehrere neue Spezialhochschulen – Medizinische Akademien –, um schnell für ein größeres Ausbildungsangebot zu sorgen. Legitimiert wurden die geforderten Neugründungen erneut mit den steigenden Studierendenzahlen und einer Obergrenze, über die Universitäten nicht hinauswachsen sollten. Verwiesen wurde nun aber auch auf Neugründungsaktivitäten in anderen 48 Die Vertreter der Verwaltungskommission waren Staatssekretär Anders für den Bund, Kultusminister Schütz für Nordrhein-Westfalen, Kultusminister Voigt für Niedersachsen und Kultusminister Storz für Baden-Württemberg. 49 Bericht des Generalsekretärs vom 12. Juli 1960, Drucksache 139/60, Anlage zum Protokoll der 17. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates am 15. Juli 1960 in Köln, in: AdWR.
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westeuropäischen Ländern – namentlich England, Frankreich und den Niederlanden.50 Weitere Motive, mit denen für Neugründungen geworben wurde, verdankten sich einem Referat Raisers über denkbare Funktionen und Typen von Neugründungen, in dem er Anfang September 1960 vorgeschlagen hatte, neben der Entlastungsfunktion der neuen Universitäten auch eine »Pionierfunktion« zur Umsetzung verschiedener Reformvorschläge zu sehen.51 Da die Diskussion über die Merkmale der Neugründungen in der Arbeitsgruppe gerade erst begonnen hatte, fielen die Forderungen im Ausbauplan Ende 1960 aber noch entsprechend tastend und vage aus. Neben der Entlastung der bestehenden Hochschulen sah man eine Reihe ganz unterschiedlicher Motive: es »legt auch der Wunsch, die Forschungsmöglichkeiten in den Hochschulen zu erweitern, den Gedanken an eine Neugründung nahe.«52 Desweiteren werde man »auch neue Wege in der organisatorischen Zusammenfassung der Fächer und in der Gestaltung von Unterricht und Erziehung erwägen müssen.« Ferner – noch vorsichtiger ließ es sich kaum noch formulieren – »lassen sich Gedanken aus der Diskussion um die Hochschulreform erproben. Die Gründung neuer Hochschulen bietet die Gelegenheit, bei Wahrung bewährter Traditionen neue, unserer Zeit entsprechende Formen des akademischen Lebens zu schaffen.« So unterschiedlich, wie die Forderungen der Reformdiskussionen in den 1950er Jahren in Bezug auf die Bildungs-, Ausbildung- und Forschungsfunktion der Universitäten waren, so unterschiedlich waren hier die aufgezeigten denkbaren Ziele von Neugründungen. Sie reichten vom Angebot zusätzlicher Studienplätze über die Förderung der durch die Ausbildungserfordernisse zurückgedrängten Forschung, die Integration der Technikwissenschaften in die Universitäten, die Neuorganisation der Fakultäten, bis zu neuen Wohn- und Gemeinschaftsformen und wurden hier ohne Bewertung und Priorisierung einfach aufgelistet. Abgeschlossen wurde diese bunte Sammlung mit einem Konjunktiv:»Somit könnte die Gründung neuer wissenschaftlicher Hochschulen von ähnlich richtungsweisender Bedeutung sein, wie die der Universität Berlin vor 150 Jahren.«53 Gerade dieser Satz aber, der die Hoffnungen mancher Akteure im 150sten Gründungsjahr der Berliner-Universität – wie beispielsweise Baumgarten sie vor dem Deutschen Hochschulverband geäußert hatte – auf den Punkt brachte, wurde beim Redigieren der Textendfassung im Herbst 1960 gestrichen. 50 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 51 f. 51 Zum Referat Ludwig Raisers: Protokoll der 2. Sitzung der Neugründungskommission am 9.9.1960 in Frankfurt, in: BArch B247, Nr. 12. 52 Dieses und die folgenden Zitate nach Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 53 ff. 53 Anlage zum Protokoll der 8. Sitzung der Vollversammlung vom 23.9.1960: Alternativfassung zu B.IV. (Errichtung neuer wissenschaftlicher Hochschulen) des 4. Entwurfs des Gesamtberichts (Drs. 185/60), in: AdWR.
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Vor dem Wecken allzu großer Erwartungen an seine Arbeit schreckte der Wissenschaftsrat offensichtlich zurück – wie sich bald darauf zeigen würde, durchaus zu Recht. Zunächst wurde im Ausbau-Plan des Rates empfohlen, die Zahl der Professoren um etwa ein Viertel zu vergrößern und über nur fünf Jahre hinweg Bauten im Volumen von 2,6 Milliarden DM zu errichten. Diesem vorgeschlagenen Investitionsprogramm standen nach den Recherchen des Rates bereits erfolgte Bauinvestitionen der Länder von 1,5 Milliarden DM in den Jahren 1949 bis 1959 gegenüber, also eine deutlich niedrigere Summe in einem immerhin doppelt so langen Zeitraum. Diese ambitionierten Ausbauziele, die mit der ausdrücklichen Zustimmung von Bund und Ländern formuliert worden waren, verdeutlichen zugleich die neuen Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte an der Wende von den 1950er zu den 1960er Jahren. Begründet wurde der enorme Ausbau der bestehenden Hochschulen mit den Folgewirkungen mangelnder Investitionen während des Nationalsozialismus sowie der großen Kriegszerstörungen. Ein Jahr nach dem Höhepunkt der Diskussionen über die »Sturzflut der Studierenden« vertrat der Wissenschaftsrat außerdem die Empfehlung: »Die Bundesrepublik muss als ein demokratisches Gemeinwesen ihre Bildungseinrichtungen so erweitern, dass sie dem Bedürfnis aller Volksschichten nach wissenschaftlicher Ausbildung entsprechen.«54 Neben der inzwischen guten Lage der öffentlichen Kassen begann sich ein gesellschaftlicher Wandel abzuzeichnen. Die Hochschulen sollten nicht länger rein elitäre Bildungsinstitution sein.55 Das Echo auf die ersten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der Hochschulen mit ihrem kurzen Abschnitt zu Neugründungen war groß. In Universitäten und Politik herrschte Erleichterung darüber vor, dass pragmatische Vorschläge zum Umgang mit dem großen Andrang der Studierenden vorlagen. Daneben gab es aber auch kritische Stimmen, die sich nach den vorangegangenen Diskussionen seit Kriegsende umfangreiche Vorschläge zur Reform der Universitäten erhofft hatten. Eine Kommentar in der »Deutschen Universitätszeitung« urteilte über den ersten Plan des Rates unter der Überschrift »Evolution statt Revolution«: »Wer von den Empfehlungen des Wissenschaftsrates eine Stellungnahme oder ein eigenes System für eine Hochschulreform erwartet hat, wird enttäuscht sein.«56 Das Prinzip, das dem großen Plan insgesamt zugrunde lag, war, das Hochschulsystem in seiner bestehenden Form auszubauen. Einleitend wurden darum die Grundprinzipien der sogenannten Humboldtschen Universität nochmals – wie dann auch bei Rothe – ausführlich dargestellt und als bewahrungswürdig hervorgehoben. Die Konzentration auf eine personelle und bauliche Vergrößerung der Hochschulen unter weitgehender Ausblendung der vor 54 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 49. 55 Dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Fünfter Band, S. 194. 56 Evolution statt Revolution, in: Deutsche Universitätszeitung 12/1960, S. 37–42.
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angegangenen, anderthalb Jahrzehnte währenden Reformdiskussionen, wurde mit den Worten gerechtfertigt: »Er [der Wissenschaftsrat] hat nicht ein Idealbild zu entwerfen, sondern einen hier und heute gangbaren Weg zu zeigen gesucht. […] Was heute nottut ist, entschlossen zu handeln. Dafür ist jetzt die Bahn frei.«57
Verschiedenen Reformvorschlägen aus den Nachkriegsjahren, etwa das Studium nach angelsächsischem Muster in zwei Stufen zu unterteilen, besondere Einrichtungen für die Forschungsausbildung von Graduierten zu schaffen, gar die Forschung institutionell von der Lehre zu trennen, wurde im ersten Plan eine Absage erteilt. Jede derartige radikalere Reformmaßnahme hätte, so verteidigt Olaf Bartz das Gremium in seiner Studie, eine Zerstörung des erforderlichen Konsenses für den quantitativen Ausbau mit sich gebracht.58 Der Verband der Deutschen Studentenschaften bemängelte aber genau dieses Fehlen einer »Gesamtkonzeption«: »Es genügt jedoch nicht, nur den personellen und sachlichen Ausbau der Universitäten voranzutreiben, ohne dass man zugleich die Notwendigkeit der inneren Neuordnung der Hochschulen sieht.«59 Der Göttinger Historiker Alfred Heuß, der den Plan wie viele andere Wissenschaftler auch kommentierte, stellte dagegen wohlwollend fest, »einem wichtigen Prinzip vernünftigen Reformierens gemäß sind sie [die Empfehlungen, MM] auch von einem beträchtlichen Quantum gesundem Konservativismus durchdrungen«. Heuß diagnostizierte allerdings auch: »In der breiteren Öffentlichkeit haben begreiflicherweise die plastischen und damit eher ins Auge fallenden Empfehlungen das meiste Interesse gefunden. Sie betreffen die Neugründung von Hochschulen.«60 Ernst Anrich konzentrierte seine Kritik dann sogar ganz auf die von Heuß hervorgehobenen Neugründungen. Anrich hatte als durch den Aufbau der nationalsozialistischen »Reichsuniversität« Straßburg belasteter Historiker nach 1945 einen neuen Beruf suchen müssen und die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt mitgegründet, wo er unter anderem auch Schriften zur Berliner Universitätsgründung von 1809/10 und seinen daraus abgeleiteten Reformvorstellungen veröffentlichte und so zu einem der von Rothe zitierten Gralshütern der sogenannten Humboldtschen Universität wurde.61 Anrich rechnete in der »Deutschen Universitätszeitung« genau vor, wie mit dem gleichen 57 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 11. 58 Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 94. 59 Verband Deutscher Studentenschaften: Stellungnahme der 46. ordentlichen Delegiertenkonferenz, Berlin 10.12.1960, abgedruckt in: Deutsche Universitätszeitung 12 (1960), S. 28. 60 Heuß, Ein Markstein auf dem Weg zur Universitätsreform. 61 Anrich, Die Idee der Deutschen Universität, als kommentierte Sammlung der Schriften Schellings, Fichtes, Schleiermachers und von Humboldts sowie Anrich, Die Idee der deutschen Universität und die Reform, dort auch erstmals seine Forderungen zu zahlreichen Neugründungen, S. 91–104.
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Geld, das nun in den Ausbau der bestehenden Universitäten fließen sollte, stattdessen mehr als ein Dutzend neue Universitäten gegründet werden könnten, so dass im Ergebnis eine größere Zahl kleinerer Universitäten stehen würde.62 So unrealistisch sein Vorschlag war, weil inzwischen ja die Abstimmung mit den Universitäten abgeschlossen war und auch Bund und Länder dem Ausbau im Wissenschaftsrat zugestimmt hatte, zeigte Anrich doch einen grundsätzlich anderen Weg auf, der hätte beschritten werden können, wenn der Wissenschaftsrat seinen Plan zur verstärkten Wissenschaftsförderung nicht mit den bestehenden Universitäten als ersten Ansprechpartnern erarbeitet hätte. Neugründung stand bei Anrich allerdings nicht für Neufassung oder Reform, sondern für eine Rückkehr zu kleineren Institutionen der Vergangenheit, deren Anzahl zur Beibehaltung kleiner Gesamtgrößen dann eben erhöht werden musste. Die Aufmerksamkeit für das, was vom Wissenschaftsrat im Anschluss an seinen ersten Plan zum Ausbau der Universitäten ab Ende 1960 dann an inhaltlichen Vorschlägen für neue und neuartige Universitäten entwickelt werden würde, war groß, die Erwartungen sehr unterschiedlich und der Zeitdruck spürbar, da einige Länder ja entsprechende Vorhaben bereits angekündigt hatten. Der Weg der bislang verfolgt worden war, nämlich die Diskussion struktureller Fragen weitgehend zurückzustellen, um quantitative Engpässe zu lösen, führte bei dieser Aufgabe nicht mehr weiter. Statt Wünsche für ein Mehr an Stellen, Studienplätzen und Gebäuden abzustimmen, galt es nun, neue Konzepte zu entwickeln oder jedenfalls in die Diskussion schon eingebrachte Vorschläge zu bewerten. Noch am selben Tag, an dem der Ausbauplan dem Bundespräsidenten im November 1960 feierlich überreicht wurde, traf sich die Arbeitsgruppe Neugründungen, um sich zu beraten. Nordrhein-Westfalen war sich seiner seit Kriegsende in Abständen immer wieder aufkommenden Gründungsabsicht in Bochum oder Dortmund inzwischen so sicher, dass der Minister in der Sitzung bereits ganz praktische Gesichtspunkte diskutieren wollte. Dazu gehörten seine Fragen, ob eine Universität nun durch Gesetz oder durch Kabinettsbeschluss gegründet werden sollen, ob eine bestehende Universität die Patenschaft über die neue übernehmen solle – wie etwa Nancy Ende der 1940er für Saarbrücken – und wie und durch wen die Berufung des ersten Lehrkörpers ablaufen solle.63 Schütz suchte in diesen Fragen den direkten Austausch mit den Wissenschaftlern, die zumeist auch Funktionäre der verschiedenen Selbstverwaltungsorganisationen waren. So riet Coing Schütz, auf Patenschaften zu verzichten, da eine einzige führende Universität – wie es seines Erachtens früher die Berliner Uni 62 Anrich, Nicht 4 sondern 14 Universitäten. 63 Kurzreferat gehalten von Herrn Minister Schütz über Verfahrensfragen bei der Neugründung von Hochschulen vor dem Gründungsausschuss des Wissenschaftsrates am 25.11.1960 in Köln, Drucksache 187/60, in: BArch B/247, Nr. 12.
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versität gewesen sei – heute nicht mehr vorhanden wäre. Das Protokoll der Sitzung vermerkt ferner: »Der Ausschuss war sich einig, dass eine Beteiligung von Studenten – die bei der Gründung der Freien Universität Berlin aus der damaligen besonderen Situation heraus zu erklären sei – nicht erfolgen solle.«64 Genau diese Beteiligung forderte der Verband der Deutschen Studentenschaften allerdings wenig später öffentlich ein. Neben der Erörterung dieser praktischen Fragen, die im weiteren Verlauf in den Hintergrund rücken sollten, beschloss man Unterausschüsse einzusetzen: Zur Integration von Ingenieurwissenschaften in die Universitäten, zu Medizinischen Akademien sowie zu Colleges an neuen Universitäten. Ferner diskutierte man Raisers Überlegungen für eine »Studienhochschule«, mit der ein neuer Hochschultyp Graduierten-Hochschule gemeint war, wie er seit 1947 durch die westdeutsche Hochschullandschaft geisterte. Ein entsprechender vierter Unterausschuss wurde aber erst später eingesetzt.65
2.2.2 Kollegienhäuser statt Colleges Im ersten Halbjahr 1961 entwickelte zunächst der Unterausschuss Colleges unter dem Vorsitz Raisers seine Vorschläge.66 Raiser, der in seiner Göttinger Zeit selbst mit Experimenten neuer Gemeinschaftshäuser befasst gewesen war, zog für die Beratungen externe Sachverständige hinzu. Zu diesen gehörten erstens der seit Anfang der 1950er Jahre auch als Wohnheimbeauftragter der Westdeutschen Rektorenkonferenz tätige Historiker Walther Peter Fuchs (1905–1997), der in Fragen studentischen Wohnens und Gemeinschaftslebens zeitgenössisch bekannteste Akteur, zweitens der Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und Mediziner Emil Lehnartz (1898–1979), zudem wie R aiser ein Mitglied der Hofgeismarer Kreises, drittens der Pädagoge Hans Wenke (1903–1971), ein Schüler Eduard Sprangers, in den frühen 1950er Jahren zunächst Rektor der Universität Tübingen, anschließend einige Jahre Senator für das Hamburger Bildungswesen und zu diesem Zeitpunkt wohl schon designierter Gründungsrektor der neuen Universität in Bochum, sowie viertens dessen junger, eben erst berufener Hamburger Kollege, der Amerikanist Rudolf Haas (1922–2004). 64 Protokoll der 4. Sitzung des Neugründungsausschusses am 25.11.1960 in Köln, in: BArch B/247, Nr. 12. 65 Die Ausschüsse zu den Ingenieurwissenschaften und den Medizinischen Akademien werden im Folgenden nicht weiter behandelt, da sie für das hier untersuchte Thema nicht zentral sind. 66 Überliefert sind lediglich die Protokolle der Ausschusssitzungen und verschiedene Fassungen des Textentwurfs, nicht aber weitere Materialien. Unterausschuss »College-Fragen«. Protokoll der 1. Sitzung des Unterausschuss »College-Fragen« am 11.2.1961 in Köln, in: BArch B/247: Nr. 17.
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Diese kleine Gruppe unternahm nun einen weiteren Anlauf, neben Forschung und Ausbildung die Bildung und Erziehung in Verbindung mit neuen Wohn- und Gemeinschaftsformen als dritte Funktion der Universität in der Bundesrepublik zu etablieren, wobei ihre Beratungen anfangs offenbar noch in Unkenntnis der Vorschläge Rothes für Bremen erfolgten, die dem dortigen Senat seit Dezember 1960 vorlagen, aber erst etwas später auch veröffentlicht wurden. Zu Beginn der Diskussionen schilderte Fuchs seine Erfahrungen aus dem letzten Jahrzehnt und bilanzierte die Entwicklung in Westdeutschland, nach der die Hochschulen sich mit Fragen des studentischen Lebens höchstens planerisch in Sachen Unterkunftsbau, aber in der Regel nicht inhaltlich beschäftigten. Auch das Interesse der Wissenschaftler sei insgesamt gering, nicht zuletzt weil entsprechendes pädagogisches Engagement bei Berufungen nicht honoriert würde. Empirisch war das spärliche Interesse der Wissenschaftler seit Angers 1960 publizierter und von Baumgarten beworbener Studie ja auch belegt. Neben Fuchs’ Bericht erhielt die Gruppe allerdings keine Zusammenstellung von Informationen zur Entwicklung der studentischen Wohnsituation in den Nachkriegsjahren, obwohl seit der ersten Sozialerhebung des 1950 gegründeten Studentenwerkes durchaus fundierte Informationen vorhanden waren. Gut die Hälfte der Studenten wohnte in den 1950er Jahren zur Untermiete und etwa ein Drittel weiterhin zu Hause. Der verbleibende Teil kam größtenteils in Wohnheimen der Universitäten, der Studentengemeinenden oder freier Träger unter, was eine Neuerung der Nachkriegszeit darstellte.67 Öffentlich geförderten Wohnheimbau hatte es vorher in Deutschland nicht gegeben, da soziale Aspekte des Studentenlebens von Universitäten und Kultusministerien zuvor nicht berücksichtigt wurden. Die neu entstandenen Wohnheime boten allerdings zum allergrößten Teil, anders als Fuchs und seine Mitstreiter befürworteten, einfach eine Unterkunft, nicht aber ein Lernprogramm oder einer Gemeinschaft von Studierenden und Lehrenden unter einem Dach. Der Ausbau der Wohnheimplätze, der im Einklang mit dem Ausbau des Sozialstaates in den Nachkriegsjahren einsetzte, wurde durch das Deutsche Studentenwerk begleitet, das entsprechende Mittel aus dem ebenfalls Anfang der 1950er Jahre aufgelegten Bundesjugendplan vergab.68 Bereits über 80 öffentlich geförderte Wohnheime waren in der Bundesrepublik bis Anfang der 1950er Jahre gebaut worden und bis Ende der 1950er Jahre folgten auch aus Mitteln des Bundesjugendplans über 150 weitere.69 67 Daten zu den Studentischen Wohnverhältnissen wurden in der ersten Sozialerhebung von 1952 noch nicht ermittelt, danach aber regelmäßig. Die oben genannten Angaben nach Deutsches Studentenwerk, Das soziale Bild der Studierendenschaft, S. 73 ff. 68 Zur Rolle des Studentenwerks bei der Förderung von Wohnheimen und Kollegienhäusern in den 1950er Jahren ausführlich Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus, S. 221 ff. 69 Zahlen nach Muthesius, The Postwar University, S. 210 ff.
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Wissenschaftliche Politikberatung im heutigen Sinne war die Arbeit des College-Ausschusses nicht, denn egal ob mit Blick auf die Wohnsituation im Inland oder Entwicklung im Ausland stützte sich der Unterausschuss nirgends auf sorgfältig aufbereitete entsprechende Informationen, sondern lediglich auf mündliche Berichte seiner Mitglieder. Der Generalsekretär des Wissenschaftsrates wusste von den Planungen sieben neuer Universitäten in England mit jeweils 3.000 Studienplätzen zu berichten, bei denen zwei Drittel der Studierenden in Wohnheimen untergebracht werden sollten. An der 1949 gegründeten Universität in Keele würden sogar alle Studierenden zugleich auch wohnen. Haas berichtete ergänzend aus den Vereinigten Staaten, wo die Wohnheimverhältnisse vielfältig seien, »überwiegend jedoch eine starke Reglementierung des Lebens zu bemerken« sei, ein »hochentwickelter Sportkult« und das »Prinzip der offenen Tür« zur Förderung der Kontaktfähigkeit. Insgesamt erwecken die Sitzungsprotokolle den Eindruck, dass das englische Vorbild stärker rezipiert wurde als das US-amerikanische. Auch der Präsident des DAAD riet dazu, junge Dozenten weitere Erfahrungen in England sammeln zu lassen, allerdings mit einer hinsichtlich des denkbaren Vorbildtransfers bemerkenswerten Einschränkung: »Dabei soll ihnen von vornherein gesagt werden, dass nicht die Schaffung von Kopien beabsichtigt sei, sondern nur Anregungen gewonnen werden sollen.« Fuchs dagegen empfahl in der zweiten Sitzung, in Übereinstimmung mit seiner bisherigen Linie, eher die Kontinuität zu früheren kontinentaleuropäischen Traditionen herauszustellen und »das englische Vorbild nicht zu sehr zu betonen«.70 Haas ergänzte bei dieser Gelegenheit seine erste Beschreibung des amerikanischen Prinzips der offenen Tür und bezeichnete dieses nun als »pädagogischen Exhibitionismus«. Ganz offenbar herrschte eine Scheu vor, Inspirationsquellen aus dem Ausland offen zu benennen und so vielleicht einen Transfer bestimmter Modelle vorgeworfen zu bekommen. Zwei weitere bemerkenswerte Diskussionspunkte neben der Einordnung der angelsächsischen Vorbilder und der Gewinnung und Schulung von Tutoren waren die Frage der Freiwilligkeit des Wohnens und der Geschlechtertrennung. Nachdem anfangs Einigkeit darüber bestand, dass die Studierenden in den ersten Semestern verpflichtend im Wohnheim leben sollten, änderte sich das Meinungsbild in den nächsten Sitzungen. Während der Generalsekretär nun warnte, »ein mit Zwang verbundenes soziales Experiment sei ernsten Gefahren ausgesetzt«, sah Wenke Probleme nur für den Fall, dass das Collegesystem an allen Universitäten verpflichtend gestellt würde: »Es müsse den Studenten klargemacht werden, dass es sich [bei den Neugründungen, MM] um eine Universität mit bestimmtem neuen Stil handele, zu der das College als Teilform
70 Protokoll der 2. Sitzung des Unterausschuss »College-Fragen« am 4.5.1961 in Frankfurt, in: BArch B/247: Nr. 17.
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gehöre.«71 Dieser Dissens wurde, ebenso wie die Uneinigkeit über das Festhalten an der Geschlechtertrennung, bis zum Ende der Arbeiten nicht aufgelöst. Das Konzept, das im Anschluss an die ersten beiden Ausschussberatungen ab Frühsommer 1961 in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates aufgeschrieben wurde und aus den vorangegangenen Diskussionen einen rote Faden herauszuarbeiten versuchte, erhielt schließlich den Titel »Einrichtung von Kollegienhäusern an wissenschaftlichen Hochschulen«. Dieser Titel war enger gefasst als der ursprüngliche Name des Unterausschusses selbst, der mit »College-Fragen« betitelt war. Dass der umfangreichere Begriff College, der nach angelsächsischem Vorbild auch soziale, sportliche und musische Aktivitäten als Teil des Gemeinschaftserlebnisses und der Erziehung durch Interaktion der Studierenden beinhaltete, zugunsten der vorrangigen Behandlung der Wohn- und Betreuungsformen vernachlässigt wurde, spiegelt auch die Beratungen des Ausschusses wider. Sie hatten keine detaillierte Bestandsaufnahme englischer oder amerikanischer College-Typen zum Gegenstand gehabt bzw. diese, wie oben erwähnt, sogar abgelehnt. Bis es an die konkrete Formulierung ging, lag dem Ausschuss das Rothe-Gutachten für die Campusuniversität in Bremen mit der Betonung des gemeinsamen Lebens und Arbeitens vor, auf das man keinen direkten Bezug nehmen wollte. Dennoch machte der Kollegienhausplan des Wissenschaftsrates sich Rothes Forderungen in großen Teilen zu Eigen und übertraf sie sogar. Gemeinsam war beiden Schriften zudem, dass sie den College-Begriff vermieden und so einen möglichen anglo-amerikanischen Einfluss von sich wiesen. Was war nun das Ergebnis, auf das man sich hatte einigen können? Was der Studierende von heute benötige und in den Kollegienhäusern erhalten könne, sei eine bessere Einführung in das Studium und das gesamte Hochschulleben. Worauf die Einleitung bemerkenswerterweise verzichtete, war ein Rückblick auf die diesbezüglichen Reformversuche seit 1945. In einer ersten Textfassung war noch auf den Beginn des westdeutschen Wohnheimbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, die frühen Versuche mit besonderen Wohnformen wie etwa am Leibniz-Kolleg in Tübingen und ihre Komplementarität zu den Absichten eines Studium generale verwiesen worden.72 Dass diese Experimente der Nachkriegszeit letztlich nicht mehr als Bezugspunkt herausgestellt wurden, legt eine Verschiebung der Motive für die neuen Kollegienhäuser nahe. Der Umgang mit den anwachsenden Studierendenzahlen und die Gliederung der »Massen« in überschaubare Gruppen, wie sie 1958 auch im sogenannten Düsseldorfer Wohnheimplan des Deutschen Studentenwerks vorgeschlagen worden war, wurde nun wichtiger als das früher geforderte »Demokratieeinüben«. Ebenfalls nicht 71 Ebd. 72 Die Aufgaben der Studentenwohnheime in der Hochschule, 10.11.1961, Drucksache 347/61, in: BArch B/247, Nr. 17.
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mehr aufgenommen wurde das nach 1945 häufig betonte Motiv, eine Alternative zu den konservativen studentischen Verbindungen bieten zu wollen. Die Kollegienhäuser sollten nach dem Wunsch des Wissenschaftsrates zunächst an den neuen Universitäten entstehen und erprobt werden, dort einen festen Platz in der Konzeption der Universität erhalten und »zum Mittelpunkt der akademischen Studien- und Lebensgemeinschaft werden«.73 Als Bewohner wurde der Student der Anfangssemester vorgesehen, der »mit jungen Wissenschaftlern als seinen Tutoren zusammen unter einem Dach wohnt«.74 Das bisherige Bewohnen einer »Bude«, also eines Zimmers zur Untermiete, werde irrtümlich als charakteristischer Teil der akademischen Freiheit verstanden. Wer aber stattdessen am Anfang seines Studiums im Kollegienhaus gewohnt habe, so die Annahme des Ausschusses, sei ein für allemal für die akademische Gemeinschaft der Hochschule gewonnen. Wie bei Rothe wurden Richtzahlen von 80–120 Studierenden je Kollegienhaus und eine baulich lockere Anlage empfohlen. Jede Gruppe von drei bis vier Häusern benötige einen »Kollegienleiter« nach Art des »Warden« an englischen Universitäten, einen »Protektor« je Haus und einen Tutor für je 20 Studierende. Der Kollegienleiter solle ein Lehrstuhlinhaber sein und gemeinsam mit Protektoren und Tutoren ein Unterrichtsprogramm für die Häuser ausarbeiten, mit Hilfe dessen die Studierenden dem Lehrprogramm der Fakultäten besser folgen könnten. Das Lehrelement in den Kollegienhäusern war ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Plan des Wissenschaftsrates und jenem für Bremen. Rothe hatte nur für Arbeitsgemeinschaften in den Kollegienhäusern geworben, deren Themen die Studenten selbst bestimmen sollten und die von den Tutoren dann geleitet würden. Der Wissenschaftsrat versuchte dagegen erneut – wie einige der Gemeinschaftshausexperimente nach 1945 – allgemeinbildende und auf die wissenschaftliche Ausbildung vorbereitende Elemente in die Wohnheime zu integrieren und damit angenommene Wissenslücken der Abiturienten zu kompensieren. Wer für die Tutorentätigkeit in Betracht komme und wie ihre Ausbildung genau ablaufen solle, war die daraus folgende, wesentliche praktische Frage, auf die allerdings keine präzise Antwort gegeben wurde. Ausführlich nahm das Konzept Bezug auf die Frage von Zwang oder Freiwilligkeit des Wohnens in den Kollegienhäusern. Wie schon Rothe im Bremer Gutachten, ging auch der Wissenschaftsrat davon aus, dass der Vorschlag der obligatorischen Unterbringung der Studierenden nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen würde. Dennoch warb man stärker für eine Wohnverpflichtung als Rothe. Ein intensiveres Hochschulleben und das Studium in einer »die ganze Person einbeziehenden Bildungszeit« würde die Studenten – so die paternalis 73 Wissenschaftsrat, Anregungen, nach: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 64. 74 Ebd., S. 65.
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tische Argumentation – sicher bald einsehen lassen, dass die strenge Form dem Ertrag des Studiums zugutekomme. Gleichwohl blieb der Ausschuss letztlich gespalten, was das Verhältnis von Zwang und Freiwilligkeit des empfohlenen Experimentes betraf. Das Potential des Widerstandes gegen eine allgemein geforderte obligatorische Unterbringung wurde zumindest vom Ausschussvorsitzenden als so groß eingeschätzt, dass es die Einrichtung von Kollegienhäusern überhaupt gefährden könnte, womit Raiser – wie sich sehr bald zeigen sollte – richtig lag.75 Kein Einvernehmen wurde auch über das Ausmaß an Praxis ganz anderer Art beim »Erlernen des Lebens in einer Gemeinschaft« erlangt – nämlich in den Vorgaben zum Zusammenwohnen von Studentinnen und Studenten. Während die eine Hälfte des Kollegienhaus-Ausschusses die Meinung vertrat, dass das Zusammenwohnen beider Geschlechter »eine psychologische Belastung mit sich bringen kann, die unnötig und störend ist«, vertrat die andere Hälfte die Ansicht, dass »die Anwesenheit von Studentinnen sich positiv auf die Atmosphäre auswirkt« und eine Trennung »den in unserer Zeit unbefangener gewordenen Lebensformen der jungen Generation zuwiderzulaufen [scheine]«.76 Wenngleich die Frage der gemeinsamen Unterbringungen der Geschlechter nur ein Nebenaspekt war, ist der Umgang mit den unterschiedlichen Auffassungen zu Wohnzwang und Koedukation deshalb interessant, weil er die Grenzen der frühen Konzeptentwicklung im Wissenschaftsrat offenbart. Wo erhebliche Meinungsunterschiede bestanden, wurden beide Positionen damals einfach gegenüberbzw. nebeneinander gestellt.77 Der Kollegienhausplan des Wissenschaftsrates endete mit einem Appell an die Hochschulen, guten Willen zu zeigen und entschlossen die Umsetzung der Kollegienhaus-Vorschläge anzugehen, um die Universität als Gemeinschaft der Lehrenden und der Lernenden zu retten.78 Dieser Verweis auf guten Willen und Entschlossenheit als Erfolgsgaranten war rührend idealistisch. Die auf wenigen Seiten ausgebreiteten Vorschläge des Kollegienhausplanes hätten wahrscheinlich das größte soziale Experiment in der jüngeren deutschen Hochschulgeschichte bedeutet und ließen doch so viele Detailfragen offen. Konnte ein derart umfangreiches Reformexperiment tatsächlich von einer so schmalen Informationsbasis aus in die Umsetzung gehen? Dazu kam, dass die Vorschläge des Kollegienhausplanes – mit Ausnahme der Frage einer Wohnverpflichtung – im Plenum des Wissenschaftsrates nicht einmal ernsthaft diskutiert worden 75 Ludwig Raiser in der 8. Sitzung des Neugründungsausschusses, vgl. Protokoll vom 18.11.1961, in: BArch B/247, Nr. 12: Ausschuss zur Vorbereitung von Empfehlungen zur Gründung neuer Hochschulen. 76 Wissenschaftsrat, Anregungen, nach WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 70 f. 77 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 69 ff. 78 Ebd., S. 70.
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waren. Dabei hatte im September 1960 die Kultusminister-Konferenz eine Empfehlung zum Bau von Wohnheimen gegeben und darin deutlich festgehalten: »In den Studentenwohnheimen sollte nicht ein Zwang zur Gemeinschaftsbildung in Erscheinung treten, das Wohnheim sollte lediglich Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung bieten. Es kann nicht Hauptzweck eines Wohnheims sein, dem Studenten im Wohnheim eine fachwissenschaftliche Ausbildung zu vermitteln […] oder dort in der Gemeinschaft ein studium generale im engeren Sinne zu betreiben.«79
Fuchs hatte dieser Empfehlung im Mai 1961 in einem offenen Brief vehement widersprochen. Auf diese vorangegangene Auseinandersetzung, die die KMK aber nicht zu einer Kurskorrektur veranlasst hatte, verwies nun allerdings niemand mehr. Das schien die Ausgangssituation für eine erfolgreiche Umsetzung des Kollegienhaus-Planes nicht direkt zu verbessern.80
2.2.3 Entwicklung einer »Modelluniversität« Der Kollegienhausplan des Wissenschaftsrates war Ende 1961 fertiggestellt worden. Dennoch dauerte es noch einige Monate, bis er veröffentlicht wurde. Zunächst galt es, die übrigen Unterausschüsse in Sachen Neugründungsempfehlungen zu einem Ergebnis zu führen. Der zweite dieser vier Unterausschüsse, der hier von Interesse ist, hatte die »Organisation neuer Hochschulen« zum Thema.81 Raiser, der seit Anfang des Jahres in Nachfolge Coings auch Vorsitzender des gesamten Gremiums Wissenschaftsrat war, erreichte die Einsetzung dieses Unterausschusses erst in der sechsten von insgesamt neun Ausschusssitzungen am 8. Juni 1961, als die Arbeiten der übrigen drei Unterausschüsse bereits weit fortgeschritten waren. Fünf Tage zuvor hatte sich auf Initiative des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft ein kleiner Personenkreis zur Diskussion der weiteren Schritte nach der Veröffentlichung des ersten Wissenschaftsratsplanes zum Hochschulausbau getroffen. Raiser erläuterte vor den versammelten Vertretern von Industrie, Politik und Wissenschaft seine mit den Neugründungen verbundenen Intentionen, die in den Ausschussarbeiten bislang aber noch keinen Niederschlag gefunden hatten. Sie folgten aber dem gleichen Muster wie 79 Empfehlung zum Bau von Wohnheimen für Studierende an wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik, Beschluss der Kultusminister-Konferenz vom 29./30. September 1960, abgedruckt in: WRK, Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Stück 262/1961, S. 123 f. 80 Schreiben von Fuchs als Vorsitzendem der Wohnheimkommission der WRK an die Kultusministerkonferenz vom 31. Mai 1961, abgedruckt in: WRK, Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Stück 269/1961, S. 128 f. 81 Unterausschuss »Organisation neuer Hochschulen«, in: BArch B/247, Nr. 14.
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Hallsteins Vorschlag, den dieser zwei Jahre zuvor in der »Deutschen Universitätszeitung« publiziert hatte: »An den bestehenden Hochschulen sind alt hergebrachte Traditionen mächtiger als der gute Wille einzelner. Wir haben deshalb vor, die geplanten internen Reformen zunächst an zwei oder drei der neu zu gründenden Hochschulen durchzuführen. Dabei könnte man jüngere Kräfte verwenden, die bereit sind, bei einem Neuanfang mitzuwirken. […] Man könnte dann sehen, wie sich die neuen und die alten Hochschulen in einem Zeitraum von etwa zehn Jahren nebeneinander entwickeln und gegebenenfalls von da aus zu einer Reform auch der vorhandenen Universitäten gelangen.«82
Neben verschiedenen Wissenschaftlern, die die Ausbau-Empfehlungen bereits öffentlich kommentiert hatten, wie Alfred Heuß, Ernst Anrich und Eduard Baumgarten, nahm auch der Soziologe Helmut Schelsky an dem von BDI und Stifterverband initiierten Treffen teil. Er begrüßte zunächst den Ansatz der Ausbau-Empfehlungen, auf eine globale Hochschulreform zu verzichten, als pragmatisch, sah in den Ausbau-Empfehlungen aber dennoch nur einen ersten Schritt, weil die Herausforderungen auf den Gebieten von Forschung und Bildung noch nicht bearbeitet seien – den entstehenden Kollegienhausplan konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen. Explizit skeptisch äußerte sich Schelsky aber dann in Bezug auf Raisers Neugründungsideen und stellte fest, dass er »die Hoffnung auf die neuen Hochschulen nicht teilen kann. Das liegt daran, dass man alle drei Probleme, die Reform von Lehre, Forschung und Bildung sowie die Entlastung der alten Universitäten, plötzlich den neuen Hochschulen zuschieben will. Damit vervielfacht man nur die Probleme der alten Universitäten in der Gründung der neuen. Dazu kommt, dass bis auf einige Experimentiergedanken eine wirkliche Konzeption der neuen Hochschulen nicht existiert.«83
Schelskys Kritik richtete sich also darauf, dass die Erwartungen an die Universitätsneugründungen über den quantitativen Entlastungsaspekt hinausge wachsen waren, und markierte die Leerstelle einer schlüssigen Neugründungs konzeption. Kurz nach dem Treffen im Juni 1961 versuchte sich Raiser erneut an einer Konzeption, und Schelsky bald auch, zunächst in einem Buch und konkret dann im Zusammenhang mit der Neugründung in Bielefeld. Raiser konnte an seine im September 1960 im Neugründungsausschuss erstmals vorgetragene Idee einer »Studienhochschule« anknüpfen, auf deren Diskussion auch die Bemerkung in der kurzen Neugründungs-Passage der Ausbau-Empfehlungen vom November 1960 zurückging, dass nämlich der Wissenschaftsrat im Zuge der weiteren Arbeiten prüfen werde, »ob eine wissenschaftliche Einrichtung mit Hochschulcha 82 Als wörtliches Protokoll des Treffens: Die Aktivierung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates, S. 26. 83 Ebd., S. 34 f.
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rakter geschaffen werden kann, die unter Verzicht auf eine große Studentenzahl ihren Schwerpunkt in der Forschung und in der Ausbildung wissenschaftlich fortgeschrittener Studenten hat«.84 Die zurückhaltende Formulierung verdankte sich dem Widerspruch, in dem diese Überlegung einer Graduierten- oder Forschungshochschule zur an gleicher Stelle im Ausbauplan publizierten Forderung des Rates stand, die Ausbildung von hochbegabten und durchschnittlich begabten Studenten nicht institutionell zu trennen, um nicht dadurch vom Dogma der Einheit von Forschung und Lehre abzuweichen.85 Raiser Idee hatte aber vielmehr den Versuch zum Ziel, »die traditionelle Gestalt unserer Hochschulen durch einen neuen Hochschultyp zu ergänzen, in dem den heutigen Bedürfnissen von Forschung und Lehre unter günstigeren Bedingungen als dort Rechnung getragen werden kann«.86 Er bezog seine Idee nicht auf Karsens Projekt einer Forschungshochschule in Berlin, sondern stellte eine Verbindung zu den von ihm und weiteren Mitstreitern im Hofgeismarer Kreises entwickelten Vorschlägen einer Zweiteilung des Studiums her. Mit diesem Vorschlag hatte R aiser sich 1959 im Wissenschaftsrat nicht durchsetzen können, erinnerte nun aber daran, dass ein derartiger »Systemwechsel« für die Zukunft nicht ausgeschlossen sei, was es erlaube, »bei einem neuen Hochschultyp schon jetzt einige Schritte in diese Richtung zu gehen«. Strukturbestimmendes Element seines neuen Hochschultyps sollte eine Mittellage zwischen Voll- und Spezialhochschule sein, d. h. eine Auswahl an Fächern, die Aufnahme von Studenten mit einer abgeschlossenen Grundausbildung und eine Gruppe von »Trägerkörperschaften«, also »normaler« Hochschulen, die diese Studienhochschule gemeinsam tragen würden – beispielsweise in Baden-Württemberg. Die Reaktionen auf Raisers Vorstoß im Neugründungsausschuss waren im Herbst 1960 eher ablehnend ausgefallen. Aus Anlass der mit Unterzeichnung des Euratom-Vertrages nochmals intensiver diskutierten Gründungspläne einer europäischen Spitzenhochschule wiederholte der WRK-Präsident Leussink seine zuvor bereits formulierte Position: »vermieden werden müsste jedenfalls, dass zwei Arten von Hochschulen mit verschiedenem Rang entstünden«, und auch der niedersächsische Kultusminister Voigt sah die Gefahr, »dass sich die bestehenden Hochschulen zu Provinzhochschulen degradiert fühlen könnten«.87 Coing schlug als Kompromiss vor, sich zunächst einmal mit dem Institute for Advanced Studies Princeton in den Vereinigten Staaten und dem Modell der Grande École in Frankreich zu beschäftigen. Die erneute Diskussion von Raisers Skizze in der Wissenschaftlichen Kommission am 5. Januar 1961 erbrachte auch kein anderes 84 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, Teil I, 1960, S. 55. 85 Ebd., S. 37 ff. 86 Modellskizze für eine Studienhochschule, 6.10.1960, Drucksache 182/60, in: BArch B/247, Nr. 14. 87 Protokoll der 4. Sitzung des Neugründungsausschusses am 25.11.1960 in Köln, in: BArch B/247, Nr. 12.
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Ergebnis, so dass seine Ideen bis zum Sommer 1961 zurückgestellt wurden. Die Wiederaufnahme verdankte sich dann wohl einem Bündel von aktuellen Entwicklungen: Der Plan für die Struktur einer Bremer Universität war Anfang 1961 veröffentlicht worden, die Neugründung in Bochum nahm allmählich Form an und auch im Kultusministerium Baden-Württembergs setzte man sich anderthalb Jahre nach der von Ministerpräsident Kiesinger angekündigten Universitätsneugründung in Konstanz allmählich mit möglichen Folgen auseinander. So arbeitete in den Monaten August bis Oktober 1961 unter Raisers Vorsitz eine kleine, aber hochrangige Gruppe an der Überarbeitung von Raisers ursprünglichem Konzept. Dazu zählten zunächst Gerhard Hess und Gerd Tellenbach. Beide hatten schon diverse hochschulpolitische Ämter innegehabt, unter anderem waren sie in den 1950er Jahren Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz gewesen, Hess nun Nachfolger Raisers als DFG-Präsident. Dazu kam als vierter, wie mit Haas in der Unterarbeitsgruppe zu Kollegienhäusern, ein wesentlich jüngerer Wissenschaftler, nämlich der Soziologe Ralf Dahrendorf (1929–2009), der – wie Raiser – seit dem Vorjahr in Tübingen eine Professur innehatte.88 Dahrendorf konnte mit seinen 32 Jahren bereits eine Menge unter schiedlicher Perspektiven einbringen. Er hatte nach dem Studium in Hamburg, wo er auch beim in Hochschulreformfragen seit Kriegsende engagierten und in der Kommission zum Blauen Gutachten mitwirkenden Gräzisten Bruno Snell studiert hatte, ein zweites Mal in an der London School of Economics promoviert und 1957 ein Jahr am kurz zuvor erst gegründeten Center for Advanced Study in Palo Alto (USA) verbracht, also Erfahrungen sowohl in England als auch den USA gesammelt. Dahrendorf war mit der Situation von Neugründungen außerdem dadurch vertraut, dass er zwei Gründungen der 1940er Jahre von innen kannte, nämlich die Universität des Saarlandes in Saarbrücken, wo er sich 1957 habilitiert hatte, sowie die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft, an die er 1958 seinen ersten Ruf erhalten hatte. Für Dahrendorf bildete die Mitarbeit in diesem Unterausschuss des Wissenschaftsrates den Auftakt zu zahlreichen planerischen und publizistischen Aktivitäten in den folgenden Jahren.89 Dieser Gruppe baden-württembergischer Professoren legte Raiser seine Modellskizze vom Oktober 1960 nochmals vor, allerdings nun zusammen mit einem kurzen Abriss über die neue Universität in Sussex, der ersten der sieben Neugründungen, die in England seit Mitte der 1950er Jahre im Anschluss an die erste Neu 88 Weitere unregelmäßige Teilnehmer waren der Chemieprofessor Otto Westphal (1913– 2004) von der Universität Freiburg, der Genetiker Max Delbrück (1906–1981), der Anfang der 1960er Jahre als Gastprofessor in Köln arbeitete und sich später beratend an der Konstanzer Gründung beteiligte sowie der Ingenieur Kurt Klöppel (1901–1985) von der TH Darmstadt. 89 Dahrendorf veröffentlichte nach seiner Arbeit im Unterausschuss des Wissenschaftsrates zur Organisation neuer Hochschulen seinen ersten von vielen weiteren Beiträgen zum Thema der Hochschulreform in der von ihm 1960 mit gegründeten neuen Zeitschrift »Europäisches Archiv« für Soziologie: Dahrendorf, Starre und Offenheit.
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gründung in Keele verfolgt wurden. In der Sitzung erläuterte Raiser seine Idee vom Vorjahr und verortete sie im Spektrum der aus seiner Sicht vorhandenen Typen institutioneller Vorschläge zur Hochschulreform. Es gebe solche zur Lösung des Massenproblems, wie die zur Zweistufung des Studiums, zweitens solche zur Ausbildung von Elite-Nachwuchs, zu denen er seine Studienhochschule zählte, und drittens Teilhochschulen mit einer Auswahl an Fächern, wie sie die von der WRK behinderte in Wilhelmshaven darstellte oder wie die Engländer sie nun in größerer Zahl gründeten. Die verschiedenen Modelle seien entweder von der Forschung her gedacht und wollten Fakultäts- und Fachgrenzen überwinden und Entlastung von der Unterrichtsfunktion erreichen oder sie seien von der Lehre her gedacht und wollten das Massenproblem bewältigen, den Anfängerunterricht verbessern und die Elite fördern. In der anschließenden Aussprache über Raisers Ideen wurden, ohne dass das Protokoll die Beiträge namentlich kennzeichnete, als limitierende Faktoren seines Vorschlag angeführt, dass der traditionelle Studienortwechsel in Deutschland eine gewisse Uniformität der Einrichtungen voraussetze und ferner die bisherigen Neugründungen wie Saarbrücken oder die FU Berlin sich stets schnell den bestehenden Hochschulen angeglichen hätten.90 Man zeigte sich skeptisch gegenüber dem Versuch, einen neuen Hochschultyp mit Sonderstellung im Hochschulsystem zu etablieren. Das Universitätsmodell, das in derselben Sitzung stattdessen entworfen wurde, beinhaltete zwei wesentliche Merkmale: Die Fakultäten sollten bestimmte inhaltliche Schwerpunkte erhalten und als Selbstverwaltungsorgane reformiert werden. Ferner sollten drei neue Typen von Instituten neben den Fakultäten aufgebaut werden, nämlich erstens Zentralinstitute für Fächer, die in mehr als einer Fakultät vertreten wären, in der also beispielsweise alle Historiker, alle Philosophen oder alle Statistiker der Universität aus den verschiedenen Fakultäten versammelt würden, zweitens Institute für übergreifende Sachfragen wie etwa das Bildungswesen oder die Arbeitswissenschaften und drittens Institute für Regionalstudien wie Afrika- oder Osteuropaforschung. Drei Fakultäten sollte diese Modelluniversität haben, eine sozialwissenschaftliche, eine biologisch-naturwissenschaftliche und eine philosophische, wobei man herausstrich, dass es sich bei den ersten beiden Gebieten um in der Bundesrepublik vernachlässigte Fachgebiete handele. Gerade waren ja die entsprechenden Denkschriften der DFG zur Biologie und zur Soziologie erschienen, wohingegen die Geisteswissenschaften offenbar auch ohne einen von der DFG diagnostizierten Nachholbedarf in der Forschung Bestandsschutz bekamen. Bewusst sollte aber darauf verzichtet werden, in dieser Universität das ganze Spektrum der Wissenschaften zu vereinen. Entwickelt wurde also ein Gegenentwurf zum inzwischen publizierten Gutachten Rothes für eine Universität in Bremen als einer von der Fächerstruktur 90 Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses zur Organisation neuer Hochschulen am 1./2.8.1961 in Oestrich, in: BArch B/247, Nr. 14.
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her traditionellen sogenannten Volluniversität. Theologie, klinische Medizin und große Teile der Rechtswissenschaften sowie der Betriebswirtschaftslehre sollten nicht vertreten sein – also die drei klassischen Professionsfakultäten. Zwar wurde die Möglichkeit gesehen, dass die Hochschule sich in diese Richtungen später vielleicht ergänzen wolle, eine entsprechende Änderung nach ein bis zwei Jahrzehnten würde den Wert des Versuches aber nicht beeinträchtigen, wenn die übrigen Hochschulen bis dahin genügend Anregungen erhalten hätten, waren sich die Mitglieder des Unterausschusses einig. Eine derart inhaltlich akzentuierte Universität, so der Entwurf weiter, solle aber nur an einer Stelle realisiert werden. Mit anderen Schwerpunkten könnten allerdings weitere Hochschulneugründungen nach diesem Modell erfolgen. 2.500 bis 3.000 Studierende waren vorgesehen – das Entlastungsmoment stand also klar nicht im Vordergrund –, ebenso Kollegienhäuser und ein rationelles Einführungsstudium. Die wesentlichen Ziele von Raisers Studienhochschule hätten in diesem Modell, das nunmehr Typ drei und nicht mehr Typ zwei der Raiserschen Typologie entsprach – also keine Elite- sondern eine Teilhochschule werden sollte – verwirklicht werden können. In einer weiteren Sitzung beschäftigte sich die Gruppe mit unterschiedlichen Fragen der Selbstverwaltung, dem Aufbau der Fakultäten und Gremien, die hier zunächst nicht vertieft werden brauchen. Anfang November 1961 kündigte Raiser in der Vollversammlung des Wissenschaftsrates Arbeitsergebnisse des Unterausschusses zur Reform der Universitätsstruktur mit den Worten an, »die dort entworfene Konzeption möge sich in einigen Punkten von der Jasper’schen bzw. Humboldt’schen Idee entfernt haben, jedenfalls seien dort moderne und realistische Wege beschritten worden«.91 Kurz darauf stellte er das erarbeitete Konzept des Unterausschusses zunächst im Neugründungsausschuss vor und verwies explizit auf die Verwandtschaft dieser Drei-Fakultäten-Universität mit englischen Projekten – allerdings wieder ohne weitere Ausführungen dazu –, während Rothes Bremer Plan kein positiver Bezugspunkt war. Der neue Vorschlag sei billiger und leichter umzusetzen als die Gründung einer Volluniversität und biete mit seiner Betonung der Schwerpunkte Anregungen für die bestehenden Hochschulen. Insbesondere gehe es darum, »die Grenzen der traditionellen Fakultäten aufzusprengen«.92 Sehr wahrscheinlich war dieser Punkt von Hess stark gemacht worden, der seit 1957 die Denkschriftenreihe in der DFG beförderte, die in mehreren Fächern die mangelnde Kooperation in Grenzbereichen der Disziplinen ausgemacht hatte. Die Fächerkombination im Universitätsmodell des Ausschusses sollte zunächst nur Vorschlagscharakter haben, wie Raiser betonte, und er persönlich 91 Protokoll der 12. Sitzung der Vollversammlung des Wissenschaftsrates vom 4.11.1961, in: AdWR. 92 Protokoll der 8. Sitzung des Neugründungsausschusses am 18.11.1961 in Köln, in: BArch B/247, Nr. 12.
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fand die Philosophische Fakultät, für die Tellenbach den Forschungsschwerpunkt »Kulturen des westlichen Mittelmeerraums« vorgeschlagen hatte, noch nicht ausreichend durchdacht. Ob Tellenbach sich dabei von Fernand Braudels berühmter Habilitationsschrift »Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.« von 1949 hatte inspirieren lassen, lässt sich nicht belegen. Vielleicht war er auch nur inspiriert von der Aussicht, im Folgejahr die Leitung des Deutschen Historischen Instituts in Rom zu übernehmen. Die Kritik, die im Neugründungsausschuss und kurz darauf auch in der Wissenschaftlichen Kommission formuliert wurde, bezog sich sowohl auf die Typenentscheidung als auch den Umgang mit den Fakultäten und die Fächerauswahl. Coing betonte in seiner ausführlichen Stellungnahme, dass die Abgrenzung zu den übrigen Hochschulen stärker herausgearbeitet werden müsse, um ein späteres »Ergänzungsstreben«, wie er es an der vormaligen Neugründung Frankfurt erlebt habe, zu vermeiden. Vielleicht müsse man sich, so Coing, von den herkömmlichen Studiengängen und Examina lösen und doch zu der ursprünglichen Idee Raisers zurückgehen, eine Graduiertenhochschule vorzuschlagen. Grundsätzlich solle man auf die Fakultätsstruktur verzichten, die in jedem Fall ein »Ergänzungsstreben« bewirken würde. Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzung war der vorgeschlagene Schwerpunkt der Philosophischen Fakultät. Coing bezweifelte dessen Eignung: »Es hat ein Zeitalter begonnen, in dem die westliche Kultur nicht mehr in der Welt dominiert, sondern in dem Europa und Amerika neben sich Asien und Afrika emporsteigen sehen. Aus dieser Situation müssen auch für unsere Bildungsanstalten die Konsequenzen gezogen werden.«93
Deshalb solle man sich lieber der Erforschung Ostasiens, des europäischen Ostblocks oder der islamischen Länder widmen. Damit löse man zugleich das Problem des Studentenandrangs an diese neue Hochschule, weil diese Themen jenseits des Mainstreams lagen. Gegen diese Kritik an Tellenbachs Vorschlag durch einen fachfremden Juristen der die damalige Dekolonisation offenbar mit Interesse verfolgte, musste ein Professor für Alte Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Liturgiegeschichte, wie es Theodor Klauser (1894–1984) als Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission war, offenbar Einspruch erheben: »Die Erforschung des Mutterbodens unserer westlichen Kultur muss nach meinem Dafürhalten wie bisher so auch in Zukunft den Kristallisationskern der kulturwissenschaftlichen Forschung und Lehre an unseren Universitäten bilden. […] Lassen wir das ›westliche Mittelmeer‹ aus der Begriffsbestimmung heraus und sprechen wir von der Kultur der westlichen Welt, so passt alles hinein.«94
93 Stellungnahme Professor Coing vom 4.1.1962, in: BArch B/247, Nr. 14. 94 Stellungnahme Professor Klauser vom 1.2.1962, in: BArch B/247, Nr. 14.
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Als neuen Themenschwerpunkt der Philosophischen Fakultät schlug Klauser, der in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auch Präsident des wiedergegründeten Deutschen Akademischen Austauschdienstes gewesen war, deshalb ganz ernsthaft und aus seiner Sicht folgerichtig, gleichwohl unfreiwillig komisch vor: »Erforschung der Kultur des europäischen Westens unter besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den Kulturen des Ostens«. Hätte die Gründung der Universität in Ostwestfalen damals schon zur Debatte gestanden, wäre das West-Ost-Thema dort vom Titel her bestens aufgehoben gewesen. Dissens bestand aber nicht nur beim geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt, sondern auch bei dem der Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Der Münchner Nationalökonom Horst Jecht (1901–1965) kritisierte als Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission den von Dahrendorf vorgeschlagenen Schwerpunkt der neuen Sozialwissenschaftlichen Fakultät mit seiner zurückgenommenen Stellung der wirtschaftswissenschaftlichen Fächer. Als Lösung wurde hier, wie schon bei der Frage des Wohnzwangs in den Kollegienhäusern, der Ausweg gewählt, die Vorschläge von Jecht und Dahrendorf als zwei mögliche Alternativen nebeneinander zu stellen, statt eine Entscheidung herbeizuführen. Obwohl Coing umfangreiche Kritik an dem Entwurf von Raiser, Dahrendorf, Hess und Tellenbach äußerte, drängte er zugleich auf einen raschen Abschluss der Arbeiten, um zu vermeiden, dass die Arbeit dieses Ausschusses neben den inzwischen eingesetzten Beratungs- und Gründungsausschüssen herlaufe und akademisch bleibe.95 So wurden die Arbeiten des Wissenschaftsrates beschleunigt und es blieb im Großen und Ganzen bei dem Konzept vom Oktober 1961 mit einer Drei-Fakultäten-Universität, verschiedenen Typen zentraler Institute und Reformen der Selbstverwaltung. Der endgültige Text wurde rasch zusammenkopiert aus der Skizze Raisers, den Sitzungsprotokollen und den verschiedenen kritischen Eingaben. Die Idee der Studienhochschule wurde nicht mehr reaktiviert, sondern ihre Ablehnung in der redigierten Schlussfassung des Textes ausführlich begründet: Besonders begabte Studenten verfügten nach Ansicht der Mehrheit im Wissenschaftsrat im bestehenden Hochschulsystem, das eher die durchschnittlich begabten Anfänger zu wenig unterstütze, über ausreichend Freiheiten, so dass sie nicht mit einer separaten Einrichtung gefördert werden müssten.96 Problematisch erschien wiederum die Vorstellung eines durch eine neue Studienhochschule ausgelösten institutionellen Wettbewerbs: »Die Universitäten würden Gefahr laufen, durch die Gründung von ›Studienhochschulen‹ in den zweiten Rang verwiesen zu werden. Die Besten […] würden dorthin drängen; die verbleibenden Hochschullehrer wären der anspornenden Wirkung beraubt. For 95 Protokoll der 8. Sitzung des Neugründungsausschusses am 18.11.1961 in Köln, in: BArch B/247, Nr. 14. 96 Wissenschaftsrat, Anregungen, nach WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 8.
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schungsarbeit an den bestehenden Hochschulen [würde] im öffentlichen Urteil und damit leicht auch in ihren Finanzierungsquellen von einer Entwertung bedroht […] wenn Studienhochschulen als […] Forschungszentren höheren Ranges verstanden würden.«97
Einstweilen lag die vom Wissenschaftsrat vertretene Innovation also nicht im Anstoßen einer Typendifferenzierung im Hochschulsystem, sondern – abgesehen von organisatorischen Neuerungen in der akademischen Selbstverwaltung – vor allem darin, nicht an allen neuen Universitäten den vollen Kanon traditioneller Fakultäten vorzusehen. Das immerhin war eine Veränderung gegenüber dem 1960 in den Ausbau-Empfehlungen noch vertretenen Postulat von Volluniversitäten, aber eben auch Ausdruck von Realismus und eine Konzession an die Länder als Finanziers der Neugründungen. Alles in allem blieb es bei einer eher zarten Andeutung des Spielraums bei der institutionellen Ausgestaltung des Universitätssystems unter gleichzeitiger Beibehaltung des Prinzips der Verbindung von Forschung und Lehre. Stärkere Abweichungen sollten zugunsten eines homogenen Hochschulsystems, in dem die fortdauernde Popularität von mehrfachen Ortwechseln während des Studiums postuliert wurde, einstweilen unterbleiben. Mit möglichen Lerneffekten aus den verschiedenen Hochschulneugründungen seit 1945 hatte man sich offenkundig nicht systematisch beschäftigt.
2.2.4 »Anregungen« statt »Empfehlungen« In den letzten Wochen vor der geplanten Verabschiedung seiner Vorschläge geriet der Neugründungsausschuss zwischen die Fronten von Progressiven und Traditionalisten in der damaligen Hochschulpolitik. Ein Vertreter des Bundes in der Verwaltungskommission des Rates schrieb Anfang 1962 zum Vorschlag neuer Organisationsformen an die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: »Sie wissen wie ich, dass die Reformvorschläge zum Teil sehr viel weiter gehen, und dass sie mit Beispielen aus dem Ausland zum Teil gut begründet sind. […] Die ständig steigende Zahl der Studenten und die Erfordernisse der neuen wissenschaftlichen Disziplinen sorgen dafür, dass im Hochschulwesen alles im Fluss bleibt, und dass man unter Umständen gezwungen ist, bereits morgen das zu verurteilen, was man heute noch für richtig erkannt hat.«98
Anders sah es Theodor Maunz (1901–1993), Verfassungsrechtler und als solcher seit Ende der 1950er Jahre einer der Kommentatoren des Grundgesetzes sowie 97 Ebd., S. 8 f. 98 Brief von Ministerialdirektor Karl-Ulrich Hagelberg aus dem Bundesinnenministerium im Februar 1962 an die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates, in: BArch B/247, Nr. 14.
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von 1957 bis 1964 bayerischer Kultusminister (CDU) und damit Mitglied des Wissenschaftsrates, bis er in Folge der Aufdeckung seiner NS-Vergangenheit von seinem Ministeramt zurücktreten musste. Maunz trieb den Wissenschaftsrat und seinen Neugründungsausschuss gerade nicht an, reformfreudiger zu agieren, sondern bestritt dessen grundsätzliche Zuständigkeit in Fragen der Hochschulreform. Es sei nicht Aufgabe des Rates, Diskussionsgrundlagen herauszugeben.99 Der Kultusminister sah seinen Handlungsspielraum unzulässig begrenzt, zumal sein Ministerium gerade eine eigene Denkschrift zu Ausbau und Neugründungen von Universitäten in Bayern erarbeitete. Die Kompromissformel lautete schließlich, vom etablierten Begriff der »Empfehlung« abzuweichen und lediglich »Anregungen« zur Gestalt neuer Hochschulen auszusprechen.100 Entsprechend defensiv abgefasst war die Präambel zu den Texten der vier Unterausschüsse, die im Mai 1962 schließlich doch noch zusammen verabschiedet und im Juli auch veröffentlicht wurden.101 Sie enthielt eine Erinnerung an den zwei Jahre zuvor formulierten Appell zu Neugründungen, aber auch den Verweis auf inzwischen erfolgte Gründungserklärungen der Länder und von diesen eingesetzte erste Gründungsausschüsse, also das Ein geständnis, bei der Entwicklung der »Anregungen« von der Realität überholt worden zu sein. Man wolle sich daher den Gründungsausschüssen und den Landesregierungen gegenüber »auf eine beratende Funktion beschränken«. Man habe es »gleichwohl […] für angebracht gehalten, eigene Gedanken zur Gestalt neuer Hochschulen zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen«.102 Ihre unveränderte Übernahme bei allen Neugründungen sei aber nicht vorgesehen. Anders als von manchen erwartet, hatte der Neugründungsausschuss in den zwei Jahren zwischen dem Plenarbeschluss zu Gründungen im Mai 1960 und der Verabschiedung der Anregungen im Mai 1962 also kein neues Universitätsmodell entwickelt, sondern vier Einzelschriften zu recht unterschiedlichen Themenbereichen verfasst: zur fachlichen und organisatorischen Struktur neuer Universitäten, der Eingliederung ingenieurwissenschaftlicher Disziplinen in die Universitäten, der organisatorischen Verbesserung der klinischen Forschung sowie zur Einrichtung von Kollegienhäusern. Das neue Planungsgremium Wissenschaftsrat, das mit den Ausbau-Empfehlungen Ende 1960, in denen der quantitative Ausbau des Bestehenden im Vordergrund stand, schlagartig an Bekanntheit und Prestige ge 99 Protokoll der 16. Sitzung der Verwaltungskommission des Wissenschaftsrates vom 9.2.1962, in: AdWR. 100 Protokoll der 13. Vollversammlung des Wissenschaftsrates vom 10.2.1962, in: AdWR. Der Begriff »Anregungen« ist vom Wissenschaftsrat für seine Empfehlungen nur ein einziges Mal gewählt worden. Wenn es ähnlich schwierig wurde, konsensfähige Ergebnisse vorzulegen, wählte man in späteren Jahren die Begriffe »Thesen« oder »Perspektiven«. 101 Vgl. WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 4–5. 102 Wissenschaftsrat, Anregungen, nach WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 5.
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wonnen hatte, tat sich in Fragen der inhaltlichen Modell- und Leitbildentwicklung neuer Hochschulen zunächst ganz offensichtlich erheblich schwerer. Die Vorfestlegung der Ausbau-Empfehlungen von 1960, nach denen die bestehenden Universitäten mit den überkommenen Strukturen lediglich zu vergrößern waren, hatte das neue Gremium außerdem in die schwierige Situation gebracht, sich nicht direkt anschließend in seinen Anregungen von 1962 wieder grundsätzlich anders äußern zu können und nun neue Hochschultypen aktiv zu bewerben. Das Modell einer Drei-Fakultäten-Universität, das auch viele Vorschläge zu Neuerungen der Selbstverwaltungsorganisation enthielt, war als Abgrenzung von Rothes Volluniversität der zaghafte Versuch einer Typendifferenzierung innerhalb der Universitätslandschaft und im Vergleich zur ursprünglichen Idee einer auf die Graduiertenausbildung konzentrierten Universität weniger revolutionär. Die Vorstellung vom Wettbewerb unterschiedlicher Einrichtungen schien vielen Akteuren nachwievor als schwer erträglich. Der Kollegienhausplan mit seiner teilweise patriarchalischen Note und der im Vergleich zu Rothe noch verstärkten Ausrichtung auf Lehrelemente in den Wohnheimen leistete zu wenig Präzisierungen und appellierte an den guten Willen aller anstatt einzelne Akteure mit bestimmten Aufgaben zu konfrontieren. Studenten hatte man an seiner Erstellung nicht mitwirken lassen, frühere Kritik aus der Kultusminister-Konferenz übergangen und eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den angelsächsischen Collegemodellen unterlassen. Zur Frage einer nachhaltigen Entlastung, die offiziell der Ausgangspunkt aller Neugründungspläne war, enthielten die Denkschriften gar keine Vorschläge. Vielleicht war Ludwig Raiser deshalb auch nicht wirklich überrascht, als er in seinem Bericht vor der Vollversammlung des Rates Anfang 1963 feststellen musste, dass die Anregungen im Gegensatz zu den zwei Jahre zuvor veröffentlichten Ausbau-Empfehlungen nur ein schwaches Echo gefunden hätten. Lebhaft reagiert hätten lediglich studentische Kreise, bei denen die Kollegienhaus-Denkschrift auf erheblichen Widerstand gestoßen sei.
Verhaltene Aufnahme der Vorschläge Tatsächlich war das Echo auf die Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen bescheiden im Vergleich zu jenem auf den ersten Ausbauplan. Der Journalist Günther Gillessen (*1928) besprach die »Anregungen« Anfang August 1962 in der »Frankfurter Allgemeinen« durchaus wohlwollend und bezeichnete sie als »zaghaft im Wort, aber doch hinreichend klar in der Stoßrichtung«.103 Die 103 Günther Gillessen, Mehr Zusammenarbeit in den Universitäten sowie ders., Studenten brauchen das Engagement, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.8. bzw. 4.8.1962. Zuvor erschien bereits ein Bericht ohne Bewertung: Die Universitäten sollen aufgelockert werden. Vorschläge des Wissenschaftsrats für die neuen Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.7.1962.
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Vorschläge, insbesondere jene zur Neuordnung der Selbstverwaltung der Universität und zu ihrer Binnengliederung, aber auch zum Modellvorschlag einer Drei-Fakultäten-Universität wurden von ihm als vernünftig erachtet. Auch der Idee der Kollegienhäuser konnte Gillessen etwas abgewinnen, wenn von der jeweiligen Hausleitung »keine direkte Pädagogik, auch keine Experimente und Sozialutopien« verfolgt würden. Neuen Formen des Gemeinschaftslebens zu propagieren hielt er für abwegig, doch der großen Zahl orientierungsloser Studienanfänger in den ersten Semestern ein Wohnangebot zu machen und ihnen den Einstieg in die Universität durch Beratungs- und Betreuungsangebote zu erleichtern, empfang Gillessen als sinnvoll und verwies auf die englischen Erfahrungen. Allerdings prognostizierte er mit einem, in diesem Zusammenhang sprachlich etwas gewagten Bild, dass der Wissenschaftsrat für seinen Vorschlag von den Studenten mit Sicherheit »unter Feuer genommen« würde, weil diese davor zurückschrecken würden, kaserniert oder erzogen zu werden. Tatsächlich hatte auch die »Frankfurter Allgemeine« ein halbes Jahr vorher von der Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften aus München berichtet, wo in einer Resolution festgehalten worden war, dass es nicht Aufgabe des Wohnheimes sein könne, der Universität die Erfüllung der ihr immer schon gestellten Aufgaben abzunehmen. Tendenzen, der Universität einen außerwissenschaftlichen Erziehungsauftrag zuzuweisen, wollten die Studenten energisch entgegengetreten, so erklärte ihr Dachverband also schon vor Veröffentlichung der Vorschläge aus dem Wissenschaftsrat.104 Kritischer als der Kommentar des Journalisten Gillessen fiel jener des fast gleichalten Biochemikers Peter Hemmerich (1929–1981) aus, den dieser unter dem Titel »Die akademische Zukunft hat noch nicht begonnen« in der »Zeit« veröffentlichte. Hemmerich hatte offenbar einige Monate in England verbracht und nach seiner Rückkehr festgestellt, dass es in Sachen Neugründungen in den anderthalb Jahren seit dem Startschuss im Mai 1960 nicht recht vorangegangen war. In Bochum sei nur ein Grundstein gelegt worden, in Bremen fehle es zwar nicht an schönen Worten, aber im nahezu bankrotten Land an Geld: »Eher schon ein Meilenstein auf dem Weg zur Mehrung der Universitäten könnte man darin erblicken, dass eine der bestehenden Hochschulen eingegangen ist«, nahm Hemmerich sarkastisch Bezug auf die Eingliederung des Wilhelmshavener Hochschulexperiments in die Universität Göttingen. In den jetzt verabschiedeten und veröffentlichten »Anregungen« des Wissenschaftsrates sah er nicht die erhoffte Lösung: »Es ist kein Zweifel, dass das deutsche Hochschuldilemma in seiner ganzen Tragweite vom Wissenschaftsrat gesehen wird«, doch »diese ›Anregungen‹ tragen nur allzu deutlich die Zeichen des überspannten Kompromisses, was um so trauriger ist, als 104 Hochschulreform nicht in die Wohnheime verlegen. Beratungen und Entschließungen des Studentenparlaments in München, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.3.1962.
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ihre Umsetzung in die Realität wiederum ein Kompromiss sein muss. Also der Kompromiss eines Kompromisses.«105
Ein Preisausschreiben für Universitätskonzepte Um die Diskussion über neue Universitäten nach den Anregungen des Wissenschaftsrates weiter zu beleben und zusätzliche Ideen ins Spiel zu bringen, lobte die damals auflagenstarke evangelisch-konservative Wochenzeitung »Christ und Welt« zusammen mit dem Gesprächskreis Wissenschaft und Wirtschaft von Stifterverband, Bundesverband der Deutschen Industrie und Deutschem Industrie- und Handelskammertag im Frühsommer 1962 ein P reisausschreiben aus zum Thema: »Wie sollen sich die neu zu gründenden Universitäten von den bisherigen unterscheiden?«106 Als Preisrichter engagierte man mit Hans Bohnenkamp (1893–1977), in den 1910er Jahren aktiv in der Jugendbewegung und nach dem Zweiten Weltkrieg Gründungsdirektor der Pädagogischen Hochschule Celle/Osnabrück, Heinrich Popitz (1925–2002), Professor für Soziologie in Freiburg und vormals Schüler von Karl Jaspers, sowie Wilhelm Hahn (1909–1996), Professor für Theologie in Heidelberg und dort Ende der 1950er Jahre Rektor sowie eben erst für die CDU in den Bundestag gewählt, drei Wissenschaftler, die alle mit der Fraktion derer in Verbindung gebracht werden konnten, die für die dritte Säule Erziehung und Bildung plädierten. Thema und Preisgeld (12.000 DM) waren offenbar attraktiv genug, um bis zum Herbst 1962 mehr als 130 Einsendungen zu erhalten. Über die Zusammensetzung der Beiträger verrieten die Veranstalter zwar nichts, veröffentlichten aber 16 ausgewählte Beiträge, zuvorderst natürlich die prämierten. Mit dem ersten Preis ausgezeichnet worden war im April 1963 der junge Habilitand in der Politologie, Hans-Peter Schwarz (*1934), mit dem zweiten der fast zwanzig Jahre ältere Soziologe H elmut Schelsky. Mit Waldemar Besson (1929–1971) fand auch der Beitrag eines weiteren jungen Politologen den Gefallen der Preisrichter. Schelsky setzte den Akzent auf die Forschungsfunktion der Universität und hatte für das Preisausschreiben ein Kapitel seines frisch verfassten, aber noch nicht veröffentlichten Buchs »Einsamkeit und Freiheit« etwas gerafft, in dem er den Vorschlag eines differenzierten Hochschulsystems mit der Neugründung einer theoretischen Universität entwarf, worauf noch zurückzukommen ist.107 105 Peter Hemmerich, Die akademische Zukunft hat noch nicht begonnen. Ein hochschulpolitischer Sommer zeigte Ansätze zu Neuem und ließ das meiste beim Alten, in: Die Zeit, 7.9.1962. Hemmerich wurde als Professor später an die Neugründung Konstanz berufen und veröffentlichte neben seiner wissenschaftlichen Arbeit in den 1960er und 1970er Jahren in der Zeit weitere Artikel zur hochschulpolitischen Situation. 106 Gesprächskreis Wissenschaft und Wirtschaft, Zur Gestalt der neuen deutschen Universität. 107 Der Beitrag des Preisausschreiben war die komprimierte Fassung der Seiten 312–317 in Schelsky, Einsamkeit und Freiheit.
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Schwarz warb, wie es ja der Hofgeismarer Kreis Mitte der 1950er Jahre auch schon getan hatte, in seinem Beitrag für die Orientierung am angelsächsischen Studienaufbau mit einer Eingangsstufe für die Großzahl der Studierenden und einer Forschungsstufe für eine Minderzahl. Schwarz fand aber die gleichzeitige Übertragung von College- und auch nur Wohnheimideen so uninteressant wie Schelsky und kommentierte entsprechend: »nichts wäre peinlicher als verpflichtende Formen ›neuer studentischer Gemeinschaft‹ oder eine obligatorische ›politische Bildung‹.«108 Besson konzentrierte sich auf die Ausbildungsfunktion der Universität. Zunächst zerlegte er allerdings die Vorstellung von einem zu bewahrenden »Erbe der großen deutschen Universitätstradition«, für das Eduard Spranger als »der anerkannte Hüter des Humboldtschen Erbes in unserem Lande« stehe. Viel streitlustiger als der Wissenschaftsrat, der 1962 erstmals leise Zweifel am Leitbild Humboldt geäußert hatte, konstatierte Besson, dass es nicht weiterhelfe, wenn die Mehrheit der Professoren dieses Leitbild weiterhin als tauglich für die Neugründungen befinde, denn »wenn man gemeinsam Humboldt beschwört, ist noch nicht gesagt, dass man ihn für denselben hält.«109 Ohne sich zu lang mit der Dekonstruktion des populären Leitbildes aufzuhalten, erklärte Besson seine Schwerpunktsetzung: »Wie das Unvermeidliche des Fachstudenten mit dem Wünschenswerten eines freien akademischen Bürgers verbunden werden könnte, ist die zentrale Frage der Reform. Die Industriegesellschaft braucht einen Spezialisten, der seine Grenzen kennt. […] Das fordert in der Tat eine neue Lehre, die die Mitte der neuen Universität sein wird.«110
Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Besson die Erarbeitung von Leitbildern und Studienplänen durch verschiedene Kommissionen vor, die Quantität und Qualität der akademischen Berufe analysieren und Berufe klassifizieren würden, bevor Gründungsausschüsse für neue Universitäten dann die Arbeit dieser Kommission in den neuen Universitäten institutionalisieren könnten. Darin zeigte sich eine klare Begeisterung für große Pläne. Kehrseite dieser Fokussierung auf die Ausbildungsfunktion der Universitäten, die nicht Verschulung, sondern einen strafferen Studienaufbau und eine intensivere Fachbildung zum Ergebnis haben sollte, war nach Besson ein schwindender Freiraum für die universitäre Forschung. Auch hier schwebte ihm aber schon eine Lösung vor: »Es wäre deshalb zu prüfen, ob nicht als Gemeinschaftsgründung aller Universitäten für jede Disziplin im Bundesgebiet ein zentrales großzügig ausgestattetes Forschungsinstitut eingerichtet würde, das der Gesamtheit aller in dem betreffenden Fach Lehrenden für intensive Spezialforschung auf längere Sicht zur Verfügung stünde.«111 108 Schwarz’ Beitrag in: Nord, Zur Gestalt der neuen deutschen Universität, S. 7–14. 109 Bessons Beitrag in: Nord, Zur Gestalt der neuen deutschen Universität, S. 21–26. 110 Ebd., S. 23. 111 Ebd., S. 26.
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Diese Idee trieb auch den anderen Preisträger Schelsky um, der sich mit weiteren Kollegen bald für ein entsprechendes Projekt engagierte. Bessons Beitrag sprühte vor Ideen. Trotz Fokussierung auf die Ausbildungsseite hatte er zu vielen weiteren Aspekten der Universität Vorschläge. Dass er dem Ausbau der Studentenwohnheime und einer Annäherung an die angelsächsischen College-Ideen positiv gegenüberstand, hatte sicher auch damit zu tun, dass er als Postdoktorand 1955 ein Jahr an der University of California, Santa Barbara an der Westküste der USA verbracht hatte. Dem dort erlebten Miteinander von Lehrenden und Studierenden wollte Besson in jedem Fall breiteren Raum an den neuen Universitäten gewidmet sehen. Wie die Beiträge von Besson, Schwarz und Schelsky im 1962er Preisausschreiben zu neuen Universitäten, die hier exemplarisch ausgewertet wurden, zeigen, war das Spektrum der Vorstellungen von neuen Universitäten – wie von den Auslobern erhofft – sehr breit. Die Möglichkeit neue Universitäten zu gründen, regte nun über die engere Fachöffentlichkeit und die in den Selbstverwaltungsorganisationen der Wissenschaft tätigen Wissenschaftler auch die Phantasie weiterer und offenbar auch insbesondere jüngerer Wissenschaftler an. Ihr Interesse am Thema blieb, wohl auch wegen dieses Preisausschreibens, nicht verborgen, so dass Besson und Schelsky bald darauf in Konstanz beziehungsweise Bielefeld in Gründungsausschüssen mitwirkten.
2.3 Vorstellungen der Studentenschaften: Keine abgeschotteten Experimente (1962) Wie standen die Studenten zur Möglichkeit von Universitätsneugründungen und welche Aktivitäten entfaltete ihr Dachverband mit dem Einsetzen der Universitätsgründerzeit? Seit dem Ende der 1950er Jahre kamen Hochschulreformthemen im Gleichschritt mit der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit für diese Fragen auch auf die Agenda des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS). »Restaurieren – Reparieren – Reformieren. Die Universität lebendig erhalten« lautete das Motto des fünften deutschen Studententages in Karlsruhe 1958, »Abschied vom Elfenbeinturm« das des zwei Jahre später in Berlin darauffolgenden sechsten. Gegenüber den Leitsprüchen der vorangegangenen beiden Studententage – »Die Verantwortung des Studenten gegenüber Volk und Staat« (1954) sowie »Der Student in der Gesellschaft« (1956) – zeigte sich in dieser für die Öffentlichkeitswirksamkeit wichtigen Zuspitzung eben auch die intensivere Auseinandersetzung des VDS mit Themen der Hochschulreform.112 Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens hatte der Verband seine Arbeitsschwerpunkte auf gesamtdeutsche Fragen, Flüchtlingsarbeit und Sozialpolitik gelegt, 112 Die ersten beiden Studententage 1948 und 1952 trugen keine besonderen Titel.
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wie Uwe Rohwedder in seiner Geschichte des VDS gezeigt hat.113 Insbesondere die Durchsetzung des »Honnefer Modells«, des auf der Reformkonferenz von 1955 in Bad Honnef verhandelten Vorläufers des späteren Bundesausbildungsförderungsgesetzes, gehörte zu den Erfolgen hartnäckiger Lobbyarbeit, die der VDS für sich verbuchen konnte. Mit diesem Rückenwind wurde das bisherige Themenportfolio des studentischen Dachverbandes nun erweitert. Schwung in die Entwicklung der VDS-Positionen zur Hochschulreform brachten die ersten Empfehlungen des Wissenschaftsrates. Weil der Wissenschaftsrat 1960 dem Ausbau den Vorzug gegeben und das Feld der Reform weitgehend unbestellt gelassen hatte, sein Neugründungsausschuss zudem die Arbeit gerade erst aufgenommen hatte, sahen die Studentenvertreter ihre Chance gekommen. Nach einem Bericht Helmut Coings über den Inhalt der AusbauEmpfehlungen auf der 46. Delegiertenversammlung des VDS Anfang Dezember 1960 in Berlin empfahl der VDS-Hochschulausschuss den studentischen Delegierten, eine Kommission einzusetzen, um die Vorstellungen der Studentenschaft zu Fragen der Hochschulreform zu bündeln und dazu auch Anregungen von anderer Seite zu sammeln. Namentlich genannt wurde dabei der Mannheimer Soziologe Eduard Baumgarten, der unter den politisch aktiven Studierendenvertretern offenbar einige Anhänger hatte. Deutliche Ähnlichkeit zu dessen Aufruf vor dem Deutschen Hochschulverband im Juli 1960 besaß auch der sechs Monate später erstellte Formulierungsvorschlag zu einer Expertenkommission des VDS: »Es besteht im Augenblick die große Chance, wie einstens die Berliner Universität so heute eine Modell-Universität zu schaffen, die Vorbild sein kann für die Umgestaltung auch anderer Hochschulen in unserem Bereich.«114
So fassten die studentischen Delegierten am 10.Dezember 1960 schließlich folgenden Beschluss: »Durch die Empfehlung des Wissenschaftsrates […] ist die Diskussion um die Neugründung wissenschaftlicher Hochschulen in ein entscheidendes Stadium getreten. Die Dringlichkeit dieses Problems und die Chance, neue Formen des akademischen Lebens zu erarbeiten und zu verwirklichen, verlangt eine intensive Behandlung durch den VDS. Die Delegiertenkonferenz sieht hier einen Schwerpunkt der künftigen Arbeit des VDS […] der letztlich die Zusammenfassung und Weiterentwicklung der Vorstellungen des VDS auf dem Gebiete der Hochschulreform ist.«115
113 Zur Geschichte des Verbandes erstmals Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform. Ein Kapitel widmet Rohwedder auch der Neugründungskommission des VDS, allerdings ohne Auswertung der im Bundesarchiv erhaltenen Akten der entsprechenden VDS-Kommission. 114 Bericht des VDS-Hochschulausschusses auf der 46. Delegiertenkonferenz in Berlin, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394. 115 Antrag und Beschluss, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394.
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In der konzeptionellen Arbeit an den neuen Universitäten sah der VDS nun eine seiner vordringlichsten Aufgaben. Er formulierte der Politik und den Selbstverwaltungsorganisationen gegenüber den Anspruch, »an der Gestaltung dieser Hochschulen mitverantwortlich beteiligt zu werden«.116 Eine Forderung, die zumindest der Wissenschaftsrat intern bereits abgelehnt hatte. Anfang 1961 präzisierte der VDS-Hochschulausschuss den Arbeitsauftrag seiner Neugründungskommission nochmals: »Das Ziel aller Überlegungen ist, mit ziemlicher Genauigkeit das Modell der Hochschule zu entwerfen, wie es sich der Verband Deutscher Studentenschaften vorstellt.«117 Lothar Krappmann (*1936), der Vorsitzende des Hochschulausschusses, versuchte in den folgenden Monaten Gelder für die Kommissionsarbeit zu organisieren und betonte währenddessen die Chance, die dieses Projekt auch verbandsintern bot: »Es fehlt offensichtlich eine klare Aufgabenstellung für die überregionale Studentenvertretung. […] Mit dem Problem der Neugründung liegt ein Arbeitsfeld vor uns, das uns wieder auf ein sachbestimmtes Gebiet führen kann. Daher sollte der VDS keinesfalls versäumen, dieses Problem mit Vorrang zu behandeln und aufzugreifen.«118
Nachdem es Krappmann und der VDS-Geschäftsstelle schließlich gelungen war, mit Unterstützung des Stifterverbandes und des Bundesinnenministeriums die Stelle eines Sekretärs in der Geschäftsstelle des VDS in Bonn zu finanzieren, konnte die Kommissionsarbeit im November 1961 beginnen. Zu den Mitgliedern der rund 20-köpfigen Kommission zählten gleich mehrere ehemalige Vorsitzende des Verbandes. Vorbereitet und koordiniert wurde ihre Arbeit zunächst von Lothar Krappmann. Als dieser 1962 zum Vorsitzenden des gesamten Verbandes gewählt wurde, übernahm Peter Müller (*1937) und verstärkte als ehemaliger AStA-Vorsitzender der FU Berlin die ohnehin große Gruppe der aus Berlin stammenden Kommissionsmitglieder.119 Müller hatte dort – wie auch die Kommissionsmitglieder Wolfgang Nitsch (1938–2016) und Klaus Meschkat (*1935) – eine Denkschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) mit verfasst, die dieser im September 1961 – also kurz vor Beginn der VDS-Arbeiten – unter dem Titel »Hochschule in der Demokratie« verfasst hatte.120 Die Öffentlichkeitswirkung der ersten SDS-Denkschrift schätzt Rohwedder allerdings 116 Stellungnahme des Verbandes Deutscher Studentenschaften zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates durch die 46. Delegiertenkonferenz des Verbandes Deutscher Studentenschaften in Berlin am 10.12.1960, abgedruckt in: WRK, Empfehlungen, Entschließungen und Nachrichten, Stück 4/1961, S. 10. 117 Bericht über die Hochschulausschusssitzung vom 27. und 28.1.1961, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394. 118 Brief des Vorsitzenden des VDS-Hochschulausschusses Lothar Krappmann an den VDS-Vorsitzenden Wilfried Fass vom 23.2.1961, in: BArch B/166, Nr. 1390. 119 Interview mit Lothar Krappmann am 13.8.2007, Interview mit Peter Müller-Rock stroh am 9.2.2008. 120 Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Hochschule in der Demokratie.
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gering ein – sie sei erst in den späteren 1960er Jahren durch eine wesentlich erweiterte Neuauflage in anderer Autorenzusammenstellung nachträglich zu Berühmtheit gekommen.121 Der VDS-Kommission lagen zur Auftaktsitzung ein Reader mit Meilensteinen der Reformdiskussionen seit 1945 vor, der neben dem Blauen Gutachten zur Hochschulreform von 1948, Karls Jaspers 1961 erneut aktualisierte Fassung seiner »Idee der Universität« und Heimpels Vortrag von 1955 zur Erziehung als dritter Säule neben Forschung und Lehre auch das Gutachten Rothes zur Bremer Universität enthielt. Dazu kamen zwei Stellungnahmen, die Horst Bachmann – Mitarbeiter in der Bonner VDS-Geschäftsstelle und ehemaliger Student an der FU Berlin – und Karl Heinz Zenz – vormaliger AStA-Vorsitzender ebenfalls an der FU Berlin und nun im VDS-Hochschulausschuss – zu Rothes Gutachten verfasst hatten. Sie konzentrierten sich beide auf die Vorschläge zu Wohnheimen und Campus-Anlagen, also den zentralen Ideen Rothes für eine Bremer Universität. Horst Bachmann äußerte sich skeptisch gegenüber der Campus-Idee und warnte davor, eine so zu schaffende räumliche Einheit als Allheilmittel zu betrachten. Der Campus auf einer großen Fläche am Stadtrand bewirkte nämlich zugleich eine Isolation seiner Bewohner, die so kein Verständnis für ihre Umwelt gewinnen könnten, Universität und Gesellschaft also nicht näher zueinander bringen würden. Die Ideen Rothes zu Wohnheimen, die der Wissenschaftsrat kurz darauf noch mit einer inhaltlichen Komponente verstärken sollte, sah Bachmann noch kritischer. Nach seiner Meinung sollten die Wohnheime vor allem ein Zuhause bieten für Ruhe, Arbeit und Kontakt zu Kommilitonen. Der Schwerpunkt müsse also auf dem sozialen Aspekt liegen, »aber auch auf die Schaffung eines den Korporationen gegenüber wirksamen neuen Gemeinschaftslebens gelegt werden; nicht dagegen auf die Verwirklichung pädagogischer Ziele«.122 Ein von den Studenten für die Bereitstellung einer Unterkunft nur zwangsläufig in Kauf genommenes Bildungsprogramm könne hingegen keinen Erfolg haben. Skeptisch war er auch gegenüber Rothes Vorschlag, Professoren samt Familie in den Wohnheimen unterzubringen, insbesondere »die Frau des Heimleiters ist bei der Gestaltung der Heimatmosphäre durchaus entbehrlich«. Bachmann war es wichtig, Bildung, Erziehung und studentische Gemeinschaft statt über Programm in den Wohnheimen an einer anderen Stelle zu fördern, nämlich durch die Unterstützung der Universität für studentische Arbeitsgemeinschaften wie Orchester, Chöre, Theatergruppen, Foto-AGs und an 121 Zum Vergleich der SDS- mit der VDS-Denkschrift: Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform, S. 141 ff. 122 Horst Bachmann, Stellungnahme zu der Denkschrift von Herrn Rothe »Über die Gründung einer Universität zu Bremen«, 8.6.1961, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394.
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deres mehr. Solche AGs gebe es jetzt an vielen Hochschulen – das hatte ja Killys Bestandsaufnahme 1954 bereits ergeben – doch »bis auf die collegia musica und wenige Studentenbühnen kümmert sich die Hochschule nicht um diese Gruppen, und so haben sie mit großen Kontinuitäts- und finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen«. Deshalb schlug Bachmann eine Kontaktstelle der Hochschule vor, bei der von den AGs auf Anfrage Unterstützung erbeten werden könne. Trotz seiner Kritik und einiger Ergänzungen, sei – so Bachmanns Bilanz – »doch im ganzen gesehen die Denkschrift von Herrn Dr. Rothe eine gut fundierte Arbeit«. Erheblich kritischer fiel dagegen die Stellungnahme des vormaligen Berliner AStA-Vorsitzenden Karl Heinz Zenz aus.123 Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Bremer Plan sei dringend geboten, weil Rothes Vorschläge nach seinem Eindruck in weiten Kreisen als die wegweisenden für die neue und modernste Universität Deutschlands gelten würden, obwohl dieser sich bei der Herleitung seiner Vorschläge wenig Mühe gegeben habe. So werde »die ›Idee der deutschen Universität‹ an Hand von Festreden dargestellt […]. Reden die zu ihrer Zeit als schön und erhebend empfunden wurden, die, gelesen, überschwänglich und verblasen anmuten. Keinesfalls sind sie wirklich aufschlussreiche Untersuchungen der Quellentexte.« Das Projekt außerwissenschaftliche Erziehung war seiner Meinung nach als »wissenschaftsfeindlich« abzulehnen. Klar war für ihn, »daß außerwissenschaftliche Erziehung nur vom eigentlichen Kernproblem – Abbau der Autorität kraft Amtes zugunsten der Autorität kraft besserer Argumentation – ablenken soll«. Der groß angelegten Wohnheimunterbringung stand er ebenfalls ablehnend gegenüber: »Hier wird gegen die akademische Freiheit, gegen die Mündigkeit des Studenten Attacke geritten« es handele sich um eine »vollkommene soziale Disziplinierung der Studenten«. Auch Bachmanns Kritik am Campus, der zweiten Innovation bei Rothe, verstärkte Zenz deutlich. Er hielt die Erweiterungsbauten vieler bestehender Universitäten an den Stadtgrenzen nicht für nachahmenswerte Beispiele: »Die Campus-Universität widerspricht jedem Versuch einer Fundamental-Demokratisierung unserer Gesellschaftsordnung, weil sie akademische Lehrer und Studenten in einem Elfenbeinturm der Wissenschaft isoliert. Ein derartiges akademisches Ghetto wird gerade jene verhängnisvollen sozialen Elite-Vorstellungen und Standesdünkel einer privilegierten Schicht fördern. Die Heim-Universität […] ist ein Hort der Muße, in der Bildung zum sozialen Luxus wird.«124
In diesen Stellungnahmen von Zenz und Bachmann, die für die Auftaktsitzung der Neugründungskommission geschrieben worden waren, zeichneten sich zwei wichtige Kritikpunkte des späteren VDS-Gutachtens bereits ab. Die Idee einer 123 Karl Heinz Zenz, Kritische Bemerkungen zur Denkschrift von Dr. Hans Werner Rothe, undatiert, in: BArch B/166 Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1394. 124 Ebd.
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doppelten Konzentration – erstens aller Universitätseinrichtungen auf einem Campus-Gelände und zweitens möglichst vieler Studierender in Wohnheimen auf dem Campus – traf nicht auf die Zustimmung der Zielgruppe. Der Campus erschien als neue Form des Elfenbeinturms, von dem sich der VDS – dem Titel des Studententages vom Vorjahr zufolge – verabschieden wollte, man sah die großangelegte Wohnheimplanung als Kasernierung. Dass die Rhetorik in Sachen sozialer Disziplinierung verschärft wurde, weil jene VDS-Mitglieder, die auch dem SDS angehörten, etwa zeitgleich den Konflikt mit der SPD und den Ausschluss aus ihren Strukturen erlebt hatten, erscheint plausibel. Die VDS-Neugründungskommission beschäftigte sich aber nicht nur mit studentischem Wohnen, Arbeiten und Leben auf dem Campus, sondern beackerte mit viel Fleiß große Teile des Themenfeldes Hochschulreform. Zur Rezeption der bekannten Reformliteratur kamen Studienreisen nach Frankreich und nach England, wo man sich über Hochschulsysteme und Neugründungsvorhaben informierte, sowie Gespräche mit einzelnen Akteuren der zeitgenössischen Hochschulreformdiskussionen, wie etwa dem Soziologen Eduard Baumgarten und Hans Paul Bardt.125 Im Oktober 1962 schließlich lag das Gutachten der Kommission unter dem Titel »Studenten und die neue Universität« vor, womit zugleich die Reform der bestehenden und die Konzeptionierung der Neugründungen verstanden werden konnte.126 Das Gutachten bot – wie zu Beginn der Arbeiten beabsichtigt – tatsächlich ein neues Universitätsmodell. Die Stellungnahme des Studentenverbandes war wesentlich breiter angelegt als die ihm vorangehenden Schriften aus Bremen und vom Wissenschaftsrat und am ehesten noch mit dem Blauen Gutachten von 1948 zu vergleichen. Sie war klar gegliedert und eloquent verfasst. Das Gutachten ging von einer Charakterisierung wissenschaftlichen Arbeitens und der Stellung der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft aus und breitete auf diesem Fundament seine Vorschläge zur Organisation der Forschung, der Lehre, des Studiums sowie der Hochschulkörperschaft aus und enthielt abschließend Planungsgrundsätze für die Neugründungen. Wichtige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede mit den Auffassungen zentraler Neugründungsakteure, wie Raiser oder Baumgarten, machte die Einleitung deutlich. Einerseits erwarte man, »daß neue Ansätze und neue Formen der wissenschaftlichen Arbeit und Hochschulorganisation am leichtesten in Institutionen eingeführt und erprobt werden können, die von Grund auf neu errichtet werden«.127 Man äußerte sich optimistisch, dass die von 125 Gunther Kurtz und Helmut Jochum reisten im März und April 1962 mit Unterstützung der französischen Botschaft an verschiedene französische Neugründungen, Otto Scheib im Juni 1962 mit Unterstütung des British Council an verschiedene englische. Ihre Berichte in BArch B166, Verband Deutscher Studentenschaften, Nr. 1390 und Nr. 655. Beide Reisen wurden vom Stifterverband finanziert. 126 VDS, Studenten und die neue Universität. 127 Ebd., S. 7.
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den Neugründungen ausgehende Reform das Bildungswesen in Deutschland verändern werde. Andererseits legte der VDS Wert auf die Feststellung, dass man »kein Modell für Sonderinstitutionen vor[schlage, MM], wie Hochschulen mit nur wenigen Abteilungen oder Hochschulen für Forschungsnachwuchs, weil die bestehenden Universitäten zunächst entlastet werden müssen«. Von der Modell-Universität mit einer kleinen Studentenzahl, wie der Wissenschaftsrat in seinen Anregungen vorgeschlagen hatte, grenzte sich der VDS gleich zu Beginn explizit ab: »Unser Modell zu struktureller Reform gilt für die neue und große Universität.«128 Der leitende Gesichtspunkt der auf rund 100 Seiten unterbreiteten studentischen Vorschläge war dabei die Reorganisation des Studiums.
2.3.1 Ablehnung von Erziehungsversuchen Bereits die einleitenden Kapitel zu wissenschaftlichem Arbeiten und Wissenschaft in der Gesellschaft zeigten, dass die Studenten in der VDS-Kommission die seit 1945 laufenden Diskussionen über die Bewahrungswürdigkeit oder Aktualisierungserfordernisse des Leitbildes der sogenannten Humboldt’schen Universität sorgfältig rezipiert hatten. Sie schlossen sich der Fraktion derer an, die die Veränderungen in der Wissenschaft durch Spezialisierung, Ressourcenund Kooperationsbedarfe als so groß einschätzten, dass neue Formen für das Zusammenwirken der Wissenschaften und die Zusammenarbeit von Lehrern und Schülern gefunden werden müssten. Wissenschaftliche Ausbildung habe nicht mehr vorrangig den Sinn einer »intellektuellen Allgemeinbildung und harmonischen Persönlichkeitsformung«, sondern diene vor allem der Berufsvorbereitung und wenn die Hochschule als Korporation Bildung zur Demokratie und zu öffentlicher Verantwortung ihrer Mitglieder erstrebt, so erreicht sie das, indem sie sich selbst demokratisch organisiert.«129 Diese Ablehnung der hergebrachten Vorstellung von »Bildung durch Wissenschaft« aus dem frühen 19. Jahrhundert bildete die Grundlage für die Abwehr des nach 1945 häufig und in den Gutachten von Rothe und dem Wissenschaftsrat am Anfang der 1960er Jahre erneut formulierten Forderung nach einer neuartigen Erziehung an der Hochschule. Erziehung war nach dem Verständnis der VDS-Kommission aber Menschenformung mittels Autorität, nicht aber durch freie Selbstbildung. Die Hochschule, die mit den Studenten wissenschaftlich arbeiten wolle, müsse aber jede erzieherische Einwirkung aus ihrer Arbeit ausschalten. Damit war die Ablehnung, die schon Zenz’ Stellungnahme enthalten hatte, sorgfältig untermauert worden:
128 Ebd. 129 Ebd., S. 18.
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»Von daher müssen wir pädagogische Bestrebungen der Hochschule mit ihren Studenten, wie sie in bestimmten Konzeptionen der Wohnheime und neuerdings betont im ›Kollegienhausplan‹ des Wissenschaftsrates sichtbar geworden sind, als wissenschaftsfremd ablehnen. Sie machen den Studenten von einem Partner der Wissenschaft zu einem Objekt der Hochschule […]. Wir lehnen auch eine politische, musische, künstlerische oder sportliche Erziehung durch Institutionen der Hochschule ab.«130
Der VDS teilte seine Ablehnung der als sozial-disziplinierend begriffenen Er ziehungsvorstellungen mit dem SDS und dessen Denkschrift zu Hochschule in der Demokratie, die ein Jahr früher veröffentlicht worden war. Dort wurde die Entwicklung eines kritischen Intellekts als einzige legitime Erziehungsaufgabe der Universität beschrieben, wohingegen »die umfassende Prägung der Gesamtpersönlichkeit des Studenten durch eine charakterlich hervorragende Forscherpersönlichkeit […] im heutigen Universitätsbetrieb zu einer solchen Ausnahme geworden [ist], dass es lächerlich anmutet, sie in einem Erziehungsprogramm ›organisieren‹ zu wollen.«131 Aufgabe der Hochschule war nach gemeinsamer Auffassung der Studenten beim SDS und VDS allein die Gestaltung des Arbeits- und Ausbildungsbereichs. Kontakte, Gestaltungs- und Bildungsmöglichkeiten sollten dagegen der freien Initiative aller an ihnen Interessierten überlassen werden.
2.3.2 Umfassende Reformagenda für alte und neue Universitäten Nach der Darlegung der Reformvorschläge, die man ablehnte, folgte die Erörterung der eigenen Reformvorschläge für die Bereiche von Forschung, Lehre, Studium, Verwaltung und Selbstverwaltung. Forschung und Lehre, an deren Zusammenhang in einer Institution die Studenten – wie schon der Wissenschaftsrat – unbedingt festhalten wollten, sollten innerhalb der Universitäten organisatorisch getrennt werden. Die Forschung sollte in Instituten organisiert werden, die Lehre dagegen in Abteilungen, auch wenn die gleichen Personen beide Aufgaben erledigten. Für die Forschung solle es ständige Fachinstitute und zeitlich begrenzte Forschungsgruppen geben sowie daneben unterschiedliche Typen von interdisziplinären Instituten, denn »interdisziplinäre Forschungsarbeit ist für Wissenschaft und Praxis von immer zunehmender Bedeutung«.132 Koordiniert, kontrolliert und gefördert werden sollte die Forschung durch einen universitätsinternen Forschungsrat. Mit dem Vorschlagskatalog zur Organisation der Forschung verbunden wurden Reformvorschläge für das Bibliot heks 130 Ebd., S. 19. 131 Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Hochschule in der Demokratie. 132 VDS, Studenten und die neue Universität, S. 30.
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wesen nach angelsächsischem Vorbild, also mit einem System aus Abteilungsund Spezialbibliotheken an Stelle der bisherigen Zentral- und Institutsbibliotheken. Die Studenten waren auf der Höhe der Zeit, was die Reformideen betraf, die unter den dafür aufgeschlossenen Wissenschaftlern diskutiert wurden. Den Begriff der Interdisziplinarität beispielsweise hatten die Anregungen des Wissenschaftsrates noch nicht enthalten. Auch für die Organisation der Lehre in Abteilungen hatte die studentische Kommission konkrete Vorschläge erarbeitet. Für den Abschied von den bisherigen Fakultäten als Koordinations- und Kooperationszentren sprächen die Größenzunahme durch Spezialisierung der Forschung und das Entstehen neuer Fachgebiete. Die Lehre solle in Abteilungen gegliedert und durch eigene Lehrund Berufungskommission beaufsichtigt werden. An Stelle der aufzulösenden Fakultäten wurde eine Vorschlagliste mit rund 30 denkbaren Abteilungen – von Archäologie und Ethnologie bis Veterinärmedizin –, einem Dutzend interdisziplinärer Institute und schließlich einer langen Reihe von »Regionaldisziplinen« vorgeschlagen. Analog zum Forschungsbeirat für Außenbeziehungen der Forschung solle es einen Hochschulbeirat zur Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Bildungs- und Ausbildungsstätten in der Lehre geben. Zum Studium schlug das VDS-Gutachten ein gestuftes Modell mit Grund-, Haupt- und Nachdiplomstudium vor, ohne einen eigenen Abschluss nach dem Grundstudium. Bei allen neu einzurichtenden Informationsangeboten, Hilfen und Kontrollen hielten die Studentenvertreter die weitestgehende Beibehaltung eines freien und selbständigen Studiums für wichtig. Auch zum Aufbau der Hochschulkörperschaft enthielt das Gutachten zahlreiche Ideen, die teils den unter Reforminteressierten erreichten Konsens, teils neue und vor dem Hintergrund der Situation an der Berliner FU zu sehende Aspekte enthielten. Als neue Grundsätze sollten gelten, dass an der Selbstverwaltung künftig alle von ihr Betroffenen zu beteiligen seien, dass Amtsträger in Selbstverwaltungsgremien für eine längere Zeit gewählt werden sollten, um Kontinuität zu ermöglichen, und dass die Selbstverwaltung mit einem leistungsfähigen Verwaltungsstab ausgestattet werden solle. Gefordert wurde ein »demokratisches Teilhaberecht für jedes Mitglied der Hochschulkörperschaft an der Selbstverwaltung«.133 Erstmals wurde hier zwischen drei Teilgruppen von Hochschulmitgliedern – Hochschullehrern, Assistenten und Studenten – unterschieden, die zu Personenverbänden zusammengeschlossen würden.134 Das »Einüben von Demokratie«, dem die Kollegienhäuser nach Vorstellung der Nachkriegsjahre auch dienen sollten, wurde gewissermaßen auf die gesamte Hochschule ausgedehnt. Für die Erarbeitung dieser Vorstellungen dürfte der Berliner Hintergrund vieler 133 Ebd., S. 73. 134 Zur Entwicklung der Vorstellungen von Mitwirkungsrechten im VDS und SDS Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform, S. 149–152.
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Kommissionsmitglieder ausschlaggebend gewesen sein, die mit dem »Berliner Modell« besondere Formen der studentischen Beteiligung an der FU und die kontinuierliche Verteidigung dieser Rechte kannten. Zahlreiche Vorschläge zur Organisation der Selbstverwaltung folgten, die, wie auch die des Wissenschaftsrates, für die hier untersuchte Thematik nicht relevant sind.
2.3.3 Große Neugründungen und keine »Reservate« Drei Jahre nach Veröffentlichung der Studie »Überfüllung der Hochschulen« aus dem Bundesinnenministerium, die zur Dynamik der Neugründungsdiskussion beigetragen hatte, erinnerte der VDS in Übereinstimmung mit Friedrich Edding daran, dass der Zuwachs an Studierenden strukturell gesellschaftlich bedingt und im internationalen Vergleich keineswegs außergewöhnlich sei. Zu seinen Ursachen zähle auch das in der Bundesrepublik weitgehend fehlende Angebot zwischen Schule und Hochschule: »Ein stärkerer Ausbau des Höheren Ausbildungswesens auf dem Fachschulsektor könnte die wissenschaftlichen Hochschulen zwar wiederum etwas entlasten, aber da er zu spät kommt, wird er nur die Überfüllung mildern können.«135 Auch wegen dieses noch fehlenden Fachhochschulsektors werde es eine starke Überfüllung der Hochschulen in den folgenden Jahren geben, trotz beschlossener Neugründung von inzwischen fünf Universitäten, so prognostizierten die Studenten weitsichtig: »Jeder Reformansatz ist dadurch in Gefahr. Angesichts dieser Tatsache muss sofort mit der Planung von mindestens zehn neuen Hochschulen begonnen werden.«136 Um Reformexperimente an den neuen Hochschulen nicht zu gefährden, konnte man sich in der Aufbauperiode sogar Zugangsbeschränkungen vorstellen, nicht aber eine besondere Hochschuleingangsprüfung, wie sie im Wissenschaftsrat erwogen worden war. Die neuen Universitäten sollten nach Meinung des VDS je 9.000 bis 11.000 Studierenden Platz bieten und rund 20–25 der neu entworfenen Abteilungen und interdisziplinären Institute bereithalten. Die zeitgenössisch verfügbaren Prognosen zur Entwicklung der Studierendenzahlen bis 1980 fasste das VDS-Gutachten in einer Grafik zusammen und kommentierte die Pläne des Wissenschaftsrates und anderer Befürworter für kleinere Neugründungen skeptisch: »Bei Vorschlägen, auch kleinere Hochschulen zu bauen, muss befürchtet werden, dass diese Hochschulen von dem voraussehbaren raschen Anwachsen der Studentenzahlen überrannt werden und die Gesamtplanung bereits im Ansatz wiederholt werden muss.«137 135 VDS, Studenten und die neue Universität, S. 88. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 87.
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Unzufrieden war die VDS-Neugründungskommission nicht nur mit Anzahl und Dimensionierung der Neugründungen, sondern auch mit Ablauf und Inhalt der Planungen. Die Studenten plädierten nicht nur für ihre eigene Mitsprache sondern für eine insgesamt breitere Aufstellung der planenden Gremien, die Experten zu soziologischen, organisatorischen und städtebaulichen Probleme der Hochschulneugründungen einbeziehen sollten.138 Zum anderen wünschten die Studentenvertreter sich eine genaue städtebauliche und soziologische Standortuntersuchung und bemängelten die schnellen Vorfestlegungen auf einzelne Standorte (in Bochum, Konstanz und Regensburg), einen dazu beitragenden Städteehrgeiz sowie landespolitische und andere sachfremde Interessen. Wie schon in den Stellungnahmen von Zenz und Bachmann wurde eine Isolation durch die Verwirklichung der Campus-Idee befürchtet. »Die Hochschule als bauliche Einheit soll keine geschlossene Anlage im Sinne des angelsächsischen Campus, sondern einen offenen Komplex bilden, der die Öffentlichkeit anzieht und einbezieht.«139 Die Universitätsplanung dürfe diese nicht aus dem Gesamtkomplex der Stadtplanung isolieren. Konkret an die Gebäudeplanung der Neugründungen wurden ebenfalls zahlreiche Forderungen gerichtet. Weil die Studenten einen Großteil des Tages auf den neuen Hochschulgeländen verbringen würden, müssten kulturelle und soziale Bedürfnisse berücksichtigt werden, Aufenthalts- und Klubräume, Cafés, Sportanlagen, Theaterbühnen und Restaurants geplant werden, die möglichst auch von der Bevölkerung der Umgebung genutzt werden könnten. Mit Verweis auf die englischen Neugründungen hoben sie die Bedeutung einer Einbindung von Architekten und Planern in die Erarbeitung baulicher Konzepte für die neugedachten Institutionen hervor. Als hilfreich dafür wurde die Einrichtung einer zentralen Arbeits- und Forschungsstelle für städtebauliche und architektonische Hochschulplanung angesehen, die auch die diesbezügliche Grundlagenarbeit koordinieren könnte. Diese Institutsgründung erfolgte 1963 in Stuttgart dann tatsächlich, worauf im Kontext der Konstanzer Planungen zurückzukommen ist.
2.3.4 Aufnahme der studentischen Vorschläge Der studentische Dachverband hatte ein ähnlich umfassendes Konzept wie Rothe zu Bremen vorgelegt, aber anders als dieser, weit mehr als nur die Humboldt-treue Literatur der Nachkriegsjahre verarbeitet. Studenten aus der Kommission hatten eigens zwei lange Auslandsreisen unternommen und mit verschiedenen Professoren wie Eduard Baumgarten und Hans Paul Bahrdt das 138 Ebd., S. 90. 139 Ebd., S. 91.
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Gespräch gesucht. Die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Erfordernisse fiel im Vergleich der drei Gutachten beim studentischen am realistischsten aus. Die vorrangige Ausbildungsfunktion der Universitäten wurde klar anerkannt, ohne dass der idealistische Gedanke der Koppelung freier Forschung und Lehre vernachlässigt wurde. Die Studenten hatten aber nicht nur mit großem Ernst ihre Vorstellungen ausführlich dargelegt und veröffentlichten diese in einer mit zahlreichen Abbildungen und Plänen angereicherten Publikation; nach Abschluss der Kommissionsarbeit bemühten sie sich auch um einen effektiven Transport ihrer Vorschläge in die Öffentlichkeit. Die Pressearbeit nach Fertigstellung des Gutachtens im Oktober 1962 zeigte gute Ergebnisse. Ein Kommentar des »Tagesspiegels« lautete: »Der Wissenschaftsrat ist bei seinen Anregungen […] mit viel taktischem Geschick und mit viel Rücksichtnahme vorgegangen. Die Studenten machen das – und das ist ihr gutes Recht – viel radikaler. […] Mit diesem Gutachten, das [neben der Reform des Studiums, MM] noch eine Fülle von weiteren Anregungen enthält, dürften die Studenten sich für eine Mitsprache in Sachen Hochschulreform qualifiziert haben. Jedenfalls scheint es nicht als vernünftig, dass sie in keinem der bisher bestehenden Neugründungsausschüsse der geplanten vier Universitäten vertreten sind. […] Warum sollte man also auf den Elan, der der Jugend innewohnt, verzichten.«140
Zusätzlich zur Pressearbeit wurde der alle zwei Jahre abgehaltene Studententag, der eigentlich turnusgemäß für 1962 vorgesehen war, um ein Jahr verschoben, um die Fertigstellung des Gutachtens abzuwarten und dieses dann im Stil professioneller Lobbyarbeit auf einer Großveranstaltung zu präsentieren. So veranstaltete der VDS den siebten Deutschen Studententag mit rund 500 Teilnehmern vom 23. bis 27. April 1963 in Bochum – am ersten Standort, an dem eine der neuen Universitäten vom Stadium der Ideen in das des gegossenen Betons gelangte – unter dem Titel des Gutachtens »Studenten an neuen Universitäten«. Zur Eröffnungsfeier kamen der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Franz Meyers (CDU), der neue Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Hans Lenz (FDP), sowie der Präsident der Hochschulrektoren, Julius Speer, – reichlich politische und hochschulpolitische Prominenz, die die Botschaft des VDS zu den zeitgenössischen Neugründungsaktivitäten zu hören bekam. Dem VDS gehe es um neue große Hochschulen, die Ablehnung jeglicher Erziehungsversuche – keine »Internierung«141 – und stattdessen die Fokussierung auf eine Studienreform. In seiner Abschlussansprache erinnerte der VDS-Vorsitzende Krappmann an die Hoffnung, die man in die Neugründungen setzte: 140 Ewald Weitz, Studenten wollen reformieren – Ein Gutachten mit radikalen Vorschlägen – Zehn neue Universitäten gefordert, in: Tagesspiegel, 4.11.1962. Gemeint waren die Gründungsausschüsse für Bochum, Bremen, Regensburg und Konstanz. 141 So eine der Abschlussthesen des Studententages mit Blick auf Campus-Planung und Wohnheimideen: VDS, Studenten an neuen Universitäten, S. 271 f.
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»Leider scheinen in die bestehenden wissenschaftlichen Hochschulen nur auf dem Wege über neue Universitäten Reformen eingebracht werden zu können. Wir wissen, wie viele hervorragende Professoren in den letzten achtzehn Jahren resignierend aus der Debatte um die Hochschul- und Studienreform ausgeschieden sind. Wir machen einen letzten Versuch: die Reform auf einem Umweg!«
Krappmann bedauerte, dass die Studenten – trotz mancher Beschwörungen der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden und trotz des im Oktober 1962 vorgelegten umfangreichen VDS-Gutachtens – nach wie vor nicht in die Gründungsausschüsse der neuen Universitäten eingeladen worden seien. Er folgerte daraus: »Die Studentenschaft wird ihre Vorstellungen noch härter vortragen müssen. Sie braucht einfach ein gewisses Maß an Respektlosigkeit […] Sie ist offenbar noch nicht lästig und unbequem genug.«142 Trotz ihrer soliden inhaltlichen Arbeit und einer guten Öffentlichkeitsarbeit gelang es den Studenten vorerst nicht, ihre Beteiligung an den Vorarbeiten zur Gründung neuer Hochschulen durchzusetzen. Erst seit 1965, als sich die öffentliche Aufmerksamkeit für die Belange der Studenten auch in Folge erster Demonstrationen erhöhte, wurde dies möglich. Ein indirekter Erfolg der VDS-Neugründungskommission und des Studententages 1963 war hingegen, dass das Thema Studienreform tatsächlich in den Vordergrund rückte und der Wissenschaftsrat sich seit Anfang 1964 des Themas annahm und 1966 entsprechende Empfehlungen vorlegte.143 Die Aufgabe, die sich zunächst nach Fertigstellung der drei Gutachten im Herbst 1962 konkret stellte, war es, die unterschiedlichen Vorstellungen von neuen Universitäten in die Arbeiten der nun eingesetzten Gründungsausschüsse zu überführen und die Aufbruchsstimmung in konkrete Handlungen bzw. Gründungen zu übersetzen. Mit den Vorschlägen Rothes, des Wissenschaftsrates und des Verbands Deutscher Studentenschaften lagen nach nicht einmal zwei Jahren drei sehr unterschiedliche Lösungsvorschläge vor für eine Situation, in der es nun Reform und Expansion gleichzeitig zu bewältigen galt.
142 Beide Zitate nach ebd., S. 304 f. 143 Vgl. dazu Bartz, Der Wissenschaftsrat, S. 81 ff.
3. Universität Konstanz: Zwischen Reservat und Modell
Im Herbst 1959 machte der baden-württembergischer Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) den Vorschlag, in Konstanz eine neue Universität zu gründen, noch bevor im folgenden Frühjahr offiziell die Universitätsgründerzeiten ausgerufen wurden. Die von ihm angeführte Landesregierung nahm parallel zu den im vorangegangenen Kapitel geschilderten Konzeptarbeiten entsprechende Vorarbeiten auf, setzte aber erst 1964 einen Gründungsschuss aus Wissenschaftler ein, der binnen eines Jahres dann seine Empfehlungen vorlegte. Wie kam es zu diesem Vorgehen in zwei Phasen? Welche Akteure beteiligten sich an der Konzeptentwicklung für die Konstanzer Universität und welche Verbindungen bestanden zu den übrigen Neugründungen?
3.1 Der lange Weg von der Gründungsidee zum Gründungsbeschluss 3.1.1 »Eine Art Fürstengründung« Bei einem Besuch der Stadt Singen am Hohentwiel – 30 Kilometer nordwestlich von Konstanz gelegen – sprach sich der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (1904–1988) am 6. September 1959 zur allgemeinen Überraschung für eine Universitätsgründung am Bodensee aus. Unter dem Titel »Wird Konstanz Universitätsstadt?« berichteten die »Badischen Neuesten Nachrichten« am nächsten Tag: »Ministerpräsident Kiesinger [ging] auf die kulturelle Bedeutung des ganzen Bodenseeraumes ein und betonte, dass man sich in Stuttgart Gedanken darüber mache, am Bodensee eine Universität zu errichten, um die Monsterbildungen in anderen Städten zu entlasten. […] ›Wenn es dem einen oder anderen auch noch als Zukunftsmusik klingen mag‹, so erklärte Kiesinger weiter, ›vielleicht lässt sich dieses Vorhaben schneller realisieren als man denkt.‹«1
Wann und wie Kiesinger zu dieser Gründungsidee gelangt war, lässt sich nicht genau rekonstruieren.2 Seine Autobiographie hat Kiesinger nur bis zum voran 1 Wird Konstanz Universitätsstadt?, in: Badische Neueste Nachrichten, 7.9.1959. 2 Zu Kiesingers Bildungspolitik für Baden-Württemberg: Schnabel, Bildungspolitik in der Ära Kiesinger.
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gegangenen Jahr 1958 geschrieben, in dem er sein Bundestagsmandat aufgab, um als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg die Allparteienkoalition seines Amtsvorgängers zunächst fortzuführen. Als plausible Motive des Gründungsvorschlags kommen fünf Entwicklungen auf unterschiedlichen politischen Ebenen in Frage: Erstens gab es in der Bundes- und Landespolitik seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, wie bereits dargestellt, die Bereitschaft für umfangreiche Investitionen in die Wissenschaft, die als Wiederaufbau, Ausbau und Modernisierung der entsprechenden Infrastruktur betrieben wurden. Diese Investitionsbereitschaft wurde zweitens unterstützt und verstärkt durch die hochschulpolitischen Diskussionen über eine »Überfüllung« der Universitäten, die 1959 über alle Bundesländer hinweg auf einen vorläufigen Höhepunkt zusteuerte und für die dringend Lösungen gesucht wurden – dazu Kiesingers Stichwort »Monsterbildungen«. Als Inspirationsquelle könnten Kiesinger drittens bildungs- und wissenschaftspolitische Entwicklungen andernorts gedient haben, über die er sich als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten seit 1954 auf zahlreichen Reisen in europäische und außereuropäische Länder informieren konnte. Als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates war Kiesinger viertens sehr wahrscheinlich auch mit dem von Walter Hallstein aufgegriffenen und für kurze Zeit forcierten Projekt einer Euratom- bzw. Euro päischen Universitätsgründung in Berührung gekommen, das 1958/59 von den deutschen Wissenschaftsorganisationen intensiv diskutiert und schließlich vehement abgelehnt wurde. Bei einer Gewichtung der einzelnen Motive war ein fünftes, das spezieller landespolitischer Natur war, jedoch das stärkste. Philipp Gassert hat in seiner Biographie Kiesingers dargelegt, wie Kiesinger die erste Hälfte seiner Amtszeit als Ministerpräsident unter den Primat der Integrationspolitik gestellt hatte.3 In Baden-Württemberg, das erst 1952 aus den Ländern Württemberg-Baden der amerikanischen sowie Württemberg-Hohenzollern und Baden der französischen Besatzungszone geschaffen worden war, galt es am Ende der 1950er Jahre, den badischen Teil des Landes, in dem viele Bürger weiterhin den neuen Südweststaat ablehnten und eine Volksabstimmung suchten, zu integrieren und zudem im Mai 1960 die nächste Landtagswahl zu gewinnen. Als weiteres, aber eher nachrangiges Argument im landespolitischen Kontext wird angeführt, dass ein »Tauschgeschäft« für den Verzicht auf die Schiffbarmachung des Hochrheins und damit verbundene Industrialisierungspotentiale für die Bodenseeregion habe angeboten werden müssen. Die große regionalpolitische Bedeutung einer Universitätsgründung am Bodensee zeigten die lokalen Reaktionen im Herbst 1959. Hier wurde Kiesingers 3 Zu Kiesingers Projekt Konstanz im Kontext seiner Landespolitik: Gassert, Kurt Georg Kiesinger, insbes. S. 336–358 sowie S. 413–423.
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Vorschlag enthusiastisch aufgenommen, insbesondere vom ebenfalls erst frisch ins Amt gewählten neuen Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle (1911– 1996), der sich in den kommenden Jahren hartnäckig und nicht immer im Sinne der Konstanzer Gründungsausschussmitglieder für die Universität einsetzen sollte. Keine Rolle spielte zunächst hingegen die Idee einer besonders innovativen und neuartigen Bildungs- und Forschungseinrichtung, also nach der Terminologie ab Mitte der 1960er Jahre einer »Reformuniversität«. Vielmehr ging es Kiesinger zunächst wohl um eine regionale Infrastrukturmaßnahme, die erst später – wie zu zeigen ist – mit einem starken Reformimpetus ausgestattet wurde. Gasserts Urteil, dass der Konstanzer Universitätsgründungsvorschlag ein »Geniestreich« war, weil Kiesinger damit zwei landespolitische Probleme zusammenbrachte, nämlich die Integrationspolitik für Baden auf dem Reformfeld der Bildungspolitik, trifft durchaus zu.4 Seine volle Wirkung entfaltete der Vorschlag aber erst, als er seine Reformkomponente erhielt und schließlich auch erfolgreich war, es also tatsächlich zur Gründung kam: Wenige Monate, bevor Kiesinger sich aus der Landespolitik verabschiedete, um auf die bundespolitische Bühne zurückzukehren und zum Bundeskanzler der ersten großen Koalition gewählt zu werden, konnte er am 21. Juni 1966 – fast sieben Jahre nach seinem ersten Vorschlag in Singen – noch die Grundsteinlegung der neuen Universität Konstanz als Ministerpräsident mitfeiern. Der Weg dorthin war aber mühsamer und langwieriger, als er es damals wohl vermutet hatte.
Bremsversuche im Kultusministerium Während also nur über einen Teil von Kiesingers Motiven Gewissheit herrscht, sich aber für einen weiteren Teil plausible Vermutungen anstellen lassen, besteht über seinen Alleingang in dieser Sache kein Zweifel. Weder Kultus- noch Finanzminister waren in den Plan eingeweiht. Ralf Dahrendorf, der bei der späteren Entwicklung des Konstanzer Universitätskonzeptes eine wichtige Rolle spielte, hat die Konstanzer Gründung daher »eine Art Fürstengründung« genannt.5 Besonders Kultusminister Gerhard Storz (1898–1983) (CDU) hielt die Umsetzung der Idee seines Ministerpräsidenten zunächst weder für wünschnoch für machbar und vertrat daher die Meinung, dass »eine Diskussion über die Neugründung in Konstanz rein theoretischer Natur ist«.6 Schon wenige Tage nach Kiesingers Vorschlag in Singen lag dem Minister bereits eine umfangreiche Sammlung von Gegenargumenten vor.7 Mutmaßlich von Storz in Auftrag 4 Dazu Gassert, Kurt Georg Kiesinger, S. 355. 5 Dahrendorf, Konstanz, »der süße Anachronismus, S. 15. 6 Schreiben des Ministers an Professor Willy Andreas vom 29.9.1959, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) EA 3/907, Aktenbündel 252, Bd. 1. 7 Entwurf eines Schreibens des Ministers an das Staatsministerium, vom 12.September 1959, in: HStAS EA 3/907, Aktenbündel 252, Bd. 1, sowie Schreiben an das Staatsministerium betreff Gründung einer neuen Universität in Konstanz vom 12. Oktober 1959, in: ebd.
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gegeben, warb die ministerielle Argumentesammlung dafür, zunächst den Ausbauplan des Wissenschaftsrates abzuwarten und nicht als einziges Land mit einer Neugründung vorzupreschen. Ferner sei die Kultusministerkonferenz übereingekommen, bei Neueinrichtungen wissenschaftlicher Hochschulen zunächst die Hochschulen des betreffenden Landes um ein Gutachten zu bitten.8 Im schlimmsten Falle – so das Papier aus dem Kultusministerium – könne nämlich die neue Universität von den bestehenden nicht anerkannt werden, wozu auf den damals aktuellen Fall der Wilhelmshavener Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verwiesen wurde. Doch ging es dem Minister, der nicht nur Politiker, sondern zuvor Lehrer, Schriftsteller und Dramaturg gewesen war, nicht allein um ein bedachteres Vorgehen. Offenbar gehörte er zu jenen Zeitgenossen, denen der stetig wachsende Zustrom der Studierenden zu den Universitäten zunächst suspekt war, wie eine weitere Passage des Positionspapiers zeigt: »Der Anspruch weiterer Kreise auf hochschulmäßige Ausbildung in einer großen Anzahl von Berufen bedarf einer Einschränkung. Ein vermehrtes Emporwachsen von Durchschnittsintelligenz darf weder öffentliche Geltung noch Gewicht erlangen.«
Zur Entlastung der bestehenden Universitäten war nach Storz besser die Gründung höherer, insbesondere technischer Fachschulen ins Auge zu fassen und der Zugang zu den Universitäten zu beschränken. In diesem Zusammenhang verwies das Papier auf das zeitgenössisch durchaus populäre Argument, dass sich zuletzt »zwar die Zahl der Abiturienten, nicht aber die Zahl der für ein akademisches Studium Berufenen erhöht hat«. Tatsächlich kam die Erschließung von »Begabungsreserven« als Forderung erst etwa fünf Jahre später im politischen und gesellschaftlichen Mainstream an. Selbstverständlich wurden abschließend auch die Kosten einer Neugründung thematisiert, die – je nach Fächerausstattung – auf 100 bis 400 Millionen DM geschätzt wurden. In Anbetracht der großen Wiederaufbau- und Ausbauprogramme für die bereits bestehenden Landesuniversitäten in Freiburg, Heidelberg und Tübingen, die zwei Technischen und weitere Kunst- und landwirtschaftliche Landeshochschulen war dies eine hohe Summe. Storz ließ diese umfangreiche Aufstellung, die kein einziges Argument für, sondern ausschließlich Argumente gegen eine Neugründung in Konstanz enthielt, nach sorgsamer Überarbeitung in seinem Haus allen Kabinettskollegen und zugleich dem Staatsministerium mit Bitte um Erörterung im Kabinett zu 8 Dies war allerdings eine Verdrehung der Tatsachen, da vielmehr die Westdeutsche Rektorenkonferenz 1959 die Kultusministerkonferenz aufgefordert hatte, sie künftig vorab um Gutachten zu ersuchen und nicht auf eigene Faust tätig zu werden. Westdeutsche Rektorenkonferenz: Die Wissenschaftliche Hochschule – Begriff und Anerkennung. Beschluss vom 12. Februar 1959, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 93–97.
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kommen. Zu dieser Aussprache des Landeskabinetts kam es Anfang November 1959 – rund acht Wochen nach Kiesingers Gründungsvorschlag. Der Ministerpräsident entgegnete den Bedenkenträgern in seinem Kabinett: »Das Land Baden-Württemberg könne an diesem Beispiel beweisen, dass es eine Einheit darstellt und dass es zur Lösung großer Aufgaben fähig ist.« Für Storz vermerkte das Protokoll hingegen kleinlaut, er sei der Auffassung »dass das Problem gründlich durchdacht werden muss, dass aber grundsätzlich die positiven Momente des Plans zu würdigen seien.«9 Der Kultusminister konnte den Ministerpräsidenten also nicht zur Kursänderung bewegen und der Finanzminister übrigens auch nicht. Was Storz nun blieb, war eine Verzögerungstaktik, von der er auch leidlich Gebrauch machte. Das in der Kabinettssitzung angekündigte »gründliche Durchdenken« wurde im Kultusministerium auf die lange Bank geschoben. Wie der Kultusminister in seiner Autobiographie beschönigend formulierte, sei das Projekt durch die Landtagswahl 1960 zurückgetreten »und blieb eine ganze Zeit in einer etwas unklaren Schwebe.«10
Aufnahme von Kiesingers Gründungsidee Mit seiner ablehnenden Haltung stand Storz nicht allein. Während die überregionalen Zeitungen anfangs kaum Notiz von Kiesingers Vorschlag nahmen, berichtete das Wochenmagazin »Der Spiegel« Ende 1959 von den landespolitischen Auseinandersetzungen über den Konstanzer Universitätsplan.11 Nachdem Kiesinger in Bonn das Amt des Außenministers versagt geblieben sei, wolle der CDU-Star – so »Der Spiegel« – wenigstens in der Provinz zu bleibendem Ansehen gelangen und der Nachwelt eine große Schöpfung hinterlassen. Fast alle Umstände sprächen gegen einen neuen Hochschulstandort im »provinziellen Fremdenverkehrsort Konstanz«. Die staatlichen Mittel für ein Neubauprojekt seien wohl kaum vorhanden, da – was tatsächlich auch zutraf – Baden-Württemberg schon jetzt relativ zur Bevölkerungszahl das Land mit den meisten Universitäten und Technischen Hochschulen in der Bundesrepublik sei. Ferner hätte sich die Rektorenkonferenz von Baden-Württemberg gegen die Gründungsidee ausgesprochen, wobei »Der Spiegel« allerdings unerwähnt ließ, dass es sich hierbei um das gängige Muster der Rektoren seit Kriegsende handelte: Neugründungen wurden von ihnen stets mit Verweis auf Mittelknappheit der bestehenden und Gründungen von neuen Hochschultypen stets mit der Präferenz der Vollhochschule als eines die Universalität der Wissenschaft ermög lichenden Hochschultyps abgelehnt. Nicht ganz so hämisch wie »Der Spiegel« berichtete kurz darauf die Wochenzeitung »Die Zeit« über »akademische Träume 9 Auszug aus der Niederschrift der Ministerratssitzung am 4.11.1959, in: HStAS EA 3/907, Aktenbündel 252, Bd. 1. 10 Storz, Zwischen Amt und Neigung, S. 221. 11 Universitäts-Gründung. Erfülltes Leben, in: Der Spiegel, 23.12.1959.
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am Bodensee«.12 Dieser Artikel zeigte zugleich einen wichtigen Ausweg für Kiesinger auf: »Das größte Hindernis aber dürfte erst dann überwunden sein, wenn das Universitätsprojekt nicht mehr allein Objekt landespolitischer oder, gar nur lokaler Interessen ist.« Eine überregionale und auf das gesamte Wissenschaftssystem bezogene Bedeutung des Projektes brauchte es also, um dieses aus der Taufe zu heben. Genau dieser Weg, die Verbindung der etwas abgelegenen neuen Universität mit einem solchen Auftrag, wurde in den nächsten Jahren tatsächlich eingeschlagen. Bis es aber soweit war, vermochte Kiesinger mit seinem Plan – mit Ausnahme der regionalen Zeitungen am Bodensee – keine medialen Begeisterungsstürme auszulösen. Das Thema Universitätsneugründung war, im Herbst und Winter 1959 noch weit davon entfernt, eine euphorische Aufnahme in breiteren Kreisen hervorzurufen. Trotzdem gab es auch wohlwollende Stimmen. Ludwig Raisers bereits geschilderte Schützenhilfe in einem Artikel in der »Stuttgarter Zeitung« Ende 1959 zählte zu diesen unterstützenden Statements, auch wenn der Standort Konstanz von Raiser nicht explizit genannt wurde. Bemerkenswert ist das Schrei cademicum ben einer Gruppe Studierender aus dem Heidelberger Collegium A an den Ministerpräsidenten im Januar 1960, das als Beilage eine »Denkschrift zur Gründung einer Modelluniversität im Bodenseegebiet« enthielt. Die Studenten begrüßten Kiesinger Gründungsvorschlag ausdrücklich: »Die heutigen deutschen Universitäten sind trotz aller Teilreformen in ihrer sozialen, politischen und geistigen Struktur veraltet. Sie stehen in einer Phasenverschiebung zu dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess«. Sie sahen in Kiesingers Vorschlag »eine geradezu epochale Chance, dem deutschen und europäischen Bildungsleben durch den Aufbau einer Modelluniversität […] das bis jetzt fehlende Stimulans zu geben.« Die Diskussionen würden bisher nur von einer kleinen Minderheit getragen. Wesentliche Gründe für die als Stagnation wahrgenommene Situation seien ein Mangel an praktischen Erfahrungen, die geringe Experimentierfreudigkeit und die typische »Vorliebe für theoretisch-abstrakte Behandlungen des Themas ›Universitätsreform‹«.13 Ein knappes Jahr, bevor der Verband Deutscher Studentenschaften im Dezember 1960 eine Kommission zur Frage der Neugründungen einsetzte, hatten also auch hier schon einige Studenten die Initiative ergriffen und versuchten die Idee einer Reform der bestehenden Universitäten via Neugründung zu unterstützen. Dieses Statement musste Kiesinger in seinem Gründungsvorhaben ermuntern.
12 Akademische Träume am Bodensee. In Konstanz soll eine Universität gegründet werden, in: Die Zeit, 1.1.1960. 13 Schreiben des Heidelberger Arbeitskreises für Studienreform an Ministerpräsident Kiesinger vom 12.1.1960 mit »Denkschrift zur Gründung einer Modelluniversität im Bodenseegebiet«, in: HStAS EA 3/907, 252/1.
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3.1.2 Von der regionalen Infrastrukturmaßnahme zur »Modelluniversität« Auf den inhaltlich noch völlig unbestimmten Gründungsvorschlag des Ministerpräsidenten im Herbst 1959 folgte zunächst wenig. Kiesinger war in der ersten Hälfte des Jahres 1960 mit Wahlkampf beschäftigt und nach den Landtagswahlen im Mai mit langwierigen Koalitionsverhandlungen, in deren Ergebnis die bisherige Allparteienregierung beendet wurde und mit der SPD erstmals eine Oppositionspartei im baden-württembergischen Landtag vertreten war. Seine Regierungserklärung am 7. Juli 1960 nutzte Kiesinger dazu, die Bedeutung einer weiteren Vertiefung der Integration des Landes hervorzuheben. Innerhalb des von ihm skizzierten Regierungsprogramms spielte die Bildungspolitik eine wichtige, aber – anders als nach seiner zweiten Wahl 1964 – noch keineswegs eine dominante Rolle. Er erwähnte die steigenden Studierendenzahlen, das Volumen der laufenden Ausbauprogramme für die Hochschulen sowie die zum Zeitpunkt der Regierungserklärung zwei Monate junge Neugründungsempfehlung des Wissenschaftsrates und damit verbunden die Ankündigung, dass die Landesregierung sich zu einer etwaigen Neugründung bald konkret beraten und den Landtag vom Ergebnis alsbald unterrichten werde.14 Konstanz wurde aber nicht explizit als Standort genannt, weil inzwischen ein Wettbewerb der Städte Konstanz, Mannheim und Ulm um die Ansiedlung der neuen Universität entstanden war.15 Als das Konstanzer Projekt im Oktober 1960 – ein Jahr nach dem Gründungsgedanken des Ministerpräsidenten – erneut im Kabinett behandelt wurde, verdankte sich dies nicht Regierungsaktivitäten, sondern der erst in Folge der neuen Koalition entstandenen Opposition im Landtag und der umfangreichen Anfrageaktivitäten, die die SPD-Abgeordneten entfalteten – in diesem Fall zur Frage der Überfüllung der Hochschulen und der möglichen Gründung neuer Universitäten. Storz, den Kiesinger als Kultusminister im Kabinett behalten hatte, berichtete dem Kabinett von den noch laufenden Beratungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der Hochschulen und dessen Plenarempfehlungen zu Neugründungen vom Mai 1960, die der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung schon zitiert hatte.16 Der Wissenschaftsrat habe vorrangig Neugründungen zur Entlastung der Universitäten in den Ballungsräumen München, Hamburg und am Rande des Ruhrgebietes empfohlen, die Belastung der badenwürttembergischen Hochschulen hingegen für gerade noch tragbar erachtet: 14 Protokoll der 4. Sitzung am 7.7.1960, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1961, S. 20–43, hier S. 29. 15 Zeitgenössisch dazu: Böhm/Dietze/Schüler, Denkschriften. 16 Dazu Gassert, Kurt Georg Kiesinger, S. 416.
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»Dagegen besteht die Chance, dass für Baden-Württemberg eine weitere Hochschule neuen Typs empfohlen wird, die Reformgedanken verwirklichen soll. In der Diskussion steht die sog. Forschungsuniversität und die College-Hochschule. Ihm persönlich erscheine der Vorschlag von Professor Raiser am praktikabelsten, eine Forschungsuniversität mit Lehrbetrieb zu errichten.«17
Auch im Beitrag des Ministers zeigte sich, dass Ende 1960 von einer klaren Unterscheidung möglicher neuer Universitätstypen noch keine Rede sein konnte und beim Bezug auf Raiser wohl eine besonders forschungsorientierte Universität gemeint war. Mit dieser Äußerung wurde von Seiten des Kultusministeriums die Neugründungsidee jedoch erstmals explizit mit einem Reformimpetus verknüpft, wobei die Gedanken zum Charakter der Neugründung im Ministerium noch nicht weit gediehen waren. Referiert wurde vielmehr der Beratungsstand aus der Neugründungskommission des Wissenschaftsrates vom September 1960, wo in Storz’ Gegenwart über Raisers Modellskizze diskutiert worden war. Kiesinger erkundigte sich daraufhin beim Kultusminister, wann denn eine Beratung genauerer Vorschläge im Ministerrat erfolgen könne, was als erneute Aufforderung an das Kultusministerium zu verstehen war, sich dem Wunsch des Ministerpräsidenten doch bitte anzunehmen. Erst ein dreiviertel Jahr später sollte es aber vorangehen. Konstanz gelangte nämlich erst wieder auf die Agenda des Kultusministers, nachdem das Gutachten zu einer Bremer Neugründung veröffentlicht worden war und die Diskussionen über eine Neugründung in Nordrhein-Westfalen auf eine Entscheidung zuliefen. Nun musste Storz im März 1961 an die Hochschulabteilung seines Hauses berichten, eine Besprechung im Staatsministerium habe für ihn die Notwendigkeit ergeben, »in Sachen Konstanz die Anfertigung eines sehr sorgfältig ausgearbeiteten Gutachtens als jetzt dringliche Maßnahme anzukündigen«.18 Aussitzen war nun keine Option mehr. Nach dem Wunsch des Ministers wollte man aus Raiser, Rothe und weiteren Personen einen Gutachterkreis bilden. Mit deren Gutachten sollte erreicht werden, dass »die Frage der Modelluniversität nach ihrer Möglichkeit und ihrer Brauchbarkeit endgültig beantwortet wird«. Mit Raiser, der ja neben seinen Aktivitäten im Wissenschaftsrat noch Hochschullehrer der Landesuniversität in Tübingen war, besprach sich das Ministerium nun offenbar über die nächsten Schritte, weitere Aktivitäten des Wissenschaftsrates und eine Auswahl an Beratern für das Kultusministerium.
17 Auszug aus der Niederschrift der Ministerratssitzung am 4.10.1960, in: HStAS EA 3/907, 252/1. 18 Vermerk des Ministers vom 18.3.1961, in: HStAS EA 3/907, 252/2.
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Meinungsbildung im Kultusministerium Erst anderthalb Jahre nach Kiesingers Vorschlag in Singen begann der Apparat des Kultusministers zur Sache der Neugründung zu arbeiten und produzierte bis Anfang Mai 1961 »Erste Gedanken zu einer Universitätsneugründung in Baden-Württemberg«.19 Der Leiter der Hochschulabteilung im Kultusministerium, Heinz Autenrieth (1906–1984), schilderte hierin seine Vorstellung vom weiteren Vorgehen in Sachen Konstanz: Ausgangspunkt müssten die Hinweise in den Ausbau-Empfehlungen des Wissenschaftsrates sein. Vorschläge seien zwar im Rothe-Gutachten für Bremen behandelt worden, wobei dieses »in der Grundkonzeption für unser Land nicht fruchtbar« sei, denn »es überträgt im Grunde die amerikanische Campus-Universität an den Stadtrand von Bremen, ohne eigentlich für Deutschland schöpferische Gedanken aufzuzeigen. […] Es ermangelt der rechten Fantasie.« Baden-Württemberg müsse sich dagegen, so Autenrieth, an der Humboldtschen Universitätsreform, also der nationalen Tradition, und nicht an internationalen Vorbildern orientieren und statt einen Einzelnen wie Rothe mit einem Gutachten zu beauftragen, Denkschriften verschiedener Gelehrter anfordern. Von den Bremer Ideen galt es sich im Länderwettbewerb offenbar abzusetzen und einen eigenen großen Wurf zu wagen. Legitimiert wurde der Vorschlag der Gelehrtenberatung des Ministeriums mit Äußerungen Schelskys aus dessen Antrittsvorlesung an der Universität Münster im Mai 1960, in der der Soziologe die Reform der Universität aus eigener Kraft für unmöglich erklärt hatte. Autenrieth griff Schelskys Vorschlag einer Reform durch den Staat unter Hinzuziehung einzelner Professoren auf und formulierte Kriterien für die Auswahl der Gutachter. Es sollten nach Autenrieths Schlachtplan »führende Geister der Lehre und Forschung sein, die in der deutschen (Humboldt’schen) Tradition wurzeln, aber dem Neuen aufgeschlossen sind, […] nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend unserem Lande zugehören, um von vornherein Widerstände unserer 7 Hochschulen auszuschalten. Aus taktischen Gründen sind personelle Querverbindungen zum Wissenschaftsrat (Prof. Raiser), zur Westdeutschen Rektorenkonferenz (Prof. Leussink), zur Max-Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft usw. herzustellen.«20
Experten für Themen wie Rationalisierungs-, Bibliotheks- und Studentenwohnheimfragen – genannt wurde auch hier der Heidelberger Walther Peter Fuchs – könnten zusätzlich, aber nur fallweise herangezogen werden. Entschieden wurde außerdem notiert: »An eine Beteiligung der Studentenschaft (VDS, AStA) ist erst zu denken, wenn das Modell feststeht.« Das entsprach der patriarchalischen Haltung vieler Zeitgenossen im Hochschulreformdiskurs zu Erziehungsmaß 19 Erste Gedanken zu einer Universitätsneugründung in Baden-Württemberg, zur Besprechung mit dem Minister am 4.5.1961, in: HStAS EA 3/907, 252/2. 20 Erste Gedanken zu einer Universitätsneugründung in Baden-Württemberg, zur Besprechung mit dem Minister am 4.5.1961, in: HStAS EA 3/907, 252/2.
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nahmen und passte wohl auch zum damaligen Denkstil ministerialen Arbeitens, das nicht vorrangig mit der Anhörung aller betroffenen Interessengruppen beschäftigt gewesen sein dürfte. Es war den Beteiligten im Ministerium vermutlich nicht klar, wieviel Engagement und Ideenreichtum damit ignoriert wurde. Als Aufgabe der Hochschulabteilung im Kultusministerium sah Autenrieth es an, auf Basis der einzelnen Professorengutachten eine »Denkschrift« als »Gerüst der Neugründung« zu verfassen. Die stichpunktartigen Gedanken zu ihrem Inhalt zeigten, dass der Leiter der Hochschulabteilung, der sich viele Jahre mit Verkehrsfragen beschäftigt hatte und bis zum Vorjahr noch Leiter der Eisenbahnabteilung im Innenministerium des Landes gewesen war, mit der Diskussionslage im neuen Zuständigkeitsbereich Hochschulwesen noch nicht en detail vertraut war. Die Elemente der »Grundkonzeption«, die er auf die Schiene setzen wollte, waren sehr unbestimmt und bunt gemischt: »Anzustreben ist eine Forschungsuniversität, bei der aber die Lehre nicht zu kurz kommt […], sonst geht das Humboldt’sche Ideal verloren.« Auf Fakultäten als Organisationseinheiten solle verzichtet werden, 1.500 möglichst begabte Studenten seien das Ausbauziel, die Geschichte des Bodenseeraumes biete sich als Schwerpunkt eines Instituts für Geschichte an. Grundsätzliche Einwände des Ministers gegen Autenrieths vage Vorschläge sind nicht überliefert. So wurden im Frühsommer 1961, wie vom Minister bestellt und von Autenrieth plausibilisiert, von mehreren Professoren Gutachten für die neue Universität erbeten. Das Ministerium selbst schien sich die Entwicklung eines Konzeptes nicht zuzutrauen. Auch in Bremen hatte der Senat ja ein Gutachten in Auftrag gegeben.
Informationsreise in die neue Welt Bevor diese Gutachten eintrafen und ausgewertet werden konnten, stellte der Leiter der Hochschulabteilung eigene Erkundungen an und bereiste im August und September 1961 für fast zwei Monate die Vereinigten Staaten, um »20 Universitäten, 4 Colleges, 7 große öffentliche Bibliotheken (nach einem auf die Minute ausgearbeiteten Tagesprogramm)« zu besichtigen.21 Nach dem passagen weise noch etwas ungelenken »ersten Gedanken« Autenrieths über das Vorgehen in Sachen Neugründung vom Mai 1961 und der dortigen Konzentration auf nationale Traditionslinien erscheint es plausibel, dass Storz, der 1956 einen Sommer am Middelbury College im amerikanischen Vermont gelehrt hatte und daher selbst wenigstens über ein Basiswissen in Sachen US-amerikanischem Hochschulsystem verfügte, seinem Spitzenbeamten Autenrieth diese Fortbildungsreise ans Herz gelegt haben könnte.22 Möglicherweise kam aber auch von anderer Seite der Hinweis, dass man sich durchaus auch an ausländischen Vor 21 Autenrieth, Das Hochschulwesen in den Vereinigten Staaten, S. 94; zur Reise auch Paulus, Vorbild USA, S. 347 ff. 22 Storz, Zwischen Amt und Neigung, S. 132–140.
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bildern orientieren könne und es das entsprechende Tableau zu erweitern galt, denn bislang wurde – sofern man überhaupt ausländische Vorbilder aufnahm – zumeist auf die englischen Universitätsgründungen seit Ende der 1950er Jahre verwiesen. Raiser etwa hatte im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates wiederholt auf die englischen Neugründungen in Sussex und an anderen Orten hingewiesen, was für ihn in gewisser Weise auch nahelag, da er in seiner Göttinger Zeit engen Kontakt mit den englischen Besatzungsbehörden hatte und daraus weitere Kontakte hervorgegangen waren. Im Bericht seiner USA-Reise betonte Autenrieth, dass diese der Aufklärung von Irrtümern und Missverständnissen über das amerikanische Hochschul wesen sowie der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Bildungssysteme beider Länder gedient habe – allem Anschein nach also der Erkundung einer bis dahin im Kultusministerium Baden-Württemberg wenig bekannten Hochschulwelt. Autenrieth schilderte eine Fülle von Eindrücken, von denen er manche explizit als bedenkenswert für die Konstanzer Neugründung hervorhob. Dazu gehörte sein Eindruck, dass die Forschungsschwerpunkte sich »von den Gebieten überwiegend mechanisch orientierter Forschung auf Gebiete biologisch bestimmter Forschung verschieben« – gemeint war wohl die Förderung der Genetik, die als aufregendes neues Forschungsfeld den Ingenieurwissenschaften Konkurrenz machte.23 Neben derartigen Hinweisen für die Konstanzer Fächerauswahl – Raiser hatte ja die Beschränkung auf wenige Fakultäten nach englischem Vorbild 1959 schon ins Spiel gebracht und Argumente für den Verzicht auf die Integration teurer Ingenieurwissenschaften konnten dabei helfen – verwies er auf die positive Aufnahme der Idee einer Graduiertenhochschule. Von vielen Gesprächspartnern sei »unser Plan einer Modelluniversität für Begabte nachdrücklich begrüßt« worden.24 Zu den Missverständnissen, die sich für den Ministerialbeamten auf seiner USA-Reise aufklärten, zählte insbesondere das amerikanische Verständnis von einer Campus-Universität und der Unterbringung der Studenten. Die amerikanische Campusuniversität sei »keineswegs ein von ihrer Umgebung isoliertes Gebilde mit nur in Wohnheimen untergebrachten Studenten«. Ein UniversitätsCampus sei »nichts anderes als ein Gelände, auf dem die Gebäude und Einrichtungen einer Universität (die mehrere Campus haben kann) zu einer überschaubaren Einheit zusammengefasst sind.«25 Anders als in den Debatten häufig angeführt, würden lediglich die undergraduates der ersten Semester, die nach deutschem Verständnis Primaner und damit »keine Studenten in unserem Sinn« seien, in den Wohnheimen auf dem Campus wohnen. Hier herrsche offenbar eine Verwechslung mit dem englischen College-System vor. Die sogenannten 23 Autenrieth, Das Hochschulwesen in den Vereinigten, S. 104. 24 Ebd., S. 106. 25 Ebd., S. 108.
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dormitories böten lediglich eine »Wohn(Schlaf)-Gemeinschaft, dagegen keine Tisch- oder gar Lebensgemeinschaft«. Zumindest in Sachen Hochschulanlage und studentischem Wohnen teilte Autenrieth nach seinem Crashkurs im USamerikanischen Hochschulwesen augenscheinlich nicht die Euphorie Rothes, der in Bremen eine neue Universitätsgemeinschaft auf diesen zwei Säulen aufgebaut sehen wollte und in Sachen Wohnheimen auch die lebhafte Unterstützung des Unterausschusses zu Colleges des Wissenschaftsrates erfahren hatte. Insgesamt zeigt Autenrieths Bericht über die Informationssuche in den USA, dass diese noch stark vom Lektürehintergrund des Bremer Gutachtens von 1960/61 und der Modellskizze Raisers für eine Graduiertenschule von 1960 geprägt war. Offenbar versuchte Autenrieth, die Plausibilität dieser Vorschläge am amerikanischen Hochschulsystem zu überprüfen. Seinen Wissensstand konnte er bald darauf erneut erweitern und die Positionen unterschiedlicher Akteure in der deutschen Neugründungsdebatte bei einer Tagung aus nächster Nähe kennenlernen. Dabei erhielt die Skepsis in Sachen Wohnheim- und Collegeplanung weitere Nahrung, was die Chancen ihrer Umsetzung in Konstanz vorab mindern konnte.
Loccumer Tagung über »Universitäten neuen Typs« Bevor im baden-württemberischen Kultusministerium alle Professorengutachten als Grundlage der zu erstellenden Landesdenkschrift vorlagen, besuchte Autenrieth Mitte November 1961 eine Tagung zum Thema »Universitäten neuen Typs«.26 Unter dieser Überschrift hatten sich in der Evangelischen Akademie in Loccum, die in den kommenden Jahren unter der Leitung Hans Bolewskis viele hochschulbezogene Veranstaltungen beherbergte, fast 200 interessierte Akteure, von Professoren und Studenten über Ministerialbeamte bis hin zu Journalisten, zum Gedankenaustausch über die Möglichkeiten von Neugründungen getroffen. Den einleitenden Vortrag hielt der ebenfalls mit einem Gutachten für Konstanz beauftrage Wilhelm Hahn, weitere Referate steuerten Hans Wenke, Eduard Baumgarten, Hans Werner Rothe und einige anderen Personen bei; Raiser hingegen war diesmal verhindert. Mit Genugtuung notierte Autenrieth in seinem Vermerk über die »sehr eindrucksvolle Tagung«: »Fast alle Redner gehören Universitäten unseres Landes an […] oder stehen ihm nahe.«27 Hervorzuheben war aus seiner Sicht vor allem die intensive Diskussion, die über eine neue Rolle der Erziehung neben Forschung und Lehre stattgefunden habe. Ihre Notwendigkeit »wurde von den zahlreich anwesenden Studentenvertretern leidenschaftlich bestritten; ›allein die Wissenschaft bilde‹. Wohnheime 26 Die Vorträge der Tagung vom 17.–19.11.1961 wurden publiziert in: Universität neuen Typs. 27 Vermerk von MinDir Autenrieth, Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum, vom 20.11.1961, in: HStAS EA 3/907, Aktenbündel 250/3.
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dürften keinerlei pädagogischen Auftrag wahrnehmen.« Baumgarten, der laut Autenrieth die »bei der Hochschulverbandstagung in Saarbrücken eingeschlagene radikale Linie« fortsetzte – dort hatte er das mangelnde Engagement der Hochschullehrer für die Anpassung der Universitäten an neue Herausforderungen kritisiert und daher Reformen über Neugründungen gefordert –, habe in Loccum den Studenten in ihrer Kritik der Erziehungsideen zugestimmt, wobei Autenrieth empört vermerkte, dass dies unter deren Beifall geschah. Dagegen habe die Mehrheit der Professoren aber die Erziehungsaufgabe für sinnvoll erklärt. Auch wenn der Soziologe Baumgarten, der sich mit den Studenten verbrüdernder Außenseiter geschildert wurde, zeichnete sich für den Beobachter im November 1961, also ein Jahr bevor das Gutachten des VDS zur Neugründung von Hochschulen und Reformen an bestehenden Universitäten fertiggestellt werden sollte, bereits die scharfe Kritik der Studenten an den Erziehungsplänen ab, die manche Professoren seit 1945 betrieben hatten. Generell war Autenrieth über die in Loccum zutage getretene »Gemeinschaftsfeindlichkeit der jungen akademischen Generation« wie auch über ihre Umgangsformen verwundert. Die Bezeichnung »Alma Mater« habe Gelächter hervorgerufen, der Professor Hahn sei als »Herr Hahn« angesprochen und zur »Selbstkritik« aufgefordert worden. Für den Ministerialbeamten Autenrieth waren dies, wie die ausführliche Würdigung in seinem Tagungsbericht zeigt, erstaunliche Vorgänge und wichtige Informationen zur Einschätzung der Lage Ende 1961. Wie schon mit seiner USA-Reise hatte sich der Leiter der ministerialen Hochschulabteilung mit der Teilnahme an den Loccumer Diskussionen weitere Terra incognita erschlossen. Pointierter noch als Autenrieths Bericht fiel die Bilanz der Loccumer Tagung aus, die der Journalist Fritz Heerwagen im »Handelsblatt« veröffentlichte.28 Für ihn waren Anzahl und Prominenz der Tagungsteilnehmer, die extra den weiten Weg in die Provinz angetreten hatten deutliche Symptome für die herrschende Unsicherheit und Ratlosigkeit in Sachen Neugründungen. Heerwagen vermutete, »dass man in den Hochschulen und Kultusministerien nicht recht weiß, wie es weitergehen soll«. Sollten die angekündigten neuen Universitäten wie Bremen, Bochum und Konstanz nun »neue neue« oder »neue alte« sein? Seit der Humboldtschen Universität habe es keine grundlegend neuen Leitideen mehr gegeben. Für Universitäten ganz neuen Typs fehle heute die Konzeption, was – wie Heimpel es schon vor Jahren gefordert hätte – eine lediglich ergänzende Reform nahelege. Hahn, der Vorschläge à la Rothe zu Campus und Studentenwohnheimen in Loccum als erster ausgesprochen und unterstützt habe, hätte sich von seinen Kollegen sagen lassen müssen »er sei ein der J ugendbewegung verhafteter Romantiker und junge Studenten erklärtem ihm, dass nur Kinder […] Objekte 28 Fritz Heerwagen, Reform heißt heute vor allem Ergänzung. Loccumer Gespräch über die Universität neuen Typs, in: Handelsblatt, 24./25.11.1961.
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der Erziehung sein könnten«. Dass sich gegen Hahns Plädoyer nicht nur Studenten, sondern auch Professoren ausgesprochen hatten, hatte Autenrieth in seinem Bericht verschwiegen. Vor allem aber »die akademische Jugend« blieb nach Heerwagen gegenüber den Ideen Hahns und Rothes misstrauisch: »Vermutlich wäre diese Animosität nicht ausgelöst worden, wenn man ihr [der akademischen Jugend; M. M.] gesagt hätte, Wohnheime und Einrichtungen für Sport, musisches und handwerkliches Tun sollten Kontakte ermöglichen und Gelegenheit zur Bildung informeller Gruppen schaffen. Die Notwendigkeit, Forderungen auf die Mentalität des Gesprächspartners hin zu übersetzen, […] dürfte nicht nur gegenüber Parlamentariern und Verwaltungsbeamten bestehen.«
Der Journalist Heerwagen war offenbar viel mehr als der Ministerialbeamte Autenrieth dazu in der Lage, eine Außenperspektive auf die Debatte in Loccum einzunehmen. Der Begriff der Erziehung löste nach der bemerkenswerten Analyse des Journalisten Abwehrreaktionen aus, die wohl vermeidbar gewesen wären, wenn man sich auf die Mentalität und die Bedenken der Studenten einstellen würde. Neben der begrifflichen Problematik und der mangelnden Sensibilität bezüglich der Verpackung der Ideen hing die starke Abwehrhaltung wohl auch damit zusammen, dass diese Veränderungen der universitären Lebenswelt zwar für die Studenten, aber nicht mit ihnen entwickelt wurden. Auch die Gutachter des Ministeriums mussten sich zu diesen Fragen verhalten.
3.1.3 Gelehrtenberatung à la Humboldt: Mögliche Ziele der Konstanzer Neugründung Wenige Tage nach der Tagung über »Universitäten neuen Typs« lagen dem Kultusministerium die Gutachten zur Ausrichtung der Konstanzer Neugründung vor.29 Wen hatte man beauftragt und welche Akzente setzten die einzelnen Gutachter? Das erste der sechs Gutachten stammte vom Pädagogen und Philosophen Eduard Spranger. Der inzwischen 79jährige, den man anstelle seines zunächst von Autenrieth vorgeschlagenen Schülers Hans Wenke beauftragt hatte, war prominenter Interpret des Berliner Gründungsprozesses von 1810, schon im Prozess der Hamburger Universitätsgründung 1913 mit einer Denkschrift zum Thema Neugründung in Erscheinung getreten und nach seinem 29 Die sechs erhaltenen Gutachten umfassen insgesamt rund 100 Seiten. Fundort der Gutachten: HStAS EA 3/907, 252, Bd. 2. Autenrieth hatte ursprünglich noch die Professoren Welte (Kath. Theologie) und Schühle (Rechtswissenschaften) als Gutachter empfohlen. Ob sie auch mit Gutachten beauftragt wurden und diese lediglich nicht erhalten sind, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. An einem Treffen im Ministerium nahmen neben den sechs Gutachtern aber auch noch die Professoren Wenke, Welte und Bader teil, wie ein ministerialer Vermerk zur Erstellung der Landesdenkschrift vom 6.2.1962 festhält, in: HStAS EA 3/907, 250/3.
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Scheitern als kurzzeitiger Rektor der Berliner Universität in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach Tübingen berufen worden, wo er bis zu seiner Emeritierung 1950 noch gelehrt hatte.30 Als weiterer Gutachter war auf Empfehlung von Ludwig Raiser der Stuttgarter Physiker Heinz Pick (1912–1983) beauftragt worden, den Raiser aus Göttinger Tagen kannte und der an verschiedenen amerikanischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen gearbeitet hatte. Als ein dritter Gutachter fungierte der bis zum Vorjahr noch als Rektor der Heidelberger Universität amtierende evangelische Theologe Wilhelm Hahn (1909–1996), der drei Jahre nach Abfassung des Gutachtens in Nachfolge von Storz dann selbst zum Kultusminister des Landes ernannt werden würde. Neben diese drei Gutachter aus Tübingen, Stuttgart und Heidelberg traten mit Ludwig Raiser und Gerd Tellenbach zwei weitere Professoren aus den baden-württembergischen Universitäten Freiburg und Tübingen, die zugleich Mitglieder des Wissenschaftsrates und dessen Neugründungskommission waren. Mit Ausnahme des Juristen Friedrich Schneider, des früheren Kanzlers der Uni Köln und nun Generalsekretär des Wissenschaftsrates, der noch ein sechstes Gutachten abgab, war die Gruppe also in Übereinstimmung mit Autenrieths Plan ausschließlich mit »Landeskindern« besetzt worden. Zur Hälfte gehörten sie dem Wissenschaftsrat an, dessen Fürsprache es für das Neugründungsprojekt in Konstanz zu sichern und dessen Arbeitsergebnisse in der Neugründungskommission und ihren Unterausschüssen es zu berücksichtigen galt. Vom Fachhintergrund her waren die Gutachter aus geisteswissenschaftlichen Fächern in der Überzahl (Pädagogik, Philosophie, Geschichte, Theologie, Jura), nur Pick repräsentierte die Naturwissenschaften (Physik); Technikwissenschaften und Medizin waren ganz ohne Vertretung – bemerkenswert in Anbetracht der Tatsache, dass die seit 1956/57 verstärkt geforderten Bemühungen um die Ausbildung natur- und ingenieurwissenschaftlich ausgebildeten Nachwuchses nicht unwesentlich zur damals schon ins Spiel gebrachten Idee einer Hochschulgründung in Nordrhein-Westfalen und einer Euratom-Universität beigetragen hatten. In Sachen Naturwissenschaften gab es offenbar eine Vorentscheidung des Landes, nämlich gegen diese.
Ein Reservat für Geisteswissenschaften? Mit Blick auf die zentrale Frage nach Hochschultyp und Fächerspektrum der neuen Universität machte Eduard Sprangers Gutachten den am stärksten von den bestehenden Universitäten abweichenden Vorschlag.31 Zugleich lag dieser am nächsten an Raisers ursprünglicher, im Wissenschaftsrat aber auf Ableh 30 Spranger, Über den Beruf unserer Zeit. Kiesinger kannte Spranger aus Berliner Studentenzeiten und stand von Tübingen aus noch in Kontakt mit ihm, siehe: Kiesinger, Dunkle und helle Jahre, S. 133 sowie Gassert, Kurt Georg Kiesinger, S. 391 f. 31 Alle Zitate nach Eduard Spranger: Teilgutachten, datiert September 1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2.
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nung gestoßener Skizze einer Studienhochschule. Spranger schlug nämlich vor, eine rein geisteswissenschaftliche Universität mit nur vier Fakultäten (theologisch, rechtswissenschaftlich, wirtschaftswissenschaftlich, philologisch-historisch unter Einschluss von Soziologie, Pädagogik und Psychologie; eventuell noch Mathematik) aufzubauen, die später zur Hälfte aus Gastprofessoren bestehen und die es so auch nur einmal in der Bundesrepublik geben würde. Klein müsse diese Universität sein, »weil echter Universitätsgeist und Massenbetrieb miteinander unvereinbar sind«. Für die Konzentration auf Geisteswissenschaften gab es nach Spranger zwei gute Gründe, die finanzieller und inhaltlicher Natur waren: »Ein Experiment muss man da anfangen, wo es am leichtesten (und auch am billigsten) ist.« Für seinen kostengünstigen Plan brauche man in den einzelnen Fachgebieten nur einen »produktiven Kopf als Leiter einer von vornherein qualifizierten Jüngerschaft und einen glänzenden Bestand an Büchern.« Neben der Kostenseite, die Spranger der weiteren Argumentation vorangestellt hatte, vermutlich auch um den Eindruck von fachlichen Eigeninteressen etwas abzumildern, konstatierte er mit Blick auf das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, die »Zeiten des erbitterten Kampfes sind vorbei« aber »was ›Geist‹ eigentlich ist […] ist selbst in Deutschland noch nicht klar, obwohl hier allein der Name der Geisteswissenschaften sich durchgesetzt hat.« Ob dabei im Hintergrund schon Charles Percy Snows berühmtes Buch von den zwei Kulturen der Geistes- und der Naturwissenschaften seine Wirkung entfaltete, kann nur vermutet werden. Es erschien zwar bereits 1959 im englischen Original (»The Two Cultures«), aber erst 1967 in einer deutschen Übersetzung. Sprangers inhaltliches Argument für die enge Fächerbegrenzung der neuen Universität lautete, dass die Geisteswissenschaften Arbeit an ihren Methoden und Theorien zu leisten hätten und es dafür produktiv wäre, »wenn die betreffenden Fakultäten an einer Stelle einmal unter sich blieben«. Spranger hatte also kein Problem damit, für dieses Projekt den von der Hochschulrektorenkonferenz für gleichsam unantastbar erklärten Typ der möglichst alle Fächer versammelnden sogenannten Volluniversität aufzugeben, da die meisten Neugründungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts – er verwies auf Frankfurt, Hamburg, Köln sowie Mainz und die FU Berlin – mit Blick auf ihren Fächerkanon nach seinem Urteil ohnehin unvollständig waren. Hintergrund des zweiten Elements seines Vorschlags, eine Gastuniversität für Forscher zu schaffen, war für Spranger die »oft ersehnte Einrichtung des Sabbatjahres« – also Freiraum zur Forschung. Dafür sollte die neue Universität alles Erforderliche bieten – insbesondere eine große, hervorragende Bibliothek – und als Gegenleistung von den Gastwissenschaftlern nur erwarten, »dass sie in ganz bescheidenem Umfang hochbegabte Studenten an ihrem derzeitigen Forschungsvorhaben teilnehmen lassen«. Sprangers Vorstellung von der ungestörten Selbstreflexion der Geisteswissenschaften wurde durch entsprechende Möglichkeiten der Nachwuchsrekrutierung vervollständigt, denn die Hochbegabten, die »›ih-
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rem‹ Meister in einem kleinen Kreis begegnen können«, würden ihm später gegebenenfalls an dessen Heimatuniversität folgen können. Gegenüber Sprangers geisteswissenschaftlicher Traumuniversität waren die Entwürfe von Hahn und Pick weit weniger phantasievoll oder eben wirklichkeitsnäher.32 Pick sprach sich, wie Spranger, für eine Fächerbegrenzung der neuen Universität aus, wobei Fächer der Natur- und Geisteswissenschaften aber zusammentreffen sollten. Den Geisteswissenschaftlern unterstellte Pick zwar – anders als Spranger – kein Methoden- und Theoriedefizit, wohl aber ein Internationalisierungsdefizit: Sprachen und Geschichte asiatischer und afrikanischer Regionen und auch das Völkerrecht beispielsweise seien stärker zu berücksichtigen. Auch in den Naturwissenschaften forderte er einen Verzicht auf Vollständigkeit des Katalogs an Spezialgebieten oder besonders aufwändiger Bereiche, wofür er aus seinem Fach die Kernphysik anführte, die ja von den neuen Großforschungseinrichtungen des Bundes profitierte. Ebenfalls in Abweichung von Spranger, der de facto die Forschung in den Vordergrund stellte, sprach Pick sich explizit dafür aus, das Verhältnis von Forschung und Lehre in der Waage zu halten, weil dies zusammen mit der Möglichkeit der Begegnung unterschiedlicher Fächer seines Erachtens den Kern der Universität ausmache und diese beiden Merkmale die Hauptunterscheidungskriterien zu den vielfältigen anderen Einrichtungen seien, die ebenfalls Lehre oder Forschung in unterschiedlichen Formen betrieben. Picks Generallinie war also eine Beschränkung der Universität auf ihre, wie man heute sagen würde, »Kernkompetenzen«. Und dazu gehörte für Pick nicht die Ausbildungsfunktion, die er – möglichst nicht nur aus dieser einen neuen Universität – ausgelagert sehen wollte: »Warum müssen alle Juristen, Ärzte, Philologen, Naturwissenschaftler durch eine Universität gehen? Für die meisten von ihnen bleibt die Wissenschaft und die wissenschaftliche Arbeit eine verschlossene Kammer.« Pick schlug vor, stattdessen rund um die Universitätsneugründung verschiedene Hoch- und Fachschulen anzusiedeln und Übergänge zwischen Universität und Fachhochschule in beiden Richtungen nach etwa vier Semestern möglich zu machen. Pick teilte letztlich mit Spranger, wenn auch nicht ganz so radikal, den Ansatz einer starken Konzentration der Universität mit Blick auf Fachangebot und Aufgaben. Sein Vorschlag zur Auslagerung der Ausbildungsfunktion aus der Universität war allerdings nicht so originell wie der Sprangers für eine geisteswissenschaftliche »Sabbat-Universität«, sondern ähnelte verschiedenen am Ende der 1950er Jahre bereits im Kontext der Überfüllungsdebatte unterbreiteten Vorschlägen zur Ausgliederung der unwillkommenen neuen »Massen« aus den Universitäten. Wilhelm Hahn vertrat als dritter Gutachter, wie Pick, die Meinung, dass nicht nur Geistes- sondern sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaften an der neuen 32 Heinz Pick, Gutachten zur Neugründung einer Universität in Baden-Württemberg, datiert Oktober 1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2.
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Universität gleichermaßen vertreten sein sollten, wobei sich für ihn das »Grundgerüst der Fächerskala« aus der Kombination der Fächer ergab, die »die Grundelemente der Bildung vertreten und deshalb nicht fehlen dürfen« sowie aus den besonders nachgefragten »Massenfächern« – ein gewissermaßen pragmatischer Umgang mit der Tradition.33 Medizin und Theologie betrachtete Hahn als universitäre Sonderfälle, wobei er – wie alle übrigen Gutachter – die Medizin für Konstanz ausschloss, da die entsprechenden Voraussetzungen in Form von größeren Krankenhäusern fehlten. Was dann sein eigenes Fach Theologie betraf, gestand er freimütig ein, dass für weitere theologische Fakultäten in Baden-Württemberg weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite Bedarf bestehe. Hahn brachte allerdings zwei andere Argumente für die Vertretung der Theologien, nämlich die Lehrerausbildung für Studierende sowie vor allem die Forderung, dass bei einer »Modell-Universität« eben auch die Theologie an Bord sein müsse, um entsprechende Modell-Effekte für andere Standorte auslösen zu können. Hintergrund waren offenbar Bemühungen Hahns zur Reform des Theologiestudiums in Heidelberg.34
Modelluniversität und Forschungsuniversität Wichtiger als die Frage der Fächerauswahl war Hahn die des Hauptmotivs der ganzen Gründung. Während Spranger ein geisteswissenschaftliches ForscherReservat vorschwebte und Pick die Konzentration auf die Kernaufgaben Forschung und Lehre sowie die Begegnung der benachbarten Fächer herausgestellt hatte, leistete Hahn dazu erst einmal etwas Begriffsarbeit. Er sortierte die in der Diskussion auftauchenden Begriffe »Kapazitätsuniversität (Entlastungshochschule)« und »Modell-Universität (Forschungshochschule)«. Diese hielt er für schlecht gewählt. Sogar als falsch erachtete er die Kombination der Begriffe Forschungshochschule und Modell-Universität: »Der Begriff ›Modell‹ ist nur sinnvoll, wenn diese Universität für andere ein Modell werden soll. Ein solches Modell kann aber nur aus den in der Jahrzehnte währenden Diskussion gemachten Vorschlägen geformt werden. Diese Vorschläge sind alle im Blick auf die bestehenden Hochschulen und ihre Reform gemacht worden. Der Gedanke einer Forschungsuniversität, die die anderen Universitäten überhöhen und ergänzen könnte, hat nur sehr am Rande eine Rolle gespielt und ist auf keine große Zustimmung gestoßen. […] Soll heute eine Modell-Universität geschaffen werden, so muss sie Modell für die bestehenden Universitäten werden und der in der Diskussion steckenbleibenden Hochschulreform und der Unbeweglichkeit akademischer Gremien zu Entschlüssen aufhelfen.«
33 Wilhelm Hahn, Gutachten zur Neugründung einer Universität in Baden-Württemberg, 1.11.1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2. 34 Siehe dazu Hahn, Ich stehe dazu, S. 69–71. Darin auf S. 175 f. auch zum Einleitungsvortrag auf der Loccumer Tagung und zum Gutachten für das Ministerium.
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Hahn schlussfolgerte, dass die Entscheidung in Baden-Württemberg zugunsten einer klassischen, aber reformierten Universitätfallen solle. Etwas Entlastung müsste die neue Universität für die alten auch bringen. Neuartige Forschungsuniversitätenbrauchte es seines Erachtens nicht, denn für Hahn war im Gegensatz zu vielen anderen Universitätsvertretern offenkundig klar: »für Forschungszwecke haben wir Max-Planck-Institute«. Tatsächlich war die Forschungsuniversität eine vergleichsweise neue Idee in den Diskussionen und löste die seit 1945 zunächst im Vordergrund stehende Beschäftigung mit Fragen der Erziehung und Bildung und anderer organisatorischer Fragen nun als neueste Idee ab. Hahn hielt aber an den älteren Reformvorschlägen fest und gab zu bedenken, dass eine einseitig auf die Forschung ausgerichtete Universität als eine starke Abweichung vom Normalen den Wechsel der Studierenden und Lehrenden nachhaltig erschweren würde. Diese Befürchtung hatten auch die Mitglieder der Neugründungskommission des Wissenschaftsrates gehabt und als limitierenden Faktor für die Abweichung der Neugründungen von den alten Universitäten betrachtet. Hahns Fazit lautete also, die neue Universität als Experiment zu verstehen, das im Erfolgsfall zum Modell für die anderen wird. Dazu gehörte für ihn auch – im Gegensatz zu Pick –, Forschung, Lehre und Berufsausbildung in der Universität zusammenzuhalten. Für Sprangers Vorstellung einer Universität in Konstanz waren diese Begrifflichkeiten nicht von zentraler Bedeutung. Statt einer Modellhochschule schwebte ihm eine exklusive Lösung für die geisteswissenschaftlichen Fächer vor, deren Vertreter zeitgenössisch offenbar zu Teilen einen Bedeutungsverlust empfanden.
Bildung, Erziehung und studentisches Wohnen Hahns Augenmerk als Befürworter des Modells einer »normalen«, aber reformierten Universität war auch klar, was es zu reformieren galt. Das Reformziel war demnach für ihn die seit der Nachkriegszeit diskutierte Ergänzung von Forschung und Lehre um Erziehung. Hierzu zitierte er – wie schon Rothe im Gutachten für Bremen – Heimpels Vortrag zur Honnefer Reformkonferenz von 1955 und verschiedene Schriften Jaspers. Unerklärlich war Hahn, dass die AusbauEmpfehlungen des Wissenschaftsrates vom November 1960 diesen Punkt ausgeklammert hatten. Obwohl er die inzwischen ein knappes Jahr alten AusbauEmpfehlungen für eine diplomatische Leistung hielt, weil Staat, Wirtschaft und Wissenschaft erstmals gemeinsame organisatorische und finanzielle Vorschläge unterbreitet hätten, bedeuteten sie ihm in Punkto Bildung und Erziehung »etwas wie ein Verhängnis«, nämlich »das Verpassen einer geschichtlichen Stunde zur Verwirklichung der Hochschulreform«. Durch die richtige Planung der Neugründung könne nun das Versäumnis des Wissenschaftsrates noch korrigiert werden. Rothe habe entsprechende Hinweise in seinem Bremer Plan gegeben, indem er Bildung und Erziehung als wichtigste Konstruktionselemente einer
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neuen Universität aufgenommen und die Bedeutung der gestärkten Hochschulgemeinschaft sowie ihre Sichtbarmachung im Campus gefordert habe. Obwohl Hahn sich in Sachen Studentenwohnheimbau in seinem Heidelberger Rektorat 1958 nach eigener Darstellung intensiv und erfolgreich engagiert hatte, äußerte er sich zur Frage des studentischen Wohnens im Gutachten nur indirekt, indem er die studentische Regelung des Zusammenlebens in den Wohnheimen als »kommunale Ebene studentischer Selbstverwaltung« bezeichnete, die Fragen der studentischen Selbstverwaltung generell ein neues Interesse bescheren und einen natürlichen Regelungsbereich zuordnen würde, »ohne dass sich die Studenten in die eigensten Verantwortungsbereiche des Lehrkörpers eindrängen müssen«.35 Anders als Hahn äußerten sich Spranger und Pick nicht zu generellen Bildungs- und Erziehungsfragen, wohl aber zum studentischen Wohnen. Dem Bremer Gutachten konnte er insgesamt zwar einiges abgewinnen, der obligatorischen Einrichtung von Studentenheimen aber nicht: »Studenten sollen nicht ausschließlich unter Studenten leben. Weder der klösterliche Geist noch der Korporationsgeist noch der Collegegeist kann von typischen Auswüchsen freigehalten werden.« Damit war für Spranger die Frage schon erledigt. Pick hingegen, der im Gegensatz zu den anderen Gutachtern einen Erfahrungshintergrund an amerikanischen Einrichtungen hatte, fand die Idee, zumindest eine Hälfte der Studierenden in Wohnheimen unterzubringen, die man mit weiteren Gebäuden der Universität zu einem Campus gruppieren würde, genauso einleuchtend wie eine Wohnpflicht für die ersten zwei Semester. Die Wohnheimfrage sah er, wie manche Zeitgenossen, in Kombination mit neuen Tutorien als Ersatzmöglichkeit für die persönlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisse aus früheren Zeiten. Weder Hahn noch Spranger oder Pick widmeten sich allerdings der Frage der studentischen Unterbringung und sozialer Aktivitäten der Studierenden, gar einer deutschen Interpretation des amerikanischen oder englischen College-Systems, mit besonderer Verve. Vermutlich lag dies mehr an mangelndem Interesse als am Gespür für die wachsende studentische Opposition in diesen Fragen. Die Vorschläge für organisatorische Reformen hielten sich insgesamt in engen Grenzen. In der Standortfrage sahen alle drei lediglich eine Wahlmöglichkeit zwischen Ulm und Konstanz, weil ihnen ein Ausbau der Wirtschaftshochschule Mannheim zur Universität als unvereinbar mit dem anvisierten Reformexperiment galt. Die landschaftlich schöne Lage von Konstanz sei in Kombination mit der geringen Einwohnerzahl ein Vorteil. Pick verwies hierzu auf Vorbilder erfolgreicher amerikanischer Universitäten, die in der Provinz lägen und so ein »Mindestmaß an Ruhe und Ungestörtheit« böten, wie die Universität von Illinois in Urbana-Champaign und die Cornell Universität in Ithaca. 35 Zum Heidelberger Wohnheimbauengagement Hahns siehe Hahn, Ich stehe dazu, S. 80 f.
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Expertisen aus dem Wissenschaftsrat Drei weitere Expertisen hatte das Kultusministerium aus dem Wissenschaftsrat bestellt. Welchen Mehrwert boten diese? Sie bezogen sich, vor allem auf die bis Ende Oktober 1961 in der Auseinandersetzung mit Raisers Skizze einer Studienhochschule entstandenen Ideen zur Organisation neuer Hochschulen. Im Gegensatz zu den ersten drei Gutachten enthielten sie keine Bemerkungen zum Thema Unterbringung der Studentenschaft, denn dieses war in der Kollegienhausdenkschrift des Wissenschaftsrates abgearbeitet worden, die dem Ministerium im Entwurf vermutlich schon vorlag. Raiser nahm in seinem knappen Gutachten nochmals Bezug auf seine Idee einer Studienhochschule aus dem Herbst 1960, die den Ausgangspunkt der Diskussionen dargestellt hatte, aber in der wissenschaftlichen Kommission auf sehr starke Bedenken gestoßen sei.36 Daraufhin habe eine kleinere Arbeitsgruppe der Neugründungskommission, zu der – was Raiser nicht explizit erwähnte – auch Dahrendorf und Hess gehörten, ein Projekt erarbeitet, mit dem »ähnlich wie bei den Neugründungen in England nicht von vornherein eine Volluniversität traditionellen Stils angestrebt, sondern eine Teiluniversität mit drei Fakultäten […] einer Philosophischen Fakultät, einer Naturwissenschaftlich-Biologischen Fakultät und einer Sozialwissenschaftlichen Fakultät« für höchstens 3.000 Studenten entworfen wurde. Auf die Details des Plans ging Raiser nicht ein, sondern verwies auf die Beratungsunterlage für die nächste Sitzung der Neugründungskommission, die Minister Storz als Mitglied der Kommission vorliege. Augenzwinkernd fügte er die Bemerkung an, »dass dem Gründungsausschuss bei seinen Überlegungen eine Hochschule im oberschwäbischen Raum vorgeschwebt hat«. Akzeptiere man nämlich neben Entlastung auch Reform als Motiv einer Neugründung, »könnte sich Baden-Württemberg angesichts seiner sonstigen Ausstattung mit Hochschulen besonders eignen«. Damit war, ohne dass allerdings Vorgeschichte und Motive dieser Parallelaktivitäten im Land und im Wissenschaftsrat erläutert wurden, vorsichtig der Bezug der Überlegungen im Wissenschaftsrat zu den Planungen in Baden-Württemberg hergestellt – der zum gegenseitigen Nutzen bestand: Der Wissenschaftsrat bekam die Möglichkeit, ein Reformmodell zur tatsächlichen Erprobung zu entwerfen und Baden-Württemberg erhielt bei seiner guten Grundausstattung an Hochschulen die Rechtfertigung für eine Neugründung am Bodensee – nämlich die Förderung der Hochschulreform. Eine genauere Rekonstruktion der Vorgänge, die zu dieser Parallelaktivität führten, geben die verfügbaren Quellen allerdings nicht her.
36 Ludwig Raiser, Bemerkungen zur Gründung neuer und Erweiterung bestehender wissenschaftlicher Hochschulen im Land Baden-Württemberg, 27.11.1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2.
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Auch der Generalsekretär des Wissenschaftsrates, Friedrich Schneider, thematisierte in seinem Gutachten den Verlauf der Überlegungen von Raisers Idee zur Förderung der Forschung und der Ausbildung fortgeschrittener Studierender zum schließlich entwickelten Vorschlag. Zwar sei die Einrichtung »eines solchen Zentrums für ›Höhere Studien‹ […] als Gedanke sicher reizvoll und lohnte die Mühe des Versuches einer Verwirklichung, wenn nicht damit die Gefahr verknüpft wäre, eine Stufung unseres Bildungswesens im Bereich der Hochschulen einzuleiten, die im Ende dazu führen müsste, die heutigen Hochschulen zu höheren Fachschulen zu degradieren«.
Neben dieses bekannte Argument der Statuskonkurrenz zwischen alten Universitäten und Neugründungen trat bei Schneider als zweites Grundsatzargument das der Aufgabenkonkurrenz zwischen Universitäten und Max-PlanckGesellschaft. Schneider sah in der Gründung einer solchen »Einrichtung mit Hochschulcharakter« nämlich die Gefahr, die mit der Gründung der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft begonnene Entwicklung der »Aushöhlung der Hochschulen im Bereich ihrer Forschungsaufgaben« beschleunigt würde.37 Wenn man aber, und das war die Kernforderung der Ausbau-Empfehlungen von 1960, an der Verbindung von Forschung und Lehre in den Universitäten festhalten wolle, müsse man »den Hochschulen die Möglichkeit zur Forschung erhalten und Forschungsinstitute mit neuen wichtigen Aufgaben […] in sie hinein gründen.« Im Vergleich zu Schneider hatte Hahn die Entwicklung in dieser Hinsicht weniger skeptisch beurteilt, als er auf die Max-Planck-Institute als natürliche Orte der Spitzenforschung verwies. Als eher praktische Argumente gegen Raisers ursprünglichen Plan der Studienhochschule führte Schneider ferner an, dass es in Deutschland, anders als in Frankreich, kein Auswahlsystem zur Beschickung einer von mehreren Universitäten gemeinsam getragenen Studienhochschule gebe – woher auch – und die bestehenden Hochschulen »angesichts ihres mit Sicherheit zu erwartenden Widerstandes gegen ›Joseph mit dem bunten Rock‹« die neue Universität hierbei nicht freiwillig unterstützen würden.38 »Dazu kommt, dass die Institute der Max-Planck-Gesellschaft für weite Bereiche der der Naturwissenschaften bezüglich der Nachwuchsausbildung die für die Studienhochschule vorgesehenen Aufgaben erfüllen oder zu übernehmen bereit sind.« Auch in den Geisteswissenschaften würden sich weitere Institutsgründungen vielleicht noch ergeben. Was Schneider aus Raisers Plan immerhin zu retten bereit war, war die Idee, die neue Universität »nicht in erster Linie von ihren Ausbildungsaufgaben, sondern 37 Diese kritische Bewertung hinderte ihn freilich nicht daran, 1966 als Generalsekretär vom Wissenschaftsrat zur Max-Planck-Gesellschaft zu wechseln. 38 Friedrich Schneider, Überlegungen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Hochschulen in Baden-Württemberg, 29.11.1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2.
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von der Realisierung eines wissenschaftlichen Programms her aufzubauen«. Das beinhaltete nach Schneider die Orientierung am Förderungsbedarf bestimmter Wissenschaftsgebiete und die Ermöglichung vielfältiger Verbindungen zwischen den Wissenschaftsgebieten, sowie mit Blick auf die Lehre den Verzicht auf ein Angebot aller Ausbildungsgänge, aber doch die Ermöglichung des Hochschulwechsels durch das Beibehalten hergebrachter Abschlussexamen. Tellenbachs Gutachten hatte diesen Äußerungen aus dem Wissenschaftsrat wenig hinzuzufügen.39 Er kritisierte Raisers ursprüngliche Überlegungen weniger offen als der Generalsekretär des Wissenschaftsrates, erinnerte aber daran, dass der Wissenschaftsrat erst im Vorjahr an der Verbindung von Forschung und Lehre festgehalten habe, was die Idee einer »Forschungshochschule« ausschließe. Seines Erachtens sollte man die Anforderungen an die Studierenden weder allgemein absenken noch Hochschulen auf eine Elite begrenzen. Tellenbachs pragmatische Auffassung lag insgesamt am nächsten zu der von Hahn, wonach eine neue Hochschule Vorbildfunktion für die alten hätte, es also um eine reformierte Normalhochschule gehen müsse, die »als Schrittmacher für Reformen diene, die an einer alten [Universität, M. M.] zwar auch möglich sind, die aber häufig noch auf Widerstände stoßen.« Konkrete Beispiele blieb er schuldig. Übereinstimmung herrschte zwischen Tellenbach und Schneider dahingehend, dass der Erfolg der neuen Universität mit den ersten berufenen Personen stehe und falle. Nach Schneider kam es darauf an, für die Neugründung Menschen zu finden, die sich dieser Sache voll verschrieben und dazu Fertigkeiten mitbringen würden, die er mit »Erfahrung, Phantasie, Pioniergeist« umschrieb. In der Bilanz brachten die drei Gutachten aus dem Wissenschaftsrat also im Vergleich zu den anderen drei Gutachten von Spranger, Pick und Hahn wenig mehr als Kommentierungen und Begründungen der in der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats im Sommer 1961 geleisteten Arbeit für das Konzept einer Modelluniversität. Einschließlich dieses Modellentwurfs lagen dem Kultusministerium Ende 1961 im Ergebnis vier sich teils überschneidende, weitgehend aber unterschiedliche Vorschläge vor, die mit einer Neugründung in BadenWürttemberg verwirklicht werden konnten. Insgesamt steckte in den Modellen mehr Traditionsbezug nach Humboldt als Rezeption internationaler Entwicklungen. Vereinfacht handelte es sich um vier Typen: Sprangers geisteswissenschaftliche Sabbat-Universität, Picks Kernuniversität für Forschung und Lehre ohne Ausbildung, Hahns reformierte und um Erziehung ergänzte Normaluniversität, sowie die Drei-Fakultäten-Universität aus dem Wissenschaftsrat mit guten Forschungsbedingungen und organisatorischen Reformen. Was würde das Ministerium mit diesen sehr unterschiedlichen Vorschlägen nun anfangen?
39 Gerd Tellenbach, Gutachten zur Neuplanung einer Hochschule in Baden-Württemberg, 27.11.1961, in: HSTA EA 3/907, 252, Bd. 2.
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3.1.4 Politische Meinungsbildung: Regierungsdenkschrift und Landtagsdebatten Bis zum Februar 1962 waren die verschiedenen Expertisen im Kultusministerium ausgewertet und eine Gliederung der Denkschrift entworfen worden. Dann verlangsamten sich die Arbeiten. Erst im Oktober 1962 verabschiedete das Kabinett – der sogenannte Ministerrat – die vollständige Fassung des Textes, der fortan eine Regierungsdenkschrift war, und es dauerte ein weiteres halbes Jahr, bis sie im März 1963 schließlich dem Landtag vorgelegt wurde. Von einem besonders hohen Tempo der Neugründungsarbeiten in der Landesregierung konnte auch jetzt nicht gesprochen werden, wohingegen sich im Rest der Republik die Entwicklungen deutlich beschleunigten. Zwar war im Herbst 1959 aus Baden-Württemberg der erste Vorschlag zur Gründung einer neuen Universität gekommen, nun holten die Länder Nordrhein-Westfalen und Bremen aber auf, da hier Gründungsausschüsse neuer Universitäten eingesetzt wurden, ohne dass eine Landesdenkschrift vorgeschaltet wurde. In welchem Umfeld musste das Kultusministerium die Konstanzer Pläne jetzt konkretisieren – wo standen die anderen Länderplanungen?
Länderwettbewerb um neue Universitätsideen Ein halbes Jahr, nachdem das baden-württembergische Kultusministerium ernsthaft mit Recherchen zur Neugründung begonnen und die Professorengutachten in Auftrag gegeben hatte, wurde im September 1961 der Gründungsausschuss für die Universität in Bochum unter Vorsitz von Hans Wenke eingesetzt. Bremen folgte kurz darauf im November 1961 mit einem Beratungsausschuss unter Vorsitz des Göttinger Theologen Otto Weber (1902–1966), der in Auseinandersetzung mit Rothes Gutachten weitere Empfehlungen für eine Bremer Universität erarbeitete. Unter dem Druck dieser Länderaktivitäten veröffentlichte im Mai 1962 der Wissenschaftsrat seine rasch fertiggestellten »Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen«, deren Entwürfe im Sommer und Herbst 1961 bei den Stuttgarter Vorarbeiten zur Regierungsdenkschrift bereits hatten berücksichtigt werden können. Selbst Berlin, wo im Westteil der Stadt schon zwei Universitäten existierten, versuchte der Senatsdirektor Friedrich Rau (1916–2001) (SPD) den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992) (SPD) im August 1962 für eine weitere Neugründung – eine »Leibniz-Universität« – zu gewinnen: »Nachwievor sehe ich große Chancen für Berlin als Schrittmacherin für Deutschland bei der Universitätsgründung: […]Was bedeutet es schon, wenn in Bochum die Technik mit der Universität verbunden und in Bremen das Musische und der Sport betont werden. In Regensburg wird, wenn überhaupt, eine Universität entstehen, die keinen anderen Ehrgeiz kennt, als jede Neuerung peinlichst zu vermeiden. Konstanz wird zwar sehr abweichend sein, aber doch wegen seiner beabsichtigten Exclusivität kein
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Modellfall für eine allgemeine Hochschulreform in Deutschland sein können. […] Hier eröffnet sich eine kulturpolitisch wesentliche Perspektive für Berlin. Die Gründung der deutschen Modelluniversität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wie die Berliner Gründung von 1810 das Modell der deutschen Universität des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts abgab, würde nachhaltigen Einfluss auf die kulturpolitische Entwicklung in Deutschland haben und damit zugleich Berlin Glanz und Ansehen verschaffen.«40
In dieser Gründerzeitstimmung stellte im Oktober 1962 der Verband Deutscher Studentenschaften sein Gutachten über zu reformierende alte und neue Universitäten vor und im Dezember 1962 war die Denkschrift des Bochumer Gründungsauschusses bereits fertig.41 Das Schrifttum, das zu konkreten Neugründungsvorhaben entstand, nahm binnen zweier Jahre einen beachtlichen Umfang an. Selbst in Bayern, das die seit Kriegsende bestehenden lokalen Bemühungen um Hochschul- und Universitätsgründungen in Regensburg, Bamberg und weiteren Städten des Landes lange Jahre nicht aktiv aufgegriffen hatte, kam nun eine Neugründung voran. Im Mai 1962 legte die Regierung dem Landtag eine Denkschrift zum Ausbau der bestehenden und zur Gründung einer neuen vierten Landesuniversität neben Würzburg und den zwei Münchnern vor. Diese Denkschrift informierte die Abgeordneten über die »gewaltigen Zahlen des erforderlichen finanziellen Aufwandes für den Ausbau unserer bestehenden Hochschulen« entlang der Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1960 und stellte fest, »dass sich in diesem Jahrhundert in Bayern keine Staatsregierung einem nach seiner kulturpolitischen Bedeutung und nach seiner finanziellen Tragweite auch nur annähernd vergleichbaren Problemkreis gegenüber gesehen hat«, wie es Ausbau und Neugründung von Universitäten nun bedeuteten.42 Die hochschul- und wissenschaftspolitische Aufgabe wurde also auch im noch agrarisch geprägten Bayern angenommen Für eine Neugründung in Bayern spreche neben der Entlastung der bestehenden Universitäten in einzelnen Fächern auch das Argument »für die Bewältigung der Bildungsaufgaben unserer Zeit, unserer Gesellschaft und unserer Hochschulen in entscheidender Weise einen neuen Grund zu legen«.43 Die letzte Hälfte des Satzes markierte den, wenn auch vage 40 Brief Senatsdirektor Friedrich Rau an Bürgermeister Willy Brandt, 20.8.1962, in: UAKO 148/15. Merkwürdig mutet an dieser Einordnung der Neugründungssituation im Sommer 1962 an, dass die Freie Universität von der zuständigen Senatsverwaltung nicht erwähnt wurde. Entweder sah man sie nicht mehr in einer fortdauernden Reformrolle oder überspielte dies zunächst, um weitere Ressourcen zu erschließen. 41 Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 207–264. 42 Denkschrift über Ausbau und Neuerrichtung wissenschaftlicher Hochschulen in Bayern, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 148–201, hier S. 158. 43 Ebd., S. 179 f.
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formulierten Anspruch der Modernisierung, der mit einem Neugründungsprojekt nun auch in Bayern verbunden wurde.44 Planung und Vorarbeiten für eine neue Universität sollten jedenfalls beginnen, so die Linie des bayerischen Kultusministeriums, auch wenn der Ausbau der bestehenden Hochschulen zunächst vorrangig zu betreiben war. Das Finanzministerium sah dies anders und seine Skepsis wurde in derselben Denkschrift ganz offen präsentiert.Die Haushälter, begründeten ihre Ablehnung von gleichzeitigem Ausbau und Neubau wurde nicht nur mit dem pflichtgemäßen Aufruf zur Ausgabendisziplin, sondern interessanterweise mit einem inhaltlichen Einwand. Das bayerische Finanzministerium wies nämlich darauf hin, dass »eine allgemeine Konzeption für weitere Gestaltungen im Hochschulbereich gegenwärtig schwieriger denn je erscheinen muss, da grundlegend neue Vorstellungen und Pläne erst im Entstehen begriffen und noch keineswegs abgeschlossen sind. Gerade diese Situation lässt es als bedenklich erscheinen, ohne eigene und besondere Untersuchungen und damit ohne jede feste Grundlage eine Entscheidung über Form und Standort einer neuen Hochschule in Bayern herbeiführen zu sollen.«45
Tatsächlich hatte auch das Kultusministerium seiner Unsicherheit über den genauen Charakter der Neugründung dadurch Ausdruck gegeben, dass es die Notwendigkeit von Expertenberatung für die Ausgestaltung »einer neuen Hochschule – sei es alten oder neuen Stils«46 einräumte, ohne aber zu spezifizieren, was diese Stile genau unterscheide. In Anbetracht der Unklarheit über das weitere Vorgehen und der hohen Kosten wollte das Finanzministerium keine zwingende Begründung für eine sofortige Errichtung einer neuen Universität erkennen. Nun fügte es sich für die Regensburger Universitätsbefürworter aber günstig, dass 1962 ein Landtagswahlkampf in Bayern zu führen war. Die Regensburger konnten an ihre Universitätsgründungswerbung seit Kriegsende anschließen und veröffentlichten 1961 vorsichtshalber, so wie im gleichen Jahr auch viele andere Städte in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, ein weiteres Memorandum mit Argumenten für die Universitätsgründung in ihrer Region. Ein Jahr nach dieser zusätzlichen Werbeschrift und kurz nach Diskussion der Landesdenkschrift im Kultusausschuss des Landtages konnten die Regensburger erfreut zur Kenntnis nehmen, dass ihre Lobbyarbeit endlich erfolgreich war und der Bayerische Landtag trotz der Bedenken des Finanzministeriums am 10. Juli 1962 das Gesetz über die Errichtung einer vierten Landesuniversität in Regensburg beschlossen hatte. Noch im gleichen Monat wurde ein sogenannter Organisationsausschuss unter Vorsitz des Kultusministers selbst eingesetzt. Dass es einen Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Entschluss für 44 Vgl. hierzu Weber, Gründung im Zeichen bayerischer und westlicher »Modernisierung«. 45 Ebd., S. 183. 46 Ebd., S. 179.
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Regensburg als Standort einer vierten Landesuniversität und der Herkunft des nach der Landtagswahl im Dezember 1962 dann zum neuen bayerischen Ministerpräsidenten gewählten Alfons Goppel (1905–1991) (CSU) aus eben dieser Stadt gab, ist wohl nicht auszuschließen. Auch wenn der genaue Charakter der Regensburger Neugründung nicht klar war und manche diesbezügliche Peinlichkeit noch bevorstand, war auch Bayern im Sommer 1962 – Wahlgeschenk hin oder her – nach Bremen und Bochum in Sachen Universitätsneugründung an Baden-Württemberg vorbeigezogen.
Regierungsdenkschrift zu Ausbau und Neugründung in Baden-Württemberg Während die Neugründungen in Nordrhein-Westfalen also ohne Landesdenkschrift rasch vorankamen und Bayern eine solche weniger ausführlich und schneller erstellte, wurde dem Landtag in Baden-Württemberg eine aufwändige Denkschrift vorgelegt, die viel Zeit kostete. Erst im März 1963, rund ein Jahr später als in Bayern, lag den baden-württembergischen Abgeordneten das Memorandum der Landesregierung zu den avisierten Hochschulgründungsplänen vor – fast zwei Jahre nach Beauftragung durch den Kultusminister und dreieinhalb Jahre nach Kiesingers Gründungsimpuls.47 In der Einleitung bemühte sich das Kultusministerium zunächst, jeden Eindruck der Verschleppung des Projektes zu vermeiden.48 Man habe natürlich seit der Äußerung des Ministerpräsidenten 1959 sein Augenmerk auf die entsprechenden Fragen gelegt. Dies sei wegen der zunächst »noch völlig offene[n] Sachlage« und der Aktivitäten der interessierten Städte aber eben in »äußerster Zurückhaltung« geschehen. Tatsächlich gab es einen intensiven Wettbewerb der Städte Konstanz, Ulm und Mannheim um die neue Universität, und die Landesregierung schlug in ihrer Denkschrift nun auch eine Entscheidung vor, die Härten vermied: Es sollten nämlich alle drei konkurrierenden Städte gleichermaßen zum Zuge kommen. Neben dem großangelegten Ausbau der bestehenden Hochschulen und Universitäten des Landes, der nur noch am Rande erwähnt wurde, plädierte die Landesregierung für die Gründung einer Universität in Konstanz, die Gründung einer Medizinischen Akademie in Ulm und den mittelfristigen Ausbau der Wirtschaftshochschule Mannheim zur Universität. So konnten alle Wettbewerber zufrieden sein. Spätestens jetzt war die Gründerzeit für Hochschulen und Universitäten also in Baden-Württemberg vollends im Gange. Dass es sich bei dem vorgeschlagenen Programm um eine adäquate Reaktion handelte, sollte eine knappe Aufstellung der Studierendenzahlen und der Neugründungsaktivitäten in anderen Ländern 47 Denkschrift über die Errichtung von wissenschaftlichen Hochschulen in Baden-Württemberg, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 75–147. 48 Kultusminister Storz erklärte in seinen Erinnerungen, diese Einleitung selbst geschrieben zu haben: Storz, Zwischen Amt und Neigung, S. 223.
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verdeutlichen. Hier war im alarmistischen Ton der Überfüllungsdebatte von 1959 nochmals nachzulesen, dass »die Studentenwelle, welche die Hochschulen zu überfluten droht« auch in anderen Ländern auftrete und Neugründungen dort ebenso verfolgt würden – etwa in Großbritannien, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Italien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Norwegen. Trotz Autenrieths USA-Studienreise 1961 handelte es sich hierbei aber um die einzige längere Passage mit Angaben zu internationalen Entwicklungen. Was hatte das Kultusministerium aus den sechs Expertisen für das Konstanzer Neugründungsvorhaben vom Herbst 1961 und den von einer Hälfte der Gutachter fast gleichzeitig erarbeiteten Anregungen des Wissenschaftsrates, insbesondere dessen Unterausschuss zur Organisation neuer Hochschulen herausgezogen und in seine Planungen übernommen? Ohne die Gutachter namentlich zu nennen, wurden die Beratungsleistung sowie zwei Treffen dieses Kreises erwähnt. Das zweite Gutachtertreffen im Dezember 1961, so hielt die Einleitung recht freimütig fest, »führte im Lauf längerer Dauer schließlich zu einer so ziemlich einhelligen Auffassung« bezüglich der neuen Konstanzer Universität. Hier wird das Bemühen des Ministeriums deutlich, einen Konsens der Gutachter herzustellen, was in Anbetracht der teils sehr unterschiedlichen Vorschläge mindestens ambitioniert war. Ziel der Konstanzer Neugründung sollte in den Worten der Landesdenkschrift sein, »organisch aus der überkommenen Gestalt der deutschen Universität eine neue zu entwickeln, die jedoch mit der alten Universität in Verbindung stehen und sich in ihren Kreis einfügen sollte«, also etwas Neues, aber auch nicht zu Andersartiges.49 Ausgeschlossen wurde in Übereinstimmung mit den Auffassungen von Hahn, Tellenbach und Schneider eine einseitige Ausrichtung auf die Forschung. Als Hauptziel wurde »jene pädagogische Wirkung, die von der Teilnahme an wissenschaftlicher Arbeit, also von der Vereinigung von Forschung und Lehre als dem Prinzip der Universität erhofft wird«, ausgemacht, wobei »die Forschungstätigkeit der akademischen Lehrer nicht eingeschränkt werden darf.«50 Um dieses Ziel – quasi Forschung und Lehre, mit möglichst viel Forschung – zu erreichen, wollte man Beschränkungen der Fächer und der Studentenzahl vornehmen, wobei erstere nicht zu eng ausfallen sollte, damit die »andere Seite der Universitätsidee, nämlich die von der universitas litterarum erhoffte Wechselwirkung verschiedener Disziplinen […] möglich bleibt«.51 Nach dieser Aufnahme von Picks Plädoyer für eine Konzentration auf die altbewährten universitären Kernkompetenzen versuchte man aber auch Spranger noch gerecht zu werden, der in seinem Gutachten die Geisteswissenschaften ins Zentrum gestellt hatte und formulierte zumindest vage als Möglichkeit, dass »im 49 Denkschrift über die Errichtung von wissenschaftlichen Hochschulen in BadenWürttemberg, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen, S. 75–147, hier S. 81. 50 Ebd., S. 81 f. 51 Ebd., S. 82.
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ersten Stadium der Neugründung der Schwerpunkt etwa auf die Geisteswissenschaften zu liegen kommen« könnte. Denn, so die Begründung, die S pranger selbst in dieser Dramatik allerdings nicht gewählt hatte, es »droht ihnen Gefahr, dass sie an Bedeutung, an Ansehen und Förderungsdringlichkeit hinter den Naturwissenschaften und den technischen Disziplinen im Bewusstsein der Allgemeinheit zurücktreten. Das ist verständlich, aber in Ländern, in denen man im handgreiflichen Nutzen nicht das entscheidende Kennzeichen der Wissenschaft sieht, muss einer solchen Einseitigkeit widerstanden werden.«52 Es galt scheinbar, eine nationale Geistestradition gegen allzu viel Anwendbarkeits- und Nützlichkeitsdenken zu verteidigen, das mit der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg nochmals Auftrieb erhalten hatte. Die Geisteswissenschaften sollten in jedem Fall prominent berücksichtigt und dem Gegenwind eines von technischer Machbarkeit geprägten Zeitgeistes gegenüber auch gestärkt werden, diesen Eindruck erweckte die in der Denkschrift gewählte Formulierung. Eine Drei-Fakultäten-Universität mit einer philosophischen, einer sozialund einer naturwissenschaftlichen Fakultät sollte das Ziel sein: »Dieser neue Typ einer Hochschule soll die Fakultäts- und Fachgrenzen überwinden helfen und die Kräfte konzentrieren.« Der Begriff der Interdisziplinarität tauchte noch nicht auf. Die Quelle des Vorschlags wurde nun auch offen genannt: »Die Diskussion des Kultusministeriums mit dem von ihm berufenen Gutachterkreis der Professoren […], hat schließlich auf den Vorschlag hingeleitet, den der Unterausschuss des Wissenschaftsrates für Neugründungsfragen […] vorgelegt hat.«53 Die Formulierung ließ zwar offen, warum es dazu gekommen war und wer genau für diese »Hinleitung« gesorgt hatte, jedenfalls war es schlussendlich zu einer weitgehenden Übernahme des Plans gekommen, den Raiser mit Dahrendorf, Hess und Tellenbach – ebenfalls allesamt Professoren aus Baden-Württemberg – für den Unterausschuss im Wissenschaftsrat von Juli bis September 1961 unter der Berücksichtigung der neuesten DFG-Fächerdenkschriften ausgearbeitet hatte, etwa zeitgleich zur Erstellung der übrigen Gutachten für das Land. Wie schon im Modell-Vorschlag des Wissenschaftsrates wurden auch in der Landesdenkschrift die Fachausrichtungen der drei Fakultäten beschrieben, der Bedarf an Lehrstühlen aufgelistet und die einzelnen fakultätsinternen Institute und überfakultativen Institute genannt. In Übereinstimmung mit Rothes Bremer Plan wurde die Universitätsbibliothek als »Mittelpunkt der neuen Hochschule«54 aufgefasst. Für die Philosophische Fakultät hatten es die Kulturen des Mittelmeerraumes trotz Coings Protest auch in die Konstanzer Vorplanung geschafft. Die Sozialwissenschaftliche Fakultät wurde in Linie mit der von Lepsius verfassten DFG-Denkschrift mit der Notwendigkeit begründet, den Anschluss 52 Ebd. 53 Beide Zitate ebd., S. 83. 54 Ebd., S. 84.
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an das internationale Wissenschaftsniveau herzustellen. Ihre Förderung schien ferner deshalb geboten, weil diese »Wissenschaftszweige mit der sozialen und politischen Problematik der jeweiligen Gegenwart eng zusammenhängen« und die Funktion einer institutionellen Dauerkontrolle der gesellschaftlichen Verhältnisse ausübten. Demgegenüber sollten die Rechtswissenschaften zurücktreten, für die in der sozialwissenschaftlichen Fakultät zunächst nur ein Teilstudium vorgesehen war. Das stand immerhin im Gegensatz zur Forderung des Ministerrates vom Oktober 1962, nach der ein volles Jurastudium zunächst »erwünscht« und schließlich, nach einer Korrektur des Protokolls, sogar für »angezeigt« gehalten wurde.55 Für die naturwissenschaftliche Fakultät wurde der Schwerpunkt auf der Verbindung zur Philosophie gelegt. Welche weiteren Elemente der Neugründung hatten das Ministerium überzeugt? Es tauchten die von Spranger vorgeschlagenen Gastlehrstühle wieder auf, wobei nach Vorstellung der Denkschrift hiermit bevorzugt inländische Professoren »nicht zuletzt der benachbarten alten Universitäten« berücksichtigt werden sollten – ein Zückerchen scheinbar für die Hochschullehrer der Landesuniversitäten, die das Reservat mit guten Forschungsbedingungen neben ihren großen Heimatuniversitäten zu dulden haben würden. Von der Unterarbeitsgruppe des Wissenschaftsrates wurde ferner der Vorschlag der Größenbegrenzung auf 3.000 Studierende (1.000 je Fakultät) als »konstituierendes Strukturelement« übernommen – hier wie dort ohne explizite Begründung dieser Zahl. Immerhin war das gegenüber den ersten Ideen Autenrieths vom Mai 1961 schon eine Verdoppelung der Studentenzahl. Lediglich im Anhang zu den internationalen Entwicklungen tauchte die Zahl 3.000 wieder auf, als Durchschnittsgröße der sieben englischen Neugründungsvorhaben. Als kleiner Rest der verworfenen Idee einer Graduiertenhochschule sollten gewisse Zugangsbegrenzungen bleiben, denn nur in der Philosophischen Fakultät sollten Erstsemester aufgenommen werden, in den anderen beiden erst nach drei Semestern. Generell wurde eine neue Art der Zulassung durch noch zu erarbeitende besondere Prüfungsformen und einzelne Vorstellungsgespräche vorgeschlagen.56 Während zu Verfassung und Verwaltung der neuen Universität nur wenige Zeilen formuliert wurden, die eigentlich nur den Vorschlag zur besseren Einbindung der Nicht-Ordinarien und einem längeren Rektorat enthielten – das Festhalten an den Fakultäten wurde zuvor ja schon geschildert –, wurde das studentische Gemeinschaftsleben und Wohnen vergleichsweise ausführlich erörtert. Im Gegensatz zur Kollegienhausdenkschrift des Wissenschaftsrates, die das Pro und Contra eines Wohnzwangs erörtert und sich schließlich gegen einen Wohnzwang ausgesprochen hatte, forderte die Landesregierung eine 55 Auszug aus der vertraulichen Niederschrift über die Sitzung des Ministerrats vom 15.10.1962 und vom 23.10.1962, in: HStAS EA 3/907, 250/4. 56 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen, S. 87.
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Wohnverpflichtung für die ersten drei Semester. Stark an Rothe und auch Hahn angelehnt, aber doch im Konjunktiv hieß es: »es wäre denkbar, dass sich die Studiengemeinschaft, die communitas docentium et discentium […] zu einer Art Lebensgemeinschaft erweitert.«57 Was bedeutete nun aber »denkbar« – dass es weiter geprüft werden sollte oder nur eine hübsche Idee war? Verwiesen wurde auf englische und insbesondere amerikanische Universitäten, die in der »dort häufigen Anordnung der Universität in der Art eines eigenen, reizvoll und locker gebauten Gemeinwesens höchst bemerkenswerte Wirkungen pädagogischer Art gewonnen« hätten, wobei das »höchst bemerkenswerte« leider nicht weiter ausgeführt wurde. Keinesfalls beabsichtigt wurde allerdings, »Universitätsprofessoren zu Jugendleitern zu machen« oder »Studenten im Sinne irgendeiner definierten Ideologie zu lenken und zu formen.« Vorsichtig artikuliert wurde vielmehr die Erwartung, »je behutsamer hernach verfahren, je weniger im Voraus institutionell in dieser Hinsicht verfügt wird, desto größer wird die Aussicht sein, dass sich an der neuen Universität ganz von selbst eine neue geselligere Form des Verhältnisses der Studenten untereinander, andererseits der Professoren zu den Studenten herausbilden wird«.58 Der Protest der Studierenden gegenüber als patriarchalisch wahrgenomme nen Erziehungsversuchen in den Diskussionen in Loccum 1961 wie auch im Gutachten ihres Dachverbandes 1962 zeigte scheinbar erste Wirkung darin, dass die entsprechenden Absichtserklärungen der »Gegenseite« zunächst einmal vager formuliert wenn auch nicht aufgegeben wurden. Der Begriff »Erziehung« war, ohne dass auf das Gutachten des VDS allerdings direkt Bezug genommen wurde, in der Landesdenkschrift sogar spurlos verschwunden. Zur Verwirklichung der avisierten neuen Lebensgemeinschaft auf dem Campus wurde jedoch ein umfangreiches Programm an Wohnbauten mit nicht weniger als 700 Wohnungen für das Personal der Universität – vom Professoren bis zum Gast – und 1.000 Wohnheimplätzen für ein Drittel der Studierenden entworfen. Darauf entfielen immerhin 85 Millionen DM von insgesamt erwarteten 525 Millionen DM für die Bau- und Ersteinrichtungskosten der Neugründung. Im Vergleich zum Bremer Gutachten, das 1960 noch Gesamtkosten von 280 Millionen DM errechnete und zehn Prozent für die Wohnbauten reservierte, war das eine beträchtliche Steigerung am Anteil der Gesamtbausumme, deren Befürworter gleichzeitig in die Defensive geraten war.
Konsenssuche der Regierung: Verhandlungen im Landtag Wie präsentierte die Landesregierung ihr Neugründungsprojekt dem Parlament in Stuttgart und welche Änderungen ergaben sich aus den dortigen Diskussionen? Am 30. Mai 1963, mehr als dreieinhalb Jahre nach seinem ersten Vorschlag 57 Beide Zitate ebd., S. 87 f. 58 Beide Zitate ebd., S. 88.
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zur Konstanzer Neugründung, konnte Ministerpräsident Kiesinger in einer Regierungserklärung endlich dieses wichtige Projekt seiner Landespolitik präsentieren.59 Allerdings relativierte er die Aussagen der Regierungsdenkschrift und stellte fest, dass man von ihr »keinen fix und fertigen Plan der neu zu errichtenden Hochschulen erwarten« dürfe, sondern diese lediglich einen Rahmen für die weitere Arbeit des Gründungsausschusses mit Landesregierung und Landtag »inmitten der mächtig anschwellenden allgemeinen Reformdiskussion« abstecke.60 Kiesinger untermauerte seine Hochschulpolitik der Gründung einer neuen und in Teilen neuartigen Universität in Konstanz, einer medizinischen Akademie in Ulm und des Ausbaus der Mannheimer Wirtschaftshochschule mit den Argumenten zweier Soziologen. Zuerst zitierte er aus dem gerade erst im April 1963 erschienenen Buch Helmut Schelskys »Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen«.61 Schelsky habe als Ziel der gegenwärtigen Neugründungsbemühungen ausgerufen, den Einstieg in »ein differenziertes Hochschulgefüge« zu erstreben »das in seiner Unterschiedlichkeit besser geeignet sein wird, die verschiedensten Funktionen der Hochschule in unserer Gesellschaft zu erfüllen als jede planmäßige Einheitsuniversität«.62 Gewisse Grenzen seien der Differenzierung zwar gesetzt, wobei er auf die Bedenken des Wissenschaftsrates verwies, der eine Einschränkung der Mobilität zwischen den Hochschulen befürchtete, aber der Gestaltungsspielraum dennoch sehr groß und bislang kaum genutzt. Der zweite Soziologe, den Kiesinger vor dem Landtag bemühte, war Ralf Dahrendorf, der sich im Vorjahr erstmals publizistisch zur Hochschulreform geäußert hatte.63 Dahrendorf hatte in seinem Aufsatz die Grundannahmen der deutschen Universität und ihre Reformbedarfe geschildert. Zur Idee einer Sogwirkung der neuen auf die alten Universitäten hatte er sich dort eher skeptisch geäußert und hielt dies, wie Schelsky, gar nicht für nötig, da mehr Differenzierung und weniger Gleichheit ganz angebracht sei. Wie Schelsky in seiner publizierten Antrittsvorlesung in Münster 1960, so war auch Dahrendorf der Meinung, dass wesentliche Ansätze zur Neugestaltung zwar von Hochschullehrern, nicht aber von der Universität als Institution zu erwarten seien. Auch sei »von der breiten politischen Öffentlichkeit gegenwärtig kein Impuls der Reform zu erwarten«.64 Deshalb liege die Chance und Verantwortung der Reform in erster Linie bei den Ländern als Träger der Hochschulen. Den darauf folgenden 59 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5818–5849. 60 Ebd., S. 5818. 61 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. 62 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5818–5849, hier S. 5819. 63 Dahrendorf, Starre und Offenheit. 64 Ebd., S. 291.
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Satz zitierte Kiesinger in der Regierungserklärung nun zur Untermauerung sei ner eigenen Politik wörtlich – vielleicht auch, weil er selbst seinen Kultusminister zur Universitätsgründung hatte überreden müssen: »Seltsamerweise scheint es nötig, Kultusministerien und Landtage (bzw. Landtagsausschüsse) heute dazu zu ermuntern, von ihrem Recht der Regierung, d. h. der Setzung und Wandlung von Normen, im Hinblick auf Universitäten Gebrauch zu machen. […] Es ist gewiss leichtsinnig, die Mächtigen zum Gebrauch ihrer Macht zu ermuntern; Gebrauch schlägt leicht in Missbrauch um; aber im Fall der deutschen Universitäten wird allmählich auch das Nichtstun zum Missbrauch der Macht.«65
Kiesinger zitierte Dahrendorf noch an einer zweiten Stelle seiner Regierungserklärung, um zu belegen, dass trotz inzwischen intensiviertem Länderwettbewerb mit angelaufenen Neugründungen in Bochum, Bremen und Regensburg noch genug Möglichkeiten für eine originelle und innovative Konstanzer Neugründung bestanden. Dieses Zitat stammte aus einer Fußnote in Dahrendorfs Aufsatz, in der jener den anderen Neugründungen attestierte hatte: »nicht alle diese Beschlüsse sind von reformerischer Phantasie beflügelt worden. Die Hoffnung der Reform verbindet sich daher vor allem mit der geplanten südwestdeutschen Universität.«66 Was weder Kiesinger in der Regierungserklärung noch Dahrendorf in seinem Aufsatz allerdings erwähnten, war, dass diese Publikation samt Fußnote recht unmittelbar nach Dahrendorfs Mitarbeit am Unterausschuss des Wissenschaftsrats zum Modell einer neuen Universität (in Konstanz) entstanden war, die damals nur Insidern bekannt war. Dahrendorf als Autor des Artikels warb also via Fußnote für die von ihm anonym mitverfasste Konzeption und Kiesinger nutzte diese Fußnote, um die von ihm als Landesvater ins Spiel gebrachte Idee mit Reformimpetus auszustatten. Die Forderung nach Differenzierung und Wettbewerb im Hochschulsystem und nach dafür unverzichtbaren Willensentscheidungen der Politik hatten freilich nicht nur Soziologen wie Schelsky und Dahrendorf formuliert. Im Januarheft 1963 der »Deutschen Universitätszeitung« hatte beispielsweise auch Georg Melchers (1906–1997), Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut für Biologie, entsprechende Forderungen erhoben. Zwar habe das einheitliche Universitätssystem in der Bundesrepublik auch einige Vorteile, doch plädierte er für eine klare Absetzung der neuen von den alten Universitäten und einen verstärkten Wettbewerb im System nach amerikanischem Muster. Eine der Neugründungen sollte deshalb am besten als Privatuniversität gegründet werden, die man vielleicht aus Mitteln der neuen Volkswagenstiftung finanzieren könnte. Doch es war nach Melchers Auffassung auch keine Katastrophe, »wenn man die jetzt zu gründenden [Universitä 65 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5818–5849, hier S. 5819. 66 Dahrendorf, Starre und Offenheit, S. 292.
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ten] in Frieden und Freundschaft mit den alten haben will, d. h. also wenn man eigentlich ein paar mehr alte, aber gar keine neuen will, dann schafft man doch auch schon etwas!«, nämlich mehr Studienplätze.67 Seine süffisanten Bemerkungen fanden in der weiteren Landtagsdebatte allerdings keine direkte Verwendung. Im Anschluss an Kiesinger vertrat Kultusminister Storz vor dem Landtag die Auffassung, die Neugründung diene der Hochschulreform dadurch, dass man »manches, was Humboldt gesagt hat, jetzt erst überhaupt aufgreifen und verwirklichen« wollte.68 Ziel sei es, »an die Werte der deutschen Universitätstradition anzuknüpfen, als da vor allem ist: Einheit von Forschung und Lehre« und »dann diese Universitätstradition zu klären, zu reinigen, und zwar dadurch, dass neue Wege entschieden eingeschlagen werden«. Nach Storz’ wenig inspirierenden Vortrag durfte der Finanzminister die beeindruckenden Gesamtkosten der Gründungen erläutern und schließlich sogar noch ein Abgeordneter der CDU als vierter Redner die Regierungsdenkschrift würdigen. Ludwig Heieck (1913–1985), kein erfahrener »Bildungsexperte« der Partei – denn solche mussten sich in den Parteien in diesen Jahren überhaupt erst finden –, fuhr dazu ein Feuerwerk an Superlativen auf. Die Konzeption für Konstanz sei »die weitestgehende, die fortschrittlichste, die reformfreudigste und damit auch die wagemutigste aller bisher bekanntgewordenen deutschen Neugründungspläne« – Baden-Württemberg war also nach eigenem Ermessen mit diesem »Superlativ in der Kulturgeschichte unseres Landes« an der Spitze des Reformzuges. Trotz dieser abschließenden Lobhudelei blieb nach der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten und den weiteren Reden der Regierungsmitglieder eigentlich immer noch unklar, was die genaue Zweckbestimmung des Konstanzer Neugründungsvorhabens nun war. Sollte hier Altes wiederbelebt oder Neues erprobt werden? Sollte die Neugründung den Einstieg in eine stärkere Differenzierung und damit durchaus eigene Wege verfolgen oder aber als ein Modell der Reform auf die übrigen deutschen Universitäten abstrahlen?
Reservat oder radioaktive Reform? Wie schätze die Opposition im baden-württembergischen Landtag die Regierungspläne für Konstanz ein? Erst nach vier Reden der Regierungsseite durfte sie etwas Wasser in den Wein geben, indem der SPD-Abgeordnete Walter Krause (1912–2000) kritisch nachfragte. Zwar stehe die SPD grundsätzlich positiv zur Neugründung einer Universität, aber man wolle »ein Modell für die Universitätsreform, das tatsächlich geeignet ist, Auswirkungen auf das bestehende Hochschulwesen zu erzielen.«69 Die Entlastung der bestehenden Hochschulen 67 Melchers, »Neue« – oder »mehr alte« Universitäten, S. 20. 68 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5821. 69 Ebd., S. 5830.
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müsse dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden. In Bochum, Bremen und Regensburg würden ja – unabhängig von der Größe der Neugründung – auch Reformgedanken erwogen. Krause befand sich in seiner diesbezüglichen Kritik in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Verbandes Deutscher Studentenschaften von 1962, das gerade erst auf dem medial vielbeachteten Studententag in Bochum Ende April 1963 – also vier Wochen vor der Landtagsdebatte in Stuttgart – die Idee vieler und großer Neugründungen mit einer Konzentration auf die Studienreform beworben hatte. Das studentische Gutachten scheint, auch wenn es von Krause nicht direkt zitiert wurde, einen deutlichen Einfluss auf die Meinungsbildung der baden-württembergischen SPD-Fraktion entfaltet zu haben. Der Erfolg einer großen Investition war für Krause nicht garantiert: »Das Konstanzer Modell hat nur einen Sinn […] und der Landtag kann nur dann eine halbe Milliarde DM dafür ausgeben, wenn wir mit einiger Wahrscheinlichkeit die Gewähr haben, dass von diesem Modell Wirkungen auf die bestehenden Hochschulen ausgehen werden« und eine solche Konstruktion zu finden, war seiner Ansicht nach schwierig. Ähnlich wie Kiesinger als wissenschaftliche Gewährsleute seiner Hochschulpolitik die Soziologen Schelsky und Dahrendorf herangezogen hatte, zitierte der Oppositionsabgeordnete Krause den Soziologen Eduard Baumgarten. Baumgarten, der eine »Modell-Universität« im Sommer 1960 vor dem Hochschulverband bereits gefordert hatte und der studentischen Kommission des VDS als Gesprächspartner für die Entwicklung entsprechender Ideen zur Verfügung gestanden hatte, hatte in seiner Arbeitsstelle für Hochschulforschung im Institut für empirische Soziologie an der Wirtschaftshochschule Mannheim selbst eine Stellungnahme zur Landesdenkschrift erarbeitet.70 Storz, der mit Baumgarten offenbar bekannt war, hatte ihm den Text der Landesdenkschrift zwar vorab zukommen lassen, ob er aber überhaupt eine Stellungnahme Baumgartens erbeten hatte, ist unklar.71 Die Rückmeldung, die er von Baumgarten – gefragt oder ungefragt – einige Wochen vor der Landtagsdebatte bekommen hatte, enthielt eine Generalkritik. Deshalb war es nun auch nicht Storz als zuständiger Minister, sondern Krause, der die Stellungnahme Baumgartens extensiv zitierte. Baumgarten hatte darin geurteilt, dass die in der Landesdenkschrift vorgeschlagene Beschränkung der Neugründung auf bestimmte Fächer keine genialische Idee war, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Eine allumfassende Volluniversität sei durch die Entwicklung der Wissenschaft unmöglich geworden.72 Deshalb sei es besonders wichtig, sich Kriterien der fachlichen Struktur einer Universität 70 Arbeitsstelle für Hochschulforschung, Neue Hochschulen in Baden-Württemberg. 71 Persönliches Schreiben des Ministers an Baumgarten vom 11.4.1963 in dem er ihn an die vorab und vertraulich erfolgte »nicht statthafte Aushändigung des Gutachtens an Dich« erinnert, in: HStAS EAs/907, 250/3. 72 Arbeitsstelle für Hochschulforschung, Neue Hochschulen in Baden-Württemberg, S. 2.
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bewusst zu machen. Als solche Kriterien schlug Baumgarten die Entwicklungsnotwendigkeiten der Forschung und des wissenschaftlichen Ausbildungswesens, die Vertretung an anderen Hochschulen und die regionalen Chancen und Bedarfe vor. Tatsächlich war in der Landesdenkschrift ein derartiges Set an Auswahlkriterien der Fächer in den drei vorgeschlagenen Fakultäten kaum erkennbar. Beim Durchgang durch die skizzierten Fakultäten schlug Baumgarten nochmals in dieselbe Kerbe wie Coing und Pick: Die Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik erschienen ihm »gegenüber anderen Ländern und gegenüber den Naturwissenschaften gerade wegen ihrer ausschließlich historischen und auf das Abendland gerichteten Zentrierung und der Vernachlässigung empirisch- gegenwartsbezogener und weltoffener Orientierung zurückgeblieben.«73 Statt den Schwerpunkt auf Mittelmeer-Kulturen zu legen, müsse die Isolation von Natur- und Sozialwissenschaften mit einem anderen Thema überwunden werden. Der SPD-Abgeordnete Krause zitierte im Landtagsplenum auch Baumgartens Kritik an der Organisation der neuen Universität.74 Auch wenn die neue Universität klein sein solle, sei dies – wie die englischen Neugründungen zeigten – kein Grund, die alte Fakultätsstruktur zu übernehmen. Für Baumgarten war klar, dass man nicht umhin komme, kleinere Einheiten als die Fakultäten zu schaffen, um eine repräsentative Vertretung aller Gruppen jenseits der Ordinarien zu ermöglichen, ohne dadurch eine zu starke Vergrößerung der Gremien zu verursachen. Während die Professionalisierung der Universitätsleitung inzwischen von vielen gefordert wurde, war der Ruf nach einer Beteiligung aller Universitätsmitglieder – und nicht nur der ordentlichen Professoren – wie er auch im VDS-Gutachten von 1962 erhoben wurde, noch vergleichsweise neu. Auch bei der Auswahl des Universitätsstandortes und der Positionierung der Einrichtung im Bildungssystem des Landes unterstellte Baumgartens Stellungnahme der Landesregierung recht deutlich mangelnde Professionalität. Statt die Verteilung von Bildungs- und Forschungsstätten als Mittel einer Entwicklungsförderung planvoll zu betreiben, werde Konstanz »apodiktisch« als außergewöhnlich günstiger Standort bezeichnet. »Auch die Rolle der neuen Universität im gesamten höheren Bildungswesen des Landes wie des Bundesgebietes bleibt in der Denkschrift undiskutiert«, stellte er fest.75 Auf die Frage des studentischen Wohnens oder gar des akademischen Gemeinschaftslebens ging Baumgarten hingegen nicht ein – hier war sein öffentlichkeitswirksamer und skeptischer Standpunkt spätestens seit der Tagung Ende 1961 in Loccum ja bekannt. Alles in allem sah eine schmeichelhafte Bewertung der geleisteten Landesvorplanung anders aus als das, was der Soziologieprofessor dem Kultusminis 73 Ebd., S. 5. 74 Ebd., S. 21. Der Soziologe hatte festgestellt, »die Struktur der vorgeschlagenen Universität stimmt mit der traditionellen Hochschulstruktur im Wesentlichen überein. 75 Ebd., S. 34.
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ter zugesandt hatte und was Krause nun in Teilen dem Landtag daraus vorlas. Die Landesregierung wollte die Kritik nicht gelten lassen. Storz wiegelte ab, es handele sich ja alles nur um Vorplanungen, wie er auch Baumgarten schon erläutert habe und eine Verfassung für die neue Universität, die sich mit den organisatorischen Fragen beschäftigen werde, müsse schließlich der Gründungsausschuss entwerfen. Kiesinger unterbrach Krauses Rede sogar mit den Worten »Herr Kollege Krause, Sie wissen, dass Herr Professor Baumgarten ein großer Außenseiter ist.«76 Nicht jeder Soziologe, so Kiesingers Botschaft, war auch politisch zitabel. Tatsächlich war Baumgarten (1899–1982) bei weitem nicht so prominent wie Schelsky und auch kein junger Nachwuchsstar wie Dahrendorf, hatte aber trotz einer wenig geradlinigen akademischen Karriere hierzulande durch Aufenthalte an mehreren renommierten Universitäten in den USA in den 1920er Jahren wertvolles Erfahrungswissen für die Hochschulentwicklung und glaubwürdiges Engagement in Sachen Hochschulreform anzubieten, auch wenn Kiesinger ihn nun zu diskreditieren suchte. Nicht zuletzt war Baumgarten ein geschätzter Gesprächspartner mancher Studentenvertreter.77 Im Ergebnis hatten Baumgartens Stellungnahme und mutmaßlich auch das Gutachten des VDS der SPD-Opposition Anregungen für eine kritische Auseinandersetzung mit der Landesdenkschrift gegeben, die in der Debatte nicht aus dem Weg geräumt werden konnten. So forderte die SPD von den Regierungsparteien substantielle Änderungen an der Vorplanung der Konstanzer Universität als Voraussetzung einer Zustimmung im Landtag. Sie verlangte eine ausbaufähige Planung in Konstanz mit Blick auf Gelände, Fächer und Studierendenzahlen und fand es »sehr problematisch«, dass an der sozial- und der naturwissenschaftlichen Fakultät keine Studienanfänger zugelassen werden sollten. Krause forderte einen Vorschlag zu Organisation, Studium und Forschung an der neuen Hochschule ein, der ein übertragbares »Modell für die Universitätsreform verwirklicht, das geeignet ist, die durch die großen Studentenzahlen entstandenen Probleme besser zu bewältigen und eine Entlastung der Hochschullehrer zugunsten der Forschungsarbeit zu ermöglichen.«78 Hinter dieser harschen Kritik verpuffte das, was der Tübinger Juraprofessor Walter Erbe (1909–1967), Rektor der Universität von 1948–1951, dem Landtag als Haltung der an der Regierung beteiligten FDP zum Konstanzer Plan schlussendlich vortragen konnte. Worin Erbe sich Krause jedoch anschloss, war die Erwartung, dass die Konstanzer Neugründung Modellcharakter haben 76 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5834. 77 So der erste Vorsitzende der VDS-Kommission Lothar Krappmann im Interview am 13.8.2007. 78 Protokoll der 86. Sitzung am 30.5.1963, in: Verhandlungen des Landtags von BadenWürttemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1963, S. 5836.
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müsste. Seine diesbezügliche Wortwahl verlieh dem Zeitgeist besonders prägnant Ausdruck: »Wir erwarten eine radioaktive Einwirkung auf die traditionellen Universitäten, denen es jedenfalls nicht so leicht fiele, Neues an die Stelle von Gewohntem zu setzen, wie es leicht ist bei einem Anfang ab ovo.«79
In der Hoffnung auf die gewissermaßen radioaktive Reform war Erbe bereit, die kostspieligen Gründungsvorschläge der Landesregierung mitzutragen und dadurch die Behauptung zu widerlegen »dass es zwar eine Geschichte der Hochschulreform gebe, nicht aber diese selbst«.
Konsenssuche im Kulturausschuss Die Landtagsdebatte über die Konstanzer Neugründungspläne hatte den Handlungswillen der Regierung und ihre Investitionsbereitschaft nochmals verdeutlicht, ebenso aber ihre Unsicherheit bei der Festlegung des genauen inhaltlichen Vorgehens. Nach der Plenardebatte zum Neugründungsprojekt am Bodensee begann im Kultusministerium Mitte 1963 zwar die Arbeit an der Zusammensetzung des Gründungsausschusses, doch Berufungen in dieses Gremium konnten für viele Monate noch nicht erfolgen, da man zunächst die Zustimmung des Landtags abwarten wollte. Dieser überwies die Landesdenkschrift aber zunächst in den Kulturpolitischen und den Finanzpolitischen Ausschuss bevor er in das Landtagsplenum zurückkam. Im Kern ging es bei den parlamentarischen Beratungen um die Frage, ob Kiesingers Regierungskoalition die Zustimmung der SPD-Opposition zum Paket der Neugründungen bzw. des Ausbaus in Konstanz, UIm und Mannheim gewinnen wollte und auch konnte, bevor 1964 die nächsten Landtagswahlen anstanden. Kiesinger und Storz scheiterten zunächst mit der Absicht, bei der ersten Beschäftigung des Kulturausschusses am 25. November 1963 bereits eine Zustimmung zur vorgelegten Denkschrift zu erhalten. Durch die »verzögerliche Behandlung«, so Kiesinger, sei man in bedenklichen Rückstand gegenüber den Neugründungsvorhaben in Bochum, Regensburg und Bremen gekommen.80 Erbe stimmte in die Warnungen von Kiesinger und Storz ein, dass man bei weiteren Verzögerungen für den Gründungsausschuss nur noch »Leute der Kategorie ›ferner liefen‹« bekommen werde, aber »man brauche Feuerköpfe dazu.« Die SPD empfand das Vorgehen der Landesregierung, die nun mit aller Macht den selbstverschuldeten Zeitverzug aufholen wollte, als Affront und bestand auf der Möglichkeit, über ihre Bedenken gegenüber der vorgelegten Regierungsplanung zu diskutieren – insbesondere über die Gestaltung des Konstanzer Modellcharakters und einzelne Vorgaben für den Gründungsausschuss. Weil die Re 79 Ebd. S. 5839. 80 90. Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses am 25. November 1963 in Stuttgart.
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gierung einen Gründungsbeschluss suchte, der von allen Parteien im Landtag getragen wurde, kam es am 7. Februar 1964 zu einer zweiten Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses über die Landesplanung zum Hochschulaus- und Neubau.81 Storz musste dort verschiedene Details der Regierungsdenkschrift erläutern und verteidigen, nicht nur gegenüber den Oppositionsvertretern. Ein Abgeordneter der CDU-Fraktion äußerte seine Bedenken gegenüber der restriktiven Zulassungspolitik: »Bei einer Aussparung der ersten drei Semester erscheine die Gefahr groß, dass Konstanz zu einer ›Elite-Universität‹ werde, was man nicht wünschen könne, weil dann die Auswirkungen auf die anderen Universitäten im praktischen Bereich verschlossen seien.«82 Die SPD ergänzte, dass auch die zweite Einschränkung auf 3.000 Studierende nicht absolut gesetzt werden dürfe: »Man wolle in Konstanz kein Reservat, sondern ein Modell, das Rückwirkungen habe und übertragbar sei. […] Es spreche doch viel Wahrscheinlichkeit dafür, dass große Schwierigkeiten auftauchen werden, an der Zahl von 3.000 Studierenden fest zuhalten.«83
Die Eignung des Mittelmeerraums als Forschungsschwerpunkt der neuen Universität – Alternativvorschlag der SPD- Opposition »Das Verhältnis von Mensch und Technik« – wurde ebenso angezweifelt, wie der Wohnzwang in Kollegienhäusern. Storz verwies für etliche Punkte auf den kommenden Gründungsausschuss. Direkt verteidigen wollte er die Größenbegrenzung der Studierendenzahl und insbesondere die Kollegienhäuser. Diese seien »eine große Chance für einen neuen Stil des akademischen Lebens« zwischen Studierenden und Professoren – »in Konstanz werde der Kollegienbetrieb fundamentale Bedeutung haben«, denn »die Zeit des bloßen Ansichdenkens, des Sicheinschließens ins Studio und des mehr oder weniger verdrossenen Gangs zur Vorlesung oder Seminars müsse vorbei sein.« Storz bestand vor dem Ausschuss nicht auf einem generellen Wohnzwang in den Kollegienhäusern, verstand aber den Widerstand der Studentenvertreter gegen diese Pläne nicht, weil es auf diesem Gebiet doch noch keine Erfahrungen gebe. Dass es sich möglicherweise um ein Kommunikations-Problem handelte, wie der »Handelsblatt«-Korrespondent Heerwagen nach dem Besuch der Loccumer Tagung Ende 1961 vermutet hatte, und was in so einem Fall dann unternommen werden könnte, um die Studierendenvertreter für den Plan zu gewinnen, wurde im Kulturpolitischen Ausschuss offenbar weder gesehen noch diskutiert. 81 Schriftlicher Bericht über die Beratungen des Kulturpolitischen Ausschusses zu der Denkschrift der Regierung betr. Errichtung von wissenschaftlichen Hochschulen in BadenWürttemberg, in: Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1964, S. 7689–7695. Die einzelnen Abgeordneten wurden im Bericht der Ausschusssitzung nicht namentlich genannt. 82 Ebd., S. 7690. 83 Ebd.
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Die SPD erklärte schließlich drei Punkte zur Bedingung ihrer Zustimmung, die die bisherigen Konstanzer Pläne entscheidend modifizieren würden: Konstanz sollte erstens Modell für die Hochschul- aber auch für die Studienreform werden – neue Wege für die Forschung sollten keineswegs allein im Vordergrund stehen. Zweitens sollten Studienanfänger in allen Fächern zugelassen werden und drittens kein Zwang zum Wohnen in Kollegienhäusern ausgeübt werden. Was nicht zum abschließenden Forderungskatalog der SPD gehörte und auch in der Debatte der Ausschüsse nicht mehr thematisiert worden war, war Baumgartens Plädoyer für eine Einbindung aller Universitätsmitglieder in die hochschulinterne Willensbildung. Diese Forderung, die auch der VDS 1962 aufgestellt hatte, gehörte 1963 weder für die Regierung noch für die Landtagsabgeordneten der Opposition zum Umfang der Reformen, die an einer neuen Universität unbedingt erprobt werden sollten. Für die drei Auflagen, die die SPD im Grundsatz schon ein dreiviertel Jahr vorher in der Landtagsdebatte über die Regierungsdenkschrift eingebracht hatte, stimmten schließlich alle Parteien, um die Neugründungen gemeinsam auf den Weg zu bringen. Der Landtagsbeschluss über die Gründung der Universität Konstanz und die Einsetzung eines Gründungsausschusses erfolgte schließlich am 27. Februar 1964 mit den genannten Auflagen.84 Die breite politische Unterstützung war nun zwar ein Erfolg für die Regierung, allerdings einer, durch den erneut viel Zeit verloren worden war und der die Substanz des ursprünglichen Planes antastete. Die Vorrangstellung der Forschung gegenüber der Studienreform wurde relativiert und die Bedeutung von Wohnheimexperimenten zurückgenommen, bevor der Gründungsausschuss seine Arbeit aufnahm. Die Positionen des Verbandes Deutscher Studentenschaften hatten, obwohl sie nur von der Opposition rezipiert worden war, erste Folgen für das Konstanzer Neugründungsprojekt.
3.2 Die Arbeit des Gründungsausschusses 3.2.1 Auf dem Weg zum Konstanzer Gründungsausschuss: Länderwettbewerb und »Bildungskatastrophe« Keine der Universitätsneugründungen am Anfang der 1960er Jahre erfolgte ohne die intensive Einbindung von Professoren. Welche Rolle fiel den Wissenschaftlern zu, wie füllten sie diese aus? Im Konstanzer Fall erfolgte die Einbindung der professoralen Expertise in mehreren Etappen. Nach den Gutachten zur 84 Antrag des Kulturpolitischen Ausschusses vom 13.2.1964 auf Landtagsbeilage 3961, dem der Landtag in 112. Sitzung am 27.2.1964 zugestimmt hat; Antrag zu der Denkschrift der Regierung – Beilage 2990 und Protokoll der 112. Sitzung am 27. Februar 1964, in: Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg, 3. Wahlperiode 1960–1964, Stuttgart 1964, S. 7651–7659.
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generellen Ausrichtung einer Konstanzer Neugründung, die das Kultusministerium im Herbst 1961 von fünf Professoren und einem Wissenschaftsadministrator für die Meinungsbildung der Landesregierung erbeten hatte, begannen im Mai 1963 im Kultusministerium Baden-Württemberg Vorbereitungen für einen Gründungsausschuss der neuen Universität. Offizielle Berufungen in diesen Ausschuss konnten allerdings erst nach dem Landtagsbeschluss über die Gründung erfolgen und bis zum diesem sollte ein weiteres Dreivierteljahr vergehen. Diese Verzögerung bot dem Ministerium die Möglichkeit, sich über die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Gründungsgremien in Bremen, Bayern und Nordrhein-Westfalen genauer zu erkundigen.
Orientierung an den Gründungsgremien in Bochum, Bremen und Regensburg Aktuellste Vorlage für die Recherchen des Kultusministeriums in Stuttgart war der Gründungsausschuss der Ruhr-Universität Bochum – das einzige Gründungsgremium, das schon während der Konstanzer Vorplanungen sein Ergebnis vorgelegt hatte.85 Zwischen September 1961 und Dezember 1962 hatten in ihm fünfzehn Professoren und der Generalsekretär des Wissenschaftsrates unter dem Vorsitz des Hamburger Pädagogen Hans Wenke (1903–1971) zusammengearbeitet, der zuvor Professor an der Universität Tübingen und dort 1953 auch Rektor sowie anschließend einige Jahre Senator für das Hamburger Bildungswesen gewesen war, also die Perspektiven von Wissenschaft und Politik einnehmen konnte.86 Die Bochumer Ausschussmitglieder wiesen einen Altersdurchschnitt von knapp 60 Jahren auf und waren zum geringsten Teil aus Nordrhein-Westfalen angeworben worden. Mit dem Juristen Helmut Coing, dem Ingenieur Kurt Klöppel und dem Generalsekretär Friedrich Schneider waren drei seiner Mitglieder zugleich für den Wissenschaftsrat tätig. Ein vierter Vertreter des Gremiums wäre der Historiker Gerd Tellenbach gewesen, doch an dessen Stelle wurde schließlich sein jüngerer Heidelberger Fachkollege Werner Conze berufen. Dem Bochumer Ausschuss lagen – trotz des Fehlens einer Regierungsdenkschrift wie in Baden-Württemberg und Bayern – Vorentscheidungen insofern vor, als in Anbetracht der Überfüllungsdiskussion ab dem Spätherbst 1959 die älteren Pläne für eine zusätzliche Technische Hochschule in Nordrhein-Westfalen in Pläne für eine Volluniversität mit Integration der Technikwissenschaften umgewandelt wurden und der Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates diesem Kurswechsel zustimmte. Dessen Generalsekretär hatte im September 1960 Überlegungen über Angebot und Bedarf an Studienplätzen in Nordrhein- 85 Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum. Denkschrift des Gründungsausschusses veröffentlicht vom Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Dezember 1962, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 207–264. 86 Stallmann, Euphorische Jahre; zur Arbeit des Gründungsausschusses S. 104–143. Eine Kurzfassung findet sich auch in Stallmann, Am Anfang war Bochum.
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Westfalen angestellt und auf dieser Basis eine Größenordnung von 7.000 bis 9.000 Studienplätzen an der Neugründung empfohlen. Die Nachfrage legte sei nes Erachtens »eine Universität der üblichen Prägung« anstelle einer Technischen Hochschule nahe. Den zu diesem Zeitpunkt bereits in der Diskussion befindlichen Begriff der »Modelluniversität« hatte Schneider als unglücklich bezeichnet, da er »die neue Hochschule von vornherein mit einer psychologischen Hypothek belasten würde«. Plausible Reformforderungen an die Struktur der neuen Hochschule waren seines Erachtens vor allem sechs Punkte: die Stärkung des Senats gegenüber den Fakultäten, deren Neugliederung in Abteilungen, eine stärkere Zusammenarbeit zwischen diesen, die Reorganisation der Institute mit gleichberechtigten Ordinarien, der Ausbau des Mittelbaus im Lehrkörper und die Schaffung von einzelnen, über die Fakultätsgrenzen hinweg reichenden Instituten.87 Von diesen Vorentscheidungen ausgehend, die dem Gründungsausschuss zur konstituierenden Sitzung vorlagen, wurden dann Strukturpläne für die einzelnen Fächer und Grundsätze für den organisatorischen Aufbau der Universität aufgestellt und schließlich auch Berufungsvorschläge unterbreitet.88 Wie ging der Gründungsausschuss in Bochum weiter vor? Wie Stallmann in seiner Geschichte der Ruhr-Universität dargelegt hat, befasste sich der Bochumer Ausschuss von Anfang an mit den Strukturplänen der Fakultäten bzw. Abteilungen, »ohne sich lange mit grundsätzlichen theoretischen oder konzeptionellen Vorüberlegungen aufzuhalten«.89 Erst ab dem Frühjahr 1962 beschäftigte er sich auch mit rechtlichen und organisatorischen Grundsätzen der Neugründung.90 Der Leitgedanke dieses Gründungsgremiums war »die allseitige Verflechtung der wissenschaftlichen Disziplinen«, wozu möglichst alle Fächer an einem Ort versammelt werden sollten.91 Zu diesem Versuch, wieder eine sogenannte Einheit der Wissenschaften herzustellen, gehörte es, die Ingenieurwissenschaften, die sich in Deutschland bisher in getrennten Technischen Hochschulen entwickelt hatten, »in engsten Konnex mit den Naturwissenschaften und auch mit den Geisteswissenschaften zu bringen«.92 Diese Integrationsidee zu beiderseitigem Nutzen war allerdings auch kein origineller Vorschlag des Gründungsausschusses, sondern aus den Vorüberlegungen der 87 Kurzreferat gehalten von Herrn Minister Schütz über Verfahrensfragen bei der Gründung von Hochschulen vor dem Gründungsausschuss des Wissenschaftsrates am 25.11.1960 in Köln, Drucksache 187/60 sowie Überlegungen zur Errichtung einer weiteren wissenschaftlichen Hochschule im westfälischen Landesteil des Landes Nordrhein-Westfalen, 5.9.1961, Drucksache 155/60, ohne Autor (Referat des Generalsekretärs Friedrich Schneider in der 2. Sitzung des Neugründungsausschusses am 23.9.1960), beides in: BArch B/247, 12. 88 So Stallmann, Am Anfang war Bochum, S. 115. 89 Zur Arbeit des Bochumer Gründungsausschusses: Stallmann, Euphorische Jahre, S. 109. 90 Dazu die Vorbemerkungen in: Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 207–264, hier S. 208 f. 91 Ebd., S. 209. 92 Ebd., S. 210.
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Landesregierung und den darauf aufbauenden Beratungsergebnissen im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates Ende 1960 hervorgegangen, wo man sich wiederum auf frühere Vorschläge berufen hatte.93 Zu diesen zählte unter anderem eine Anregung von Karl Jaspers, der entsprechende Bemühungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert hatte, aber auch Impulse der britischen Besatzungsmacht, die in Berlin den umgekehrten Weg eingeschlagen hatte und die Technische Universität Berlin bei der Integration zahlreicher universitärere Fächer in die vormalige Technische Hochschule unterstützt hatte. Wie im Wissenschaftsrat vorab skizziert, wurden als organisatorischer Reformbeitrag vom Bochumer Gründungsausschuss 18 neue Abteilungen an Stelle der früheren Fakultäten vorgesehen, um eine bessere Zusammenarbeit der Fächer und mehr Handlungsfähigkeit bei ihrer Verwaltung zu ermöglichen.94 In organisatorischer Hinsicht wollte man zudem – ebenfalls unter Verweis auf die Anregungen des Wissenschaftsrates aber auch auf amerikanische Vorbilder – Rektor und Senat mit mehr Kompetenzen ausstatten und eine Einheitsverwaltung aus Wirtschafts- und akademischer Verwaltung einführen. Die Erarbeitung einer Satzung für die neue Universität wurde auf später verschoben. Zu den weiteren Reformvorschlägen gehörte in Bochum, wie an allen folgenden Neugründungen, die Zentralisierung der Bibliothek.95 Die Idee einer allseitigen Verflechtung der Wissenschaften war zunächst nur von der Forschung her gedacht und überließ es den Studierenden selbst, sich interdisziplinär zu orientieren. Die Studenten sollten sich nach der Vorstellung des Gründungsausschusses dadurch institutionell in die neue Universität einordnen, dass sie an allgemeinen organisatorischen Aufgaben – allerdings nur im an anderen Hochschulen üblichen Rahmen – beteiligt und durch das Wohnen auf dem Campus enger mit der Universität verbunden sein würden. Dazu wurden die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagenen Kollegienhäuser mit ihren Lehrelementen in die Ausschussempfehlungen übernommen, als einer von mehreren Wohnheimtypen der neuen Universität.96 Ungefähr ein Drittel der Studierenden, vor allem der ersten Semester, sollten in den Bochumer Kollegienhäusern wohnen. Doch die Idee der Kollegienhäuser stieß, wie erläutert, seit 1962/63 auf den entschiedenen Widerstand der Studierenden. Dass die Kollegienhausidee in Bochum stillschweigend beerdigt wurde, lag vermutlich auch daran, dass mit ihr erhebliche Zusatzkosten verbunden waren. In Anbetracht der ohnehin schon explodieren 93 Zu den Vorstellungen des Bochumer Gründungsausschusses von der Verflechtung und Einheit der Wissenschaften: Stallmann, Euphorische Jahre, S. 141 ff. 94 Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 243. 95 Auf die Auswirkung der Universitätsneugründungen auf das Bibliothekswesen wird hier nicht eingegangen. Dazu Koppitz, Die Neugründung wissenschaftlicher Bibliotheken, sowie Paulus, Vorbild USA, S. 449 ff. 96 Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum, S. 248 f.
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den Baukosten konnte die Landesregierung froh sein über jedes Extra, das nicht benötigt wurde. Erst nach dem Wegfall der Kollegienhäuser beschäftigte sich der Gründungsausschuss, der nach Abschluss seines Berichtes von 1962 noch bis 1966 fortbestand, dann auch mit anderen Vorschlägen zur Reform des Studiums, die über Tutoreneinsatz in den Wohnheimen hinausgingen. Im gleichen Jahr – so viel im Vorgriff –, in dem der Wissenschaftsrat seinen entsprechenden Ausschuss zur Studienreform einsetzte und der Konstanzer Gründungsausschuss Vorschläge zu einem dreistufigen Studium unterbreitete, machte der Historiker Rudolf V ierhaus in Bochum 1964 ähnliche Vorschläge.97 Zunächst aber lag mit den Bochumer Empfehlungen vom Dezember 1962 ein konkretes Ergebnis vor, das auf einen wissenschaftstheoretischen Überbau der Neugründung verzichtete. Die beiden anderen Ausschüsse für Bremen und Regensburg waren zum Zeitpunkt der Erkundungen des baden-württembergischen Kultusministeriums noch nicht fertig mit ihren Arbeiten, aber schon knapp vor der Ziellinie. Die Bremer Senatsverwaltung hatte Mitte November 1961 einen 16köpfigen Ausschuss unter Vorsitz des Göttinger Professors und dort 1958 auch als Rektor amtierenden Theologen Otto Weber (1902–1966) zusammengestellt. Zu diesem Beratungsausschuss gehörten der Vorsitzende des kurz zuvor eingesetzten Bochumer Gründungsausschusses Hans Wenke, mit dem Mediziner Wolfgang Bargmann und dem Biologen Erwin Bünning ebenfalls zwei Mitglieder des Wissenschaftsrates, ferner der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt, für die Wohnheimfragen Walther Peter Fuchs, für die musischen Fragen kurzzeitig Carl Orff sowie weitere Vertreter verschiedener Fächer. Dieser Beratungsausschuss hatte eine wesentlich umfangreichere Vorlage als der Bochumer, nämlich das bereits ausführlich vorgestellte Gutachten Hans W erner Rothes von 1960/61 sowie ein ergänzendes Arbeitsprogramm der Bremer Senatsverwaltung, nach dem es Themenschwerpunkte der Universität, die Gliederung der Fakultäten, Organisationsfragen der Lehrerbildung, Verfassungsfragen und weitere Dinge mehr zu klären galt.98 Diese Modifikationen am Rothe-Gutachten wurden im Juli 1963 veröffentlicht.99 Bayern schließlich hatte im Juli 1962 einen Organisationsausschuss für die Regensburger Neugründung eingesetzt, der vom September 1962 bis zum Juni 1963 arbeitete.100 Dabei hatte der Freistaat einen völlig anderen Weg als Nord 97 Zu Vierhaus’ Konzept der Studienreform für Bochum: Stallmann, Euphorische Jahre, S. 131. 98 Brief Hans Werner Rothes zu Zusammensetzung und Aufgaben des Beratungsausschusses an Regierungsdirektor Piazolo vom 21.5.1963, in: HStAS EA 3/907, 250/4. Knapp zur Arbeit des Ausschusses: Gräfing, Bildungspolitik in Bremen, S. 202 ff. 99 Empfehlungen des Beratungsausschusses für die Gründung einer Universität zu Bremen, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 483–518. 100 Denkschrift über Ausbau und Neuerrichtung wissenschaftlicher Hochschulen in Bayern, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 148–201.
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rhein-Westfalen und Bremen eingeschlagen, der kaum als wissenschaftsdominiert bezeichnet werden konnte. Der wegen seiner politischen Zusammensetzung Aufsehen erregende und kritische Bemerkungen der Presse auf sich ziehende Organisationsausschuss versammelte unter dem Vorsitz des Kultusministers Maunz nämlich zunächst einmal Politiker und Ministerialbeamte – Vertreter der fünf Landtagsfraktionen, die Vorsitzenden der Landtagsausschüsse für Haushalt und Kultur, Vertreter der Ministerien für Finanzen und Inneres und aus Regensburg den Oberbürgermeister – sowie dann als Wissenschaftler noch den Vorsitzenden der Bayerischen Rektorenkonferenz, den Rektor der Regensburger philosophisch-theologischen Hochschule und schließlich Vertreter von sechs bayerischen Fakultäten. Die Wissenschaftler waren also in diesem Gründungsgremium gegenüber den Vertretern der Politik in der Minderheit. Mit Ausnahme des Münchner Anglisten Wolfgang Clemen (1909–1990) – Mitglied des Hofgeismarer Kreises – enthielt das Gremium keine Person, die zuvor mit hochschulreformerischen Äußerungen an die Öffentlichkeit getreten war. Der Leiter der Hochschulabteilung aus dem bayerischen Kultusministerium, Johannes von Elmenau (1906–1998), berichtete dem für Konstanz nun im Stuttgarter Kultusministerium zuständigen Beamten Paul Harro Piazolo (1926–2000) über das fast fertiggestellte Memorandum des Organisationsausschusses erstaunlich offen: »Mein persönlicher Eindruck ist, dass das Memorandum überwiegend von konservativen Gedankengängen bestimmt ist, wenn auch unter den sechs Vertretern der bayerischen Fakultäten einige jüngere und reformgeneigte Professoren sind […]. Die Reformüberlegungen der ›Anregungen‹ des Wissenschaftsrates sind m.W. wenig berücksichtigt worden. Ich habe den Eindruck, dass das überkommene Bild der Hochschulen den Professoren, auch dem Herrn Staatsminister für Unterricht und Kultus, weitgehend als Leitbild der Neugründung gedient hat.«101
Während die Landespolitiker mit ihren Neugründungsprojekten in Konkurrenz standen, fand auf der Arbeitsebene zwischen den Ländern offenbar durchaus Austausch statt. Tatsächlich wurde das Memorandum mit ersten Überlegungen zur Regensburger Universität, das im Juni 1963 schließlich vorlag, von einem anschließend eingesetzten Strukturbeirat, der im Mai 1964 – kurz nach dem Konstanzer Neugründungsausschuss – seine Arbeit aufnahm, auch verworfen. In der Aufbauphase versuchten sowohl die Universität Regensburg als auch das bayerische Kultusministerium sich von Art und Inhalt der ersten Regenburger Gründungsvorbereitungen deutlich abzugrenzen.102 101 Brief des Ministerialdirigenten Johannes von Elmenaus an den Regierungsdirektor Piazolo, 22.5.1963, in: HStAS EA 3/907, 250/4. 102 Das Kultusministerium gab das Memorandum des Organisationsausschusses 1967 zwar zum Wiederabdruck im Quellenband zu den Neugründungen frei, ließ allerdings in den Anmerkungsteil den Kommentar »Gestalt und Organisation der Universität Regensburg werden nicht nach dem Memorandum geformt« aufnehmen. Der Rektor schrieb ebenfalls
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Zusammenstellung des Konstanzer Gründungsausschusses Die Gründungsgremien in Bochum, Bremen und Regensburg zeigten also durchaus unterschiedliche Vorgehensweisen auf, die für Konstanz Vorbild sein konnten oder auch nicht. Nach den Vorrecherchen zu Aufgaben und Zusammensetzung der unterschiedlich benannten Ausschüsse für Bochum, Bremen und Regensburg fiel die Entscheidung, dass ähnlich wie in Bochum und Bremen verfahren werden sollte, da Bayerns Vorgehen offenkundig ja nicht einmal von der eigenen Ministerialverwaltung als vorbildhaft wahrgenommen wurde. Unter Berücksichtigung der vom Landtag noch anzunehmenden Regierungsdenkschrift sollte sich der Konstanzer Gründungsausschuss mit der Struktur der neuen Universität und den Erstberufungen beschäftigen. Über die personelle Zusammensetzung des Gremiums verständigte sich Kultusminister Storz, wie schon 1961 bei der Auswahl von Gutachtern und der Ausrichtung der Landesdenkschrift, erneut mit dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates Ludwig Raiser.103 Raiser selbst sollte zunächst offenbar als Vorsitzender des Gründungsausschusses gewonnen werden, lehnte dies aber ab. Nach der Darstellung von Storz empfahl Raiser ihm daraufhin seinen Nachfolger als Präsidenten der DFG, den Heidelberger Romanisten Gerhard Hess. Hess war seit Anfang der 1950er Jahre in zahlreichen wissenschaftspolitischen Funktionen tätig gewesen. Die veritable Liste der von ihm wahrgenommenen Ämter enthielt unter anderem folgende: Kuratoriumsmitglied des Deutschen Akademischen Austauschdienstes seit 1950, Rektor der Universität Heidelberg und Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz 1951–1952, stellvertretender Vorsitzender des Hochschulverbandes 1952–1954, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1955–1964, Vizepräsident der Alexander von Humboldt-Stiftung 1959–1964 und Mitglied des Wissenschaftsrates 1958–1965.104 Als Präsident der DFG hatte sich Hess insbesondere für eine Bestandsaufnahme der deutschen Forschung eingesetzt, um Rückstände gegenüber anderen Ländern aufzudecken und gezielt zu fördern.105 Insbesondere die Förderung fachlicher Schwerpunkte, die auch in den Ausbau-Empfehlungen des Wissenschaftsrates 1960 unterstützt worden war, wurde in Hess’ Amtszeit vorangetrieben. So hat die Konstanzer Idee der Beschränkung auf drei Fakultäten und bestimmte förderungswürdige Fächer wie Bereiche der Biologie und der Sozialwissenschaften wohl den doppelten Hintergrund der englischen Neuan die Herausgeber, dass das Memorandum »in keiner Weise für den Aufbau der Universität Regensburg bestimmend geworden ist«, siehe WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 884. 103 Aktenvermerk über Aufgabe und Zusammensetzung des Gründungsausschusses vom 12.7.1963, in: HStAS EA 3/907, 250/4. 104 Kurzes biographisches und wissenschaftspolitisches Portrait von Gerhard Hess bei Orth, Autonomie und Planung, S. 85–88. 105 Dazu ebd., S. 71 ff.
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gründungen mit ihrer kostengünstigen Beschränkung auf ausgewählte Fächer einerseits und der DFG-Aktivitäten zur gezielten Schwerpunktförderung dieser Zeit andererseits. Hess hatte in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« im Juli 1963 auch einen vielbeachteten Artikel zur Lage der Hochschulforschung platziert. Unter dem Titel »Hält die deutsche Forschung Schritt?« hatte Hess dort konstatiert: »In den Gebieten, die sich am Rande der klassischen Fächer und zwischen ihnen entwickelt haben und in denen es auf die Zusammenarbeit von Sachkennern verschiedener Disziplinen ankommt, herrscht im Ganzen – trotz Einzelleistungen von internationalem Niveau – ein Rückstand. Es sind dies die Bereiche, in denen die Forschung in Neuland vorstößt und sich neue Arbeitsrichtungen mit neuen Techniken entwickeln.«106
Ein ganzes Bündel von Antworten auf diese Herausforderung hielt Hess für denkbar: Flexible Organisation der Institute, mehr Gruppenarbeit, Ausbau von Forschungsabteilungen und auch die Gründung von hochschulunabhängigen, aber mit diesen verbundenen Forschungsinstituten.107 Vor dem Hintergrund dieser Statements und Überzeugungen von Hess war seine Gewinnung für den Konstanzer Gründungsausschuss auch eine gewisse inhaltliche Vorentscheidung, was die Ausrichtung und Aufgaben der neuen Universität betraf. Seine Agenda, so stand zu erwarten, würde sich wohl vor allem auf gute Forschungsbedingungen und eine Förderung der von der DFG als besonders förderungswürdig eingestuften Fächer richten. Neben Hess als Vorsitzendem war als stellvertretender Ausschussvorsitzender von Anfang an Ralf Dahrendorf gesetzt. Beiden waren ja, wie Raiser, an den Vorarbeiten des Wissenschaftsrates von 1961 für das Konstanzer Modell beteiligt gewesen. Dahrendorf verfügte natürlich nicht über derart viele Einblicke in verschiedene Institutionen des Wissenschaftssystems wie Hess. Er brachte an Kompetenzen aber die Innenansicht verschiedener in- und insbesondere auch ausländischer Hochschulen mit und seinem Fachgebiet Soziologie wurde von der Politik zeitgenössisch viel zugetraut. So stand das Duo Hess/Dahrendorf für die Kombination eines erfahrenen Wissenschaftsmanagers mit einem jungen und aufstrebenden Wissenschaftler der in Deutschland sich erst etablierenden Soziologie. Auf unterschiedliche Weise entfalteten beide bald eine beachtliche Publikationstätigkeit rund um die Konstanzer Neugründung und die Hochschul- und Bildungspolitik im Allgemeinen, die stets auch in geschickter Mehrfachverwendung einmal gemachter Beobachtungen bestand. 106 Hält die deutsche Forschung Schritt? Ein Bericht des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Dr. Gerhard Hess, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1963. Es handelte sich um die Kurzfassung seiner Rede vor der DFG-Jahresversammlung vom Vortag. 107 Ebd.
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Vor dem Erfahrungshintergrund mit den anderen Gründungsausschüssen hatte Raiser Storz dazu geraten, den Ausschuss für Konstanz insgesamt nicht so groß anzulegen und zu Spezialthemen gegebenenfalls Arbeitskreise mit zusätzlichen Personen zu bilden. Darüber beriet Storz sich auch mit Hess, der selbst wiederum ab Ende 1963 sein Netzwerk durchforstete und mit unterschiedlichen Personen über den Charakter der Konstanzer Neugründung, mögliche Ausschussmitglieder aber auch Kandidaten für die ersten Berufungen im Austausch war. Bemerkenswert ist das Spektrum an Reaktionen, die Hess auf seine Anfragen erhielt. Enthusiastisch war die Rückmeldung seines Schülers Hans Robert Jauß (1921–1997), der seinem »cher maître« Ende Dezember nicht nur eine Liste zukommen ließ mit »zornigen jungen Männer[n], die willens wären, die Institutsautarkie aufzugeben und an einer neuen Fakultät zwischenfachliche Schwerpunktprogramme zu realisieren«.108 Das war eine Anspielung auf britische Dramatiker der 1950er Jahre, aber auch Ausdruck des Ärgers über die Erfahrung verkrusteter Zustände an den deutschen Universitäten. Neben einer Liste, die einige der später nach Konstanz berufenen Wissenschaftler wie Wolfgang Iser, Wolfgang Preisendanz, Jurij Striedter, seinen Gießener Kollegen Hans Blumenberg und ihn selbst enthielt – jeweils mit Angabe der Sperrfristen, ab denen eine Berufung frühestens möglich wäre – enthielt das Schreiben von Jauß an Hess auch Überlegungen zur inhaltlichen Ausgestaltung der Universität, die er mit Blumenberg erstellt hatte. Einige der von Jauß genannten gehörten zur Gruppe Poetik und Hermeneutik, die 1963 ihre Arbeit aufgenommen hatte.109 Um sie bemühte sich 1965 – so viel im Vorgriff – auch noch Helmut Schelsky im Kontext der Bielefelder Gründung, was über eine Veranstaltung am ZiF hinaus aber nicht von Erfolg gekrönt war. Auch der Münchner Zoologe Hansjochem Autrum (1907–2003), seit 1962 Vizepräsident in der DFG unter ihrem Präsidenten Hess, fand die Konstanzer Planungen interessant und erklärte Hess, er werde gerne am Konstanzer Gründungsausschuss mitarbeiten, »weil man sich in München den Mund nicht nur fusselig redet, sondern ihn sich außerdem ganz sinnlos auch noch verbrennt.«110 Keineswegs enthusiastisch, sondern eher spöttisch war dagegen die Reaktion des Tübinger Biologen und Direktors am dortigen Max-Planck-Institut für Biologie, Johann Georg Melchers, der sich mit Hess über längere Zeit zu den Kon 108 Brief von Hans Robert Jauß an Gerhard Hess vom 30.12.1963, in: Universitätsarchiv Konstanz (UAKO) 12/33. 109 Dazu kurz vor seinem Tod rückblickend Jauß, Epilog. Zuletzt Möllmann/Schmitz, »Es war einmal…«. Hier auch vier weitere Beiträge zur Gruppe in einem Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften am Beispiel von »Poetik und Hermeneutik«. 110 Brief von Hansjochem Autrum an Gerhard Hess vom 24.2.1964, in: UAKO #148/1. Knapp Autrum zu seinem Engagement in Konstanz in seiner Autobiographie: Autrum, Mein Leben, S. 218 ff. In Bayern engagierte sich Autrum nach der Mitarbeit im Konstanzer Ausschuss auch in den Gründungsausschüssen Regensburg und Bayreuth.
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stanzer Entwicklungsmöglichkeiten austauschte und ja bereits zuvor mit Äußerungen zur Hochschulreform in Erscheinung getreten war. Weil Hess ihn offenbar zu einer fachlichen Einschätzung des angedachten Schwerpunktes in der Biologie gebeten hatte, bemerkte Melchers zur Konstanzer Planung nach der Regierungsdenkschrift: »Bis an den Gestaden des Bodensees wirklich gearbeitet werden kann, ist das, was man jetzt unter dem Schlagwort Molekulare Biologie fördert, vielleicht überholt. Aber warum haben Sie auch so extravagante Ideen für ›Ihre‹ Universität? Diese soll sich doch laut Regierungsentwurf vor allem mit dem Mittelmeerraum beschäftigen, und daher stammt die molekulare Biologie nicht […]. Dieser Regierungsentwurf liest sich wirklich wie ein deutscher Schulaufsatz, und wenn man etwas von einem Teil der derzeitigen Wissenschaften, nämlich der Naturwissenschaft, versteht, mutet einem das Produkt aus der Firma STORZ-AUTENRIETH rührend naiv an. Als ob es das dringlichste, was es augenblicklich auf dem Gebiet der Wissenschaftspflege gäbe, Isla mistik, Ägyptologie und Orientalistik wäre.«
Die Konstanzer Idee war für den Naturwissenschaftler Melchers offensichtlich aus der Zeit gefallen und lief in die falsche Richtung. Neugründungen sollten sich seines Erachtens nicht auf die Förderung der Geisteswissenschaften, sondern auf andere Fächerbereiche und ein anderes institutionelles Gesamtziel konzentrieren: »M. E. hätte es zwei vernünftige Möglichkeiten für die Gründung gegeben. Die erste ist total utopisch, weil sie die Vernunft der Universitätsprofessoren zur Voraussetzung hat. Je nach Lage der Universitäten hätten z. B. die des Südwestlandes Heidelberg, Freiburg und Tübingen von sich aus den Entschluss fassen können, eine graduate school zu gründen, also einen Platz an dem die Elite, durch Masse nicht verdünnt, durch Beteiligung an der Forschung belehrt wird. […] Eine andere Möglichkeit wäre, dass eine Eliteuniversität von einer Stiftung, einem Verein oder ich weiß nicht was, jedenfalls nicht von einem Land gegründet würde. Diese Universität müsste sofort darauf eingestellt sein, mit den anderen im Wettstreit zu leben. Sie müsste sich ein College einrichten, in dem sie den Stamm ihrer Studenten vorbereitet. Eine Einrichtung solcher Art wäre, ich weiß nicht ob auch für die romanische Philologie, aber ganz sicher für die Naturwissenschaften eine unbedingte Notwendigkeit in Deutschland, wenn man den Anschluss an die Nationen, die über solche Institutionen verfügen, wieder gewinnen will.«111
Die Ideen der von mehreren Universitäten gemeinsam getragenen graduate school und der hier wie schon in seinem bereits zitierten Beitrag in der »Deutschen Universitätszeitung« im Januar 1963 allerdings unbestimmt bleibenden Eliteuniversität, die Melchers beide attraktiv fand, der Hochschulpolitik aber nicht zutraute, waren in Raisers ursprünglicher Skizze der Studienhochschule 111 Beide Zitate aus dem Brief von Georg Melchers an Gerhard Hess vom 17.1.1964, in: UAKO 57/57.
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ja angedacht gewesen. Melchers war parallel zu seiner Tätigkeit am Max-PlanckInstitut auch Honorarprofessor und damit Kollege Raisers in Tübingen und kannte von daher eventuell dessen ursprüngliche Pläne, die jedoch nicht nur im Wissenschaftsrat, sondern in der Zwischenzeit ja auch beim studentischen Dachverband und der SPD-Opposition im baden-württembergischen Landtag auf Widerspruch gestoßen waren. Neue Nahrung hatten Vorschläge einer Wissenschaftseinrichtung neuen Typs 1963 aber durch Schelskys von Kiesinger in der Landtagsdebatte zitiertes Buch »Einsamkeit und Freiheit« erhalten. So bemerkte auch Jauß in seinem Konzept für Hess: Weil nun ja in Konstanz »an die Konzeption einer ›post-graduate‹-Hochschule (= Schelskys ›theoretische Universität‹) für Studierende mit schon abgeschlossener Erstausbildung aus verschiedenen Gründen nicht gedacht werden kann«, mache er sich in diesem Papier Gedanken über die Vereinbarkeit von Forschungsschwerpunkten und klassischen Ausbildungsgängen.112 Wie die Reaktionen von Jauß und Melchers beispielhaft verdeutlichen, förderten Hess’ Erkundungen bei ihm gut bekannten Wissenschaftlern um die Jahreswende 1963/1964 – vor der Einsetzung des Gründungsausschusses – sehr unterschiedliche Einschätzungen der Attraktivität und der Möglichkeiten der neuen Konstanzer Universität zu Tage. Ganz wesentlich hingen sie offenbar davon ab, welchem Fach der jeweils Gefragte angehörte, ob er in einer Universität oder in der außeruniversitären Forschung arbeitete und in welchem Karrierestadium er sich befand. Mitte Januar 1964 lag nach weiteren Beratungen des Ministeriums mit Hess schließlich die Liste mit möglichen Gründungsausschussmitgliedern vor. Sie enthielt je Fakultät drei Wissenschaftler, also mit dem Vorsitzenden Hess zusammen zehn Personen.113 Nicht nur die neue Universität sollte demnach kleiner sein als die Neugründungen in Bochum, Bremen und Regensburg, sondern auch ihr Gründungsausschuss. Von den Gutachtern aus dem Jahr 1961 waren jetzt nur noch Raiser als Mitglied und Schneider als ständiger Gast dabei. Spranger war im September 1963 verstorben, Pick wurde für den Gründungsausschuss der Ulmer Medizinischen Akademie vorgesehen und Hahn tauchte wohl deshalb nicht auf, weil in Konstanz entgegen seines Plädoyers auf die Theologien verzichtet werden sollte. Allerdings wurde er, wie der Zufall es wollte, wenige Monate später, im Juli 1964, Nachfolger von Storz im Amt des Kultusministers und damit ohnehin für das gesamte Projekt Konstanz politisch verantwortlich, das nach einem Gutachten von 1961 keine Ausrichtung auf die Forschung haben sollte. 112 Hans Robert Jauß, Überlegungen zu dem Beispiel einer neuen Hochschule (=Konstanzer Modell), undatiert, in: UAKO: 12/33. 113 Schreiben von Kultusminister Storz an Ministerpräsidenten Kiesinger vom 14.1.1964, in: HStAS EA 3/907, 250/5.
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Mit einer einzigen Abweichung gegenüber der Vorschlagsliste setzte sich der Gründungsausschuss schließlich aus den folgenden Personen zusammen: Für die Philosophische Fakultät erstens der Freiburger Althistoriker Herbert Nesselhauf (1909–1995) anstelle des 1961 noch gutachtenden Gerd Tellenbach, der ja auch in Bochum durch Conze ersetzt wurde, weil er inzwischen das Deutsche Historische Institut in Rom leitete, zweitens der Münsteraner Philo soph Joachim Ritter (1903–1974), der sowohl im Bochumer Gründungsausschuss als später auch noch im Bielefelder Gründungsausschuss vertreten war und im Konstanzer an die Stelle des erst anvisierten Hans Blumenberg trat, sowie drittens der Heidelberger Assyriologe Adam Falkenstein (1906–1966), der 1960 die DFG-Denkschrift zur Lage der Orientalistik verfasst hatte. Für die Sozialwissenschaftliche Fakultät komplettierte der Erlanger Politologe Waldemar Besson (1929–1971), der 1962 mit einem engagierten Beitrag im Preisausschreiben von »Christ und Welt« zu Universitätsneugründungen aufgefallen war, die bereits gesetzten zwei – den Juristen Raiser und den Soziologen Dahrendorf. Die Dreiergruppe für die Naturwissenschaftliche Fakultät versammelte erstens den Stuttgarter Chemiker Hellmut Bredereck (1904–1981), der Erfahrungen aus dem Deutschen Bildungsrat, der Landesrektorenkonferenz und vielen weiteren Gremien einbrachte, zweitens den Münchener Zoologen Hansjochem Autrum (1907–2003), neben Hess Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sowie drittens den Bonner Mediziner Emil Tonutti (1909–1987), der dem Gründungsausschuss für die Medizinische Hochschule Ulm und jene in Lübeck angehörte. Auch zum Bochumer und zum Bremer Gründungsausschuss wurden Verknüpfungen gebildet über den ständigen Gast Hans Wenke. Weitere ständige Gäste waren der Tübinger Politologe Theodor Eschenburg als Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz, der Freiburger Mediziner Ludwig Heilmeyer als Vorsitzender des Ulmer Gründungsausschusses, der Generalsekretär des Wissenschaftsrates Friedrich Schneider, der Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle sowie ab Juli 1964 auf Vorschlag von Hess auch noch der Kultusminister a.D. Gerhard Storz, dessen Projekt diese Gründung anfangs ja ganz deutlich nicht gewesen war. Besson und Autrum stellten alsbald auch die Verbindung zum neugebildeten zweiten Gründungsgremium für Regensburg dar, so dass rasch die Rede davon war, die Konstanzer hätten in Regensburg nach dem misslungenen Auftakt mit Maunz’ aus Politikern besetzten Gründungsausschuss das Zepter übernommen. Sekretär des Konstanzer Ausschusses war Günther Schlensag aus der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates, der schon für die Verschriftlichung eines Teils der Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen zuständig gewesen war und der später der erste Kanzler der neuen Universität am Bodensee wurde. Schlensags Sozialisierung beim Wissenschaftsrat sorgte wohl dafür, dass der diplomatische Duktus der Protokolle aus dem Rat auch jene des Konstanzer Gründungsausschusses bestimmte – festgehalten wurden erreichte
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Konsense, eher selten hingegen die einzelnen Positionen in kontroversen Diskussionen und unüberwindbare Dissense. Die von Hess sorgfältig komponierte Gruppe versammelte also vielfältige Fach- und Gremienkompetenzen. Ihre Mitglieder waren im Durchschnitt Mitte 50, wobei Joachim Ritter mit 61 Jahren das älteste und Dahrendorf wie B esson mit jeweils 35 Jahren die jüngsten Mitglieder waren. Überwiegend kamen die Professoren aus baden-württembergischen Universitäten. Bemerkenswert war, dass mit sechs Personen mehr als die Hälfte des Gründungsausschusses der Universität Konstanz gerade erst Mitglieder des Wissenschaftsrates geworden waren – seit 1964 nämlich Autrum, Bredereck, Nesselhauf und Ritter (seit 1965) – oder dies noch bis 1965 blieben – wie Raiser und Hess. Allein deshalb ist es wohl zutreffend, dass Wilfried Rudloff in seiner Kurztypologie der Gründungsgremien von Universitäten und Gesamthochschulen in den 1960er und 1970er Jahren hier von einem Gründungsausschuss aus »hochschulpolitischem Reform-Establishment« gesprochen hat.114 Warum genau diese Häufung von Wissenschaftsratsmitgliedern zu Stande kam, lässt sich nur noch vermuten. Ziel mag es gewesen sein, die andauernde Verpflichtung auf die Ideen des Wissenschaftsrates aus seinen Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen zu gewährleisten, wobei die neuen Mitglieder an deren Entstehung zwischen 1961 und 1962 noch gar nicht beteiligt gewesen waren. Umgekehrt mag es auch darum gegangen sein, die Konstanzer Ergebnisse über den Wissenschaftsrat in die Hochschulentwicklung einzuspeisen und den Modellcharakter der Neugründung auszunutzen. In wenigstens einem Fall scheint dies, wie noch darzustellen ist, wohl konkret versucht worden zu sein. Nicht zu vernachlässigen ist bei der Suche nach einem Motiv aber die schlichte Tatsache, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Vorauswahl der wissenschaftlichen Mitglieder des Wissenschaftsrates im Auftrag des Bundespräsidialamtes und nach Absprache mit Westdeutscher Rektorenkonferenz und Max-Planck-Gesellschaft vornahm, und Hess als DFG-Präsident und designierter Gründungsausschussvorsitzender Ende 1963 deshalb etwa zeitgleich sowohl mit der Berufung neuer Mitglieder für den Wissenschaftsrat als auch für seinen Konstanzer Gründungsausschuss beschäftigt war. In beiden Fällen griff er gern auf ihm gut bekannte Personen zurück. Trotz der ausbalancierten Auswahl gab es auch Perspektiven, die im Konstanzer Gründungsausschuss fehlten. Wie bei den vorherigen Gründungsgremien in Bochum, Bremen und Regensburg waren auch hier weder Professorinnen noch Vertreterinnen oder Vertreter aus anderen universitären »Gruppen«, insbesondere Assistenten oder Studenten, berücksichtigt worden. Der Verband deutscher Studentenschaften hatte nach seinem Gutachten von 1962 zwar frühzeitig einen Vertreter für den Konstanzer Gründungsausschuss benannt, aller 114 Rudloff, Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens, S. 82 f.
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dings wurden die Studentenfragen im Gründungsausschuss erst Anfang 1965 und nur in einer getrennten Unterarbeitsgruppe erörtert. Auch die Anhänger der Kollegienhausidee – Walther Peter Fuchs der promineste – waren hier nicht mehr vertreten. Ihr Stern war seit dem »Angriff« der Studenten auf die CollegePläne im Sinken begriffen.
Dynamische Veränderungen des bildungspolitischen Umfeldes Am 21. März 1964 schließlich, rund vier Wochen vor der Landtagswahl, wurde in Stuttgart die Konstituierung der Gründungsausschüsse für Konstanz und Ulm feierlich begangen. Das Organisationsstatut für den Gründungsausschuss, das das Kultusministerium Baden-Württemberg ausgearbeitet hatte, gab dem Gremium die Aufgabe auf, »alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Errichtung und dem Betrieb einer Universität […] in Konstanz […] stehen, zu beraten und dem Kultusministerium entsprechende Maßnahmen zu empfehlen. Grundlage der Arbeit des Ausschusses ist die Neugründungsdenkschrift der Landesregierung […] unter Berücksichtigung der Landtagsbeschlüsse.«115 Daneben stand den Ausschussmitgliedern prinzipiell ein reiches Material an Äußerungen und Dokumenten zur Hochschulreform zur Verfügung, zu dem zuletzt auch die Empfehlungen der Gründungsgremien in Bochum, Bremen und Regensburg gekommen waren. Aus den Unterlagen des Gründungsausschusses geht allerdings nicht hervor, dass den Ausschussmitgliedern – wie etwa dem Ausschuss für das Blaue Gutachten 1948 oder der Kommission des Verbandes Deutscher Studentenschaften 1961 – eine Auswahl von Schriften oder die Gründungsempfehlungen der anderen neuen Universitäten vorgelegt wurden. Hier hing der Informationsstand offenbar vom eigenen Engagement ab. Nicht nur mit Blick auf die anderen Neugründungsaktivitäten fand die Ausschussarbeit der kommenden Monate keineswegs im luftleeren Raum statt. Zur Fülle der potentiell verwertbaren Vorschläge aus unterschiedlichsten Dokumenten und Debattenbeiträgen traten während der Arbeiten des Gründungsgremiums Veränderungen auf politischer Ebene hinzu, die dafür sorgten, dass die Bildungs- und Wissenschaftspolitik deutlich an Fahrt aufnahm und sich die Umweltbedingungen für das Konstanzer Projekt nachhaltig veränderten. Wesentlich dazu bei trug eine Serie von vier Artikeln, die Georg Picht unmittelbar vor Einsetzung des Ausschusses im Februar 1964 in der Zeitung »Christ und Welt« veröffentlicht hatte. Der Pädagoge aus dem Schwarzwald beschrieb in derselben Zeitung, die 1962/63 bereits das Preisausschreiben zu neuen Universitätsideen ausgelobt hatte, in alarmistischem Ton das Heraufziehen einer »deutschen Bildungskatastrophe«.116 115 Kultusministerium Baden-Württemberg, Organisationsstatut für den Gründungsausschuss Konstanz/Ulm, Stuttgart 20.3.1964, in: UAKO 148/1. 116 Veröffentlichung aller vier Einzelartikel in: Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe.
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»Wie einst der alttestamentliche Prophet [Jeremias] in Jerusalem, so kündigte der Altphilologe in Hinterzarten den nahen Untergang seines Staates an: Laut Picht droht der ›dritte Zusammenbruch der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert‹«,
schrieb »Der Spiegel« anlässlich der erweiterten Buchveröffentlichung von Pichts Thesen Ende Juli 1964. Die Entwicklung von nur sechs Monaten seit Erscheinen von Pichts Zeitungsartikeln bilanzierte das Hamburger Magazin wie folgt: »Der Bildungsnotstand avancierte zum Lieblingsthema von politischen Damen und geistlichen Herren, von Professoren und Politikern, auf Akademie-Veranstaltungen und Parteiversammlungen. […] Und junge wie alte Kämpfer meldeten in ihren Berichten von der Bildungsfront weitere Notstände. […] Die deprimierende Bildungs bilanz offenbarte eindeutig, was seit Kriegsende in Westdeutschland versäumt worden war. In demselben Maße, wie das Wirtschaftswunder aufblühte, war die Nation geistig in die roten Zahlen geraten.«117
Die Wirkung von Pichts publizistischen Aktivitäten war enorm und sorgte, wie »Der Spiegel« in ironisch distanziertem Ton berichte, für eine Aufmerksamkeit für Bildungsthemen, die ab 1964 – vermutlich durch die anfängliche Fokussierung auf die Schulen mit einem größeren Kreis betroffener Personen – größer war, als jene für die Überfüllungskrise der Universitäten fünf Jahre zuvor ab dem Herbst 1959. Jetzt entstand der öffentliche Druck auf die Bildungs- und Wissenschaftspolitik, dessen Fehlen Dahrendorf in seinen Publikationen von 1959 und 1962 noch bemängelt hatte. Noch während er im Konstanzer Gründungsausschuss mitarbeitete, nutzte Dahrendorf diese Stimmung und steigerte seinen Output an Zeitungsartikeln zum Thema Bildungspolitik und Hochschulreform. Außerdem verfasste er seinen vielrezipierten Vortrag »Arbeiterkinder an deutschen Universitäten«, den er im Juni 1964 an der Uni Tübingen hielt, sowie das Buch »Bürgerrecht auf Bildung«, das 1965 – im gleichen Jahr wie die Empfehlungen des Konstanzer Gründungsausschusses – veröffentlicht wurde und mit dem Dahrendorf sich vom primär ökonomischen Standpunkt Pichts absetzte und für Bildung als Voraussetzung der Demokratie warb.118 Bildungspolitik war zu Beginn der Konstanzer Gründungsausschussarbeit tatsächlich zu einem zentralen Politikfeld geworden. Die SPD hatte schon Ende August 1963 in Hamburg eine kulturpolitische Konferenz »Aufstieg durch Bildung« veranstaltet und am 2. Juli 1964 bildungspolitische Leitsätze verabschiedet, bei denen die Hochschulneugründungen allerdings keine herausgehobene Rolle spielten.119 Auch die CDU erschloss das bildungspolitische Terrain und 117 Notstand. Lücken der Nation, in: Der Spiegel 31 (1964), 29.7.1964. 118 Dahrendorf, Arbeiterkinder und Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Dazu Meifort, Der Wunsch nach Wirkung. 119 Hochschulpolitische Beiträge zur Veranstaltung stammten vor allem von Friedrich Rau, der 1962 in Berlin ein weiteres Neugründungsvorhaben hatte anstoßen wollen, und Ulrich
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veranstaltete im November 1964, ebenfalls in Hamburg, einen kulturpolitischen Kongress »Bildung in der modernen Welt«.120 Den neuen Stellenwert der Bildungspolitik im Jahr 1964 verdeutlichte auch Kiesingers Regierungserklärung vor dem Stuttgarter Landtag am 25. Juni 1964, in der Kiesinger Dahrendorf in Sachen Arbeiterkindern zitierte. Hatte die Bildungs- und Hochschulpolitik und mit ihr das Konstanzer Projekt in der Regierungserklärung von 1960 noch einen nachgeordneten Rang eingenommen, so drehte sich nun ein Drittel seiner gesamten Regierungserklärung um Bildungspolitik – für Konstanz wurde die Erwartung formuliert, dass es »Pionierarbeit für die Hochschulreform« leisten werde.121 Im neuen Ministerrat nach Kiesingers Landtagswahlsieg vom April 1964 änderte sich auch die entsprechende Ressortzuständigkeit: Das Kultusministerium erhielt mit dem Heidelberger Professoren Wilhelm Hahn, der auf den Künstler und Lehrer Gerhard Storz folgte, eine neue Spitze. Zur selben Zeit veränderten sich auch die personellen Zuständigkeiten für die Universitäten in den anderen neugründenden Ländern, wobei durchgehend eine Verjüngung erfolgte und Hahn nicht als einziger Professor zum Minister wurde: Den Anfang hatte Nordrhein-Westfalen schon 1962 gemacht, wo der 38-jährige Juraprofessor Paul Mikat (1924–2011) auf den 62jährigen Werner Schütz – Generationsgenosse von Gerhard Storz und ein ähnlicher Schöngeist – gefolgt war und das Bochumer Neugründungsprojekt und bald darauf noch weitere Neugründungen in Dortmund und Bielefeld energisch vorantrieb. Zeitgleich zum Wechsel in Baden-Württemberg wurde in Bayern der 63-jährige Theodor Maunz vom 35-jährigen Ludwig Huber (1928–2003) abgelöst.122 In Bremen schließlich trat im Folgejahr der mit 45 Jahren im Vergleich schon alte Journalist Moritz Thape
Lohmar, der Schelsky ab 1965 dann in Bielefeld unterstützte: Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Aufstieg durch Bildung, S. 185 ff. sowie ders., Bildungspolitische Leitsätze. 120 Bundesgeschäftsstelle der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Bildung in der modernen Welt. 121 Zum Ministerwechsel und der Regierungserklärung mit der Aufnahme von Dahrendorfs Thesen auch die Analyse bei Gassert, Kurt Georg Kiesinger, S. 433–436. Zitat nach Protokoll der 4. Sitzung am 25.6.1964, in: Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg, 4. Wahlperiode, S. 22. 122 Siehe zu Huber auch die Einschätzung Nina Grunenbergs: Kultusminister der Bundesrepublik: Ludwig Huber, Bayern, in: Die Zeit vom 17.12.1965: »Eine seiner drückendsten Hypotheken war die Universitätsneugründung in Regensburg, die zu einer ›völlig neuen Hochschule alten Stils‹ zu werden drohte. Hier handelte er durchgreifend, noch bevor der Gründungsrektor Pölnitz seinen Abschied nahm. Zusätzlich zum Kuratorium berief er einen Strukturbeirat und besetzte ihn mit bekannten Wissenschaftlern, die schon in Konstanz und Bochum mitgeplant hatten. Er ließ sich von ihnen bitten, an jeder ihrer Sitzungen teilzunehmen, und ließ sich versprechen, daß die Regensburger Pläne in kürzester Zeit fertiggestellt würden […] Ein Instrument in seinen eigenen Händen soll das geplante ›Institut für die Erneuerung des Bildungswesens in Bayern‹ werden.«
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(*1920) die Nachfolge des 62-jährigen Senators Willy Dehnkamp an, der nach 14 Jahren als Bildungssenator zum Bürgermeister aufgerückt war. Thape sollte, wie auch sein neuer Kollege in Baden-Württemberg, ebenfalls 14 Jahre im Amt des Bildungssenators bzw. Kultusministers bleiben. Hahn, der in seinem Gutachten für das Ministerium von 1961 in Konstanz keine exotischen Experimente, sondern eine reformierte Normaluniversität gefordert hatte, stieß als neuer Minister zur dritten Sitzung des Gründungsausschusses hinzu. In den folgenden fast anderthalb Jahrzehnten als Kultusminister beaufsichtigte er nicht nur den Abschluss des Konstanzer Gründungsprozesses, sondern auch die prägenden Aufbaujahre der neuen Universität. In diesen Aufbau griff er schließlich beherzter ein als in die Arbeiten des Gründungsausschusses. Neben neuen bildungspolitischen Programmen der Parteien, und Ministerwechseln in den Landeskultusministerien gab es 1964 auch eine erste Verständigung der Länder über ihre gegenseitige Unterstützung bei der Finanzierung der kostspieligen Universitätsneugründungen. Die Ministerpräsidentenkonferenz hatte im Juni 1963 den Abschluss eines entsprechenden Abkommens angeschoben, über dessen Notwendigkeit sich die Neugründungskommission des Wissenschaftsrates im Februar 1963 ausgetauscht hatte, wo Mikat einen Fonds vorgeschlagen hatte.123 Das Abkommen der Länder über die Finanzierung neuer wissenschaftlicher Hochschulen wurde am 4. Juni 1964 abgeschlossen und trat zum 1. Januar 1965 in Kraft. Es sah vor, dass die damals elf Länder der Bundesrepublik einen Investitionsfonds von rund drei Milliarden Euro errichteten, in den nach dem für ländergemeinsame Finanzierungen üblichen, ihre Größe und Leistungskraft berücksichtigenden Königsteiner Schlüssel Beiträge über 15 Jahre einzuzahlen waren, um die Neugründungen in Bochum, Bremen, Konstanz, Regensburg und Dortmund zu 75 Prozent gemeinschaftlich zu finanzieren. Erst mit diesem Vertragswerk wurde es neben Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen auch der Freien Hansestadt Bremen möglich, die dort seit Kriegsende bearbeiteten Neugründungspläne in die Realität umzusetzen, da hierfür nun 450 Millionen DM vorgesehen waren, für die Bremen im Länderfonds von 1964 lediglich einen Eigenbeitrag von 44 Millionen zahlen musste. Für die drei anderen neugründenden Länder fiel das Verhältnis von Einzahlung und Entnahme nicht annähernd so günstig aus, lohnte aber dennoch eine Beteiligung. Letztlich war das Abkommen vom Sommer 1964 auch nur ein erster Schritt zu mehr Gemeinschaftsfinanzierung im Hochschulbereich, die mit der Grundgesetzänderung von 1969 dann auf den Bund ausgedehnt wurde.124 123 Protokoll der 11. Sitzung des Neugründungsausschusses am 27.2.1963 in Köln, in: BArch B/247, Nr. 12. Die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates schätzte den Bedarf eines solchens Fonds hier auf rund 8 Milliarden DM für die ersten fünf Neugründungen. 124 Für Konstanz sah das Abkommen 375 Millionen Auszahlung bei 372 Millionen DM Einzahlung des Landes Baden-Württemberg vor, bei Bochum und Dortmund zusammen
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3.2.2 Zentrale Diskussionen: Strukturen, Fächer, Theorien Zehn Sitzungen hielt das Konstanzer Gründungsgremium zwischen März 1964 und April 1965 ab. Obwohl zu den Ausschusssitzungen in Stuttgart und Konstanz keine Tonbandaufnahmen oder wörtlichen Protokolle existieren, sondern nur eine Mischung aus Verlaufs- und Ergebnisprotokollen überliefert ist – teilweise mit und teilweise ohne Nennung der Beiträger –, lassen sich wesentliche Diskussionen und Kontroversen im Gründungsgremium rekonstruieren.125 Während die Politik seit 1964 rhetorisch aufrüstete und Bildung und Wissenschaft eine höhere Priorität bekamen, bemühte sich der Vorsitzende des Gründungsausschusses, Gerhard Hess, bei der konstituierenden Sitzung zunächst einmal um Erwartungsmanagement. Bei der Konstanzer Neugründung gehe es um »Kontinuität im Neuen: Das ist die einfache Wahrheit über diese entstehende Universität. Man spricht von Modell- und Reformuniversität. Das könnte heißen ändern um jeden Preis, alles anders machen als bisher, der Tradition abschwören, eine Hochschule ›an sich‹ aufbauen. Ich bin skeptisch gegenüber allem ›an sich‹ und ›um jeden Preis‹, und würde es ungern sehen, wenn man die Neugründung in eine Gegenposition gegenüber den übrigen Hochschulen treiben wollte.«
Hess spielte im Beisein des Ministerpräsidenten die Klaviatur der konservativen Modernisierung. Den Begriff der Modell- oder Reformuniversität wollte er, anders als viele Redner in den Vorjahren, nicht unbedingt in Anspruch nehmen: »Es geht weniger um ein Programm als um eine Chance, […] die der kleinen Zahl […], die der Variation in der Gruppierung der Fächer im Vergleich zu den traditionellen Fakultäten […], die der Schwerpunkte, in denen Forschung intensiv betrieben werden kann, die der stärkeren Verbindung zwischen Disziplinen und Fakultäten. Bei nüchterner Betrachtung dieses Neuen kann man einfach sagen: Neubeginn und Beschränkung bieten die Möglichkeit, so zu studieren, zu lehren und zu forschen, wie es z. Zt. an den überfüllten Hochschulen nur noch in den sogenannten kleineren Fächern möglich ist, und damit Lehre und Forschung freiere Entfaltung zu gewähren.«126
1,65 Milliarden Auszahlung bei 1,4 Milliarden Einzahlung Nordrhein-Westfalens sowie bei Bayern schließlich 600 Millionen für Regensburg bei 494 Millionen Einzahlung. Die übrigen Länder zahlten zunächst nur ein ohne zu entnehmen, siehe Ständige Konferenz der Kultusminister, Kulturpolitik der Länder 1963 und 1964, S. 42 ff. 125 Ergänzungen des im Folgenden Geschilderten wären anhand weiterer Nachlassauswertungen, etwa der noch in der Erschließung befindlichen Nachlässe von Joachim Ritter und Ralf Dahrendorf, vermutlich möglich, konnten im Rahmen dieser Untersuchung aber nicht erfolgen. 126 Beide Zitate aus dem Manuskript der Ansprache von Professor Gerhard Hess bei der Feier anlässlich der Konstituierung der Gründungsausschüsse für die Universität Konstanz und die Medizinische Akademie Ulm am 21.3.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/1.
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Damit formulierte Hess eng entlang der Regierungsdenkschrift eine Erwartung an die Neugründung, die sich mehr nach »Reservat« als nach »Modell« anhörte. Auf dieser Linie blieb er in der ersten Sitzung des Ausschusses im Mai 1964 und sprach sich dafür aus, schnell die Arbeitsfähigkeit der neuen Universität zu erreichen und Erstberufene möglichst bald in Arbeitsgruppen des Gründungsausschusses einzubeziehen. Wenke, der den Bochumer Gründungsausschuss geleitet hatte, stimmte Hess in der damit eröffneten Diskussion des Ausschusses zu: »Die Universität Bochum sei auch nicht so sehr durch die Denkschrift des Gründungsausschusses in das Bewusstsein der anderen Hochschulen getreten als durch die Berufungen, die erst die Realität geschaffen hätten.«127 Dahrendorf war da entschieden anderer Meinung. Er sah die Hauptaufgabe des Gründungsausschusses keineswegs in der Herstellung schneller Arbeitsfähigkeit der Neugründung, sondern darin, »ein Modell für die Hochschulreform zu entwickeln«, also in der Erörterung der Grundsätze. »Ihm widerstrebe es auch, die Gründung einer Universität von der Personalfrage her aufzurollen, wichtiger erscheine es ihm, vom Institutionellen her vorzugehen«, vermerkte das Protokoll Dahrendorfs selbstbewusst vorgetragene Position. Ob diese Arbeitsteilung zwischen Hess als Vorsitzendem und Dahrendorf als stellvertretendem Vorsitzenden taktisch abgesprochen war, der eine also gemäßigte und der andere ambitioniertere Ziele verfolgen sollte, lässt sich aus den überlieferten Dokumenten nicht klären.128
Kontroverse Diskussionen um »Erfahrungswissenschaften« Worüber diskutierte der Gründungsausschuss in den Sitzungen und was waren die zentralen Felder der Auseinandersetzung? Die Grundsatzfrage, die Dahrendorf vor allem umtrieb, war die Gliederung der neuen Universität und die Auswahl der vertretenen Fächer. Naturgemäß ging es ihm als Soziologen darum, die Sozialwissenschaften prominent zu platzieren, die sich zeitgenössisch in der Bundesrepublik im Hinblick auf ihren Ausbau an den einzelnen Hochschulen noch benachteiligt sahen, wie schon Lepsius’ Bestandsaufnahme für die DFG gezeigt hatte. Dabei gestand Dahrendorf fast großmütig zu, »die Sozialwissenschaften könnten nicht allein der Mittelpunkt einer ganzen Universität sein, von den Naturwissenschaften her solle ebenfalls ein Ausgangspunkt […] vorhanden sein.«129 Überflüssig war seines Erachtens für die Konstanzer Neugründung aber 127 Protokoll der 1. Sitzung des Gründungsausschusses am 19./20. Mai 1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 128 Eine Auswertung der teils in Erschließung befindlichen Nachlässe von Gerhard Hess, Ralf Dahrendorf, Joachim Ritter und weiteren Mitgliedern des Konstanzer Gründungsausschusses im Hinblick auf weitere Konzepte und Korrespondenzen zur Konstanzer Neugründung konnte für diese Untersuchung nicht unternommen werden. 129 Protokoll der 1. Sitzung des Gründungsausschusses am 19./20. Mai 1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25.
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die Einrichtung einer klassischen Philosophischen Fakultät. Deren seit 1961 umstrittenen Schwerpunkt »Kulturen des Mittelmeerraumes« sah er als reine Verlegenheitslösung. Herbert Nesselhauf und vor allem Joachim Ritter mussten im Verlauf der weiteren Beratungen, die Einrichtung einer Philosophischen Fakultät gegenüber Dahrendorf mehrmals verteidigen. Nesselhauf hielt es dabei gar nicht für möglich, eine Konstanzer Philosophische Fakultät an eine bestimmte Aufgabe zu binden, aber auch nicht für nötig, sie an sich zu rechtfertigen. R itter sprang Nesselhauf bei und gestand im Rückblick auf die Humboldt’sche Idee zwar zu, »eine Definition der Universität durch die Philosophische Fakultät sei heute nicht möglich«, sprach sich bei einem Verzicht auf ihre zentrale Stellung aber dafür aus, die Philosophische und die Sozialwissenschaftliche Fakultät wenigstens beide »so stark wie möglich auszubilden, da nur dann die Konfrontation, die er für wichtig halte, fruchtbar sein könne« – ihm ging es offenbar um »Waffengleichheit« zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften.130 Nesselhauf und Ritter konnten sich bei ihren Verteidigungsversuchen gegenüber dem jungen Soziologen, der den Zeitgeist besser repräsentierte als der Schwerpunkt Mittelmeer, über den man sich inzwischen offenbar gefahrlos lustig machen konnte, allerdings auf den noch-Kultusminister Storz verlassen. Storz hatte in der Auftaktsitzung des Ausschusses die Drei-Fakultäten-Gliederung zusammen mit dem Modellcharakter für die Hochschul- und Studienreform, der begrenzten Studentenzahl und den weiteren Auflagen des Landtages zur quasi unantastbaren Grundlage erklärt. Zudem hatte die Regierungsdenkschrift den Passus enthalten, dass nicht Nützlichkeit allein das Kriterium der Fächerauswahl sein könne und die Geisteswissenschaften gewissermaßen einen Schutzraum verdienten. In der zweiten Sitzung lehnte Ritter dann auf Grundlage der Ideen seiner Arbeitsgruppe zur Philosophischen Fakultät die Zuordnung der ganzen Fakultät zu einem »Schwerpunktprogramm oder einer bestimmten Problemstellung« ab.131 Dahrendorf erklärte daraufhin, dass die Philosophische Fakultät in Konstanz dann im Prinzip so aussehe wie an anderen Orten und ob man nicht stattdessen eine »Mathematisch-Philosophische Interfakultät« vorsehen sollte, die der Sozial- und der Naturwissenschaftlichen Fakultät als »Werkzeug« dienen könne. Ritter lehnte es aber ab, die Philosophie als »Werkzeug« zu begreifen und Falkenstein konterte etwas ungeschickt, dass »die Philosophische Fakultät, wie sie hier vorgeschlagen werde, in der Gestalt zwar konservativ erscheine, in der Wirklichkeit aber durchaus revolutionär sein könne«.132 130 Zu Ritters Verteidigung der Geisteswissenschaften vor den gegenwartsbezogenen Modernisierern und zum Einfluss seiner Schüler wie Hermann Lübbe und Rudolf Vierhaus siehe Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 43 ff. 131 Protokoll der 2. Sitzung des Gründungsausschusses am 30.5.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 132 Ebd.
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Dass es Dahrendorf mit seiner Kritik an der Philosophischen Fakultät ernst war, lässt sich an der Hartnäckigkeit ablesen, mit der er das Thema immer wieder auf die Tagesordnung brachte. Als es zur Halbzeit des Gründungsausschusses um die Abstimmung von Lehrstuhllisten je Fakultäten ging, vermerkte das Protokoll, »dem Beschluss über Zahl und Art der Lehrstühle ging eine Grundsatzdiskussion voraus, ob überhaupt eine Philosophische Fakultät im wesentlichen traditioneller Struktur in Konstanz eingerichtet werden soll«. Der Konflikt dauerte bis zur Abstimmung der Endfassung des Gründungsausschussberichtes fort. Die Philosophische Fakultät, die Dahrendorf in der ersten Sitzung schon zu seinem »Lieblingsgegner« erklärt hatte, blieb es bis zum Ende der Beratungen im Gründungsausschuss und auch noch darüber hinaus. Im Kern ging es ihm darum, einen Versuch zur neuen Organisation der Wissenschaft zu unternehmen und die gesamte Konstanzer Neugründung unter die Überschrift der »Erfahrungswissenschaften« zu stellen, was Dahrendorf bald nach dem Gründungsausschuss folgendermaßen begründete: »Die deutsche Universität war seit Humboldt durch einen sich zunehmend verengenden Begriff der Geisteswissenschaften bestimmt. In ihrem Zentrum stand die philosophische Fakultät, und dies auch dann noch, als andere, vor allem naturwissenschaftliche Fächer sich organisatorisch selbstständig machten. Der spekulativ-historische Wissenschaftsgedanke, der hier dominierte, war eine großartige Antwort auf die erstarrte Ausbildungsuniversität, die das Mittelalter hinterlassen hatte. Die geistige Öffnung durch die Humboldtsche Gründung wurde aber auch mit einer gewissen Abwendung von den experimentellen Disziplinen von Natur und Gesellschaft bezahlt. Diese entwickelten sich außerhalb der Universitäten – in Technischen Hochschulen, in der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft – oder gar nicht. […] Unter solchen Aspekten liegt es nahe, an einem Ort einmal die Akzente zu verkehren, ohne den Grundgedanken der Univer sität aufzugeben, also eine Hochschule zu schaffen, an der die modernen Erfahrungswissenschaften im Zentrum, die spekulativ-interpretierend-historischen Disziplinen dagegen am Rande stehen. Das ist die Grundabsicht der Konstanzer Gründung.«133
Aus dieser Idee ergab sich für ihn, dass die klassischen Fakultäten der Theolo gie, Rechtswissenschaft und Medizin als Ausbildungsfakultäten in der Konstan zer Neugründung, die auf die Wissenschaftsentwicklung abziele, daher keinen Ort hätten; »die Philosophische Fakultät ist nur mehr Stachel der Tradition in einer erfahrungswissenschaftlichen Hochschule«.134 Diese kritische Wahrnehmung der Philosophischen Fakultät teilte Dahrendorf mit dem Politologen Besson, der sie sogar für die zeitgenössische Krise der Universität überhaupt verantwortlich machte. Im Juli 1964, kurz nachdem der Gründungsausschuss seine Arbeit aufgenommen hatte, spottete Besson – der als Politologe natürlich ähnliche Ausbauwünsche für sein vergleichsweise neues 133 Dahrendorf, Über die Universität Konstanz, S. 7. 134 Ebd., S. 7 f.
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Fach geltend machen konnte wie Dahrendorf als Soziologe – in einem Vortrag über das Selbstverständnis der Philosophischen Fakultät als Zentralfakultät der Humboldtschen Universität, die sich ihrer zunehmend im Vordergrund stehenden Aufgabe der Berufsausbildung von Lehrern verweigerte: »Erst sollten die Goetheschen Persönlichkeiten gebildet werden. Der Ort ihres späteren sozialen Engagements würde sich dann von selber ergeben.«135 Während Besson mit Blick auf die Vernachlässigung der Ausbildungsfunktion das Selbstbewusstsein mancher Vertreter Philosophischer Fakultäten ganz unangemessen fand, teilte er aber nicht die Schlussfolgerung Dahrendorfs, der die Fächer der Philosophischen Fakultät in der neuen Universität Konstanz nur in strenger Auswahl und nur am Rande als zuarbeitende Fächer dulden wollte. So gelang es Dahrendorf bis zum Abschluss der Arbeiten am Bericht des Gründungsausschusses trotz Bessons Sympathien nicht, eine Mehrheit für sein Projekt zu organisieren. Sein fortdauerndes Bestehen auf Begriff und Idee der »Erfahrungswissenschaften« provozierte vielmehr allergische Reaktionen mancher Ausschussmitglieder.136 Im Bericht des Gründungsausschusses hieß es schließlich in den glättenden Formulierungen von Gerhard Hess: »Vor allem um den Begriff der Erfahrung als mögliches gemeinsames Kriterium moderner wissenschaftlicher Fragestellung entstand ein lebhaftes Methodengespräch. Dieses Gespräch hat zu keiner Einigung, wohl aber in einer immer wieder frucht baren Diskussion zu dem Wunsch geführt, in der Universität Konstanz selbst die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung zu verankern.«137
Ob die Diskussionen um die Philosophische Fakultät nun fruchtbar oder furchtbar waren, hing ganz von der Perspektive an. Anders als bei der Empfehlungserarbeitung im Wissenschaftsrat 1961 und 1962 wurden am Ende immerhin nicht zwei mögliche Varianten nebeneinander gestellt, sondern eine Entscheidung getroffen – und zwar gegen die zentrale Überschrift »Erfahrungswissenschaften«. Dahrendorf fühlte sich daran allerdings nicht gebunden, wie seine oben zitierten, im Jahr 1966 publizierten Erläuterungen zeigten, in denen er die zentrale Stellung der »Erfahrungswissenschaften« als »Grundabsicht« des Konstanzer Projektes darstellte. Bei den beiden anderen Fakultäten lag der Fall zunächst einfacher. Die Naturwissenschaftliche Fakultät sollte im Großen und Ganzen so aussehen wie in der Regierungsdenkschrift konzipiert, wobei Raiser nochmals an die zugrunde liegende Idee der Anregungen des Wissenschaftsrates erinnerte, nach der diese 135 Besson, Die Universität vor den Ansprüchen unserer Zeit, S. 20 f. 136 Abschließende Auseinandersetzung zur Frage der Erfahrungswissenschaften und Überstimmung Dahrendorfs in der achten Sitzung des Gründungsausschusses: Protokoll der 8. Sitzung des Gründungsausschusses am 12. und 13.2.1965 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 137 Die Universität Konstanz. Bericht des Gründungsausschusses, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 570–684, hier S. 575.
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Entscheidung nicht aus Kostengründen so fallen sollte, »sondern weil auf diesem Gebiet offensichtlich mehr noch als in der Physik die großen naturwissenschaftlichen Aufgaben zu suchen seien und dort Entscheidungen fallen werden, die unsere Zukunft bestimmen könnten«.138 Umstritten war die Frage, ob präzise Schwerpunkte formuliert oder ob dem sogenannten Harnack-Prinzip der Vorrang gegeben werden müsste, nachdem wissenschaftlich hervorragende Personen ihre Themen mitbringen und die Einrichtung dadurch thematisch prägen könnten.
Wie viele Juristen verträgt eine Reformuniversität? Auch über die breite Anlage der Sozialwissenschaftlichen Fakultät mit Schwerpunkten in der Soziologie, Politologie und Psychologie herrschte rasch Einigkeit – zumindest innerhalb des Gründungsausschusses. Nach außen hin sorgte die Entscheidung, die Rechtswissenschaften nur mit quasi dienender Funktion in diese Fakultät zu integrieren und kein juristisches Vollstudium zu ermöglichen, aber für andauernden Aufruhr. Schon der Ministerrat hatte die zurückgenommene Stellung der Rechtswissenschaften im Entwurf der Regierungsdenkschrift von 1962 moniert. Raiser war aber gewillt, den Versuch zu verteidigen, auch wenn er selbst wegen des »Zunftcharakters« der Juristen erhebliche Einwände erwartete.139 Seiner Ansicht nach gab es bereits genug traditionelle rechtswissenschaftliche Fakultäten und deshalb wollte er in Konstanz den Versuch unternehmen, die Rechtswissenschaften zur Wissenschaftstheorie und zu den Sozialwissenschaften hin zu öffnen. Eschenburg als Vorsitzender der baden-württembergischen Rektorenkonferenz erklärte sich bereit, diesen Plan Raisers zu unterstützen. Der Widerstand dagegen kam aber nicht nur aus den Fakultäten in Heidelberg und Freiburg und schließlich auch von außerhalb Baden-Württembergs. Insbesondere auch der Konstanzer Oberbürgermeister Helmle – selbst Jurist – meinte, als ständiger Gast im Gründungsausschuss regionalen Interessen verteidigen zu müssen und warf ein: »Würde in Konstanz kein volles Studium für die Juristen möglich sein, so wäre die Universität schon vor ihrer Geburtsstunde an nicht vollwertig.«140 Mit einem derartigen Experiment an der neuen Universität der Region konnte er sich nicht identifizieren. Nach weiteren zwei Sitzungen, in denen der Ausschuss keine tiefere Zuneigung zu einem juristischen Vollstudium entwickelte, schrieb der Oberbürgermeister sogar einen Brandbrief an die Mitglieder des Kulturpolitischen Ausschusses im Landtag. Für ein juristisches Teilstudium, so Helmles Befürchtung, würden ja wohl kaum Stu 138 Protokoll der 2. Sitzung des Gründungsausschusses am 30.5.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 139 Protokoll der 3. Sitzung des Gründungsausschusses am 4.7.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 140 Ebd.
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dierende nach Konstanz kommen. Und um das aus seiner Sicht Schlimmste zu verhindern, scheute Helme auch nicht davor zurück, den Ausschuss sogar anzuschwärzen: »Es darf in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen werden, dass die aufgezeigten Tendenzen sowohl den Absichten des Landtages als auch der Landesregierung widersprechen.«141 Was Raiser und die Befürworter der kleinen Lösung eines juristischen Teilstudiums gegenüber der großen Lösung mit einem vollen juristischen Ausbildungsgang befürchteten, war, dass der »Standes- und Korporationsgeist« der Juristen sich durchsetzen und aus der Sozialwissenschaftlichen bestenfalls eine Rechts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät entstehen würde, schlimmstenfalls sogar ein »Staat im Staate«.142 Die Sorge vor der Rechtswissenschaft als einer reaktionären Kraft war im Gründungsausschuss offenbar erheblich – nicht zu Unrecht. Erfahrungen mit dem Reformversuch der Nachkriegsjahre an der nicht allzu weit entfernten Speyerer Hochschule wurden in den Diskussionen aber, soweit die Protokolle Aufschluss geben, nicht thematisiert – vielleicht nicht einmal rezipiert. Auch in Speyer war ja eines der Motive gewesen, dass die Gründer etwa für den Staatsdienst, aber auch die Mitarbeit in internationalen Organisationen sich Juristen vorstellten, die anders als bisher ausgebildet würden. Aber auch hier hatten die Reformer den Widerstand der Juristen unterschätzt. Raiser jedenfalls hatte sich bald schon in der »Juristenzeitung« für die Konstanzer Pläne zu verteidigen und das Thema sollte der neuen Universität für viele Jahre als Dauerbrenner erhalten bleiben, denn die Schar der Fürsprecher der traditionellen Juristenausbildung war nicht nur groß, sondern vor allem auch außerordentlich einflussreich.143
Umgang mit der Fakultätsstruktur Der zweite Diskussionsschwerpunkt im Gründungsausschuss betraf zwei eng zusammenhängende Themen, nämlich, wie die Zusammenarbeit in und zwischen den Fächergruppen gefördert werden könnte und ob die Fakultäten als Organisationseinheiten akademischer Selbstverwaltung solcher Zusammenarbeit förderlich oder hinderlich wären. Hess erinnerte eingangs an den entsprechenden Abschnitt aus den Anregungen des Wissenschaftsrates von 1962, in dem er mit Raiser, Dahrendorf und Tellenbach drei verschiedene Typen von zentralen Instituten skizziert hatte – bezogen auf Fächer, Themen und Regionen –, um 141 Brief des Oberbürgermeisters Bruno Helmle an die Mitglieder des Kulturpolitischen Ausschusses des Landtages vom 30.9.1964, in: UAKO 148/19. 142 Protokoll der 7. Sitzung des Gründungsausschusses am 12.12.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 143 Lange, Konstanz und die Rechtswissenschaft, und die Antwort Raiser, Die Rechtswissenschaft im Gründungsplan für Konstanz sowie die erneute Replik: Lange, Noch einmal: Konstanz und die Rechtswissenschaft. Zur Sisyphus-Arbeit in diesem Bereich in langfristiger Perspektive: Lührig, Die Diskussion über die Reform.
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über die Fakultätsgrenzen hinausgehende Kooperationen zu ermöglichen.144 Mit Blick auf die Organisationseinheit Fakultät, die durch das Entstehen neuer Fachgebiete und die Vermehrung der Professuren in den letzten Jahrzehnten immer weiter vergrößert und infolgedessen nach Meinung vieler ineffizient geworden war, hatte man 1961/62 drei Alternativen zum bisherigen Modell umrissen: eine Entlastung der Fakultäten von bestimmten Aufgaben, ihre Untergliederung in zusätzliche kleine Einheiten oder aber ihre komplette Ablösung durch andere Einheiten wie Abteilungen. Allerdings hatte der Wissenschaftsratsausschuss Neugründungen im Abschnitt der Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen, die den konkreten Modellvorschlag für Konstanz enthielt, damals zunächst für eine Beibehaltung der Fakultäten votiert. Vor- und Nachteile der Organisationsmodelle wurden im Konstanzer Gründungsausschuss nun in größerer Runde erneut diskutiert. Es zeigte sich, dass der Gründungsausschuss etwa hälftig der Ansicht war, dass die Fakultäten durch neue institutionelle Formen ersetzt bzw. beibehalten werden sollten. Solche vormaligen Spezialthemen der Hochschulpolitik schafften es 1964 nun auch in die Zeitungen. Dahrendorf hatte bereits Anfang des Jahres einen Vortrag zum Thema im »Handelsblatt« veröffentlicht, in dem er Vor- und Nachteile der Fakultäten zu sammentrug.145 Er war der Meinung, dass die Fakultäten effektive Kontrollinstanzen sein, Fachvertreter unterschiedlicher Fächer zusammenbringen und die personelle Selbstergänzung – also die Personalrekrutierung durch Berufungsverfahren – organisieren könnten. Andererseits würden sie als Hindernisse bei der Entwicklung neuer Wissenschaftsgebiete wirken und nur einen Teil ihres Personals an der Selbstverwaltung beteiligen. Dahrendorf stellte in der Diskussion befindliche Alternativvorschläge vor, wie die Einrichtung von Dekanen auf Lebenszeit und die Aufteilung und Verschiebung der Fakultätsmacht nach »oben« zur Universitätsleitung und nach »unten« in Abteilungen und Institute. Im Ergebnis schlug er vor, die Fakultäten aber doch beizubehalten, sie zu entlasten durch Abgabe einzelner Selbstverwaltungsaufgaben und zu ergänzen durch neuartige zentrale Institute und Gremien für Einzelfragen von Forschung und Lehre. Genau zwischen der ersten und der zweiten Sitzung des Gründungsausschusses erschien dann in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« passenderweise eine weitere, noch ausführlichere Diagnose von Wilhelm Hennis (1923–2012), in der der Politologe sich unter dem Titel »Die Stunde der Fakultäten« mit der zeitgenössischen Kritik an diesen Organisationseinheiten und mit möglichen Problemlösungen beschäftigte.146 Hennis vertrat hierin die Meinung, dass Re 144 Protokoll der 1. Sitzung des Gründungsausschusses am 19./20.5.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 145 Ralf Dahrendorf, Die Fakultäten und ihre Reformen, in: Handelsblatt, 31.1.1964. 146 Wilhelm Hennis, Die Stunde der Fakultäten. Strategische Überlegungen zur Universitätsreform, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.5.1964.
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formen an den Universitäten ohne die Fakultäten noch viel schwieriger umzusetzen seien als mit ihnen. Reformen vor allem in Studium und Lehre traute er nämlich weder den neuartigen Hochschulgesetzen zu, die nun in mehreren Ländern in Ausarbeitung befindlich waren, noch dem Wissenschaftsrat, weil erstere sich vor allem auf inneruniversitäre Organisationsfragen konzentrierten und letzterer zwar über engagierte Professoren verfügte, diese aber im Gegensatz zu ihren Komplementären in den Ministerien »Offiziere ohne Truppe« seien, ihnen also die Handhabe zur Umsetzung der Vorschläge fehlte. Hennis setzte als Politologe ganz darauf, dass die Fakultäten zeitverzögert doch die gleiche Aufgabe bewältigen könnten wie die Parlamente am Übergang von der ständischen zur repräsentativen Phase, indem sie lernten, initiativ tätig zu werden und ihre Arbeit anders zu organisieren: »Wir haben die Reform der deutschen Universität aus der Selbstverwaltung heraus bisher noch gar nicht versucht, einfach weil man sich des demokratischen Potentials, das in ihm steckt, noch gar nicht bemächtigt hat.« Hennis sah allerdings wenig Zeit für diese Anpassungsleistung: »Reformpolitik aus der Mitte der Fakultäten wäre ein ›langsames Bohren von harten Brettern‹. Die Zahl derer, die lieber Kleinholz aus ihnen machte, ist groß.« Zerschlüge man die Fakultäten jetzt aber, fehle das entscheidende Instrument zur Reform und, so war er sich in der von Picht beflügelten Diskussionsstimmung des Frühjahrs 1964 sicher, »Reform wird eine ständige, nie mehr abreißende Aufgabe der Universität bleiben«. Ob es nun an Dahrendorfs eher nüchternem Abgleich oder Hennis’ flammendem Plädoyer lag, der Konstanzer Gründungsausschuss entschied sich schließlich für die Beibehaltung der Fakultäten, weil man bei der Konzentration auf weniger Fächer und der Auswahl von Schwerpunkten das Problem der Schwerfälligkeit durch Größe nicht gegeben sah. Von bestimmten organisatorischen Aufgaben in Forschung und Lehre sollten die Konstanzer Fakultäten dennoch entlastet werden. Mit Blick auf die Kooperationsformate fiel die Entscheidung dann anders aus als vorher angedacht: Statt drei Typen zentraler Institute zu installieren, wie es nicht nur in den Anregungen des Wissenschaftsrates 1962 vorgeschlagen worden war, sondern in durchaus ähnlicher Form auch von der Gutachtergruppe des studentischen Dachverbandes im Herbst desselben Jahres, erdachte man zwei Jahre später nun zwei Formate fach- und fakultätsübergreifender Forschung: erstens große themenbezogene Zentren, von denen es zu nur sehr wenige geben sollte auf lange Zeit – etwa zur Bildungsforschung –, und zweitens kleinere Gruppen, die für etwa vier Jahre zu einem bestimmten Thema beantragt werden könnten. In dieser Frage war man sich offenbar recht schnell einig und diskutierte über Kooperationsformate und Organisationsfragen keineswegs so kontrovers wie über die Fragen der Fakultätsgliederung.
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Studienreform und Studentenfragen Alle weiteren Themen wurden im Gründungsausschuss weit weniger ausführlich behandelt oder an Unterausschüsse delegiert, die Ergebnisse für den Bericht des Gründungsausschusses zulieferten. So wurden auch Ideen zur Studienreform, die die studentische Kommission von 1962 als besonders dringliches Thema angemahnt hatte, getrennt für die drei Fakultäten in eigenen Ausschüssen erörtert, wobei Raiser zuvor nochmals darauf hinwies, dass staatliche Prüfungsordnungen und der Hochschulwechsel von Studierenden die Möglichkeiten der Reform an einem einzelnen Standort doch stark beschränkten. Tatsächlich war der häufige Studienortwechsel aber längst aus der Mode gekommen. Die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks seit 1951 zeigen, dass die Mehrzahl der Studierenden die Hochschule während des Studiums nicht mehr wechselte: Waren es 1911/12 noch fast zwei Drittel der Studierenden, die die Hochschule mindestens einmal, häufig aber auch zwei- und nicht selten sogar dreimal wechselten, so lag der Anteil der Hochschulwechsler in den 1950er Jahren bei nur noch einem Drittel. Bereitschaft, Interesse oder Möglichkeiten – darüber geben die Daten keinen Aufschluss –, von einer Hochschule an eine andere zu wechseln, waren drastisch gesunken; ein zweiter Hochschulwechsel kam kaum noch und ein dritter Wechsel praktisch gar nicht mehr vor.147 Lehrjahre an der Universität waren also spätestens seit den 1950er Jahren keine Wanderjahre mehr. Raisers Zögern hing also wohl eher damit zusammen, dass der Wissenschaftsrat nun selbst einen Ausschuss zur Studienreform eingerichtet hatte, auf dessen 1966 verabschiedete Ergebnisse wegen ihrer Verbindung zu den Konstanzer Vorschlägen noch zurückzukommen ist.148 Studentenfragen, insbesondere der Umgang mit den 1962 vom Wissenschaftsrat empfohlenen neuartigen, von den Studenten aber mehrheitlich abgelehnten Kollegienhäusern, wurden im Ausschuss scheinbar gar nicht erörtert. Dass Studenten zu den Diskussionen von Unterausschüssen hinzugezogen werden könnten, wurde zwar bejaht, doch sind entsprechende Aktivitäten nicht dokumentiert. Erst in der sechsten von zehn Sitzungen beschloss man, einen separaten Ausschuss für Studentenfragen zu bilden, dem aus dem Gründungsausschuss Hess, Raiser und Bredereck angehörten und als Vertreter des VDS-Landesverbandes Baden-Württemberg Otto Scheib, der für die Neugründungskommission des VDS im Sommer 1962 eine Studienreise zu den englischen Universitätsneugründungen unternommen hatte, sowie zwei weitere Studenten und eine Studentin.149 147 Vgl. VDS, Das soziale Bild der Studentenschaft, S. 87, für 1960: S. 89. Die Erhebung der Hochschulwechsel wurde in den späteren Sozialerhebungen offenbar eingestellt. 148 Protokoll der 3. Sitzung des Gründungsausschusses am 4.7.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 149 Verzeichnis der Unterausschüsse des Gründungsausschusses, in: UAKO 148/1. Hierin sind als studentische Mitglieder neben Otto Scheib noch Klaus Britsch, Walter Hirche und Karin-Ingeborg Schmekel genannt. Über die Kriterien ihrer Auswahl ist nichts dokumentiert.
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Dieser Ausschuss kam zwischen Januar und März 1965 drei Mal zusammen, um über den Status eines Studentenwerks, die Einrichtung eines Studentendekans und die Planung der ersten Studentenwohnheime für die neue Universität zu sprechen.150 Wohnheime in Karlsruhe und Freiburg wurden offenbar von den studentischen Mitgliedern dieser AG besichtigt, um Anregungen für die Konstanzer Wohnbauten einzuholen. Dem in den Vorgängerdokumenten der Jahre 1960 bis 1962 noch so prominent diskutierten Thema des studentischen Gemeinschaftslebens, der Erziehung, politischen und auch musischen Bildung wurde im Ausschuss offenbar keinerlei Bedeutung beigemessen.151 Erst in der letzten Redaktionssitzung des Gründungsausschusses wurde festgestellt, dass man in den Bericht doch »eine Bemerkung über die Einrichtung eines musischen Zentrums sowie einer Studentenbücherei« einfügen müsse. Der große Schwenk vom Thema Erziehung, Bildung und akademische Gemeinschaft zum Thema Forschung und Bildung durch Wissenschaft hing wohl nicht nur mit einer veränderten Diskussionslage zwischen den Mitgliedern der Universitäten, sondern wesentlich auch mit den für den Konstanzer Ausschuss ausgewählten Wissenschaftlern und deren Schwerpunktinteressen zusammen.
Zusammenspiel von Struktur und Architektur Grundlegende Baufragen blieben den zuständigen externen Experten überlassen, die dem Gründungsausschuss offenbar mehr berichteten, als dass sie von dort Beratung erwarteten und auch erhielten. 1963 war an der Technischen Hochschule Stuttgart ein Institut für Hochschulbau eingerichtet worden, dessen Leiter Horst Linde (*1912) zugleich Leiter der staatlichen Hochbauverwaltung und Professor für Hochschulbau sowie Leiter eines entsprechenden Instituts an der Technischen Hochschule Stuttgart war.152 Linde lud Hess 1964 in ein Kolloquium seines Instituts zum Hochschulbau ein, um über die Konstanzer Ideen zu berichten und frühzeitig Input für eine architektonische Planung zu gewinnen. Im August 1964 wurde dem Gründungsausschuss dann das vorgesehene Gelände in Konstanz gezeigt und der Stand der Bauplanung erläutert.153 Im September 1964, ein Universitätsbauamt war inzwischen eingerichtet, wurde der Gründungsausschuss darüber informiert, dass zunächst eine sogenannte »Vorstufe« der Universität im Konstanzer Inselhotel, ab 1967 dann für etwa vier Jahre eine erste Betriebsstufe in der Nähe des künftigen Universitätsgeländes
150 Protokoll der 6. Sitzung des Gründungsausschusses am 14.11.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. UAKO Bestand 147/9: AG Studentenfragen. 151 Protokoll der 10. Sitzung des Gründungsausschusses am 1. und 2.4.1965 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 152 Heeg/Institut für Hochschulbau Stuttgart, Horst Linde. 153 Protokoll der 4. Sitzung des Gründungsausschusses am 5.8.1964 in Konstanz, in: UAKO #148/21–25.
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und erst nach längerer Planung schließlich die endgültige Betriebsstufe, also die eigentliche Universität, gebaut werden sollte.154 Anders als Hans Werner Rothes Gutachten für eine Bremer Universität und das Gutachten des VDS wurden für den Konstanzer Gründungsausschussbericht keine Empfehlungen zu einer Übersetzung der Konstanzer Grundideen in adäquate Bauformen erarbeitet. Es handelte sich aus Sicht der Gründungsausschussmitglieder offenbar nicht um eine ihnen zufallende Gestaltungsaufgabe oder aber die staatliche Bauverwaltung verteidigte diese Domäne entschieden. Eine Bauplanungsgruppe, die ein Raumprogramm als Grundlage der weiteren Planungen zu entwerfen hatte, wurde erst nach Abschluss der Arbeiten am Bericht des Gründungsausschusses im September 1965 eingerichtet. Eine bemerkenswerte Differenz bestand zwischen den für die Baufragen zuständigen Experten aus der Landesverwaltung und den Mitgliedern des Gründungsausschusses zudem im Hinblick auf die Rezeption ausländischer Vorbilder. Laut Protokoll der Auftaktsitzung des Gründungsausschusses »bestand Einigkeit, die Erfahrungen, die in England, Frankreich und den Niederlanden bei Neugründungen gewonnen wurden, durch Heranziehen ständiger Gäste aus diesen Ländern zu den Ausschussarbeiten zu nutzen«.155 Nachdem in den ersten Sitzungen aber zunächst nichts in dieser Hinsicht geschah, verzeichnete das Protokoll der vierten Sitzung dann, dass sich Hess als Vorsitzender doch gegen eine ständige Mitarbeit ausländischer Gäste aussprach, wegen »erheblicher Sprachschwierigkeiten« und weil es nur »Sachkenner auf bestimmten Gebieten« gebe. Im Gegensatz dazu waren die Bauplaner scheinbar in der Lage, die Sprachschwierigkeiten zu überwinden. Dem Protokoll derselben Sitzung, in der die Konsultation ausländischer Hochschulexperten vom Gründungsausschuss verworfen wurde, lag beispielsweise ein Aktenvermerk der Universitätsbauleitung Konstanz über die Besichtigung der ersten Betriebsstufe der neuen Technischen Hochschule Eindhoven in Holland Anfang September 1964 bei. Während also auf externe internationale Expertise im Gründungsausschuss oder gar Informationsreisen seiner Mitglieder verzichtet wurde, herrschte bei den Architekten früh ein reges Interesse an Konsultationen mit ausländischen Partnern.156
154 Protokoll der 5. Sitzung des Gründungsausschusses am 30.9.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 155 Protokoll der 1. Sitzung des Gründungsausschusses am 19./20.5.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25. 156 Protokoll der 1. Sitzung des Gründungsausschusses am 19./20.5.1964 in Stuttgart, in: UAKO #148/21–25; Protokoll der 4. Sitzung des Gründungsausschusses am 5.8.1964 in Konstanz, in: UAKO #148/21–25.
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Verzicht auf einen theoretischen Überbau Als die Arbeiten des Konstanzer Gründungsausschusses auf die Zielgerade einbogen und die ersten Entwurfsfassungen des Abschlussberichtes diskutiert wurden, kam es zu einem weiteren Dissens im Gründungsgremium, der einen durchaus grundsätzlichen Punkt betraf. Diskutiert wurde die Frage, ob in einem Eingangskapitel des Berichtes der »geistige Ort« der neuen Universität gewissermaßen wissenschaftstheoretisch und reformpolitisch beschrieben werden könnte.157 Die damit beauftragten Ausschussmitglieder Dahrendorf und Ritter stellten zum Beginn der vorletzten Sitzung allerdings fest, dass sie einen solchen Text nicht vorlegen konnten, da sie »über den Inhalt des Kapitels keine Einigkeit erzielt hätten«.158 Ritter sprach sich dafür aus, »pragmatisch die Reformmaßnahmen zu nennen, die die Struktur der Universität deutlich machen«, denn »die Gesamtkonzeption der Universität Konstanz mit allgemeinen wissenschaftstheoretischen Erörterungen zu begründen […] erscheine ihm in der hier gebotenen Kürze nicht möglich, vom inhaltlichen ungemein schwierig und beinhalte die Gefahr der Festlegung derjenigen, die später nach Konstanz kommen, auf eine bestimmte wissenschaftstheoretische Auffassung.« Dahrendorf konterte auf Ritter: »Für ihn stelle sich die Konstanzer Reform nicht als ein Zweckwerk von Einzelreformen, sondern als ein Ganzes dar. Deshalb halte er eine wissenschaftstheoretische Erklärung für unentbehrlich.« Wie das Protokoll vermerkt, verlas Dahrendorf daraufhin seinen Kapitelentwurf, über den in der folgenden Diskussion allerdings keine Übereinstimmung erzielt wurde.159 Auch hier lag es schließlich an Hess als Ausschussvorsitzendem, einen Konsens zwischen den an mehreren Stellen als Solisten auftretenden Wissenschaftlern im Gründungsausschuss zu suchen.160
3.2.3 Ergebnisse des Gründungsausschusses: (k)ein Modell Nach rund einem Jahr war der Bericht des Gründungsausschusses fertig und wurde Ministerpräsident Kiesinger am 2. Juni 1965 übergeben. Der endgültige Text von rund 60 Seiten gliederte sich in Abschnitte zu grundsätzlichen Erwägungen, den Fakultäten, Studiengängen und Abschlussprüfungen, Einheiten von Forschung und Lehre, Formen der Kooperation, Lehrkörper, Studenten, Verfas 157 Protokoll der 8. Sitzung des Gründungsausschusses am 12. und 13.2.1965 in Stuttgart, in: UAKO 8, #148/21–25. 158 Protokoll der 9. Sitzung des Gründungsausschusses am 4. und 5.3.1965 in Stuttgart, in: UAKO 8, #148/21–25. 159 Bei den Unterlagen zur 9. Ausschusssitzung ist zwar Ritters Kommentar zu Dahrendorfs Vorschlag erhalten, nicht aber Dahrendorfs Vorschlag selbst. 160 Protokoll der 10. Sitzung des Gründungsausschusses am 1. und 2.4.1965 in Stuttgart, in: UAKO 8, #148/21–25.
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sung und Aufbau der neuen Universität am Bodensee und war im Umfang vergleichbar mit den Berichten der Gründungsgremien in Bochum und Bremen. Auch dieser Text sollte nicht anders beginnen als die anderen Universitätspläne, nämlich mit einer Reverenz an die Gründung der Berliner Universität und »die revolutionäre Tat Humboldts und seiner Freunde«, die im 19. Jahrhundert auch im Ausland breit rezipiert worden sei und die »die amerikanischen Graduate Schools, nicht dagegen die englischen Colleges zum Muster nahmen«.161 Leider seien inzwischen aber verschiedene Entwicklungen über die Humboldtsche Konzeption hinweggegangen. Auf die Auswanderung der naturwissenschaftlichen Forschung in Forschungsstätten außerhalb der Universität – Max-Planck-Institute, Industrie und Großforschungszentren der Gegenwart – und den gleichzeitig verstärkten Zudrang zu den Universitäten sei diese nämlich »weder pädagogisch noch organisatorisch« vorbereitet gewesen. Vor dem Hintergrund der so beschriebenen Entwicklung wurde dann die Konstanzer Aufgabe entfaltet: »Mit dem Grundsatz, Lehre aus der Forschung heraus zu entwickeln, würde die Universität an die Ideen Humboldts anknüpfen. In der Universität Konstanz soll dieser Grundsatz verwirklicht und damit ein Beitrag zur Reform der Universität geleistet werden. […] Der Gründungsausschuss ist der Meinung, dass in einem solchen Rückgriff auf die Forschung als Medium der Lehre und auf das Prinzip der Kooperation die produktive Chance für die Universität liegt.«162
Mit diesem Kompromissvorschlag zur Auseinandersetzung von Dahrendorf und Ritter um einen theoretischen Überbau der Neugründung waren die beiden Kernideen der Gründung genannt: Forschung und Kooperation. Eine dritte Kernidee, die eindeutige Ausrichtung auf die »Erfahrungswissenschaften«, hatte Dahrendorf, wie beschrieben, nicht durchsetzen können. Was genau der Konstanzer Beitrag zur Reform sein werde, wurde im Folgenden in enger Anlehnung an Hess’ Ansprache bei der Feier zur Einsetzung des Gründungsausschusses von 1964 formuliert: »Aus der für Konstanz geltenden Grundkonzeption folgt nicht, dass eine Universität dieser Art primär Modellcharakter habe, auch ist nicht an eine ›Reformuniversität‹ gedacht, die um jeden Preis Veränderungen durchführen will oder sich nur für eine Elite bestimmt hält. Der Gründungsausschuss sieht in der Universität Konstanz eine Chance, besonders günstige Voraussetzungen für Forschung und Lehre institutionell zu sichern. Wenn der Versuch gelingt, kann er als Beispiel gelten. Es geht dem Gründungsausschuss erst recht nicht darum, ein ›Normalschema‹ aufzustellen, nach dem künftig jede Universität aufzubauen wäre.«163 161 Die Universität Konstanz. Bericht des Gründungsausschusses, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 570–684, hier S. 573. 162 Ebd., S. 575. 163 Ebd., S. 576.
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Diese Formulierungen können wohl mindestens als unglücklich bezeichnet werden. Vor allem wurde hier sehr bemüht festgehalten, was Konstanz alles nicht sein würde oder haben sollte, nämlich eindeutigen Modellcharakter, dezidierten Anspruch zur Reformuniversität, Eliteambitionen oder Normalschema für alle Universitäten zu werden. Trotz Distanzierung von all diesen denkbaren Varianten hielt es der Gründungsausschuss doch für möglich, wie es im weiteren hieß, »dass in der übersehbaren [!] Zukunft einige der vorgesehenen Ordnungsgrundsätze – etwa die Kooperation oder die Schwerpunktbildung […] oder die Vereinheitlichung der Abschlussprüfungen – Allgemeingültigkeit beanspruchen dürfen.«164 Diese Zeilen über den Kern des Konstanzer Neugründungsprojektes waren so vage und offen formuliert, wie wenige Jahre zuvor am Anfang der Universitätsgründerzeiten noch manche Abschnitte der AusbauEmpfehlungen und der Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestalt neuer Hochschulen. Sie sendeten die Botschaft, dass man sich auch fünf Jahre und viele Gutachten und Sitzungen später nicht auf ein klares Ziel der Neugründung mit Signalwirkung hatte einigen können.
Festhalten an den Fakultäten Während der genaue Reformauftrag, nicht zu sprechen von der Überprüfung seiner Umsetzung – heute würde man Evaluation sagen – und daraus abzuleitenden Korrektur, also offen blieb, herrschte Klarheit im Hinblick auf ein anderes Arbeitsergebnis: »Mit den dargelegten Ordnungsgrundsätzen nimmt der Gründungsausschuss praktisch alle Vorschläge der Regierungsdenkschrift auf.«165 Der Ball wurde also zurückgespielt – es seien lediglich die Grundannahmen der Landesregierung konkretisiert worden. Die genaue Interpretation der Regierungsvorschläge durch den Gründungsausschuss wurde dann in den einzelnen Kapiteln dargelegt. Zunächst wurden die drei Fakultäten beschrieben: Die Naturwissenschaftliche mit ihrer Konzentration auf die »modernen, zukunftsreichen Arbeitsgebiete«166 der Biologie, dann die Sozialwissenschaftliche mit ihrer breiten Anlage, die neben Soziologie, Politologie und Psychologie auch Wirtschafts- und Rechtswissenschaften enthalten sollte. Dem Spezialthema Rechtswissenschaften war nach den Ende 1964 einsetzenden Diskussionen mit bestehenden Jurafakultäten des Landes ein besonders ausführlicher Abschnitt gewidmet.167 Trotz des bekannten Widerstandes und der Bedenken aus Regierung und Landtag solle am Plan festgehalten werden, in Konstanz einen anderen Weg einzuschlagen und einen Versuch der »Bereicherung der normativen Denkweise des Juristen durch die auf Empirie und Theorie angelegten Sozial 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 579. 167 Ebd., S. 585–587.
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wissenschaften« zu unternehmen. Man verteidigte optimistisch die Ansicht, »dass diese Lösung für die Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft, aber auch für die juristische Ausbildung, die heute je nach dem Berufsbild einer gewissen Differenzierung bedarf, gute Früchte tragen kann«.168 Als letzte wurde die Philosophische Fakultät mit den drei Säulen Sprache, Geschichte und Philosophie dargestellt, die Ritter und Nesselhauf vor Dahrendorfs erfahrungswisssenschaftlichen Absichten erfolgreich gerettet hatten. Insgesamt war an rund hundert, etwa zu gleichen Teilen auf die drei Fakul täten verteilte Professuren gedacht. Dazu sollten als externe Experten auf Zeit noch Gastprofessoren aus dem In- und Ausland kommen, einige davon als »ständige Gastprofessuren«, verteilt auf Zentren und Fakultäten.169 Diese machten in der Summe einen durchaus substantiellen Teil der Gesamtzahl der Professoren aus – zwischen einem Fünftel und einem Sechstel. Inhaltlich war der Vorschlag zu den Gastprofessuren nun ein Kompromiss zwischen den Extremen von Sprangers Sabbat-Universität auf der einen und der Regierungsdenkschrift, die Professoren der übrigen Landesuniversitäten in Konstanz mit einer Gastprofessur bedenken wollte, auf der anderen Seite.
Studienreform und neue Abschlüsse Neben den Forschungsbedingungen hatte sich der Gründungsausschuss, wie 1962 vom studentischen Dachverband und 1963 ebenfalls von der Opposition im baden-württembergischen Landtag gefordert, auch mit Studiengängen und Abschlussprüfungen beschäftigt. Dabei enthielt der Bericht zwar die Eingangsbemerkung, dass derartige Reformen an einer kleinen Universität wie Konstanz natürlich anderen Bedingungen unterlägen als an großen Universitäten, »in der solche Reformen eine noch zentralere Bedeutung haben«.170 Trotz dieser Selbstbeschränkung wurde im Folgenden aber ein Programm entworfen, das durchaus umfangreiche Veränderungen bedeuten konnte. Der Studienverlauf sollte stärker geordnet werden und »ein durchdachtes System des Unterrichts sollte an die Stelle einer falsch verstandenen akademischen Freiheit treten«.171 Handwerkliche Kenntnisse sollten vor allem in den ersten Semestern gelehrt werden mit Hilfe von Tutoren und in kleineren Veranstaltungen, zudem sollte es infolge des Einsatzes von Lehrbüchern künftig mehr Problem- als Überblicksvorlesungen geben. Auch das Prüfungswesen wollte man vereinheitlichen, wobei der Hauptkritikpunkt das »Doppelsystem von berufsqualifizierenden und akademischen Prüfungen« betraf.
168 Ebd., S. 586 f. 169 Ebd., S. 613–615. 170 Ebd., S. 591. 171 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 592.
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Die entsprechenden Überlegungen zu Studienabschlüssen waren im Gründungsausschuss getrennt nach Fakultäten erarbeitet worden und so blieb es auch im Bericht bei getrennten Vorschlägen zumindest für die Sozialwissenschaftlicheund Philosophische Fakultät auf der einen und die Naturwissenschaftliche auf der anderen Seite. In ersteren beiden Fakultäten sollte zunächst ein Magisterstudium in acht Semestern abgelegt werden können oder aber ein Staatsexamensstudium, das bei Abschluss die Verleihung des Magistertitels automatisch beinhalten würde. Bis in die 1950er Jahre hatte ein Studium, das nicht dem Lehramt galt, weitgehend nur mit der Promotion abgeschlossen werden können. Auf diese Studienabschlüsse sollte ein zweijähriges Aufbaustudium folgen können, bei dem in Kolloquien, Forschungsgruppen und Seminaren »der unmittelbare Kontakt mit der Forschung ausgeprägter sein sollte als im Hauptstudium«.172 Abgeschlossen werden würde dieses Aufbaustudium mit einer schriftlichen und mündlichen Prüfung zum Lizentiat, die eine höhere Qualifikation als der Magister bedeute, teilweise auf anschließende Referendariate angerechnet werden sollte und als mündliche Doktorprüfung gelten würde, nach dem Vorbild des amerikanischen »ABD-Status« (all but dissertation). Wer promovieren wollte, müsste also nicht mehr durch ein Rigorosum gehen, sondern nur noch seine Dissertation vorlegen. Auch eine Verbindung von Promotions- und Habilitationsverfahren hielt man für möglich, in dem Sinne, dass eine hervorragende Promotion zur Habilitation aufgewertet werden könnte und der Doktortitel dann aber mitverliehen würde.173 Als Vorbild ohnehin unverkennbar, wurden die postgraduate studies im angelsächsischen Bereich auch als Muster genannt – die 1961/62 im Wissenschaftsrat verworfene Idee der Graduiertenhochschule schimmerte hier noch erkennbar durch. Die Vorschläge einer Dreistufung des Studiums in den Geistes- und Sozialwissenschaften glichen ferner weitgehend denen, die die Kommission des Verbandes deutscher Studentenschaften schon 1962 ausgearbeitet hatte, ohne dass hierzu aber ein direkter Bezug hergestellt wurde. Im Konstanzer Gründungsausschuss formulierte diese Gedanken offenbar vor allem Joachim Ritter, der sie wenig später auch als Mitglied des Wissenschaftsrates in dessen Kommission zur Studienreform einbringen würde, die 1966 dann entsprechende Empfehlungen vorlegte.174 Der Weg einzelner Ideen führte also – wie dieser Ausschussberichts-Abschnitt zur Studienreform zeigte – nicht nur vom Wissenschaftsrat in den Gründungsausschuss der Universität Konstanz, sondern teilweise auch umgekehrt von Konstanz in die Empfehlungsarbeit für die gesamte bundesrepublikanische Universitätslandschaft. Für die Naturwissenschaftliche Fakultät waren ebenfalls Neuerungen bei den Studiengängen und -abschlüssen vorgesehen. Hier sollte nach sechs Semestern 172 Ebd., S. 594. 173 Dazu ebd., S. 596. 174 Dazu bei Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 105 ff.
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statt des bisherigen Vordiploms der Abschluss des Baccalaureus erfolgen – worauf man sich für die beiden anderen Fakultäten nicht hatte einigen können, sondern im Bericht weitere Erörterung für notwendig erklärte. Ein zweiter Studienabschnitt von maximal drei Semestern sollte sich in den Naturwissenschaften dann aufteilen für Diplomkandidaten einerseits und Lehramtskandidaten zum Staatsexamen andererseits. Ein Aufbaustudium zum Lizentiat wie in den beiden anderen Fakultäten wollte man wiederum in den Naturwissenschaften nicht empfehlen, eine Verbindung von Promotions- und Habilitationsverfahren zumindest nicht ausschließen. Die Vorstellungen für die Studienabschlüsse gingen zwischen Naturwissen schaftlern und Geistes- und Sozialwissenschaftlern also weit auseinander. Während die Geistes- und Sozialwissenschaftler das Studium beschleunigen und dann eine zusätzliche forschungsorientierte Stufe für wenige Studierende draufsetzen wollten, plädierten die Naturwissenschaftler für einen neuen berufsqualifizierenden ersten Abschluss nach kürzerer Zeit und daran anschließend den bekannten Verlauf. Der Gründungsausschuss sah hier keinen Anlass oder keine Möglichkeit, ein gemeinsames Modell der Fakultäten zu erarbeiten. Der Bericht schwieg auch zur Frage, wie sich diese Vorschläge mit Raisers bei mehreren Gelegenheiten formulierter Einschränkung vereinbaren ließen, dass auf mobilitätseinschränkende Sonderregelungen zugunsten der Ermöglichung von Universitätswechseln von Studierenden verzichtet werden sollte.
Organisatorische Vorschläge Auch die Empfehlungen des Gründungsausschusses zur Organisation der akademischen Selbstverwaltung enthielten Neuerungen, indem sie innerhalb der Fakultäten jeweils Fachbereiche als organisatorische Einheiten der Forschung vorsahen. Die Fachbereiche sollten an die Stelle der früheren Institute treten und »günstigere Bedingungen für die Freiheit des einzelnen Forschers und bessere Voraussetzungen für die Koordination und Kooperation« bewirken.175 Als Einheiten der Lehre wurden Kommissionen vorgesehen, die sich zunächst um die Entwicklung der Studiengänge, später dann um die Organisation des Lehrprogramms kümmern sollten und sich auch aus Assistenten und Studenten zusammensetzen sollten.176 Daneben schlug man »Zentrale Einrichtungen« vor, wie ein Rechenzentrum – eine noch vollkommen neue Einrichtung –, eine gegliederte Gesamtbibliothek – mit deren Aufbau sich ein Unterausschuss des Gründungsausschusses intensiv auseinandergesetzt hatte – und auch Technische Dienste, unter die im Ausschussbericht merkwürdigerweise auch das in letzter Minute ersonnene »musische Zentrum« eingefügt wurde, das ledig 175 Die Universität Konstanz. Bericht des Gründungsausschusses, in: WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 600. 176 Ebd., S. 603.
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lich mit einem dürren Satz erwähnt, aber nicht mit einer Funktionsbeschreibung versehen wurde.177 Zur Verbesserung der Forschung wurde eine Intensivierung der Kooperation vorgeschlagen, für die der Gründungsausschuss die Formate Zentren und Gruppen ersonnen hatte, mit Gruppen als dem kleineren, recht freien, aber auf vier Jahre begrenzten, und Zentren als dem größeren, organisatorisch von den Fachbereichen getrennten und langfristigen Kooperationsformat. Über die Einrichtung, Zahl und Dauer von Zentren sollte nach Ansicht des Gründungsausschusses die Universität im großen Senat entscheiden, weil sie Berufungen beeinflussen könnten und hohe Folgekosten verursachen würden. An drei bis maximal fünf Zentren war gedacht. Losgehen sollte es mit »Problemen der Bildung«, etwa »Fragen der Begabung und der Begabungsreserven«, wozu man Soziologen, Psychologen, Pädagogen und Biologen (Humangenetiker) zusammenbringen wollte.178 Sehr vage Vorschläge für weitere, inhaltlich offenbar an die Fakultäten angelehnte Zentren waren die »Populationsforschung« und »Probleme der Sprache«. Das Mittelmeer als Thema war verschwunden. In den Überlegungen zur Verfassung der Konstanzer Neugründung wurde das Festhalten an den Fakultäten verteidigt. Weil man den Fachbereichen und Kommissionen, Gruppen und Zentren zentrifugale Kräfte der »Verselbständigung und Absonderung« unterstellte, wollte man die Verklammerung der gesamten Universität über die Fakultäten gewährleisten und ihnen die Berufungsverfahren, das Promotions- und das Habilitationsrecht belassen.179 Der Große Senat aus allen Lehrstuhlinhabern und »einer angemessenen Vertretung der Nichtordinarien sowie der wissenschaftlichen Beamten und der Assistenten und zwei Vertretern der Studentenschaft« würde über die Bildung und Auflösung der Zentren, Änderungen der Verfassung sowie Stellungnahmen zu den Berufungsvorschlägen aus den Fakultäten entscheiden.180 Weitreichende Kompetenzen sollten aber vor allem dem Kleinen Senat zugebilligt werden, der die Gesamtentwicklung der Universität überwachen und die Universitätsleitung kontrollieren sollte. Diese Leitungsaufgabe sollte in der Hand eines auf unbestimmte Zeit – »bis zum Erreichen der Alternsgrenze« – ernannten Rektors liegen, der im Vergleich zur traditionellen Interpretation des Rektorenamtes an deutschen Universitäten nicht nur repräsentative Funktionen hatte, sondern tatsächlich die gesamte Universität mit ihrer Einheitsverwaltung aus staatlichen Aufgaben und solchen der akademischen Selbstverwaltung führen sollte. Zum Kandidatenfeld für dieses Leitungsamt sollten auch Personen zählen, die sich »durch eine leitende Tätigkeit in Wirtschaft, Politik oder Verwaltung und durch 177 Ebd., S. 604. 178 Ebd., S. 610. 179 Ebd., S. 612. 180 Ebd., S. 621.
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ein enges persönliches Verhältnis zum wissenschaftlichen Leben ausgezeichnet« hätten.181 Ein Hochschulbeirat oder Kuratorium war nicht vorgesehen.
Studentenfragen im Hintergrund Im Kapitel zu Studentenfragen ging es zunächst um Aspekte der Gesamtzahl, Zulassung und Mitwirkung, bevor das studentische Leben und Wohnen erörtert wurde. Wenig überraschend gab es keinen Widerspruch zum Regierungsvorschlag von 3.000 Studierenden. Die Zulassung sollte durch einen speziellen Ausschuss geregelt werden, der Bewerbungen sichten und schließlich in Gruppeninterviews persönliche Gespräche mit den Studierenden führen sollte – ein Novum an deutschen Universitäten. Konstanzer Studierende sollten in den für Lehre und Forschung verantwortlichen Gremien mitwirken und hier, wie es mit leicht patriarchalischer Note hieß, »an den Aufgaben mitarbeiten, die sie nach Alter und Ausbildungsstand beurteilen und lösen können«.182 Studierendenvertreter waren auch im Großen und Kleinen Senat, nicht aber in den Fakultäten vorgesehen. Was blieb im Bericht des Gründungsausschusses, der sich mit dem studentischen Leben und Wohnen ja offenbar nicht bzw. nur in einem Unterausschuss beschäftigt hatte, von den seit Kriegsende vielerorts diskutierten Fragen von Bildung und Erziehung übrig? Man ging davon aus, dass wegen der Beteiligung der Studierenden an den benannten Gremien und der Rückkehr zu kleineren Veranstaltungsformaten in der durch Forschung inspirierten Lehre gar keine zusätzlichen Maßnahmen mehr nötig waren: »Die Konzeption der Universität Konstanz lässt erwarten, dass sich hier Studenten leichter als in überfüllten Hochschulen als Glieder einer geistigen Gemeinschaft verstehen werden«.183 Die Formulierung, nach der die räumliche und organisatorische Anlage der Universität es ermöglichen werde, »die wissenschaftliche Arbeit der Studenten in den Gebäuden, die der Lehre und der Forschung dienen, zu konzentrieren«184 bedeutete eine verklausulierte Abwendung von den Kollegienhäusern, die der Wissenschaftsrat 1962 in Aufnahme und Verstärkung der Bremer Ideen Rothes empfohlen hatte. Weder Wissenschaftler, die als Protektoren mit ihren Familien in den Studentenwohnheimen wohnen sollten, noch Tutoren als Leiter von besonderen, teils propädeutischen Lehrveranstaltungen in den Wohnheimen fanden im Konstanzer Gründungsausschussbericht noch Erwähnung. Ganz deutlich hieß es nun: In den Wohnheimen »soll der private Bereich bewusst bewahrt, also zum Beispiel kein Zwang ausgeübt werden, an gemeinschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen.«185 181 Ebd., S. 619 f. 182 Ebd., S. 616. 183 Ebd., S. 617. 184 Ebd. 185 Ebd., S. 618.
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Generell wurde im Ausschussbericht zwar die Meinung vertreten, dass die Universität einen Rahmen für außerwissenschaftliche Aktivitäten schaffen müsse. Dafür wollte man ein zentrales Studentenhaus mit Mensa, Klubräumen, Studentenbücherei und auch »Sportanlagen (insbesondere zur Pflege des Wassersports)« sowie »Räumlichkeiten für musische Betätigung« schaffen. Ganz deutlich wurde aber festgehalten, dass die Studenten für diesen Bereich der Universität selbst verantwortlich seien: »Die Initiative wird aber in erster Linie von den Studenten selbst ausgehen müssen.«186 Laut Ausschussbericht ging es lediglich darum, »Anreize zu schaffen«, zum Beispiel Räume und Ausstattung für gemeinsames Musizieren, Theater oder Kino vorzuhalten. Damit hatten sich die Studenten, wie in ihrem Verbandsgutachten von 1962 festgehalten, durchgesetzt und den Bereich der in den Nachkriegsjahren teils engagiert diskutierten sogenannten außerwissenschaftlichen Erziehung und Bildung zum Tabu für die Universität und ihren Lehrkörper erklärt. Schon einleitend war deshalb im Gründungsausschussbericht zu lesen, der Ausschuss »möchte im studentischen Leben die bildende Kraft der Wissenschaft wirksam sehen.«187
Bauplanung: Freie Hand für die Architekten Abschließend enthielt der Bericht Informationen zum Bau der neuen Universität. Eine Vorstufe sollte 1966 im Konstanzer Insel-Hotel starten, Sobald wie möglich sollte eine erste Betriebsstufe in der Nähe zum Universitätsgelände errichtet werden, um dann in diesem mehrstufigen Vorgehen den endgültigen Bau sorgfältig zu planen.188 Zwischen dem Strukturplan und dem Bauplan solle dann auch ein enger Zusammenhang hergestellt werden, wobei explizit festgehalten wurde: »Der Gründungausschuss hat weder die Kompetenz noch die Absicht, Aufgaben der Architekten wahrzunehmen«, allerdings wollte er doch »durch ständige Koordination aller Beteiligten« in die Entscheidungen zur baulichen Gestaltung einbezogen werden. Im Vergleich zum Bremer Gutachten, wo Grundlinien der Campusanlage und der Platzierung einzelner universitärer Einrichtungen vorgenommen worden waren, um bauliche und inhaltliche Konzeption in Übereinstimmung zu bringen, war vom Konstanzer Gründungsgremium auf derartigen Vorgaben verzichtet und diese Abstimmungsleistung auf später verschoben worden. Den Architekten war damit weitgehend freie Hand gelassen, die Strukturideen in Bauten umzusetzen, worauf bei der Untersuchung der Aubauphase zurückzukommen ist. Damit ist das Empfehlungsfeld des Konstanzer Gründungsausschusses beschrieben. Der Schwerpunkt lag klar auf den zeitgenössisch an vielen Orten intensiv diskutierten Vorschlägen zum Aufbau der Fakultäten, zu Kooperations 186 Ebd. 187 Ebd., S. 576. 188 Ebd., S. 624.
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formaten, zur Neuordnung der Organe der Universität und auch, wenngleich wenig einheitlich, zu Veränderungen der Studiengänge und Prüfungen der Fakultäten. Die Vorschläge zum studentischen Leben und Wohnen, die in den Diskussionen nach 1945 zunächst für einige Jahre im Vordergrund gestanden hatten, und auch jene zur späteren baulichen Außenform der Ideen fielen im Vergleich zu den anderen behandelten Komplexen knapp und zurückhaltend aus. Da ein grundsätzlicher Reform- oder Modellanspruch im Gründungsausschussbericht nach außen nicht mehr explizit erhoben wurde, hatte man sich zudem scheinbar auch nicht die Frage gestellt, ob es eines besonderen Gremiums der Universität zur Implementierung und Evaluierung einzelner neuartigen Ideen bedürfe, gar ob dem Land als Träger der Neugründung oder der Landesrektorenkonferenz als Zusammenschluss von weiteren, möglicherweise an einzelnen Reformergebnissen interessierten Hochschulen über Erfolge und Misserfolge der einzelnen Innovationen berichtet werden könnte und sollte. Wie also im Erfolgsfall des Konstanzer Versuchs sein Beispielcharakter für andere fruchtbar gemacht werden könnte, blieb einstweilen ungeklärt bzw. dem Zufall überlassen.
3.2.4 Aufnahme des Konzeptes: Lob und leise Skepsis Seit Anfang 1964 hatten sich die Umfeldbedingungen der Konstanzer Neugründung, wie bereits beschrieben, deutlich verändert: Die »deutsche Bildungskatastrophe« hatte die Öffentlichkeit aufgerüttelt und die Bildungspolitik begann sich personell und inhaltlich neu zu sortieren und zunehmend eigeninitiativ tätig zu werden, etwa mit der Formulierung entsprechender parteipolitischer Forderungen, der Arbeit an Hochschulgesetzen und bald auch der Einrichtung von Service-, Forschungs- und Planungsinstanzen. Beispielhaft verdichteten sich die veränderten und beschleunigten Entwicklungen rund um die Vorlage und Veröffentlichung des Konstanzer Gründungsausschussberichtes: Am 2. Juni 1965 übergab der Konstanzer Ausschuss dem Ministerpräsidenten seinen Bericht, am 30. Juni wurde mit Bochum die erste der vier Universitätsneugründungen, die von Anfang an auf große Studierendenzahlen ausgelegt war, bereits im Rohbauzustand mit ersten benutzbaren Abschnitten eröffnet, am Tag darauf fand in den meisten Universitätsstädten der Bundesrepublik die »Aktion 1. Juli« statt, bei der Studenten – häufig gemeinsam mit Professoren – erstmals an vielen Orten gleichzeitig für mehr Bildungsinvestitionen und eine aktivere Bildungspolitik öffentlich protestierten. Wohl auch unter dem Druck dieser Ereignisse wurde der Bericht des Konstanzer Gründungsausschusses bereits Mitte Juli 1965 veröffentlicht und nicht, wie wohl ursprünglich geplant, erst nach Kommentierung durch die Regierung und Zuleitung an den Landtag zur weiteren Beratung. Allerdings ging er in den übrigen Ereignissen fast unter.
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Aufnahme bei Akteuren und Presse Wie wurde der Bericht des Konstanzer Gründungsausschusses in der Öffentlichkeit, von Politik und Wissenschaft aufgenommen? Als Ausschussvorsitzender bekam Gerhard Hess ein breites Spektrum an Rückmeldungen auf den an zahlreiche Adressaten verschickten Bericht. Aus dem bayerischen Kultusministerium schrieb von Elmenau, der 1963 schon seine kritische Einschätzung der Regensburger Vorarbeiten mitgeteilt hatte: »Ich bin sehr erfreut, daraus die z. T. bahnbrechenden Überlegungen zu ersehen, auf denen die Entwicklung der wohl interessantesten Hochschule unter den Neugründungen der Bundesrepublik beruht.«189Aus dem Kultusministerium des Saarlandes erreichte Hess ebenfalls Lob: »So mancher Bericht eines Gründungsausschusses ist über meinen Schreibtisch gegangen, die meisten enthielten das ›gute Alte‹ in schamhaft kaschierter Form. In ihrem Bericht finde ich zum ersten Mal eine Konzeption […] Besonders lustig finde ich es, dass in Ihrem Bericht mancherlei steht, was im Hochschulgesetz Hessens auch enthalten ist. Nur merkt man bei Herrn Schütte die Absicht und ist verstimmt, die Absicht nämlich, den Hochschullehrern zu zeigen, was ein Minister kann, während sich bei Ihnen diese Dinge als Notwendigkeit aus der Sache ergeben.«190
Aus den unionsregierten Ländern kam offenbar vorwiegend Zustimmung. Kritisch äußerte sich hingegen der ehemalige sozialdemokratische bayerische Kultusminister August Rucker (1900–1978), ein früherer Mitstreiter von Hess aus dem Hofgeismarer Kreis, der dort Ende der 1950er Jahre für eine Zweistufung des Studiums geworben hatte.191 Zwar wollte Rucker keine Zustimmung oder Kritik an den einzelnen Konstanzer Vorschlägen äußern, doch ironisch bemerkte er: »Bleibt nur die ernste Sorge, was mit den 99 % der deutschen Studierenden geschehen soll, die nicht der Vorzugsstellung der neuen Universität von Konstanz teilhaben können«.192
Erwartbar war weitere Schelte zur Idee der Konstanzer Juristenausbildung, beachtlich aber doch der Ton, in dem sie vom Präsidenten des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier (1906–1986), vorgetragen wurde, der seinen Wahlkreis im schwäbischen Backnang hatte. Gerstenmaier maßregelte den Ausschussvorsitzenden Hess für den schmählichen Umgang mit den Rechtswissenschaften, den er für beinahe staatszersetzend hielt: »Dass Sie in ihrem Ausschuss etwas kopflastig politologisch sind, sehe ich […]. Haben Sie nicht selbst den Eindruck, dass hier der Vorrang des Rechts zugunsten soziolo 189 Schreiben von Ministerialdirigent von Elmenau, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Gerhard Hess vom 27.7.1965, in: UAKO 148/18. 190 Schreiben von Ministerialdirigent Braun, Ministerium für Kultus, Unterricht und Volksbildung Saarland an den Gerhard Herr vom 6.9.1965, in: UAKO 148/18. 191 Rucker, Ziele und Wege. 192 Schreiben von Prof. August Rucker an Hess vom 2.8.1965, in: UAKO 148/18.
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gischer Überlegungen in Frage gestellt ist? Glauben Sie, dass das so sein muss oder sein sollte in einem Staat, der sich nur als freiheitlicher Rechtsstaat verstehen darf, wenn er auf dem richtigen Weg bleiben will?«193
Weniger emotional als diese und manche andere briefliche Rückmeldung war die Presseberichterstattung über die Konstanzer Vorschläge. Sie enthielt zunächst mehr nüchterne Berichte als Bewertungen und Kritiken. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« etwa listete die verschiedenen Vorschläge des Ausschusses lediglich auf, ohne sie im Einzelnen zu kommentieren. Allerdings war sie auch über die unentschiedene Passage zum Charakter und Ziel der Konstanzer Neugründung gestolpert und stellte hierzu fest: »Allzu zurückhaltend weist der Gründungsausschuss von sich, dass er für Konstanz an eine Reformuniversität denke. Man darf dem Ausschuss glauben, dass er nicht Veränderungen um jeden Preis will. Reformvorschläge aber gibt es genug in dem Bericht, und es muss keine Schande sein, dass einige davon eine Rückkehr zu alten, verlorengegangenen Bezügen bedeuten.«194
In der Wochenzeitung »Die Zeit« schilderte die bayerische Landtagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher (*1921) die Konstanzer Gründung im Kontext der Landeshochschulpolitik mit einer Mischung aus Begeisterung und Skepsis: »Zur Zierde gereichten den Baden-Württembergern ihre Hochschulen schon seit eh und je. Zwei weitere Pretiosen sollen hinzugefügt werden. Die Reformuniversität Konstanz (die einzige, die sich diesen Namen ohne Einschränkungen verdienen will, weshalb sie auch umstritten ist) und die Medizinische Akademie in Ulm.«
Gleichwohl wagte Hamm-Brücher die Prognose: »Konstanz vor allem und seine Gründer […] werden es nicht leicht haben, zu halten, was ihre Gründungsdenkschrift verspricht: viel Einsamkeit und Freiheit zur Bewährung oder zum Versagen.«195
»Der Spiegel« schließlich berichtete Ende 1965 in einer Titelgeschichte, die auf die Eröffnung der Bochumer Universität zurückging, ebenfalls eher nüchtern über die Konstanzer Pläne im Kontext der anderen Neugründungen.196 In der »Deutschen Universitätszeitung« erschien zunächst erstaunlicherweise gar keine Auseinandersetzung mit dem Konstanzer Plan. Obwohl das Interesse an der Bildungspolitik seit dem Vorjahr so groß war wie noch nie seit Kriegsende und der Konstanzer Ausschussbericht weit verteilt worden war, wurden die Kon 193 Schreiben des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier an Gerhard Hess vom 26.7.1965, in: UAKO 148/18. 194 Brigitte Beer, Eine starke Führung für die Universität in Konstanz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.8.1965. 195 Hildegard Hamm-Brücher, Baden-Württemberg, in: Die Zeit, 10.9.1965. 196 Neue Universitäten in Deutschland, in: Der Spiegel, 1.12.1965.
Die Arbeit des Gründungsausschusses
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stanzer Pläne doch nur sehr zurückhaltend kommentiert. Waren die Ergebnisse an der Zeit vorbeigegangen und die Zeit an ihnen?
Bewertung der Ausschussarbeit durch die Landesregierung Nach Übergabe des Berichtes an die Landesregierung schrieb Hess im August 1965 über den weiteren Fortgang der Arbeiten für Konstanz dann an R aiser, der sich den Sommer über an der Universität im amerikanischen Stanford aufhielt.197 Hess erwähnte das Echo auf den Konstanzer Bericht dabei nicht, sondern ging direkt zu den nächsten Schritten über. Inzwischen war der Gründungsausschuss vor allem mit der Erarbeitung von Berufungsvorschlägen beschäftigt. Ein entsprechendes Angebot an die Mitglieder des Gründungsausschusses seitens des Kultusministeriums hatten Besson, Dahrendorf und Nesselhauf zu diesem Zeitpunkt schon angenommen. Die drei Vertreter, die für die Naturwissenschaften im Gründungsausschuss saßen, hatten allerdings alle abgelehnt, sich nach Konstanz berufen zu lassen. Folgte man der Vorstellung, dass die Gründer auch den Aufbaustab bilden sollten, um die Implementierung ihrer Ideen abzusichern, war das kein gutes Zeichen. Hess warb nun intensiv darum, dass doch auch Raiser dauerhaft an die Neugründung kommen möge – »wir brauchen Sie in Konstanz« –, doch der winkte kurz darauf ab. Hess berichtete Raiser ferner über den weiteren Umgang mit dem Bericht des Gründungsausschusses. Zu Hess’ Ärger hatte sich das Kultusministerium auch bei der Kommentierung des Berichtes wieder viel Zeit gelassen, was wenigstens einen Vorteil gehabt habe: »Zu deren Verabschiedung vor der Sommerpause ist es nicht mehr gekommen. Doch hatten wir wenigstens Muße, zur Stellungnahme Eigenes beizusteuern.« Tatsächlich erfolgte die Zustimmung des Ministerrates zum Bericht der Gründungsgremien in Konstanz und Ulm erst im Januar 1966, so dass anschließend erst eine erneute Vorlage im Landtag zusammen mit Stellungnahmen aus dem Kultus- und dem Finanzministerium erfolgen konnte. Das Kultusministerium hatte sich für eine ausführliche Kommentierung der Gründungsausschussvorschläge entschieden.198 In durchaus schulmeisterlichem Ton wurde die Arbeit des Ausschusses bereits vor dem kapitelweisen Abgleich mit der vorausgehenden Regierungsdenkschrift bewertet: »Der Gründungsausschuss hat seine Aufgabe in hervorragender Weise gelöst. Seine Vorschläge sind ebenso sehr von einer sachlichen Strenge als auch von eigenständiger Gestaltungskraft bestimmt. Der vorgelegte Strukturplan ist bis ins Detail wohldurchdacht und zugleich von jedem Aspekt her konstruktiv auf das Ganze der Universität gerichtet.«199 197 Schreiben Hess an Raiser vom 20.8.1965, in: UAKO 57/58. Alle folgenden Zitate ebd. 198 Zur Universität Konstanz. Stellungnahme des Kultusministeriums. 199 Ebd., S. 16.
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In den höchsten Tönen wurde dann die geleistete Arbeit im Einzelnen gelobt, insbesondere die »glückliche Verbindung zwischen Hochschulreform und Studienreform gehört zu den überzeugendsten Teilen des Berichts«.200 Wo es Abweichungen zwischen Regierungsdenkschrift und Ausschussbericht gab, wurden diese zustimmend zur Kenntnis genommen, etwa beim Verzicht auf den umstrittenen Schwerpunkt »Kulturen des westlichen Mittelmeerraumes«, der ja stets nur als Beispiel gedacht gewesen sei. Der Verzicht auf die Übernahme der Kollegienhausempfehlungen des Wissenschaftsrates von 1962 oder eine andersartige ausführliche Auseinandersetzung mit der Universität als temporärem Lebensraum für die Studierenden wurde damit gerechtfertigt, dass ja der Landtag in seinem Beschluss von 1964 den Verzicht auf einen Wohnzwang gefordert hatte.201 Nachdem die Zahl von 3.000 Studienplätzen in Konstanz stets ohne weitere Begründungen postuliert worden war, wurde nun mehr Aufmerksamkeit darauf verwandt, die Kapazität der Studienplätze im gesamten Land in den einzelnen Fächern und den durch Konstanz jeweils zu erzielenden Entlastungseffekt dazustellen. Allerdings wurde im Ergebnis nur bei der Philosophischen Fakultät in Konstanz ein größerer Entlastungsbedarf für die übrigen Landesuniversitäten gesehen. Der Wissenschaftsrat hatte in seinen Ausbauplänen von 1960 in diesen Fächern 7.300 Studienplätze für Freiburg, Heidelberg und Tübingen empfohlen, die im Wintersemester 1963/64 bereits von über 11.000 Studierenden belegt wurden. Bei dieser Überschreitung um wenigstens 3.500 Studierende seien die 1.000 Studienplätze der Philosophischen Fakultät in Konstanz doch sehr willkommen.202 Man konnte sich fragen, ob sich in diesem Abgleich von Angebot und Bedarf nicht bereits überdeutlich abzeichnete, dass die Konstanzer Sonderstellung einer kleinen Neugründung schwer zu schützen sein würde. Das Kultusministerium fand einstweilen aber eine eigene Antwort auf diese Herausforderung: Die Konstanzer Studienplätze würden durch Verbesserungen des Studienverlaufs nämlich erheblich rationeller genutzt werden als an den übrigen Universitäten, so dass im Ergebnis »Studienplätze für 3.000 Studenten einer Zahl von etwa 5.000 Studenten nutzen«.203 Zur weiteren Erörterungen dieser Problematik wurde auf den 1965 neu eingerichteten Planungsbeirat für die wissenschaftlichen Hochschulen verwiesen, auf den noch zurückzukommen ist.204 Am neu eingerichteten Planungsbeirat lag es wohl auch, dass das Kultusministerium sich optimistisch darüber äußerte, dass die Konstanzer Universität »Impulse geben kann für die anderen Hochschulen«, ohne dass beschrieben worden war, wie genau der Beispielcharakter bestimmter Innovationen festgestellt und übertragen werden könnte.205 200 Ebd., S. 19. 201 Ebd., S. 44–46. 202 Ebd., S. 30 f. 203 Ebd., S. 42. 204 Dazu S. 383 ff. 205 Ebd., S. 18.
Die Arbeit des Gründungsausschusses
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Auch das Finanzministerium stimmte in seiner Stellungnahme dem Konstanzer Bericht zu.206 Trotz der inzwischen angespannten Haushaltslage des Landes, sei man sich »über den Ernst und die Bedeutung der Entscheidung über die Errichtung der neuen wissenschaftlichen Hochschulen vollkommen im klaren« und habe nach intensiver Prüfung festgestellt »dass eine enge fiskalische Betrachtung nicht am Platze sein kann, eben weil grundsätzliche Staats- und Lebensfragen eines anderen Beurteilungsmaßstabes bedürfen. Es kann also gar nicht darum gehen, irgendwelche Restmittel auf die zur Diskussion stehenden drei Großprojekte aufzuteilen, um sie in langen, für alle Beteiligten unerträglichen Zuständen vegetieren zu lassen […]. Die Landesregierung will also keine Fragmente ins Leben rufen.«207
Die Haushälter zeigten sich vorerst optimistisch, dass die noch vor Planungsbeginn von 524 auf 640 Millionen DM angestiegenen Kosten für die Konstanzer Neugründung aufgebracht werden könnten, wenn man sie nur über einen sehr langen Zeitraum von etwa 1967 bis 1980 strecken würde. Nach diesen Lobliedern aus den Kultus- und Finanzressorts der Landesregierung konnte die Konstanzer Neugründung im ersten Halbjahr 1966 auf den Weg gebracht werden, weil auch der Landtag keine Einwände mehr formulierte. Am 26. März 1966 überreichte Ministerpräsident Kiesinger den ersten acht Mitgliedern des Konstanzer Lehrkörpers, darunter Besson, Dahrendorf, Nesselhauf und Hess’ Schüler Jauß, der sich 1964 so enthusiastisch über die neue Universität geäußert hatte, ihre Ernennungsurkunden. Am 21. Juni 1966 wurde in einer großen Feier der Grundstein der Neugründung am Bodensee gelegt. Bei aller positiven Kommentierung der Arbeiten des Neugründungsausschusses ließ sich Georg Melchers vom MPI für Biologie auch zwei Jahre nach seinem spöttischen Schreiben an Hess anlässlich der Gründungsausschusseinsetzung nicht von seiner Position abbringen. Erneut schrieb er an Hess zu seiner Einschätzung des Gründungsausschussberichtes:208 »Die Versuche, Kontakte zwischen verschiedenen Fächern institutionell positiv zu fördern, sind zumindest in ihrer Tendenz sehr positiv zu bewerten. So wie es dort drinsteht, wirkt es allerdings ein bisschen so wie der kleine Moritz sich die Sache vorstellt und nicht gerade wie von Leuten verfasst, die so etwas schon einmal gemacht haben.«
Was das gesamte Projekt betraf, äußerte sich Melchers erneut sehr skeptisch, und sah sich in den aktuelle Haushaltsentwicklungen bestätigt:
206 Zur Universität Konstanz. Stellungnahme des Finanzministeriums. 207 Ebd., S. 9. 208 Schreiben von Prof. Georg Melchers, Direktor am Max-Planck-Institut für Biologie, Tübingen an Gerhard Hess vom 3.2.1966, in: UAKO #57/57.
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»Ich bleibe dabei, dass das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist, dass ihre schöne Universität eine Landesuniversität werden muss […]. Also müssen Sie schon nach dem Gesetz weiterleben, nachdem Sie angetreten sind, nämlich dem einer an der Schweizer Grenze in romantischer Landschaft, fern allen Verkehrsmitteln gelegenen, in der Zahl der wassersporttreibenden Studenten beschränkten, aber um Gottes willen nicht als Elitebereitung gedachten Landesuniversität. Das ist vor allem von meinem Standpunkt aus deswegen so traurig, weil damit die Hoffnung, dass sie eine ernsthafte Konkurrenz für die Max-Planck-Gesellschaft werden könnte, so gut wie ausgeschlossen ist.«
Melchers gab Hess’ Anfang 1966 recht deutlich zu verstehen, dass man so jedenfalls nicht ernsthaft mit der außeruniversitären Forschung werde konkurrieren können. Eine Antwort des designierten Gründungsrektors an den spottenden Max-Planck-Direktor ist nicht überliefert, doch Hess war gewillt, sein Bestes zur Umsetzung der Gründungsausschusspläne zu geben, solange er sich der Unterstützung des Landes sicher sein konnte. Und Anfang 1966 schien diese Unterstützung in Konstanz noch vorhanden, während Helmut Schelsky mit seinen Plänen für die Universität Bielefeld, deren Entwicklung im Folgenden als zweites Neugründung vorgestellt wird, zu diesem Zeitpunkt zwar einen schnelleren Start der Neugründungsarbeiten hinter sich hatte, aber auch erheblich schneller in Schwierigkeiten geraten war.
4. Universität Bielefeld: Center for Advanced Studies und Universität
Für die Region Ostwestfalen wurde offiziell seit Januar 1964 eine dritte Hochschulneugründung in Nordrhein-Westfalen verfolgt – nach Bochum und Dortmund. Wie im Konstanzer Fall können auch für die Konzeptarbeiten und Planungen der späteren Universität Bielefeld zwei Phasen unterschieden werden. Die vorbereitende Phase der Landespolitik und Helmut Schelskys konzeptionelle Überlegungen seit etwa 1960, sowie die anschließende Phase eines offiziellen Gründungsausschusses zwischen 1965 und 1967. Wie hingen die vorbereitenden Arbeiten und die Beratungen des Gründungsausschusses zusammen, und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten bestanden zur Entwicklung der Konstanzer Reformideen und Gründungsplanung?
4.1 Von Bochum nach Bielefeld: Universitätsneugründungen in Nordrhein-Westfalen Auch in der nordrhein-westfälischen Hochschulpolitik brachen mit dem Beginn der 1960er Jahre hochschulpolitisch neue Zeiten an. Die 1950er Jahre waren geprägt gewesen von dem anfangs schleppenden Wiederaufbau der Universitäten und dem darauf folgenden, auf den Studierendenandrang reagierenden Ausbau der nordrhein-westfälischen Universitäten. Im Juli 1961 gab der Landtag in Folge der Empfehlungen des Wissenschaftsrates seine bis dahin zögerliche Haltung gegenüber Universitätsneugründungen auf und votierte für eine erste solche Neugründung in Bochum.1 Bis zu dieser Entscheidung hatte die Hochschullandkarte des in der Nachkriegszeit neugeformten Landes eine regional sehr ungleiche Verteilung der Universitäten aufgewiesen. Hinzu kam, dass der Hochschulbereich in Anbetracht der Bevölkerungszahl nur unzureichend ausgebaut war. Mit Münster, Köln, Bonn und Aachen lagen zwei Universitäten und eine Technische Hochschule im Rheinland und nur eine Universität in Westfalen.
1 Zur Nachkriegsentwicklung der nordrhein-westfälischen Universitäten, Wiederaufbau und Übernahme der lokal finanzierten Hochschulen in die Landeshoheit: Wadischat, Die Hochschulpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen.
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Regionalversorgung als Argument Mit der Entscheidung für eine erste Universitätsneugründung in Bochum erhielt zunächst das Ruhrgebiet als wirtschaftliches Herz des Landes eine dort noch fehlende Infrastruktur. Trotz der 1957 beginnenden Kohlekrise und dem sie begleitenden Zechensterben sah offenbar nur ein Teil der handelnden Politiker in der Standortentscheidung für diese Neugründung damals schon eine langfristig angelegte Strukturpolitik mit positiven wirtschaftlichen Folgeeffekten. Unabhängig von der genauen Standortbegründung für Bochum meldeten sich im östlichen Teil des Landes direkt Stimmen zu Wort, die ebenfalls um Berücksichtigung baten, wenn es um die Versorgung mit einer Universität ging.2 Kurz nach Veröffentlichung der Ausbau-Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die erstmals auch Neugründungen empfahlen, konnte man im Bielefelder »Westfalen-Blatt« lesen, was die Universitätsgründung im Ruhrgebiet aus Sicht mancher Ostwestfalen für das Verhältnis der Regionen im noch jungen Bundesland bedeutete: »Das Gleichgewicht der Kräfte im Lande wäre noch tiefer gestört als es ohnehin schon der Fall ist. Einem in jeder Hinsicht übergewichtigem Ruhrgebiet stünde Ostwest falen dann endgültig als ausgesprochene Randlandschaft gegenüber, ein bloßes Anhängsel nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im geistigen Bezug. Deshalb sind wir der Auffassung, dass Düsseldorf sehr wohl erwägen sollte, neben einer technischen Hochschule im Ruhrgebiet eine Universität im ostwestfälischen Raum zu errichten und damit ein geistiges Zentrum zu schaffen, das diesen lange Zeit vernachlässigten Raum von innen her prägt und ihn mit einer echten geistigen Klammer an das Land schließt.«3
Diese Forderung aus Ostwestfalen erinnerte bis in die Formulierung hinein an die Wünsche der Regensburger nach einer Universität in Ostbayern, mit dem Unterschied freilich, dass die Regensburger neben der regionalen Strukturpolitik bei den ersten Forderungen 1949 zudem noch ihren »Grenzlandstatus« betont hatten, der ein intellektuelles Bollwerk gegen den Osten rechtfertige. Obwohl die westliche Welt hinter Ostwestfalen nicht direkt zu Ende war, stellten Paderborn und Detmold nach der Darstellung des »Westfalen-Blatt«-Kommentators immerhin doch »die Mitte des hochschulmäßigen Vakuums [dar], das sich zwischen Münster, Göttingen und Marburg ausbreitet.« Und als nach der Entscheidung für Bochum direkt daneben in Dortmund sogar noch eine zweite Neugründung im Ruhrgebiet platziert werden sollte, nahmen die Begehrlichkeiten in Ostwestfalen nur weiter zu. So meldete die in der Landeshauptstadt Düsseldorf erscheinende Boulevardzeitung »Der Mittag« am 7. Ok-
2 Die Standortdiskussionen in Ostwestfalen zwischen 1961 und 1966 hat der Archivar der Universität Bielefeld rekonstruiert: Löning, »Bielefeld erhält die Universität«. 3 Hans-Erich Koertgen, Durchs Fern-Glas, in: Westfalen-Blatt, 25.11.1960.
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tober 1961 »Bielefeld will auch eine Uni« und berichtete von der Werbung durch den Oberbürgermeister: »Die Industriestadt mit ihrer landschaftlich reizvollen Umgebung sei der ideale Platz für eine Universität, sagte er. Keine Dunstglocke werde jemals die Gedanken der Studierenden in Bielefeld umnebeln.«4
Doch Bielefeld und andere Städte in Ostwestfalen mussten sich trotz Werbung für ihre landschaftliche Umgebung und den zumindest nicht durch Ruß umnebelten Teutoburger Wald zunächst weiter gedulden. In Dortmund hatte man seit der Jahrhundertwende auf eine Technische Hochschule hingearbeitet und war fassungslos, dass die Rivalin Bochum zuerst zum Zuge gekommen war. Hartnäckige Lobbyarbeit setzte auch dort ein.5 Ähnlich wie den Regensburger Universitätslobbyisten kam auch den Dortmundern der Termin der Landtagswahl sehr zu Pass. Sie waren zunächst damit gescheitert, den Bochumer Gründungsausschuss von ihrem Kompromissvorschlag einer Zweiteilung der Universität auf Bochum und Dortmund zu überzeugen, weil der Ausschuss seine Idee einer wiederhergestellten Einheit der Universität durch Ortsverteilung gefährdet sah. Doch drei Wochen vor der Landtagswahl am 6. Juli 1962 wurde der Wettkampf zwischen den benachbarten Städten nach einem Alleinsieg Bochums im Vorjahr doch noch zu Gunsten beider entschieden und auch Dortmund bekam von der Landesregierung im Juni 1962 die feste Zusage für eine eigene Technische Hochschule. So profitierten Regensburg und Dortmund von den 1962 im jeweiligen Land stattfindenden Wahlen, bei denen die CSU-geführte Landesregierung in Bayern eine absolute Mehrheit erreichen und die CDU-geführte in Nordrhein-Westfalen eine solche verteidigen wollte. Bielefeld hatte im Wettkampf zwischen den Ruhrgebietsstädten zunächst erfolglos interveniert und musste sich noch einige Jahre gedulden, bis es ein Stückchen vom Universitätsgründungskuchen abbekam. Dem CDU-Ministerpräsidenten Franz Meyers rettete die doppelte Gründungszusage mit der Bochumer Universität und der Technischen Hochschule in Dortmund in der Landtagswahl allerdings nicht seine absolute Mehrheit. Er regierte ab dem Spätsommer 1962 mit der FDP und die notwendige Kabinettsneubildung brachte den bereits beschriebenen Ministerwechsel im Kultusressort, bei dem der junge, aus Westfalen stammende Juraprofessor Paul M ikat (CDU) ins Amt kam. Er erbte von seinem Vorgänger Werner Schütz (CDU) damit die Entscheidung für zwei Neugründungen im Lande. Ähnlich neugrün 4 UABI, KP 1: Zeitungsausschnitt 7.10.1961 aus Der Mittag. 5 Zu den Details des Städtewettstreits Bochum gegen Dortmund, der eine lange Vorgeschichte hatte: Stallmann, Euphorische Jahre, S. 47–98. Zur langen Vorgeschichte einer TH-Gründung in Dortmund: Wadischat, Die Hochschulpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 356–385.
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dungsfreudig wie sein Vorgänger, fügte Mikat bald darauf zwei weitere Universitäten zur Hochschullandschaft Nordrhein-Westfalens hinzu – in Bielefeld und Düsseldorf.
Nordrhein-Westfalen im Wettbewerb der Länder Universitätsgründerzeiten waren in Nordrhein-Westfalen also mit den Beschlüs sen für Bochum und Dortmund im Sommer 1962 angebrochen. Vergleicht man die Entscheidung des Jahres 1962 in Nordrhein-Westfalen mit jener in BadenWürttemberg 1963/64, so fällt auf, dass die CDU-geführte Landesregierung unter Kiesinger zwar auch eine Entscheidung zugunsten mehrerer Städte traf, indem sowohl Konstanz als auch Ulm eine Neugründung erhielten. Allerdings wurden die Schwerpunkte der beiden Universitäten in Baden-Württemberg anfangs komplementär gesetzt – Geistes-, Sozial- und etwas Naturwissenschaften in Konstanz, dagegen in Ulm anfangs nur Medizin, bald auch weitere Naturwissenschaften –, dass man zumindest in finanzieller Hinsicht zunächst noch von einer einzigen, aber auf zwei Orte verteilten Volluniversität sprechen konnte. Allerdings verfügte Baden-Württemberg zum Zeitpunkt der Gründungen bereits über eine im Vergleich umfangreichere Hochschullandschaft als Nordrhein-Westfalen, das zeitgenössisch die wirtschaftliche und damit finanzielle Potenz zum Aufholen zu besitzen meinte. Diese »schwäbische Lösung« war also sparsamer als jene in Nordrhein-Westfalen, wo eine neue Volluniversität einschließlich der besonders kostspieligen Medizin und der Integration der ebenfalls teuren, weil apparateintensiven Ingenieurwissenschaften nur 15 Kilometer Luftlinie entfernt neben einer weiteren kompletten neuen Technischen Hochschule aufgebaut wurde. Mitte 1965 zeichnete sich jedoch schon ab, dass man sich bei den weiteren nordrhein-westfälischen Neugründungen zwangsläufig auch an einer sparsamen Lösung versuchen musste. Entscheidung für Bochum: Think big Mit den Neugründungen in Bochum und Dortmund hatte die spätere Neugründung in Bielefeld – anders als Konstanz – also zwei Vorläufer im eigenen Lande. Diese sorgten für einen Erfahrungsbestand der Landesregierung, was dem Projekt in Ostwestfalen etwas von seinem Pioniercharakter nahm, den Konstanz innerhalb Baden-Württembergs für sich in Anspruch nehmen konnte. Dies wurde später dadurch kompensiert, dass das Bielefelder Projekt den Spezialauftrag erhielt, mit dem Konstanzer Modell in Sachen Reformfreudigkeit in Wettstreit zu treten. Bis Bielefelds Universitätswunsch aber in Erfüllung ging und eine gewisse Wettbewerbssituation zu Konstanz entstand, richteten sich zunächst in Nordrhein-Westfalen und auch darüber hinaus eine Zeit lang alle Blicke auf das Neugründungsprojekt in Bochum. In Bochum ging, spätestens seit Mikats Amtsantritt, alles so schnell voran, so dass die anderen neugründenden Länder erst einmal abgehängt wurden. Das
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Konstanzer Projekt kam seit Ende 1959 kaum vom Fleck und das Kultusministerium in Baden-Württemberg suchte widerwillig nach einer Zweckbestimmung für die vom Landesvater angestoßene Neugründung. In Bremen lag seit Anfang 1961 zwar ein umfangreiches Gutachten für eine neuartige Universität vor, um dessen Feinschliff sich ab Ende desselben Jahres zunächst ein Beratungsausschuss kümmerte, auch weil die Finanzierung des Projektes gänzlich unklar war – ohne Hilfe von außen konnten die Bremer die Kosten nicht stemmen. In Bochum dagegen trat im Herbst 1961, nach kurzen Vorberatungen im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates, unter Hans Wenkes Vorsitz ein Gründungsausschuss zusammen, der die Grundstrukturen der neuen Universität erarbeitete. Am 2. Juli 1962 – zwei Monate nach einem ersten Entwurf des Gründungsausschussberichtes und nur vier Tage vor der Landtagswahl – wurde in Bochum-Querenburg bereits der erste Grundstein aller Neugründungen der 1960er Jahre gelegt. Bald wuchs eine aus Hochhäusern bestehende neue Universität in den Himmel, ganz nach der Forderung des Verbandes Deutscher Studentenschaften von 1962, der sein Gutachten zu »Studenten an neuen Universitäten« im Rahmen eines großen Studententages 1963 in Bochum diskutierte und bekanntmachte unter der Forderung, die sich etwas verkürzend als »Größe statt Exklusivität« zusammenfassen ließ. Tatsächlich beeindruckte die Bochumer Neugründung die Zeitgenossen am Anfang der 1960er Jahre vor allem mit der schieren Größe des Vorhabens. Dass es mit Mainz, Saarbrücken und Berlin in der Nachkriegszeit auch Neugründungen gegeben hatte, die anfangs ohne für sie errichtete Neubauten auskommen mussten und konnten, erschien im Vergleich erschreckend altmodisch. Doch dass ein zeittypisch moderner Bau, der in Fertigbauweise erstellte Großsilos für die Lehrenden, Forschenden und Lernenden vorsah, automatisch auch einen modernen Inhalt beherbergte, war nicht garantiert. Vielmehr musste sich der Gründungsausschuss unter Hans Wenke bald den Vorwurf gefallen lassen, in seinen Empfehlungen für den Universitätsaufbau nur gemäßigt reformfreudig zu sein. Neben der Reformidee einer erneuerten Einheit der Wissenschaften durch Vertretung möglichst vieler Fächer und zusätzlicher Integration der Ingenieurwissenschaften zeichnete sich Bochum vor allem durch einen quantitativen Lösungsbeitrag für die 1959 vorläufig kulminierte »Überfüllungskrise« aus. Der Gründungsausschussbericht hob als wesentliches Ziel die Entlastung der bestehenden Universitäten hervor, die durch die Bereitstellung von nicht weniger als 10.000 Studienplätzen erreicht werden sollte. Bei der enormen Vergrößerung der Studierendenzahlen in Nordrhein-Westfalen von rund 18.000 in 1950/51 auf rund 35.000 in 1960/61 schien das ein substantieller Beitrag, der auf lange Sicht Entlastung schaffen könnte. Anfangs nicht berücksichtigt wurde jedoch die Tatsache, dass die neue Universität eine Erschließung des Ruhrgebiets leistete und viele zusätzliche Studierende anzog, die man in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt hatte.
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Auch architektonisch fand die Idee der Entlastung durch Größe im Bochumer Universitätsbau ihren Ausdruck.6 Am Stadtrand von Bochum wurde eine Großbaustelle eröffnet, für die über Jahre hinweg fast unbegrenzte Finanzmittel zur Verfügung gestellt wurden. Was die Anlage und Gestalt der neuen Universität betraf, wurden rasch Entscheidungen getroffen. Anders als von Hans Werner Rothe 1961 für die Bremer Neugründung erstmals schematisch vorgeschlagen, wurde keine locker verteilte Campusanlage geplant, sondern eine hochverdichtete, symmetrisch entlang einer Längsachse angeordnete Anlage aus über einem Dutzend Hochhäusern entworfen. Eine Verwandtschaft zu Rothes Vorschlag konnte nur noch im zentralen Forum mit Bibliothek, Audimax, Mensa und Verwaltungseinrichtungen erkannt werden. Die kalkulierten Baukosten explodierten, was den Fortgang der Arbeiten aber kaum bremste – höchstens mit Blick auf die Studentenwohnheime. Schon 1963 waren die Baukosten von rund 800 Millionen auf über 2 Milliarden DM angestiegen und wuchsen noch weiter. Das von der Landespolitik ausgegebene Ziel blieb es, die neue Universität so schnell wie möglich arbeitsfähig zu machen, was auch gelang. Nachdem 1962 der Grundstein gelegt worden war, konnten im Sommer 1965 schon die ersten zwei Hochhäuser bezogen werden. Die damit verbundene Eröffnungsfeier erfolgte wenige Tage, nachdem der Gründungsausschussbericht für Konstanz gerade erst fertiggestellt und übergeben wurde – so weit war inzwischen der Vorsprung in Bochum. Diesmal waren, anders als bei der Gründungsfeier der Freien Universität 1948, auch alle Rektoren der bundesdeutschen Universitäten zur feierlichen Eröffnung an die Neugründung gekommen. An Interesse und Anerkennung mangelte es der neuen Universität also von Anfang an nicht. Bochum stand als Prestigeprojekt der nordrhein-westfälischen Hochschulpolitik also in jeder Hinsicht für die große Zahl: große Fächer- und Studierendenzahlen, riesige bauliche Anlage und Kosten. Wie Bochum beweisen sollte, konnte die nordrhein-westfälische Hochschulpolitik groß denken und groß handeln. In dieser Investitionsbereitschaft konnte sich die Landesregierung bestärkt sehen, als Georg Picht 1964 eine breite Debatte über Schul- und Hochschulinvestitionen anstieß. Doch stiegen die Ansprüche an das Reformmoment der Neugründungen im Verlauf der frühen 1960er Jahre an. Was dann im Ländervergleich noch fehlte, war neben einer gleichmäßigeren Versorgung in der Fläche des Landes auch etwas besonders Innovatives, das Baden-Württemberg mit dem kleinen-feinen Konstanz scheinbar im Köcher hatte.
Entscheidung für Ostwestfalen: Small is beautiful Am 14. Januar 1964 brachte Paul Mikat im nordrhein-westfälischen Landtag den Gedanken einer weiteren Universitätsneugründung des Landes im Rahmen der Haushaltsberatungen ins Spiel. Ausgangspunkt waren für ihn die gleichen Da
6 Zur Baugeschichte ebenfalls Stallmann, Euphorische Jahre, S. 145 ff.
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ten, die Picht zu seiner Artikelserie über die »Bildungskatastrophe« animierten, nämlich die Bedarfsfeststellung der Kultusminister der Länder im Bildungsbereich bis 1970, die für Mikat zeigten, dass die politischen Anstrengungen im gesamten Bildungsbereich noch erheblich intensiviert werden müssten.7 Im Wissenschaftsrat hatte man auf Basis einer Schätzung der Studienplätze je Einwohner bald festgestellt, dass in Nordrhein-Westfalen selbst nach dem Ausbau der Universitäten entlang der Ausbau-Empfehlungen des Rates, die sich ja lediglich am angemeldeten Bedarf der bereits bestehenden Universitäten orientierten, vermutlich eine Lücke von wenigstens 23.000 Studienplätzen auftun werde. Die Gründung einer großen Universität würde also, so schon 1961 die Gewissheit, bei Weitem nicht ausreichen.8 Mikat erinnerte Anfang 1964 vor dem Landtag selbstbewusst daran, dass das Land in den letzten Jahren wissenschaftspolitisch im Ländervergleich »beispielhaft vorangegangen« sei.9 Die Steigerungsraten der bildungsbezogenen Haushaltsausgaben seien zuletzt so gewaltig gewesen, dass man sich natürlich fragen könne, wieviel das Land sich noch leisten könne. Doch trotz der bereits hohen Ausgaben plädierte Mikat vor dem Landtag dafür, direkt weitere Planungen für Neugründungen in Angriff zu nehmen, um auch die Studierendenzahl an den Großuniversitäten so weit abzusenken, dass man wieder zu vertretbaren Forschungs- und Ausbildungsmöglichkeiten gelange. Das Überfüllungs-Thema flackerte nämlich seit dem Vorjahr wieder auf. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« beispielsweise hatte im Sommer 1963 wiederum unter der Überschrift »Die überfüllten Hochschulen« gemeldet, dass die Studentenzahlen im Sommer 1963 schon »fast 34 Prozent über dem vom Wissenschaftsrat für die Hochschulen und Universitäten zugrunde gelegten Zahlen« lägen und die Überauslastung der Universitäten – Köln (199,2 Prozent) und Aachen (137,05 Prozent), um nur die aus Nordrhein-Westfalen zu nennen – teils dramatisch sei.10 Die Gründung einer weiteren Landesuniversität war laut Mikat sowohl vom Ministerpräsidenten als auch vom CDU-Fraktionsvorsitzenden Wilhelm Lenz ins Gespräch gebracht worden und die Landesregierung wolle bald konkrete Vorstellungen unterbreiten. Damit war die Idee in der Welt und ab Ende Februar 1964 nahm die Universitätsneugründung, in den Zeitungen der Region Ostwestfalen schon Gestalt an, obwohl oder gerade weil die Landesregierung zunächst noch keinen genauen 7 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder, Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970. 8 Überlegungen zur Errichtung einer weiteren wissenschaftlichen Hochschule im westfälischen Landesteil des Landes Nordrhein-Westfalen, 5.9.1961, Drucksache 155/60, ohne Autor (zum Referat des Generalsekretärs Friedrich Schneider in der 2. Sitzung des Neugründungsausschusses), in: BArch B/247, 12. 9 Landtag Nordrhein-Westfalen, Fünfte Wahlperiode, Stenographische Berichte, Band 1, S. 1023–1029. 10 Die überfüllten Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1963.
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Standort nennen wollte, da das kostspielige Duell Bochum gegen Dortmund, das schließlich zur Doppelgründung geführt hatte, noch in zu frischer Erinnerung war. Mikat hatte gegenüber Pressevertretern offenbar den Plan geäußert, dass »eine Forschungsuniversität nach dem Konstanzer Modell« entstehen solle, die »eine gewisse Größenordnung nicht überschreiten« werde.11 Die regionalen Zeitungen griffen die Perspektive der Universitätsgründung begierig auf und der Wettbewerb der Städte Bielefeld, Herford, Detmold und Paderborn um den Standort der neuen Hochschule begann. Auf Ebene der Landespolitik organisierte Mikat bis Mitte November 1964 die Zustimmung des Kulturausschusses zur Schaffung eines zusätzlichen Haushaltstitels »Universität im ostwestfälischen Raum«, die Voraussetzung für weitere konkrete Planungsschritte war.12 Am 12. Januar 1965 wurde das Neugründungsprojekt für Ostwestfalen erneut im Landtag angesprochen. Fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem Mikat im Landtag erstmals die Idee einer weiteren Universitätsgründung erwähnt hatte, konnte der CDU-Fraktionsvorsitzende Lenz, wenn auch mit einem skeptischen Unterton, bereits einen Erfolg vermelden: »Das Land gelangt allmählich an die obere Grenze seiner finanziellen Leistungskraft. Trotzdem bejahen und begrüßen wir die Tatsache, dass beispielsweise im neuen Landesetat Vorarbeitskosten für eine weitere Universität, und zwar im ostwestfälischen Raum, eingestellt werden.«13
Die Grenzen des Ausgabenwachstums begannen sich schon abzuzeichnen, als die Neugründung in Bielefeld noch im frühesten Planungsstadium war. Doch entweder wurden derartige Bedenken absichtlich zurückgestellt oder sie bewegten Mikat erst recht dazu, möglichst noch Fakten zu schaffen, bevor die Haushälter weiteren Neugründungen den Riegel vorschieben würden. Das Tempo, in dem die ostwestfälische Neugründung jetzt vorbereitet wurde, war jedenfalls deutlich höher als seinerzeit in der baden-württembergischen Landespolitik, wo der Ministerpräsident seinen Apparat mühsam zum Planen hatte ermuntern müssen. Ab Anfang 1965 beschäftigte man sich im nordrhein-westfälischen Kultusministerium verstärkt mit der Frage, wer am Gründungsgremium für die Universität in Ostwestfalen mitwirken sollte, weil Mikat direkt nach der Zustimmung des Landtages zum Haushalt im Februar 1965 einen beratenden Personenkreis berufen wollte. Ein entsprechender Vermerk aus dem Kultusministerium hielt fest, dass Mikat, wie im Vorjahr ja schon in der Zeitung zu lesen war, nach wie vor Konstanz als Modell für Ostwestfalen vor Augen hatte: 11 Forschungsuniversität für Ostwestfalen, in: Westfalen-Blatt 25.2.1964. 12 Protokoll über die 76. Sitzung des Kulturausschusses am 12.11.1964 in Düsseldorf, in: UABI KP #7. 13 Landtag Nordrhein-Westfalen, Fünfte Wahlperiode, Stenographische Berichte, Band 2, S. 1751.
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»Nach der von Herrn Minister geäußerten Ansicht soll die ostwestfälische Universität eine Abwandlung des Modells Konstanz sein. Auf die Medizin soll verzichtet werden. Die Studentenzahl soll bei etwa 3.000 liegen. […] Bei anderer Gelegenheit hat der Herr Minister geäußert, dass er Herrn Professor Dr. Hess (Heidelberg, Konstanz) in den Ausschuss berufen wolle. Der Herr Abteilungsleiter I hat für den Gründungsausschuss auf Herrn Professor Dr. Schelsky (Münster) hingewiesen.«14
Mikat hatte Schelsky Ende Januar angesprochen und nach dem baldigen Anruf seines Abteilungsleiters Wegner sagte Schelsky auch zu – allerdings unter Bedingungen, auf die noch zurückzukommen ist.
4.2 Helmut Schelskys Vorarbeiten für das Konzept der Universität Bielefeld Was motivierte und qualifizierte Helmut Schelsky zur Erstellung eines Konzeptes für die dritte Hochschulneugründung in Nordrhein-Westfalen? Eine Rückblende ist zur Beantwortung dieser Frage nötig. Schelsky hatte sich zum einen seit Ende der 1950er Jahre zuerst am Rande und dann im Zentrum mehrerer Publikationen mit Hochschulpolitik und Hochschulgeschichte, insbesondere der sogenannten Humboldt’schen Universität, beschäftigt und daraus abgeleitete Analysen und Forderungen an verschiedenen Orten vorgetragen. Auch hatte er Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre verschiedene kleinere Auftragsforschungen zu hochschulpolitischen Fragen für das Deutsche Studentenwerk und den Deutschen Akademischen Austauschdienst angeleitet. Zum anderen verkörperte Schelsky als Soziologe einen neuen wissenschaftlichen Zugriff auf Fragen der modernen Gesellschaft, zu denen die Beschaffenheit zeitgemäßer Institutionen für Bildung und Wissenschaft gehörte. Wie bereitwillig die Hochschulpolitik damals auf soziologische Expertise zurückzugreifen begann, hatte die baden-württembergische Landtagsdebatte im Mai 1963 um die Konstanzer Universitätsneugründung beispielhaft gezeigt, in der mit Schelsky, Dahrendorf und Baumgarten ausschließlich Soziologen als wissenschaftliche Gewährsleute für unterschiedliche Positionen der Hochschulpolitik zitiert worden waren. Kultusminister Mikat hatte mit dem Soziologen Helmut Schelsky also einen auch in der Öffentlichkeit vergleichsweise bekannten Wissenschaftler gewonnen, der eine ideale Kombination aus Humboldt-Kenner und Zeitgeist-Vertreter schien und im besten Fall Traditionskenntnis mit Gegenwartsverständnis und Zukunftsplanung zu verbinden vermochte. Was Schelsky von den Gründungsausschussvorsitzenden in Konstanz und Bochum und auch vielen Teilnehmern der Hochschulreformdebatten der Nach 14 Vermerk der Abteilung I im Kultusministerium: Betr.: Errichtung einer neuen Universität in Ostwestfalen, 13.1.1965, in: UABI: KP #7.
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kriegsjahre unterschied, war, dass er weder zur Gruppe der Pädagogen und Philosophen wie Jaspers, Spranger und Wenke zählte, noch zum »Reform-Establish ment« wie Raiser oder Hess. Gegenüber beiden Seiten verfügte er über einen gewissen Abstand. Er besaß weniger politische Erfahrungen und Kontakte, dafür aber Überblickswissen, Entschlusskraft und zunächst auch eine euphorische Grundstimmung für das Projekt Universitätsgründung in Ostwestfalen.
4.2.1 Schelskys Interesse an Hochschulreform und Universitätsneugründungen Helmut Schelskys erste eigene Begegnung mit einer Hochschulneugründung fand noch in den Nachkriegsjahren statt. 1949 erhielt er, nach mehreren Jahren in einem beruflichen Übergangsstadium, einen Ruf an die frisch gegründete Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. An der Akademie für Gemeinwirtschaft erlebte Schelsky die Aufbausituation einer Hochschule, die zur Ergänzung der bestehenden Hochschullandschaft gegründet worden war, bevor er 1952 an die Hamburger Universität wechselte, die selbst wiederum eine Neugründung des frühen 20. Jahrhunderts war. Obwohl er zeitweise auch die Leitung der neuartigen Hamburger Akademie übernahm, hat Schelsky sich mit ihrer Aufgabe und Gründungssituation publizistisch nicht auseinandergesetzt, anders als Ralf Dahrendorf. Dieser hatte 1959 einen Beitrag zum zehnjährigen Jubiläum an der Hamburger Akademie verfasst, wo er – nach herausragender Begutachtung seiner Habilitationsschrift 1957 durch Helmut Schelsky – ab 1958 seine erste Professur angetreten hatte, allerdings dann für ebenso kurze Zeit blieb wie Schelsky – diese Neugründung war also ein Sprungbrett.15
Studierende als Studienobjekte: »Die skeptische Generation« Die Beschäftigung mit der Universität als Institution, ihrer Geschichte und den zeitgenössischen Herausforderungen, taucht in Schelskys Publikationen nicht schon im Kontext der Hamburger Akademie-Gründung, sondern erstmals 1957 in »Die skeptische Generation – Eine Soziologie der deutschen Jugend« auf. In diesem Buch beschäftigte sich Schelsky indirekt mit der Universität, nämlich über die Auseinandersetzung mit den Nachkriegsjugendlichen und den Studierenden unter ihnen. Wie bereits geschildert, entwarf Schelsky hier das Bild einer Studierendengeneration, die erstmals in viel größerer Zahl als bisher nach guter Ausbildung an den Universitäten strebte und nicht mehr primär eine Bildungszeit an der Universität zu erleben suchte. Auf diese veränderte Nachfrage situation hatte sich die Universität nach seinem Urteil von 1957 noch nicht 15 Schelskys knapper Kommentar zu seiner Forschungszeit an der Hamburger Akademie in: Erfahrungen mit vier Generationen der deutschen Universität, S. 166 f.
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eingestellt, sondern hing vergangenen Idealen an, was er in seiner stets pointierenden Art als eine »schizoide Gespaltenheit der Universität zwischen Realität und Idee« bezeichnete. Am Rande des eigentlichen Themas seines Buches setzte sich Schelsky – wie zeitgleich auch Jürgen Habermas und weitere Nachwuchssoziologen – mit den Bemühungen der Nachkriegszeit um ein Studium generale und die Organisation neuer akademischer Gemeinschaftsformen auseinander, deren Zielsetzung er für verschwommen und die er für keine adäquate Reaktion auf die Berufsorientierung der Studierenden hielt. Ob S chelsky die diagnostizierte Entwicklung hin zu Ausbildungsuniversitäten lediglich nüchtern beschreiben wollte oder sie doch auch für bedauernswert hielt, bleibt zwar unklar. Deutlich wird aber, dass er die versuchte Revitalisierung des Bildungsauftrags der Universität mit den Mitteln des Studium generale und der Reaktivierung einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden schon 1957 abgelehnt hatte, also drei Jahre, bevor Rothe in seinem Gutachten für Bremen eine Campus- und College-Universität entwerfen und der Wissenschaftsrat 1962 in dessen Zuspitzung fordern würde, möglichst viele Studenten der ersten Semester an den neuen Universitäten künftig in sogenannten Kollegienhäusern unterzubringen.
Gespür für den Zeitgeist: Schelskys Antrittsvorlesung in Münster Die nächste und intensivere Beschäftigung Schelskys mit der Situation der deutschen Universitäten erfolgte drei Jahre später, als Schelsky 1960 einen Ruf der Universität Münster annahm. Bei der Auswahl eines Themas für seine Antrittsvorlesung am 24. Juni 1960 bewies der Soziologe Gespür für ein aktuelles Thema, das sowohl die akademische wie breitere Öffentlichkeit als auch Vertreter der Hochschulpolitik gleichermaßen interessierte. Er stellte sie unter den universitäts- als auch gesellschaftsbezogenen Titel »Einsamkeit und Freiheit. Zur Sozialen Idee der deutschen Universität«. Zwar war es in diesen Jahren nichts ungewöhnliches, bei Rektoratswechseln und anderen akademischen Feiergelegenheiten im Zug der institutionellen Selbstvergewisserung auch über Universitätsreformen zu reden und diese mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten stets als dringlich zu beschreiben. Aber im 150sten Gründungsjahr der Berliner Universität und sechs Wochen, nachdem der Wissenschaftsrat im Mai 1960 einen massiven Ausbau der bestehenden Universitäten und sogar die Gründung einiger neuer gefordert hatte, besaß Schelskys Antrittsvorlesung doch eine besondere Aktualität und er als Soziologe anscheinend auch eine entsprechende Kompetenz. Schelsky unternahm in diesem Vortrag – passend zum Jubiläumsjahr – zunächst einen Rückblick auf die Schriften und Handlungen Wilhelm von Humboldts, des »Kirchenvaters der deutschen Universität«, wie er ihn nannte. Die Herausforderung habe bei der Berliner Gründung 1809/10 in einer »im Zunftwesen erstarrten Universität« gelegen, an der nicht geforscht, sondern nur Wissensstoff
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vermittelt wurde, häufig an eine »Ansammlung Halbstarker.«16 Ziel der Berliner Gründung sei es gewesen, der neuen Universität dauerhaft, und den an ihr zu bildenden künftigen Staatsdienern zumindest vorübergehend, Freiheit von der Berufsausbildung und von zu viel Nützlichkeitsstreben zu gewähren. Professoren und Studenten sollten sich im sokratischen Dialog begegnen. Nach Schelsky war die Berliner Gründung aber nicht nur von der Idee, sondern auch vom Ablauf her eine vorbildliche Gründung, weil nämlich der preußische Staat die ratenden Denkschriften einzelner Gelehrter angefordert habe – an diesem Lob Schelskys hatte sich ein Jahr später dann das Baden-Württembergische Kultusministerium orientiert und verschiedene Gutachten anfordert. Nach den Vergleichen zur Gegenwart formulierte Schelsky die These, dass die Berliner Gründung seinerzeit strenggenommen keine Reform der bestehenden Universitäten angestrebt hatte, die eine Anpassung bestehender Institutionen an neue Aufgaben oder nur die Durchsetzung alter Institutionsideen mit neuen Mitteln gewesen wäre, sondern als Neugründung ein Drittes neben Reform und Revolution gewesen sei. So lautete sein Verständnis der Neugründungen: »Gründung bedeutet, neue Institutionen zu neuen Zwecken zu schaffen, ohne die alten Institutionen anzutasten und in ihren bisherigen Aufgaben zu verneinen oder aufzuheben. Gründung institutionalisiert also die neuen Ansprüche der Zeit, ohne das Alte revolutionär zu verneinen oder es mit neuen und daher schwer lösbaren Aufgaben zu belasten. […] Reformen, die von vornherein nur organisatorische Anpassungen erreichen wollen, sind im Bereich der Wissenschaftsorganisation ebenso vergeblich wie der Versuch, alte Selbstverwaltungsorganisationen mit ›neuem Geist‹ erfüllen zu wollen.«17
Doch zu weit wollte Schelsky die Parallelen zwischen 1810 und 1960 auch nicht ziehen. Bei all seinem Lob für die Ideen des Zirkels rund um Humboldt stellte er auch die fundamental veränderten Zusammenhänge heraus, in die Wissenschaft und Forschung 150 Jahre nach der Berliner Gründung eingebettet waren. Wissenschaft sei »zur Substanz des praktischen Handelns« geworden und nicht mehr Träger einer sich über das praktische Leben erhebenden Bildung.18 Die Bemühungen der Nachkriegszeit – hier nahm Schelsky die Äußerungen aus seinem Buch von 1957 wieder auf –, die Bildungsfunktion zum Beispiel mit einem Studium generale zu revitalisieren, seien zwar gut gemeint gewesen, aber naiv. Die Idee einer gemeinsamen Unterbringung der Lernenden mit einigen Lehrenden, wie Rothe sie inzwischen entworfen hatte, lehnte Schelsky mit Verweis auf Fichtes Vorschläge im Umfeld der Berliner Gründung ab, dessen radikale Pläne einer »Wissenschaftskaserne« nach dem Muster der abendländischen Bildung in Klöstern gescheitert seien. 16 Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, S. 9 f. 17 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, S. 15 f. 18 Ebd., S. 29.
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Was folgerte Schelsky aus seinen Analysen für die Situation am Beginn der 1960er Jahre? »Die Idee der Bildung bedarf einer institutionellen Neugründung einer Bildungsanstalt jenseits der akademischen Berufsausbildung und damit jenseits unserer heutigen Universität, und […] unter eben jener Idee, aus der die Neugründung der Universität Berlin stammt.«19
Diese Forderung war durchaus noch nebulös und Schelsky wollte oder konnte sie im Juni 1960 auch nicht weiter präzisieren. Er forderte die Hochschulpolitik zur aktiven Gestaltung auf, wie sie mit der offiziellen Ankündigung von Universitätsneugründungen aus dem Wissenschaftsrat seit sechs Wochen nun am Horizont stand. Wissenschaftler sollten einbezogen werden, aber die Initiative sah Schelsky auf Seiten des Staates. Im Prinzip erhob er damit eine ähnliche Forderung wie Dahrendorf zwei Jahre später in seinem von Kiesinger in dessen Regierungserklärung zur Konstanzer Neugründung zitierten Aufsatz über »Starre und Offenheit der deutschen Universität«, in dem er die Hochschulpolitik zum Handeln nicht nur ermutigte, sondern auch ermahnte. Schelsky hatte im Frühsommer 1960 einen guten Zeitpunkt für seine Überlegungen zur Gestalt neuer Einrichtungen gewählt, denn die Aufmerksamkeit war durch die Vorankündigung des Wissenschaftsrates bereits geschaffen. Als Soziologe hatte er zudem ein gesellschaftliches Thema aufgegriffen, das natürlich auch ihn als Professor betraf. Spätestens mit der gedruckten Veröffentlichung dieser Antrittsvorlesung wenige Monate später machte sich Schelsky einen Namen bei hochschulreforminteressierten Professoren, in Kultusministerien und Feuilletonredaktionen, wo seine pointierten Ausführungen für viel Aufmerksamkeit sorgten.20
Werbung in eigener Sache: Zwischenruf für mehr Autonomie Etwas mehr als ein Jahr später meldete sich Schelsky zum Thema Neugründung erneut ausführlich zu Wort, diesmal nicht vor einer primär akademischen Öffentlichkeit im Hörsaal, sondern vor einer breiten Leserschaft in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Hier veröffentlichte er im Oktober 1961 einen Artikel unter der Überschrift »Wie gründet man Universitäten?«.21 Nach dem Loblied vom Vorjahr auf die Chancen der Neugründungen übte er nun Kritik am bisherigen Vorgehen des Staates als Universitätsgründer. Schelsky kommentierte dazu die ersten zwei Universitätsgründungen, bei denen außer der 19 Ebd., S. 32. 20 Ebd.; Rezension etwa von Friedrich H. Tenbruck in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 13 (1961), S. 702–704 und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Brigitte Beer am 30.3.1961. 21 Helmut Schelsky, Wie gründet man Universitäten? Konstruktives und Kritisches zu den Hochschulneugründungen in Westdeutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1961.
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Gründungsabsicht – wie in Konstanz – auch schon Konzepte vorlagen, nämlich Bremen und Bochum. Jetzt beanstandete er die Rolle der staatlichen Verwaltung in diesen beiden Gründungsprozessen als zu dominant, sah die Idee der Erziehung in Bremen und die der Integration der Ingenieurwissenschaften in Bochum als ungebührliche staatliche Vorgaben an und forderte eine stärkere Beteiligung der Professoren. Stattdessen kämen Reformideen ganz aus der Verwaltung und stünden »vorfabriziert« bei der Gründung bereit und die Kultusverwaltung suche sich passende »wissenschaftliche Exekutivbeamte«. Schelskys zweiter Kritikpunkt knüpfte an die Bedenken an, die er beim Expertengespräch über die Aktivierungsleistung der Wissenschaftsratsempfehlungen im Frühsommer 1961 in Sachen »Totalreform« geäußert hatte: »Wollen wir nicht gerade mit den Neugründungen von Hochschulen wieder allzu viel auf einmal erreichen, so dass sich als Erfolg ein Ungenügen nach allen Seiten hin einstellen wird? Bisher lag die Unpraktikabilität der umfassenden Hochschulreformpläne zumeist darin, dass sie die verschiedenen neuen Bedürfnisse der Hochschule sozusagen mit einer Totalreform zu erfüllen versuchten, verkennend, dass in einer so komplizierten Gesellschaft wie der unseren gerade umfassende Grundlagenreformen prinzipiell zum Scheitern verdammt sind.«22
Nicht nur gaben die staatlichen Kultusverwaltungen für Schelskys Geschmack also inhaltlich zu viel vor, sondern sie wollten auch zu viel auf einmal erreichen. Schelsky plädierte für eine pragmatische Konzentration der neuen Universitäten auf die Ausbildungsfunktion, d. h. auf eine Entlastung der alten Universitäten.. »Forschungsuniversitäten« erschienen ihm überflüssig, weil sich die Intensivierung der Forschung im gegebenen institutionellen Rahmen erreichen ließe. Nach seiner Einschätzung waren vielmehr solche Neugründungen nötig, die die Wissenschaftler von der Ausbildungsaufgabe entlasteten. Schelsky dachte dabei an die Schaffung von Einrichtungen nach Art der amerikanischen »Centers for Advanced Studies in den USA, in denen Gelehrte der verschiedensten Diszi plinen auf die Dauer eines Jahres miteinander diskutieren und arbeiten«. Eine solche »Bildungsuniversität«, wie Schelsky sie nannte und damit ganz offenbar etwas grundlegend anderes meinte als Rothes Bremer Bildungsuniversität für die Studierenden, war für ihn innerhalb der alten Hochschulen bzw. als von mehreren Hochschulen gemeinsam getragene Einrichtung denkbar, worin eine Parallele zur Konstruktionsidee von Raisers ursprünglicher Idee einer Graduiertenhochschule bestand. Schelskys Artikel provozierte vielfältige Reaktionen, insbesondere in den mit den Neugründungen befassten Wissenschaftsorganisationen. Ludwig Raiser, der im Herbst 1961 zeitgleich versuchte, im Neugründungsausschuss des Wis 22 Helmut Schelsky, Wie gründet man Universitäten? in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1961.
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senschaftsrates zu Ergebnissen zu kommen und für diese auch noch die Zustimmung der Politikseite in der Verwaltungskommission zu gewinnen hatte, schrieb in der FAZ eine durchaus säuerliche Replik.23 Mit den Vorarbeiten zu den ersten Neugründungen hatte für den Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, nachdem seit 1945 so viel über mögliche Reformen diskutiert worden war, ein neuer Abschnitt der deutschen Universitätsgeschichte angefangen. Für Raiser war klar, dass Neugründungen »ein Staatsakt von eminent politischer Bedeutung« seien und diese wohl kaum Professoren allein überlassen werden könnten, wie Schelsky seinem Lektüreeindruck nach forderte. Die Reformideen für Bremen und Bochum degradierten die Gründungsausschüsse in seinen Augen keineswegs zu Erfüllungsgehilfen. Vielmehr müssten, so der in vielerlei Funktionen zwischen den Sphären von Politik und Wissenschaft viel stärker als Schelsky verhandlungserprobte Hochschullehrer, politische und wissenschaftliche Ziele eben miteinander verschmolzen werden. Raiser verteidigte die bisherigen Ideen für Bremen und Bochum im Grundsatz, auch wenn er noch weitergehende Reformen für wünschenswert hielt. Zwischen den Zeilen konnte man herauslesen, dass im Unterausschuss der Neugründungskommission des Wissenschaftsrates schon neue und weitergehende Ziele erdacht worden waren, auf die Raiser noch nicht offen Bezug nehmen wollte. Einen Hinweis gab er aber: »Vielmehr muss eine institutionelle Reform sich damit bescheiden, traditionelle Fach- und Fakultätsschranken zu lockern und Anlässe und Möglichkeiten zu wissenschaftlicher Kooperation zu verstärken.« Gegenüber diesem Anspruch, den man für Konstanz ins Auge fasste, seien die Bremer und Bochumer Pläne tatsächlich »keineswegs revolutionär«. Raiser verteidigte erneut die Auffassung, dass mit den Neugründungen Spielraum für Reformen bestünde, und wollte sich diese Idee weder ausreden noch die Politik von Schelsky umstimmen lassen. Schelsky antwortete in der FAZ auf Raiser, um klarzustellen, dass er die Neugründungen mit seiner Kritik nicht habe dämpfen wollen.24 Er fühlte sich zu Unrecht in die Ecke der hochschulpolitisch reaktionären Kritiker gedrängt und bestand auf seinem Punkt, dass die inhaltliche Vorarbeit für neue Institutionen stärker noch von Professoren geleistet werden müsse und das nicht nur – so konnte man zwischen den Zeilen lesen – in Arbeitsgruppen des Wissenschaftsrates, deren Mitglieder später nicht persönlich für die Umsetzung eintreten würden: »Gelehrte, die ihre geistige und persönliche Existenz voll mit einer Neugründung verbunden haben, werden energischer und arbeitsamer auf den Aufbau einer neuen Hochschule, auf die Fertigstellung der notwendigen Pläne, auf das Fällen notwendiger Entscheidungen drängen, als das beratende Gremien ihrer Natur nach können.« 23 Ludwig Raiser, Mut zur Gründung neuer Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1961. Die folgenden Zitate ebd. 24 Helmut Schelsky, Mut zur Gründung neuer Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.1961.
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Dieses Insistieren konnte man auch als Bewerbungsrede Schelskys für einen möglichen weiteren Gründungsausschuss lesen. Aber nicht nur der Vorsitzende des Wissenschaftsrates hatte Schelskys Artikel sorgfältig gelesen. Eine Hierarchie ebene tiefer stand auch der Generalsekretär der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Kurt Zierold (1899–1989), der Ende der 1920er Jahre Mitarbeiter Carl Heinrich Beckers im Preußischen Kultusministerium gewesen war und als solcher einige Hochschulreformversuche der Zwischenkriegszeit miterlebt hatte, mit Schelsky in einen brieflichen Austausch über dessen hochschulreformerische Äußerungen. Schelsky legte bei seiner Kritik an den Bremer Plänen im Briefwechsel mit Zierold noch nach. Nicht nur lasse Rothes Gutachten zu wenig Raum für die zu berufenden und konzeptionell einzubindenden Professoren, »dazu kommt, dass ich die von Rothe konzipierte Idee der ›Bildungsuniversität‹ in der Tat für antiquiert halte. […] Was mich also an Rothe oder besser seiner Denkschrift irritiert […] ist die Furcht, dass er gar nicht merkt, dass der Typus der jüngeren Gelehrten, mit denen er ja seine Hochschule aufbauen will und muss, auf diese Konzeption gar nicht ansprechen werden […]. Rothe müsste nach seiner Konzeption lauter 60jährige berufen.«25
Damit unterstrich Schelsky gegenüber Zierold deutlicher noch als im FAZArtikel seine Ablehnung neuartiger oder wiederbelebter akademischer Gemein schaften in Kollegienhäusern oder Studentendörfern und verband diese Ziele mit einer Gruppe von gealterten Universitätsreformern, die pädagogischen und philosophischen Zugängen zum Thema Hochschulreform verpflichtet waren. Eine Zwischenbilanz der Schelsky’schen Äußerungen zur Hochschulpolitik von 1957 bis 1962 zeigt mindestens drei Tendenzen auf: Der Soziologe argumentierte in der Debatte um Hochschulreformen und Neugründungen von Humboldt her, sogar noch weit ausgreifender, als es viele seiner Vorgänger und Zeitgenossen im Hochschulreformdiskurs getan hatten und immer noch taten. Daneben fällt das Desinteresse an den Ideen der Nachkriegsjahre von einer »außerwissenschaftlichen Erziehung« an den Hochschulen auf. Und schließlich ist die Verbindung der Neugründungschance mit einer speziellen Einrichtung neben oder jenseits der Universität zu nennen. Sowohl die historische Analyse von Humboldts Gründungsaktivitäten als auch die Idee einer speziellen neuen Forschungsinstitution für Professoren verfolgte Schelsky dann nach 1961 intensiv weiter, bevor er selbst erst 1965 einen konkreten Planungsauftrag für die Neugründung in Bielefeld erhielt. Aus der Antrittsvorlesung über den sozialen Vorstellungsgehalt der Humboldt’schen Universitätsidee von 1960 wurde bis zum Frühjahr 1963 ein rund 350 Seiten starkes Buch mit dem Titel »Einsam-
25 Kurt Zierold an Helmut Schelsky am 18.10.1961 und Helmut Schelsky an Kurt Zierold am 25.10.1961, in: UABI, Nachlass Schelsky (NL Schelsky): 6,1.
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keit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen«, das in der populären Rowohlt Enzyklopädie erschien. Aus der Idee einer dvanced neuartigen Institution wurde bis 1964 der Antrag eines Centers for A Studies bei der neuen Stiftung Volkswagenwerk. Beide Aktivitäten bildeten zusammen die Grundlage für die Konzeptarbeit, die Schelsky 1965 dann als Grundlage der Bielefelder Gründungsausschussarbeit leistete.
4.2.2 Schelskys erster Vorschlag: »Die Theoretische Universität« im differenzierten Hochschulsystem Nachdem Schelsky sich über einige Jahre mit der Hochschulpolitik und ihrer Vorgeschichte eher am Rande seiner sonstigen Forschungen beschäftigt hatte, intensivierte er seine Arbeiten auf diesem Feld, als die Universitätsgründerzeiten in den Jahren 1961 und 1962 richtig an Fahrt aufnahmen. Parallel sammelte er auch weitere praktische Erfahrungen, nämlich als Leiter der Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster ab 1960 – dem damals größten anwendungsnahen soziologischen Forschungsinstitut in der Bundesrepublik – und als Mitglied im Senat der DFG ab 1962. Vermutlich direkt im Anschluss an seine Streitschrift zur Schulpolitik »Anpassung oder Widerstand?« von 1961, die eine Kritik am Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen war – einem dem Wissenschaftsrat übrigens durchaus ähnlichen Gremiums –, verfasste Schelsky ein umfangreiches Buch zur Hochschulreform, das im April 1963 erschien, und auf seiner Münsteraner Antrittsvorlesung vom Juni 1960 aufbaute. Dieses Buch Schelskys ist das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten wahrscheinlich am meisten zitierte Werk über Hochschulreform in Deutschland, wohl nicht nur, weil es viele pointierte Beschreibungen und Urteile enthält, sondern auch, weil keine anderen überblicksartigen Arbeiten zu diesem Feld verfügbar waren.26 Übersehen worden ist von manchen Rezipienten allerdings, wie Sylvia Paletschek festgestellt hat, dass Schelskys Aussagen keineswegs frei von Eigeninteressen waren. »Einsamkeit und Freiheit« gliederte Schelsky in zwei etwa gleich große Teile, zur Berliner Universitätsgründung von 1809/10 und zur Hochschulreform zwischen 1945 und 1960. Schelsky legitimierte seine das Buch dann abschließenden Forderungen und Vorschläge also wie schon 1960 und 1961 aus einer historischen Auseinandersetzung mit der Materie und unterschied sich darin von seinen Fachkollegen wie Dahrendorf, Habermas, Anger oder Baumgarten, die ihre persönlichen Erfahrungen aus internationalen Austauschen oder aber Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen zum Ausgangspunkt ihrer Forderungen machten. Empirische Erkenntnisse machte sich Schelsky hingegen in 26 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Eine Wirkungsgeschichte dazu liegt bislang nicht vor.
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diesem Buch nicht zunutze. Für sein Buch verarbeitete er die wichtigsten zeit genössischen Titel zur Hochschulreform, darunter auch einige international vergleichende Texte etwa des Philosophieprofessors und langjährigen Vorsitzenden des englischen University Grants Committee, Walter Moberly, zur britischen Situation oder des Begründers des Institute for Advanced Studies in Princeton, Abraham Flexner, zur amerikanischen Hochschulpolitik.27 Schelsky hatte den Korpus der Hochschulreformliteratur also intensiv aufgearbeitet und zitierte auf seiner Tour d’Horizon extensiv aus diesen Quellen. Insbesondere die Texte des Orientalisten und preußischen Kultuspolitikers Carl Heinrich Becker (1876–1933) und des Philosophen und Soziologen Max Scheler (1874–1928) aus den 1920er Jahren hatten sein Interesse geweckt und Schelsky bemühte sich, die Kontinuitäten zu dieser Reformzeit herauszuarbeiten, die er in ihrer Bedeutung, aber auch in ihrem Erfolgsgrad am ehesten mit den Jahren 1809/10 der Berliner Universitätsgründung wie auch den Herausforderungen seiner Gegenwart zu vergleichen gewillt war und an die nach 1945 kaum offen erinnert worden war. Nach 1945, so Schelskys Analyse, die von vielen Akteuren des Reformdiskurses der Nachkriegsjahre als Spitze verstanden werden musste, seien die Reformvorschläge anders als zu Beckers Zeit stärker aus den Hochschulen heraus formuliert worden mit einer »mitschwingenden Zurückweisung der kulturpolitischen Hoheitsgewalt des Staates«, die zwangsläufig dazu geführt habe, dass »diese Reformbemühungen offensichtlich in Beschlüssen, Denkschriften und Diskussionen steckenbleiben und damit sehr bald in die unendliche Wiederholbarkeit bloß ›ideeller‹ Reformvorschläge abgleiten«.28 Den Erfolg der Hochschulreformpolitik Humboldts und Beckers sah Schelsky darin, dass hier Wissenschaftler zu Politikern wurden, denn, so resümierte Schelsky: »Die Universität zieht sich nicht am eigenen Zopf aus dem Sumpf.«29 Vor allem der Soziologe Scheler war Schelskys Gewährsmann, was die Analyse unterschiedlicher, in Spannung stehender Funktionen der Universität betraf. Dieser hatte in seiner 1921 publizierten Studie »Universität und Volkshochschule« drei Grundspannungen diagnostiziert zwischen Ausbildungs- und Forschungs-, zwischen Ausbildungs- und Personenbildungs- sowie zwischen Forschungs- und Personenbildungsaufgaben der Universität.30 Schelsky stimmte zwar nicht mit allen Schlussfolgerungen Schelers für neue Institutionentypen, wohl aber mit der grundsätzlichen Analyse überein. Das Problem bestand auch für Schelsky darin, dass das Leitbild der deutschen Universität mit der Einheit von Forschung und Lehre, der Einheit aller Wissenschaften und der Freiheit auch 27 Moberly, The Crisis in the University; Flexner, Die Universitäten in Amerika, England, Deutschland. 28 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 161. 29 Ebd., S. 179. 30 Scheler, Universität und Volkshochschule. Der Text war auch enthalten in der 1960 erschienenen zweiten durchgesehenen Auflage von: Scheler, Die Wissensformen, S. 383 ff.
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von Praxisbezügen sich gegen die tatsächlich erfolgte Funktionsdifferenzierung der Universität richte: »Die ›Krise‹ liegt also in dem Widerspruch zwischen dem lebensganzheitlichen normativen Leitbild der Universität und dem modernen funktional differenzierten Auftrag oder der komplexen Funktionsgestalt der Universität.«31
Ausgehend von dieser von Scheler hergeleiteten Aufteilung der Universitätsfunktionen auf verschiedene Institutionstypen skizzierte Schelsky im letzten Kapitel des Buches seine eigene Lösungsidee.32 Unter der Überschrift »Dauerreform zu einem differenzierten Hochschulsystem« schlussfolgerte er für die zeitgenössische Situation: »Die Anlässe zu Reformforderungen haben sich vervielfacht, es gibt kein einheitliches oder auch nur hervorragendes Ziel einer totalen Hochschulreform, sondern schon die großen Komplexe einer Reform des wissenschaftlichen Fachbildungswesens, der Intensivierung der Forschung und der Wiederherstellung der Bildungswirkung der Wissenschaft verlangen zum Teil gegensätzliche Maßnahmen. Jeder Versuch, die vielfältigen Aufgaben und Funktionen der wissenschaftlichen Anstalten in einer modernen Zivilisation durch ein alle Aufgaben optimal zusammenfassendes Institut, die Universität schlechthin, und in einer auf sie bezogenen umfassenden und einmaligen Grundlagenreform erfüllen zu wollen, führt nur zu restaurativer Illusion und praktisch zur Aufrechterhaltung des Vorhandenen und seiner planlos weiterwuchernden Anpassung an unmittelbare Notstände.«33
Das Ziel konnte nach Schelsky also kein planmäßiges Einheitsgebilde einer »neuen Universität« mehr sein, nach dem Motto »one size fits all«, sondern nur noch ein differenziertes Hochschulgefüge, das in seiner Unterschiedlichkeit besser geeignet wäre, die verschiedensten Funktionen in den Hochschulen zu erfüllen. Die konkretesten Zeilen dieses Buchs »Einsamkeit und Freiheit«, die Schelsky bald für seinen Bielefelder Planungsauftrag verwenden können sollte, fanden sich auf den an die Differenzierungsthese anschließenden letzten Seiten des Buches. Unter der Überschrift »Die theoretische Universität« entwarf er als einen Baustein des ihm vorschwebenden differenzierten Hochschulsystems eine Universität neuen Typs, die sich »unter Verzicht auf unmittelbare Fachausbildungsaufgaben und auf eine spezialisierte aufwendige Forschungsorganisation der theoretischen Seite der modernen Wissenschaft gesondert zuwendet und dadurch die Möglichkeit hat, einige Ziele der Wissenschafts- und Hochschulreform folgerichtiger zu erfüllen, als es bei anderen Hochschulen […] möglich sein wird.«34 31 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 267. 32 Siehe ebd., insb. S. 234–243. 33 Dieses und die folgenden Zitate ebd., S. 307–309. 34 Ebd., S. 312.
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Warum er genau diesen Typ entwarf und sich nicht etwa besonderen Hochschultypen für die Fachausbildung zuwandte, erläuterte Schelsky allerdings nicht, formulierte aber fünf wesentliche Grundsätze dieser auf Theoriebildung fokussierten und daher von ihm so genannten »theoretischen Universität«. Zu diesen Grundsätzen zählte Schelsky die Befreiung von konkreten Berufsausbildungsaufgaben, den Verzicht auf Forschungsinstitute mit großen Apparaten und spezialisierender, arbeitsteiliger, hierarchischer Forschungsweise, die Konzentration auf die Theorie der verschiedenen Wissenschaften, die Betonung der Zusammenarbeit der Fächer und schließlich die Herstellung eines intensiven Studienkontakts von Professoren und Studenten unter Ausschluss »pädagogischer Veranstaltungen«.35 Nur der letzte der fünf Grundsätze bezog sich auf die Studierenden an dieser neuartigen Universität. Bildung durch Wissenschaft, wie es Humboldt in Berlin vorgeschwebt habe, schien Schelsky im Rahmen der »theoretischen Universität« mit fortgeschrittenen Studierenden durchaus möglich. Auf »Mittelspersonen« wie die neuen akademische Räte und Tutoren konnte nach seiner Meinung aber verzichtet werden. Er war sich sicher, dass »die Vorzüge eines um einen Professor geschahrten kleinen Institutskreises« darin lägen, dass hier »hohe soziale und gesellige Bildungs- und BindungsChancen für den Studenten liegen«. Diese Ziele der »theoretischen Universität« waren zwei anderen zeitgenössischen Konzepten sehr ähnlich, nämlich Sprangers 1961 im Gutachten für Konstanz empfohlener geisteswissenschaftlicher Sabbat-Universität, an der ebenfalls eine Begegnung der Studierenden mit ihrem »Meister« im kleinsten Kreise möglich sein sollte, sowie den 1960 noch vagen und 1962 dann konkretisierten Vorschlägen des Wissenschaftsrates für eine besondere, neuartige Hochschule, auf die Schelsky auch direkt Bezug nahm. An letzterer bemängelte dann auch er noch – wie bereits so viele vor ihm –, dass ein Forschungsschwerpunkt westliches Mittelmeer wenig sinnvoll sei, weil er ja »seit Jahrhunderten an allen Universitäten Westeuropas gepflegt wird«.36 Schelsky hatte keine Sorge, dass eine von ihm vorgeschlagene »theoretische Universität« eine unzulässige Degradierung der übrigen Universitäten bewirken würde. Einerseits seien Konkurrenz und Differenzierung wünschenswert, andererseits würde sein Konzept ohnehin nur einen bestimmten Teil der Professoren und Studierenden ansprechen. Das bedeutete seiner Einschätzung nach aber auch, dass keine allzu großen Rückwirkungen der neuartigen Universität auf die alten erwartet werden sollten. Damit hatte Schelsky auf den letzten fünf Seiten seiner ausführlichen Befassung mit der Geschichte der Universitätsreformen von 1809 bis 1960 eine noch sehr grobe Skizze für eine besondere universitäre Neugründung entworfen, die 35 Das sind die wesentlichen Bestandteile seiner Konzeptskizze für die Universitätsneugründung, die er im Februar 1965 aufschrieb. 36 Die Zitate in diesem Absatz ebd., S. 316.
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aus dem Modell der Berliner Universität legitimiert wurde. Modellcharakter für die übrigen Universitäten wurde ihr von Schelsky aber im Zeitalter der Massenakademisierung nicht zugesprochen, vielmehr sollte die neuartige Universität ganz klar ein »Nischenprodukt« in einem ausdifferenzierten Hochschulsystem sein. In dieser Hinsicht positionierte er sich klarer als die Konstanzer Gründer, die letztlich unentschieden zwischen Modell und Sonderfall/Reservat pendelten.
4.2.3 Schelskys zweiter Vorschlag: Gründung von Centers for Advanced Studies Wenige Monate, nachdem Schelskys Buch über die Geschichte der deutschen Universitätsreformen mit der Skizze einer »theoretischen Universität« erschienen und eine Kurzfassung desselben im Preisausschreiben von »Christ und Welt« mit einem zweiten Platz prämiert worden war, ergab sich für Schelsky die Möglichkeit, an den Vorüberlegungen für eine weitere neuartige Institution im Wissenschaftssystem der Bundesrepublik mitzuwirken. War die »theoretische Universität« aus dem Schlusskapitel seines Buchs eine noch vage Idee, deren Adressaten und Umsetzungsmöglichkeiten wie bei den meisten der zeitgenössischen Denkschriften offen waren, handelte es sich bei dem sich für ihn nun anschließenden Projekt um ein vergleichsweise konkretes. Mit der Idee der »theoretischen Universität« hatte sein jetzt folgendes Engagement das Ziel gemeinsam, Freiräume für die Forschung zu schaffen. Diese Freiräume sollten allerdings weitergehender Art sein als in Schelskys »theoretischer Universität«, nämlich nur noch Professoren und Habilitanden zugutekommen, wohingegen die verbesserte Betreuung Studierender und ein wechselseitiger Austausch zwischen Lernenden und Forschenden nicht mehr vorgesehen war. Schelskys Mitwirkung an diesen ab 1963 verfolgten Vorarbeiten für ein Geistes- und Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum stellt einen zentralen Baustein für das spätere Konzept der Neugründung in Ostwestfalen dar. In den früheren Beiträgen zur Bielefelder Gründungsgeschichte, die sich auf Schelskys Reden, Diskussionsbeiträge und Zeitungsartikel ab 1960 und insbesondere sein Buch von 1963 stützen, ist er offenbar übersehen worden, vielleicht auch, weil Schelsky in seinen veröffentlichten Texten zur Bielefelder Neugründung auf diese Vorgeschichte kaum mehr Bezug genommen hat.37 Deshalb werden Gegenstand und Entstehung des Antrags hier auch ausführlicher untersucht als Schelskys bekanntes Buch »Einsamkeit und Freiheit«.38 37 Eine kurze Erwähnung des Antrages und einiger Grundsätze finden sich lediglich in Bocks Aufsatz: Bock, Helmut Schelsky, S. 171. 38 Dazu auch Söllner, Mehr Universität wagen, sowie ders., Mehr Universität wagen! Helmut Schelsky und die Hochschulpolitik der 1960er Jahre.
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Am Anfang der Überlegungen eines neuartigen Forschungszentrums außerhalb der Universitäten, das aber für Professoren gedacht war, standen ein bereits bekannter Akteur sowie ein gänzlich neuer. Bei dem bereits bekannten Akteur handelte es sich um den Germanisten Walther Killy, der sich sowohl in der Diskussion der frühen 1950er Jahre um die Neuinterpretation der universitären Aufgaben in Bildung und Erziehung und dazu dienende neuartige Gemeinschaftshäuser als auch konkret am Aufbau des Studentendorfs der Freien Universität Berlin stark engagiert hatte.39 Bei dem neuen Akteur handelte es sich um die Stiftung Volkswagenwerk, die nach langwierigen, fast ein Jahrzehnt dauernden Diskussionen über Rechtsform und Auftrag schließlich Gestalt angenommen hatte und 1962 ihre Fördertätigkeit aufnahm.40 Grundlage dieser neuen Wissenschaftsstiftung waren die Privatisierungserlöse des Volkswagenwerkes in Wolfsburg gewesen, die der Stiftung ein Startkapital von rund einer Mil liarde DM bescherten. Die resultierenden Anlageerträge, die bis heute zu einem Teil ausschließlich wissenschaftlichen Einrichtungen im Land Niedersachsen zugutekommen, versprachen noch erheblich umfangreichere Fördermöglichkeiten, als die der bereits 1959 geschaffenen Thyssen-Stiftung, die als bis dahin größte wissenschaftliche Stiftung der Nachkriegsjahre in der Bundesrepublik mit ebenfalls beachtlichen 100 Millionen DM Stiftungsvermögen gestartet war. Bevor die Fördertätigkeit der Stiftung Volkswagenwerk systematisiert werden konnte, wurden in den ersten Jahren unterschiedlichste Dinge beantragt und gefördert, und offenbar sprach die Stiftung damals auf der Suche nach förderungswürdigen Themen selbst auch verschiedene Wissenschaftler an.41 So entwarf Walther Killy, der in den 1950ern die Gemeinschaftshausaktivitäten in Tübingen parallel zu seiner Habilitation und in Berlin die zum Studentendorf Schlachtensee neben der ersten Professur betrieben und dabei offenbar ein Interesse für institutionelle Neugründungen unterschiedlicher Art entwickelt hatte, 1963 den Vorschlag eines »Seminars für höhere historische und philosophische Studien«.42 Dieser Vorschlag des 46jährigen Literaturwissenschaftlers, der erst zwei Jahre zuvor nach Göttingen berufen worden war, wurde zunächst zwischen den beiden deutlich älteren Professoren für Literaturwissenschaften 39 Siehe zum Studentendorf Zünder, Eichkamp sowie ders., Studentendorf Schlachtensee. 40 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte: Nicolaysen, Der lange Weg. 41 Einen Eindruck von den geförderten, aber auch einigen abgelehnten Projekten geben die seit 1962 erscheinenden Jahresberichte. Die Jahresberichte der Jahre 1963 und 1964 enthalten keinerlei Hinweise auf die Tagung im Oktober 1963 oder den Antrag von 1964. Stiftung Volkswagenwerk, Jahresbericht. 42 So die Darstellung des langjährigen Mitarbeiters der Stiftung, Otto Häfner, in einem knappen Vermerk für die Stiftung, der erst Anfang 2009 auf eine externe Anfrage hin erstellt und mir von der Stiftung zusammen mit weiteren Unterlagen zum Antrag der Geisteswissenschaftlichen Zentren von 1964 durch ihren Generalsekretär, Wilhelm Krull, freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde: Otto Häfner, Stiftung Volkswagenwerk/Projekt »Geisteswissenschaftliches Zentrum«, 6.2.2009.
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und Soziologie, Richard Alewyn (1902–1979) aus Bonn und Helmuth Plessner (1892–1985) ebenfalls aus Göttingen, sowie der Geschäftsstelle der Stiftung Volkswagenwerk in Hannover diskutiert. Dabei standen Alewyn und Plessner beide altersbedingt nicht mehr im Verdacht, eine Institution für ihre eigene ungestörte akademische Arbeit zu entwerfen, da ersterer bald emeritiert wurde und letzterer es seit dem Vorjahr bereits war. Bei beiden handelte es sich zudem um Remigranten in das westdeutsche Wissenschaftssystem, die folglich eine Außenperspektive auf dessen institutionelle Probleme einbringen konnten – Alewyn aus den USA und Plessner vor allem aus den Niederlanden.43 In Göttingen übrigens war 1956 das Max-Planck-Institut für Geschichte gegründet worden, dessen Direktor Hermann Heimpel wurde, der sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre noch intensiv in die Hochschulreformdiskussion eingebracht hatte. Nicht ausgeschlossen, dass auch dieses außeruniversitäre geisteswissenschaftliche Forschungsinstitut in Nähe zur Göttinger Universität Anlass für Killys Überlegungen bot. Nach ersten Vorgesprächen in diesem kleinen Kreis trafen sich im Oktober 1963 in Bad Harzburg auf Einladung der Stiftung Volkswagenwerk weitere Wissenschaftler verschiedener Fächer, um sich über die Lage der Forschung in den Geisteswissenschaften auszutauschen.44 Die Diskutanden, die den späteren Antrag tatsächlich mitzeichneten, gehörten den vier Fachbereichen Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philologien und Soziologie an.45 Als auch öffentlich durch Debattenbeiträge und Publikationen unterschiedlicher Art hochschulreformaktiv kann man wohl vor allem die drei Antragsteller Clemen, Killy und Schelsky bezeichnen. Plessner (Jahrgang 1892) war mit Abstand der Älteste, die jüngsten Antragsteller waren bis Mitte der 1920er Jahre geboren, also um die 40; der Großteil dagegen entstammte den Jahrgängen 1900 bis 1920, hatte also die Entwicklung der Nachkriegsjahre mit Wiederaufbau und schnellem Anstieg der Studierendenzahlen vollständig miterlebt und in dieser Zeit Karriere gemacht. Die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung war nach ihrer Schilderung in dieser Zeit in eine Notlage geraten. Als Fazit der Bad Harzburger Besprechung wurde konstatiert, dass Forschungsarbeit und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses inzwischen 43 Killys erste USA-Erfahrung hingegen bestand aus seiner Kriegsgefangenschaft in Camp Trinidad in Colorado. 44 Die kurze Tagungsbeschreibung ist enthalten in: o.V.: Kolleg für geisteswissenschaftliche Studien, Entwurf vom Februar 1964, in: UABI NL Schelsky, #87. 45 Sie erweiterten die ursprüngliche Dreiergruppe Killy, Alewyn und Plessner um Professoren aus Göttingen (Wolf-Hartmut Friedrich, Franz Wieacker und Reinhard Wittram), aus München (Wolfgang Clemen, Peter Lerche und Hans Möller), aus Münster (Ernst Joachim Mestmäcker und Helmut Schelsky) sowie mit einzelnen Professoren aus den Universitätsstädten Berlin (Reinhard Elze), Freiburg (Hugo Friedrich), Heidelberg (Uvo Hölscher) und Mannheim (Hans Albert).
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zu kurz kämen, obwohl in den letzten Jahren für den quantitativen Ausbau der Hochschulen und für die Lösung der durch die Zunahme der Studierendenzahlen entstandenen Schwierigkeiten dank der Initiative des Wissenschaftsrates und der Deutschen Forschungsgemeinschaft bereits viel geschehen sei. Auf der Suche nach Lösungen wollten sich die Teilnehmer sowohl außerhalb der Geisteswissenschaften als auch außerhalb des eigenen Landes orientieren: »Die Naturwissenschaften haben schon zu Beginn des Jahrhunderts diesen Gefahren durch die Errichtung von Forschungsinstituten neben den Hochschulen zu begegnen versucht. Verschiedene große Kulturländer haben sich in den letzten Jahrzehnten zentrale Forschungsinstitute in den Geisteswissenschaften geschaffen. In Deutschland gibt es für diese Fachbereiche bis heute keine Einrichtungen, welche den Gesichtspunkt der Qualität wissenschaftlicher Arbeit und der diese ermöglichenden Bedingungen von Ruhe, Reifung, Fortbildung und Wettstreit allem übrigen überordnen.«46
Zur Begründung ersehnter Forschungsfreiräume schaute man also vor allem auf die Naturwissenschaften, in deren Feld seit der Wende zum 20. Jahrhundert tatsächlich ein stets weiter wachsender Bereich außeruniversitärer Forschung entstanden war. Zu diesem waren nach der Max-Planck-Gesellschaft (ab 1911, zuerst Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft) seit den 1950er Jahren die anwendungsorientierte Forschung in Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft sowie schließlich auch noch neuartige, staatlich finanzierte Großforschung mit großen Forschungsanlagen wie in der Atomforschung hinzugekommen. In Anbetracht der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschungsfreiräume außerhalb der Universitäten blickte man offenbar auf die USA, Großbritannien, Frankreich und Österreich, wo auch für Wissenschaftler aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gewisse institutionell gesicherte Forschungsfreiräume außerhalb der Universitäten geschaffen worden waren. Die Idee einer neuartigen außeruniversitären Einrichtung für die Geisteswissenschaften wurde von den in Bad Harzburg versammelten Wissenschaftler vor der Antragstellung an die Stiftung Volkswagenwerk zunächst weiter diskutiert. Man traf sich bis zum Frühjahr 1964 zwei weitere Male, wofür Textentwürfe verfasst und ausgetauscht wurden. In dieser Zeit stieß auch Schelsky zu der Runde hinzu. Ob er wegen seines Vorschlags einer »theoretischen Universität« aus dem Vorjahr angesprochen worden war oder der Kontakt über einen der in Bad Harzburg bereits Beteiligten zustande gekommen war – gar über den Fachkollegen Plessner, zu dem aber eine wohl eher gespannte Beziehung bestand –, lässt sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht rekonstruieren.47 Die Motive der einzelnen 46 O. V. (vermutlich Walther Killy), Kolleg für geisteswissenschaftliche Studien, Entwurf vom Februar 1964, in: UABI NL Schelsky, #87. 47 Zum Verhältnis Plessner-Schelsky vgl. die Biographie Plessners: Dietze, Nachgeholtes Leben, insbes. S. 471 ff.
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Wissenschaftler waren in jedem Fall, wie sich alsbald auch zeigen sollte, durchaus unterschiedlich. Bereits die Kerngruppe Killy-Alewyn-Plessner vereinte mit den Philologien und der Soziologie ganz unterschiedliche Fächer, von denen die einen unter dem neuen Studierendenandrang besonders ächzten (Philologien) und das andere in der Bundesrepublik noch kaum ausgebaut war (Soziologie).
Schelskys Entwurf von Instituten für höhere Studien Unter der Bezeichnung »Institute für höhere Studien (Centers for Advanced Studies)« legte Schelsky Anfang Januar 1964 seinen ersten eigenen Beitrag zu den Antragsüberlegungen bei der Stiftung Volkswagenwerk vor.48 Er nahm die in seinem Buch vom Vorjahr ausführlich beschriebene, auf Scheler zurückgehende funktionale Aufgliederung des Wissenschaftssystems zum Ausgang, die nach seiner Interpretation zwangsläufig zu verschiedenen institutionellen Verselbständigungen führen müsse, weil die zentrale Ausbildungsaufgabe der Universitäten und Technischen Hochschulen die Funktionen Forschung und Personenbildung an den Rand dränge. Was im bundesdeutschen Wissenschaftssystem seines Erachtens überdies zu kurz kam, war »die Re-Integration der sich spezialisierenden Wissenschaften zu einer Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen«, aber nicht im Sinn der philosophischen Universal synthese – wie sie manchen Akteuren der Bochumer Universitätsneugründung offenbar vorschwebte –, sondern zur Entwicklung fachgrenzenübergreifender integrativer theoretischer Konzeptionen. Weder in den Universitäten noch in speziellen Forschungsinstituten könne diese Aufgabe wahrgenommen werden, weil sie entweder unter dem Lehrfokus und den Eigeninteressen der Professoren oder unter dem Druck zur Spezialisierung leiden würde: »Die Aufgabe der Zusammenarbeit der Fächer wird in unserem Wissenschaftssystem heute praktisch überhaupt nicht oder nur im dilettantischen Nebenbei angefasst. Dies wird auf die Dauer den Fortschritt unseres wissenschaftlichen Systems entscheidend hemmen.«
Als ausländische Vorbilder für die ihm vorschwebende Institution führte Schelsky das Institute for Advanced Study in Princeton und das Center for Advanced Study in Palo Alto an der Ost- bzw. Westküste der USA, das Institut für Höhere Studien in Wien sowie das Centre d’Etudes Sociologiques des Centre National des Recherches Scientifiques in Paris an, wobei ihm das Institut in Princeton für die Situation in der Bundesrepublik am besten geeignet schien. Aufgabe eines vergleichbaren neuen Instituts sei es, die führenden Vertreter der Wissenschaft zur »Integration und Zusammenarbeit der Fächer der ›reinen Wissenschaft‹, d. h. auf der theoretischen Ebene« zusammenzubringen. Drei bis vier solcher Institute – 48 Helmut Schelsky, Zweck und Struktur der »Institute für höhere Studien« (Centers for Advanced Study), 1.1.1964, in: UABI NL Schelsky, #87.
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kultur- und universalgeschichtlich, sozialwissenschaftlich, mathematisch-natur wissenschaftlich sowie biologisch-naturwissenschaftlich – stellte Schelsky sich vor, für die jeweils mehrjährige Schwerpunktthemen bestimmt werden sollten, die zur Entwicklung und Überprüfung neuer oder unterentwickelter Forschungsgebiete in ihrem theoretischen Zusammenhang führen würden. Was er hingegen an diesen neuen Instituten vermeiden wollte, waren aufwändige empirische Forschungen. Die Stiftung Volkswagenwerk als neuen Goldesel der Wissenschaftsförde rung hielt Schelsky »in einer Periode, in der die staatlichen Mittel für die umfassende Ausdehnung des traditionellen Hochschulsystems gebunden sind« für den geeigneten Impulsgeber, wobei wegen der öffentlichen Finanzierung des deutschen Wissenschaftssystems und der Beamteneigenschaft der Professoren seines Erachtens langfristig aber an einer Trägerschaft durch Bund oder Länder kein Weg vorbeiführe. Lediglich eine Anschubfinanzierung sollte die Stiftung nach seinem Dafürhalten leisten, die aber durchaus beachtliche Größenordnungen erreichen würde. Mit Blick auf organisatorische Fragen hielt Schelsky fest, dass das Personaltableau der Institute permanente ordentliche Mitglieder »aus der ersten Garnitur von Gelehrten aller Disziplinen« und dazu zeitweilige außerordentliche Mitglieder sowie zeitweilige Assistenten und weiteres wissenschaftliches Personal beinhalten sollte. Die räumliche Nähe zu einer Hochschule sei lediglich für den Zugang zu einer guten Bibliothek und zur Rekrutierung geeigneter Assistenten wichtig. Konkrete Gegenleistungen der Institute für diese Universität sah Schelsky hingegen nicht vor, vermutlich weil in seinen Augen mit den Theorieentwicklungen am Institut der Wissenschaft als ganzer langfristig ja gedient sein würde und zudem einzelnen Mitgliedern der Universitäten Gastaufenthalte möglich würden. Sein achtseitiges Konzept schloss Schelsky mit der Bemerkung, dass es ihm letztlich daraum gehe, eine »in ihren Formen der Zeit und Wissenschaftsentwicklung angemessene Wissenschaftliche Akademie neu zu gründen.« Erneut wurde Max Scheler von ihm als Inspirationsquelle angeführt. Insgesamt schien es daher fast so, als hätte Schelsky aus seiner Idee der theoretischen Universität einfach nur die Studenten entfernt, um zu seinem ersten Entwurf eines Instituts für Höhere Studien zu gelangen. Kurz darauf lag Schelsky ein wesentlich umfangreicherer Entwurf zum gleichen Thema vor.49 Es dürfte Killy gewesen sein, der die namentlich nicht gekennzeichnete Skizze eines »Seminars für höhere historische und philosophische Studien« – vermutlich in Rücksprache mit seinen frühen Mitstreitern – weiter ausgearbeitet hatte. Der Akzent seines Entwurfs mit dem neuen Arbeitstitel »Kolleg für geisteswissenschaftliche Studien« lag auf Forschungsfreiräumen für einzelne Professoren aus den Geisteswissenschaften an einer einzigen Einrich 49 O. V., Kolleg für geisteswissenschaftliche Studien, Entwurf vom Februar 1964, in: UABI: NL Schelsky, #87.
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tung und strebte im Unterschied zu Schelskys erstem Entwurf nicht mehrere Institute für geistes-, sozial und naturwissenschaftliche Theoriearbeit an. Zentrale Aufgabe des Kollegs sollte die Unterstützung einzelner herausragender Wissenschaftler bei ihrer Forschungsarbeit sein, solange es nur wenige Angebote nach Art DFG-finanzierter Forschungsfreijahre und keinerlei »reine Forschungsprofessuren auf unbegrenzte Zeit« gebe. Anders als Schelsky ging Killy davon aus, dass in einer solchen Neugründung die individuellen Forschungsvorhaben im Mittelpunkt stehen sollten und die Kommunikation über Fachgrenzen hinweg – etwa bei gemeinsamen Mahlzeiten oder Vorträgen – nur »von Fall zu Fall zur gemeinsamen Bearbeitung interdisziplinärer Probleme« führen würde. Interdisziplinarität tauchte als Begriff aber zunächst nur bei Killy und noch nicht in Schelskys Entwurf auf, trotz des im Vergleich beider Konzepte nur bei Schelsky bestehenden Interesses am damit bezeichneten Sachverhalt. Auch das überarbeitete geisteswissenschaftliche Konzept Killys definierte – wie Schelskys – die Beziehungen der neuen Institution zu den Universitäten einerseits und zum Staat andererseits. Übereinstimmung zwischen beiden bestand darin, dass sich die neue Institution mit der Universität kaum überschneiden würde. Das Kolleg war nach Killy »weder als Gegen- noch als Oberuniversität konzipiert«, sondern würde sich von den Universitäten in Aufgabe, Arbeitsweise, Aufbau und Größe grundlegend unterscheiden. Ausführlicher als Schelskys Konzept nahm Killys Bezug auf die internationalen Vorbilder für ein derartiges geisteswissenschaftliches Kolleg. Schelsky hatte Princeton, Palo Alto, Wien und Paris genannt. Bei Killy kamen noch das Nuffield College in Oxford und weitere französische Institute ins Spiel. Eine detailliertere Ausarbeitung dieses internationalen Vergleichs erfolgte aber erst im endgültigen Antrag und ging dort wohl eher nicht auf Schelsky zurück, der auch in seinen bisherigen Publikationen zum Thema Hochschul- und Wissenschaftsreform kaum international vergleichende Recherchen im Wissenschafts- und Hochschulsystem betrieben hatte. Vor allem hatten weder er noch Killy an einer der genannten Einrichtung schon Forschungszeit verbracht, anders etwa als Dahrendorf, der in Palo Alto Ende der 1950er ein Forschungsjahr verbracht hatte.
Schelskys Vermittlungsversuch: Kant-Institute für theoretische Forschung Schelsky glich im Frühjahr 1964 die Inhalte des überarbeiteten Kolleg-Vorschlages vom Februar, vermutlich aus Killys Feder, mit seinem eigenen Institut-Vorschlag aus dem Vormonat ab und versuchte pragmatisch zu vermitteln, natürlich auch um möglichst viele seiner Interessen durchzubringen.50 Den Begriff »Kolleg« erachtete Schelsky für das gemeinsame Projekt für ebenso ungeeignet wie den der »Geisteswissenschaften«. Das »Kolleg« verwarf er, weil es ihm 50 Helmut Schelsky, Bemerkungen zur Denkschrift »Kolleg für geisteswissenschaftliche Studien«, ohne Datum, in: UABI NL Schelsky, #87.
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begrifflich im Deutschen wie im Englischen zu nah an den von ihm bekanntermaßen nicht geschätzten Kollegienhäusern für Studenten war, mit deren Ausbildung die neue Einrichtung definitiv nichts zu tun haben sollte, weshalb er vorschlug, beim Begriff des Institutes zu bleiben. Den Begriff »Geisteswissenschaften« lehnte er ebenfalls ab, denn er war für ihn – und dabei schien er nicht frei vom Selbstbewusstsein eines Fachvertreters, der sich in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist fühlte – »ein typischer Begriff des 19. Jahrhunderts, der heute zu veralten beginnt […] zudem ist der Begriff international unbekannt«. Schelskys Kompromissvorschlag lautete »Institute für theoretische Forschung«, wobei er es für überlegenswert hielt, die neuen Institute mit dem Namen einer Persönlichkeit aus der deutschen wissenschaftlichen Tradition zu belegen und schlug deshalb vor, sie »Kant-Institute für theoretische Forschung« zu nennen. Er beabsichtigte damit zugleich wohl auch eine deutlichere Abgrenzung von der Max-Planck-Gesellschaft, wobei er den entscheidenden Unterschied zwischen beiden darin sah, dass die neue Institutsgruppe »im wesentlichen die kontemplative theoretische Forschung fördert und nicht Institute mit einem großen technischen Apparat zur Verfolgung spezieller Forschungsaufgaben auf Dauer unterhalten will«. Ein großer technischer Apparat war freilich nicht in allen Max-Planck-Instituten nötig, um nur das 1956 wiedergegründete geschichtswissenschaftliche in Göttingen oder das 1963 frisch gegründete Institut für Bildungsforschung in Berlin zu nennen. Die Funktion einer derartigen Neugründung im Wissenschaftssystem, wie sie Schelsky mit den Kant-Instituten vorschwebte, versuchte er dadurch klarer herauszuarbeiten, dass er für das »Dilemma der Gelehrten an den Hochschulen und Hochschulinstituten zwischen Forschung und Lehre« langfristig nur zwei alternative Lösungsmöglichkeiten sehen wollte: Entweder würden immer mehr reine Forschungsinstitute neben der Hochschule oder zumindest entsprechende Planstellen neben dem Lehrbetrieb in den Hochschulen geschaffen »oder es wird systematischer eine zeitliche Freigabe der Hochschulgelehrten für reine Forschungsaufgaben eingeführt, die erheblich mehr umfassen muss als ein ›Sabbatsemester‹ alle 3–4 Jahre« und genau dafür würden die Institute für theoretische Forschung die von der Mehrheit wohl bevorzugte Lösung anbieten. Die inhaltlichen Unterschiede zwischen beiden Konzeptentwürfen, die sich mit Blick auf gemeinsame oder individuell verfolgte Forschungsthematiken deutlich gezeigt hatten, versuchte Schelsky dadurch zu überbrücken, dass er unter einem gemeinsamem Dach die Konstituierung von zwei Institutsgruppen vorschlug, einer historisch-sprachwissenschaftlichen auf der einen und einer rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen auf der anderen Seite. Die im ersten Beitrag von Schelsky noch berücksichtigten Einrichtungen für die Naturwissenschaften und die Mathematik fielen damit weg. Wenn Killy sich nur für seinen engeren Fächerkanon einsetzte, wollte Schelsky offenbar auch nicht zu altruistisch agieren.
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Für den Bereich der Fächer, die Schelsky überblicken konnte, waren die gemeinsamen Forschungsprojekte theoretischer Natur »der eigentliche Anziehungspunkt für ein Zusammenleben und -arbeiten verschiedener Fachvertreter«. Die gemeinsamen Forschungsprojekte waren für Schelsky also nicht verhandelbar. Hier sah er nämlich die entscheidende Möglichkeit, einzelne Bereiche der rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächer zu fördern, die in der Bundesrepublik seines Erachtens deshalb nicht weiterentwickelt waren, weil die erforderliche Zusammenarbeit der dazu geeigneten, aber geographisch verstreuten Fachvertreter nicht zustande kam. Als Beispiele nannte er eine moderne Rechtssoziologie und die Entwicklung einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Handlungs- und Entscheidungstheorie und deren Mathematisierung.51 Die große begriffliche Nähe der vorgeschlagenen »Institute für theoretische Forschung« zur vorangegangenen »theoretischen Universität« sowie das Insistieren auf den gemeinsamen fachübergreifenden Forschungsprojekten zeigte deutlich die Unterschiede des Schelsky’schen Konzepts zur Gruppe der Geisteswissenschaftler um Killy auf, denen scheinbar eher ein Ort ungestörter geisteswissenschaftlicher Einzelforschung vorschwebte.
Antragstellung und Begutachtung der Gesellschaft für Kultur- und Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung Im Juli 1964 wurde schließlich ein Antrag bei der Stiftung Volkswagenwerk eingereicht. Er trug allerdings nicht Schelskys Kompromisstitel, sondern die Bezeichnung »Gesellschaft für Kultur- und Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung«. Diese sollte – wie von Schelsky vorgeschlagen – aus zwei selbständigen Forschungszentren für die Bereiche der Kulturwissenschaften auf der einen und der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf der anderen Seite bestehen.52 Mit der Gesellschaft erklärten die Antragsteller zwei Herausforderungen im Wissenschaftssystem der Bundesrepublik lösen zu wollen, die auch die jeweiligen Schwerpunkte der beiden vorangegangenen Entwürfe darstellten: »die Verstärkung der Zusammenarbeit über traditionelle Fachgrenzen hinweg und die zeitweilige Freistellung von Gelehrten für konzentrierte Forschungstätigkeit«. In Abgrenzung von den Universitäten wurden die beiden Zentren definiert als »modernen Bedingungen angepasste kleine Gelehrtengemeinschaften […], in denen jedes Mitglied zugleich Lehrender und Lernender ist. Die Mehrzahl von ihnen kommt von den Hochschulen und wird wieder zu ihnen zurückkehren.« Etwa 30 Mitglieder sollten hier arbeiten können, wobei zwischen jüngeren Forschungsstipendiaten (für 2 Jahre), Forschungsprofessoren (für 2 bis 6 Jahre, 51 Diese Themen verwendete Schelsky bei der Konzeptionierung der Bielefelder Universität dann alle wieder. 52 O. V., Denkschrift zur Gründung der Gesellschaft für Kultur- und Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, Juli 1964, in: UABI NL Schelsky, #87. Alle folgenden Zitate ebd.
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in Einzelfällen auf Lebenszeit) und Gastprofessoren (bis zu einem Jahr) unterschieden wurde. Statt fortgeschrittenen Studierenden würden nur Nachwuchswissenschaftler, worunter hier ausschließlich Habilitanden verstanden wurden, integriert. Die Standortentscheidung für die beiden Zentren überließ man der Stiftung, lediglich einen geschlossenen Gebäudekomplex je Zentrum wünschte man sich. Diese Gebäude sollten Arbeits-, Gemeinschafts- und Wohnräume bereithalten, wobei nur Wohnräume für jene Gelehrten ohne Familien vorgesehen waren. Sie sollten ihre Mahlzeiten zusammen einnehmen. Zur Verwirklichung der Idee beantragte man für eine Laufzeit von zehn bis zwölf Jahren immerhin 75 Millionen DM, etwa hälftig für Bau und Einrichtung sowie Gehälter und Stipendien. Frühestens nach diesem Zeitraum sollte die Stiftung prüfen, ob der Zweck der Gesellschaft erreicht und wenn ja, wie eine Weiterführung der Zentren zweckmäßig wäre – eine Klausel, die alle bisherigen Vorschläge für Universitätsneugründungen übrigens nicht enthalten hatten. Wie und ob an den staatlichen Neugründungen eine Überprüfung der Zielerreichung und eine eventuell nötige Neuausrichtung erfolgen sollten, war in den Gründungsausschussberichten stets offengelassen worden. Was den internationalen Vergleich betraf, so entielt der Anhang anstelle der anfänglichen punktuellen Verweise bei Schelsky und Killy nun ausführliche Informationen zu den Instituten für Höhere Studien in den USA, Frankreich, Großbritannien und in Wien. Betont wurde, dass alle diese Institute im Ausland erst in den letzten Jahrzehnten gegründet worden waren, wobei Princeton 1930 den Anfang gemacht hatte und als jüngstes Beispiel das Wiener Institut mit Hilfe der Ford Foundation seit 1963 entstand.53 Zwischen den Zeilen stand also die Botschaft, dass nicht nur beim Ausbau des Hochschulsystems, sondern auch mit Blick auf derartige neue Institutionen Nachholbedarf in der Bundesrepublik bestand. Dabei wurde die Position der ausländischen Institute im jeweiligen Wissenschaftssystem zwischen breit ausgerichteten Universitäten und spezialisierten außeruniversitären Forschungsinstituten lokalisiert. Der internationale Vergleich ergab ferner, dass alle Institute unabhängig von den Hochschulen waren, auch wenn sie durchweg in engem Verhältnis zu diesen standen, und alle von privaten Stiftungen getragen wurden. Die Beschreibung der ausländischen Institute zeigte durchaus Unterschiede im Detail, etwa die Auswahl der meisten Gastprofessoren durch die ständigen Professoren am IAS Princeton oder den völligen Verzicht auf ständige Mitglieder am Institut in Palo Alto. Thematisch standen die Sozialwissenschaften im Zentrum von drei der sechs vorgestellten Institute – in Palo Alto, Oxford und Wien. Was geschah nun mit dem Antrag von Schelsky, Killy und Co? Über den Sommer holte die Stiftung eine Reihe von Gutachten zu ihm ein, die für das 53 Zur verworrenen Entstehungsgeschichte des 1963 gegründeten Wiener Institutes für Höhere Studien: Fleck, Wie Neues nicht entsteht.
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entscheidungsbefugte Kuratorium ausgewertet, zusammengefasst und schließlich mit einer ausführlichen eigenen Bewertung und Empfehlung der Stiftung versehen wurden. Die Stellungnahmen stammten durchweg von hochrangigen Vertretern der Hochschulpolitik und der Wissenschaftsorganisationen sowie einzelnen Wissenschaftlern.54 Wenigstens fünf der insgesamt fünfzehn Gutachten und Kommentare gelangten in anonymisierter Form an Schelsky, der den sozialwissenschaftlichen Teil des Antrages nach spätem Einstieg in die Gruppe der Antragsteller maßgeblich vorangetrieben hatte.55 Mit allen ihren Kritikpunkten setzte er sich ausführlich auseinander, so dass seine Anmerkungen teils die gleiche Länge wie die ihnen zugrunde liegenden Gutachten erreichten.56 Worauf richteten sich Lob und Kritik der Gutachter im Einzelnen und wie ging Schelsky mit ihrer Einschätzung um? Grundsätzlich überwogen die wohlwollenden Reaktionen auf den Vorschlag der Antragsteller. Die geäußerten Bedenken bezogen sich vor allem auf zwei Punkte, nämlich das Verhältnis der Einrichtungen zur Universitätsneugründung in Konstanz sowie die Frage nach dem richtigen Gründungszeitpunkt für außeruniversitäre Einrichtungen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung.
Das Konstanz-Argument Es war kein Zufall, dass in mehreren Gutachten Überschneidungen mit der Konzeption der neuen Universität Konstanz diagnostiziert wurden mit Blick auf fachgrenzenüberschreitende Kooperationen, Forschungsfreiräume und Förderung der Sozialwissenschaften. Die Stiftung hatte eine ganze Reihe von P ersonen um 54 Als Hochschulpolitiker äußerten sich der baden-württembergische Kultusminister Hahn, sein nordrhein-westfälischer Kollege Mikat, Mitarbeiter aus dem niedersächsischen Kultusministerium und dem erst zwei Jahre alten Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, sowie Ulrich Lohmar als SPD-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Kulturpolitik und Publizistik, der sich als langjähriger Mitarbeiter Helmut Schelskys diesem weiter verbunden fühlte. Für die Wissenschaftsorganisationen äußerten sich Helmut Coing als jeweils früherer Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz und Vorsitzender des Wissenschaftsrates, sowie Ludwig Raiser und Julius Speer als jeweils aktueller Vorsitzender bzw. Präsident von Wissenschaftsrat und WRK, alle gleichermaßen ausführlich. Als Wissenschaftler gaben der Soziologe Ralf Dahrendorf, der Ökonom Gottfried Bombach, der Kirchenhistoriker Hubert Jedin und der Historiker Walter Laqueur Statements ab. Zusätzlich lieferten drei der Antragsteller, nämlich Alewyn, Clemen und von Ferber, der Stiftung Separatmeinungen zum Antrag zur Kenntnis. 55 Die Gutachten von Coing, Hahn, Raiser, von Ferber. 56 Wann und von wem Schelsky die Gutachten erhielt, lässt sich nicht rekonstruieren. Die vier Gutachten sowie ein fünftes, das nicht zuzuordnen ist, befinden sich zusammen mit seinen ausführlichen Kommentierungen in UABI NL Schelsky, #87. Die Zuordnung der Gutachten zu ihren Autoren ist über die entsprechende Kuratoriumsvorlage der Stiftung Volkswagenwerk vom 14.9.1964 möglich, die mir von der Volkswagenstiftung zur Verfügung gestellt wurden: Kuratoriumsvorlage vom 14.9.1964, in: Stiftung Volkswagenwerk Nr. 618, Aktenzeichen 2581 sowie drei zugehörige Dokumente mit Ergänzungen.
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Gutachten gebeten, die in die Konstanzer Planungen involviert waren: Bombach war ständiger Gast im dortigen Gründungsausschuss, Dahrendorf dessen stellvertretender Vorsitzender, Hahn inzwischen verantwortlicher Kultusminister und Raiser einer der geistigen Väter des ganzen Unterfangens. Zwar befand sich die Konstanzer im August 1964 noch mitten in den Diskussionen des Gründungsausschusses, doch die zugrunde liegende Denkschrift der baden-württembergischen Landesregierung war seit Jahresanfang zugänglich und gab Grundlinien vor, über die die Presse berichtet hatte. So merkte Hahn als gerade erst wenige Monate amtierender baden-württembergische Kultusminister vorsichtig an, dass die Wirkung derartiger neuer Zentren auf die Universitäten doch zunächst gründlich zu prüfen und eine Koordination zwischen den Zentren und der Konstanzer Neugründung denkbar sei. Grundsätzlich positiv äußerten sich die übrigen »Konstanzer« Bombach, Dahrendorf und Raiser, wobei letzterer in Parallelen zur Konstanzer Planung lediglich die Bestätigung der Richtigkeit des Grundgedankens für die dortige Neugründung sah. Ähnlichkeiten zu Konstanz waren seines Erachtens kein Hindernis, um für den Plan Schelskys und seiner Mitstreiter einzutreten, denn »Wettbewerb ist auch hier nur gesund«.57 Große Ähnlichkeiten zum Konstanzer Neugründungsvorhaben aber wollte Schelsky selbst gar nicht sehen. Schelsky sah vielmehr aus den ihm gegenüber geäußerten Einwänden »eine Art Konkurrenzfurcht für Konstanz« hervorgehen, die er nicht nachvollziehen wollte: »Selbst bei optimistischer Interpretation der Konstanz-Programmatik sind die Unterschiede der Projekte doch noch so groß, dass man ruhig zwei Experimente statt des einen wagen sollte, zumal es sich um ganz verschiedene Personenkreise als Träger handeln würde.«58
Außerdem sei eine Universität mit 3.000 Studierenden und 100 Professoren doch etwas anderes, als ein Institut mit 15 jüngeren und 15 älteren Gelehrten. Die Verbindung des neuen Instituts mit den Universitäten hielt er für sinnvoll, die von Hahn ins Spiel gebrachte Anbindung an eine einzige Hochschule dagegen nicht: »Die Verbindung mit einer selbst erst als Experiment aufzubauenden Universität würde die Risiken unseres Experiments vermehren statt vermindern. Das Zentrum könnte scheitern, weil der ›Konstanz-Plan‹ scheitert; Konstanz könnte durch dann notwendige Rücksichten auf die Zentren in seiner Entwicklung behindert werden.«59
Ferner brauchten nach Schelsky vor allem die bestehenden alten Universitäten die Forschungsarbeitserträge der Zentren, »die Konstanz für sich allein organi 57 Gutachten »Ich habe Ihnen…« von Ludwig Raiser, in: UABI NL Schelsky, #87. 58 Ebd. 59 Schelskys Anmerkung zum Gutachten »Der Kultusminister…« von Wilhelm Hahn, in: UABI NL Schelsky, #87.
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sieren will«.60 Wie er in seinem Kommentar zu Coings Gutachten festhielt, war Schelsky sich zudem aber auch sicher, das attraktivere Konzept zu besitzen. Diese Zuversicht belegte er allerdings nicht mit Namen möglicher Kandidaten.61 Doch gegenüber Dahrendorfs Projekt, der bekanntermaßen für den sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt in Konstanz verantwortlich zeichnete, wollte sich Schelsky – der 1957 noch die Habilitationsschrift des deutlich jüngeren Kollegen begutachtet hatte – so schnell nicht geschlagen geben. Die Zentren, so Schelskys Überzeugung, traten nicht an die Stelle von Konstanz und hinderten es nicht und umgekehrt sollte es genau so sein. Aus einer Verbindung aber mochte er keinen Vorteil erkennen.
Das Fluchthilfe-Argument Gegen Schelskys Projekt wurde in mehreren Gutachten überstimmend ein weiterer Einwand gerichtet, der sich auf die Frage bezog, ob die Zeit für eine derartige Institution reif sei. Coing, der den Ansatz der Institute für geistesund sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung zwar generell begrüßte und insbesondere die Förderung interdisziplinärer Forschungen für wichtig hielt, äußerte entsprechende Zweifel. Ohne direkt darauf zu verweisen, dass im ersten Halbjahr 1964 die von Picht angefeuerte Debatte über eine deutsche Bildungskatastrophe die Öffentlichkeit beschäftigte, sah er die unter dem Ansturm der Studierenden ächzenden Universitäten nicht in der Lage, Professoren für mehrere Jahre zu entbehren, damit sie anderswo ungestört forschten.62 Für seine eigene Person allerdings nahm er derartige Privilegien durchaus in Anspruch und wurde im gleichen Jahr Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt, das außeruniversitäre Forschungsfreiräume konkret ermöglichte, von denen die Antragsteller noch träumten. Raiser brachte ebenfalls Bedenken bezüglich des Zeitpunktes vor und befürchtete, dass die Zentren die Hochschulen insbesondere in den Sozialwissenschaften, die ohnehin in Deutschland erst im Aufbau befindlich seien, »auslaugen« würden, wenn man den Professoren dort zu lange Aufenthalte ermögliche. Aber auch in den Kulturwissenschaften hielt er es für denkbar, dass mit Einrichtung der Gesellschaft »eine Flucht der Professoren aus den sogen. Massenfächern droht. […] Das Heilmittel kann hier nicht in der Begünstigung der Flucht, sondern in einer kräftigen Studienre 60 Ebd. 61 Schelsky lediglich nebulös: »Man braucht nur zu fragen: Wer ginge von den in Betracht kommenden Gelehrten nach Konstanz; wer geht auf den Vorschlag des Zenters [sic] ein? Bisher hat jeder, der gefragt wurde, für das Zenter zugesagt. Wen Konstanz gewinnen wird, ist durchaus fraglich.« siehe: Schelskys Anmerkung zum Gutachten »Der Ausgangspunkt…« von Helmut Coing, in: UABI NL Schelsky, #87. 62 Ebd.
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form für die philosophischen Fakultäten liegen, gegen die sich nur leider gerade diese Fakultäten wegen ihres am Idealismus der Humboldt-Zeit orientierten Selbstverständnisses sträuben.«63
Doch Schelsky wollte offenbar nicht allein auf schnelle Reformen an den bestehenden Universitäten hoffen. Er bemerkte, dass man nicht zehn bis zwanzig Jahre mit der Einrichtung des neuen Instituts warten könne, denn so lange würde die Aufbau- und Ausweitungsphase der Universitäten einschließlich Neugründungen dauern: »Die große Gefahr der jetzigen Ausweitung und Neugründung der Hochschulen besteht gerade darin, dass dies fast allein unter Ausbildungsanforderungen geschieht. Die Differenzierung und Intensivierung der anderen Aufgaben der Hochschule darf nicht zurückgestellt werden, will man sie nicht endgültig abschreiben. In der interdisziplinären Grundlagenforschung der hier in Betracht kommenden Wissenschaften sind wir sowieso international hinterher.«64
Schelsky betonte, dass trotz der drängenden Ausbildungserfordernissen noch Raum bleiben müsse, an besonderen Institutionen auch die interdisziplinäre Forschung zu fördern. Nun verwendete er den Begriff auch selbst.
Der Anschein von Selbstbedienung Die ausführlichste und weitgehendste Kritik schließlich stammte erstaunlicherweise von einem der Mitantragsteller und wurde dem Kuratorium als Separatmeinung zum Antrag bekanntgegeben. Christian von Ferber (1926*) bemängelte, dass präzise Vorgaben zur Auswahl und Priorisierung der Forschungsthemen wie auch zur Auswahl der Forscher fehlten. Solche Präzisierungen seien aber entscheidend für Scheitern oder Erfolg der Entwicklung entweder »zu einem wissenschaftlichen ›Recreation Center‹ für Professoren und Habilitanden oder […] zu einem energetischen Zentrum für die Geisteswissenschaften«.65 Bedenkenswerte Alternativen zum vorgeschlagenen Neugründungsvorhaben waren seines Erachten der Ausbau von Schwerpunkten und Sonderinstitute an den bestehenden Hochschulen, wie der Wissenschaftsrat sie ja 1960 in Ansätzen schon vorgeschlagen hatte. Solche Alternativen schienen von Ferber insgesamt »z.Zt. dringender als die Errichtung einer platonischen Akademie!«66 Schelsky bilanzierte dieses Gutachten wegen der zahlreichen Einwände gegen seinen Vorschlag einerseits als »außerordentlich wichtig«, wegen der von ihm als Verdrehungen der Denkschrift wahrgenommenen Kritik 63 Gutachten »Ich habe Ihnen…« von Ludwig Raiser, in: UABI NL Schelsky, #87. 64 Schelskys Anmerkung zum Gutachten »Der Ausgangspunkt…« von Helmut Coing, in: UABI NL Schelsky, #87. 65 Gutachten »Obwohl die Mittel…« von Christian von Ferber, in: UABI NL Schelsky, #87. 66 Ebd.
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punkte aber andererseits auch als »gefährlich und unfair« und überhaupt »sehr einseitig soziologisch«.67 Von ähnlicher Schärfe wir von Ferbers Kommentare fiel in den Stellungsnahmen zum Antrag nur eine Bemerkung Dahrendorfs aus, die die Stiftungsmitarbeiter für das Kuratorium folgendermaßen zusammenfassten: »Ihm [Dahrendorf, M. M.] falle auf, dass die Autoren des Gutachtens [i. e. des Antrags bei der Stiftung, M. M.] mit äußerster Präzision über die Haushaltsfragen und Aufbauphasen sprechen, dagegen wenig über wissenschaftlichen Sinn und Begründung des Vorschlages sagen. […] Er habe weiterhin den unangenehmen Eindruck, dass die Antragsteller Selbstversorger seien, also für sich neue Positionen suchten.«68
Tatsächlich war das ein Anschein, den auch der Mitantragsteller Alewyn vermeiden wollte und daher in seiner kommentierenden Separatmeinung zum Antrag festhielt, dass die Antragsteller keine Rechte für sich selbst ableiten sollten. Letztlich hielten es weder Dahrendorf noch von Ferber als Soziologen offenbar für nötig, Schelsky und seine Mitstreiter übermäßig in Schutz zu nehmen oder ihnen gar einen Freibrief für neue Forschungsfreiräume in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu erteilen. Dahrendorf musste ein Interesse daran haben, zunächst sein Konstanzer Projekt zum Erfolg zu führen. Unklar ist, ob Spannungen zwischen Schelsky und Plessner, der ja offenbar zum ursprünglichen Kreis der Antragsteller gehörte, zur Kritik von Ferbers geführt hatten. Letzterer war ein ehemaliger Doktorand und Mitarbeiter Plessners aus Göttingen, der an dessen DFG-Studie »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« in der ersten Hälfte der 1950er Jahre mitgewirkt und eine der drei Teilstudien erstellt hatte.69 Ob von Ferbers Kritik von Plessner beeinflusst war, weil dieser sich von Schelskys spätem aber starkem Engagement für den Antrag möglicherweise überrollt fühlte, erscheint zwar nicht ausgeschlossen, lässt sich aber auch nicht belegen.
Behandlung durch die Volkswagenstiftung Nach Bestellung und Auswertung aller Gutachten kam die Geschäftsstelle der Stiftung zu einer grundsätzlich positiven Einschätzung des Antrags, den sie ja auch maßgeblich mit angeschoben hatte. Mehrere Einwände von Ferbers versuchte sie zu widerlegen oder als übertrieben darzustellen. Die Entkräftung des 67 Schelskys Anmerkung zum Gutachten »Obwohl die Mittel…« von Christian von Ferber, in: UABI NL Schelsky, #87. 68 Kuratoriumsvorlage vom 14.9.1964, in: Stiftung Volkswagenwerk Nr. 618, Akten zeichen 2581. Die Kuratoriumsvorlage bezeichnet den Autor als »Ordinarius der Soziologie, der die in der Denkschrift erwähnten ausländischen Modelle persönlich kennt«, handschriftlich ist daneben notiert: »Dahrendorf«. 69 Von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers. Zur DFG-Studie Plessners kurz Dietze, Nachgeholtes Leben, S. 373 f.
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»Konstanz«- und des »Fluchthilfe-Arguments« erfolgte gar so sehr auf der Linie von Schelskys Kommentaren zu vier der vorliegenden Gutachten für die Stiftung, dass die Vermutung naheliegt, die Geschäftsstelle könnte auf Schelskys Bewertung der Kritikpunkte zurückgegriffen haben und die Sache damit noch mehr zu der ihren gemacht haben. In der Entscheidungsvorlage für das Kuratorium der Stiftung hob sie hervor, dass man mit der Bearbeitung des Antrages in mehrfacher Sicht Neuland betrat: Die beantragte Summe war außergewöhnlich groß, der Anspruch zur Überwindung herkömmlicher geisteswissenschaftlicher Forschungsorganisation an den Universitäten hoch und die Erfolgsaussichten unklar. Mit Blick auf die projektierten Kosten zog die Stiftungsgeschäftsstelle einen Vergleich zu naturwissenschaftlichen Großforschungseinrichtungen wie etwa dem Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY, das Anfang 1964 in Hamburg den Betrieb aufgenommen hatte, und nur eines von vielen derartigen Großprojekten darstellte, die seit Ende der 1950er Jahre von der Bundes- und auch einigen Landesregierungen – sowie teils von der Stiftung selbst – f inanziert wurden – wie man dreifach betonte »selbstverständlich«: »Wahrscheinlich erstmalig treten die Geisteswissenschaften mit einer Forderung auf, die in dieser Größenordnung für die Naturwissenschaften (»big science«!) bereits ganz selbstverständlich sind […]. Die großen Ausgaben für diese Bereiche sind selbstverständlich, und nach dem Sputnik-Schock, fast ein Tabu geworden. […] Der große Aufwand der Naturwissenschaften wird als selbstverständlich hingenommen. Hingegen hat man sich daran gewöhnt, dass die geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit geringstem materiellen Einsatz auskommen.«70
Vor dem geschilderten Hintergrund der hohen naturwissenschaftlichen Infrastrukturkosten und den gut gefüllten Kassen der Stiftung sah man zwar Einsparpotential bei den veranschlagten Kosten der beiden Zentren von 75 Millionen DM auf etwa 60 Millionen DM, anscheinend aber kein grundsätzliches Hindernis in der Größenordnung der Investition. Problematischer erschien der Stiftungsgeschäftsstelle vielmehr, dass die Denkschrift bezüglich der zu verfolgenden Themen der neuen Institute »sparsam, fast inhaltsarm« war und lediglich für die Sozial- und Rechtswissenschaften einige Vorschläge enthielt. Eine Struktur, deren Inhalt zunächst weitgehend offen bleiben sollte, konnte oder wollte man sich scheinbar nicht recht vorstellen und fürchtete den Vorwurf der Selbstbedienung. Dieser Fehler des Antrags erschien aber heilbar, weil man eine grundsätzliche Chance für das Wissenschaftssystem sehen wollte, neue Arbeitsbedingungen und Organisationsformen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zu erproben:
70 Kuratoriumsvorlage vom 14.9.1964, in: Stiftung Volkswagenwerk Nr. 618, Aktenzeichen 2581.
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»Für die Naturwissenschaften wurde aus der Erkenntnis, dass Forschung und Lehre, zugleich betrieben, überfordert, eine Konsequenz gezogen, die Gründung von MaxPlanck-Instituten, die außerhalb der Hochschulen stehen. Die Geisteswissenschaften stehen vor einer ähnlichen Entscheidung. Es bietet sich ihnen die Möglichkeit, die Einheit von Forschung und Lehre nicht mehr als ein mehr oder minder fiktives zeitliches Zugleich, sondern als ein Nacheinander zu verstehen.«71
Statt universitärem-außeruniversitärem Nebeneinander in den Naturwissenschaften, so die Idee, könnte es in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu einer temporären Freistellung der Forscher an den neuen Instituten kommen, danach aber wieder zu ihrer Rückkehr in die Universitäten. Neben staatlicher Großforschung und Grundlagenforschung in der Max-Planck-Gesellschaft als Argumente für eine außeruniversitäre Förderung der Geisteswissenschaften bot die Stiftung als prominenten Unterstützer schließlich noch den schweizer Intellektuellen Dennis de Rougemont (1906–1985) auf. Dieser hatte auf der dritten Konferenz der europäischen Hochschulrektoren, die erst Anfang September 1964 in Göttingen stattgefunden hatte, in seinem Festvortrag die Begründung von überfachlichen Studienzentren auf europäischer Ebene gefordert und damit die ältere Idee einer Europäischen Universität, die noch 1957 bis 1959 – kurz vor Beginn der Universitätsgründerzeiten in der Bundesrepublik – von einigen weiteren überzeugten Europäern verfolgt worden war, in veränderter Form wiederzubeleben versucht.72 Doch das Kuratorium, in dem außer fünf Wissenschaftlern auch Vertreter der Politik und Repräsentanten der Wirtschaft saßen (etwa aus den Firmen Volkswagen und BASF), teilte allem Anschein nach nicht die Begeisterung der Stiftungsgeschäftsstelle für neue Institutionen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung.73 Die ersten Beratungen im September 1964 führten ebenso wenig zu einem positiven Ergebnis wie erneute Beratungen im Dezember des Jahres und im März 1965, als Killy, Schelsky und sein Münsteraner rechtswissenschaftlicher Kollege Mestmäcker sowie möglicherweise noch weitere Mitstreiter die Möglichkeit erhielten, im Vorfeld einer weiteren Sitzung direkt mit Mitgliedern des Kuratoriums zu sprechen. Auch danach sah das Kuratorium sich nicht in der Lage, eine positive Entscheidung zu treffen. Dazu hielt ein Mitarbeiter der Stiftung später fest, das Kuratorium habe »aus Naturwissenschaftlern und großen Managern bestanden, die ihre Gesprächspartner aus der geisteswissenschaftlichen Welt nicht verstanden, ihr Anliegen lächerlich fanden. Freilich fehlte den Professoren die zündende Idee, unter die ein solches 71 Ebd. Diese Beschreibung des sequentiellen Vorgehens könnte der Kern für Schelskys im Folgejahr vorgeschlagene Lösung eines jährlichen Wechsels von Forschung und Lehre an der neuen Universität gewesen sein. 72 De Rougemonts Festvortrag lag den Kuratoriumsunterlagen für den 14.9.1964 bei. 73 Zur genauen Zusammensetzung des ersten Kuratoriums ab 1962 Nicolaysen, Der lange Weg, S. 414 ff.
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Zentrum hätte gestellt werden können […]. Als Killy das Phänomen der Angst im neuzeitlichen Leben und in der neuen Literatur als Kristallisationspunkt in die Debatte warf, war es um das Projekt geschehen. […] So ging man auseinander, das Ergebnis war für die geladenen Gäste demütigend.«74
In dieser Erinnerung schwang wohl auch die Enttäuschung der in der Sache stark engagierten Stiftungsgeschäftsstelle mit. Doch nicht alle Antragsteller hatten gleichermaßen Grund zur Niedergeschlagenheit.
Schelskys Rückzieher und neue Perspektiven Zehn Monate nachdem der Antrag eingereicht worden war, schrieb Schelsky im Mai 1965 an seine Mitantragsteller für den Teil des sozialwissenschaftlichen Zentrums. Die Geschäftsführung der Stiftung, die die Anregung für den Antrag seinerzeit selbst an ihn herangetragen habe, hätte das Projekt gegenüber dem Kuratorium bislang nicht durchsetzen können. Er schlug deshalb den Rückzug des Antrages vor, um »die ohnehin resignativ-zögernde Verfolgung« durch die Stiftung zu beenden.75 Man könne auf den Antrag vielleicht später erneut zurückgreifen, zumal »jetzt gewisse Anzeichen dafür da sind, dass sich ein solches von uns überlegtes ›Zentrum für Grundlagenforschung‹ vielleicht mit der Neugründung einer Universität verbinden lässt, und zwar keineswegs nur auf diese Universität bezogen, sondern über sie auf andere Hochschulen hinausgreifend«.76
Hintergrund seines positiv gestimmten Schreibens war der »Planungsauftrag« für die Universitätsneugründung in Ostwestfalen, den Schelsky im Februar 1965 erhalten hatte. Damit hatte sich ihm überraschend ein neuer Weg zur Verwirklichung seiner Idee aufgetan. Die bei der Volkswagenstiftung zunächst erfolglose Antragsarbeit war für ihn also nicht vergeblich gewesen. So hatte Schelsky nach seinen verschiedenen Publikationsaktivitäten zum Thema Hochschulreform zwischen 1957 und 1963 mit dem Antrag bei der Stiftung Volkswagenwerk erstmals einen seiner Reformvorschläge gemeinsam mit anderen Mitstreitern konkret zu verfolgen versucht und auf dem Weg zur Antragstellung eine Moderationsleistung unternommen, die einen gewissen Vorgeschmack auf die anstehenden Herausforderungen in Bielefeld geben konnte. Zugleich hatte er Anregungen erhalten, erstmals stärker international vergleichend zu argumentieren, als er es in seinen bisherigen Äußerungen zur Hoch 74 Waldemar Krönig, Mein Anfang bei der Stiftung Volkswagenwerk, unveröffentlichtes Manuskript 1997, zitiert nach Häfners Vermerk, Stiftung Volkswagenwerk/Projekt »Geisteswissenschaftliches Zentrum«. 75 Ob und wie das geschah, konnte für diese Untersuchung nicht geklärt werden. 76 Brief Schelskys an Hans Albert, Hans Möller, Peter Lerche, Ernst-Joachim Mestmäcker und Franz Wieacker vom 13.5.1965, in: UABI Nachlass Mestmäcker, #11.
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schulreform getan hatte. Darüber hinaus zeigt die zeitgenössischen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften, die mit der Übersetzung des Werkes von Charles Percy Snow (»Two Cultures«) weiter befeuert wurde, dass die Idee neuartiger außeruniversitärer Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften in der Luft lag. Schelsky griff sie auf und entwickelte sie über den Stiftungsantrag hinaus weiter, als es an die Konzeption für Bielefeld ging. Die Arbeit an »Einsamkeit und Freiheit« mit der Idee der »theoretischen Universität« sowie am Antrag der »Kant-Institute« in den Jahren 1962 bis 1964 stellten den Übergang Schelskys von der Rolle des Beobachters, Kommentators und Ideengebers in die Rolle des konkreten Planers dar. Schon in seinem Buch 1963 hatte er behauptet, dass die Freiheitsspielräume der einzelnen Professoren und Studenten gar nicht ausgenutzt würden: »Es gibt mehr Möglichkeiten zu einer Hochschulreform auf eigene Faust, als heute ausgenutzt werden. Das Abwarten darauf, was von den anderen geschieht, und die Trägheit des Sicheinnistens in den Status quo sind die stärksten Quellen der Malaise unserer Hochschulreform.«77
Für Killy und seine Mitstreiter aus den Geisteswissenschaften dagegen gab es zunächst keine vergleichbare Perspektive. Die Stiftung Volkswagenwerk verfolgte den Antrag für Zentren der geistes- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung vom Sommer 1964 nicht weiter. Mit einem vergleichbaren Investitionsvolumen förderte sie gemeinsam mit der Alexander von Humboldt-Stiftung ein umfangreiches Programm zum Bau von internationalen Gästehäusern an den bundesdeutschen Universitäten, das einen Austausch anderer Art ermöglichte, der nicht fachgrenzen- sondern ländergrenzenüberschreitender Natur war. Killy selbst blieb an Hochschulreformideen weiter interessiert, wurde – um einen langen Vorausblick zu geben – auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 1967/68 Rektor der Göttinger Universität und im gleichen Jahr auch Vorsitzender eines weiteren Gründungsausschusses für die Universitätsneugründung in Bremen, der allerdings 1970 scheiterte. Erst nach einigen Jahren in der Schweiz kehrte Killy 1978 nach Niedersachsen zurück, wo er Direktor des Forschungsprogramms der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel wurde, die seit Ende der 1960er Jahre unter der Leitung Paul Raabes durch große Investitionen der Stiftung Volkswagenwerk zur Forschungsbibliothek für Mittelalter und Frühe Neuzeit ausgebaut worden war. 15 Jahre nach Killys Antrag bei der Stiftung war man gewissermaßen erneut zusammengekommen und Killy erhielt dank der VW-Mittel die Möglichkeit, am Ende seiner akademischen Laufbahn fernab des universitären Massenbetriebs in Ruhe zu forschen, durchaus ähnlich seinem 1963/64 entworfenen Wunschbild.
77 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 311.
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Eine besondere Pointe des Antrags bei der Stiftung Volkswagenwerk liegt aus heutiger Sicht darin, dass sich mit Killy und Schelsky hier zwei Personen trafen, die als Personen für die unterschiedlichen Pole der Neugründungsideen in den 1950er und 1960er Jahren standen: Killy hatte sich Anfang der 1950er zunächst intensiv um die Gemeinschaftshausidee bemüht und entsprechende Experimente an der Universität Tübingen und an der Freien Universität Berlin mitbetrieben, die nun nach mehr als einem Jahrzehnt des Engagements nicht mehr im Zentrum seines Interesses standen. Die Gemeinschaft, die ihm jetzt vorschwebte, bestimmte sich nur noch aus Gelehrten, aber nicht einmal mehr in gemeinsamer Zielverfolgung, sondern lediglich in gemeinsamer Nutzung einer Infrastruktur zur ungestörten Einzelforschung. Schelsky dagegen hatte Bemühungen um eine Stärkung von Bildungs- und Erziehungsfunktionen der Universität über Experimente akademischer Gemeinschaften aus Lehrenden und Lernenden schon Ende der 1950er Jahre nichts abgewinnen können. Er war an Gemeinschaft vor allem in der Hinsicht interessiert, als Wissenschaftler unterschiedlicher Fächer auf Zeit zusammenkommen sollten, um im Austausch miteinander die universitäre Forschung voranzubringen. Die Vorschläge, die er dazu zwischen 1960 und 1964 unterbreitet hatte, pendelten zwischen außeruniversitärer Lösung und universitärer Lösung in einem differenzierten Hochschulsystem hin und her: 1964 wurde aus der »theoretischen Universität« ein »Institut für theoretische Forschung« ohne Studenten. Die 1965 schließlich entwickelte konkrete Planung versuchte dann beide Ansätze wieder zu vereinbaren.
4.2.4 »Planungsauftrag« für die neue Universität in Ostwestfalen Nachdem seit Anfang 1964 die politischen Voraussetzungen für eine dritte Universitätsneugründung in Nordrhein-Westfalen geschaffen worden waren, wollte Kultusminister Mikat als nächsten Schritt und nach dem Vorbild der bisherigen Neugründungen auch für die neue Hochschule in Ostwestfalen einen Gründungsausschuss einsetzen. Schon frühzeitig hatte er für die Gründung in Ostwestfalen jene in Konstanz als Vorbild genannt. Dies bezog er weniger auf die landschaftliche schöne, aber innerhalb des jeweiligen Landes etwas abseitige Lage, sondern auf das kleine Format mit der Beschränkung auf drei Fakultäten und möglicherweise auch auf einen gewissen Reformanspruch. Die früh hergestellte Parallele zu Konstanz ließ es Mikat ratsam erscheinen, die Erfahrungen des dortigen Gründungsausschussvorsitzenden Hess auch für den Ausschuss der ostwestfälischen Neugründung nutzbar zu machen. Während Mikat bei einem der Vorgespräche über den neuen Gründungsausschuss Hess als eine der ersten Personen ins Spiel brachte, will, wie bereits kurz erwähnt, nach eigener Darstellung Otto Wegner, der Leiter der Hochschulabteilung in Mikats Ministerium, den Minister auf Helmut Schelsky hingewiesen
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haben.78 Aus Sicht der Landesregierung besaß der Soziologe den Vorzug, nicht nur ein Interesse an Hochschulreform und Neugründungen bekundet zu haben, sondern als Professor an der Westfälischen Universität Münster auch noch »Landeskind« zu sein. Zudem war Schelsky bei den vorangegangenen Gründungsausschüssen in Bochum, Bremen, Dortmund, Konstanz und Regensburg trotz vielfältiger Wortmeldungen zum Thema noch nicht als Mitglied verpflichtet worden. So sprach Mikat den Münsteraner Soziologen bei einer Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen – der heutigen Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste – in dieser Sache an. Und als sich im Februar 1965 diese Chance bot, an der Neugründung einer Universität mitzuwirken und nun – anders als beim Antrag bei der Stiftung Volkswagenwerk – auch im Auftrag des Staates tätig zu werden, griff Schelsky entschlossen zu. Schelsky war innerlich beweglich genug, nach dem Antrag der Center for advanced studies bei der Stiftung Volkswagenwerk nun seine Reformideen wieder auf eine neue und neuartige Universität zu konzentrieren. Mit seinem Buch zur Hochschulreform und deren Geschichte von 1963 sowie dem Stiftungsantrag von 1964 war er ausreichend präpariert, um – wie sich nun zeigte – sehr schnell erste Ideen formulieren zu können.
Schelskys Bedingungen Nachdem Schelsky gegenüber Mikat grundsätzliches Interesse bekundet hatte, erhielt er Anfang Februar 1965 einen Anruf von Wegner, der ihm im Auftrag des Ministers den Vorsitz des Gründungsausschusses ganz förmlich antrug.79 Schon wenige Tage nach Wegners Anruf überreichte Schelsky Mikats Mitarbeiter eine zweiseitige Skizze mit Vorstellungen zur Universitätsneugründung und den Bedingungen seines Engagements. Keine 14 Tage später sprach Schelsky ausführ 78 Im August 1964 hatte der Generalsekretär der Stiftung Volkswagenwerk, Gotthard Gambke (1908–1988), Mikat wissen lassen, dass namhafte Gelehrte mit dem Vorschlag an die VW-Stiftung herangetreten seien, im Bereiche der Kultur- und Sozialwissenschaften neue Formen der Forschung zu entwickeln und zu diesem Zweck Forschungszentren für kulturund sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung zu gründen. Er hatte Mikat alle Antragsteller – einschließlich Schelsky, allerdings diesen nicht in herausgehobener Rolle – genannt, aber auf den Hinweis verzichtet, dass die Stiftung die Sache selbst wesentlich mitbetrieben hatte. Siehe Schreiben Gotthard Gambkes an Kultusminister Mikat vom 13.8.1964 mit dem Antrag als Anlage, in: UABI KP, #5. 79 Schelsky hat über seine Termine in Sachen Universitätsgründung in Ostwestfalen von Januar 1965 bis Januar 1966 eine Liste geführt. Das Gespräch mit Mikat fand nach seiner Notiz am 20.1.1965 statt und das Telefonat mit Wegner am 8.2.1965. Ein Vermerk Wegners datiert den Auftrag Mikats zum Anruf bei Schelsky geringfügig später, nämlich auf den 10. Februar. Schelskys Terminliste vom 20.1.1965 bis 8.1.1966 in: Zur Universität Ost-Westfalen, in: UABI NL Schelsky, 1. Der Vermerk Wegners zu Besetzungsvorschlägen und Auftrag zur Kontaktaufnahme mit Schelsky findet sich mit abweichender Datierung in: Vermerk Betr.: Gründungsausschuß für eine ostwestfälische Universität, 10.2.1965, in: UABI KP #7.
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lich mit dem Minister selbst, wozu er zwei weitere kurze Dokumente verfasst hatte. Nach dem Gespräch am 26. Februar 1965, das nur vier Wochen nach dem ersten Kontakt des Ministeriums zu ihm erfolgte, notierte Schelsky für sich: »Vortrag […] ›Grundzüge‹ und ›Skizze des Aufbauplanes‹. Volle Zustimmung von Mikat. Gibt mir freie Hand. Planungsauftrag verabredet.«80 An welche Bedingungen hatte Schelsky seine Mitarbeit gebunden und welche Vorschläge hatte er Mikat für die Neugründung unterbreitet? Drei von Schelsky mit seiner Schreibmaschine eng beschriebenen je doppelseitige Dokumente bildeten die Grundlagen seiner Gespräche mit dem Kultusministerium im Februar 1965 und zugleich den Kern seiner Konzeption für die spätere Universität Bielefeld, die er in den folgenden Monaten dann weiter ausarbeitete.81 Im ersten der drei Dokumente formulierte Schelsky als Antwort auf das Angebot des Gründungsausschussvorsitzes zunächst eine Reihe an Bedingungen, die er als »Grundsätze der Hochschulgründung in Ostwestfalen« betitelte. Schelsky definierte darin sein Verständnis eines Gründungsausschusses: »Charakter und Gelingen einer Hochschulneugründung entscheiden sich mit der Zusammensetzung der ›Gründungsgruppe‹. Diejenigen, die die Hochschule durch ihre geistige Leistung aufbauen sollen, müssen bereits die Gründungsgruppe bilden. Kern der Gründungsgruppe sollten 6–10 Personen bilden, die den Elan haben, eine neu artige Hochschule zu gestalten und die durch ihre Person und ihr Ansehen andere Wissenschaftler anziehen. Diese müssen auf Grund einer vorbereiteten attraktiven Konzeption der Hochschule und durch sehr günstige Arbeitsbedingungen bereits für die Teilnahme an der Gründungsgruppe unter der Voraussetzung gewonnen werden, dass sie im Prinzip bereit sind, in die neue Hochschule einzutreten.«82
Wer Schelskys Beiträge zum Thema Neugründungen verfolgt hatte, kannte einen Teil dieser Einschätzung bereits. Die Verknüpfung des persönlichen Schicksals mit dem der neuen Institution, so hatte Schelsky schon im Oktober 1961 in der FAZ in Bezug auf Bremen und Bochum behauptet, würde eher zum Erfolg führen, als die damals verfolgte Vorbereitung einer Neugründung durch ein von der Umsetzung entkoppeltes Gremium wie den Wissenschaftsrat oder weitgehende inhaltliche Vorgaben durch die Ministerien: Damals hatte Wenke als Ausschussvorsitzender in Bochum eine Skizze aus dem Kultusministerium des Landes erhalten, die im Wissenschaftsrat weiterentwickelt worden war, und 80 Schelskys Notiz zum Treffen mit Mikat am 26.2.1965: Zur Universität Ost-Westfalen, in: UABI NL Schelsky, 1. 81 Es handelt sich um 3 von 44 römisch durchnummerierten, vor allem von Schelsky verfassten Dokumenten zur Bielefelder Gründung: UABI NL Schelsky, 1: Dok. I: Grundsätze zu einer Hochschulgründung in Ost-Westfalen, 14.2.1965; Dok. II: Grundzüge einer neuen Universität, 24.2.1965 sowie Dok. III: Skizze eines Aufbauablaufes, 24.2.1965. 82 Dok. I: Grundsätze zu einer Hochschulgründung in Ost-Westfalen, 14.2.1965, in: UABI NL Schelsky, 1.
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Weber als Beratungsausschussvorsitzender in Bremen das ausführliche Gutachten Rothes vorgefunden. In der Zwischenzeit waren für die Neugründungen Konstanz und Regensburg ähnliche Vorgaben erfolgt: Hess hatte eine Denkschrift der Landesregierung aus den zugrunde liegenden Gutachten erhalten und für Regensburg hatte gar ein politisch dominiertes Gremium erste Grundlagen definiert. Vor diesem Hintergrund erneuerte Schelsky seine erstmals in der FAZ vorgetragene Kritik und formulierte nun gegenüber dem nordrhein-westfälischen Kultusministerium deutlich, wofür er sich nicht einspannen lassen wollte: »Kein anerkannter Gelehrter wird bereit sein, eine neue Hochschule aufzubauen, deren Grundstruktur von anderen entworfen ist und der gegenüber er nur Ausführender eines fremdbestimmten Planes sein kann.«83
Nach Schelskys unveränderter Vorstellung von einer zurückgenommenen Rolle der staatlichen Seite sollte das Kultusministerium also auch für die ostwestfälische Neugründung keine detaillierten Strukturvorgaben machen. Er warb vielmehr für eine Gründungsgruppe, die sich um ein von ihm erstelltes Konzept versammeln und als ein Team mit einem besonderen Gruppenziel verstehen würde und aus der jedes einzelne Mitglied wiederum für einen bestimmen Fachkomplex teambildend wirken würde. Dazu benötigte man seines Erachtens die große Reputation wissenschaftlich anerkannter Gelehrter. Und um entsprechende Wissenschaftler in Zeiten des Ausbaus der bestehenden und der Gründung mehrere neuer Universitäten gewinnen zu können, brauchte es attraktive Bedingungen. Nicht zuletzt deshalb wollte Schelsky die Konzeptentwicklung von den organisatorisch-technischen Planungs- und Aufbauarbeiten trennen – worunter er Standortwahl, Bauplanung, Rechtsfragen und auch das Bibliothekswesen zählte – und für die Bearbeitung dieser Themen einen eigenen Beauftragten und einen Sachverständigenbeirat einsetzen. Dieser Beirat sollte Ministerium und Gründungsgruppe entsprechend beraten, wohingegen die Gründungsgruppe vor allem die wissenschaftliche Struktur der Hochschule bestimmen und Berufungsvorschläge unterbreiten würde. Schelskys bündelte seine Vorstellungen schließlich in folgendem knappen »Vorschlag« an das Ministerium: »Keine unmittelbare Einsetzung eines Gründungsausschusses, sondern Erteilung eines Planungsauftrages mit dem Ziel, in engster Verbindung mit Minister und Hochschulbehörde a) eine vorläufige Grundkonzeption einer neuen Hochschule zu entwerfen b) und die Verhandlungsgrundlage festzulegen, mit denen dann c) an anerkannte Gelehrte herangetreten werden kann, um sie zum Beitritt zur Gründungsgruppe im eben genannten Sinne zu gewinnen.«84
83 Ebd. 84 Ebd.
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Mit diesen Bedingungen war klar, dass Schelsky nicht nur den Schritt vom Beobachter und Kommentator zum Berater der Landesregierung machen, sondern die inhaltliche Planung zu wesentlichen Teilen übernehmen wollte. Klaus Dieter Bock, der Anfang der 1980er Jahre von Schelsky dessen zentrale Gründungsdokumente für ein schließlich nicht weiter verfolgtes Projekt zur Geschichte der Universität Bielefeld erhalten hatte, formulierte in einer ersten Auswertung dieser Materialien nach Schelskys Tod die These: »Schelsky wollte, so kann man sagen, Gründungsausschuss der Universität Bielefeld sein.«85 Für diese These spricht, dass Schelsky seit 1960 umfangreiche Vorarbeiten geleistet hatte und nun die Grundkonzeption für die von ihm mit auszuwählende Gründungsgruppe schreiben wollte. Andererseits hatte er aber schon 1961 die Gefahr gesehen, dass zu weitgehende Vorfestlegungen sich negativ auf Motivation und Engagement der Gruppe auswirken könnten, und entwickelte daher seine knappe Grundkonzeption im Lauf des Jahres 1965 in Gesprächen mit den einzelnen, ins Auge gefassten Gründungsteammitgliedern weiter zu einem ausführlichen Text, der vielerlei Präzisierungen und manche Veränderungen enthielt. Schelsky nahm am Anfang der Bielefelder Konzeption eine in Teilen vergleichbare Rolle wahr, wie sie Raiser für Konstanz innehatte: Er lieferte dem Ministerium Ideen für die Struktur und Vorschläge für die Auswahl von Wissenschaftlern, doch anders als bei der Vorgeschichte der Konstanzer Universität traf Schelsky in Düsseldorf nicht auf einen Ministerialapparat, dem die Neugründung einer Universität noch unbekannt war und der sehr zögernd mit dieser Herausforderung umging. Mikat und seine Mitarbeiter hatten sich schon am Großprojekt Bochum und am dem zweiten in Dortmund erproben können, doch inhaltlich schienen sie trotzdem keine Sparringspartner für Schelsky abgeben zu können oder zu wollen. So wie das Stuttgarter Ministerium sich nicht mit den Gutachtern über die Vorschläge diskutierte, sondern lediglich einen Konsens zwischen ihnen herzustellen suchte, so kam es auch mit dem Düsseldorfer Ministerium zu keinerlei inhaltlicher Diskussion über Schelskys Ideen, die sich in Dokumenten niedergeschlagen hätte.
85 Die Terminliste Schelskys für das Jahr 1965 und die von ihm damals erstellten Dokumente hat Klaus Dieter Bock für ein seit 1982 geplantes Projekt zur Aufarbeitung der Bielefelder Universitätsgründung zusammengetragen. Aus dem Projekt ging neben der Sammlung von Materialien, die später dem Bielefelder Universitätsarchiv übergeben und von dessen Archivar Martin Löning erschlossen wurden, nur eine erste Publikation hervor, die in einer Gedenkschrift nach Schelskys Tod veröffentlicht wurde: Bock, Helmut Schelsky.
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Die ersten Konzeptskizzen Direkt nach Abfassung der »Grundsätze« übergab Schelsky seine Bedingungen an Wegner und notierte sich als Fazit des Gesprächs: »›Grundsätze‹ besprochen. Will Ministervortrag«.86 Schelskys Vorstellungen hatten bei Mikats Abteilungsleiter offensichtlich keine Begeisterungsstürme ausgelöst und der Abteilungsleiter war aus Schelskys Sicht wohl auch nicht satisfaktionsfähig. Wegner hatte im Anschluss an das Gespräch mit Schelsky für seinen Minister vorsichtig notiert: »Die Konzeption entspricht nicht in allen Punkten jener, die der Herr Minister bereits mündlich dargelegt hat.«87 Wegners Unsicherheit über seinen Handlungsspielraum und Schelskys Vehemenz führten schnell zum Gespräch Mikat-Schelsky, einem von rund 70 Terminen, die Schelsky sich zur Vorbereitung der Bielefelder Gründung vom 20. Januar. 1965 bis zum 7. Januar. 1966 notierte. Als Vorbereitung für das Treffen mit Mikat formulierte er zehn Tage nach den »Grundsätzen« seine »Grundzüge einer neuen Universität« sowie die »Skizze eines Aufbauablaufes«.88 Am selben Tag, auf den Schelsky Ende Februar 1965 diese knappen Dokumente datierte, erschien im »Spiegel« überdies ein erster Artikel zur neuen Universität in Ostwestfalen. Das Wochenmagazin berichtete über die Konkurrenz von wenigstens sieben Städten um die neue Hochschule und um den Wettstreit mehrerer Politiker um den Gründungsimpuls selbst: »Das Kind wird frühestens 1970 geboren werden. Doch fünf Jahre zuvor schon wetteifern potentielle Väter und Zieh-Mütter darum, den derzeitigen Embryo ihr Eigen zu nennen: eine neue Universität in Ost-Westfalen.«89
Über die Ausrichtung wusste der »Spiegel« bereits zu melden, »klein und fein« würde die Universität mit 3.000 Studienplätzen für Studenten höherer Semester werden: »Aus der Forschungsuniversität sollen relativ mehr Professoren hervorgehen als aus anderen deutschen Universitäten.« Mit der weiteren Neugründung, hieß es ferner, würde Nordrhein-Westfalen nun Baden-Württemberg als bislang hochschulreichstes Land der Bundesrepublik überholen. Aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ hörte sich dies sehr nach den ursprünglichen Planungen für Konstanz an, wobei die Ergebnisse des dortigen Gründungsausschusses zum Zeitpunkt des »Spiegel«-Artikels noch nicht vorlagen. Schelsky jedenfalls machte sich daran, ein vom Konstanzer Projekt unterscheidbares Konzept zu entwerfen, das von den Gutachtern des VW-Antrags 86 Schelskys Terminliste vom 20.1.1965 bis 8.1.1966 in: Zur Universität Ost-Westfalen, in: UABI NL Schelsky, 1. 87 Vermerk Abteilungsleiter I für Minister Mikat – Düsseldorf, den 17.2.1965, Betr.: Gründungsausschuß für eine ostwestfälische Universität, in: UABI KP #7. 88 Beide Dokumente in UABI KP #7. 89 Westfalen-Universität. Pudding und Ballon, in: Der Spiegel, 24.2.1965, S. 70 f.
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immer wieder als Konkurrenz bezeichnet worden war. Schelskys »Grundzüge einer neuen Universität« versammelten Vorschläge zu den vier Bereichen Forschungsreform, Studienreform, Selbstverwaltung und Praxis/akademische Berufsfortbildung, wobei der Schwerpunkt insofern deutlich gesetzt war, als er der »Forschungsreform« die ganze erste Seite und den übrigen drei Themen zusammen die zweite widmete. Dies entsprach dem Kern der Vorschläge für die »theoretischen Universität« 1963 und der Center for advanced studies 1964. Was waren die zentralen Vorschläge für die Neugründung und in welchen Etappen entwickelte Schelskys seine früheren Ideen weiter? Als ersten von drei Punkten der für ihn zentralen »Neuordnung von Forschung und Lehre (Forschungsreform)« führte Schelsky den Abschied von »Zwerginstituten« in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu Gunsten von »leistungskräftigen, umfassenden Forschungsgroßinstituten« mit »gemeinsamer Forschungsplanung u. Verwaltung aller Ordinarien einer Abteilung« an. Nach diesem Modell, bei dem begrifflich zumindest Anleihen beim neuen Terminus der naturwissenschaftlichen Großforschung erfolgten, praktisch aber vermutlich eher bei Schelskys Erfahrungen mit der Sozialforschungsstelle in Dortmund, sollte eine Fakultät für Rechts- und Staatswissenschaften nur drei Forschungsinstitute für die drei Abteilungen Rechtswissenschaften, Ökonomie und Soziologie beinhalten, die untereinander auch gemeinsame Forschungsvorhaben durchführen sollten. Der zweite Vorschlag der Forschungsreform war der Kern seines ersten Konzeptes für den Antrag bei der VW-Stiftung vom Januar 1964, und stellte neben die kooperierenden Forschungsgroßinstitute neuartige »Institutionen Interdisziplinärer Zusammenarbeit«. In drei bis vier »Zentren für Grundlagenforschung‹ (Centers for Advanced Studies)« müsse die »gemeinsame Arbeit an übergreifenden theoretischen Konzeptionen« verfolgt werden. Damit kam Schelsky also auf sein ursprüngliches Konzept für die VW-Stiftung und nicht auf den schließlich beantragten Kompromiss einer Dachorganisation für zwei unterschiedliche Center – ein geistes- und ein sozialwissenschaftliches – zurück. Als dritten und letzten Grundsatz der Forschungsreform nannte Schelsky die Verfolgung der drei Aufgaben Lehre, Spezialforschung und interdisziplinäre Forschung in »klar getrennten zeitlichen Intervallen«, in denen sich die Gelehrten jeweils ganz auf eine der drei Aufgaben konzentrieren könnten. Dieser dritte Vorschlag war, wie auch der zu den Forschungsgroßinstituten, in Schelskys bisherigen Äußerungen zum Thema nicht direkt enthalten, verdankte sich aber scheinbar der Arbeit am VW-Antrag, so wie diese Aktivität wiederum teilweise eine Reaktion auf die entstehende Großforschung und außeruniversitäre Forschungslandschaft war. Neidische Reaktionen auf den Intervallvorschlag wohl ahnend, verwies Schelsky darauf, dass der jährliche Wechsel von Lehre mit Grundlagenforschung oder Spezialforschung kein Luxus, sondern eine Verpflichtung sei, weil das Forschungsjahr an die Mitwirkung der Professoren an einem festen Forschungsprogramm gebunden wäre. Etwas Freiraum für nicht-kooperative sah
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er auch noch vor, denn »zur privaten wissenschaftlichen Verwendung freistehen« sollte zwar nicht jedes zweite, aber immerhin noch jedes siebte Semester. Als zweitem Themenfeld widmete sich Schelskys Papier Lehre und Studium. Auch für die »Neuzuordnung von Hochschullehrer und Studenten (Studienreform)« nannte Schelsky drei zentrale Reformpunkte: Erstens forderte er den Abschied von den »Stoffvorlesungen« als »Massenveranstaltungen ohne Aufgliederung der Studenten« und die Stärkung von Übungen und Seminaren, ergänzt durch ein »stärker angeleitetes und kontrolliertes eigenes Lese- u. Arbeitsstudium der Studenten (vgl. engl. u. amerikan. Methoden)«. Zweitens brachte er die im Modell der »theoretischen Universität« 1963 schon hergestellte Parallele zum Klassenprinzip der Kunsthochschulen wieder ins Spiel, jetzt mit dem Motto »Jeder Professor ein Tutor«. Sein Vorschlag einer Gruppierung von je 15 bis 20 Studierenden in einer »Betreuungsgruppe« setzte drittens voraus, dass es einen Numerus Clausus und ein Zulassungsverfahren für die neue Einrichtung gebe. In diesem Zusammenhang riet Schelsky jedoch von einer Beschränkung auf fortgeschrittene Studierende ab, wie sie in Raisers ersten Plänen einer Studienhochschule und danach zunächst auch in der Konstanzer Planung verfolgt worden war: »Dieses Vorrecht einer ›Forschungshochschule‹, nur vorgebildete Studenten aufzunehmen, würde wahrscheinlich von den anderen Hochschulen am stärksten übelgenommen.«90 Schelsky war der Meinung, dass man sich eine solche Auseinandersetzung deshalb schon sparen könnte, weil man die Anteile der jüngeren und älteren Studenten über ein Zulassungsverfahren eleganter und dennoch effektiv steuern könnte. Das dritte Thema, die »Neuordnung der Selbstverwaltung«, bezeichnete Schelsky gegenüber Forschungsreform und Studienreform offen als »wenig wichtiges Problem«. Es war für ihn mit der »Semiprofessionalisierung der Spitzen« und der »Kollegiale[n] Auffüllung der Selbstverwaltungsstäbe« zu erledigen. Der einzelne Rektor sollte eben länger amtieren und mehr Befugnisse erhalten, gleichzeitig aber auch mehr Prorektoren zu Seite gestellt bekommen. »Auffüllung der Selbstverwaltungsstäbe« hieß hier also noch keinesfalls Demokratisierung der Gremien im Sinne einer breiteren Beteiligung der Statusgruppen Nicht-Ordinarien, Assistenten und Studenten oder gar nicht-wissenschaftlichen Mitarbeitern. Interessierter war Schelsky wiederum am vierten und letzten der von ihm angesprochenen Themenbereiche: »Neues Verhältnis zur Praxis (Reform der akademischen Berufsfortbildung)«. Hierunter galt es für ihn »die Fortbildung der akademischen Berufe als eigenes Ziel der Hochschule [zu] proklamieren«, so dass die Praktiker über den wissenschaftlichen Fortschritt in ihren Fächern informiert blieben. Als Zielgruppe dieses neuen Angebots sah er einerseits die Absolventen der Universität, so dass eine »Dauerzugehörigkeit der Akademiker 90 Helmut Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, in: UABI KP #7.
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zu ›ihrer‹ Universität« geschaffen würde, und andererseits die Umwelt Ostwestfalen, mit der die neue Universität so wohl am schnellsten in einen intensiveren Kontakt treten könnte – also gewissermaßen Alumni und Region. Auch für diese Vorschläge finden sich in den früheren Texten Schelskys zum Thema noch keine vergleichbaren Äußerungen, doch als Soziologe war er nicht zuletzt über die Auftragsforschungen in der Sozialforschungsstelle Dortmund permanent mit Transferfragen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beschäftigt und an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft hatte er Studierende des zweiten Bildungswegs kennengelernt. Die Themen Weiterbildung, Alumniarbeit und Transfer waren jedoch im zeitgenössischen Hochschulreformdiskurs randständig, auch wenn so genannte »Altakademiker« schon im Blauen Gutachten von 1948 unter der Rubrik »Erwachsenenbildung« als zu erschließende Zielgruppe der Universitäten beschrieben worden waren.91 Was den zeitlichen Rahmen der Neugründung betraf, hielt Schelsky den Aufbau binnen acht Jahren für möglich – mit Lehrbetrieb schon ab 1969. Davon setzte er lediglich ein Jahr für die Arbeit der Gründungsgruppe, drei für den Aufbau der Forschungsinstitute und der Center for advanced studies und weitere vier für den technischen Aufbau an und zumindest was den Start des Lehrbetriebs anbelangte, wurde der Termin 1969 später tatsächlich gehalten. In der Skizze seines Ablaufplans kam Schelsky ein weiteres Mal auf die Bedeutung der Gründungsgruppe zu sprechen. Aus ihr wollte er später alle zentralen Leitungspositionen besetzen – Rektor, Prorektoren und Dekane sowie die Direktoren der Forschungsinstitute und der Institute für Grundlagenforschung – weshalb er sich für die Mitglieder gleichzeitig wissenschaftliche Reputation und Hochschulerfahrung wünschte. Weil er aber davon ausging, dass der vom Wissenschaftsrat 1960 angeschobene Ausbau der Universitäten und die parallel erfolgten Neugründungen eine wahre Berufungswelle verursachten, die zum Start des Lehrbetriebs in Ostwestfalen um 1970 »die schlechteste Personalsituation zum Aufbau einer neuen Universität geschaffen haben« würden, wollte er so bald wie möglich eine Gruppe von »anerkannten oder wenigstens vielversprechenden Gelehrten« zusammenstellen, die im weiteren Verlauf »attraktiv und niveausichernd« wirken könnte. Diese Gruppe hochrangiger Wissenschaftler könnte man der Neugründung, so Schelskys Kalkül, nur dann sichern, wenn man ihnen ein attraktives Angebot machte, nämlich sie die drei bis fünf Jahre bis zur Eröffnung in Ruhe forschen ließe und während dieser Zeit nicht mit technisch-organisatorischen Aufbauarbeiten belästige. Dieser Vorschlag – die Aufnahme in den Gründungsauschuss quasi als Ruferteilung handzuhaben – war ein durchaus kreativer Umgang mit Mikats Vorgabe, die neue Universität aufgrund allmählich beschränkter finanzieller Ressourcen mit einem zeitlichen Vorlauf zu planen, indem Schelsky die Wartezeit als Forschungszeit anzubie 91 »Blaues Gutachten«, in: WRK, Dokumente zur Hochschulreform 1945–1959, S. 359–364.
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ten vorschlug. In den Worten der VW-Gutachter war das gewissermaßen eine zeitlich begrenzte »Fluchthilfe« aus dem expandierenden Hochschulsystem mit seinen rasch zunehmenden Lehr-, Prüfungs- und Verwaltungsaufgaben. Eine erfolgreiche und die beteiligten Gelehrten nicht übergebührlich belastende Gründung wollte Schelsky durch eine Reihe weiterer Vorschläge erleichtern.92 Für alle organisatorischen Fragen sollte das Ministerium zunächst einen erfahrenen Universitätskanzler gewinnen. Diesen Hinweis verdankte er offenbar dem Bochumer Gründungsausschussvorsitzenden und -rektor Wenke, der zu Schelskys Hamburger Zeiten dort Wissenschaftssenator und anschließend sein Kollege an der Hamburger Universität war. Dieser war vom Ausmaß der organisatorischen Fragen, die es für ihn zu Bochum mit dem Ministerium zu klären galt, offenbar entnervt.93 Auch die Verlegung der von ihm seit 1960 geleiteten Sozialforschungsstelle von Dortmund nach Ostwestfalen hielt er für eine Möglichkeit, schnell einen nutzbaren Forschungsinstitutskern verfügbar zu haben. Schließlich kam Schelsky – offenbar erneut mit Blick auf die endlichen finanziellen Ressourcen des Landes für Hochschulausbau und -neugründungen – nochmals auf seinen Antrag bei der Stiftung Volkswagenwerk zurück und schlug vor dem Hintergrund der VW-Gutachterkritik vom Vorjahr nun vor: »Dieses Projekt [die Centers for Advanced Studies, M. M.] könnte man zusammen und parallel mit Konstanz durchführen, etwa so, dass Konstanz ein ›Center‹ mit Schwergewicht von Geistes- und Sprachwissenschaften, die ost-westfälische Universität ein ›Center‹ mit Schwergewicht für Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einrichtet.«
Der Konstanzer Ausschussvorsitzende Hess habe, so bemerkte Schelsky, diesbezüglich sein Interesse bereits bekundet. Hingegen vermied er es in diesem Zusammenhang, auf die Konkurrenz mit Dahrendorf um den Schwerpunkt So zialwissenschaften hinzuweisen und nahm diesen Fächerbereich für sein eigenes Projekt in Ostwestfalen in Anspruch. Eine Anschubfinanzierung der Center samt Bauten durch die Stiftung Volkswagenwerk sollte es ermöglichen, schon vor 1970 auf neuer Basis mit interdisziplinären Forschungsarbeiten in Bielefeld anfangen zu können. Auch wenn Schelskys Vorschläge auf knappem Raum notiert waren, so enthielten sie doch eine ganze Reihe weitgehender Forderungen und Vorschläge, von denen mehrere in seinen bisherigen Äußerungen zur Hochschulreform und 92 Die Folgenden Konzeptelemente entsammen dem zweiten Dokumententeil »Skizze eines Aufbauablaufes«, in: UABI KP #7. 93 So Schelsky im aufgezeichneten Gespräch mit Klaus Dieter Bock bei der Übergabe von Schelskys die Gründung der Universität Bielefeld betreffenden Akten an Bock am 20.1.1982, UABI Gespräch Schelsky bei Aktenabholung, 20.1.1982, Kassette 2.
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institutionellen Neugründungen noch nicht enthalten gewesen waren, sich aber durchaus Inspirationen aus der Arbeit am VW-Antrag verdankten. Von Interesse ist hier aber auch, welche Themen in Schelskys ersten Skizzen für die Neugründung in Ostwestfalen gar nicht auftauchten. Mit Mikats Vorgabe einer Drei-Fakultäten-Universität hatte Schelsky offenbar keine Probleme, denn weder sprach er sich hier für die Integration der Ingenieurwissenschaften noch für eine möglichst breite Abdeckung aller Fächer in der neuen Hochschule aus, den beiden zentralen Zielen der Bochumer Neugründung. Mikats möglicherweise weniger inhaltlich als finanziell motivierter Wunsch nach einer engen Fächerbeschränkung an der neuen Universität entsprach Schelskys Vorstellungen von einer Differenzierung im Hochschulsystem mit unterschiedlich profilierten Universitäten. In Übereinstimmung mit seinen früheren Äußerungen zum Thema enthielten Schelskys Skizzen vom Februar 1965 außerdem keinerlei Bezüge zu den Themenfeldern Campusanlage und Gemeinschaftsförderung mittels besonderer baulicher Anlage der Universität oder gar neuen Formen studentischen Zusammenlebens. Die Bauplanung, darauf verwies er sogar konkret, war seines Erachtens eine Aufgabe der technisch-organisatorischen Planung und keine, mit der sich eine Gruppe an der Intensivierung der universitären Forschungsmöglichkeiten interessierter Wissenschaftler beschäftigen müsse. Zu den vielfältigen Vorschlägen Schelskys vom Februar 1965, die also einige seiner bisherigen Ideen, daneben aber auch neue Vorschläge enthielten, ist keine Reaktion Mikats überliefert, die sich mit den Vorschlägen im Einzelnen auseinandersetzte oder diese auf Passfähigkeit mit eigenen Vorplanungen abglich: Kein Kommentar dazu, was den Wissenschaftler Mikat überzeugte, dem Politiker Mikat aber undurchführbar schien. Überliefert ist lediglich Schelskys im Anschluss an das Gespräch verfertigte Notiz: »volle Zustimmung von Mikat«. Der Minister ließ den künftigen Ausschussvorsitzenden erst einmal gewähren und sah sich nicht herausgefordert, dessen Enthusiasmus zu bremsen. Warum auch, denn intervenieren konnte das Ministerium bei Nichtgefallen der Pläne ja auch später noch.
4.3 Die Arbeit der Gründungsgremien 4.3.1 Auseinandersetzungen um die Gründungsgruppe Wer nahm mit Schelsky Einfluss auf die Konzeption der Bielefelder Neugründung und wie wurden die Personen ausgewählt? Seit Ende Januar 1965 hatte sich Mikats Ministerium mit der Besetzung eines beratenden Gründungsausschusses für die Neugründung in Ostwestfalen beschäftigt. Dokumentierte Auswahlkriterien des Ministeriums waren dabei die fachliche Passung entsprechender Wissenschaftler auf eine Drei-Fakultäten-Universität aus Rechts- und Wirt-
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schaftswissenschaften (statt Sozialwissenschaften in Konstanz), Philosophie und Naturwissenschaften (wie dort), die Zugehörigkeit zu Universitäten aus Nordrhein-Westfalen für wenigstens die Hälfte des Ausschusses und »eine verhältnismäßig große Zahl jüngerer Gelehrter« gewesen.94 Neben dem Münsteraner Soziologen Schelsky als Vorsitzendem und dem Konstanzer Gründungsausschussvorsitzenden Hess hatte man im Ministerium zunächst acht weitere Professoren ausgewählt, bevor Schelsky dann aber erklärt hatte, selbst eine Liste aufstellen zu wollen: Aus Aachen den Ingenieur Volker Aschoff (1907–1996), der dort Rektor und als solcher auch mit dem Aufbau einer Philosophischen Fakultät an der Technischen Hochschule beschäftigt war, aus Bonn den Mathematiker Friedrich Hirzebruch (1927–2012), den Rechtswissenschaftler Jürgen Salzwedel und den Germanisten Karl Stackmann (1922–2013) aus Köln, aus Münster den Rechtswissenschaftler Ernst-Joachim Mestmäcker (*1926), aus Köln den Anglisten Ewald Standop (*1921) und den Generalsekretär des Wissenschaftsrates Friedrich Schneider. Außerdem kamen aus Saarbrücken der Historiker Konrad Repgen – offenbar auf Wunsch Mikats noch ergänzt, da er zur Vorauswahl noch handschriftlich hinzugefügt wurde – und schließlich auf Wunsch Schelskys aus dem ersten Gespräch mit Wegner noch der Heidelberger Historiker Werner Conze dazu, der auch im Bochumer Gründungsausschuss saß.95 Dieser Elfer-Rat enthielt mit Blick auf das Kriterium Landeskinder mit Conze, Hess und Repgen sogar nur drei »Exterritoriale«, also nicht an nordrhein-westfälischen Hochschulen tätige Professoren. Der Brief, mit dem Mikat die angedachten Mitglieder des Gründungsausschusses für die Universität in Ostwestfalen zur Mitarbeit einladen wollte, war bereits vorbereitet worden. Doch nach dem Gespräch zwischen Schelsky und Mikat über die Planungsskizze des künftigen Ausschussvorsitzenden stoppte das Ministerium die Ausfertigung der Briefe, weil Schelsky einen eigenen Vorschlag machen wollte. Das Ministerium wartete zunächst ab und gab Anfang März lediglich eine Pressemitteilung heraus, so dass in verschiedenen Zeitungen bald darauf nachzulesen war, der Münsteraner Soziologe Schelsky sei mit der »Vorplanung« der dritten Universitätsneugründung in Nordrhein-Westfalens beauftragt worden.96 Für den eigenen Vorschlag eines Gründungsteams, das nicht nur beratender Ausschuss, sondern personeller Kern der neuen Universität seien sollte, brauchte Schelsky knapp vier Wochen.97 Ende März 1965 schickte er Mikat seine 94 Vermerk Abteilungsleiter I für Minister Mikat – Düsseldorf, den 27.1.1965, Betr.: Gründungsausschuß für eine ostwestfälische Universität, in: UABI KP #7. Parteizugehörigkeiten wurden hier nicht als Kriterium notiert. 95 Entwurf des Schreibens Mikats an die anvisierten Mitglieder des Gründungsausschusses vom 23.2.1965 mit Adressverteiler, in: UABI KP #7. 96 Gutachten über Universität in Westfalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.3.1965. 97 Zu den Auseinandersetzungen von April bis November 1965 vgl. Bock, Helmut Schelsky.
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»Vorschläge zur Errichtung der Gründungsgremien«.98 Bei den »Vorschlägen« handelte es sich zugleich um eine Präzisierung seiner Projektskizze vom Februar. Als drängende Frage stellte er für die organisatorisch-technische Seite der Aufbauplanung, die Schelsky ja von Anfang an nicht übernehmen wollte, nun die Beauftragung des von Mikat für diese Aufgabe vorgeschlagenen Eberhard Freiherr von Medem (1913–1993) voran, der in den Nachkriegsjahren Referent bei der DFG, dann im Düsseldorfer Kultusministerium für die Bochumer Neugründung zuständig und schließlich Bonner Universitätskanzler geworden war. Außerdem warb er eingangs dafür, durch die Beauftragung von Gutachten zum Einzugsgebiet der Hochschule sowie städtebaulichen, regional- und raumplanerischen Standortkriterien rasch eine »Versachlichung« der Standortbestimmung der neuen Universität in Ostwestfalen herbeizuführen, wo sich inzwischen verschiedene Städte in lebhaftem Wettbewerb miteinander befanden. Wie sah Schelskys Vorschlag zur Konstruktion und Besetzung des Gründungsgremiums aus? Sich selbst eingeschlossen nannte Schelsky nicht weniger als 28 Professoren, gruppiert um sieben Forschungsinstitute, die er als Juristische, Ökonomische, Soziologische, Philosophische, Historische, Sprachwissenschaftliche und Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fachgruppen bezeichnete. Von den 28 Professoren stammten immerhin neun aus Schelskys Universität Münster. Gegenüber seinem ersten Entwurf, den er mit der Leitung der Hochschulabteilung im Ministerium vorbesprochen und danach überarbeitet hatte, war Schelskys Liste um 13 Namen geschrumpft, wobei der Anteil der Münsteraner dadurch von rund einem Viertel sogar auf ein Drittel anstieg. Bis auf die Sprach- und Geschichtswissenschaften waren Münsteraner Kollegen Schelskys in allen Fachgruppen vertreten, am stärksten in Rechtswissenschaft, Soziologie und Philosophie, den Fächern also, zu denen er selbst fachlich die engsten Verbindungen hatte. Zudem listete Schelsky außer den Münsteraner Kollegen weitere, ihm gut bekannte Personen auf, beispielsweise Mitantragsteller der Center for advanced studies bei der Stiftung Volkswagenwerk. Den Kuratoriumsmitgliedern der Stiftung hatten Schelsky mit Mestmäcker und Killy wenige Tage zuvor nochmals ihren Antrag erläutert. Und nach der enttäuschenden Aufnahme der Antragsidee seitens des Kuratoriums lag es für Schelsky offenbar nahe, einige an der Sache interessierte nun in die Bielefelder Planung zu übernehmen, wozu neben dem Göttinger Germanisten Killy auch der Mannheimer Soziologe Albert und der Münsteraner Jurist Mestmäcker 98 Grundlage der Vorbesprechung mit der Hochschulabteilung waren zwei Dokumente Schelskys vom 22.3.1965: Dok. V: Angebotsbedingungen für Gründungsgruppe und Dok. VI: Vorschläge zur Errichtung der Gründungsgremien. Der Brief Schelskys an Mikat vom 31.3.1965 mit der überarbeiteten Fassung der Vorschläge (Dok. VII: Vorschläge zur Errichtung der Gründungsgremien) befindet sich mit den vorangegangenen Dokumenten und einem kommentierenden Vermerk der Hochschulabteilung in: UABI KP #7.
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gehörten.99 Von der ersten Liste des Ministeriums blieb dagegen in Schelskys Vorschlag kaum jemand über, nur Mestmäcker, Stackmann sowie der bereits von Schelsky frühzeitig eingebrachte Conze. Zur Mitarbeit im »Gründungsrat« hoffte Schelsky etwas mehr als die Hälfte der 28 Personen überzeugen zu können, wenn er denn – so die Bitte an den Minister – eine Reihe von attraktiven Angeboten machen könnte: Diskussionsgrundlage des Gründungsteams sollte Schelskys Strukturvorschlag aus den Projektskizzen vom Februar sein, wobei er mit den Forschungsinstituten, dem Center for advanced studies (CAS), dem jährlichen Wechsel von Forschung und Lehre sowie der Gruppenbetreuung der Studenten vier Kernpunkte hervorhob, die für forschungsinteressierte Wissenschaftler besonders anziehend erscheinen mussten. Würde das zur Überzeugung noch nicht reichen, wollte Schelsky auf seinen Vorschlag der Entlastung von organisatorischen Aufgaben zurückkommen. Hierzu hatte er bereits eigenwillige Vorschläge gemacht, wie beispielsweise das Kopieren ganzer Bibliotheken statt die Wissenschaftler selbst mit derartigen Dingen wie dem Bibliotheksaufbau zu belasten. Schließlich wollte S chelsky der Gründungsgruppe eine Art garantierte Gehaltserhöhung nach drei und nach sechs Jahren anbieten können. Dieser monetäre Anreiz sollte dazu dienen, die Gründungsgruppe für wenigstens neun Jahre an der neuen Universität stabil zusammenzuhalten, ohne dass separate Bleibeverhandlungen mit ihren Mitgliedern geführt werden müssten oder eben nur diejenigen bessergestellt würden, die eine Rufabwehr verhandeln könnten. Es ging ihm also auch um größtmögliche Kontinuität im Aufbauteam. Die vorgeschlagene Doppelkonstruktion von Gründungsrat und Sachverständigenbeirat aus seinen ersten Skizzen im Februar hatte Schelsky bei der Vorarbeit an seinen Rekrutierungsplänen vorübergehend in Frage gestellt. Im Vorentwurf seiner Vorschläge für Mikat hatte er den von ihm ursprünglich erdachten technisch-organisatorischen Beirat ersetzt durch einen aus Persönlichkeiten der Wissenschafts- und Hochschulpolitik, der zu den Struktur- und Standortvor 99 Im Vorentwurf hatte Schelsky aus der VW-Antragstellergruppe auch noch Peter Lerche, Hans Möller und Franz Wieacker genannt. Die vollständige Liste Schelskys umfasste am 31.3.1965: Juristische Gruppe: Mestmäcker (Münster), Maihofer (Saarbrücken), Böckenförde (Heidelberg), Nörr (Münster), Kaufmann (Bonn), Kimminich (Bochum). Ökonomische Gruppe: Albach (Bonn), Krelle (Bonn), Zeitel (Mannheim). Soziologische Gruppe: Schelsky, Claessens (Münster), Hartmann (Münster/Dortmund), Albert (Mannheim), Ludz (Berlin). Philosophische Gruppe: Marquard (Münster), Lübbe (Bochum), Metz (Münster), Rendtorff (Münster). Historische Gruppe: Conze (Heidelberg), »bei Zusage weitere Benennungen von ihm«, Imdahl (Bochum). Sprachwissenschaftliche Gruppe: Weinreich (Kiel), Eggers (Saarbrücken), Hartmann (Münster), Killy (Göttingen), Karl Stackmann (Köln). »Zu den mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorschlägen sollen von mir erst gefragt werden«: v. Weizsäcker (Hamburg), Wicke (Münster), Aschoff (Seewiesen). In der Juli-Fassung fehlen dann Kaufmann, Kimminich, Zeitel, Albert, Rentdorff, Weinrich, Eggers, Killy, Stackmann, dazu kommen aber Blumenberg, v. Hentig, Jahr, Koselleck, Krauch, Stützl.
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schlägen Stellung nehmen würde. Dafür sah er die Spitzen von Wissenschaftsrat, Westdeutscher Rektorenkonferenz, Deutscher Forschungsgemeinschaft, Kultusministerkonferenz, Bundesforschungsministerium, Volkswagenstiftung und einige weitere Personen vor. Noch mehr als im Konstanzer Fall hätte dieses Vorgehen im Falle einer Umsetzung die ostwestfälische Universität zum gemeinsamen Projekt hochrangiger Akteure im bundesrepublikanischen Wissenschaftssystem machen können. Doch im endgültigen Vorschlag für Mikat war statt dieses modifizierten Sachverständigenbeirates – der möglicherweise erst unter dem Eindruck des Misserfolges bei der VW-Stiftung entstanden war, wo einflussreiche Fürsprecher offenbar gefehlt hatten – nur wieder die Rede von ausgelagerten technisch-organisatorischen Aufgaben im Sinne des im Februar entworfenen Beirates. Ein Grund hierfür war, dass die Idee eines hochrangigen Beirates nicht das Wohlgefallen der Hochschulabteilung im Ministerium gefunden hatte. Diese hatte scheinbar ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten beschnitten oder die Kulturhoheit des Landes Nordrhein-Westfalen durch die Beteiligung des Bundes gar bedroht gesehen. Jedenfalls wurde Schelskys neue Idee im endgültigen Vorschlag an den Minister durch ein Gutachten des Wissenschaftsrates ersetzt, das Schelsky kurioserweise auch noch selbst zu entwerfen bereit war. Bedenkt man, wie der nordrhein-westfälische Kultusminister Schütz knapp fünf Jahre zuvor noch im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates aufgetreten war und den Gedankenaustausch zum Neugründungsprojekt Bochum gesucht hatte, war das eine deutliche Distanzierung von diesem Gremium und Ausdruck des inzwischen gewachsenen Selbstbewusstseins des Kultusministeriums in Sachen Hochschulneugründungen. Doch selbst nach dem Verzicht auf die Beteiligung hochrangiger externer Akteure war die Hochschulabteilung im Düsseldorfer Ministerium alles andere als begeistert von Schelskys Kreativität in Sachen ostwestfälischer Neugründung. Schelskys Brief an Mikat wurde mit einem äußerst skeptischen Kommentar an den Minister weitergeleitet: »Die Vorstellungen von Herrn Prof. Schelsky lassen eine erschöpfende Stellungnahme nicht zu. In vielen Punkten geben sie subjektive Ansichten wieder, die wahrscheinlich mit der Tendenz unseres Hauses nicht übereinstimmen und auch Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung erwarten lassen.«100
Die Hochschulabteilung unter Wegner machte sich nicht einmal die Mühe, eine Auseinandersetzung im Detail zu führen. Der vorbereitete Antwortentwurf ging zwar auf Schelskys Vorschlag zur Beauftragung von Standortgutachten zustimmend ein, schob dann aber sowohl die formelle Erteilung eines Planungsauftrages an den Soziologen als auch die Klärung der Zusammensetzung des Grün-
100 Vermerk Betr.: Planung der Universität Ostwestfalen, Bezug: Schreiben von Prof. Dr. Schelsky vom 31.3.1965, April 1965, in: UABI KP #7.
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dungsauschusses zunächst um zwei Monate auf. Mikat sah sich nicht veranlasst, eine Korrektur dieses Vorgehens seiner Hochschulabteilung vorzunehmen. Aber Schelsky ließ sich von den vagen Rückmeldungen aus Düsseldorf vorerst nicht irritieren, sondern begann – obwohl bisher weder sein Planungsauftrag formal vereinbart worden war, noch die Angebotsbedingungen oder die Namensliste des nach seiner Vorstellung später zu berufenden Gründungsteams abgesegnet waren – Gespräche mit den vom ihm benannten Personen. Seiner Terminliste zufolge erntete er rasch viele positive Reaktionen, was in Anbetracht der attraktiven Bedingungen, die er sich überlegt hatte, nicht überraschend war. Nach dem Gespräch mit dem Philosophen Hermann Lübbe notierte Schelsky knapp: »begeisterte Zustimmung«. Lübbe war bis zu seiner Berufung nach Bochum 1963 auch Privatdozent in Münster gewesen und wurde zu den Schülern des Münsteraner Philosophen Joachim Ritter gezählt, der wiederum Mitglied der Gründungsausschüsse in Bochum und Konstanz war. Kurz vor dem Gespräch mit Lübbe hatte Schelsky Mitte April bereits den Historiker Werner Conze, den er seit der gemeinsamen Studienzeit in Königsberg in den frühen 1930er Jahren gut kannte, in Heidelberg besucht und anschließend festgehalten: »Scheint mir angebissen zu haben. Versproc[hen], dass er sich Forsch.Institut nach seinem Gusto aufbauen kann.«101 Manche dieser Gespräche führten offenbar zu weiteren Personenvorschlägen für die Gründungsgruppe, auch von Nachwuchswissenschaftlern, mit denen Schelsky seine Liste dann ergänzte. Conze beispielsweise hat wohl seinen damaligen Habilitanden Reinhart K oselleck vorgeschlagen, der sich in Heidelberg mit der modernen Sozialgeschichte beschäftigte und zudem mit der 1963 gegründeten interdisziplinären Forschergruppe »Poetik und Hermeneutik« in Verbindung stand, zu der neben dem »Konstanzer« Jauß auch Hans Blumenberg gehörte, der ebenfalls als »Nachrücker« auf Schelskys Gründungsteamliste kam. Außer den Wunschkandidaten seines Gründungsteams kontaktierte Schelsky laut seiner Terminliste auch wissenschaftspolitische Akteure, um ein Netz an Unterstützern für sein Neugründungskonzept zu knüpfen. Dazu gehörte etwa Ulrich Lohmar (1928–1991), in den frühen 1950er Jahren Mitarbeiter Schelskys an der Universität Hamburg und zeitgleich Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der seit 1957 dem Deutschen Bundestag angehörte, dort seit 1965 dem Ausschuss für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik vorsaß und seinen Wahlkreis passenderweise im Ostwestfälischen hatte. Mit Lohmar, der zwei Jahre zuvor erst noch bei Schelsky promoviert hatte und seitdem an der bildungspolitischen Programmatik der SPD mitgefeilt hatte, tauschte er sich über die mögliche Haltung der SPD zu den Neugründungsideen aus, damit zugleich für den Fall vorsorgend, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung eines Tages nicht mehr CDU-geführt sein würde. Ferner besprach 101 Schelskys Terminliste vom 20.1.1965 bis 8.1.1966 in: Zur Universität Ost-Westfalen, in: UABI NL Schelsky, 1.
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sich Schelsky mit dem Anfang 1965 neu gewählten und auf Raiser folgenden Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Hans Leussink (1912–2008), über die Einschätzung des wissenschaftspolitischen Beratungsgremiums zum ostwestfälischen Neugründungsprojekt, das ja manche Verwandtschaft zu dem Modellvorschlag des Rates aus dem Jahr 1962 für einen besonderen Universitätstyp hatte. Auch die Entwicklung der Konstanzer Pläne, die Schelsky seit dem Antrag bei der Volkswagenstiftung und den damaligen Gutachterreaktionen stärker als Konkurrenz wahrnehmen musste, verfolgte er aufmerksam. Über Bande hatte er davon gehört, dass der Endspurt des Konstanzer Gründungsausschusses nicht spannungsfrei verlaufen war und einige potentielle Mitglieder der Philosophischen Fakultät von Dahrendorfs Insistieren auf der zentralen Stellung der »Erfahrungswissenschaften« nachhaltig verstimmt waren. So vermerkte er nach einem Gespräch mit dem Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl (1925–1988), bis zu seiner Habilitation ebenfalls ein Münsteraner und nun auch Mitglied der Gruppe »Poetik und Hermeneutik« um Jauß und Blumenberg: »Jauß, Gießen (Hessgruppe) opponiert gegen Dahrendorf-Konstanz-Plan; praktisch indirekte Anfrage, ob mitmachen. Bedenken gegen ›Abwerbung‹«. Mit dem Konstanzer Gründungsausschussvorsitzenden Hess persönlich sprach Schelsky dann zwei Wochen, nachdem der Konstanzer Ausschuss seine Ergebnisse an Kiesinger überreicht hatte, und notierte sich anschließend: »Wir stellen große Strukturähnlichkeiten unserer Konzeptionen fest. Vorschlag von mir: offizieller die ›theoretischen Forschungszentren‹ (Center Advanced St.) als ein gemeinsames Projekt anzusehen u. gemeinsam Mittel beim VW-St. Zu beantragen.«
Wie Hess’ eigene Notizen zeigen, sah auch dieser »Übereinstimmung in den grundsätzlichen und elementaren strukturellen Fragen für die beiden Hochschulen«. Als wesentliche Differenz bilanzierte der noch-DFG-Präsident: »Kurzfristige und langfristige interdisziplinäre Projekte sollen offenbar anders als in Konstanz organisiert werden.«102 Und tatsächlich verstärkte Schelsky den Unterschied an dieser Stelle sogar noch, möglicherweise in Folge dieses Gesprächs. Weder zustimmend noch ablehnend hielt Hess den Vorschlag zur gemeinsamen Weiterverfolgung des VW-Antrages fest und wollte sich dazu zunächst mit Besson und Dahrendorf besprechen, ohne dass daraus aber später etwas folgte. Grundsätzlich sah Hess kein Problem darin, dass im Erfolgsfalle von Schelskys Konzeption »Universitäten vom Typus Konstanz nicht nur in einem Exemplar vorhanden seien«. Er resümierte: »Einer gewissen Zurückhaltung von Schelsky glaube ich entnehmen zu können, dass er – bei sehr starker Abhängigkeit von den Konstanzer Vorstellungen – die Originalität der eigenen Konzeption wahren möchte.« 102 Korrespondenz Hess, Aktennotiz Besprechung mit Herrn Professor Schelsky am 18.6.1965 in Bonn, in: UKOA #57/57.
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Doch war es tatsächlich so, dass Schelsky ganz von den Konstanzer Vorstellungen abhing oder hatten nicht die Konstanzer Überlegungen auch von Schelskys früheren, seit 1960 weithin rezipierten Äußerungen zur Neugründung einer »theoretischen Universität« im kleinen Format profitiert? Schelskys Zurückhaltung im Gespräch mit Hess mag auch damit zusammengehangen haben, dass er sich der politischen Unterstützung seines Planes Mitte Juni nicht mehr vollkommen sicher war. Während die Gespräche zur Rekrutierung des Gründungsteams seit dem Frühjahr 1965 gut verliefen, blieb nämlich das Verhältnis zur Mikats Mitarbeitern angespannt. Das Misstrauen zwischen Schelsky und der von Otto Wegner geleiteten Hochschulabteilung beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Ende Mai hatte Schelsky in seine Terminliste notiert: »Gespräch in Düsseldorf allein mit Minister: Notwendigkeit der Ausschaltung der Hochschulabt. aus der Dauerintervention in die Planung.«103 Wiederholt suchte Schelsky die direkte Verständigung mit dem Minister, der als Professor der Rechtswissenschaften für den Professor der Soziologie offenbar der angemessenere und sachverständigere Gesprächspartner zu sein schien. Die Hochschulabteilung war von solchen direkten Gesprächen verärgert, weil sie von Mikat danach teils nur verspätet oder unvollständig informiert wurde. So bezeichnete Klaus Dieter Bock die Auseinandersetzungen zwischen Schelsky und der Hochschulabteilung im Verlauf des Jahres 1965 nach seiner ersten Auswertung der überlieferten Dokumente zutreffend als »zähes Ringen, in dem mal die Hochschulabteilung, mal Schelsky Terrain gewannen, in dem aber letztlich Schelsky sich nicht durchsetzen konnte«.104 Tatsächlich beendete Schelsky Anfang Juli zwar seine Rekrutierungsphase, indem er letzte Gespräche am Rande der Eröffnung der Ruhr-Universität Bochum und anschließend noch in Saarbrücken führte und festhielt: »toller Auftrieb. Auch die beiden letzten sagen zu« – »Etappe abgeschlossen«. Doch dann folgten mehrere Rückschläge, die Gründungsteam und -tempo betrafen. Zunächst schickte Schelsky seine überarbeitete Liste an Mikat und nachrichtlich an die Hochschulabteilung. Seine Liste enthielt die Namen von 22 Männern und keiner Frau und war damit länger als von ihm zuvor angekündigt. Der Anteil der Münsteraner blieb bei einem Drittel und lag sogar noch höher, wenn man frühere Stationen in Münster oder Kontakte zu Münsteranern dazu nahm. Schelsky sah die Zustimmung zu den Ergebnissen scheinbar als Formsache an und hatte deshalb schon Anregungen für eine Pressemitteilung zur Berufung der von ihm rekrutierten Kandidaten in den Gründungsausschuss beigefügt. Noch vor der Sommerpause sollte es seines Erachtens Ende Juli in Münster – und nicht in Ostwestfalen als Standortregion oder am Sitz der Landesregierung in Düsseldorf – 103 Schelskys Terminliste vom 20.1.1965 bis 8.1.1966 in: Zur Universität Ost-Westfalen, in: UABI NL Schelsky, 1. 104 Bock, Helmut Schelsky, S. 173.
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mit der konstituierenden Sitzung losgehen können. Bei der Einladung möge Mikat von der wenig glücklichen Formel der »ost-westfälischen« Neugründung bitte Abstand nehmen und bis zur Standortwahl vorläufig doch von der »Westfälisch-Lippischen Landesuniversität im Raume Ost-Westfalens« sprechen. Ein Anflug von Selbstkritik an der Rekrutierungsarbeit war lediglich an einer Stelle zu vernehmen: »Wirklich führende Naturwissenschaftler in so kurzer Zeit für das Projekt in dem Maße zu interessieren und zu verpflichten, wie es unseren Grundanschauungen entspricht, hat es mir an der nötigen Personal- und Sachkenntnis gefehlt.«105
Doch selbst diese Sache wendete Schelsky zum Positiven und bezeichnete es als »sachlich vielleicht sogar günstig«, wenn bei einem finanziell bedingten stufenweisen Aufbau der Universität entsprechende Fachvertreter erst später benannt würden. Einen impliziten Wiederspruch zu seinem Gedanken der im gemeinsamen Ziel geeinten Gründungsgruppe sah er augenscheinlich nicht. Mikats Zustimmung war aber keineswegs selbstverständlich, wie Schelsky in seiner euphorischen Grundstimmung erhofft hatte. Der Antwortbrief des Ministers enthielt nämlich keinerlei Stellungnahme zu den vorgeschlagenen Personen und Terminen, sondern lediglich die formale Beauftragung Schelskys und von Medems mit der inhaltlichen bzw. technisch-organisatorischen Planung sowie die Bitte an Schelsky, sich an der interministeriellen Arbeit zur Standortauswahl zu beteiligen.106 Erst im persönlichen Gespräch setzte Mikat kurz darauf seinen »Planungsbeauftragten« Schelsky über die neue Lage ins Bild. Auch wenn Schelsky anschließend notierte, »die Planung für die Universität in Ost-Westfalen soll trotz der sehr angespannten Haushaltslage uneingeschränkt fortgesetzt werden«, weisen die von ihm darunter fixierten Aufbauprioritäten – zuerst Center for advanced studies mit erneutem Antrag bei der VW-Stiftung, dann Aufbau des soziologischen Forschungsinstituts durch Verlegung und Ausbau der Dortmunder Sozialforschungsstelle – faktisch auf eine Rumpflösung ohne Zusatzkosten für das Land hin. Ferner offenbarte M ikat Schelsky jetzt seinen Dissens in Sachen Gründungsgremium, den er laut Schelsky mit nicht näher spezifizierten »haushaltsrechtlichen und politischen Erwägungen« begründete. Den Personenkreis, den Schelsky als Gründungsgruppe vorgesehen und in zahlreichen Einzelgesprächen für sein Projekt zu gewinnen versucht hatte, spaltete Mikat in einen kleinen »Gründungsausschuss« und einen großen »Wissenschaftlichen Rat« auf. Ersterer sollte lediglich die Ende Januar vom Ministerium schon vorausgewählten Professoren Hirzebruch und Mestmäcker sowie die von Schelsky anschließend vorgeschlagenen Professoren Conze, Krelle, Lübbe und Metz enthalten. Für die inhaltliche respektive organisatorische Pla 105 Brief Schelskys an Mikat vom 5.7.1965, UABI KP #7. 106 Brief Mikats an Schelsky, Betr.: Universität Ost-Westfalen, 16.7.1965, in: UABI KP #7.
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nung waren Schelsky und von Medem vorgesehen sowie als weitere Mitglieder der Minister selbst bzw. der Leiter seiner Hochschulabteilung und schließlich als ständiger Gast der Generalsekretär des Wissenschaftsrates. Neben diesen kleinen Kreis von zehn Personen sollte ein großer »Wissenschaftlicher Rat« mit Schelskys weiteren Vorschlägen treten, der aber kaum die technisch-organisatorischen Aufgaben des von Schelsky vorgesehenen Beirates übernehmen konnte. Auf Mikats Intervention ging auch noch eine weitere Ergänzung zurück, die Schelsky in einer Art notierte, die auf inhaltliche Folgenlosigkeit hindeutete: »Eventuell sollen demonstrativ 2 Assistenten in den wissenschaftlichen Rat berufen werden.« Bei all diesen Entscheidungen mag Mikats Erfahrung mit dem Bochumer Gründungsausschuss eine Rolle gespielt haben, den der junge Minister offenbar als überaltert und durchaus träge erlebt hatte. Im Ergebnis jedenfalls hatte Schelsky seine weitgehenden Vorstellungen von einer selbstständigen Vorplanung der neuen Universität auch in der Frage der Zusammensetzung des Gründungsausschusses – mit einem Schwerpunkt auf Münsteranern und ehemaligen Münsteraner – nicht durchsetzen können. Raiser hatte die Legitimität dieses Vorgehens ja schon 1961 im Artikel-Wechsel mit Schelsky in der »Frankfurter Allgemeinen« kritisiert und freundlich kaschiert auch als naiv bezeichnet. Sein Misserfolg bei der Durchsetzung des Gründungsteams frustrierte S chelsky durchaus. Als Lübbe ihn per Brief anfragte, ob man den »extrem klein geratenen Gründungsausschuss«, den er im Übrigen für »recht inhomogen« und wissenschaftspolitisch wie organisatorisch wenig ausgewiesen hielt, nicht wenigstens um einige Personen erweitern könnte – insbesondere ging es Lübbe um den Philosophen Hans Blumenberg – antworte Schelsky sehr offen: »Die Trennung von ›Gründungsausschuss‹ und ›Wiss. Beirat‹ geht mir völlig gegen den Strich: meine Konzeption war ein einheitlicher Gründungsausschuss […]. Dieser Vorschlag ist mehr von der Hochschulabteilung als vom Minister konstant torpediert worden. Ich darf Ihnen vertraulich schreiben, dass ich schon öfter überlegt habe, von der mir erteilten Planungsaufgabe unter Hinterlassung eines Manuskriptes zurückzutreten, weil die Hochschulabteilung einfach aus den alten Gleisen nicht herauswill. […] So stand ich praktisch vor der Wahl, die ganze Sache an das Ministerium, sprich die Hochschulabteilung, zurückzugeben oder die Gründung zumindest des engeren ›Gründungsausschusses‹ durchzusetzen, der nur aus einer Gruppe von Beteiligten besteht. Ich habe mich zum letzteren entschlossen in der Hoffnung, dass dieser Gründungsausschuss einmal existierend, mit mehr institutionellem Gewicht als ich als Einzelperson habe, die für richtig gehaltene Konzeption wirkungsvoller durchsetzen kann.«107
Tatsächlich hatte Schelsky die Vorgabe des Ministeriums zunächst geschluckt und die von ihm rekrutierten Personen Ende August 1964 per Brief nüchtern über die neue Lage und Verzögerungen beim Beginn der Arbeiten informiert. Den 107 Brief Schelsky an Lübbe vom 2.10.1965, in: UABI NL Schelsky, #10.
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Gründungsausschuss hatte er in diesem Schreiben »als kleinen zentralen Arbeitsausschuss« etwas abgewertet und den Wissenschaftlichen Beirat eher aufgewertet, um anschließend zu betonen, »in der Sache selbst, d. h. den gemeinsamen Aufbauberatungen und -beteiligungen, bleibt die ganze Angelegenheit unverändert«.108 Außerdem kündigte er die erweiterte Fassung seines Gründungskonzeptes an, das er wenige Tage vorher niedergeschrieben hatte, und bat dazu um Rückmeldungen vor der konstituierenden Sitzung der Gründungsgremien. Der Brief an Lübbe legt also nahe, dass die ausführliche Erweiterung des Konzeptes von Schelsky Mitte August 1965 nicht zuletzt für den Fall geschrieben worden war, dass er doch noch »das Handtuch werfen« würde. Was zeichnete nun die Auswahl des Ministeriums aus, die aus der hauseigenen Liste vom Februar 1965 und jener Schelskys vom Juli hervorgegangen war und Werner Conze, Friedrich Hirzebruch, Hermann Lübbe, Wilhelm Krelle, Joachim Mestmäcker, Johan Metz, den Generalsekretär des Wissenschaftsrates sowie den Minister selbst bzw. seinen Leiter der Hochschulabteilung umfasste?109 Entsprechend der ursprünglichen Vorgabe Mikats, der selbst mit 33 Jahren auf seine erste Professur und mit 38 Jahren ins Ministeramt gelangt war, war der Gründungsausschuss im Vergleich zu den Neugründungsausschüssen in Bremen und Bochum wirklich jung. Fünf Wissenschaftler entstammten den Jahrgängen 1923–1928, hatten also in den unmittelbaren Nachkriegsjahren studiert, waren schnell auf erste Professuren gekommen und bereits bekannte oder doch vielversprechende Vertreter ihrer Fächer. Lediglich Conze, Schelsky und Krelle, die den Jahrgängen 1910 bis 1916 entstammten, hoben den Altersdurchschnitt an, der sonst unter 40 gelegen hätte. Mit Ausnahme Conzes (Uni Heidelberg) und Repgens, der eine erste Professur an der Nachkriegsneugründung Saarbrücken erhalten hatte, waren alle anderen an nordrhein-westfälischen Universitäten tätig, Hirzebruch und Krelle in Bonn, Lübbe an der Neugründung in Bochum und von der langen Vorschlagsliste Münsteraner Kollegen Schelskys war es nur Mestmäcker, der es auch in den engeren Gründungszirkel schaffte, weil er schon vom Ministerium vorgesehen worden war. Lübbe und Repgen konnten also aus erster Hand von Neugründungssituationen berichten, wobei die in der Besatzungszeit gegründete Saarbrücker Universität im Vergleich zu Bochum schon geradezu altehrwürdig war. Als Wissenschaftler vertraten die Mitglieder jeweils alleine ein Fach, nämlich Rechtswissenschaft (Mestmäcker), Wirtschaftswissenschaft (Krelle), Soziologie (Schelsky), Philo 108 Serienbrief Schelsky an die künftigen Mitglieder von Gründungsausschuss und Wissenschaftlichem Beirat vom 24.8.1965, in: UABI NL Schelsky, # 11.1. 109 Konrad Repgen, den Mikat Anfang 1965 offenbar noch persönlich nachnominiert hatte, war in dieser Auswahl vom Sommer 1965 zunächst nicht berücksichtigt, kam aber – vermutlich durch erneute Intervention Mikats – bis zur konstituierenden Sitzung wieder auf die Liste hinzu, offenbar auch als Reservemann, weil Conze die Mitarbeit nur unter dem Vorbehalt zusagte, sich später möglicherwiese nicht an die Neugründung berufen zu lassen.
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sophie (Lübbe), katholische Theologie (Metz) und Mathematik (Hirzebruch); lediglich die Geschichtswissenschaft war aus den oben genannten Gründen mit Conze und Repgen doppelt besetzt. Einige unter ihnen pflegten einen engeren Kontakt zu Nachbardisziplinen wie Mestmäcker zur Ökonomie, Lübbe zur Geschichtswissenschaft, Metz zur Philosophie, was zu Schelskys Wunsch nach interdisziplinärer Methodenentwicklung passte. Bemerkenswert ist, in welchem Ausmaß die Mitglieder, die durchweg in den Nachkriegsjahren Karriere gemacht hatten, nicht nur fächergrenzen- sondern in den 1950er Jahren auch ländergrenzen-übergreifende Erfahrungen gesammelt hatten. Über Auslandserfahrung, ganz überwiegend in den USA, verfügten Mestmäcker (Washington D. C. und Ann Arbor), Krelle (Harvard, Chicago, MIT aber auch St. Gallen) und Hirzebruch, der an der Universität in Princeton und als einziger aus der Gründungsgruppe auch längere Zeit am dortigen Institute for Advanced Studies verbracht hatte – Schelskys Vorbild für seine Institute für Grundlagenforschung in 1964. Conze hatte 1950 lediglich eine Englandreise unternommen und Repgen nicht in angelsächsischen Ländern gearbeitet, aber seine Forschungsgegenstände immerhin einige Jahre in Rom verfolgt. Lediglich Lübbe, Metz und Schelsky besaßen scheinbar keine nennenswerte persönliche Auslandserfahrung und hatten sich entsprechende Kenntnisse lediglich anlesen können. Vom Konstanzer Gründungsausschuss unterschied sich die Gruppe abgesehen vom Durchschnittsalter und den starken Bezügen zu einer einzelnen Universität (Münster) vor allem dadurch, dass sich mit Ausnahme Schelskys keiner der sechs Wissenschaftler an den öffentlichen und teilöffentlichen Hoch schulreformdebatten der vorangegangenen Jahre beteiligt hatte, so wie es von den Konstanzern die älteren Vertreter Hess und Raiser bereits seit den späten 1940ern, die jüngeren Mitglieder Besson und Dahrendorf seit den frühen 1960ern getan hatten. Auch waren unter ihnen keine Mitglieder des Wissenschaftsrates und keine Wissenschaftsfunktionäre, die schon mehrere Spitzenämter in der Wissenschaftslandschaft innegehabt hatten. Die Absenz von Engagement im Hochschulreformdiskurs kann kaum allein mit dem jungen Alter der Mitglieder erklärt werden, sondern könnte ein absichtsvolles Auswahlkriterium auf Seiten Mikats und Schelskys gewesen sein, die auf ihrer Seite – sowohl im Ministerium bzw. im Repertoire eigener Reformschriften – über ausreichend Kompetenz in diesen Dingen zu verfügen meinten. Was die Verbindung zur Hochschulpolitik betraf, sollte sich die Wahl Lübbes noch als besonders wertvoll erweisen, da dieser nach der Regierungsumbildung im Folgejahr als Staatssekretär in die nordrhein-westfälische Landesregierung eintrat und sich dann als eine Art hochschulpolitische Lebensversicherung für Schelskys Projekt betätigte, als eine vorübergehende Rezession sich in der Haushaltplanung bemerkbar machte. Festzuhalten ist schließlich, dass auch in Schelskys Gründungsteam von 1965, so wie in den etwas früher zusammengestellten Gründungsausschüssen der Neugründungen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, immer noch keine Vertreter
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von Studierenden oder Assistenten vorgesehen waren. Dass Anhänger der Kollegienhausidee in Schelskys Team fehlten, verstand sich bei dessen klarer Haltung zu diesem Thema dagegen von selbst. Auch das Ministerium sah offenkundig keinen Bedarf, Experimente studentischer Gemeinschaftsformen durch die Auswahl entsprechender Fürsprecher solcher Projekte in den Ausschuss zu befördern. In Bochum waren diese Ideen inzwischen aufgegeben worden, nachdem zum Widerstand der Studenten, früh schon artikuliert im VDS-Gutachten, auch noch die Kostenexplosion auf der Baustelle hinzugekommen war.
4.3.2 Schelskys Konzepterweiterung: Ein lang geplanter Abschied? Noch bevor der Gründungsausschuss überhaupt eingesetzt wurde, entwickelte Schelsky im Sommer 1965 sein Konzept inhaltlich weiter, zur Dokumentation des erreichten Diskussionsstandes, aber offenbar auch – wie der Briefwechsel mit Lübbe nahelegt – als Ergebnissicherung für den Fall seines Ausstiegs aus dem Gründungsprojekt. Aus den nur sechs Blätter umfassenden Entwürfen der Neugründungsvorstellungen vom Februar 1965, die die Grundlage seiner Rekrutierungsgespräche dargestellt hatten, wurde ein Text von rund 30 Seiten.110 Darin verarbeitete Schelsky die Anregungen, die er in den zahlreichen Gesprächen mit den einzelnen potentiellen Gründungsteammitgliedern zwischen März und Juli gewonnen hatte. Außerdem floss in den Text ein Treffen mit einem Kreis an Mitstreitern ein, die Schelsky in Münster für sein Projekt gewonnen hatte. Nach diesem Treffen der Münsteraner schrieb Schelsky Anfang August 1965 schließlich die Konzepterweiterung auf. Obwohl er ansonsten viele Schritte des Gründungsprozesses sorgfältig dokumentierte, hatte er offensichtlich kein Interesse daran, die einzelnen Beiträge zur Weiterentwicklung transparent zu machen. Das Ergebnis des Austauschs bezeichnete er vielmehr als »Denkschrift von Helmut Schelsky«.111 Weil aus der anschließenden Arbeit des Gründungsausschusses kein vergleichbar ausführliches Dokument zum Konzept der ostwestfälischen Neugründung mehr hervorgegangen ist, wie aus diesem, der offiziellen Gremienarbeit vorangegangenen und von Schelsky gesteuerten Austausch mit den einzelnen Kandidaten der Gründungsgremien, wird dieses überarbeitete und erweiterte Konzept vom August 1965 im Folgenden näher beleuchtet und mit der früheren 110 Veröffentlicht wurde die Denkschrift (auch als Dok. X in der Reihe der Gründungsdokumente bezeichnet) in: Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität. 111 Schelsky notierte dieses Treffen in seiner langen Terminliste, allerdings, ohne die einzelnen Teilnehmer zu nennen. Vermutlich handelte es sich um die acht Münsteraner Claessens, Hartmann, Marquard, Mestmäcker, Metz, Nörr, Rendtorff und Wicke, die er Ende März Mikat vorgeschlagen hatte.
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Skizze vom Februar verglichen. Was war von der »theoretischen Universität« geblieben? Welche Veränderungen, Ergänzungen und Präzisierungen hatte Schelsky am Ende des ersten halben Jahres seines »Planungsauftrages« zusammengetragen und welche Schwerpunkte setzte er bei der Überarbeitung und Erweiterung seines Konzeptes? Unverändert blieb im Vergleich zur ersten Projektskizze die Grundstruktur des Textes, der nun beinahe den Umfang der Empfehlungen anderer Gründungsausschüsse erreicht hatte, obwohl er anders als diese keine Anhänge zu Lehrstuhllisten und Kostenplänen enthielt. Bemerkenswerte Veränderungen gab es beim Umfang der einzelnen Themenblöcke. Während die Vorschläge zur Neuordnung der Forschung ursprünglich den mit Abstand größten Raum eingenommen und jene zur Selbstverwaltung besonders knapp abgehandelt worden waren, bestand nun etwa ein Gleichgewicht zwischen den vier Themen blöcken und die Maßnahmen zur Organisation der Selbstverwaltung wurden jetzt sogar besonders ausführlich dargestellt. Neu war zudem ein Vorspann, in dem Schelsky an die Vorgaben des Landes erinnerte – Standort in Ostwestfalen, drei Fakultäten nach »Konstanzer Modell« des Wissenschaftsrates, Verzicht auf kostenintensive Fächer (Medizin) oder vor Ort bereits in anderen Hochschularten vertretene (Theologie in kirchlichen Hochschulen in Bethel und Paderborn). Eine gesonderte wissenschaftspolitische oder -theoretische Begründung der Fächerauswahl, wie in Konstanz, schien daher nicht nötig. In der Einleitung gab Schelsky kurz drei Ziele für die Neugründung aus: »Die neue Universität soll in erster Linie eine Reform-Universität sein, d. h. sie soll Forschung in modernster und rationalisierter Form organisieren und mit neuen Formen der Ausbildung und Lehre verbinden.«112
Diesem ersten Ziel nachgeordnet sollte die Neugründung außerdem »die vorhandenen und noch zu weckenden akademischen Ausbildungsbedürfnisse« im Raum Ostwestfalen decken und zu einem »Zentrum des geistigen Lebens« in dieser Region werden. Auffällig ist, dass Schelsky in der neuen Einleitung des Konzeptes trotz seiner ausführlichen Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Universitätsreform und im Gegensatz zu den Autoren aller vorangegangenen Gründungskonzepte in Bremen, Bochum und Konstanz, nun ohne jeden Bezug zu Humboldts Berliner Gründung von 1809/10 argumentierte. Stattdessen setzte er den Begriff der »Reform-Universität« nüchtern in Bezug zu seinen älteren Vorstellungen von einem differenzierten Hochschulsystem und stellte klar, diese Neugründung werde sich »niemals als ein Modell der neuen Universität schlechthin begreifen« – die vorgestellten Neuordnungen »erheben also nicht den Anspruch, Vorbilder und Richtlinien für andere Universitäten und Hochschulen 112 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 37.
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abzugeben«.113 Lübbe, der wie alle Gründungsteammitglieder von Schelsky Ende August zur Rückmeldung auf die erweiterte Konzeptfassung aufgefordert worden war, fand diese Zurückhaltung Schelskys in Sachen »Reformuniversität« taktisch nicht geboten. In seiner ansonsten positiven Rückmeldung zu Schelskys erweitertem Konzept schrieb Lübbe: »Es schiene mir unzweckmäßig zu sein, von vornherein öffentlich darauf verzichten zu wollen, dass die Ostwestfälische-Universität in die Rolle eines Vorbildes für andere Universitäten hineinwachsen könnte. Konstanz, Ost-Westfalen – warum sollten diese Gründungen nicht Wunsch und Ehrgeiz in Hessen (oder sogar, womöglich, in Bayern) wecken, hinter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen nicht zurückzubleiben? Generell lässt sich doch sagen: je größer die Anzahl der Universitäten vom Konstanzer oder vom neueren Ost-Westfälischen Typus sein wird […] umso mehr wird die Neigung sich abschwächen, den Universitäten abweichenden, neuen Typs etwa am Zeuge zu flicken.«114
Nicht zu vergessen: Der postulierte Vorbildcharakter eigenen Tuns, insbesondere reformerischer Art, erhöhte natürlich die Bedeutung des Projektes und der eigenen Mitwirkung. Doch was Lübbe bei allem Enthusiasmus so wenig thematisierte wie Schelsky und auch der Konstanzer Gründungsausschuss in seinen Empfehlungen, war die Frage, wie der jeweils gewählte Standort in der Provinz und die Versorgung der entsprechenden Region mit Hochschulbildung sich mit dem Ziel zur Reform der Forschungsorganisation vertragen würde und unter welchen Bedingungen eine Reform des Gesamtsystems von dessen Peripherie aus möglich sein könnte. Weil es für beide Gründungsgruppen aber keine Alternative gab, ihre Reformideen an anderen und möglicherweise besser geeigneten Orten im Wissenschaftssystem umzusetzen, thematisierten sie die Problematik offenbar erst gar nicht.
Interdisziplinäre Forschung und Schwerpunktsetzung Die Vorschläge zur Neuordnung der Forschung enthielten auch nach der kooperativen Weiterentwicklung von Schelskys Ideen noch dieselben drei Grundsätze ebenfalls unter völligem Verzicht auf die zeitgenössisch üblichen, stets an Humboldt anschließenden Beschwörungsformeln zur Rettung einer Einheit von Forschung und Lehre und der Einheit der Wissenschaften. Etwas ausführlicher als zuvor beschrieb Schelsky »das betriebsförmig organisierte Forschungsinstitut«115 als »Kernzelle einer Universität, die sich auf der Grundlage der Forschung aufbaut« und als »die institutionelle Einheit, in der die ›Republik der Gelehrten‹ als Zusammenarbeit und genossenschaftliche Selbstbestim 113 Ebd. 114 Brief Lübbe an Schelsky vom 3.11.1965, in: UABI NL Schelsky, 10. 115 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 38.
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mung älterer und jüngerer Forscher noch verwirklicht werden kann«.116 Mit Großinstituten, die Schelsky auch als »Abteilungen« der Fakultäten bezeichnete, wollte er zwei von ihm als negativ wahrgenommenen Entwicklungen begegnen: Die Großinstitute sollten das für die Forschung unproduktive Arrangement der um eine einzelne Professur gruppierten »Zwerginstitute« ablösen und gleichzeitig eine Alternative zu außeruniversitären Forschungseinrichtungen nach Art der um einen Gelehrten gruppierten, Max-Planck-Institute bieten. Die Begriffswahl »Großinstitut« besaß eine gewisse Nähe zur damals noch neuen »Großforschung«, stand gleichzeitig aber auch in Spannung zur Idee einer besonders kleinen Universität neben dem großen Studierendenberg. Wesentlich an der Idee der neuen Großinstitute war für Schelsky, dass sie gemeinsame und langfristige Forschungsschwerpunkte entwickelten und in einem verbindlichen Forschungsplan niederlegten, der dann – unter Berücksichtigung von zusätzlichen übergeordneten Forschungsschwerpunkten der Gesamtuniversität – auch die Auswahl der zu berufenden Professoren bestimmen würden. Der Bedarf der Studiengänge nach vielseitig besetzten Lehrgebieten sollten demgegenüber nachrangig behandelt werden. Um die Auswahl von Wissenschaftlern passend zu den Forschungsschwerpunkten der Institute und den Forschungsthematiken der Universität zu erleichtern, wollte Schelsky auf detaillierte Denominationen der Professuren möglichst völlig verzichten. Diesen Wunsch hatten bereits die kurz zuvor veröffentlichten Empfehlungen des Konstanzer Gründungsausschusses enthalten, die mit sehr ähnlichen Argumenten für einen Abschied von der herkömmlichen Institutsstruktur zu Gunsten von, für Konstanz als Fachbereiche bezeichnete, größeren Einheiten der Forschung geworben hatten: Bewertete Schelsky die Situation der »Zwerginstitute« als eine solche, »die personelle und materielle Forschungskapazität derart verzettelt, dass sie praktisch unproduktiv bleibt«,117 beschrieben die Konstanzer Empfehlungen »die Neigung dieser in personeller und apparativer Ausstattung oft autarken Einrichtungen, sich abzuschließen, ebenso das unverbundene auch wirtschaftliche unrationelle Nebeneinander selbst eng benachbarter Fachgebiete« und – dieser letzte, seit den Nachkriegsjahren immer wieder geforderte Punkt fehlte bei Schelsky allerdings und kam in Bielefeld erst 1967 auf die Agenda – »die menschliche Problematik der Verfügungsgewalt des verantwortlichen Leiters«.118 Modifikationen erfuhr auch Schelskys Idee eines interdisziplinären Forschungsinstituts an der neuen Universität, das nun erstmals »Zentrum für interdisziplinäre Forschung« heißt und der »gemeinsamen Arbeit an übergreifenden theoretischen Konzeptionen« gewidmet wird. Statt von drei bis vier Zentren, wie noch in der ersten Projektskizze, war jetzt nur noch von einem einzigen Zentrum 116 Ebd., S. 39. Die folgenden Zitate ebd. 117 Ebd. 118 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 600.
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die Rede, das »jeweils 3–4 Arbeitsgruppen im Normalfalle auf die Dauer eines Jahres zum Durchdenken und Erforschen fakultätsübergreifender umfassender Themenstellungen bilden«119 würde. Gegenüber Dauerinstituten für interdisziplinäre Forschungsaufgaben sah er den Vorzug seines Vorschlags darin, dass zeitlich begrenzte Forschungsprogramme flexibler auf die sich stets verändernden Themen und Trends der Wissenschaftsentwicklung reagieren könnten. Die Einrichtung eines solchen Zentrums bezeichnete er nun deutlicher als im Antrag bei der Stiftung Volkswagenwerk als »Versuch, die besonders in den USA bewährte Einrichtung der ›Centers for Advanced Studies‹ auf das deutsche Wissenschafts- und Hochschulsystem zu übertragen«.120 Obwohl das Zentrum generell für Wissenschaftler deutscher und ausländischer Hochschulen offenstehen sollte, wurde es als »eine Stätte interdisziplinärer Zusammenarbeit für die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen« bezeichnet, womit – wie schon in den Grundzügen vom Februar – eine besondere Funktion der Neugründung gegenüber den übrigen Landesuniversitäten aufrechterhalten wurde. Daraus folgerte Schelsky: »An den Beginn der neuen Universität gehört zur Dokumentation ihrer Eigenart die Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung.«121 Zusätzlich zu dem alsbald als ZiF abgekürzten Zentrum für Interdiszipli näre Forschung schlug Schelsky nun ein weiteres Kooperationsformat vor, nämlich sogenannte »Universitätsthematiken […], an denen jeweils mehrere, im günstigsten Falle alle Fakultäten der Hochschule beteiligt sind«.122 Als Beispiele nannte er unter anderem »Geschichte, Theorie und Politik der Wissenschaften«, »Kybernetik und Informationstheorie« oder »Kultur, Geschichte und Gesellschaft Lateinamerikas«. Die Universitätsthematiken sollten durch die Forschungsschwerpunkte in den Großinstituten unterlegt werden, also die Universitätsthematik »Lateinamerika« etwa durch Schwerpunkte »internationale Rechtsvergleichung« im juristischen Institut und »Soziologie Lateinamerikas« im soziologischen Institut. Mehrjährige interdisziplinäre Forschungsprojekte sollten auf Basis der Thematiken zwischen den Vertretern einzelner Institute verabredet werden und im Gegensatz zur Arbeit am ZiF, die von der schnellen Produktion konkreter Ergebnisse entlastet sein sollte, zum Projektende konkrete Publikationsergebnisse vorweisen können. Mit diesen Schwerpunktvorschlägen erweiterte Schelsky seinen auf Scheler zurückgeführten Gedanken einer funktionalen Differenzierung des Hochschulsystems, in dem die ostwestfälische Neugründung mit ihrem Forschungsfokus ein besonderer Typ unter vielen verschiedenen wäre, um eine planvolle inhaltliche Schwerpunktsetzung an den einzelnen Universitätsstandorten. Was 119 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 42. 120 Ebd., S. 43. 121 Ebd., S. 44. 122 Ebd., S. 42.
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Schelsky in seine eigenen Worte fasste – »Ein geistiges Gesicht und die Grundlage kollegialer wissenschaftlicher Zusammenarbeit gewinnt heute eine Hochschule durch ihre freiwillige Begrenzung und Konzentration auf Ausschnitte aus dem Universum der Wissenschaften«123 – würde heute wohl als Profilbildung bezeichnet werden. Diese Setzung von Forschungsschwerpunkten machte nach Schelskys Meinung auch deren Koordination zwischen den Hochschulen eines »Hochschulverbundes« – etwa den Universitäten Westfalens (Münster, Bochum, Dortmund und Ostwestfalen) –, eines Landes wie Nordrhein-Westfalen oder am besten sogar aller westdeutschen Hochschulen notwendig. Dazu reichte er bald darauf auch eigene Vorschläge nach, auf die noch zurückzukommen ist.124 Die Differenzierung des Hochschulsystems bedingte für Schelsky gleichzeitig die Notwendigkeit zur systematischen Zusammenarbeit der unterschiedlichen Hochschulen. In der geschickten Abstimmung und Zusammenarbeit sah er auch jenseits der Forschungsbedarfe, etwa mit Blick auf gemeinsame Infrastrukturen (»Zentrale Einrichtungen«), rationellere Alternativen zu »immer größeren Hochschulkomplexen und Fachbereichsvereinigungen« wie – wenn auch unausgesprochen – etwa in Bochum.125 Schelskys Vorschlag eines Zentrums für interdisziplinäre Forschung mit seinen auf Zeit bestehenden Arbeitsgruppen sowie die im ersten Halbjahr 1965 hinzugekommenen beiden Vorschläge der Forschungsschwerpunkte und Universitätsthematiken unterschieden sich an einigen Stellen von den Konstanzer Empfehlungen, wobei vielleicht auch das Gespräch mit Hess im Juni 1965 Anlass zur Abgrenzung gegeben hatte. Generell hatte der Konstanzer Gründungsausschuss die Stärkung der »team work« aus den Natur- und Sozialwissenschaften gefordert und den Begriff der »Kooperation« in den Vordergrund gestellt, Schelsky hingegen den der »Interdisziplinarität«. In beiden Fällen ging es um Austausch und Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Fächern, nur dass eben unterschiedliche Formate und Organisationsideen dafür kursierten. Der Konstanzer Gründungsausschuss hatte Gruppen bzw. Zentren als Formate für kurze bzw. längere Kooperationen zu gemeinsamen Grundproblemen verschiedener Fächer oder auch regional bestimmten Forschungsfragen vorgeschlagen. Zudem hatte man dort durch die Auswahl der Fächer innerhalb der Fakultäten indirekt Universitätsschwerpunkte gesetzt und den früheren, häufig verspotteten Versuch der direkten Themensetzung »Kulturen des Mittelmeers« für die Philosophische Fakultät vergessen zu machen versucht. Schelskys Kooperationsformate waren dagegen das ZiF, die permanenten Großinstitute sowie auf Zeit begrenzte interdisziplinäre Forschungsprojekte in und zwischen diesen (2 bis 4 Jahre Dauer), die den Konstanzer Gruppen ähnelten (maximal 123 Ebd., S. 43. 124 Schelsky, Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande, 1968. 125 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 65.
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4 Jahre Dauer). In Konstanz fehlte also im direkten Vergleich ein Äquivalent zum ZiF und in Ostwestfalen eines für die Konstanzer Zentren (z. B. Probleme der Bildung, Populationsforschung, Probleme der Sprache), wobei die Universitätsthematiken Schelskys (z. B. Theorieentwicklung, Wissenschaftsforschung, Lateinamerika) beachtliche Ähnlichkeiten zu den Konstanzer Zentren besaßen. Bei allen Kooperationsformaten und Schwerpunktsetzungen fällt in Schelskys erweiterten Vorschlägen eine Änderung zur Neuordnung der Forschung besonders auf. Die Gespräche mit den Gründungsgruppenmitgliedern hatten offenbar ergeben, dass nicht alle gleichermaßen bereit waren, sich den neuartigen Kooperationsformaten und Schwerpunktvorgaben unterzuordnen.126 Weil manche diese Vorschläge offenbar als Korsett empfanden, wurde in der erweiterten Konzeptfassung hervorgehoben, dass die Grundlage aller gemeinsamen Forschung zunächst die spezialisierte Arbeit und Kenntnis jedes Wissenschaftlers in seinem Einzelfach sei und daher das Forschungsjahr, das Schelsky weiterhin im Wechsel mit einem Lehrjahr vorsah, neben der kooperativen oder interdisziplinären Forschung im Großinstitut, mit Kollegen aus anderen Großinstituten oder im ZiF, nun eben auch alternativ der »persönlichen Einzelforschung« oder der Forschung mit den »engeren Mitarbeitern (Assistenten)« gewidmet werden konnte.127 Ganz offenbar waren nicht alle von den Ideen des Soziologen zur Zusammenarbeit auch über Fachgrenzen hinweg angetan. Die Begründung deutete darauf hin, dass zu weitgehende Planungsideen nach Ansicht mancher dazu geeignet waren, mit der individuellen Interessenverfolgung auch die Wissenschaftsfreiheit zu gefährden: »Diese Vielfalt scheint uns sowohl der Verschiedenheit der Forschungsarten wie der Forschungsfreiheit des einzelnen Gelehrten gerecht zu werden«.128 Durch diese Konzession Schelskys an einige von Kooperation und Interdisziplinarität weniger begeisterte Mitglieder des Gründungsteams entstand eine Spannung, die im Text sichtbar blieb und durch Präzisierungen Schelskys an anderer Stelle sogar noch verstärkt wurde. Unter der Überschrift »Forschung als Amtspflicht« forderte Schelsky nämlich weiterhin: »Wenn Forschung als Amts- und Dienstpflicht […] anerkannt wird, dann muss sie aus seiner privaten Verfügungsbeliebigkeit [d. h. der des einzelnen Wissenschaftlers, MM] herausgenommen und in einem von der Selbstverwaltung der Gelehrtenkorporation kontrollierbaren Forschungsprogramm festgelegt werden«.129
Einsamkeit und Freiheit gerieten also in Spannung mit der Idee von Forschungsprogrammen. Auch die Idee der zeitweisen Konzentration auf Forschung oder Lehre, also die sequentielle statt parallele Verfolgung der Einheit von Forschung und Lehre, wurde von einigen potentiellen Gründungsteammitgliedern offen 126 Dazu auch Bock, Helmut Schelsky, S. 175 f. 127 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 42 bzw. S. 44. 128 Ebd., S. 44. 129 Ebd., S. 40.
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bar schon frühzeitig kritisiert oder doch wenigstens für unrealistisch gehalten. Darauf deuten von Schelsky nun ergänzte Rechtfertigungen hin, die diesen organisierten Forschungsfreiraum nochmals deutlicher von der bekannten, zeitgenössisch aber noch nicht weitverbreiteten Einrichtung der Forschungsfreisemester abgrenzten, die seines Erachtens zwar »an sich zu begrüßen, doch der privaten Beliebigkeit überlassen wird, zu keiner systematischen Forschungskooperation führt und daher im Sinne einer Organisation der Forschung unrationell bleibt«.130 Schelsky fand den Protest gegen seine Idee mit dem Argument einer nötigen Gleichbehandlung der Professoren an allen Universitäten aber nicht überzeugend, denn es hätten »die deutschen Hochschulen sachlich viel schwieriger zu rechtfertigende Unterschiede an Einkommen, personeller und sachlicher Ausstattung der Lehrstühle usw. hingenommen, die eines Protestes nach einer einheitlichen Gerechtigkeit würdiger gewesen wären«. Seine feste Absicht war es weiter, Forschungsfreiräume an der neuen Universität mit neuen Ideen organisatorisch abzusichern, weil er überzeugt war, dass es andernfalls »zum Auszug der Forschung aus der Hochschule oder aber ihrer Abkapselung in der Hochschule« – etwa durch reine Forschungsprofessuren – kommen würde. Der durch die Intervallregelung ermöglichten »Forschungs- und Produktivitätsverpflichtung« würde sich nach seiner Einschätzung ohnehin nicht jeder Wissenschaftler unterwerfen und daher auch nicht jeder an der neuen Universität mitarbeiten wollen. Schließlich sahen sich die Skeptiker oder Kritiker unter seinen Mitstreitern an dieser Stelle, anders als bei der Nutzung des Forschungsjahres, auch nicht zur Platzierung von Alternativen veranlasst, da man diese attraktive Regelung ja wenigstens einmal durchzusetzen versuchen konnte.
Studienbetreuungsgruppen und struktureller Numerus Clausus In Sachen Neugestaltung von Lehre und Studium sah sich Schelsky nach den Gesprächen in der ersten Jahreshälfte 1965 nicht zu wesentlichen Änderungen oder Ergänzungen veranlasst. Die drei zentralen Forderungen aus der ersten Konzeptskizze – Abschied von Massenveranstaltungen, neuartige Studienbetreuungsgruppen und Beschränkung der Studierendenzahl an der Universität – blieben im erweiterten Konzept bestehen und wurden lediglich ausführlicher beschrieben. Mit Hilfe der Studienbetreuungsgruppe, die jetzt im Mittelpunkt seiner Vorschläge stand, sollte die »Wiederherstellung einer geistigen Intimität zwischen Lehrenden und Lernenden« ermöglicht werden. Die Empfehlung ging in den Worten Schelskys auf die »weiter zurückliegende, aber sehr wohltätige Erfahrung des Studiums in kleinen Universitätsinstituten oder Seminaren zurück, in denen sich Dozenten und Studenten noch aus einem persönlichen Umgang kannten«, also auf die Zeit vor der großen Expansion der Studierendenzahlen. Die Einbindung der Assistenten in die Betreuungsaufgaben 130 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 41.
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sah Schelsky indes als Kompromiss, um »die Betreuungsgruppe eines Professors nicht zu groß und doch die Gesamtzahl der Studierenden der Universität nicht zu klein werden zu lassen«.131 Tatsächlich kam er bei seinen Berechnungen bei einer Betreuungsrelation von 30 Studierenden auf einen Professor samt Assistent auf insgesamt auf 3.600 bis 4.200 Studierende für die neue Universität.132 Die Konstanzer hatten demgegenüber an der Richtzahl 3.000 festgehalten, die in der vorangegangenen Landesdenkschrift bereits fixiert worden war, zurückgehend auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 2.500 bis 3.000 in 1962, die wiederum offenbar auf den anfänglichen Richtgrößen der englischen Neugründungen der 1950er Jahre basierten.133 Der parallel verlaufende weitere Anstieg der Studierendenzahlen hatte hingegen keine Folgen für die Zielgrößen, die die Neugründer sich wünschten. Weniger präzise als der strukturelle Numerus Clausus war in Schelskys Weiterentwicklung des Konzeptes der exakte Aufgabenumfang der Studienbetreuungsgruppe definiert. Fixiert war lediglich, dass diese Studienbetreuungsgruppen »in erster Linie der geistigen, wissenschaftlichen und menschlichen Kommunikation zwischen Dozenten und Studenten dienen sollen« sowie »vor allem auch der Intensivierung der Studien durch ständige Beratung, durch Hilfe und Überwachung bei selbständigen Arbeiten und der Lektüre«.134 Nicht zuletzt ein rechtzeitiger Rat zum Verlassen der Universität »in Fällen hoffnungsloser Studienleistungen« gehörte nach Schelskys Verständnis zum vorgesehen Betreuungsumfang. Gewissermaßen im Gegenzug für diese intensive Betreuung würden aufwändige Zwischenprüfungen entfallen, weil die Dozenten über den Leistungsstand der Studierenden ja stets gut informiert wären. Viele Fragen ließ diese vage Schilderung aber offen, nicht zuletzt die Vereinbarkeit des neuartigen Betreuungskonzeptes mit dem jährlichen Wechsel von Forschung und Lehre auf Seiten der Professoren. Auch eine Inspirationsquelle für diese Idee, die den Betreuungsverhältnissen an den traditionellen englischen Universitäten auffallend ähnelte, wurde nicht genannt. Doch die Studienbetreuungsgruppen bei Schelsky und der strukturelle Numerus Clausus, den er genauso anzielte wie die Konstanzer Gründungsgruppe, waren letztlich die Alternative zum erweiterten Kollegienhauskonzept des Wissenschaftsrates von 1962, in dem eine Gruppierung der Studierenden in kleinere Einheiten, deren gemeinsames Wohnen und ihre Begleitung durch Tutoren und Protektoren ein engeres Betreuungsverhältnis und eine Abkehr vom Studium in anonymen Einrichtungen ermöglichen sollten. Zu diesen Ideen oder überhaupt der Frage des studentischen Wohnens und Lebens fand sich in Schelskys Konzept keine einzige Bemerkung. 131 Ebd., S. 47. 132 Ebd., vgl. S. 50. 133 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 27. 134 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 47.
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Zusätzlich zu den Studienbetreuungsgruppen sah Schelskys erweitertes Konzept eine Studienreform dahingehend vor, dass das vier- oder fünfsemestrige Grundstudium stärker vom Mittelbau übernommen werden sollte und generell den kleinen Veranstaltungsformaten der Vorzug vor großen Vorlesungen gegeben werden sollte. Extensiv zitierte er dazu aus Johann Gottlieb Fichtes 1807 im Kontext der Berliner Universitätsgründung entstandener Denkschrift. Hier hatte Fichte auf die Vorzüge des durch den Buchdruck ermöglichten Selbststudiums nach eigenem Tempo und Konzentrationsvermögen verwiesen und deshalb die Stoffvorlesungen für überflüssig erklärt. Für Präzisierungen in Sachen Studienreform setzte Schelsky auf eine spätere Kommission des Gründungsausschusses zur Neuordnung der Studiengänge, wobei er sich schon vorab gegen solche Studiengängen und Prüfungen aussprach, die die Möglichkeit zum Hochschulwechsel einschränken würden. Darin unterschied sich seine Vorstellung von den Vorschlägen des Konstanzer Gründungsausschusses, der zwar generell die Aufgabe der Studienreform auch eher als ein Projekt für die großen und überfüllten Hochschulen ansah, aber doch gewisse, mit dem bestehenden System eingeschränkt vereinbare Experimente mit neuen Studienabschlüssen befürwortete. Schelsky erneuerte zudem seine Ablehnung einer Zulassungsbeschränkung nur auf höhere Studiensemester mit den von ihm bereits eingeführten Argumenten, dass dies ein schwieriges Verhältnis zu den übrigen Universitäten begründen und vor allem auch die Möglichkeit zur Rekrutierung begabten Nachwuchses einschränken würde. Auch für Konstanz waren diese Pläne ja kurz vor Beginn der Gründungsausschussarbeit aufgegeben worden. An beiden Orten sollten aber weiterhin neuartige Auswahlprüfungen in Ergänzung des Abiturs als pauschaler Hochschulzugangsberechtigung stattfinden, die allerdings nur von den Konstanzern bereits in Grundzügen entworfen wurden.
Neues Interesse an Fragen der Selbstverwaltung Schelskys Ausführungen zur Selbstverwaltung erfuhren gegenüber der ersten Konzeptskizze eine erstaunliche Erweiterung. War dieser Bereich von ihm zunächst als »wenig wichtiges Problem« beschrieben worden, hatten die Gespräche mit den vorgeschlagenen Gründungsteammitgliedern offenbar einen anderen Eindruck hinterlassen. Statt etwas mehr als zehn Zeilen waren es jetzt beinahe zehn Seiten, also ein Drittel des gesamten Textes, die dem Thema gewidmet wurden. Die zwei ursprünglichen Forderungen – Semiprofessionalisierung der Universitätsleitung und kollegiale Auffüllung der Selbstverwaltungsspitzen – blieben erhalten, erfuhren aber eine wichtige Ergänzung: Die Assistenten wurden nun als dritte Gruppe der Korporation der Universität neben Professoren und Studenten aufgenommen und sollten damit eine deutliche Aufwertung erfahren. In Schelskys Worten: »Die Universität sollte nicht darauf verzichten, sich des kritischen Geistes, des Einfallsreichtums und Elans dieser
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Gruppe über ihre berufliche Tätigkeit hinaus zur Gestaltung des Schicksals der Hochschule zu bedienen.«135 Diese über die reine Ressourcenbetrachtung hinausgehende Wahrnehmung der Assistenten dürfte nicht zuletzt damit zusammengehangen haben, dass Schelsky mit vielen jüngeren Wissenschaftlern im Gespräch über das Neugründungsprojekt war, deren Assistentenzeit noch nicht lange zurücklag. Aber auch Mikat hatte Schelsky beim Gespräch über die Gründungsgremien in dieser Richtung einen Anstoß gegeben, das politische Potential der Frage vielleicht ahnend. Mit Blick auf die Universitätsverwaltung war es eigentlich erstaunlich, was Schelsky Mitte der 1960er Jahre sich noch zu fordern bemüßigt sah. Die Diskussionen über eine Professionalisierung der Universitätsverwaltung und -leitung dauerten aber tatsächlich seit vielen Jahren unvermindert an und die Hochschulgesetzgebung befand sich 1965 immer noch im frühen Diskussionsstadium. Schelsky teilte zwar die zeitgenössisch populäre Einschätzung, dass das jährlich wechselnde Rektorat den Anforderungen nicht mehr genügte, sah in der Führungsfigur des mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten und lange Jahre tätigen Universitätspräsidenten aber ein gleichermaßen unerwünschtes Extrem. Ihm schwebte eine zwar langfristige und stabile Aufgabenwahrnehmung der Hochschulleitung vor, aber das akzeptable Maximum war für ihn bei drei bis fünf Jahren Amtszeit und einmaliger Wiederwahl des Rektors erreicht – die Konstanzer forderten dagegen »die Ernennung auf unbestimmte Zeit (bis zur Erreichung der Altersgrenze)«.136 Dem Rektor sollte bei Schelsky zudem nach dem Prinzip genossenschaftlicher Selbstverwaltung eine ganze Reihe von Prorektoren aus der Professorenschaft zur Seite gestellt werden, die sich, von kompetenter Verwaltung unterstützt, um wichtige Bereiche wie Forschung, Beziehungen zur Praxis, wissenschaftlichen Nachwuchs und Studentenfragen kümmern würden. Die Fakultäten wollte er trotz der neuen Forschungsgroßinstitute beibehalten und dies weitgehend mit denselben Argumenten wie der Konstanzer Gründungsausschuss, nämlich der Notwendigkeit distanzierterer Gremien für bestimmte Aufgaben wie Berufungen, Habilitationen und hochschulpolitische Grundsatzfragen, die dem »Cliquenwesen« der Institutskonferenzen entzogen sein sollten. Zur Beibehaltung der Fakultäten führte Schelsky als zusätzliches Argument zudem an, dass diese Einheiten zu Institutionen der Gesellschaft wie Schule, Rechtspflege, Verwaltung und Wirtschaft, Technik, Ärzteschaft und Kirchen traditionell in Korrespondenz stünden und das Abgehen von dieser Entsprechung die Beziehungen der Universität zu ihrer sozialen Umwelt gefährden könnte. Diese Praxisbeziehungen aber waren Schelsky, wie ein weiterer Abschnitt seines Konzeptes zu »Beziehungen zu Praxis und sozialer Umwelt« zeigte, besonders wichtig. 135 Ebd., S. 53. 136 WRK, Dokumente zur Gründung neuer Hochschulen 1960–1966, S. 619.
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In seinen erheblich erweiterten Erläuterungen zur Selbstverwaltung zählte Schelsky auch eine ganze Reihe von bekannten Schwächen derselben auf, die er aber nicht durch bestimmte organisatorische Maßnahmen lösbar, sondern nur durch Selbstkritik, Kompromissfähigkeit und eben die Einbeziehung aller Korporationsgruppen für kontrollierbar hielt und eine »grundsätzliche Reformpflicht als Selbstverwaltungsgrundsatz«.137 Auch wenn er die konkrete Satzungsarbeit auf den Zeitpunkt nach der Gründung verschieben und damit absehbar schwierige Diskussionen aus dem Gründungsausschuss heraushalten wollte, beschrieb er doch Prinzipien, die seines Erachtens in der Gründungsgruppe konsensfähig sein sollten. Anregungen hatte er dabei offenbar insbesondere vom Tübinger Rechtswissenschaftler Otto Bachof (1914–2006) erhalten, der sich nach der Übernahme des dortigen Rektoramtes von 1959 bis 1961 selbst zu »Überlegungen zu einer Verwaltungsreform der deutschen Hochschulen« genötigt gesehen hatte.138 Eine wichtige Vorentscheidung, die Schelsky mit seinen Ausführungen treffen wollte, bezog sich schließlich auf die Art der Einbindung von Studenten und Assistenten. Ihm schwebte eine Beteiligung der beiden Korporationsgruppen an den Gremien der neuen Universität vor, die aber indirekt oder vermittelt stattfinden sollte. So wollte er die Prorektoren für Assistenten und Studenten jeweils nicht von diesen Gruppen selbst gestellt sehen, sondern aus der Gruppe der Professoren, die dann in der Universitätsleitung als Mittler der Interessen von Assistenten und Studenten fungieren würden: »Der Weg der repräsentativ-demokratischen Mitbestimmung in den obersten Verwaltungsgremien, dessen Ausweitung heute von manchen Studentenvertretern als die einzige und notwendige ›Demokratisierung‹ der Universität betrieben wird, ist nicht nur ein Irrweg, der das Wesen der Universität und ihre Leistungsfähigkeit für Forschung und Lehre gefährdet, sondern dient in den meisten Fällen kaum den berechtigten Interessen der Vertretenen […].«
Nicht widerspruchsfrei fügte Schelsky 1965, also einige Zeit bevor die Auseinandersetzungen innerhalb der Universitäten eskalierten, an: »Wenn man erlebt hat, wie wenig Vertreter der Studierenden etwa im Senat einer Hochschule zu sagen haben – in des Wortes doppelter Bedeutung –, kann man weder in der vollen und stimmberechtigten Teilnahme von Studenten- und Assistentenvertretern an den Beratungen des Senats eine Gefährdung der sachkundigen Selbstverwaltung der Hochschule noch einen großen Gewinn für die Interessen der einzelnen Assistenten oder Studierenden sehen.«139
137 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 51. 138 Bachof, Überlegungen zu einer Verwaltungsreform. 139 Beide Zitate aus: Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 58 f.
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Dieses Urteil war durch die qualifizierte und engagierte Arbeit der VDS-Kommission zu Universitätsneugründungen und Hochschulreform 1962 nicht gedeckt. Dennoch war es scheinbar außerhalb von Schelskys Vorstellungskraft, dass ein Senat die Studenten und Assistenten, selbst wenn sie wirklich etwas Gewichtiges zu sagen hätten, regelmäßig zu Wort kommen lassen würden. Er erachtete es daher als konsequent, einen eher patriarchalischen Ansatz zu verfolgen, nach dem die Professoren – wenigstens aber die beiden beauftragten Prorektoren – im Interesse der beiden Korporationsgruppen handeln sollten. Auf einer Linie mit dieser eingeschränkten Konzession lag auch Schelsky Vorschlag, noch Assistenten in den Wissenschaftlichen Beirat, nicht aber in den Gründungsausschuss und Studenten in keines der beiden Gründungsgremien hineinzuholen – eine Position, die in Widerspruch zu den Forderungen des VDS von 1962 stand und sich auch nicht ganz durchhalten lassen würde. Bei der Auswahl der Assistenten entschied man sich dann vorsichtshalber auch noch für die eigenen (zunächst einen Schelskys, dann einen Lübbes), die damit in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis standen. Die Konstanzer waren in dieser Frageeinen Schritt weiter als Schelsky gegangen, allerdings auch erst nach Abschluss der Gründungsausschussarbeiten, und hatten die Teilnahme von Vertretern der Studierenden und Assistenten an den Sitzungen des Großen und Kleinen Senates vorgesehen.
Beziehungen zu Praxis und sozialer Umwelt Auch die Vorschläge für die Öffnung der neuen Universität zur Gesellschaft hin erfuhren am Ende des ersten halben Jahres von Schelskys Planungsauftrag und seinen zahlreichen Gesprächen eine deutliche Erweiterung. War es ihm anfangs vor allem um eine Reform der akademischen Berufsfortbildung gegangen, die sich an die Alumni und andere Interessierte aus der Region der neuen Universität richten würde, kamen jetzt weitere Aspekte hinzu. Als zweiten Vorschlag formulierte Schelsky den »systematischen Kontakt zwischen Politikern und Wissenschaftlern« – also eine Art politikberatende Funktion –, als dritten eine »systematisch betriebene Publizität«, um Erkenntnisse zu verbreiten und Aufwendungen für die Wissenschaft zu rechtfertigen – in heutigen Worten also eine Mischung aus Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftspopularisierung –, sowie als vierten schließlich Anstrengungen für ein »gemeinsames geistiges und kulturelles Leben« der Neugründung mit der sie umgebenden Gesellschaft.140 Zur Implementierung dieser vier Vorschläge hatte sich Schelsky ein Bündel an noch unterschiedlich konkreten und insgesamt nicht besonders streng systematisierten Maßnahmen überlegt, etwa eine »Informations- und Pressestelle« und ein »Zentrum für wissenschaftliche Fortbildung« mit eigenen Räumlichkeiten sowie Unterbringungsmöglichkeiten, das eng mit bereits existierenden Fortbildungseinrichtungen in der Region zusammenarbeiten sollte. Neben der 140 Ebd., S. 59 f.
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Notwendigkeit von Weiterbildungsangeboten sah er auch einen Bedarf an »geselligen« Veranstaltungsangeboten für die Zielgruppe Alumni, die er im deutschen Hochschulwesen für bedauerlich vernachlässigt hielt. Bei der Verbindung von wissenschaftlicher Fortbildung und Praxis sah er ein weiteres Anwendungsfeld in der Beziehung der neuen Universität zur Schule. Da die Universitätsneugründung seines Erachtens die Gründung einer höheren Schule in unmittelbarer Nähe ohnehin erforderlich machen würde, für die vielen Professorenkinder, könnte man diese gleich für ein »Schulexperiment« nutzen, an dem »neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Höherer Schule versucht und erprobt« werden könnten.141 Professoren sollten in dieser Schule mitwirken und Lehrer wiederum in der Universität, beides zum Vorteil künftiger Lehrer und Schüler. Es war der Ursprung des späteren Schulexperiments in Laborschule und Oberstufenkolleg Hartmut von Hentigs, der wenig später mit einem entsprechenden Gutachten beauftragt wurde. Vage blieben die Ideen zur wirksameren Gestaltung von wissenschaftlicher Politikberatung. Den Ministerien lägen schon heute genug Gutachten vor, so Schelsky, doch die Kontakte zwischen Wissenschaft und Politik müssten zur Erhöhung ihrer Wirksamkeit institutionalisiert und persönlicher gestaltet werden, die Wissenschaft sich mehr Gedanken über die Aufbereitung ihrer Ergebnisse und die Nachverfolgung ihrer Aufnahme und Umsetzung machen. Diese Fragen waren für den Soziologen Schelsky von besonderer Bedeutung, da er nicht zuletzt als Leiter der Sozialforschungsstelle Dortmund mit den zeitgenössischen Erwartungen an den Praxisbeitrag seines Fachgebietes immer wieder konfrontiert war. Die zahlreichen neuen Vorschläge zu Fortbildung, Praxisbeziehungen und Politikberatung ergänzte Schelsky schließlich um Überlegungen zum kultu rellen Leben. Hier sprühte Schelsky vor Ideen und konnte sich mit Ausstel lungsräumen, Musikräumen, Studentenbühne, Studentenhaus, Clubhäusern für Professoren und Assistenten, Kasinos in den Instituten, Gästehäusern für Gastprofessoren, Gastprofessuren für Maler, Musiker und Schriftsteller plötzlich sehr vieles vorstellen. Überhaupt ging es ihm darum, dass hier ein »bewußter und beabsichtigter Stilwandel des akademischen Lebens« vollzogen wurde.142 In diesem Zusammenhang fiel dann doch noch der Name Humboldts: »Sie [i. e. Humboldts Vorstellung eines kulturellen und geselligen Lebens, M. M.] wurde in der hochbürgerlichen Epoche durch die private häusliche Geselligkeit weitgehend geboten; da diese in ihren Voraussetzungen durch Schwund der besitzbürgerlichen Haushaltsführung, durch die Arbeitsüberlastung und die quantitative Vermehrung der Universitätsangehörigen weitgehend aufgehoben ist, gilt es hier, in anderen Formen ein durchaus gültiges Erbe Humboldts zu erneuern und zu bewahren.«143 141 Ebd., S. 61. 142 Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 62 f. 143 Ebd., S. 63.
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Zugleich äußerte Schelsky aber die Sorge, dass dieses Programm an einer Neugründung, die auf Grund ihres Platzbedarfs in jedem Fall am Rand einer Stadt gebaut werden müsste, besonders schwierig umzusetzen sei, denn – so seine pointierte Formulierung – »allein vom Hörsaal aus wird man kein Zentrum des geistigen Lebens«.144 Rothe hatte deshalb 1960 in seinem ersten Konzept für eine Universitätsneugründung Bremen noch auf die Möglichkeiten einer Campus-Universität gesetzt. Auch wenn Schelsky keine einfache Lösung für diese Herausforderung sah, unterstrich er deren Bedeutung für die neue Universität. Wenn man sich in dieser Frage nicht die angelsächsischen Hochschulen mehr zum Vorbild nehme, werde nicht zuletzt die Rekrutierung ausländischer Gastprofessoren darunter leiden. Dieser Verweis, mit dem Schelsky das Kapitel zu Umweltbeziehungen und geselligem Leben schloss, muss sich aus der Beratung mit den jüngeren Kollegen ergeben haben, die im Gegensatz zu ihm auf verschiedene Austauscherfahrungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, aber auch anderen Ländern blicken konnten. Die Campus-Universität als Möglichkeit, mit den Herausforderungen von akademischem Austausch und sozialem Umgang umzugehen, tauchte in Schelskys Text dennoch nicht auf. Für Planung und Aufbau der Gebäude sah Schelsky sich nicht zuständig und machte daher keinerlei Vorschläge zu diesen Bereichen.145 Viele der Themen, die Schelsky in diesem Kapitel bearbeitet hatte, waren zeitgenössisch völlig neu für das bundesrepublikanische Hochschulwesen. Um nur zwei Beispiele aufzugreifen: Pressestellen an Universitäten waren in der Westdeutschen Rektorenkonferenz noch ein frisches Thema und Alumni- Arbeit keine Aktivität der Hochschule, sondern am ehesten noch eine der Studentenverbindungen. Auch der Konstanzer Gründungsausschuss hatte sich auf keinem der von Schelsky hier angesprochenen Felder mit Empfehlungen hervorgetan – außer den wenigen Zeilen, die kurz vor Redaktionsschluss noch zum studentischen Leben eingefügt worden waren, für dessen Organisation man die Studenten selbst in der Verantwortung sah. Auch weil vieles also nicht auf bestehenden Erfahrungen aufsetzen konnte, sah Schelsky Bedarf für vertiefende Gutachten, nicht nur zum Schulexperiment, sondern auch zum kulturellen Leben der neuen Universität.
Hoffnung auf schnelle Umsetzung Schelsky schloss seine Konzepterweiterung mit einigen Bemerkungen zur Entwicklung der Neugründung. Trotz der Schwierigkeiten, die sich bei den Haushaltsberatungen des Landes für 1966 ankündigten, ging er weiter von einem Aufbau der neuen Universität bis 1972 aus, allerdings mit der großen Einschrän 144 Ebd. 145 Ebd., S. 68. Für die Auswahl der späteren Entwürfe im Wettbewerb um den Bau der Universität interessierte er sich dann allerdings doch noch.
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kung, dass bis dahin nur die Sozial- und Geisteswissenschaften ihre Arbeit aufnehmen würden, weshalb im Gründungsteam ja auch keine Naturwissenschaftler vertreten waren – anders als in Konstanz, wo man als Naturwissenschaft vor allem die Biologie von Anfang an aufbauen wollte. An der Marke 1972 hielt Schelsky in der optimistischen Annahme fest, dass bis dahin von stagnierenden oder leicht sinkenden Studentenzahlen ausgegangen werden könne, so dass der in diesem Zeitfenster von etwa fünf bis sieben Jahren vorübergehend gelinderte Ausbildungsdruck »wenigstens an einigen Hochschulen zur Reform der Forschungs-, Studien- und Arbeitsweisen benutzt wird«.146. So schnell wie möglich wollte Schelsky daher das ZiF in einem baulichen Provisorium beginnen lassen, zusammen mit ein bis zwei Forschungsinstituten, die er von der Uni Münster aus für aufbaubar hielt, da diese von den möglichen Standorten in Ostwestfalen ja nur etwa 70 Kilometer entfernt war. Schelsky schloss sein erweitertes Konzept mit dem Appell, dass nun alles da rauf ankomme, bei den gründenden Personen Begeisterung zu schaffen und zu erhalten, weil »neue Institutionen vor allem aus der Begeisterung der sie gründenden und tragenden Menschen für eine neue Sache leben«.147 Lübbe, der den Text – so wie die übrigen Gründungsteammitglieder – von Schelsky kurz nach der Fertigstellung zugeschickt bekommen hatte, gehörte zu denen, die zunächst offenbar durchaus begeistert waren. Bezüglich Schelskys Vorgehen, noch vor Beginn der offiziellen Ausschussarbeit eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zentral abzustimmen, hatte er keine Bedenken und sah vor allem den Zeitgewinn dieses Prozederes. Nach der Lektüre des erweiterten Konzeptes meldete er zurück: »Bereits jetzt lässt sich […] sagen, dass in Ihrem ›Entwurf‹ ein wesentlicher Teil der Arbeit schon geleistet ist, die in anderen Fällen Gründungsausschüsse die längste Zeit ihrer Tätigkeit beschäftigt hielt.«148 Lübbe bestärkte Schelsky darin, nach der konstituierenden Sitzung mit dem ZiF rasch eine erste arbeitsfähige Einrichtung zu schaffen. Von Bremen, wo die Gründungsvorbereitungen, nicht zuletzt wegen der unklaren Finanzierung, nun schon in das sechste Jahr gingen, wollte man sich positiv abheben. Möglichst schnell, darin war sich Lübbe mit Schelsky einig, sollte die Neugründung vom Papier in die Wirklichkeit geholt werden. Tatsächlich hatte Schelskys Vorgehen im ersten Halbjahr 1965 schnell zu ersten Ergebnissen geführt. Von den Vorbereitungen des Konstanzer Gründungsausschusses unterschied es sich in vielfacher Hinsicht. In Baden-Württemberg war zunächst der Neugründungsstandort Konstanz durch den Ministerpräsidenten bestimmt worden, für den es anschließend eine genaue Bestimmung zu finden galt. Dazu hatte das Kultusministerium sich nach längerem Zögern mit 146 Ebd., S. 66. 147 Ebd., S. 69. 148 Brief Lübbe an Schelsky vom 16.9.1965, in: UABI NL Schelsky, 10.
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einzelnen Wissenschaftlern beraten, und in Abstimmung mit wissenschaftspolitischen Akteuren aus Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft ein vorläufiges Konzept und eine Gründungsgruppe zusammengestellt. Erst vier Jahre nach Kiesingers Gründungsimpuls lag mit der im Landtag diskutierten und danach gewissermaßen politisch abgesicherten Denkschrift der Landesregierung schließlich eine umfassende Diskussionsgrundlage für den Konstanzer Gründungsausschuss vor. In Nordrhein-Westfalen war der Vorlauf für das von Schelsky begleitete Neugründungsprojekt im Ministerium selbst erheblich kürzer gewesen. Dort hatte man mit der Gründungserfahrung von Bochum im Rücken binnen eines Jahres den Schritt von der Idee zum Beginn der Neugründungsplanung in Ostwestfalen gemacht, dabei allerdings kaum inhaltliche Vorgaben für das Projekt formuliert. Schelsky hatte nach seiner Ansprache dann aufgrund der jahrelangen eigenen Beschäftigung mit dem Thema nur wenige Tage für ein erstes Konzept und danach nur wenige Monate gebraucht, um seine ideale Gründungsgruppe zusammenzustellen und dabei die Konzeptskizze zu einer ausführlichen Diskussionsgrundlage des Gründungsausschusses auszubauen. Diese Vorschläge waren allerdings auch nach der Erweiterung des Konzeptes weniger detailliert als jene in Baden-Württemberg und, anders als dort, auch nicht mit dem Ministerium inhaltlich abgestimmt. Beide Gründungsausschüsse begannen also bei ihrer konstituierenden Sitzung die Arbeit keineswegs mit einem weißen Blatt Papier, befanden sich aber auf hochschulpolitisch unterschiedlich stabilem Fundament. Die im Herbst 1965 offene Frage war nun, wohin der von Schelskys verfolgte Weg mit einem Konzept von mittlerer Konkretion, das politisch lediglich im Ministergespräch abgesegnet war, führen würde.
4.3.3 Arbeit der Gründungsgremien mit vielen Unterbrechungen Obwohl die Gründungsgruppe im Juli 1965 feststand und Schelsky sein Konzept im August fortgeschrieben hatte, konnte es mit den Arbeiten des Gründungsausschusses noch nicht losgehen. Vier Monate vergingen zwischen dem von Schelsky erhofften Starttermin am Ende des Sommersemesters 1965 und dem tatsächlichen Beginn der Beratungen Mitte November 1965. Denn trotz Planung der Neugründung im kleinen Format als Drei-Fakultäten-Universität und stufenweisem Aufbau, enthielten die Haushaltsverhandlungen der Landesregierung für das Jahr 1966 keine guten Nachrichten. Eine erste Konjunkturdelle machte auch den beiden Reform-Neugründungen zu schaffen. Ende September 1965 war in der Zeitung nachzulesen, worüber Schelsky erst kurz zuvor von Mikat ins Bild gesetzt worden war, dass sich nämlich der nordrhein-westfälische Finanzminister mit seinem Kollegen im Kultusministerium
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über die Prioritätensetzung beim Hochschulaus- und -neubau in NordrheinWestfalen uneinig war.149 Das Finanzministerium vertrat die Meinung, dass der Ausbau der bereits im Sommer 1965 teileröffneten Ruhr-Universität in Bochum, deren Gesamtkosten inzwischen auf gewaltige 2,3 Milliarden DM veranschlagt wurden, Vorrang vor allen übrigen geplanten Universitäten des Landes haben müsse. Auch die Demonstrationen der sogenannten »Aktion 1. Juli«, bei der während des Bundestagswahlkampfes im Sommer 1965 erstmals Studierende und Professoren in vielen Hochschulstädten gemeinsam in großer Zahl für eine höhere politische Priorisierung des Hochschulbereichs protestiert hatten, mögen zur Überprüfung des bisherigen Vorgehens in Sachen Universitätsneugründungen geführt haben. Nach außen jedenfalls gab die Landesregierung anschließend die Parole aus, die Konzentration auf bereits im Bau befindliche Projekte würde am schnellsten für Entlastung Sorgen. Mikat musste also öffentlich eingestehen, dass der Ausbau der bestehenden Landesuniversitäten Aachen, Bonn, Köln und Münster bei gleichzeitiger Neugründung von Universitäten in Bochum, Dortmund, in Ostwestfalen und auch noch Düsseldorf (dort als Ausbau der bereits bestehenden Medizinischen Akademie) das Land Nordrhein-Westfalen überforderte, und mit einer »Phasenverschiebung« bei der Umsetzung der Hochschulprojekte gerechnet werden müsste. Aus dem Landesetat für 1966 von knapp 10 Milliarden DM waren zwar immer noch rund 920 Millionen DM für den Hochschulaus- und Neubau vorgesehen, davon allerdings nur eine geringe sechsstellige Summe an Vorplanungskosten für die ostwestfälische Neugründung.150
Standortwahl für die neue Universität Neben den Meinungsverschiedenheiten über die Zusammensetzung des Gründungsteams der neuen Universität und der erstmals seit Beginn des Wirtschaftswunders verschlechterten Finanzlage des Landes trugen auch die Auseinandersetzungen über die Standortfrage innerhalb der Region Ostwestfalen dazu bei, dass die Konstituierung der Gründungsgremien langsamer verlief als von Schelsky gewünscht. Anders als in Konstanz war der Ort der Neugründung nicht bereits vorab vom Ministerpräsidenten dekretiert worden, sondern sollte innerhalb der Region Ostwestfalen noch bestimmt werden. Und der Ausschuss durfte offenbar nicht zusammenkommen, bevor die Entscheidung über den genauen Standort gefallen war. Seit der Entscheidung der Landesregierung, in Bochum eine erste Universi tätsneugründung anzugehen, hatten sich verschiedene Städte in Ostwestfalen in 149 Dazu der Bericht: Wenig Geld für neue Hochschulen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.9.1965. 150 So der Bericht: Die Universität in Ost-Westfalen rückt in weite Ferne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.1965.
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Konkurrenz um eine weitere Universitätsneugründung des Landes befunden. Anfang 1965, als die Gründungsbemühungen sich für den östlichen Landesteil konkretisierten und Mikat die Beauftragung Schelskys mit einem Konzept publik gemacht hatte, intensivierte sich der Wettbewerb um den Universitätsstandort vor allem zwischen den Städten Bielefeld, Detmold, Herford und Paderborn. Die Städte kämpften mit eigenen Werbeschriften und Unterstützung der lokalen Medien um die neue Universität, die in Zeiten einer für das Thema Bildung inzwischen bereiteten Öffentlichkeit nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein Prestigeobjekt moderner Standortpolitik überhaupt war. Schelsky hatte, da zunächst kein Prozedere für die Standortauswahl festge legt worden war, früh für eine Versachlichung der Debatte geworben und dazu beigetragen, dass Clemens Geißler von der Arbeitsgruppe Standortforschung der Technischen Hochschule Hannover und Dietrich Storbeck vom Zentralinstitut für Raumplanung der Universität Münster mit umfangreichen Expertisen zum regionalen Studentenaufkommen und zur Formulierung und Auswertung sozioökonomischer Makro- und Mikrostandortkriterien beauftragt wurden.151 Geißler war auf Anregung des Wissenschaftsrates bereits mit einer Untersuchung der Wanderungsbewegungen deutscher Studierender beschäftigt, über die man bis dahin lediglich Vermutungen anstellen konnte, und schätzte in seiner Untersuchung für den Regierungsbezirk Detmold, in dem auch Bielefeld lag, den Studienplatzbedarf für 1980 auf 9.000 bis 11.500. Allerdings kam er zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche Universitätstypen auch unterschiedliche Bedarfe auslösen würden. Für den vorgesehenen Typ einer kleinen Drei-Fakultäten-Universität schätzte er den Bedarf in der Region auf 7.500 bis 6.000 Studierende, was immer noch signifikant über den von Schelsky gewünschten Studienplatzzahlen lag. Geißler schlussfolgerte sehr klar, dass ein Festhalten an diesem Universitätstyp in Anbetracht der geschätzten Nachfrage zwangsläufig dazu führen würde, dass man entweder über entsprechende Auswahlverfahren oder Erweiterungsmöglichkeiten der Hochschule oder schließlich eine weitere Hochschule in diesem Raum nachdenken müsse.152 Diese Einschätzung wurde in der Kabinettsvorlage zur Standortentscheidung im Oktober 1965 nicht reflektiert und die Spanung in der sie zu Schelskys Wunsch eines strukturellen Numerus Clausus stand, nicht problematisiert. Das zweite Gutachten zur Standortfrage beschäftigte sich mit Kriterien, die Makro- und Mikrostandort – also Stadt und Baugelände – zu erfüllen hätten. Bemerkenswert war an diesem Gutachten die Klarheit, mit der sein Autor, der Soziologe Dietrich Storbeck, Argumente für die Gründung zusammentrug und aus ihnen die Standortkriterien ableitete. Er lieferte in seinem Gutachten quasi 151 Die Gutachten wurden schließlich zusammen mit Schelskys Stellungnahme publiziert. Geißler/Storbeck, Standortbestimmung einer Universität. 152 Geißler, Hochschulbesuch in Ostwestfalen-Lippe, S. 59.
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nach, was in Schelskys Langkonzept an umfassender und systematischer Begründung fehlte, nämlich die reform-, ausbildungs-, sozial- und landespolitischen Ziele der Neugründung. Reformpolitisch waren es noch die gleichen Ziele, die 1960 am Anfang der Gründerzeit gestanden hatten und der Annahme folgten, dass sich Reformen wegen der Beharrungskraft bestehender Institutionen am wirkungsvollsten am Beispiel von Neugründungen entwickeln und durchsetzen ließen. Weil Bochum nach Storbecks Bilanz vor allem der Kapazitätserweiterung und Regionalerschließung gedient habe, sei die Gründung einer wirklichen Reform-Universität für das Land nun eine Prestigefrage. Diese Interpretation konnte sich auf Mikat selbst beziehen, der bei unterschiedlichen Gelegenheiten dem Bochumer Gründungsausschuss nur »Reformen mit gedämpftem Trommelwirbel« bescheinigt hatte. Eine ambitioniertere reformpolitische Betätigung Nordrhein-Westfalens mit seiner »überdurchschnittlichen Wirtschaftskraft« zeigte für Storbeck den selbstverständlichen »Anspruch des Landes auf einen führenden Rang innerhalb der Bundesrepublik auch auf dem Bereich von Wissenschaft und Bildung«.153 Bei der Beschreibung und Begründung der weiteren Ziele verwendete Storbeck dann aber ein Vokabular, das sich gegenüber dem Ausgangspunkt der Gründerzeit deutlich verändert hatte. In neuer Weise wurden jetzt Ziele, die vorher implizit teils schon bestanden hatten, nun auch ausgesprochen: Als ausbildungspolitisches Motiv nannte er etwa den Anspruch auf »Mobilisierung von Bildungsreserven […] vor allem in den bisher universitätsfernen Regionen«, als landespolitisches Ziel, »ein regionales Gefälle innerhalb des Landes« beim Bildungsangebot und als damit zusammenhängendes sozialpolitisches Motiv schließlich den »Zugang aller Schichten« zur Hochschulbildung. Das wesentlich von Dahrendorf verbreitete Vokabular von »Arbeiterkindern an unseren Universitäten« (1964) und dem »Bürgerrecht auf Bildung« (1965) diffundierte nun in Publikationen aller Art – auch das Standortgutachten für eine Universität in Ostwestfalen. Kurz gefasst sollte die Universität zu all den Bürgern kommen, die bisher nicht den weiten Weg zu ihr auf sich nehmen konnten oder wollten. Und wenn man die Standortwahl nur richtig betreiben würde, so argumentierte Storbeck, waren die Ziele Hochschulreform, Regionalversorgung und Chancengleichheit durchaus miteinander vereinbar.154 Für Schelsky war die Standortentscheidung schnell klar. Im Juli 1965 hatte er zusammen mit von Medem, der ihn in allen organisatorisch-technischen Fragen 153 Storbeck, Sozialökonomisches Gutachten, S. 66–67. 154 Storbecks Kriterien für den Makrostandort waren Finanzlage, Wirtschaftskraft, Wohnungswirtschaft, Konsumgüterhandel, Dienstleistungen, Bildungseinrichtungen, Kulturelle Leistungen, Gesundheitsdienst, Erholungs- und Sportanlagen, Arbeitsmarkt, Konfessionelle Bindungen; Kriterien für den Mikrostandort waren vor allem Erschließungszustand, Erwerbskosten, verkehrsmäßige und landschaftliche Lage.
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entlasten sollte, die Standorte vorbesichtigt und danach lediglich eine Wahlmöglichkeit zwischen Detmold und Bielefeld gesehen.155 Das bis Ende August von Storbeck fertiggestellte umfangreiche Gutachten kam dann zu einem eindeutigen Ergebnis in Schelskys Sinn.156 Die Mitglieder des interministeriellen Ausschusses zur Standortklärung, die gemeinsam mit Schelsky und von Medem Ende August schließlich neun von dreizehn vorgeschlagenen Grundstücken besichtigten, nahmen zunächst noch Paderborn in die Schlussauswahl mit Bielefeld und Detmold auf. Diese drei sollten für die Endauswahl miteinander verglichen werden. Schelsky reichte in dieser Situation, in der eine Wahl zwischen drei Standorten möglich schien, nochmals Argumente für Bielefeld nach. Die Bewertung der drei Städte hinsichtlich ihrer »geistig-kulturelle[n] Eignung« sei in den zwei Gutachten zu kurz gekommen, weshalb er seine diesbezügliche Einschätzung im Anschluss an die Ortsbesuche in pointierter Weise zusammenfasste, um die endgültige Entscheidung zu erleichtern. .« Für eine Universität als urbane Einrichtung konnte in Ostwestfalen nach Schelsky nur Bielefeld als Ort der Wahl gelten, denn »Bielefeld trägt noch am ehesten die Züge einer Großstadt, in der eine wissenschaftliche Geistigkeit sich zu Hause fühlen könnte.«157 Detmold hingegen bescheinigte Schelsky eine »fast noch idyllische Provinzialität« und Paderborn fand er nur dann geeignet, wenn man bewusst eine katholische Universität gründen wollte, da eine Universität »mit der traditionellen Geistigkeit Paderborns fast sicher in Spannungen geraten würde«.158 Diese prägnanten Urteile vermochten manchen Lokalpatrioten durchaus nachhaltig zu kränken, wie sich bald noch zeigen sollte, die Standortkommission beeindruckten sie aber wohl doch. So wurde am 9. November 1965 die Entscheidung der Landesregierung für Bielefeld verkündet, deren Legitimität auf Schelskys Vorschlag hin mit zwei Gutachten abgesichert worden war.159 In Sachen Standortwahl war für Schelsky nach den frustrierenden Verhandlungen um die Gründungsgruppe also ein Erfolg zu verzeichnen.
155 Vermerk des Kultusministeriums vom 29.7.1965, in: UABI KP 1. 156 Storbeck, Sozialökonomisches Gutachten, S. 212 f.: »Unter den vorgeschlagenen Standorten lässt sich nur der Standort Bielefeld-Wellensiek-Großdornberg als völlig geeignet bezeichnen. […] Demgegenüber bieten Paderborn und Detmold zwar weniger geeignete, aber noch brauchbare Gelände, doch haben in beiden Fällen die Makrostandorte nur begrenzte Eignung als Universitätsstandort.« 157 Schelsky, Stellungnahme zur Standortfrage der Universität in Ostwestfalen, S. 221. 158 Alle Zitate ebd. 159 Der genaue Standort in Bielefeld wurde erst Anfang Juni 1966 bekanntgegeben. Dazu und zur Frage weiterer Einflussfaktoren auf die Entscheidung ausführlich Löning, »Bielefeld erhält die Universität«.
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Konstituierung der Gründungsgremien Zwei Tage, nachdem die Standortentscheidung bekannt gegeben worden war, trafen sich die Gründungsgremien – Gründungsausschuss und Wissenschaftlicher Beirat – der künftigen Universität Bielefeld am 11. und 12. November 1965 in Düsseldorf. Im Vergleich zu den Auftaktsitzungen in Bochum und Konstanz hatte die Veranstaltung keinen herausgehobenen Charakter und war zudem ungünstig terminiert: Wegen der am gleichen Tag stattfindenden Rektoratsübergabe an der Universität Münster sagten die Rektoren aller Landesuniversitäten die Einladung in Sachen Reformuniversität zu Gunsten der Traditionsuniversität ab, ebenso die Spitzen der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Stiftung Volkswagenwerk, die schon in der Hoffnung auf eine Anschubfinanzierung des ZiF eingeladen worden war. Nur der Wissenschaftsrat und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sich für die Konstanzer Gründung besonders eingesetzt hatten, waren schließlich vertreten, als Mikat die Sitzung mit einigen wissenschaftspolitischen Bemerkungen eröffnete. In durchaus dramatischen Farben malte der Minister die Situation aus, in die hinein Planung und Aufbau der Universität Bielefeld erfolgten. Das Geschäft der Neugründungen sei, so Mikat, wegen der kostenträchtigen Wiederaufbauarbeiten an den Bildungs- und Forschungseinrichtungen nach Kriegsende erst sehr spät in Angriff genommen worden. Jetzt aber müsse man umso schneller vorankommen, weil nur noch ein begrenztes Zeitfenster für Reformen zur Verfügung stünde. Die Studentenzahl werde ab Mitte der 1970er Jahre wegen der Geburtenentwicklung der Nachkriegszeit explosionsartig ansteigen, während die verfügbaren Finanzmittel dagegen verhältnismäßig immer knapper würden: »Die deutsche Hochschule hat noch 5 bis 6 Jahre als gewissermaßen ruhige Zeit vor sich […] Was in diesem Zeitraum planungsmäßig nicht zur Reform der Hochschule und zur Erweiterung des Forschungssystems getan wird, hat danach nur noch geringere Chancen auf Realisation. Der Druck zur Erweiterung der Ausbildungskapazität wird dann einfach zu stark.«160
Tatsächlich schloss sich das Reformfenster dann noch schneller als gedacht. Dass entgegen Mikats Annahme nämlich die Studentenbewegung der »ruhigen Zeit« ein vorzeitiges Ende bereiten würde, war im Winter 1965 – trotz der ersten großen Proteste im Juli 1965 – offenbar noch nicht vorstellbar. Selbst für das beschriebene Zeitfenster sah Mikat bereits erhebliche haushalterische Beschränkungen des Ausbaus, die letztlich nur einen Teilaufbau der neuen Universitäten zuließen – in Bielefeld zunächst nur die Sozial- und 160 Vortrag des Kultusministers vor dem Gründungsausschuss für die Universität Ostwestfalen am 11.11.1965, in: UABI KP 8. Eine teilweise etwas abgeschliffene Fassung der Rede ist abgedruckt in: Mikat/Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 11–19.
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Geistesw issenschaften – und zudem eine Schwerpunktsetzung verlangten, die von Schelsky auch unter anderen Vorzeichen, nämlich als Ausdruck sinnvoller Spezialisierung und gewünschter Differenzierung befürwortet worden war. Für Mikat handelte es sich dabei vor allem um eine Frage rationelleren Mitteleinsatzes. Seine Stellungnahme zeigt, dass der Kultusminister noch sichtlich unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit dem Finanzminister in den vorangegangenen Monaten stand, in der er sich trotz Haushaltskrise und Kostenexplosion auf der Neugründungsbaustelle in Bochum für den gleichzeitigen Start der Bielefelder Neugründung und die Erweiterung der Düsseldorfer Akademie zur Universität eingesetzt hatte. Der scheinbar erreichte Kompromiss eines parallelen Aufbaus von Kernen statt eines sequentiellen Vollaufbaus der einzelnen Universitäten ähnelte auffällig dem Vorgehen in Baden-Württemberg. So wie Konstanz zunächst einen komplementären Schwerpunkt zu jenem der geplanten Neugründung in Ulm aufwies, sollte auch die Bielefelder Universität anfangs zunächst nur in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausgebaut und die Düsseldorfer dagegen durch die Naturwissenschaften von der Medizinischen Akademie zur Universität ausgebaut werden. Diese doch eher finanzpolitisch als inhaltlich motivierte Parallele wurde von Mikat allerdings nicht thematisiert, wohl weil eine Profilierung im Länderwettbewerb durch geschickte Nachahmung nicht zu erreichen war. In reformpolitischer Hinsicht distanzierte sich Mikat in seinem Eröffnungsvortrag ein weiteres Mal von den bis dahin erreichten Gründungsergebnissen der gerade erst teileröffneten Ruhr-Universität: »Mit Bochum ist sicherlich nicht die Ablösung der deutschen Hochschule vom Humboldt’schen Zeitalter gekommen!«161 Nach seiner ausführlichen Beschäftigung mit den ökonomischen Zwängen steckte er aber kein eigenes Programm an Reformaufträgen ab, sondern überließ dieses Feld Schelsky. Der nutzte die Gelegenheit, sein Konzept einer Universität mit neu organisierten Forschungsbedingungen erstmals mit etwas Empirie zu begründen. Dazu hatte er in den vorangegangenen Monaten 30 Professoren aus Philosophischen sowie Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten unterschiedlicher Universitäten zu deren Wochenablauf befragt.162 Dieser privaten Umfrage zufolge, die die Lage in den Natur- und Technikwissenschaften ausklammerte, summierten sich die Aufgaben in Lehre und Verwaltung sowie Tätigkeiten als wissenschaftliche Experten auf durchschnittlich 61 Wochenstunden, ohne dass darin aber bereits Forschungszeit enthalten war. Alle befragten Kollegen würden zum Forschen auf die Semesterferien ausweichen.
161 Vortrag des Kultusministers vor dem Gründungsausschuss für die Universität Ostwestfalen am 11.11.1965, in: UABI KP 8. 162 Mikat/Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 21–34.
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Seine Umfrageergebnisse dienten Schelsky zur Illustration der enormen Diskrepanz zwischen – so auch der Titel seines Vortrags – »Berufsbild und Berufswirklichkeit des Professors«, also zwischen gewünschter und tatsächlich möglicher Einheit von Forschung und Lehre. Die von ihm ausgemachte Konzentration der Öffentlichkeit auf die Professoren als Verantwortliche für die schleppend vorankommende Hochschulreform fand Schelsky vor diesem Hintergrund ungerecht, weil – wie er mit seiner Erhebung zu belegen versuchte – seinen Kollegen und ihm die institutionellen Voraussetzungen zur Erfüllung ihrer Pflichten nicht gewährt würden. Vergleichsweise vernachlässigt schienen ihm in der öffentlichen Debatte im Gegensatz zu Universitätsfinanzierung sowie Rationalisierung und Intensivierung ihrer Ausbildungsaufgaben dagegen Vorschläge zum Verhältnis von Schule und Hochschule, zur »Rolle der Geselligkeit in einem geistigen Bildungsprozess« und insbesondere eben zur Forschungsreform.163 Schelskys präsentierte erneut die zwei Alternativen, die sich seines Erachtens aus der Problemlage in Sachen Forschung ergäben, nämlich entweder die Verlagerung der Forschung in den außeruniversitären Bereich und damit eine institutionelle Trennung von Forschung und Lehre, oder aber ihre Wiederherstellung durch organisatorische Neuerungen verschiedener Art. Um genau den zweiten Ansatz, den er als die zweifellos schwierigere Lösung ansah, die aber auch dem Wunsch fast aller Hochschullehrer entsprechen würde, sollte es in Bielefeld gehen. Antworten auf die zeitgenössischen Herausforderungen, das war für Schelsky zentral, sollten nicht nur zusammen entworfen, sondern auch gemeinsam im Aufbau praktiziert werden: »Die Gründung einer neuen Universität ist ein geistiger Prozess und muss als solcher organisiert werden. Wer glaubt, dass mit einem Struktur- oder Organisationsgutachten für eine neue Universität, an das sich dann die Beteiligten halten sollen, das Wesentliche für eine Universitätsgründung geleistet sei, befindet sich auf einem Holzwege.«164
Diese Kritik richtete sich auch an Mikat, der sich Schelskys Idee einer großen und durch attraktive Bedingungen längerfristig verpflichteten Gründungsgruppe letztlich verweigert hatte. Vier Wochen vor der konstituierenden Sitzung hatte Schelsky bei Mikat ein letztes Mal versucht, das Verhältnis der von Mikat in zwei Gruppen aufgespaltenen Gründungsgremien zu klären und eine offizielle Berufung nicht nur der Mitglieder des Gründungsausschusses sondern auch des ihm besonders wichtigen Beirats zu erreichen. Die Enttäuschung, 163 In Fragen der Hochschulausbildung hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Hans Dichgans (1907–1980) seit 1963 beachtliche Öffentlichkeitswirkung erreicht mit seinen Forderungen nach Studienzeitverkürzung und straffer Planung der Studiengänge: Dichgans, Erst mit dreißig im Beruf. 164 Mikat/Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 22.
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die er Lübbe gegenüber schon geäußert hatte, wiederholte er jetzt auch in einem Brief an den Minister selbst und begründete für die kommenden Jahre damit zugleich eine Tradition von Rücktrittsdrohungen. Schelsky erklärte Mikat nämlich, den Vorsitz eines Gründungsausschusses mit der Aufgabenstellung wie bei den bisherigen Gründungsgremien neuer Universitäten keinesfalls übernehmen zu wollen: »Ich habe den Eindruck, dass doch alles nach dem Schema der vorhergehenden Universitätsplanungen gestaltet werden soll: dass an die Stelle einer größeren, in wissenschaftlicher Zusammenarbeit zusammenwachsenden Gründungsgruppe doch nur ein kleiner Strukturberatungsausschuss erwünscht erscheint […]. Ich möchte Sie sehr bitten, vor allen anderen Tagungspunkten über diese Fragen in der internen Sitzung des Gründungsausschusses eine Klärung herbeizuführen, da davon wahrscheinlich die Form meiner weiteren Mitarbeit, aber auch die anderer Kollegen abhängen wird.«165
Zu einer Beantwortung kam es tatsächlich erst in der Auftaktsitzung. Vor den versammelten Mitgliedern des Gründungsausschusses erklärte Schelsky, dass er den Kollegen nur davon abraten könne, den Vorsitz des Gründungsausschusses zu übernehmen, weil dieser sich nicht vorrangig mit wissenschaftlichen Fragen, sondern mit der Umsetzung wissenschaftlicher Vorstellungen in Organisations-, Zeit- und Kostenpläne befassen würde.166 Von Medem lehnte als Verwaltungsbeauftragter des Kultusministers ebenfalls ab. So kam es zu der skurrilen Lösung, dass Mikat selbst den Vorsitz des ihn ja eigentlich beratenden Gremiums übernahm und Schelsky sowie von Medem zu seinen beiden Stellvertretern ernannte. Einen vom Minister geleiteten Gründungsausschuss hatte es bis dahin nur in Regensburg gegeben, was in der Szene der Universitätsreforminteressierten zu allgemeinem Gespött geführt hatte und als Ausdruck der etatistischen bayerischen Politik eben auch in Hochschuldingen galt. Wenig überraschend lehnte Mikat im Anschluss an diese Szene Schelskys Wunsch, die beiden Ausschüsse nach außen hin als ein Gründungsgremium zu behandeln, ausdrücklich ab. Dennoch übernahm Schelsky am nächsten Tag den Vorsitz des »Wissenschaftlichen Beirates«, der abgesehen von den Gründungsausschussmitgliedern noch 17 weitere Personen zu den sieben vorgesehenen Forschungsinstituten enthielt, mit einer Häufung in den Rechtswissenschaften und der Soziologie.167 Ein Teil 165 Helmut Schelsky an Paul Mikat am 16.10.1965, in: UABI KP7. 166 Protokoll der konstituierenden Sitzung des beratenden Gründungsausschusses für die Universität im ostwestfälischen Raum am 11.11.1965 im Karl Arnold-Haus (Haus der Wissenschaften) in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 167 Sortiert nach Fächern umfasste der Beirat Ende 1965 folgende Personen: Für die Rechtswissenschaften zusätzlich zu Ernst-Joachim Mestmäcker als GründungsausschussMitglied Werner Maihofer (Saarbrücken), Ernst-Wolfgang Böckenförde (Heidelberg), Dieter Nörr (Münster), Erich Kaufmann (Bonn). Für die Wirtschaftswissenschaften neben dem Gründungsausschuss-Mitglied Wilhelm Krelle noch Horst Albach (Bonn) und Wolfgang
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dieser Gruppe war erst im Verlauf der Rekrutierungsgespräche hinzugekommen und von Schelsky gewissermaßen auf Rat dritter nachnominiert worden. Hierzu zählten neben Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck noch von der Universität Saarbrücken der Jurist Günther Jahr und der Ökonom Wolfgang Stützl, aus Heidelberg der Chemiker und Soziologe Helmut Krauch, der dort als »Kybernetiker« die interdisziplinäre Studiengruppe für Systemforschung gegründet hatte, sowie aus Göttingen der Pädagoge Hartmut von Hentig, der Schelsky höchstwahrscheinlich von Walther Killy empfohlen worden war, der selbst Schelsky abgesagt hatte und kurz darauf in Bremen als Gründungsrektor vorgesehen war. Diese 17 waren nicht durch eine förmliche Berufung des Ministers legitimiert, Schelsky sah sie aber dadurch als berufen, dass ihre Namen in der Sitzung des Gründungsausschusses verlesen worden waren. Mikat war diesen Fragen aus dem Weg gegangen, indem er an der ersten Sitzung des Beirates nicht teilgenommen hatte. Was sich sicher mit Termingründen rechtfertigen ließ, wurde aber von manchen Mitgliedern als klares Zeichen der Ablehnung interpretiert. Als Reaktion auf die Abwesenheit des Ministers baten die Mitglieder im Nachgang um ein förmliches Ernennungsschreiben.168 So schrieb Hans Blumenberg nach der Auftaktsitzung erbost an Schelsky und bat ihn um Entpflichtung. Mikat sei ja offenkundig nicht bereit, die Mitglieder des Beirates, wie von diesen gewünscht, auch zu ernennen, um keinerlei Verbindlichkeiten für spätere Berufungen zu erzeugen: »Der Minister nimmt von der Existenz des Beirates als einer quasi-privaten Dépendence des Gründungsausschusses keine Notiz. […] Insgesamt muss sich die Unsicherheit und die mangelnde Legitimation der Stellung der Beiratsmitglieder auf deren Unabhängigkeit der Meinungsbildung und -äußerung auswirken.«169
Doch Blumenberg ließ sich noch umstimmen und blieb letztlich im Beirat. Er und Koselleck gehörten zu den Mitgliedern der bereits erwähnten, 1963 gegründeten Gruppe »Poetik und Hermeneutik« und hofften als Mitglieder des WisStützl (Saarbrücken). Für die Soziologie neben Schelsky noch Dieter Claessens (Münster/ Dortmund), Heinz Hartmann (Münster/Dortmund) und Peter Christian Ludz (Berlin). Für die Philosophie neben den Gründungsausschussmitgliedern Hermann Lübbe (Bochum) und J ohannes Metz (Münster) noch Hans Blumenberg (Gießen) und Odo Marquard (Münster). Für die Geschichtswissenschaft neben Werner Conze aus dem Gründungsausschuss noch Reinhart Koselleck (Heidelberg) und den Kunsthistoriker Max Imdahl (Bochum). In den Sprachwissenschaften hatte man kein Gründungsausschussmitglied, sondern zunächst nur die Beiratsmitglieder Walther Killy (Göttingen) und Karl Stackmann (Bonn), für die Mathematik neben dem Gründungsausschussmitglied Friedrich Hirzebruch (Bonn) noch Karl P eter Grotemeyer (Berlin). Zusätzlich kamen außerhalb der sieben vorgesehenen Forschungsinstitute noch der Kybernetiker Helmut Krauch und der Pädagoge Hartmut von Hentig dazu sowie, etwas später, S chelskys Assistent Hans-Jürgen Krysmanski und danach Lübbes Assistent Jürgen Frese. 168 Brief von Medems an Mikat vom 15.11.1965, in: UABI, KP#7. 169 Hans Blumenberg an Helmut Schelsky am 17.12.1965, in: UABI NL Schelsky, 11.1.
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senschaftlichen Beirates auf einen gemeinsamen Arbeitsort in Bielefeld – in einer gewissen Konkurrenz zu Konstanz, wo Jauß kurz darauf die Ernennungsurkunde erhielt. Von der Auseinandersetzung um Verhältnis und Legitimation der Gründungsgremien abgesehen, ging es in der Sitzung des Beirates auch um einige inhaltliche Fragen. Man beschloss, Kommissionen zur Planung des ZiF und für jeden der künftigen Fachbereiche einzusetzen, um dort Fragen der Organisation der Institute, der Institutsschwerpunkte und Universitätsthematiken, der Studienreform und des Verhältnisses zur Praxis zu verhandeln sowie Vorschläge zur Nominierung möglicher Lehrstuhlinhaber zu unterbreiten. Ferner wurde eine Reihe von Gutachten in Auftrag gegeben – etwa bei Hartmut von Hentig zur Verbindung der neuen Universität mit der höheren Schule – und die Einrichtung einer Schriftenreihe für Publikationen über die Bielefelder Neugründung beschlossen. Einigkeit herrschte in der großen Runde darüber, sich die Konzepterweiterung Schelskys vom August 1965 nicht direkt zu eigen zu machen. Im Protokoll wurde festgehalten: »Der Strukturvorschlag von Prof. Schelsky (Dokument X) wird in seiner Darstellung und Formulierung als Schrift eines einzelnen und privaten Autors betrachtet, zu der der GA und der WB durch die Bestimmung der grundsätzlichen Strukturmerkmale Stellung nimmt. […] Die in ihm enthaltenen Vorschläge der organisatorischen Ausgestaltung der grundsätzlichen Hochschulstruktur bleiben weiterhin Gegenstand der Beratung und sind in manchen Fällen erst endgültig durch die praktische Erfahrung in der neuen Hochschule zu klären und festzulegen.«170
Schelsky empfand diese Einschränkung keineswegs als Kränkung und hielt es für möglich, diese Klärungen binnen einiger Wochen zu erledigen. Das Programm, das er kurz nach dem Start der Gründungsgremien als Agenda des Beirates für die nächsten Monate aufschrieb, sah die Verständigung über einen Strukturvorschlag an die Landesregierung Anfang 1966 vor und dann die Vorbereitung des ZiF bis Ende 1966, so dass die Mitglieder des Beirates 1967 dort möglichst schon »kurze Arbeitskurse« abhalten könnten.171 Doch dieser Zeitplan wurde bald darauf ganz unerwartet in Frage gestellt.
Erste Unterbrechung: Schelskys Vergangenheit Wenige Wochen nach der Auftaktsitzung der Gründungsgremien erschien im Dezemberheft der »Deutschen Universitätszeitung« 1965 Schelskys Vortrag über Berufsbild und Berufswirklichkeit der Professoren, um ganz in seinem Sinn die 170 Protokoll der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des Gründungsausschusses für eine Universität in Ost-Westfalen am 12.11.1965 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 171 Vermerk Schelskys vom 20.11.1965 über die weitere Planung (Dokument XV), in: UABI KP #8.
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Diskussion über das Konzept der Bielefelder Neugründung und der dortigen Ideen für eine neue Forschungsorganisation und andere Reformvorschläge anzuregen. Doch ein Artikel in derselben Ausgabe unter der Überschrift »Hexen jagd in Paderborn« überschattete diese Intention, indem er Schelskys Rücktritt vom stellvertretenden Vorsitz des Gründungsausschusses vermeldete. Auftakt und Unterbrechung der Gründungsarbeiten in Bielefeld wurden in der DUZ damit gleichzeitig bekanntgegeben. Der Hintergrund dieser widersprüchlichen Meldungen war, dass einige Paderborner Schelsky Ende November unter Verweis auf eine rund 50seitige Schrift des Soziologen mit dem Titel »Sozialistische Lebenshaltung« aus dem Jahr 1934 als Nazi-Ideologen bezeichnet hatten.172 Schelsky sah diese Schrift als Dummheit eines 21jährigen und sich selbst als Opfer einer »Hexenjagd« an, trat am 30. November aber dennoch als stellvertretender Vorsitzender des Gründungsausschusses zurück. Als ob Schelsky die Vorwürfe ahnte, hatte er drei Tage vor dem Paderborner Vorwurf noch einen Artikel aus dem »Handelsblatt« ausgeschnitten, der über den Rücktritt des Historikers Götz Freiherr von Pölnitz von seinem Amt als Regensburger Gründungsrektor am 20. November, dem Tag nach der dortigen Grundsteinlegung, berichtete.173 Auch bei diesem Rücktritt hatte die nationalsozialistische Vergangenheit, allerdings auch die generelle Überforderung des Regensburger Gründungsrektors eine Rolle gespielt, was nach der Zusammensetzung des ersten Regensburger Gründungsgremiums nun schon die zweite öffentlich belächelte Panne des dortigen Neugründungsvorhabens war.174 In der Woche nach Schelskys Rücktritt berichteten auch mehrere überregionale Zeitungen über den Vorgang, besonders detailliert der »Spiegel« unter der Überschrift »Perplex an der Pader«.175 Hier wurden die Paderborner als schlechte Verlierer der erfolgten Standortentscheidung der Landesregierung und Schelskys Rücktritt keineswegs als notwendige Konsequenz seiner Vergangenheit dargestellt, sondern die Angelegenheit als Posse beschrieben. Der »Spiegel« zitierte Schelsky schließlich mit den Worten: »Ich habe den Heimatschuss erhalten. Nun habe ich wieder Zeit zum Bücherschreiben.«176 Tatsächlich hatten sich die Paderborner offenbar verkalkuliert, denn öffentlich wollte niemand gegen Schelsky Stellung beziehen. Der Fall schien nicht so klar zu liegen wie beim bayerischen Kultusminister Theodor Maunz, der im 172 Zur Rekonstruktion des Vorfalls und der Zeitungsberichterstattung auch in den lokalen Zeitungen: Löning, »Bielefeld erhält die Universität«, S. 288–292. 173 UABI NL Schelsky, 5,2. 174 UABI NL Schelsky, 5,2. Ein Artikel aus der Zeit illustrierte die längere Vorgeschichte des Regensburger Vorfalls und die Schwierigkeiten, die von Pölnitz mit der Organisation des Neugründungsvorhabens hatte: Thilo von Uslar, Die Regensburger Mühlsteine. Das erste Kapitel der neuen Universität ist düster, in: Die Zeit, 29.10.1965. 175 Perplex an der Pader, in: Der Spiegel, 8.12.1965. 176 Ebd.
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Juli 1964 wegen seiner Veröffentlichungen in der NS-Zeit zurücktrat oder dem Regensburger Gründungsrektor Götz Freiherr von Pölnitz, der kurz zuvor aus eben solchen Gründen zurückgetreten war.177 Die Universitäten begannen gerade erst, nicht zuletzt unter dem Eindruck der stark beachteten Auschwitzprozesse ab Dezember 1963 in Frankfurt, sich mit ihrer nationalsozialistischen Geschichte auseinanderzusetzen.178 Statt Kritik erhielt Schelsky zahlreiche Briefe, insbesondere von Kollegen, die ihm ihre Unterstützung versicherten und ihn zum Weitermachen ermunterten. Dahrendorf beispielsweise schrieb Schelsky schon recht kurz nach dem Vorfall »wie ekelhaft ich die Weise finde, in der man sie attackiert hat – und wie sehr ich es bedauern würde, wenn dies für Sie wirklich das Ende des Versuchs einer Neugründung nach Ihren Vorstellungen wäre«,179 und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Schelsky sich nicht entmutigen ließe. Richard Alewyn, mit dem Schelsky bei der Vorbereitung des VW-Antrages zusammengearbeitet hatte, schrieb ihm unter Verweis auf seine Unbefangenheit »als sog. Politischer Verfolgter«, dass doch ein Schlussstrich unter diese »Belastung« gezogen werden könne, weil Schelsky »sich seither in so hohem Maße um Diagnose und Therapie einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung verdient gemacht« habe.180 Theodor Adorno, der sich mehr Zeit für die Bewertung ließ und auch nicht direkt an Schelsky schrieb, bezeichnete auf dem Briefpapier des Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie die Paderborner Vorwürfe als durchsichtigen Versuch, »einen progressiv gesonnenen Soziologen […] ›abzuschießen‹, weil er dem Geist von Paderborn nicht genehm ist.«181 Den Mitgliedern des Gründungsteams stellte sich neben ihrer Haltung zu Schelskys Vergangenheit zusätzlich die Frage, wie es in Sachen Neugründung ohne diesen weitergehen würde. Dazu schrieb Krelle an die Kollegen im Gründungsausschuss mit einem gewagten Vergleich: »Der Apostel Paulus hat auch als Saulus zunächst die Christen verfolgt, bevor er ihr Apostel wurde. […] Meines Erachtens geht es nicht, dass das Projekt der ostwest fälischen Universität in der Form, in der es Herr Schelsky entworfen hat, nun einfach ohne ihn weiterverfolgt wird. Ich jedenfalls würde es für meine Person als unanständig empfinden und dabei nicht mitwirken.«182
177 Von Hentig schrieb an Mikat, dass er schon die Erwähnung von Pölnitz und Schelsky im selben Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als inadäquate Parallelisierung empfand: Hartmut von Hentig an Paul Mikat am 6.12.1965, in: UABI NL Schelsky 61. 178 Dazu etwa Lammers, Die Auseinandersetzung mit der »braunen« Universität. 179 Ralf Dahrendorf an Helmut Schelsky am 3.12.1965, in: UABI NL Schelsky, 61. 180 Richard Alewyn an Helmut Schelsky am 23.12.1965, in: ebd. 181 Theodor Adorno an Helmut Klages am 20.12.1965, in: ebd. 182 Wilhelm Krelle an die Mitglieder des Gründungsausschusses am 3.12.1965, in: UABI NL Hirzebruch 1.
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So sah es auch Hartmut von Hentig, der an Mikat selbst schrieb, der Schelskys Rücktritt zunächst angenommen hatte, und den Minister bat, sich für Schelskys Rückkehr in den Ausschuss einzusetzen, denn »Schelskys Stellung im Gründungsausschuss ist die eines Chefkonstrukteurs«.183 Der Ausschuss fühlte sich ohne Schelsky, der dessen Vorsitz ja gar nicht innehatte, quasi kopflos. Wie seine Antwortbriefe zeigen, war Schelsky über die vielen positiven Rückmeldungen erleichtert. Sie schienen ihm drei Wochen nach seinem Rücktritt sogar Überlegungen möglich zu machen, an seine Rückkehr Bedingungen zu knüpfen. An den Bielefelder Fabrikanten Rudolf Oetker, der dem kurz darauf gegründeten Verein der Freunde und Förderer der Universität vorsitzen würde, schrieb Schelsky: »Da – wider Erwarten – in diesem Falle die öffentliche Meinung und damit auch die Politiker und Kollegen einhellig für mich eingetreten sind, wage ich anzunehmen, dass ich für die Universität in Bielefeld keine öffentliche Belastung bin. […] Allerdings werden Sie verstehen, dass ich jetzt erst auf einige Zusicherungen dränge, dass die Universität in absehbarer Zeit wirklich etwas wird. […] Schließlich kann ich ja nicht zum zweiten Mal zurücktreten, weil in Ostwestfalen nichts geschieht.«184
Seiner Sache sicher schickte er einige Tage später einen weiteren Brief an Oetker mit einer selbst angefertigten Zeichnung nach Rembrandts Gemälde »Die Anatomie des Dr. Tulp«, auf dem man Schelsky auf dem Seziertisch liegen sehen konnte, wie ihm nicht der Arm seziert – wie im Original – sondern aus dem Bauch ein Hakenkreuz entnommen wurde.185 Ob Schelsky wusste, dass Oetker zu den aktiven Unterstützern des NS-Regimes gehörte, und in dieser Hinsicht eine große Hypothek auf ihm lastete, ist nicht bekannt.186 Die Wiedereinsetzung Schelskys dauerte schließlich doch länger, als er selbst zum Jahresende erwartet hatte. Den nächsten beiden Sitzungen des Gründungsausschusses im Januar und Februar 1966 blieb er fern. Seine Rolle übernahm Werner Conze, der die weitere Mitarbeit zwar ebenfalls von S chelskys Rückkehr abhängig gemacht hatte, als ältestes Mitglied im Gründungsausschuss und Studienfreund Schelskys aber bereit war, eine Art Stellvertretung bis zur endgültigen Klärung zu übernehmen und an dieser Klärung dann selbst maßgeblich mitzuwirken.187 In Mikats Auftrag verfasste Conze mit dem Gründungsausschusskollegen Lübbe gemeinsam ein Gutachten über Schelskys Publikationen zwischen 1934 und 1940. Ein Anschein von Befangen 183 Hartmut von Hentig an Paul Mikat am 6.12.1965, in: UABI NL Schelsky 61. 184 Helmut Schelsky an Rudolf August Oetker am 17.12.1965, in: ebd. 185 Helmut Schelsky an Rudolf August Oetker am 27.12.1965, in: UABI NL Schelsky, 61. 186 Dazu: Finger/Keller/Wirsching, Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. 187 Selbst nach dieser Klärung übernahm Conze immer dann die Sitzungsleitung, wenn Mikat nicht teilnehmen konnte.
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heit wurde hierbei offenbar ebenso wenig als Hindernis gesehen, wie die SAMitgliedschaft Conzes und seine Beschäftigung mit der Ostforschung in der NS-Zeit.188 Conze und Lübbe kamen zum Ergebnis, dass lediglich die von den Paderbornern ausgegrabene Schrift von 1933/34 zur »rein politischen Publizistik« Schelskys zu zählen sei.189 Ihr Votum, das sie dem Gründungsausschuss Mitte Februar mitteilten, fiel glasklar für Schelsky aus: »Vor uns stehen Lebensweg und Wandlung eines Mannes, der seine studentische Zuneigung zum Nationalsozialismus nie vertuscht oder beschönigt, aber seit langem hinter sich gelassen hat. […] Es scheint uns […] ausgeschlossen zu sein, dass wir ohne Schelskys verantwortliche Mitführung an seinem Plan weitarbeiten, der in enger Gemeinsamkeit der Vorbereitung mit dem Herrn Kultusminister das geistige Werk Schelskys ist und ohne seine führende Mitverantwortung nicht weiter gedeihen kann.«
Schelsky habe mit seinem sofortigen Rücktritt moralisch und taktisch richtig gehandelt und solle nun endlich zum Wiedereintritt in den Gründungsausschuss gebeten werden. Nach dem anschließend mit sieben von neun Stimmen gefassten Beschluss baten die Gründungsausschussmitglieder Schelsky, in seine alte Stellung im Gründungsausschuss zurückzukehren.190 Anderer Meinung waren lediglich der von Mikat nominierte Historiker Konrad Repgen und der Generalsekretär des Wissenschaftsrates, Friedrich Schneider, die nicht zustimmten und anschließend um ihre Entlassung aus dem Gründungsausschuss baten. Ihr Rücktritt mag aber andere Gründe gehabt haben, als politisch-moralische, denn Schelsky hatte Repgen stets als von Mikat aufgedrängt empfunden und möglicherweise auch entsprechend aufgenommen. Und Schneider hatte von Anfang an stets zeitliche Überlastung angeführt, was darauf hindeutete, dass das Bielefelder Neugründungsprojekt beim Wissenschaftsrat keineswegs mehr die Aufmerksamkeit genoss, die man der Konstanzer Neugründung noch beigemessen hatte.191 188 Da die Aussprache über das Gutachten nicht protokolliert wurde, ist eine mündliche Bezugnahme Conzes auf seine eigene Geschichte in der NS-Zeit natürlich nicht auszuschließen. Ausführlich zu Conzes Werdegang und Forschungsarbeiten in der NS-Zeit Dunkhase, Werner Conze; Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. 189 Informationen über die Publikationen Helmut Schelskys 1934–1940, o. Datum, in: UABI NL Hirzebruch 1. 190 Alle Zitate aus dem Protokoll der 3. Sitzung des Gründungsausschusses am 12.2.1966 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 191 Schneider wusste zum Zeitpunkt seiner Anfrage für den Bielefelder Gründungsausschuss im Oktober 1965 vermutlich schon, dass er zum 1.4.1966 als Generalsekretär zur Max-Planck-Gesellschaft wechseln würde, als der er im Januar 1967 dann als einer der sogenannten Vertreter des öffentlichen Lebens zum Mitglied im Wissenschaftsrat berufen wurde.
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Abb. 1: Helmut Schelskys Zeichnung für Rudolf Oetker (Quelle: Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 61)
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Zweite Unterbrechung durch die Landespolitik Bis Schelsky zurück an Bord kam, trafen sich die Mitglieder des Gründungsausschusses zwei Mal ohne den »Chefkonstrukteur« und kamen dabei nicht recht vom Fleck. Man diskutierte erneut und ausführlich über das Verhältnis von Gründungsausschuss und Wissenschaftlichem Beirat. Mikat versuchte die Rolle des Beirats dabei herunterzuspielen und die Fachkommissionen aufzuwerten, doch das Protokoll hielt schließlich keinen einvernehmlichen Konsens fest.192 In der folgenden Sitzung sprach man über notwendige personelle Ergänzungen der Gründungsgruppe, insbesondere in der Literaturwissenschaft und der Physik, wusste dann aber zunächst nicht, ob die entsprechenden Kandidaten eher dem Gründungsausschuss oder dem Wissenschaftlichen Beirat zugeordnet werden sollten.193 Eine für Mitte Januar geplante Sitzung des Beirates entfiel und das Gespräch über die Weiterentwicklung des Strukturgutachtens vertagte man. Als Schelsky in der vierten Sitzung wieder dabei war – allerdings nicht mehr als Mikats Stellvertreter, dies blieb auch weiterhin Conze –, diskutierte man Empfehlungen an die Landesregierung. Der Entwurf dieser lediglich drei Seiten langen »Strukturmerkmale der neuen Universität in Ostwestfalen« war bereits im Anschluss an die konstituierende Sitzung der Gründungsgremien entstanden und von Mestmäcker Ende Dezember an die Gründungsausschussmitglieder verschickt worden. Ob Mestmäcker den Text auch selbst verfasst hatte oder doch wieder Schelsky, lässt sich nicht rekonstruieren. Jedenfalls fielen diese Empfehlungen drastisch kürzer aus als alles, was die vorangegangenen Gründungsausschüsse in Bochum und Konstanz vorgelegt hatten. Es handelte sich gewissermaßen um ein hochkonzentriertes Extrakt aus Schelskys Konzepterweiterung vom August 1965, das beinahe wieder auf den Umfang der ersten Konzeptskizze reduziert worden war.194 Enthalten waren lediglich die Fächerauswahl, die Kernpunkte des Konzeptes zu den Bereichen Forschung und Lehre und zum zeitlichen Aufbau sowie ein knapper Verweis auf eine neuartige Zusammenführung von Wissenschaft und Praxis. Alle Bemerkungen, die Schelsky im August zur Selbstverwaltung und zur Rolle der Assistenten wie auch zur »Geselligkeit« an der neuen Universität erst hinzugenommen hatte, waren nun wieder verschwunden. Die Diskussion des Textes wurde nicht aufgezeichnet, so dass sich sowohl die Autorschaft (Schelsky oder Mestmäcker) als auch die genaue Funktion des Textes aus den Ausschussprotokollen nicht erschließen. 192 Protokoll der 2. Sitzung des Gründungsausschusses am 8.1.1966 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 193 Protokoll der 3. Sitzung des Gründungsausschusses am 12.2.1966 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 194 Strukturmerkmale der neuen Universität in Ostwestfalen. Empfehlung des Gründungsausschusses vom 1. März 1966, in: Mikat/Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 89–92.
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Höchstwahrscheinlich wollte man rasch eine Beschlusslage haben, um noch vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Juli 1966 ein Zwischenergebnis abzusichern und wegen der ZiF-Finanzierung an die Stiftung Volkswagenwerk herantreten zu können. Bevor die Landesregierung diese Kurzempfehlungen durch ein eigenes Statement öffentlich machte, trafen sich Mitte April 1966 zunächst ein zweites Mal – so wie schon im November 1965 – beide Gründungsgremien zu einer kurzen Klausur, wobei es für den Gründungsausschuss bereits die fünfte, für den Wissenschaftlichen Beirat, dem nach Schelsky ja eigentlich große Bedeutung zukommen sollte, aber erst die zweite Zusammenkunft war. Nach dem Ausscheiden von Repgen und Schneider in Folge der Entlastung und Reinstallierung Schelskys gab es weitere Personalveränderungen.195 Wie von Mikats Vorstoß im Sommer 1965 schon angeregt, wurde jetzt ein Assistentenvertreter in den Beirat aufgenommen – der an Lübbes Bochumer Lehrstuhl arbeitende Jürgen Frese (1939–2007). Während aus Sicht der Professoren die Assistenten jetzt also mitreden sollten, mussten sich die Studenten erneut selbst um ihre Beteiligung bemühen. Bald nach der Ergänzung der Gremien meldete sich in dieser Sache Peter Müller, der 1962 die Kommission des Verbandes Deutscher Studentenschaften zu den Neugründungen geleitet und mit seinen Mitstreitern damals die Beteiligung der Studierenden an den Neugründungen noch vergeblich eingefordert hatte, mit der Nachricht bei Schelsky, dass der Landesverband Nordrhein-Westfalen des VDS ihn als Beauftragten für die Neugründung in Bielefeld benannt hätte. Schelsky erklärte sich in seinem Antwortschreiben jedoch als nicht zuständig und verwies auf Mikat – für ein privates Gespräch stünde er nach der Publikation der Strukturmerkmale aber bei Interesse gern zur Verfügung.196 Diese Reaktion auf das erneuerte Interesse der Studentenschaft an Mitwirkung kann man kaum enthusiastisch nennen, doch im Folgejahr kam es dann tatsächlich zur Beteiligung von Studierenden an den Bielefelder Vorbereitungen. Insgesamt widersprachen die Veränderungen in den Gründungsgremien, deren Verhältnis zueinander weiter interpretationsfähig blieb, Schelskys ursprünglichem Wunsch von einer stabilen Gründungsgruppe und machten es nötig, sich erneut ausführlich über den Planungsstand auszutauschen. Man versicherte sich im April also wiederum des Ziels, den Aufbau des ZiF mit Priorität voranzutreiben. Dazu lag nun eine überarbeitete Fassung von Schelskys 195 In den Gründungsausschuss wurden der Physiker Horst Rollnik (1931–2011) von der Uni Bonn und der Romanist Harald Weinrich (*1927) von der Uni Köln aufgenommen, in den Beirat der Sprachwissenschaftler Peter Hartmann (1923–1984) aus Münster, der Germanist und frühere Kollegienhausverfechter Walther Killy (1917–1995) und sein Göttinger Kollege Karl Stackmann (1922–2013) als Mediävist, sowie als einziger »Exterritorialer« der Physiker Wolfgang Wild (*1930) aus München. 196 Helmut Schelsky an Peter Müller am 8.6.1966, in: UABI NL Schelsky, 11.1.
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Denkschrift von 1964 vor, die verschiedene Aktualisierungen und Präzisierungen enthielt.197 Dabei wurde auch das Verhältnis der Universität zu diesem Zentrum etwas genauer beschrieben, mit dem die Universität eine über ihre Einrichtung hinausgehende Verantwortung für das Wissenschaftssystem übernehmen würde, wofür sie im Gegenzug die exklusive Möglichkeit erhielt, mögliche Kandidaten für Berufungen erst einmal auf ihre Fähigkeiten im interdisziplinären Arbeiten zu überprüfen.198 Präzisiert wurden auch die Vorstellungen zur Arbeitsweise im Zentrum über die Verbindung persönlicher Forschungsarbeit mit Gruppenseminaren und Gruppenkolloquien.199 In der Beiratssitzung Mitte April erläuterte Schelsky zudem Diskussionsergebnisse der Fachbereichskommissionen, die sechs Arbeitsgruppenthemen für die Aufbauphase des ZiF im Jahr 1967 ergeben hatten, unter anderem »Wissenschaftsorganisation und Hochschulreform«, »Poetik und Hermeneutik« oder »Theoretische und Methodische Grundlagen der Rechtsoziologie«. Man dachte an zwei- bis dreiwöchige Tagungen im Hotel Schwaghof in Bad Salzuflen, das außerhalb der Saison als Provisorium für das ZiF als »Keimzelle der neuen Universität« fungieren sollte. Nach den Vorstellungen vom Frühjahr 1966 würde im Folgejahr jedes Mitglied des Beirates bereits einmal an einer der Arbeitsgruppen teilnehmen.200 Zudem sollten ab 1967 die Aufbauarbeiten an den beiden Forschungsinstituten für Soziologie und Rechtswissenschaften beginnen, jenen beiden Fächern also, die im Sinne Schelskys und Mestmäckers in den Gründungsgremien personell am stärksten vertreten waren. Als Universitätsschwerpunkte wurden, wie von Schelsky in der Konzepterweiterung vom August bereits ähnlich vorgeschlagen, die »Theorie, Geschichte, Planung und Didaktik der Wissenschaften«, die »Lateinamerikaforschung« und die »Mathematik« festgelegt. Schließlich kam man überein, sich von den »Konstanzer Blättern für Hochschulfragen« als Begleitpublikationen der dortigen Neugründung durch eine auf die Theorie, Geschichte und Politik von Wissenschaft ausgerichtete Schriftenreihe im Bertelsmann-Verlag abzusetzen. Als erster Band erschienen im Sommer 1966 zentrale Dokumente zur Bielefelder Neugründung, die neben den Vorträgen Mikats und Schelskys bei der konstituierenden Gründungsausschusssitzung zwar nicht Schelskys erste Projektskizze, aber seine Konzepterweiterung vom August 1965, die daraus destillierten Strukturempfehlungen des Gründungsausschusses vom März 1966 und die überarbeitete Denkschrift zum Zentrum für interdisziplinäre Forschung umfassten.201 197 Schelsky, Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung. 198 Ebd. S. 82 und 86. 199 Ebd. S. 76 f. 200 Protokoll der 2. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 14. und 15.4.1966 in der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg, in: UABI GA/WB. 201 Der genaue Publikationstermin der Mikat/Schelsky-Schrift und der Adressatenkreis, an den sie anschließend möglicherweise verschickt wurde, ließen sich nicht rekonstruieren.
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Schelsky hatte Mikat zum Mitherausgeber dieser Gründungsdokumente erklärt, in der Hoffnung, ihn enger mit dem Projekt zu verbinden und zur Unterstützung zu verpflichten.202 Diese Strategie ging allerdings nicht auf. Einen Tag nach Abschluss des Grundstücksgeschäfts für den Bauplatz der Universität in Bielefeld veröffentlichte das Kultusministerium Ende April zwar eine Pressemitteilung, in der es sich zur ostwestfälischen Neugründung bekannte und über die Kurzempfehlungen des Gründungsausschusses und die Nachnominierungen informierte.203 Doch entgegen des Aprilscherzes der »Westfälischen Zeitung« – »Philip Johnson baut Rudolf-August-Oetker-Universität« – war damit noch keine Vorentscheidung über Anlage und Architektur der Neugründung gefallen.204 Wiederum einige Wochen später und einen Monat vor der Landtagswahl gab Ministerpräsident Meyers eine förmliche Erklärung über den Bau der Universität auf dem Gelände des Voltmannshofs ab. Dann aber begann eine Schlingerpartie, die fast ein Jahr lang andauerte. Während im Frühjahr 1966 Gerhard Hess zum Rektor der Uni Konstanz ernannt wurde und dort die ersten acht Professoren ihre Ernennungsurkunden erhielten, ging es mit der Bielefelder Neugründung in den nächsten Monaten kaum voran, zwischenzeitlich wurde ihre Berechtigung sogar nochmals grundsätzlich in Frage gestellt. Die Co-Herausgeberschaft der Grundsatzdokumente durch Mikat wirkte also nicht in Schelskys Sinne als Garantie für schnelle Fortschritte. Mit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 10. Juli 1966 sollte nach dem Wunsch des CDU-Ministerpräsidenten Franz Meyers, der seit 1958 regierte und in dessen Amtszeit damit alle vier Neugründungen des Landes gefallen waren, die von ihm geführte CDU-FDP-Koalition bestätigt werden. Tatsächlich wurde Meyers, weil die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Heinz Kühn die absolute Mehrheit knapp verfehlt hatte, zunächst als Ministerpräsident wiedergewählt. Doch als in Bonn im Oktober 1966 die CDU-FDP-Bundesregierung unter Ludwig Erhard von einer ersten Großen Koalition aus CDU und SPD unter dem Konstanzer Universitätsgründer Kurt Georg Kiesinger abgelöst wurde, wankte auch die Landesregierung in Düsseldorf. Kühn wurde nach einem Misstrauensvotum gegen Meyers am 8. Dezember 1966 doch noch zum Ministerpräsidenten einer linksliberalen Regierungskoalition gewählt und blieb bis 1978 im Amt. Welche Folgen hatte der Regierungswechsel in Düsseldorf für das Neugründungsprojekt in Bielefeld? In den Monaten zwischen der Verabschiedung der Kurzempfehlungen des Bielefelder Gründungsausschusses und der Aufstellung 202 Mikat/Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität. 203 Ostwestfalen-Universität mit speziellem Beitrag zur Hochschulreform, Pressemitteilung der Landespresse- und Informationsstelle der Landesregierung Nordrhein-Westfalen vom 22.4.1966, in: UABI KP 9. 204 In Anspielung auf die vom Mies-van der Rohe-Schüler Johnson ab 1966 gebaute Bielefelder Kunsthalle. Zur Auseinandersetzung um den Mikrostandort ausführlich: Löning, »Bielefeld erhält die Universität«
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der neuen Regierung, in der die Verantwortung für die Universitäten vom Professoren Paul Mikat (CDU) auf den fast zehn Jahre älteren ehemaligen Lehrer Fritz Holthoff (SPD) überging, war an kraftvolle politische Entscheidungen in Düsseldorf nicht zu denken. Ungünstig wirkte sich auf die Bielefelder Gründungsarbeiten außerdem aus, dass der Wissenschaftsrat im Mai 1966 seine Empfehlungen zur Studienreform verabschiedete, die in den folgenden Monaten äußerst kontrovers diskutiert wurden und die Debatten über Hochschul reform dominierten.205 Diese Konzentration der öffentlichen Diskussion auf die Studienreform schob die Bielefelder Planungen zur Forschungsreform im Sommer 1966 in der öffentlichen Wahrnehmung ins Abseits. So scheint die Publikation der Bielefelder Gründungsdokumente im Strudel der Studienreformdiskussionen fast völlig untergegangen zu sein. Lediglich die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichtete im Oktober über die Mikat/Schelsky-Schrift und referierte die wichtigsten Inhalte, ohne selbst eine Bewertung vorzunehmen.206 Im Juni und November 1966 traf sich der Gründungsausschuss zwar erneut und sprach über eine erste Arbeitstagung des ZiF im März 1967 sowie Bau- und Bibliotheksplanungen, aber eine abgestimmte Planung für die nächsten notwendigen Schritte entstand nicht. Vielmehr kam es wieder zu personellen Veränderungen und Schelsky dachte erneut an Rücktritt.207 In der Juni-Sitzung fehlte Mikat und überließ Conze den Vorsitz, doch Conze erklärte dann noch vor der November-Sitzung seinen Abschied aus dem Gründungsausschuss. Schon im Vorjahr hatte er Mikat geschrieben, dass er in Heidelberg sehr günstige Arbeitsbedingungen habe und deshalb bereits einen Ruf nach München abgelehnt habe, »weil ich die Fortdauer meiner Arbeit nicht durch einen kräfteverzehrenden Einsatz für ein heruntergekommenes Seminar mit Massenbetrieb und unter den schwierigen Lebensbedingungen einer Großstadtuniversität gefährden wollte.«208 In Bielefeld könne er sich im Gegensatz zu München wegen Schelskys Kooperationsideen dagegen durchaus vorstellen mitzuwirken. Doch seine Einschränkung lautete: »Dauert alles länger und sollte sich die Konzeption 205 Ausführlich zur Entstehung und Rezeption der Studienreform-Empfehlungen von 1966 Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 98–134, sowie zusammengefasst in ders., Der Wissenschaftsrat, S. 81–90. 206 Brigitte Beer, Was man in Bielefeld unter Universitätsreform versteht. Pläne für die Neugründung in Ostwestfalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.1966. 207 Schelsky schrieb: »Schließlich scheint mir der mit dieser Universitätsgründung unternommene Reformversuch der Hochschule zum Scheitern verdammt zu sein, wenn nicht die Hochschulabteilung in ihren für dieses Projekt verantwortlichen Beamten diesen Reformwillen teilt, ja ihn als Modell der von sich aus anzustrebenden Reform der Hochschulverwaltung aufgreift. Davon ist leider nichts zu merken. […] Ich frage mich daher, ob die Arbeit, die ich für die Neugründung dieser Universität leisten kann, nicht bereits geleistet ist und ein unauffälliges Zurücktreten für mich jetzt das Beste wäre.« Helmut Schelsky an Paul Mikat am 20.8.1966 (Dok. XXVII), in: UABI NL Schelsky 1. 208 Werner Conze an Paul Mikat am 14.10.1965, in: UABI KP 7.
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des Ganzen von der vorliegenden Idee erheblich entfernen, so müsste ich vorziehen, in Heidelberg zu bleiben.« Diese Situation sah Conze im Oktober 1966 dann offenbar gekommen, so dass er, auf den Tag genau zwölf Monate, nachdem er die Berufung in den Gründungsausschuss nur unter Vorbehalt angenommen hatte, Mikat seinen Rücktritt erklärte.209 Im Oktober hatte sich langsam herumgesprochen, dass die Haushaltslage des Landes nicht günstig war und Mikat im Kabinett die gewünschten Planungskosten für Bielefeld für das Jahr 1967 nicht hatte durchsetzen können.210 Der Rückzug des bis dahin engagierten Conze legte die Befürchtung nahe, dass die Gründungsgruppe nun zerfallen könnte. Die nächste Ausschusssitzung nach Conzes Rücktrittsankündigung leitete Mikat wieder selbst, aber nur, um nach Verlesen von Conzes Brief und im Wissen um die bevorstehende Regierungsneubildung ebenfalls seinen Rücktritt vom Ausschussvorsitz anzukündigen. Mikat machte die kritische Situation, in die Conze und einzelne andere schon eingeweiht waren, nun der versammelten Runde gegenüber transparent. Er schlug vor die Arbeit des Gründungsausschusses einzustellen, wenn es nicht bald eine finanzielle Perspektive gebe.211 Schelsky stimmte dem zu. Man könne die Gründungsgremien nicht ewig hinhalten. Zunächst vereinbarte man aber, die Rücktritte von Conze und Mikat nicht publik zu machen, wählte jedoch Lübbe schon zum neuen Vorsitzenden. Der Sonderbevollmächtigte für den Bau der Universität Bochum, Fridolin Hallauer aus dem Bauministerium, den man zum Gespräch über die Bauplanung der Universität Bielefeld eingeladen hatte, zeigte sich anschließend optimistischer als Mikat und hielt allen Ernstes einen kostengünstigen provisorischen Aufbau der Uni Bielefeld in den Räumlichkeiten örtlicher Wohnungsbaugesellschaften für möglich.212 So zeigte sich im Herbst 1966, dass der Konflikt zwischen dem nordrheinwestfälischen Finanz- und Kultusministerium vom Vorjahr weiter schwelte und die Frage, ob man im Land einen parallelen Teilaufbau mehrerer Neugründungen oder aber ihren sequentiellen Vollaufbau verfolgen sollte und könnte, nicht wirklich entschieden war. Ulrich Lohmar, Schelskys Kontakt in den Bundestag, hatte die schwierige Lage schon etwas schneller realisiert und bereits kurz vor 209 Werner Conze an Paul Mikat am 14.10.1966, in: UABI NL Schelsky 11.1.: »Da nach Lage der Dinge die Universitätsgründung sich etwas länger als erhofft hinziehen wird, die finanzielle Situation im besonderen keine Hoffnung auf schnelle und günstige Überwindung zulässt und ich nur noch ein Jahrzehnt akademischer Tätigkeit bis zur Emeritierung vor mir habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf mein Hinüberwechseln zu verzichten.« 210 Über diese Gerüchte informierte Lübbe Mitte Oktober auch Hirzebruch, der Lübbe angefragt hatte, wann es denn mit dem Gründungsausschuss weitergehen würde: Friedrich Hirzebruch an Hermann Lübbe am 5.10.1966 und Antwort Hermann Lübbes an Friedrich Hirzebruch vom 18.10.1966, in: UABI NL Hirzebruch. Lübbe wog in seiner Antwort bereits die Vor- und Nachteile eines Ausschussrücktritts ab. 211 Protokoll der 7. Gründungsausschusssitzung am 10.11.1966, in: UABI GA/WB. 212 Ebd.
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Hallauers Auftritt im Bielefelder Gründungsausschuss an den Sprecher der SPDLandtagsfraktion, den »Lieben Johannes« – gemeint war der spätere Wissenschaftsminister und noch spätere Ministerpräsident Johannes Rau – geschrieben, damit dieser sich für die Bielefelder Sache einsetze, für die nach Lohmar weit mehr sprach, als nur die Lage im Einzugsbereich seiner eigenen Bundestagswählerschaft. So sei »das Modell der Bielefelder Universität gerade dasjenige, das am weitgehendsten den Reformvorstellungen unserer Partei entspricht und zugleich die modernste wissenschaftliche Form finden dürfte. Es wäre deshalb ein Jammer, wenn wir es im Landtag nicht durchsetzen könnten.«213 Lohmar schickte Schelsky einen Durchschlag seines Briefs zum Beleg der Aktivität in dieser Sache und Schelsky versuchte sich nach Lohmars Vorbild ebenfalls für »seine« Neugründung einzusetzen. So schrieb er an Friedrich Edding, der inzwischen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätig war und die explodierenden Kosten der Bochumer Neugründung in der Vergangenheit schon öffentlich kritisiert hatte, und bat den Bildungsökonomen um Zahlen zur Bochumer Entwicklung für die eigene Munitionierung mit Argumenten: »Nach meiner Überzeugung verbaut uns Herr Hallauer mit seinem Projekt in Bochum buchstäblich jede Hochschul- und Wissenschaftsreform in NordrheinWestfalen.«214 Auch den neuen Generalsekretär des Wissenschaftsrates, Karl- Gotthart Hasemann, schrieb Schelsky an und pries seine Vorstellungen zur Verwaltungsreform – ein Thema, mit dem er den Beamten für die Bielefelder Sache zu interessieren versuchte.215 Antworten sind in allen drei Fällen aber nicht überliefert. Die Lage ließ sich im November 1966 offenbar nicht klären. Neue Hoffnung schöpfte Schelsky, als Hermann Lübbe mit dem Regierungswechsel von der CDU- zur SPD-geführten Landesregierung zum Staatssekretär des neuen Kulturministers Holthoff ernannt wurde. Unmittelbar nach dem Wirksamwerden dieser Entscheidung schrieb Schelsky an Lübbe, was nun in Sachen Bielefeld eilig zu unternehmen sei und mit wem aus Finanzministerium und Presse zuerst zu sprechen sei.216 Doch bevor Lübbe in Schelskys Sinne für die Rettung der Bielefelder Reformuniversität, an der er selbst ja ein persönliches Interesse hatte, aktiv werden konnte, kam es noch schlimmer. Der neue Ministerpräsident Heinz Kühn erklärte kurz nach seiner Wahl, dass es mit der neuen Universität Bielefeld aus finanziellen Gründen vorerst nichts werden würde.217 Damit hingen am Jahresende 1966 die Gründungsvorbereitungen in der Luft und es war völlig unklar, ob und wie es weitergehen würde. 213 Ulrich Lohmar an Johannes Rau am 9.11.1966, in: UABI NL Schelsky 11.2. 214 Helmut Schelsky an Friedrich Edding am 21.11.1966, in: UABI NL Schelsky 11.1. 215 Helmut Schelsky an Karl-G. Hasemann am 29.11.1966, in: UABI NL Schelsky 4.2. Von beiden sind keine Antworten überliefert. 216 Helmut Schelsky an Hermann Lübbe am 9.11.1966, in: UABI NL Schelsky 11.2. 217 Auch darauf reagierte Schelsky umgehend: Schelsky antwortet Kühn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1966.
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4.3.4 Wiederaufnahme und Abschluss der Arbeiten Ende Februar 1967 kam der Gründungsausschuss erstmals nach der Erklärung des Ministerpräsidenten über den möglichen Aufbaustopp der Universität Bielefeld wieder zusammen, um über die neue Lage zu diskutieren. Der neue Kultusminister Holthoff verkündete, dem Ausschuss im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht vorsitzen zu wollen – offenbar in Unkenntnis der Konfliktlinie Mikat- Schelsky, die zu dieser skurrilen Lösung geführt hatte –, um eine gewisse Unbefangenheit zu bewahren, und sah dieses Prinzip auch für seinen neuen Staatssekretär Lübbe gelten, der in der vorangegangenen Sitzung ja vorsorglich schon zum neuen Vorsitzenden gewählt worden war.218 Faktisch übte Lübbe den Vorsitz jedoch weiter aus, da in der nächsten und neunten Sitzung zwar Mestmäcker zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde, dieser aber um Aufschub bezüglich der Annahme der Wahl bat und der Tagesordnungspunkt auch in der darauf folgenden zehnten Sitzung wieder verschoben wurde, um schließlich in der elften Sitzung im September 1967 – also erst nach Verabschiedung der endgültigen Empfehlungen des Gründungsausschusses – dann doch noch wirksam zu werden. Wichtiger als die Frage, wer dem Gründungsausschuss aktuell vorsaß, war aber ohnehin die Frage, wie es mit der Gründung weitergehen würde. Kultusminister Holthoff rechtfertigte die Äußerung des neuen Ministerpäsidenten Kühn vom Dezember mit einer anfänglichen »Alarmstimmung« der neuen Regierung, womit wohl das nach Regierungswechseln übliche Ritual eines vermeintlich überraschenden Kassensturzes gemeint war. Man diskutierte im Februar trotzdem länger darüber, ob der Rücktritt des gesamten Gründungsausschusses nun nötig sei oder nicht. Nachdem Holthoff sich endlich grundsätzlich zur »Notwendigkeit der Schaffung einer forschungsintensiven Reformuniversität« bekannt hatte und sein Amtsvorgänger Mikat – der, wie seinerzeit Gerhard Storz in Konstanz auch, nach dem Ministerwechsel zur weiteren Teilnahme an den Sitzungen eingeladen war – sich gegen einen Rücktritt des ganzen Gremiums aussprach, plädierte auch Schelsky dafür abzuwarten, wie die Haushaltsverhandlungen verlaufen würden. Holthoff versprach, die persönliche Meinung des Ministerpräsidenten in Erfahrung zu bringen, bevor man sich im März 1967 zu einer Klausurtagung wiedertreffen würde.
Weitere Planung statt »Universitätsgründungsresignation« Die schon lange geplante einwöchige Klausurtagung der Gründungsgremien begann dann am 9. März 1967 im Hotel Schwaghof in Bad Salzuflen. Ursprünglich sollte auf dieser Veranstaltung mit Vorarbeiten für das ZiF begonnen werden, 218 Protokoll der 8. Sitzung des Gründungsausschusses am 27.2.1967 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB.
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also erste interdisziplinäre Arbeitsgruppen zusammenkommen. Doch die landespolitischen Ereignisse des Jahres 1966 hatten diese älteren Pläne durchkreuzt und so eröffneten Lübbe und Schelsky die Tagung mit grundsätzlichen Lagebeurteilungen zur hochschulpolitischen und wissenschaftlichen Planung.219 Lübbe war in der unglücklichen Lage, keine frohe Botschaft im Gepäck zu haben und – anders als im Februar versprochen – immer noch keine Beschlusslage zum Haushalt des laufenden Jahres präsentieren zu können. So blieb es seinerseits bei einer engagiert vorgetragenen Absichtserklärung zur Fortsetzung der Arbeiten. Doch dem Ministerium schien klar geworden zu sein, dass dem Gründungsausschuss nicht zugemutet werden konnte, für noch längere Zeit »platonisch zu existieren«: »Es ist eine Sache von generellem hochschul- und wissenschaftspolitischen Interesse, alles zu tun, was geeignet ist zu verhindern, dass Universitätsgründungsresignation sich verbreitet.«
Lübbe bemühte sich, sowohl die Gründungsgruppe zu motivieren als auch ein positives Signal an die Wissenschaftslandschaft zu senden.220 Im Länderwettbewerb um die ambitionierteste Reformuniversität wollte man nicht kläglich scheitern. Seine anschließenden Bemerkungen bewegten sich in etwa entlang der von Mikat stets verfolgten Argumentation. In neuer Weise wurde lediglich der Planungs- und Abstimmungsbedarf betont, für den es das Land durch »Einrichtung entsprechender Instanzen zu solcher Planung kompetent zu machen« gelte. Das unkoordinierte Vorgehen war ja, nicht nur bei der Doppelgründung Bochum – Dortmund in direkt benachbarten Städten, auch offensichtlich. Im Anschluss an Lübbes Versprechen fand Schelsky klare Worte und teilte im Rückblick auf die stagnierenden Planungen in den vorangegangenen zehn Monaten deutlich gegen die Landeshochschulpolitik aus. Zwar hätten Lübbe und Holthoff der Gründungsgruppe nun wieder Hoffnung gemacht, aber am Ende zählten doch die Taten und diesbezüglich müsse man bisher die Hochschul- und Wissenschaftspolitik des Landes Baden-Württemberg als führend unter den Bundesländern bezeichnen. In seinem Manuskript war die Rede von »Unkoordiniertheit und Planungslosigkeit der exekutiven Verwaltungsvorgänge« in der Düsseldorfer Hochschulbehörde. Eine bessere Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Politikern und Hochschulverwaltung sah er als unabdingbare Voraussetzung für ein gutes Ende der Bielefelder Planung. 219 Protokoll der Klausurtagung des Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats der ostwestfälischen Universität vom 9.–16.3.1967 in Bad Salzuflen, in: UABI GA/ WB. Danach die folgenden Zitate. 220 Dazu am Tag nach Klausurbeginn auch der Artikel: Hochschulpläne in NordrheinWestfalen. Gründungen in Dortmund und Bielefeld sollen nicht vernachlässigt werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.3.1967.
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Als Kultusminister Holthoff zur Klausur hinzustieß, kam die Frage einer besseren Planung im Kontext der Schwerpunktabstimmung zwischen Bielefeld und anderen Landesuniversitäten erneut auf. Kurzerhand schlug Holthoff vor, einen Planungsbeirat einzusetzen, der »als beratendes Organ des Kultusministeriums eine Schwerpunktverteilungs- und -verzichtsplanung im Lande« durchführen sollte. Tatsächlich hatte Schelsky dafür, worauf im Kontext der weiteren Arbeiten auch in Baden-Württemberg noch zurückzukommen ist, Ende 1966 bereits erste Vorarbeiten geleistet. Im Gegenzug für die Perspektive einer besseren Planung äußerte der Minister selbst einen Wunsch an die versammelten Gründungsgremien. Er wollte dem Landeskabinett baldmöglichst eine Gründungskonzeption zur »zustimmenden Kenntnisnahme« vorlegen, da er die bisherigen Strukturmerkmale vom März 1966 nicht für ausreichend legitimiert hielt. Holthoff erkundigte sich, ob die inzwischen zwölf Monate alten und nur sehr kurzen »Strukturmerkmale« denn immer noch den aktuellen Stand wiedergäben »und ob es zu diesem sehr allgemein gefassten Beschluss authentische Interpretationen gäbe«. Die versammelten Wissenschaftler bejahten die Aktualität einstimmig, wie das Protokoll betonte, das anschließend etliche Begründungen für die knappe Form aufführte (»notwendige Offenheit«, »aussagekräftig genug« usw.), welche die Frage des Ministers an den Rand der Majestätsbeleidigung rückten. Man erklärte sich dennoch bereit, die Ergebnisse der Klausur in eine Beschlussform für den Minister zu bringen.221 Nach der Grundsatzdiskussion zu Beginn wurden die Klausur dann zunächst zur Erörterung der Instituts-, Bibliotheks- und Bauplanung genutzt. Man trug die Ergebnisse der verschiedenen Fachbereichskommissionen zusammen, wobei Bedenken gegenüber der Konstruktion der Institute offenkundig wurden, die S chelsky mit der Brille des Soziologen Anfang 1965 entworfen hatte.222 Die Juristen sahen eine Einheit ihres Instituts nur in Lehr- nicht aber in Forschungsfragen, die Historiker und Literaturwissenschaftler äußerten die Meinung, ihre Fächer »erzwingen nicht unmittelbar eine Forschung in Großinstituten« und die Mathematiker beschrieben ihre Forschung als »stark individualisiert«. Forschung in Großinstituten nach dem Muster der von Schelsky geleiteten Sozialforschungsstelle in Dortmund war also keineswegs im Sinne aller. Auch die Planung und Abstimmung der Forschungsthemen erfuhr im Protokoll vermerkte Widerstände: »Skepsis bestand dabei gegen eine zu weitgehende Feinplanung der Forschung.«223 221 Ergebnis waren die »Empfehlungen des Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats«, die im Protokoll im Anschluss an die Eröffnungsvorträge von Lübbe und Schelsky wörtlich wiedergegeben wurden und eine Vorfassung der am 24.7.1967 schlussendlich verabschiedeten Empfehlungen waren. 222 Die Protokolle der Fachbereichskommissionen sind für diese Untersuchung nicht ausgewertet worden. 223 Protokoll der Klausurtagung des Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats der ostwestfälischen Universität vom 9.–16.3.1967 in Bad Salzuflen, in: UABI GA/WB.
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Am Ende des Klausurtages zum Thema Institutsstruktur und Forschungsplanung wurde lediglich ein kümmerlicher Minimalkonsens fixiert: »Am Institut als organisatorischer Einheit soll festgehalten werden.« Die besonderen Gegebenheiten der Fächer seien aber zu berücksichtigen. Über Schwerpunkte und Kooperationsformen müsse man im Gespräch bleiben – »diese Punkte bedürften des ständigen neuen Durchdenkens.« Die Juristen räumten ein, dass sie sich in ihrer Fachbereichskommission weniger mit Forschungs- als vielmehr mit Lehrfragen beschäftigt hatten und die Mathematiker sahen sich aufgefordert, Tendenzen abzuwehren, nach denen die anderen Fächer sie nur als dienstleistende Hilfswissenschaften betrachten würden. Den damit insgesamt eher disparaten Ergebnissen der Fachbereichskommissionen stimmte der Beirat dennoch zu, womit die Autonomie der einzelnen Fächer unabhängig von der Qualität und Passung der erarbeiteten Antworten auf Schelskys ältere Vorgaben gewahrt blieb.224 Auch die weitere Planung des ZiF lief in der Hinsicht reibungslos ab, dass die einzelnen Gründungsgruppenmitglieder ihre Wünsche einfach nennen konnten, ohne diese im Plenum begründen oder gar verteidigen zu müssen. Die Themen waren ähnlich ja schon im Sommer 1965 und im Frühjahr 1966 formuliert worden. Schelsky schlug also erneut gemeinsam mit Maihofer »Rechtssoziologie« vor, Mestmäcker den leerformelhaften Titel »Wissenschaft und Politik«, die jüngeren Beiratsmitglieder brachten die von ihnen bekanntermaßen ohnehin schon verfolgten Vorhaben ein – Blumenberg »Poetik und Hermeneutik« und Koselleck »Begriffsgeschichte des Frühindustrialismus«. Schließlich hielt man fest, dass »die wissenschaftliche Erforschung der Universität als Bau […] eine der wichtigsten interdisziplinären Aufgaben« sei, doch eine Zuständigkeit für eine solche ZiF-Arbeitsgruppe »Wissenschaft und Bau als Architekturproblem« wurde nicht festgelegt.225 Überhaupt wurden die Baufragen nach Referaten von Fridolin Hallauer, dem Bau-Experten für die Ruhr-Universität, und Dieter Claessens, einem ehemaligen Habilitanden und Mitarbeiter Schelskys an der Sozialforschungsstelle, nun erstmals ausführlicher diskutiert. Die spätere Struktur des Baus ist in hier schon in Grundzügen zu erkennen. Hallauer forderte ein »Bandzentrum« als Aneinanderreihung von Verdichtungsräumen entlang einer zentralen Achse. Claessens stellte Rahmenbedingungen einer Baukonzeption vor, die als Grundlage eines Architektenwettbewerbs zur Ermittlung einer baulichen Leitkonzeption dienen sollten. Weder eine »ländlich verstreute Bauweise« noch Hochhäuser 224 Schneller war man, was die Bibliotheksfragen betraf, für deren Erörterung mit externen Experten man einen ganzen Tag eingeräumt hatte. Ende 1965 in Auftrag gegebene Gutachten lagen vor und erleichterten die Entscheidungsfindung. 225 Am Ende der Diskussionen wurde auch das erste ZiF-Direktorium gewählt, das aus Hirzebruch, Mestmäcker, Schelsky und Weinrich bestand.
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stellte C laessens sich dabei vor, sondern ein für intensive Kommunikation ausgelegtes, horizontal angelegtes Gebäude für Fußgänger mit einer »engen Verflechtung aller Funktionen«: »Die Universität als ›Wissenschafts-Landschaft‹ wird in die zur Zeit bestehende, noch teils landwirtschaftlich geprägte Landschaft hineingestellt.« Das ZiF sollte, wie es später auch umgesetzt wurde, oberhalb der Universität am Hang liegen und die Freiflächen als »Erholungslandschaft für die Gelehrten, Studenten und Bediensteten der Universität sowie zur Nutznießung für die Bürger der Stadt gestaltet werden.« Mit diesen vorgestellten Vorschlägen, die im Vergleich zu den Forschungsinstituten bereits recht detailliert waren, war die Gründungsgruppe generell einverstanden oder vermutlich an dieser Aufgabe einfach weiterhin nicht sonderlich interessiert. Eine kontroverse Diskussion ist im Protokoll jedenfalls nicht festgehalten worden, sondern nur Bedenken, ob die Mitarbeit in der Baukommission – man veranschlagte drei bis vier Jahre Dauer für die Begleitung der architektonischen Gesamtplanung – für die Wissenschaftler zeitlich überhaupt zu leisten sei. Bemerkenswert ist an der Klausur vom Frühjahr 1967, dass schließlich ganze zwei von sieben Tagen der Diskussion mit Assistenten und Studenten gewidmet wurden. Lübbes Assistent Frese hatte dafür eine Denkschrift zur Stellung der Assistenten an der neuen Universität vorgelegt, die mit Blick auf die spätere Diskussion einer Verfassung oder Satzung der Universität entworfen worden war. Im Zentrum der Gespräche stand die Frage, wie »forcierte Loyalitätsverhältnisse« zwischen Professoren und Assistenten an der neuen Universität abgebaut werden könnten und welche unbeabsichtigten Folgen die vorgeschlagene Zuordnung von Assistenten zum Institut und nicht zu einzelnen Professoren entwickeln könnte. Außer den Assistenten mehrerer Gründungsgruppenmitglieder waren durch den Vorstoß Peter Müllers vom Vorjahr nun auch einige Münsteraner Studenten und Peter Müller selbst als früherer Sekretär der Neugründungskommission des VDS zur Diskussion studentischer Vorstellungen von der neuen Universität eingeladen worden. Das ganze Spektrum der Themen von der Forschung über die Lehre bis zur Selbstverwaltung wurde aus Sicht der Studenten besprochen, die das Experiment des strukturellen Numerus clausus in Bielefeld für vertretbar hielten, wenn es denn der Erprobung und späteren Verbreitung von Reformen diene. Von den Kollegienhäusern des Wissenschaftsrates war im Gespräch mit den Studenten keine Rede mehr. Unter der Rubrik »Zusammenleben« wünschten sich die Münsteraner Studenten »nicht permanente physische Nähe, sondern vielmehr die Institutionalisierung formeller wie informeller Kontaktmöglichkeiten«. Offenbar war es vier Jahre später selbstverständlich geworden, dass man sich nur noch ein kulturelles Zentrum, Studentenwohnheime und ein gemeinsames Zentrum der Studentengemeinden wünschte, aber keine weitergehenden Vorkehrungen für gemeinsames Wohnen und Arbeiten von Lehrkörper
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und Studenten traf. Diese Ideen, die doch die Reformdiskussionen der Nachkriegsjahre so geprägt hatten, hatten nun endgültig ausgedient. Die Beteiligung an der weiteren Planung und die direkte Vertretung in den zentralen Organen der Universität – im Gegensatz zur vermittelten Vertretung in Schelskys Konzepterweiterung vom August 1965 – war für die anwesenden Studenten selbstverständlich. Die Professoren nahmen diesen Wunsch freundlich auf und vertagten die Entscheidung auf später.226 Doch die Tatsache, dass Assistenten und Studenten nun im Vergleich zu allen vorangegangenen Gründungsausschüssen so viel Diskussionszeit eingeräumt wurde und diese unwidersprochen bemerken konnten, dass Schelskys Konzept sich vorrangig für Professoren und Assistenten interessiere – »in dieser Unvollständigkeit sehen wir unsere Chance« –, zeigt die deutlich veränderten Umweltbedingungen im Frühjahr 1967. Nur noch drei Monate sollten vergehen, bis die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras während einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien zu einer grundlegend veränderten Situation führen würde.
Empfehlungen und Aufnahme des Konzepts Wie vom neuen SPD-Kultusminister gewünscht, entwarf der Gründungsausschuss zwischen den nächsten beiden Sitzungen im Juli 1967, auf denen man sich nicht mit einer Nachlese der Klausur, sondern direkt mit Haushaltsfragen, ersten Berufungen, dem Aufbau der Bibliothek und der Anmietung des Schlosses Rheda als provisorischer Heimat der neuen Universität beschäftigte, eine aktualisierten Empfehlungstext. Dieser wiederum nur wenige Seiten lange Text basierte auf den Strukturmerkmalen vom Vorjahr und den Diskussionsergebnissen der Fachbereichskommissionen sowie der Klausurtagung im März und enthielt keine neuen Erkenntnisse. Man sah es immer noch nicht als Problem an, dass »die Empfehlungen im Gegensatz zu denen der Gründungsausschüsse Bochum und Dortmund additiv ausgerichtet sind und den gedachten Endzustand nicht endgültig festlegen.«227 So wurde der Empfehlungstext am 24. Juli 1967 verabschiedet.228 Das Kultusministerium leitete anschließend, anders als seinerzeit in BadenWürttemberg, keine ausführliche Kommentierung der ohnehin nur kurzen Empfehlungen ein. Auch eine gesonderte Landtagsdebatte wurde nicht angesetzt, so dass das Landesparlament sich im Ergebnis vor allem mit den Kos 226 Peter Müller wurde erst nach Verabschiedung der Empfehlungen im Juli 1967 zu den Sitzungen eingeladen und hat dann insbesondere an der Baukommission und der Satzungsdiskussion mitgewirkt. Interview mit Peter Müller-Rockstroh am 9.2.2008. 227 Protokoll der 9. Sitzung des beratenden Gründungsausschusses für die Universität im ostwestfälischen Raum am 3.7.1967 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 228 Empfehlungen des Gründungsausschusses für die Universität Bielefeld, beschlossen am 24.7.1967, in: Universität Bielefeld/Nieraad, Universität Bielefeld..
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ten der Bielefelder Neugründung beschäftigte, für die im Entwurf für das Jahr 1968 mit rund 28 Millionen DM nach den eher geringen Vorarbeitskosten von rund 3 Millionen DM in den Jahren 1965 bis 1967 nun erstmals ein umfangreicherer Posten angesetzt werden konnte. Diskussionsbedarf gab es bezüglich der Empfehlungen aber zwischen Kultus-, Justiz-, Innen- und Finanzministerien, die sich zur Abstimmung der Empfehlungen gemeinsam mit Schelsky und einigen weiteren Gründungsausschussmitgliedern Anfang Oktober 1967 trafen. Hier konnten verschiedene Bedenken der Ressorts ausgeräumt werden. Obwohl der Bielefelder Gründungsausschuss zu keinem Zeitpunkt ein juristisches Teilstudium – wie auf Betreiben Raisers hin in Konstanz – erwogen hatte, waren von der Fachkommission doch zahlreiche Änderungen der juristischen Ausbildung vorgeschlagen worden, die nach der Einschätzung des Justizministeriums weitgehende Änderungen der geltenden Vorschriften nötig machen würden. Man verständigte sich zur Zufriedenheit des Justizministeriums in der Ressortbesprechung deshalb darauf, »dass der Bericht der Fachbereichskommission nur eine Diskussionsgrundlage darstellt«.229 Das Innenministerium machte seine Zustimmung dagegen vom Verzicht auf eine in der Nähe gelegene »Universitätsrahmenstadt« mit Läden und Wohnungen wie in Bochum und Dortmund abhängig, womit Kosten gespart werden sollten. Tatsächlich enthielten die Empfehlungen ja keinerlei Präzisierungen zur exakten Ausstattung oder zum Bau der Neugründung. Dem Finanzministerium, dem deshalb zugesichert wurde, dass die Gesamtkosten nicht über die für Konstanz anvisierten 350 Millionen DM hinausgehen würden, schlug vor, den Aufbau wenigstens »bis 1970 auf den Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften zu beschränken«.230 Hier war für das Kultusministerium, das seit 1964 von einer Drei-Fakultäten-Struktur nach Konstanzer Muster ausgegangen war, dann aber wirklich eine Schmerzgrenze erreicht. Eine noch kleinere Universität wollte man sich nicht mehr vorstellen: »Die in der Errichtung einer ›Zwei-Fakultäten-Universität‹ liegenden wissenschaftspolitischen Gefahren wären nicht abzusehen.« So wurden die Empfehlungen des Gründungsausschusses der Universität Bielefeld in der 954. Kabinettssitzung am 24. Oktober 1967 als »Grundlage der weiteren Planung« beschlossen – mit einem Finanzierungsvorbehalt.231 Damit hatten die Bielefelder Gründungsgremien knapp zwei Jahre nach der Konstituierung im zweiten Anlauf ihre Ratgeberfunktion erfüllt.
229 Die Bedenken der Justiz-, Innen- und Finanzministerien sind in der Kabinettsvorlage des Kultusministeriums wiedergegeben und erläutert: http://protokolle.archive.nrw.de/pdf_ texte/kv954_2_9.pdf, letzter Abruf am 10.12.2013. 230 Ebd. 231 Protokoll der Kabinettsitzung zitiert nach http://protokolle.archive.nrw.de/texte/_ 0954x.htm. Die zugehörige Kabinettsvorlage zitiert nach: http://protokolle.archive.nrw.de/ pdf_texte/kv954_2_9.pdf, letzter Abruf jeweils am 10.12.2013.
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Ein Presseecho auf die Empfehlungen lässt sich nicht ausmachen. So, wie die Strukturmerkmale im Sommer 1966 im Trubel um die Studienreform-Empfeh lungen des Wissenschaftsrates untergingen, erging es offenbar auch den end gültigen Empfehlungen des Gründungsausschusses, die kurz nach dem Beginn der Hochphase der Studentenproteste im Sommer 1967 fertiggestellt wurden. Weder die überregionalen Zeitungen noch die DUZ widmeten dem Ergebnis der Bielefelder Gründungsgruppenarbeit eigene Artikel. Ein separater Druck der kurzen Empfehlungen bot sich nach der Publikation der verschiedenen Gründungsdokumente im Sommer 1966 auch nicht mehr an. Auch brieflichen Re aktionen an den Gründungsausschuss, wie seinerzeit in Konstanz, sind nicht überliefert. Trotzdem dauerte es nicht allzu lange, bis die Ergebnisse sich zu mindest unter den interessierten Beobachtern herumgesprochen hatten. Kurz nach dem Jahreswechsel schrieb der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln einen Brandbrief an den Kultusminister: »Mit großer Besorgnis nimmt die Fakultät Kenntnis von den Plänen des Kultus ministers […] bei der neuzugründenden Hochschule in Bielefeld einen numerus clausus von 3.600 bis 4.200 Studenten im Endausbau vorzusehen. Damit bestätigen sich die Bedenken der Fakultät, dass diese neue Universität keine wesentliche Entlastung der überfüllten Hochschulen […] bringen wird. Die für die neue Hochschule in Biele feld vorgesehene Richtzahl von 30 Studenten je Ordinarius wird grundsätzlich begrüßt. Sie sollte aber gleichzeitig für alle Hochschulen des Landes angestrebt werden. Bei den gegenwärtigen Plänen des Kultusministers besteht die Gefahr, dass […] ungleiche Studienbedingungen geschaffen werden […] auch die Arbeitsbedingungen der Professoren […] würden auf nicht vertretbare Weise ungleichartig werden. Die Fakultät begrüßt mit Nachdruck die Absicht des Kultusministeriums, eine ›Reformuniversität‹ aufzubauen. […] Die Fakultät versichert, dass es eine wesentliche Reform der Studienbedingungen auch in Köln geben werde, wenn dort etwa eine Richtzahl von nur 40 Studenten je Ordinarius verwirklicht würde. […]«
Doch nicht nur die besseren Betreuungsrelationen zwischen Studenten und Professoren verärgerten die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus Köln, die die Gründungsdokumente von 1966 offenbar nicht kannten: »Grundsätzlich fragwürdig scheint die Konzeption einer Luxusuniversität mit peripherer Lage. […] Die Forschung ist erfahrungsgemäß schneller und nachhaltiger durch Verbesserung bestehender Einrichtungen zu fördern. Schließlich gibt die Fakultät zu bedenken, ob das Land nicht zunächst einmal seine gegebenen Berufungszusagen an die Professoren der bestehenden Hochschulen erfüllen sollte, bevor mit zweifelhaftem Erfolg privilegierte Lehr- und Forschungsmöglichkeiten geschaffen werden.«232 232 Der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln [Rainer Willeke] an Kultusminister Fritz Holthoff am 8.1.1968 unter Berufung auf einen Fakultätsbeschluss vom 18.12.1967, in: UABI GA/WB, 4.
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Der Dekan der Medizinischen Fakultät in Köln schloss sich diesem Protest an und erklärte dem Kultusminister in ebenso erbostem Ton: »Ehe die Schaffung privilegierter Lehr- und Forschungseinrichtungen in Aussicht genommen werden kann, muss den alten Landesuniversitäten Luft geschaffen werden und die Verantwortung vor der seit Jahren unaufhörlich steigenden Überfüllungsund Spannungssituation mit allen politischen Konsequenzen bedacht werden.«233
Es war das altbekannte Argument aus den Nachkriegsjahren, nachdem stets die Not an den bestehenden Universitäten zuerst zu lindern war, bevor man Neugründungen angehen sollte, so dass es nach dieser Logik nie zu Neugründungen gekommen wäre. Vom Zentrum für Interdisziplinäre Forschung als einem Angebot an Professoren aller Landesuniversitäten war in beiden Briefen keine Rede. Spätestens mit diesen Beschwerdebriefen aus Köln war der Kampf um Unterschiede im Hochschulsystem des Landes Nordrhein-Westfalen und besondere Bedingungen an einzelnen Standorten eröffnet. Das Kultusministerium verwies in seinem Antwortschreiben zunächst auf laufende Arbeiten des neuen Planungsbeirates, war sich aber im Klaren, dass eine schwierige Situation entstanden war, auf die man in der Ressortabstimmung Anfang Oktober 1967 auch schon zu sprechen gekommen war. Die Vertreter der anderen Ressorts, so wurde der Minister vorbereitet, hätten damals schon »die Befürchtung geäußert, dass das Kultusministerium auf die Dauer dem Druck anderer Universitäten, die eine Gleichstellung mit der Universität Bielefeld begehren, nicht wiederstehen könne«.234 Tatsächlich würde sich sehr bald zeigen, ob die Hochschulpolitik nicht nur Nordrhein-Westfalens, sondern auch Baden-Württemberg die Idee der Neugründungen als geschützte Reformexperimente verteidigen wollte und konnte.
233 Der Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln an Kultusminister Fritz Holthoff am 13.5.1968, in: UABI GA/WB, 4. 234 Vermerk zum Schreiben des Dekans der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln vom 20.1.1968, in: HSTA NRW, NW 681. Am 20.1. hatte der Rektor den Brief des Dekans vom 8.1. abgezeichnet und weitergeleitet.
5. Konzept und Realität: Der Aufbau der Neugründungen in Konstanz und Bielefeld
Als 1965 bzw. 1967 die Empfehlungen der Gründungsausschüsse in Konstanz und Bielefeld vorlagen, deren Ideen auf den Anfang der Universitätsgründerzeiten 1959/60 zurückgingen, hatte sich die Umwelt der beiden Reformuniversitäten erheblich zu verändern begonnen. Bund und Länder hatten Bildungs- und Hochschulpolitik nun als zentrale Politikfelder programmatisch zu erschließen begonnen.1 Eine umfassende Verrechtlichung des Hochschulbereichs, der bis Ende der 1950er Jahre keine eigenen Landesgesetze oder gar ein Bundesgesetz gekannt hatte, kam auf den Weg. So versuchte die Politik mit dem ihr eigenen Mittel der Gesetzgebung verschiedene strukturelle und organisatorische Reformen einzuleiten, aber auch Konflikte aufzufangen – insbesondere mit Blick auf die Mitbestimmungsforderungen von Studierenden und wissenschaftlichem Nachwuchs. Neben die Verrechtlichung trat als weiterer Trend in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Planung. In der Hochschulpolitik verbreitete sich die Auffassung, dass nicht nur Reforminseln angelegt, sondern die gesamte Hochschullandschaft als System erfasst und gesteuert werden müsste. Beide Entwicklungen, Verrechtlichung und Planung, wurden befördert durch stetig steigende Studierendenzahlen und und durch die anschwellenden Proteste der Studierenden, die sich sowohl hochschulpolitischen als auch gesellschaftspolitischen Fragen zuwandten. Welche Folgen hatte diese Gemengelage für die Neugründungsvorhaben in Konstanz und Bielefeld? Im folgenden Kapitel wird in drei Schritten die Entwicklung der Neugründungen nach der Konzeptphase untersucht. Zunächst werden Bau und Aufbau der beiden Universitätsneugründungen betrachtet. Daran anschließend werden Beispiele dafür untersucht, wie auch die Universitätsgründer in Konstanz und Bielefeld vom Planungsfieber erfasst wurden und direkt im Anschluss an ihre Neugründungskonzeptionen noch sehr viel weitergehende Pläne entwickelten, die in unterschiedlicher Weise mit ihren bisherigen Neugründungsprojekten verknüpft blieben. Schließlich geht es um erste Zwischenbilanzen der Gründer und die Konsequenzen, die sie aus der unterschiedlichen Bewertung der Situation bis zum Ende der 1970er Jahre zogen.
1 Vgl. Herbert, Geschichte Deutschands, S. 783 ff. zu 1965 »Zwischen den Zeiten«.
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5.1 Die Materialisierung der Gedankengebäude: Bau und Aufbau Nachdem die Konzeptarbeit der Gründungsausschüsse geleistet war, konnte es an die Umsetzung der Pläne gehen. Während in Baden-Württemberg seit Kiesingers Regierungserklärung 1964 und Hahns Amtsantritt im Kultusministerium die Arbeiten beschleunigt wurden, gingen die Vorarbeiten für Bielefeld seit der Kostenexplosion in Bochum und wegen des Regierungswechsels 1966 schleppend voran.2 Die Gründungsausschüsse tagten an beiden Standorten bis zur Aufnahme des Lehrbetriebs weiter und beschäftigten sich mit der Operationalisierung ihrer Konzepte. Sie erarbeiteten in Unterausschüssen und Fachbereichskommissionen Berufungslisten, beschäftigten sich mit Satzungen, Studiengängen, Bibliotheksaufbau und vielen weiteren organisatorischen Vorbereitungen der neuen Universitäten.3 Sowohl in Konstanz als auch in Bielefeld arbeitete man dabei zunächst in räumlichen Provisorien, während umfangreiche Planungen für Bau und Gestaltung der künftigen Universitäten anliefen.
5.1.1 Vorbereitung des Betriebs: Schneller Start in Provisorien In Konstanz bezogen die ersten Lehrstuhlinhaber und Mitarbeiter im Juni 1966 Teile des Insel-Hotels, eines ehemaligen Dominikaner-Klosters auf einer kleinen Insel vor der Konstanzer Altstadt. Dieses Hotel war 1963 vom Land Baden- Württemberg gekauft worden und wurde nun renoviert, um nach etwa vierjähriger Zwischennutzung durch die neue Universität erneut an eine Hotelgruppe verpachtet zu werden. Während der Zwischennutzung richtete man im ehemaligen Kirchenschiff des Klosters unter alten Fresken mit, wie die »Frankfurter Allgemeine« betonte, »ungewöhnlich sadistischen Märtyrerdarstellungen« ein Großraumbüro ein.4 Die Bielefelder Gründer mieteten auf Schelskys Wunsch das Wasserschloss Rheda des Fürsten zu Bentheim-Tecklenburg an, das nach 2 Chronologie der Gründungs- und Aufbaujahre der Universität Konstanz. Für die Universität Bielefeld ist keine umfassende Chronologie der Aufbauzeit veröffentlicht worden. Einige zentrale Daten enthält die Dokumentation der Ausstellung zum 40jährigen Universitätsjubiläum 2009: Löning, Wie gründet man Universitäten. 3 Eine Beschreibung des Fakultätsaufbaus Soziologie findet sich exemplarisch bei Kaufmann, Institutionalisierung der Fakultät für Soziologie. 4 So die Schilderung in: Am Wald. Die ersten Bauten der Universität Konstanz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.11.1967 sowie Eine Universität beginnt im Hotel. In Konstanz fängt man mit der wissenschaftlichen Arbeit an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.1966. Ausführlich zur Unterbringung im Inselhotel und den Planungen der Vorstufe: Konstanzer Universitätszeitung, Hefte 6 und 8, August 1965 und Februar 1966.
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Einbau einer Heizung für acht Jahre als erstes Provisorium der neuen Universität dienen konnte.5 Die zwei neuen Universitäten mit innovativem Anspruch starteten ihren Betrieb also beide in geschichtsträchtigen Gebäuden in Insellage und anders als manche Nachkriegsneugründungen nicht in Kasernen. Sowohl im Konstanzer Inselhotel als auch im Rhedaer Wasserschloss fanden nicht nur Wissenschaftler und Aufbaustäbe Platz, sondern hier wurden auch die ersten Veranstaltungen der beiden neuen Universitäten abgehalten, etwa jene des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung. Bis die Neubauten fertiggestellt waren oder zumindest erste Teile ab 1972/73 bezogen werden konnten, nutzte man neben Kloster und Wasserschloss jeweils ein zweites Provisorium. In Konstanz, wo das Universitätsbauamt im Zuge der beschleunigten Vorarbeiten bereits im Sommer 1964 – also schon ein Jahr vor Abschluss der Gründungsausschussarbeiten – seine Arbeit aufgenommen hatte, baute man in der Nähe des endgültigen Standortes der Universität, einem rund 200 Hektar großen Gelände oberhalb der Stadt Konstanz und der Insel Mainau (»Mainauwald«), seit dem Sommer 1966 mehrere Studentenwohnheime. Diese Siedlung »Am Sonnenbühl« wurde Ende 1967 zunächst mit Büros belegt und um provisorische Laborgebäude, Seminar- und Bibliotheksräume ergänzt. Doch standen den ersten Studierenden in der Tradition der 1950er Jahre bereits ein neuerrichtetes evangelisches und katholisches Studentenwohnheim zur Verfügung, in denen neben den Studierenden auch zwei Studentenpfarrer einzogen – anstatt der vom Wissenschaftsrat 1962 empfohlenen Protektoren und Kollegienhausleiter. In Bielefeld begann man zwei Jahre später als in Konstanz in unmittelbarer Nähe zum 1965 ausgewählten, anfangs nur rund 53 Hektar großen und bis dahin landwirtschaftlich genutzten Universitätsgelände (»Voltmannshof«) mit dem Bau eines sogenannten Aufbau- und Verfügungszentrums, womit ein für verschiedene Nutzungen ausgelegtes Hochhaus gemeint war, das im Dezember 1969 bezogen werden konnte. Der Bau von Studentenwohnheimen erschien in Bielefeld wohl nicht ganz so dringlich wie in Konstanz, da die Stadt größer und, anders als Konstanz, auch nicht auf den Tourismus ausgerichtet war.
Personeller Aufbau Was den personellen Aufbau der Neugründungen betraf, hatten beide Gründungsausschussvorsitzenden gehofft, möglichst viele Ausschussmitglieder auch an die neuen Universitäten ziehen zu können, um eine kontinuierliche Übersetzung der Konzepte in die Praxis zu erreichen. Von einer kompletten Übernahme der Beratungsausschüsse in den Lehrkörper der Universität blieben beide Neugründungen allerdings weit entfernt. 5 Kultus- und Finanzministerium mussten von Schelsky langwierig von der Unterbringung im Schloss überzeugt werden. Unterlagen dazu in UABI KP 37.
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In Konstanz nahmen vier von zehn Gründungsausschussmitgliedern einen Ruf an den Bodensee an. Neben dem Romanisten Gerhard Hess waren das der Politologe Waldemar Besson, der Soziologe Ralf Dahrendorf und der Altertumswissenschaftler Herbert Nesselhauf. Sie erhielten im März 1966 im Konstanzer Inselhotel gemeinsam mit vier weiteren Professoren ihre Ernennungsurkunden überreicht, die dem Gründungsgremium nicht angehört hatten, nämlich dem Psychologen Hans Aebli (1923–1990), dem Romanisten und Hess-Schüler Hans Robert Jauß (1921–1997), dem Althistoriker Franz Georg Maier (1926–2014) und dem Romanisten Wolfgang Preisendanz (1920–2007). Als erste Gastprofessoren konnte man zugleich zwei in der NS-Zeit emigrierte Wissenschaftler gewinnen – aus Oxford den Rechtshistoriker David Daube (1909–1999) und vom California Institute of Technology (Caltech) den Biologen Max Delbrück (1906–1981).6 Mit Delbrück, der 1969 den Nobelpreis für Medizin erhalten sollte, kompensierte man erfolgreich die Tatsache, dass keines der drei Gründungsausschussmitglieder aus den Naturwissenschaften sich für Konstanz hatte begeistern können. So unterstützte der Mitbegründer der modernen Genetik in der Folgezeit als permanenter Gastprofessor den Aufbau der naturwissenschaftlichen Fakultät in Konstanz, so wie er in den Jahren zuvor schon der Universität Köln beim Aufbau eines molekulargenetischen Forschungsinstituts geholfen hatte. Raiser, der die Sache der Neugründungen, insbesondere ihre Aufladung mit reformerischen Absichten ab 1959 maßgeblich betrieben und das Kultusministerium Baden-Württemberg auf dem Weg zur Konstanzer Gründung immer wieder beraten hatte, ging – inzwischen 60 Jahre alt – nicht mehr mit nach Konstanz, doch Schüler von ihm, wie etwa Friedrich Kübler (1932–2013), wurden bald an die Neugründung berufen.7 Für Bielefeld hatte Schelsky die Idee der Gründungsgruppe besonders vehement vertreten und deshalb mit Blick auf die späteren Berufungen auch weit mehr Wissenschaftler versammelt als alle anderen Neugründungen der 1960er Jahre in ihren jeweiligen Gründungsgremien. In der Summe gingen dann nach Bielefeld mit zehn Personen auch deutlich mehr Gründungsgremienmitglieder als in Konstanz, doch setzt man diese Zahl ins Verhältnis zur Größe der Bielefelder Gründungsgremien mit insgesamt etwas über 30 Mitgliedern, waren es relativ gesehen gleich viele, nämlich knapp ein Drittel. Neben Schelsky zählten dazu der Philosoph Hermann Lübbe mitsamt seinem Assistenten Jürgen Frese, der auch in den Wissenschaftlichen Beirat aufgenommen worden war, der Pädagoge Hartmut von Hentig, der Politologe Peter Christian Ludz, der Literaturwissenschaftler Harald Weinrich, der Mathematiker Karl Peter Grotemeyer und etwas 6 Dazu ausführlich: Konstanzer Universitätszeitung 9 (Mai 1966). 7 Nach 20jährigem wissenschaftspolitischem Engagement wandte Raiser sich zunächst stärker der ehrenamtlichen Arbeit für die Synode der evangelischen Kirche zu, als deren Präses er Anfang der 1970er Jahre schließlich für einige Jahre agierte, übernahm 1968/69 nochmals das Rektorenamt der Universität Tübingen und in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre den Vorsitz der Europäischen Rektorenkonferenz.
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später auch der Historiker Reinhart Koselleck. Die größte Kontinuität schaffte die Gruppe der Juristen aus den Gründungsgremien, von denen Ernst Joachim Mestmäcker, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Werner Maihofer die Rufe nach Bielefeld annahmen.8 In der Soziologie gingen weniger Personen aus den Gründungsgremien mit nach Bielefeld, als zunächst von Schelsky geplant, weil um die Verlegung der von Schelsky geleiteten Sozialforschungsstelle Dortmund (SFS) ein heftiger Konflikt entbrannte.9 Nach dem Krieg war die SFS in Dortmund angesiedelt und mit der Universität Münster verbunden worden, weil es seinerzeit noch keine Universität im Ruhrgebiet gab. Schelsky hatte nach seinem Ruf an die Universität Münster, mit dem die Leitung dieser Forschungseinrichtung verbunden wurde, die SFS inhaltlich neu ausgerichtet, sie auf fast hundert Mitarbeiter expandiert und 1964 einen ersten Versuch unternommen, sie nach Münster zu verlegen. Als Schelsky kurz darauf die Möglichkeit zur Bielefelder Universitätsgründung bekam, änderte er seinen Plan und wollte mit der Verlegung der SFS nach Bielefeld die dortige neue Fakultät für Soziologie schnell arbeitsfähig machen. Doch ging im Endergebnis 1969 nur ein Teil des Personals sowie die Bibliothek mit nach Bielefeld, während die Sozialforschungsstelle kurz darauf in Dortmund neu gegründet wurde. Schelskys Aktivitäten an der SFS seit 1960 verdankte die Uni Bielefeld übrigens auch ihren Schwerpunkt Lateinamerikaforschung, der am Anfang der 1960er Jahre an der SFS neu aufgebaut worden war, als eine Reihe neuer regionalwissenschaftlicher Institute an bundesdeutschen Universitäten entstand, wie das Osteuropa-Institut in Berlin (seit 1951), das Südasien-Institut in Heidelberg (seit 1962) und das Ostasien-Institut an der Universität Bochum (1965).10 Nicht nur in der Soziologie gab es Schwierigkeiten mit der Gewinnung der Gründungsgremienmitglieder. Auffällig ist, dass wie in Konstanz auch in Bielefeld keiner der Naturwissenschaftler aus den Gründungsgremien an die neue Universität ging. Ob es daran lag, dass der Wechsel an die Neugründungen für die Buchwissenschaften attraktiver war als für jene, die auf funktionsfähige Labore 8 Für die Beantwortung der Frage, wer nach Bielefeld mitging, wird hier der Stand der Mitgliedschaften vom Sommer 1966 zugrunde gelegt, der wiedergegeben ist in: Mikat/ Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität, S. 94. Die Zusammensetzungen von Gründungsausschuss und Wissenschaftlichem Beirat veränderten sich bis 1969 noch mehrfach, da Personen ausschieden und Plätze nachbesetzt wurden. 9 Die Darstellung des Begründers der Sozialforschungsstelle, der sich mit Schelsky offenbar überworfen hatte: Neuloh, Entstehungs- und Leistungsgeschichte der Sozialforschungsstelle Dortmund, insbes. S. 43–52. 10 Zeitgenössisch zum Lateinamerikaschwerpunkt: Steger, Lateinamerika-Forschung. Auch die Akademie in Loccum, die den Universitätsneugründungsideen 1961 ein Forum geboten hatte, widmete der überseeischen Forschung 1966 eine gesonderte Tagung: Probleme der überseeischen Forschung am Beispiel Latein-Amerikas (Loccumer Protokolle 4 (1966). Zur Geschichte der SFS, die seit einigen Jahren erst zur TU Dortmund gehört, sowie zur Entstehung des Lateinamerikaschwerpunktes: Adamski, Ärzte des sozialen Lebens.
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angewiesen waren oder aber die besseren Betreuungsverhältnisse in den Naturwissenschaften an den alten Universitäten keinen so starken Druck zum Wechsel an neue Einrichtungen ausübten, lässt sich nicht mehr klären. In jedem Fall waren die Berufungsmöglichkeiten für Geistes- wie für Naturwissenschaftler in diesen Jahren traumhaft, weil neue Lehrstühle in großer Zahl entstanden und vergleichsweise wenig Nachwuchs vorhanden war. Mit diesem Argument – der guten Verhandlungsposition vieler Professoren durch große Nachwuchslücken – war die Bielefelder Gründung ja 1966 trotz Finanzierungsschwierigkeiten auch nicht noch länger auf die Wartebank geschoben worden, weil man ein weiteres Zerfallen der Gründungsgruppe befürchtete. Bemerkenswert ist schließlich, dass in Bielefeld die Reihenfolge der erstberufenen Professoren wiederholt herausgestellt wurde. Der Soziologe Niklas Luhmann, der den Gründungsgremien überhaupt nicht angehört hatte, erhielt im Herbst 1968 als erster Bielefelder Professor seine Ernennungsurkunde. Auf ihn folgte als zweiter Hartmut von Hentig, der in seiner Autobiographie auch herausstellte, »die Reihenfolge erwies sich als Rangfolge«.11 Einer solchen Rangfolge war man in Konstanz offenbar absichtlich aus dem Weg gegangen, indem den ersten acht Professoren bei einem Festakt im März 1966 ihre Ernennungsurkunden gleichzeitig übergeben worden waren. Neben der Bestückung der Neugründungen mit Wissenschaftlern galt es auch die Leitungsfrage zu klären. Die künftigen Konstanzer Professoren wählten dazu im Februar 1966, also noch vor dem Festakt zu ihrer Amtseinführung, erwartungsgemäß den Gründungsausschussvorsitzenden Gerhard Hess zum Gründungsrektoren, der dieses Amt für sieben Jahre ausübte. In Bielefeld dagegen blieb Schelsky sich treu und verweigerte nach der Ablehnung technischorganisatorischer Planungsaufgaben, die von Medem übernahm, und dem Vorsitz des Gründungsausschusses konsequenterweise schließlich auch die Wahl zum Gründungsrektor und steuerte weiterhin lieber aus der zweiten Reihe. Eine Ausnahme davon hatte er nur für das Zentrum für Interdisziplinäre Forschung gemacht, wo er sich im Frühjahr 1966 neben Hirzebruch, Mestmäcker und Weinrich zu einem der vier Direktoren hatte wählen lassen. So wurde am 5. September 1969 in der ersten Sitzung des Senats also nicht Schelsky, sondern dessen Münsteraner Kollege Ernst-Joachim Mestmäcker zum Gründungsrektor gewählt. Mestmäcker hatte seit Herbst 1966 in Nachfolge Lübbes bereits dem Gründungsausschuss vorgesessen, konnte das Rektorenamt aus gesundheitlichen Gründen aber nicht ausüben, so dass er im März 1970 von Karl P eter Grotemeyer abgelöst wurde, der in der Folgezeit so oft wiedergewählt wurde, dass er 22 Jahre lang Rektor der Universität Bielefeld blieb. Grotemeyer war zuvor mehrere Jahre Dekan an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin gewesen und hatte dadurch bereits Erfahrungen 11 Hentig schloss an: »Eine Konkurrenz hat sich daraus ebenso wenig ergeben wie eine Kooperation; unsere Denkweisen waren allzu verschieden.« Hentig, Mein Leben, S. 291.
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in der Hochschulverwaltung einer Universität machen können, in der die Studenten schon vor der zweiten Hälfte der 1960er Jahre lebhaft an der Mitbestimmung der Selbstverwaltung interessiert waren. Eine vergleichbare Kontinuität in der Leitung erreichte die Universität Konstanz erst mit ihrem vierten Rektor, dem Chemiker Horst Sund, der nach turbulenten Jahren, auf die noch zurückzukommen ist, die Neugründung am Bodensee ab 1976 für ganze 15 Jahre leitete. Derartige Beständigkeit in der Leitung einer Hochschule war im deutschen Hochschulsystem vorher unvorstellbar gewesen. Bis dahin wurden die Rektoren in aller Regel jährlich nach einer zuvor abgesprochenen Reihenfolge der Fakultäten und der Festlegung eines bestimmten Kandidaten in einer lediglich dem Anschein nach freien Wahl bestimmt. Auch bei der Verwaltungsleitung der beiden neuen Universitäten erreichte man das Maximum an Kontinuität. 1966 bzw. 1968 wurden zwei Mitarbeiter aus der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates als Kanzler bestellt, die dieses Amt jeweils bis zum Ende ihres Berufslebens 1988 bzw. 1989 innehatten.12 Jedoch gibt es keine Belege dafür, dass diese Rekrutierung der beiden Juristen aus dem Wissenschaftsrat in der Absicht erfolgt wäre, einen besonders intensiven Austausch zwischen dem Planungs- und Beratungsgremium und den von ihm angeregten Neugründungen zu institutionalisieren. Ohnehin waren im Konstanzer Fall in der Konzeptphase mehrere Wissenschaftler und in der Vorbereitungsphase aus beiden neuen Universitäten je ein Wissenschaftler zugleich Mitglied des Wissenschaftsrates – aus Konstanz Herbert Nesselhauf (bis 1970), der zudem bis 1974 noch Vizepräsident der DFG war, und aus Bielefeld Karl Peter Grotemeyer (bis 1971).
Beginn von Forschung und Lehre Die Übergangszeit zwischen Konzeptfertigstellung und dem Beginn des Lehrbetriebs wurde an beiden Orten neben organisatorischen Vorbereitungen auch schon für die Forschung genutzt. In Konstanz eröffnete im April 1966 das von Dahrendorf geleitete Zentrum für Bildungsforschung.13 In Bielefeld, wo die Vorbereitungszeit deutlich länger war als in Konstanz, wurde in Übereinstimmung mit dem anfänglichen Plan das Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) als erste Einrichtung in eine Art Probebetrieb genommen. So veranstaltete das ZiF seine erste Tagung im Februar 1968 im Wasserschloss Rheda. Sie 12 Nach Konstanz ging Günther Schlensag (1923–1993), der Verwaltungsdirektor an der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm, der Quasi Nachfolge-Institution des Bauhauses gewesen war, bevor er im Wissenschaftsrat die Arbeitsgruppe zu den Neugründungen betreute und schließlich vom Sekretär des Konstanzer Gründungsausschusses zum leitenden Verwaltungsbeamten der Universität wurde. Nach Bielefeld ging Eberhard Firnhaber (*1927), der vor seiner Tätigkeit im Wissenschaftsrat im nordrhein-westfälischen Kultusministerium gearbeitet hatte. 13 Dazu Aebli, Kooperative Forschung.
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war jedoch nicht einem interdisziplinären, sondern vielmehr einem drängenden hochschulpolitischem Thema gewidmet, nämlich der Stellung der Assistenten in der neuen Universität. Wenige Wochen später gründete sich die Bundesassistentenkonferenz, die bis zum Herbst 1968 das sogenannte Kreuznacher Hochschulkonzept mit zentralen hochschulpolitischen Forderungen der Assistenten vorlegte. Diese ZiF-Tagung verdankte sich in den Worten Schelskys einer »Funktionsvermischung«, nach der in den ersten beiden Jahren etwa die Hälfte der 22 Arbeitsgemeinschaften am ZiF auf die Bereiche Wissenschaftsdidaktik und Hochschulplanung entfielen, bevor auf Beschluss des Wissenschaftlichen Beirats des ZiF im Oktober 1970 derartige Themen nicht mehr unter dem Dach des ZiF, sondern von der Universität selbst veranstaltet wurden. Die erste interdisziplinäre Veranstaltung im von Schelsky beabsichtigten Sinne war dann eine Tagung der bereits beschriebenen Gruppe »Poetik und Hermeneutik«, die im September 1968 zu einem weit weniger realitätsnahen Thema als Assistentenfragen, nämlich zur Realität mythischer Späthorizonte abgehalten wurde.14 Das Spektrum der interdisziplinären Tagungen am ZiF war von Anfang an weit gefächert und reichte in den beiden Aufbaujahren von der »Marginalisierung des Negers in Lateinamerika« bis zu »Ontologische Grundlagen der Mehrwertigkeit. Natürliche Zahlen in einem transklassischen System«.15 Nach Abschluss der wichtigsten Vorbereitungen in Konstanz und Bielefeld konnte schließlich der Forschungs- und Lehrbetrieb der neuen Universitäten in den ersten Fächern in kleinem Maßstab aufgenommen werden. Bochum hatte als erste Universität aus der Gruppe der fünf Neugründungen der 1960er Jahre schon Ende 1965 das erste Semester eröffnet, Konstanz zog 1966/67 nach, Regensburg 1967/68 und Bielefeld schließlich 1969/1970. Lediglich die Neugründung in Bremen, für die 1960 als allererste der fünf ein umfangreiches Konzept vorgelegt worden war, blieb Gegenstand immer neuer Querelen und ungelöster Finanzierungsprobleme und konnte erst im Wintersemester 1971/72 den Betrieb aufnehmen.16 In Bielefeld erfolgte der Start stärker gestaffelt als in Konstanz. Man begann zunächst nur mit Rechtswissenschaft, Soziologie und Mathematik.17 Die Zahl der Studierenden im Eröffnungssemester war in Konstanz mit zunächst 53 und in Bielefeld mit 250 Studierenden bescheiden, zumin 14 Veröffentlicht von Fuhrmann, Terror und Spiel. 15 Schelskys Bericht als geschäftsführender Direktor über die Aufbauphase des ZiF von 1968 bis 1970 in: Universität Bielefeld, Zentrum für Interdisziplinäre Forschung. Er enthält neben Kurzberichten der Veranstaltungen auch statistische Auswertungen über Anzahl, Status und Fachzugehörigkeiten der Teilnehmer. 16 Vgl. Gräfing, Bildungspolitik in Bremen. 17 In Bielefeld folgten 1971 die Fakultäten für Pädagogik, Philosophie, Psychologie, 1972 die für Physik, sowie jene für Linguistik und Literaturwissenschaft, 1973 Geschichtswissenschaft, 1974 Wirtschaftswissenschaften, 1975 Chemie und 1976 Biologie.
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dest wenn man sie mit Bochum vergleicht, wo die neue Universität zum Start Ende 1965 gleich 1.085 Studierende aufnahm.18
Öffentlichkeitsarbeit Schon vor der Eröffnung bemühten sich beide Neugründungen um Publizität und eine Kontaktaufnahme zu ihrer Umwelt. Über die Aufbauvorbereitungen in Konstanz konnten sich interessierte Zeitgenossen schon seit dem Landtagsbeschluss zur Gründung und damit bereits drei Jahre vor der Eröffnung in zwei neuen Medien ausführlich informieren: die »Konstanzer Blätter für Hochschulfragen« richteten sich ab 1963 mit ihrer Berichterstattung über Fragen der Hochschulreform und die Entwicklung der Neugründungen – natürlich insbesondere der Konstanzer – an ein nationale Fachöffentlichkeit im Wissenschaftssystem; zusätzlich bot die »Konstanzer Universitätszeitung« ab 1964 eine monatliche und später vierteljährliche Berichterstattung über die entstehende Universität für eine lokale und regionale Leserschaft. Beide Zeitschriften erschienen im 1963 eigens gegründeten Universitätsverlag Konstanz – heute UVK –, der zwar den Namen der Universität trug, aber auf Initiative der lokalen Tageszeitung »Südkurier« entstand und wirtschaftlich von der Universität unabhängig blieb.19 Aus der gleichen Initiative entsprangen regelmäßige Leitartikel Waldemar Bessons, des Gründungsausschussmitglieds und ersten Politologen an der neuen Universität, in der Konstanzer Lokalzeitung.20 Ab dem Gründungsjahr erschien im Konstanzer Universitätsverlag zudem eine Reihe Konstanzer Universitätsreden und bald darauf zahlreiche wissenschaftliche Publikationen von Universitätsangehörigen, aber auch Wissenschaftlern anderer Hochschulen. In der Konstanzer Stadtgesellschaft und Presse bestand also ein starkes Interesse an der Universitätsgründung, das neben der lokalen Berichterstattung in der frühen Gründung eines neuen Verlages und besonderer Zeitschriften Ausdruck fand. Die Universität wiederum nahm diese Bemühungen gern auf und nutzte diese Plattformen intensiv. Eine Universitätsgesellschaft, die Kontakte zwischen Universität und Gesellschaft vor Ort befördern sollte, bestand in Bielefeld, so wie in Konstanz, bereits vor der Eröffnung der Neugründung.21 Eine Universitätszeitung, die zudem 18 Zahlen nach Albert/Oehler, Materialien zur Entwicklung der Hochschulen. Die Angabe für Bielefeld stammt aus: Grotemeyer, Reformabsicht und Planungswirklichkeit. 19 Dazu Weyl, Beginn eines Universitätsverlags. 20 Besson, Erlebte Zeitgeschichte. 21 In Konstanz gab es seit Februar 1965 eine Gesellschaft der Freunde und Förderer der Universität Konstanz und in Bielefeld seit Januar 1966 eine Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft. Zu letzterer die Ausstellung »40 Jahre Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft von 2006«, online dokumentiert unter: http://www.uni-bielefeld.de/wlug/ausstellung/ index.html, letzter Abruf 10.1.2014. Zu den Beziehungen zwischen der Stadt Bielefeld und der Universität jetzt auch: Büschenfeld/Brandt/Priever, Wechselwirkungen, sowie speziell für die 1960er Jahre in Konstanz: Buchhammer u. a., »… eine der letzten Studentenstädte«.
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weit weniger aufwändig gestaltet war als die Konstanzer Ausgabe, gab es in Bielefeld jedoch erst seit der Eröffnung der Universität im Jahr 1969. Zusätzlich hatte Schelsky in der ersten Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates zur Abgrenzung von den »Konstanzer Blättern für Hochschulfragen« eine eigene Schriftenreihe des Beirates vorgeschlagen.22 Die Reihe »Wissenschaftstheorie, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftsgeschichte«, die Schelsky dann ab 1966 mit Hans Blumenberg zusammen beim Bertelsmann-Verlag im benachbarten G ütersloh heraus gab, brachte als ersten Band die Dokumentensammlung Mikat/Schelsky zur Gründungsphase heraus und als zweiten Band noch im gleichen Jahr Hartmut von Hentigs im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirats erstelltes Gutachten zum Verhältnis der neuen Universität zur höheren Schule. 1968 wurde nach der entsprechenden Tagung im ZiF die Denkschrift zur Stellung der Assistentenschaft in der Universität Bielefeld publiziert, bevor einige Dissertationen und Habilitationen zur wissenschaftspolitischen Fragestellungen folgten, unter anderem jene von Ulrich Lohmar, bis die Reihe schon 1970 nach nur anderthalb Dutzend Bänden beendet wurde. Mit Eröffnung der Universität folgte 1969 zwar eine zweite Schriftenreihe, ebenfalls im Bertelsmann-Verlag, die speziell über den Aufbau der Universität in einigen themenbezogenen Bänden berichtete (z. B. Erarbeitung der Satzung, Entwicklung des Baus), allerdings wurde auch diese schon nach wenigen Bänden 1978 wieder eingestellt. Bilanziert man die publizistischen Bemühungen zu beiden Neugründungen, scheint die neue Universität seitens der Bielefelder Stadtgesellschaft und Medienlandschaft nicht ganz so euphorisch aufgenommen worden zu sein wie die Neugründung am Bodensee. Auch der Anspruch der Universität, eine nationale Fachöffentlichkeit über die Fortschritte der Reformexperimente in einer Publikationsreihe oder Zeitschrift zu informieren, wurde in Bielefeld von Seiten der Universität schneller wieder aufgegeben als in Konstanz, wo die »Blätter für Hochschulfragen« erst mit Abtritt der Gründergeneration und dem Erscheinen des 100sten Heftes 1989/90 eingestellt wurden.23 Die Konstanzer unterstützten in den 1970er und 80er Jahren nicht nur die Bestückung der Konstanzer Blätter, sondern veröffentlichten auch mehrere Sammelbände zum Schicksal ihrer Universität.24
22 Protokoll der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 12.11.1965 in Düsseldorf, in: UABI GA/WB. 23 Das Heft 99/100 der Konstanzer Blätter für Hochschulfragen für die Jahre 1989/90 erschien als letztes. 24 Die Gründung von wissenschaftlichen Zeitschriften an beiden Universitäten konnte für diese Untersuchung nicht aufgearbeitet werden. Beispielhaft etwa Hirschauer/Winterhager, Die Zeitschrift für Soziologie, sowie Raphael, Anstelle eines »Editorials«.
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5.1.2 Aus Ideen wird Beton: Bau- und Campusplanung Was bedeuteten die hochschulreformerischen Ideen für die Architektur der neuen Hochschulen? In welche bauliche Form wurden die Konzepte der beiden Universitätsneugründungen in Konstanz und Bielefeld übersetzt und welche Einflüsse prägten die Entwürfe maßgeblich? Für eine überzeugende Verbindung von Inhalt und Form, wie sie beim kompletten Neubau damals möglich wurde, gab es im deutschen Hochschulbau kaum Vorbilder, an die man in den 1960er Jahren hätte anknüpfen können. Die Humboldtsche Universität, auf deren Tradition sich in den Nachkriegsjahren so viele gern beriefen, hatte keine eigene Bautradition entwickelt, auch wenn der Universitätsbau am Ende des 19. Jahrhunderts eine erste Boomphase erlebt hatte und dabei bereits Tendenzen zur Verlagerung von Neubauten aus den Stadtzentren hinaus gezeigt hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts besaßen in Deutschland überhaupt nur die damals ganz neuen Technischen Universitäten geschlossene Campusanlagen, also genau jene Hochschulen, die von den Universitäten dieser Zeit als eine Art illegitime Geschwister betrachtet wurden.25 Der Universitätsbereich war bis in die 1950er Jahre so exklusiv gewesen, dass Universitäten mit hohen dreistelligen oder niedrigen vierstelligen Studentenzahlen mit einem einzigen für sie errichteten Gebäude oder in umnutzbaren Immobilien – nicht selten früheren Schlössern – Platz fanden. Selbst die Hochschulneugründungen der Nachkriegsjahre in Mainz, Saarbrücken oder Berlin hatten anfangs noch in bestehenden Gebäuden unterkommen können, die innerhalb der Städte mehr oder weniger nahe beieinander lagen. Doch Umnutzungen – insbesondere von Kasernen nach Art der Nachkriegsgründungen in Mainz und Saarbrücken – schloss man für die Neugründungen am Anfang der 1960er Jahre von Anfang an aus. Einerseits waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten zum Bau neuer großer Anlagen und Gebäude jetzt, anders als in den ersten Nachkriegsjahren, vorhanden, andererseits sollte das Neuartige in der Zeit der lebhaft diskutierten Bildungsreformen seinen Ausdruck auch in neuen Bauformen finden. Für die nun avisierten Studierendenzahlen hätte man außerdem kaum geeignete Gebäude zur Umnutzung finden können. So lautete die Heraus forderung am Anfang der 1960er Jahre, binnen kürzester Zeit Universitäten für mehrere tausend Studierende zu planen und zu bauen und dabei ihren altbekannten Funktionen, aber auch ihren jeweiligen Reformzielen einen adäquaten baulichen Ausdruck zu geben.26
25 Zum Universitätsbau im 19. Jahrhundert Nägelke, Hochschulbau im Kaiserreich. 26 Zum Universitätsbau der Nachkriegsjahre in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik vgl. Muthesius, The Postwar University.
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Erste Ansätze: Bremer Campus-Idee und Bochumer Campus-Baustelle Der erste Vorschlag für einen Universitätsneubau auf einer Campusanlage kam 1960 von Hans Werner Rothe, der keine Ausbildung zum Architekten hatte, mit seinem Gutachten für eine Bremer Universität aber der Idee der Gestaltung neuer Universitätsanlagen aus einem Guss in der Bundesrepublik zum Durchbruch verhalf. Mit der vom Schweizer Architekt und Designer Max Bill (1908–1994) entworfenen und von 1953 bis 1968 in der Tradition des Bauhauses geleiteten Hochschule für Gestaltung (hfg) in Ulm hatte es zuvor schon mindestens ein Experiment mit dem Neubau einer ganzen Campus- und College-Hochschule gegeben. In der hfg hatte Bill für Studierende, die zu modernen Gestaltern ausgebildet werden sollten, auf einem kleinen Campus Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten direkt beieinander geschaffen.27 Als Muster für die neuen Universitäten wurde die hfg aber zeitgenössisch offenbar ebenso wenig rezipiert wie die ersten Campusanlagen der Technischen Universitäten aus dem frühen 20. Jahrhundert. Inhaltlich und auch von der Größenordnung her waren sie von den Universitäten wohl zu weit entfernt. Rothe bezog sich, um den Hochschulreformdiskussionen der Nachkriegsjahre baulichen Ausdruck zu verleihen, in seinem Vorschlag einer Campus-Universität ganz auf angelsächsische Vorbilder. Die in den 1950er Jahren bereits auf dem Rückzug befindlichen Ideen einer Ergänzung der Bildung um Erziehung, im Sinne einer engeren Gemeinschaft von Studierenden, Lehrenden und Forschenden, aber auch einer erneuerten Einheit der Universität durch die Verbindung möglichst vieler Disziplinen, sollte durch Wohnmöglichkeiten auf dem Campus, eine bestimmte Anordnung der Gebäude sowie die Ergänzung von Sportstädten und gemeinschaftlich zu nutzenden musischen Einrichtungen erreicht werden. Der Flächenbedarf einer solchen, um ein Forum mit einer Bibliothek gruppierten Universitätsstadt erforderte mehr Baugrund als in den Innenstädten ohne weiteres verfügbar war. So plädierte Rothe für eine Situierung außerhalb der Stadtzentren und unterstützte damit die Tendenz zum Verlassen der Innenstädte, die zu diesem Zeitpunkt bereits einige der alten Universitäten verfolgten, die für die Expansion ihrer Einrichtungen Erweiterungsgelände in Stadtrandlage erschlossen, wie beispielsweise die Universität Heidelberg. Als in Konstanz und Bielefeld Gelände für die Neugründungen gefunden waren und es an die Entwicklung der Baukörper gehen konnte, waren seit R othes Gutachten bereits einige Jahre vergangen, ohne dass es mit der Konkretisie 27 Der hfg wurden nach längerer Auseinandersetzung zwischen Hochschule und Land die öffentlichen Zuschüsse gestrichen, woraufhin sie 1968 den Betrieb einstellen musste. Die Gebäude wurden schon Ende der 1970er Jahre unter Denkmalschutz gestellt und zeitweise von der neu gegründeten Universität Ulm genutzt. Zur Geschichte der für viele Designer offenbar legendären Hochschule gibt es umfangreiche Literatur, etwa: Spitz, Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm sowie Krampen/Hörmann, Die Hochschule für Gestaltung Ulm.
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rung und Umsetzung des Bremen-Plans vorangegangen war. Inzwischen hatte es für die Universität Bochum als erste der Neugründungen 1962 einen Architektenwettbewerb gegeben, dessen Gewinner – das Düsseldorfer Büro Hentrich, Petschnigg und Partner (HPP) – 1963 feststand. Nach kürzester Planungszeit wurde seit Anfang 1964 nach den vom Staatshochbauamt maßgeblich abgeänderten Plänen von HPP gebaut und zwei Hochhäuser bereits im Sommer 1965 eingeweiht. Die Dimensionen der Anlage waren in der Bundesrepublik ungekannt. Auf dem 540 Hektar großen Universitätsgelände wurde ein Gebäudekomplex mit einer äußeren Abmessung von etwa 1.000 mal 400 Metern geplant. Rund ein Dutzend zwölfstöckige Hochhäuser wurden entlang einer Längsachse in zwei Reihen errichtet. Unter der Oberfläche waren die Gebäude durch Parkebenen und weitere Funktionsräume miteinander verbunden, so dass es sich faktisch um ein einziges gigantisches Gebäude handelte, dessen Kosten sich am Ende auf über zweieinhalb Milliarden DM summierten.28Die von Rothe popularisierte Idee eines Campusgeländes vor der Stadt mit einem zentralen Forum wurde in Bochum durchaus in Teilen aufgenommen.29 So wurde nach Fertigstellung der meisten Hochhäuser in der Mitte der Achse ein großes Forum mit Universitätsbibliothek, Audimax und Mensa platziert. Der riesige Universitätsbau in Bochum entsprach den Vorstellungen von einer großen Entlastungsuniversität, die als reformerisches Element nicht nur breiten Zugang zur Universität ermöglichen, sondern auch möglichst viele Disziplinen einschließlich der Ingenieurwissenschaften beherbergen sollte. Die schiere Größe des Gesamtvorhabens war natürlich auch geeignet, die finanzielle Potenz des Landes Nordrhein-Westfalen und seine Bereitschaft zu Bildungsinvestitionen zu demonstrieren. Was aus Rothes Vorschlag jenseits des Forums hingegen keine Berücksichtigung fand, war eine Siedlung für Studierende und Wissenschaftler. Gebaut wurde nur die Hälfte der Rotheschen Idee, nämlich ein Campus, aber kein College. Die scharfen Proteste der Studierenden von 1962/63 auf die Kollegienhausvorschläge des Wissenschaftsrates und die Befürchtungen vor einer Kasernierung oder internatsähnlichen Überwachung kamen gerade noch rechtzeitig, um die Bochumer Planungen in ihrem Sinne nachhaltig zu beeinflussen. So wurden statt Kollegienhäusern reguläre Studentenwohnheime für einen Teil der Studierenden gebaut und auch nicht auf dem engeren Campus-Gelände, sondern in einer separaten Uni-Stadt in Nähe zum Campus. Der Bau einiger einfacher Studentenwohnheime, so konnte man argumentieren, war ja als solches bereits ein Fortschritt, denn bis in die späten 1940er Jahre hatten sich die deutschen Universitäten und die Länder als ihre Träger für die Unterbringung der Studierenden gar nicht interessiert. Für ein musisches Z entrum 28 Angaben nach Muthesius, The Postwar University, S. 224 ff. 29 Zur Rezeption der amerikanischen Campuskonzepte in der Bundesrepublik und insbesondere der Forums-Idee auch Paulus, Vorbild USA, S. 477 ff.
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nach Rothes Vorstellungen wurden in Bochum anfangs keine Mittel bereitgestellt; dieses wurde erst zum Ende der Campus-Bauarbeiten 1984 eingeweiht. Wesentliche Faktoren für ein »Leben auf dem Campus« fehlten mit dem Verzicht auf Wohnmöglichkeiten und eine eingeschränkten Berücksichtigung von Einrichtungen des sozialen Lebens also. Schon 1967, als die Planungen für die Endstufen in Konstanz aufgenommen und in Bielefeld kurz bevorstanden, geriet die Bochumer Planung erstmals in die Kritik. Bochumer Studenten beanstandeten in der Architekturzeitschrift »Bauwelt« die Gebäude der Ruhr-Universität als zu groß und zu monoton und attestierten ihnen negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden ihrer Benutzer.30 Die Redaktion der »Bauwelt« musste den Abdruck dieser Kritik an den »Universitätsbau-Monsterprojekten« gegen vielfache empörte Angriffe rechtfertigen.31 Das Bochumer Prinzip, die ganze Universität in einem verdichteten Baukörper unterzubringen, setzte sich letztlich auch in Konstanz und Bielefeld durch, allerdings in jeweils unterschiedlicher Weise.
Konstanzer Bauplanung: Kleine Stadt der Wissenschaft Um die Ideen der Wissenschaftler für die neue Universität in Konstanz kennenzulernen, stellte die staatliche Hochbauverwaltung Baden-Württembergs schon zu Beginn der Gründungsausschussarbeiten den Kontakt zum Kreis der reforminteressierten Wissenschaftler her.32 Wenzeslaus Ritter von Mann (*1925), der Leiter eines jungen Architektenteams im Konstanzer Unibauamt, nahm bereits an der konstituierenden Sitzung des Konstanzer Gründungsausschusses teil und führte die Ausschussmitglieder im August 1964 erstmals über das rund 200 Hektar große Gelände zwischen Insel Mainau und Stadt Konstanz, das Lennart Bernadotte Graf Wisborg (1909–2004), der Besitzer der Insel Mainau und Erfinder des jährlichen Nobelpreisträgertreffens in Lindau, dem Land zu verkaufen bereit war. Schon im April 1964 wurde Gerhard Hess als Vorsitzender des Gründungsausschusses in ein großes Kolloquium zum Thema Hochschulbau des Lehrstuhls für Hochschulplanung an der TH Stuttgart eingeladen, wo Architekturstudenten seit 1963 mit Planentwürfen der baden-württembergischen Universitätsneugründungen in Konstanz und Ulm, aber auch der Neugründungen in Bochum und Bremen befasst waren.33 Veranstalter die 30 Bauwelt 1967, H. 19 und 23. Dazu auch Muthesius, The Postwar University, S. 231. 31 Für die auch später häufig neggative Bewertung der Bochumer Bauten etwa: Christian Graf von Krockow, Brutstätten für Neurosen. Die Beton-Uni auf der grünen Wiese fördert Aggressivität, in: Die Zeit 3.4.1981. 32 Grundlegend zur Konstanzer Architektur und Planung Muthesius, The Postwar University, S. 234 ff. und Kieser, Stadt, Haus oder Insel. 33 Beschreibung dieser Planungen durch Peter Conradi in Heeg/Institut für Hochschulbau Stuttgart, Horst Linde, S. 67–72. Zu den Auslandsreisen die Erinnerungen Hans Werner Lieberts in Heeg/Institut für Hochschulbau Stuttgart, Horst Linde, S. 74–76. Zur Bedeutung
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ses Kolloquiums war Horst Linde (*1912). Er hatte als Leiter der staatlichen Hochbauverwaltung Baden-Württembergs im Finanzministerium – damit Vorgesetzter Ritter von Manns in Konstanz – den Stuttgarter Lehrstuhl für Städtebau 1960 zusätzlich zu seiner Aufgabe in der Bauverwaltung übernommen und in einen Lehrstuhl für Hochschulplanung umgewandelt, dem 1964 ein von der Kultusministerkonferenz gefördertes Zentralarchiv für Hochschulbau angegliedert wurde. Gekrönt wurde diese Konzentration der Hochschulbauplanung und -beforschung bei Linde, der schon für den Wiederaufbau und Ausbau der alten baden-württembergischen Universitäten in der Nachkriegszeit zuständig gewesen war, 1969 schließlich durch die Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs Hochschulbau an seinem Stuttgarter Institut.34 Die Grenzen zwischen Lindes Tätigkeiten für Hochschule und Land waren fließend. Über die Landesgrenzen hinaus knüpfte der Hochschulbau-Experte Linde vielfältige Kontakte, insbesondere ins westeuropäische Ausland.35 So reiste der künftige Konstanzer Rektor Hess mit dem angehenden Universitätskanzler Schlensag kurz nach Fertigstellung der Gründungsausschussempfehlungen nicht nur nach Bochum, um die Baustelle der Ruhr-Uni zu besichtigen, sondern auch ins holländische Nimwegen, wo die dortige katholische Universität damals einen neuen, weitläufigen und begrünten Campus erhielt.36 Im Vorjahr waren die Konstanzer Architekten bereits in Eindhoven gewesen, wo eine neue Technische Universität ein anderes Baumodell verfolgte, das äußerlich Le Corbusiers »Wohnmaschine«, der Unité d’Habitation, ähnelte.37 Das Programm an weiteren Auslandsbesuchen der Architekten und Planer war umfangreich. Besonders intensiv war offenbar der Kontakt zu den Planern und Erbauern der englischen Neugründungen, wohin im Herbst 1966 eine zweiwöchige Exkursion der Konstanzer Bauplaner unternommen wurde. Ein Mitarbeiter von Lindes Stuttgarter Institut hatte zuvor mit Mitteln der Thyssen Stiftung bereits eine umfangreiche Bestandsaufnahme der englischen Neugründungen und Planungsarbeiten zusammengestellt.38 So konnten des Kolloquiums von 1964 für den bundesdeutschen Hochschulbau vgl. Heinle/Heinle, Bauen für Lehre und Forschung, Stuttgart 2001, S. 71 und 156. Eine Bestandsaufnahme der Hochschulplanungen und insbesondere der Bauwettbewerbe für Bochum und Berlin publizierten Lindes Mitarbeiter schon im ersten Band der Konstanzer Blätter für Hochschulfragen: Conradi/Reichenecker, Gedanken zur Gesamtplanung von Hochschulen. 34 Zur Rezeption der amerikanischen Campus-Idee in Lindes Stuttgarter Institut vgl. Paulus, Vorbild USA, S. 494 ff. Zum SFB-Hochschulbau und dessen Beendigung nachsieben Jahren vgl. Heeg, Ein Sonderforschungsbereich zieht Bilanz. 35 Zur Bedeutung und zum Output von Lindes Institut nach 1964 auch Heinle/Heinle, Bauen für Lehre und Forschung, S. 71 f. 36 Protokoll der Sitzung des »engeren« Gründungsausschusses am 13.10.1965 in Stuttgart, in: UAKO Bestand 148. 37 Anlage zum Protokoll der 4. Gründungsausschusssitzung vom 5.8.1964, in: UAKO Bestand 148. 38 Jokusch, Gesamtplanung britischer Hochschulen.
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die Konstanzer Planer an den neuen Universitäten East Anglia, Essex, Kent, Lancaster, Sussex, Warwick und York ein breites Spektrum an baulichen Varianten betrachten, das von »one-building-Lösungen« bis zu lose verstreuten Einzelgebäuden in parkartigen Geländen reichte. Für die englischen Neugründungen scheinen sich die Konstanzer Bauplaner weit mehr interessiert zu haben als für die Großbaustelle im Ruhrgebiet, nicht nur wegen der geringeren Zielgröße für den Endausbau der Universität Konstanz als der in Bochum (zunächst ca. 3.000 Studierende statt 10.000 in Bochum), sondern wohl auch wegen der aufkommenden Kritik an der dortigen Monumentalität. Durch die frühe Entscheidung für die Nutzung der Studentensiedlung am Sonnenbühl als Provisorium war für die Planer am Bodensee genug Zeit für die ausführliche Rezeption ausländischer Bauten und für eine sorgfältige Planung der Endstufe vorhanden. Auf einen Architektenwettbewerb wurde, anders als bei den englischen Neugründungen und in Bochum, allerdings verzichtet. Mit Ritter von Mann und Team entwarfen Staatsdiener die neue staatliche Universität am Bodensee. Die Stuttgarter und Konstanzer Planer um Linde und Ritter von Mann hatten das Heft frühzeitig in die Hand genommen und der Gründungsausschuss konnte und wollte dieser geballten Kompetenz offenbar wenig entgegensetzen. Ab September 1965 gab es mit dem Bauplanungsausschuss zwar eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern der künftigen Universität und ihren Erbauern.39 Doch bemerkenswerterweise berichtete später kein einziger Wissenschaftler über die Diskussionen zur Umsetzung der Strukturideen in den Universitätsbau und die Entwicklung des Konzeptes, sondern ausschließlich die Architekten. Lediglich knappe drei Seiten verfasste der Althistoriker und Archäologe Franz Georg Maier, der den geschäftsführenden Vorsitz des Bauplanungsausschusses innehatte, nach Ende der Planungsarbeiten, um einen Band der »Konstanzer Blätter für Hochschulfragen« zur Baugestalt der neuen Universität einzuleiten. Offen bekannte er hier: »Es war oft erst der sanfte, aber geduldige Zwang der fragenden Architekten, der die Universität zur klareren Formulierung der eigenen Zielvorstellungen und der sich daraus ableitenden, in bauliche Erfordernisse umzusetzenden Funktionen zwang. Das galt schon für die Grundsatzentscheidung […] ob die Universität in einem ›offenen System‹ mit einer weitgestreuten pavillonartigen Verteilung der einzelnen Fachbereiche und zentralen Einrichtungen zu errichten sei oder ob ein möglichst geschlossener Baukörper mit enger räumlicher Verflechtung der einzelnen Bereiche anzustreben sei.«40 39 Einladung Gerhard Hess’ zur ersten Sitzung der Planungsgruppe für den Bau der Universität Konstanz am 9.9.1965, in: UAKO Bestand 148/26. 40 So Maier in einer kurzen Einleitung zu einem ausführlichen Bericht Ritter von Manns: Maier, Bauplanung einer neuen Universität.
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Derartige Fragen hatten sich die Wissenschaftler selbst offenbar nicht gestellt, als sie über die Materialisierung ihrer neuen Universität nachzudenken angefangen hatten. Dieses Desinteresse stand ganz in der Tradition der Hochschulreformdiskussionen der Nachkriegsjahre, in denen die bauliche Gestaltung der Hochschulen bis zu Rothes Bremer Plan keinerlei Rolle gespielt hatte. Nach etlichen Entwürfen fiel die Entscheidung in Konstanz schließlich auf einen »geschlossenen Baukörper«, der die Umsetzung weniger grundlegender Prinzipien ermöglichen würde: »eine räumliche Verflechtung mit möglichst großem Begegnungsanreiz« zur Unterstützung der gewünschten Interdisziplinarität, die enge Verbindung von Fachbereichen und zentralen Einrichtungen und eine gut zugängliche Freihandbibliothek mit studentischen Arbeitsplätzen. Die erwartete »längere ›Verweildauer‹ aller Universitätsangehörigen in der Universität selbst wie die räumliche Randlage in Beziehung zur Stadt erfordert weit mehr als üblich ein Angebot an sozialen Einrichtungen und Begegnungsräumen«, konstatierte Maier.41 Der endgültige Entwurf vom Frühjahr 1968 wurde von einer Reihe hochrangiger externer Gutachter kommentiert, wohl auch wegen des Verzichts auf einen Architektenwettbewerb, bevor er zur verbindlichen Planungsgrundlage erklärt wurde.42 Ritter von Mann hob als zentrales Merkmal der schließlich gefundenen Konstanzer Lösung die »Verflechtung der Baugruppen für die Fachbereiche sowohl miteinander als auch mit den zentralen Einrichtungen« hervor.43 Der Baukörper maß 350 mal 350 Meter und nahm weniger als ein Drittel der verfügbaren Gesamtfläche von 220 Hektar in Anspruch, so dass viel Wald und Wiesen um die Universität herum erhalten blieben. Die Pläne zeigten ein vielfach untergliedertes Gebäude, das kurze Wege zwischen allen Einrichtungen ermöglichte.44 Die Architekten verglichen die Größe und innere Anlage des Baus, in dem zunächst erst 3.000 und nach Plankorrekturen Anfang der 1970er 4.000 bis 5.000 Menschen forschen, lehren und studieren sollten, mit jener der Konstanzer Altstadt, in der sich enge und breite Wege mit Plätzen abwechselten. Der Vergleich Altstadt-Wissensstadt prägte später auch das Logo für die neue Universität, das der Mitbegründer der früheren Hochschule für Gestaltung, der Designer Otl Aicher (1922–1991), 1980 entwarf. Es zeigte Altstadt und Universität schräg übereinander jeweils im Profil. Doch der Vergleich trug nicht ganz, denn Wohnquartiere waren in dieser Neustadt der Wissenschaft ja nicht vorgesehen. Zwar wurden Unterkünfte für etwa ein Drittel der Studierenden 41 Maier, Bauplanung einer neuen Universität, S. 10 f. 42 Dazu Muthesius, The Postwar University, S. 236. Die Gutachten sind in keiner der späteren Konstanzer Publikationen veröffentlicht worden. 43 Von Mann, Planungsbericht 1970, S. 24. 44 Berichte der Architekten zum Planungsverlauf: Siehe mit zahlreichen Abbildungen und Skizzen von Mann, Planungsbericht 1970. Collageartig später von Manns Mitarbeiter von Wolff, Das unbekannte Gesamte.
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Abb. 2: Das Signet der Universität Konstanz (© Universität Konstanz)
geplant, aber – wie schon in Bochum – alle in einer Entfernung von mindestens einem Kilometer zum Universitätsgelände. Es finden sich auch keine Belege dafür, dass Mitglieder des Konstanzer Bauplanungsausschusses das Thema der Kollegienhäuser nochmals aufgebracht oder eine Wohnbebauung auf dem Campus gefordert hätten.45 Das Universitätsgebäude auf dem Gießberg, das die Hanglinie aufnahm und zum See hin immer niedriger wurde, war aufwändig konzipiert und änderte sich von Ebene zu Ebene. Die Geistes- und Sozialwissenschaften waren um eine große Freihandbibliothek über mehrere Ebenen gelagert, davon etwas abgesetzt waren die Naturwissenschaften mit ihren Laboren und einer eigenen Bibliothek. Die Räumlichkeiten in beiden Bereichen waren in zwei großen Rundläufen um mehrere Innenhöfe angelegt. Die ursprüngliche Dreigliederung in Philosophische, Sozialwissenschaftliche und Naturwissenschaftliche Fakultät fand sich im Bauplan der Endstufe allerdings nicht wieder. Aus Sicht der Architekten unterschieden sich offenbar nur die Natur- sowie Geistes- mit Sozialwissenschaften voneinander, da die einen stärker auf die Bibliothek und die anderen mehr auf Labore auszurichten waren. Das gesamte Gebäude war hochverdichtet. Die gemeinschaftlich zu nutzenden Flächen und Einrichtungen waren tendenziell weiter innen und unten im Gebäude angeordnet. An vielen Stellen waren größere und kleinere »Commoncenters« und »Rekreationsräume« eingeplant. Zwischen Natur- und Geisteswis 45 Kieser hält fest, dass die Architekten nach ihren Exkursionen nach England von der Kollegienhaus-Planung abgerückt seien, nennt dafür aber keine Belege: Kieser, Stadt, Haus oder Insel, S. 259 f.
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Abb. 3: Planskizze der Gesamtanlage der Universität Konstanz (© Universität Konstanz)
senschaften platzierte man einen Eingangsbereich mit Ladenzone, dahinter und hoch oben die Mensa mit Blick über den Bodensee. An »Einrichtungen des sozialen Lebens« wurden auch eine Studiobühne, ein »Bierkeller« und sogar eine Kegelbahn geplant und auch genehmigt. Diese Ideen übertrafen die Bielefelder Planer später nur durch ihre zwei Schwimmbäder – einem in der Universität und einem im Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Sportanlagen wurden in Konstanz erst ab Ende der 1970er Jahre gebaut, so dass es mit dem Wassersport an den Ufern des Bodensees, über den Melchers 1966 als Hauptmotiv mancher Studierender noch gelästert hatte, zunächst nicht so weit her war.
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Unterhalb der Konstanzer Mensa entstand ein Forum, das aber nichts mit dem unverwirklichten Bremer und dem tatsächlich gebauten Bochumer Forum gemein hatte, da es weder mittig in der Gesamtanlage platziert war, noch besonders groß und repräsentativ ausfiel. Es handelte sich vielmehr um einen kleinen, verspielt angelegten Platz mit Wasserläufen und Kunstobjekten.46 Auch außerhalb des Forums platzierte man großzügig »Kunst am Bau«. In einem eigens ausgelobten Wettbewerb wählte man 29 von 170 Wettbewerbsbeiträgen verschiedener Künstler aus – unter anderem von Horst Antes, Emil Cimiotti und Otto Piene – und fügte sie dem Gebäude quasi als »Sekundärarchitektur« hinzu.47 Das Konstanzer Universitätsgebäude, in dem im Vergleich mit Bochum zwar ebenfalls Raster und rechter Winkel klar den Ton angaben, strenge Symmetrien und Monumentalität aber vermieden wurden, war erweiterungsfähig angelegt und wurde in Abschnitte gegliedert, die nacheinander errichtet werden konnten. Elf Jahre nach der ersten Idee für die Universität in Konstanz und sechs Jahre nach Beginn der Bauplanungen begannen 1970 schließlich die Bauarbeiten. Eine Teileröffnung – mit Bibliothek, aber zunächst ohne Hörsäle und Mensa – konnte Ende 1972 erfolgen.48 Bis dahin hatte man in drei Jahren rund 150 Millionen DM verbaut – was nicht wesentlich über den Jahresraten der Bochumer Baustelle lag –, rund 500 Millionen sollten es bis zum Ende sein. Fast gleichzeitig mit der Teileröffnung und dem Bezug des ersten Bauabschnittes für die Geistes- und Sozialwissenschaften traten 1972 dann der Gründungsrektor und sein Stellvertreter aus Protest gegen die Hochschulpolitik des Landes zurück. Die Universität war im Augenblick der Eröffnung ihres Neubaus also führungslos und lebte in der Wahrnehmung, als Reformprojekt vom Kultusministerium gestoppt worden zu sein. Diese schwierige Situation, auf die noch zurückzukommen ist, überschattete die Einweihung des neuen Hauses und das Erreichen der Zwischenetappe auf dem Weg zur neuen Universität in Konstanz. Die überregionale Berichterstattung konzentrierte sich dann auch ganz auf die Auseinandersetzung zwischen Universität und Land, und der teilfertiggestellte Neubau, der ein klarer Gegenentwurf zum Bochumer war, geriet in den Hintergrund. Auch die Architekturkritik hat sich ihm in den Folgejahren nur sparsam gewidmet.49 Ab 1974 wurde der zweite Abschnitt mit den Naturwissenschaften gebaut, womit es – wie auch in Bochum – wesentlich langsamer voranging als zuvor. Erst rund 20 Jahre nach Erschließungsbeginn des Geländes konnten die letzten Bauarbeiten am ursprünglichen Entwurf des Architektenteams abgeschlossen werden. Die letzten Gebäude wurden fertig, als 46 Von Mann, Planungsbericht 1970, S. 59. 47 Dazu Erläuterungen des Architekten Wilhelm von Wolff und des Organisators des Kunstwettbewerbs Walter Förderer in Kunstverein Freiburg, Bau + Kunst. Später im Konstanzer Universitätsverlag auch Lüscher/Thürlemann, Die Kunst am Bau der Universität Konstanz. 48 Dazu Konstanzer Universitätszeitung und Hochschulnachrichten 48 (1972). 49 Zur Rezeption in der Architekturkritik in Kieser, Stadt, Haus oder Insel, S. 276 ff.
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die Mitglieder der ersten Professorengeneration kurz vor ihrer Emeritierung standen. Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit Kiesinger die neue Universität am Bodensee vorgeschlagen hatte. Zumindest ihre bauliche Umsetzung dauerte also eine ganze Generation.
Bielefelder Bauplanung: Die große Halle Die Bielefelder Bauplanungen liefen, anders als jene in Konstanz, den Arbeiten des Gründungsausschusses um Schelsky hinterher. Erst im Juni 1967, kurz bevor dem Land eine aktualisierte Fassung der Gründungsausschussempfehlungen überreicht wurde, setzte der Gründungsausschuss eine Baukommission ein, in der erste Vorbereitungen für den Universitätsbau diskutiert wurden. Eine so frühzeitige Beschäftigung mit dem Bau wie in Baden-Württemberg rein aus Prestigegründen schien nicht nötig, da man mit Bochum ja immerhin schon die größte aller Neugründungen am schnellsten baute; allerdings war diese auch am teuersten, so dass die dortige Kostenexplosion die Bielefelder Strukturplanungen zwischenzeitlich ins Stocken gebracht hatte, weil unklar war, ob die Landesmittel unter veränderten konjunkturellen Bedingungen für weitere Neugründungen überhaupt ausreichten. Im Herbst 1965 hatte der Wissenschaftsrat deshalb eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz Horst Lindes beauftragt, einen Kostenvergleich deutscher und ausländischer Hochschulbauten vorzunehmen, weil der Verdacht im Raume stand, dass man in der Bundesrepublik besonders kostspielig baute.50 Dieser Verdacht wurde im Vergleich mit Großbritannien, Frankreich, Holland und der Schweiz dann durchaus bestätigt, so dass die Arbeiten an einer Standardisierung des Hochschulbaus, der sogenannten Typenplanung, an Bedeutung gewannen, da man sich von ihnen eine Beschleunigung und eine Kostenersparnis erhoffte. Rationelleres Vorgehen lautete seit Bochum die Devise beim nordrhein-westfälischen Hochschulbau, die auf die Gestaltung der Bielefelder Bauten schließlich voll durchschlug. Vor diesem Hintergrund bot Konstanz, das den Bielefelder Gründungsausschussideen inhaltlich zwar viel stärker ähnelte als die Ruhr-Universität, offenbar nur eine sehr eingeschränkte Vorbildfunktion bei der Bauplanung. Wie schon in Bochum, so wurde auch in Bielefeld nicht von vornherein durch das Land geplant, sondern 1968 zunächst ein Ideen- und Bauwettbewerb ausgelobt. Der Wettbewerb startete etwa zeitgleich mit der Grundsteinlegung für das Provisorium des Aufbau- und Verfügungszentrums am 21. Juni 1968, die nicht annähernd so feierlich wie in Konstanz begangen wurde, sondern – so sehr hatte sich die Gesamtsituation innerhalb von nur 24 Monaten verändert – kurz nach den sogenannten Osterunruhen von 1968 durch größere Studentenproteste begleitet wurde. Die geladenen Gäste der Grundsteinlegung konnten 50 Wissenschaftsrat, Vergleich von Kosten deutscher und ausländischer Hochschulbauten.
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den Ort des Geschehens nicht in ihren Bussen erreichen, da die Zufahrtsstraße durch einen inzwischen kulturell etablierten Sit-In blockiert war. Die Vorbereitung des Bielefelder Bauwettbewerbs und die Abfassung entsprechender Anforderungen erforderte vom Gründungsausschuss zwischen Sommer 1967 und Frühjahr 1968 eine Präzisierung seiner Vorstellungen, insbesondere eine gewisse räumliche Vorstellung von den Bedarfen der Lehre, der Forschung und der zentralen Einrichtungen sowie der durch ein Gebäude zu ermöglichenden Fächerkooperation. Mit Hilfe des Schulbauinstituts an der TH Aachen wurde ein vorläufiges Raumprogramm entworfen und ein Schema gesucht, mit dem die Bezüge zwischen den Großinstituten der Universität dargestellt werden könnten, auf die die Wettbewerbsteilnehmer in ihren Entwürfen anschließend eingehen sollten. Das Aachener Institut entwarf dazu ein »Informagramm«, das alle elf vorgesehenen Fächer in einem Kreis anordnete, wobei die drei Fächergruppen der Rechtswissenschaftlichen, der Philosophischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät jeweils etwas voneinander abgesetzt waren. Die Beziehungen zwischen den elf Fächern wurden durch Verbindungslinien dargestellt, wobei die Soziologie Beziehungen zu allen zehn anderen Fächern, die Mathematik immerhin zu sechs, die Juristik nur noch zu drei und alle anderen Fächer jeweils nur zu zwei anderen Disziplinen besaßen – um die fächerübergreifenden Bezüge war es offenbar sehr unterschiedlich bestellt. Dieses Modell, das die Aachener Institutsmitarbeiter nach den Diskussionen in der Baukommission und den verfügbaren Dokumenten des Gründungsausschusses hergestellt hatten, war allerdings unter den Gründervätern nicht konsensfähig. Nach eingehender Diskussion beschloss die Baukommission: »Alle Striche sollen gleich stark sein.«51 Im überarbeiteten Schema, mit dem die Wettbewerbsunterlagen schließlich eröffnet wurden, machte man keinen Unterschied mehr zwischen Ausmaß und Intensität der Verbindungen der einzelnen Fächer. Alle Fächer, die jetzt Fakultäten genannt wurden, waren gleichermaßen miteinander verbunden, ohne dass noch eine Gruppierung im Sinne der früheren rechts-, sozial- und naturwissenschaftlichen Fakultäten erkennbar war. In der Mitte dieser allseitigen Kooperation lag nun das Zentrum für interdisziplinäre Forschung, wobei betont wurde, dass es den wissenschaftlichen, nicht aber den baulichen Mittelpunkt der Universität bilden werde.52 Die allseitige Fächerverbindung, die Berücksichtigung der zentralen Einrichtungen – insbesondere eine gegliederte Gesamtbibliothek – aber auch eine spätere Erweiterungsfähigkeit und kurze Wege waren als starke Vorgaben gemeint und wurden von den Wettbewerbsteilnehmern auch als solche verstanden. Der 51 Protokoll der Sitzung der Bau-Kommission am 11.12.1967 in Düsseldorf mit Raumprogramm für den städtebaulichen Wettbewerb der Universität Bielefeld vom Institut für Schulbau TH Aachen, Oktober 1967, in: UABI GA/WB, 20, Baukommission. 52 Land Nordrhein-Westfalen, Universität Bielefeld, 1968, S. 9.
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Wettbewerbstext forderte klar: »Die gemeinsamen Einrichtungen (…) sollen von allen Fakultäten aus über kurze Fußwegverbindungen erreichbar sein.«53 Als im August 1968 in Bielefeld das Wettbewerbs-Colloquium stattfand, bei dem ein Mitarbeiter aus Lindes Stuttgarter Institut eine Typologie von Universitätsbauten präsentierte und die interessierten Wettbewerbsteilnehmer anschließend Fragen zur Ausschreibung stellen konnte, wurde auch nach einer Ergänzung der Wettbewerbskriterien gefragt, da »in letzter Zeit aus Wettbewerben Arbeiten als erste Preisträger hervorgegangen sind, die unmenschlich waren. So wäre beim Wettbewerb für die Universität Bielefeld zu befürchten, dass durch die vorgegebenen kurzen Fußwegentfernungen zwischen den einzelnen Fakultätsbereichen u. U. ein unfaßbares, unmenschliches Objekt entsteht.«
Zu dieser Befürchtung vermerkte das Protokoll des Colloquiums trocken: »Der Fragesteller hat offensichtlich bestimmte Vorstellungen davon, was an Entwürfen unmenschlich oder auch menschlich sein kann. Er muss jedoch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Auffassungen in dieser Frage auseinandergehen.«54
Das 21köpfige Preisgericht tagte unter dem Vorsitz des in Sachen Hochschulbau inzwischen omnipräsenten Horst Linde im Frühjahr 1969 und am 9. Mai fiel die Entscheidung im Wettbewerb um die Architektur der Universität Bielefeld.55 Aus 90 Wettbewerbsbeiträgen, die ein breites Spektrum an Lösungen zeigten, wurden acht Arbeiten prämiert. Sie reichten von einer Anordnung der Gebäude in einer Art Spiralnebel, mehreren Entwürfen mit rasterartig um Innenhöfe angelegten Flachbauten nach Vorbild der in Berlin damals gerade im Bau befindlichen Rostund Silberlaube der Freien Universität, über Bauten an einem künstlichen See, bis hin zu linear orientierten, entlang eines Bandes aufgereihten Komplexen nach Art des Bochumer Unigeländes.56 Zu letzterem Typ zählte der extravagante Entwurf von Josef Paul Kleihues (1933–2004) auf Platz sechs, der ein Band von an Stelzen aufgehängten Hochhäusern vorsah, das sich den Hang hinab erstreckte. Ganz oben am Hang sah er ein schmales Scheibenhochhaus mit den Wohnungen des Zentrums für interdisziplinäre Forschung vor, dessen Position im Gesamtentwurf die Vorprüfer des Preisgerichtes mit jener des Herkules im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe verglichen, ganz unten die Sportanlagen. Noch im obersten Bereich, zwischen dem ZiF und dem Anfang der Hochbautenkette, positionierte 53 Ebd. 54 Protokoll über das Colloquium des Auslobers mit den Preisrichtern und den Wettbewerbsteilnehmern über die Ausschreibung des Wettbewerbs am 13.8.1968 in Bielefeld, in: UABI NL Schelsky, 19. 55 Zur Zusammensetzung des Preisgerichtes: Land Nordrhein-Westfalen, Universität Bielefeld, Bauwettbewerb, S. 33. 56 Ein Teil der Wettbewerbsbeiträge ist online archiviert unter: http://www.nrw-architektur datenbank.tu-dortmund.de/obj_detail.php?gid=1068, letzter Abruf 10.4.2016.
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Kleihues zwei Hubschrauberlandeplätze, auf denen – so steht zu vermuten – die internationalen Starprofessoren nach Ostwestfalen ein- und ausfliegen sollten. Der schließlich mit Platz eins ausgezeichnete Entwurf des Architektenteams Klaus Köpke, Peter Kulka, Katte Töpper, Wolf Siepmann und Helmut Herzog war Kleihues’ Beitrag durchaus vergleichbar, allerdings gestauchter und um 90 Grad gedreht, so dass der geschlossene Baukörper unterhalb des Teutoburger Waldes parallel zum Waldrand und entlang der Höhenlinien verlief. Es handelte sich quasi um eine komprimierte Fassung des Bochumer Baus. Zehn standardisierte Hochhäuser waren in einer Doppelreihe mit einer überdachten Halle verbunden, in der die Vorprüfer mit viel Phantasie die Halles des Kaufhauses GUM in Moskau wiedererkannten, einer Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Einkaufspassage.57 Die Charakterisierung des Kleihues-Entwurfs durch die Vorprüfer – »Der Universitätsbetrieb ist offensichtlich wie eine industrielle Fertigungs-Mechanik verstanden« – traf auch für den Siegerentwurf zu.58 Er war sogar noch kompakter, was das Preisgericht anerkennend vermerkte: »Der Entwurf zeichnet sich durch eine extreme Konzentration aus und wird durch die sehr günstige Verflechtung den Strukturempfehlungen und den Zuordnungsbedingungen hervorragend gerecht.«59
Die Idee der rund 300 Meter langen, »großen überdachten Kommunikationshalle« – bei Kleihues hieß sie »Kommunikationsachse« – begeisterte das Preisgericht, weil sie für die innere Erschließung des gesamten Gebäudes sorgte und »klimaunabhängige Verkehrs- und Begegnungsräume« ermögliche.60 Die Nachteile wie etwa die vielen Dunkelbereiche, eine kaum ausgeprägte Eingangssituation und die »blockhafte« Lage im Gelände erschienen nachrangig. Man lobte das »bauliche Kontinuum« und bilanzierte: »An keiner Stelle gerät die Arbeit in den Bereich des Monumentalen, wenngleich auch eine phantasievollere Entwicklung wünschenswert wäre, aber auch möglich ist.«61
Entscheidend war offenbar, dass die im »Informagramm« wiedergegebene Vorstellung eines gleichmäßigen Fächerkontaktes durch kurze Wege ideal umgesetzt schien. Das kompakte Gebäude schien außerdem nach allen Seiten erweiterbar und nach innen flexibel nutzbar und hielt weiter Bereiche des Geländes für später möglicherweise erforderliche Bauten frei, ersparte umgekehrt also frühe Festlegungen. 57 Bericht der Vorprüfer zum Entwurf 8659, in: UABI Bau. 58 Bericht der Vorprüfer zu den einzelnen anonymisierten Wettbewerbsbeiträgen, hier Beitrag 6541, in: UABI Bau. Der Vergleich mit dem »Spiralnebel« wurde bei Beitrag 6838 gezogen. 59 Land Nordrhein-Westfalen, Universität Bielefeld, 1969, S. 22. 60 Ebd. 61 Ebd.
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Abb. 4: Die umkämpften beiden Modelle für die Universität Bielefeld
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Mit Platz zwei wurde das Modell einer »Parkuniversität« der Architektengemeinschaft von Joachim Bender, Gerhard Bense, Bernward von Chamier, Jörg Forßmann, Klaus Röhrs und Jan Wolter ausgezeichnet. Hier waren die Baumassen ebenfalls durchgehend miteinander verbunden, aber niedriger und in einem großen Bogen über das Gelände verteilt, so dass es mehrere Eingangsbereiche und eine parkartige Anlage um die Bauten herum geben würde. Ähnlich wie in Konstanz waren die Natur- und Geisteswissenschaften in der Mitte des Bogens verbunden, hier aber nicht durch ein Foyer und das dahinter gelegene Forum wie in Konstanz, sondern durch die Bibliothek. Das Preisgericht sah in diesem Entwurf »eine Parkuniversität entwickelt mit phantasievollen Massengliederungen, die in hohem Maße den Strukturbedingungen dieser Universität, aber auch dem Ort und der Landschaft gerecht wird«.62 Wie diese Formulierung zeigte, hatte der Entwurf die Sympathien etlicher Preisgerichtsmitglieder, unter ihnen Helmut Schelsky und die Vertreter der Stadt Bielefeld.63 Die Kritiker hoben längere Wege und eine weitgehende Verbauung des Geländes hervor. Die Einigung auf den ersten Preis, der das in der Baukommission verabschiedete »Informagramm« einer allseitigen Verbindung aller Fakultäten strenger umsetzte als der zweite Entwurf, war schwer gefallen und im Nachgang entbrannte eine heftige Diskussion um die richtige Wahl, die dem »Westfalen-Blatt« und der »Neuen Westfälischen« als den beiden Lokalzeitungen den Sommer 1969 über reichlich Stoff für ihre Berichterstattung bot.64 Die Stadt und insbesondere ihr Stadtbaurat Jürgen Hotzan fürchteten durch die kompakte, nach außen geschlossene Bauweise eine Isolierung der Universität von der Stadt.65 Doch ungeachtet des Protestes und weiterer Erörterungen der Alternativmodelle blieb es beim prämierten Modell. Eine Sonderlösung wurde hingegen für das Zentrum für interdisziplinäre Forschung gewählt. Der Teil des Siegerbeitrags, der das ZiF betraf, wurde als ungeeignet verworfen und stattdessen ein Beitrag der Architekten Stephan Legge, Ursula Legge-Suwelack und Zoran Tasic angekauft, aus dem nur der Vorschlag für das ZiF herausgenommen wurde – möglicherweise eine Konzession an Schelsky, der sich mit seinem Wunschentwurf für das Universitätshauptgebäude nicht hatte durchsetzen können. Der gewählte ZiF-Entwurf sah am oberen Rand 62 Ebd., S. 32. 63 Schelsky hatte offenbar grundsätzliche Bedenken gegen ein kompaktes Gebäude für 5.000 Personen und präferierte getrennte Gebäude für jeweils 400 bis 500 Nutzer: Helmut Schelsky: Funktionale Bedenken gegenüber der bisherigen Beurteilung, undatiert, in: UABI NL Schelsky 19. 64 Auftakt mit dem Artikel: Die Universität setzt aufs Uni-Modell Nr. 2, in: Westfalen Blatt, 10.5.1969. Die Neue Westfälische stellte die prämierten Entwürfe in großen Artikeln dar, den zweiten Preis am 25.6.1969, den Kleihues-Entwurf am 2.7.1969. 65 Aufguß der Bochumer Massenuniversität droht. Preisgericht berücksichtigt die Forschung nicht, in: Neue Westfälische, 3.6.1969.
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des erworbenen Geländes und direkt unterhalb des Waldrandes eine am Hang abgestufte Gebäudegruppe aus Arbeitsräumen und Appartements vor. Im Oktober 1969 schon gab es grünes Licht für den vorgezogenen Bau und mit Harald Weinrich und Hermann Korte wurden zwei Mitglieder der Baukommission beauftragt, mit einem der Architekten zusammen in die USA zu reisen, um das Institute for Advanced Studies in Princeton (1930 gegründet), das Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences in Stanford (1954 gegründet) und das Wesleyan Center for the Humanities in Middleton (1959 gegründet) zu besichtigen, um rasch Anregungen für die konkrete Planung des Bielefelder Baus einzuholen.66 Anders als das ZiF, von dem ja Schelskys Engagement für die Bielefelder Neugründung seinen Ausgang genommen hatte, war die Unterbringung der Studenten kein Teil des Wettbewerbes. Diese Frage war auch nicht Gegenstand der Wettbewerbsvorbereitung, so dass Peter Müller, der als früherer Sekretär der studentischen Neugründungskommission und ab 1967 nun Vertreter im Biele felder Gründungsausschuss und dessen Baukommission saß, kaum an die kritischen Positionen des Verbandes Deutscher Studentenschaften von 1962 erinnern musste.67 Wie schon in Konstanz wurde auch in Bielefeld eine Campus-Universität ohne College gebaut. Was bald darauf jedoch in der Verlängerung des Universitätshauptgebäudes entstand, waren die von Hartmut von Hentig vorgeschlagenen und an die Fakultät für Erziehungswissenschaften anzubindenden Universitätsprojekte Laborschule und Oberstufenkolleg. Doch beim Oberstufenkolleg, das von 1974 an für rund drei Jahrzehnte einen neuartigen Übergang von der Schule zur Universität erprobte und damit teilweise doch ein College-Experiment war, standen Experimente mit Wohneinrichtungen nicht im Vordergrund. Nach der heftigen lokalen Auseinandersetzung um das richtige Universitätsbaumodell für Bielefeld im Sommer 1969 bemühten sich mehrere Beteiligte in der zweiten Jahreshälfte um eine Befriedung. Das Vorgehen ähnelte in gewisser Weise dem bei der Standortsuche im Sommer 1965. Damals hatte Schelsky zur Versachlichung des Standortwettstreits die Beauftragung zweier Gutachten vorgeschlagen, von denen das Gutachten seines Münsteraner Kollegen Dietrich Storbeck die Entscheidung für Bielefeld zu plausibilisieren half. Storbeck spielte auch jetzt wieder eine zentrale Rolle. Er war 1969 gerade erst nach Bielefeld berufen worden, um als einer der ersten zehn Professoren in der Soziologie den Schwerpunkt Regional- und Raumplanung abzudecken. Die Planung und der Bau der neuen Universität selbst wurden in den kommenden Jahren in dieser Hinsicht sein großes Praxisobjekt. Von Dezember 1969 bis Januar 1981 amtierte 66 Bericht von Prof. Harald Weinrich, Dipl-Ing. Stefan Legge und Dipl. Soz. Hermann Korte über die Reise vom 1.–10.12.1969, in: UABI KP #5. 67 Peter Müller, Studentische Gesichtspunkte für die Bauplanung der Universität Bielefeld, 1.11.1967, in: UABI GA/WB 20.
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Storbeck ununterbrochen als Projektor für Struktur, Planung und Bauangelegenheiten. Von ihm stammen daher auch die beiden ausführlichsten Publikationen zur Bielefelder Planungsgeschichte.68 Storbecks Wirken begann im Nachgang zum Architektenwettbewerb, indem er den Vorsitz der Baukommission übernahm und mit dieser einen umfangreichen Kriterienkatalog erarbeitete, mit dem die prämierten Universitätsbauentwürfe beurteilt und einem detaillierten Abgleich mit den Bedarfen der Neugründung unterzogen wurden. Mitte Oktober 1969 beschlossen Senat und Gründungsausschuss, nicht direkt überraschend, das nun mit einem aufwändigen Kriterienkatalog rationalisierte Modell 1, also den Siegerentwurf des Bauwettbewerbs, dem Landtag als Wunschmodell der Universität vorzuschlagen. Die räumliche Verdichtung, die zentrale Erschließung, die »funktionale Zonierung« – also die nahe Zusammenfassung gleicher Funktionen –, die durchgängige Bibliothek in den unteren Geschossen, die Variabilität der Räume, die Erweiterungsmöglichkeiten und die großen Flächenreserven waren die entscheidenden Kriterien: »Eine eingehende Prüfung der vorgelegten Entwürfe hat ergeben, dass dieser Entwurf [d. h. Platz 1] den Strukturmerkmalen der Universität Bielefeld als einziger entspricht. Alle übrigen Entwürfe weisen in dieser Hinsicht entscheidende nicht behebbare Mängel auf.«69 Damit machte sich die Universität den Plan dezidiert zu Eigen, bezeichnete ihn sogar als alternativlos. Bis zum Sommer 1970 überzeugte sie auch Landtag und Stadt Bielefeld von der favorisierten Baulösung. Schelsky allerdings hatte sich in dieser Sache nicht mehr engagiert, sondern auf die Umsetzung seines ZiF konzentriert. Die Bielefelder Planungsarbeit erforderte eine große Zahl an Kommissionsund Arbeitsgruppensitzungen und dauerte gut drei Jahre.70 Das Modell wurde konkretisiert, nicht aber in seinen grundlegenden Merkmalen verändert. Im Zentrum der 380 mal 240 Meter großen Anlage blieb die rund 300 Meter lange, von außen nicht erkennbare Halle. An ihren Kopfenden lagen Audimax mit Mensa und Schwimmbad, dazwischen Läden, Bank, Post und Cafeteria. Von dieser großen Halle aus als dem zentralen kommunikativen Ort waren alle Hörsäle erreichbar. Das Forum war in dieser Halle nochmals anders interpretiert worden als in Bochum und Konstanz, war überdacht und nahm nun die gesamte Länge des Baus ein. An den Längsseiten wurde die Halle von zwei ebenso langen Bauriegeln eingefasst, von denen aus kammartig insgesamt neun Hochbauten – »Zähne« – abzweigten. Diese kammartig angeschlossenen Hochbauten enthielten Büros und Seminarräume und Labore. Vom ersten Stock der Halle aus 68 Universität Bielefeld, Bauplanung der Universität Bielefeld, sowie Storbeck, Neue Universität. 69 Beschluss der Universität Bielefeld über die vorgelegten Bauentwürfe am 16.10.1969, in: Universität Bielefeld, Bauplanung der Universität Bielefeld, S. 90 f. 70 Weitere Dokumente zur Bauplanung sowie eine ausführliche Chronologie der Planungsabläufe ebd.
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Abb. 5: Luftbild des Bielefelder Universitätshauptgebäudes aus dem Jahr 1978 mit dem Zentrum für Interdiziplinäre Förschung im Vordergrund (© Günter Rudolf/Universität Bielefeld)
war die Bibliothek zugänglich, die sich von da in die breiteren Sockelgeschosse der Kammbauten erstreckte. Sie bildete, wie Wolfgang Braungart in einem Essay über die Bielefelder Universitätsarchitektur treffend bemerkt hat, damit den festen Sockel der Universität.71 Wie schon in Konstanz vermied die Bibliotheksarchitektur jede bildungsbürgerliche Theatralik und atmet stattdessen die Nüchternheit eines Industriebaus. Einen deutlich sichtbaren zentralen Eingang erhielt das Universitätsgebäude nicht, sondern nur eine Art »Schlupfloch«, durch das man noch eine lange Treppe erklimmen musste, bevor man in der großen Halle stand.72 Von diesem versteckten Haupteingang führte ein Weg zur Straßenbahnstation, die erst mehr als zwei Jahrzehnte nach Inbetriebnahme des Hauptgebäudes die Stadt mit der Universität verband. Die Ladenpassage, die zwischen Straßenbahnhaltestelle und Eingang geplant war, wurde bis heute nicht gebaut. Da das Land Nordrhein-Westfalen 1969 ein neues Hochschulbaugesetz erlassen hatte und eine komplizierte Struktur schuf mit einer Hochschulbau 71 Braungart, »Epochale« Architektur, S. 52. 72 So die Charakterisierung der Eingangssituation durch Weisner, Die Architektur der Universität, S. 491.
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und Finanzierungsgesellschaft (HFG), die die Planungsarbeiten an der Universität einer Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnungswesen und Agrarordnung (LEG) übertrug, die wiederum nicht direkt mit der Universität kommunizierte, sondern – laut Storbecks Berichten – nur vermittelt über HFG oder das Wissenschaftsministerium, war die Bauentwicklung für die zuständigen Universitätsmitglieder offenbar kein besonders erfreuliches Erlebnis. Der Kostenkontrolle war nun alles untergeordnet. Unter diesem Gesichtspunkt war die Modellwahl übrigens günstig, denn stellte man sich den gesamten Bau ohne die Halle in der Mitte vor, handelte es sich schlicht um im rechten Winkel miteinander verbundene Hochbauten, die sich hervorragend in typisierter serieller Bauweise herstellen ließen. Der Traum des strukturellen Numerus clausus war in Bielefeld ausgeträumt, noch bevor die Bagger anrollten. Mitten im laufenden Planungsprozess wurde das Gebäude auf eine fast dreifache Nutzerzahl vorbereitet und später sogar noch weit höher belegt. Bevor im Juli 1971 die Erschließung des Baugeländes begann, verfügte das Wissenschaftsministerium nach den neuen Berechnungsgrundlagen, auf die sich Bund und Länder im Zuge ihrer 1969 geschlossenen Vereinbarung auf die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau verständigt hatten, dass das geplante Gebäude nicht Platz für 4.000, sondern laut den neuen Flächen-Richtwerten des Wissenschaftsrates für mindestens 10.900 Studierende bot. Diese Nutzerzahl ergab sich schlicht aus der geplanten Quadratmeterzahl, die nun einfach höher belegt wurde als zuvor. Nach etwas mehr als vier Jahren Bauzeit war das Universitätsgebäude im Frühjahr 1976 fertiggestellt und damit rund zehn Jahre, bevor in Konstanz und Bochum ganz fertiggebaut war. Damit war Bielefeld, das als letzte Neugründung aus der Fünfergruppe Bochum, Bremen, Konstanz, Regensburg und Bielefeld in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gestartet war, baulich als erste Neugründung über die Ziellinie gelaufen.73 Im Rückblick auf die Planungs- und Bauphase in Bielefeld sah Storbeck fünfzehn Jahre nach der Wettbewerbsentscheidung keinen Grund, die Modellauswahl von 1969 zu bedauern. Das Hauptgebäude war nach seiner Einschätzung eben ein reiner Zweckbau, dessen Bewertung als »Betonwüste«, »Alptraum«, »Raumschiff« oder »Trutzburg« er nicht teilte. Storbeck bemühte sich, die positiven Seiten herauszustellen Kunst am Bau wie in Konstanz hatte man sich gewünscht, aber nicht finanziert bekommen, so seine Darstellung. Das war die Kehrseite der sogar unterschrittenen Kostenplanung von 420 Millionen DM. Kritik fand Storbeck vor allem an der Aufenthaltsqualität berechtigt. Durch die engen langen Flure und den Mangel an Treffpunkten, wie sie in Konstanz an vielen Stellen geschaffen worden waren, gab es in Bielefeld einzig die große 73 Zur Eröffnung erschien im März 1976 ein umfangreicher Beitrag zur Uni Bielefeld in der Zeitschrift »Bauwelt«, der unter dem Titel Universität als wissenschaftlicher Großbetrieb auch als Sonderdruck erschien.
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Halle als sozialen Raum.74 Der Mangel an solchen Pausenräumen und studentischen Arbeitsplätzen, so konzedierte er, machte die Studierenden in diesem Gebäude »weitgehend heimatlos«. Doch diese Mängel folgten für Storbeck nicht aus dem Baukonzept selbst, sondern aus dessen Realisierung: »Das Konzept hat sich für den Universitätsbetrieb als äußert tragfähig erwiesen. Nirgendwo sonst sind die Kontakte zwischen den verschiedenen Teilen der Universität enger und das universitäre Geschehen transparenter als in diesem Gebäude, das interdisziplinäre Projekte ebenso erleichtert wie die Orientierung am Gesamtinteresse der Universität. Diese unvergleichlichen Vorzüge kommen allen Beteiligten zugute, insbesondere aber Studenten und Besuchern, die alle Universitätseinrichtungen ›unter einem Dach‹ vorfinden.«75
Nicht die Idee war nach Storbeck also das Problem, sondern die Übersetzung in die Wirklichkeit. So verhielt es sich nicht nur mit dem Gebäude der Universität Bielefeld, sondern bald auch mit den gesamten Konzepten beider Neugründungen, deren Rahmenbedingungen sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nämlich dramatisch veränderten, was zunächst zu weiteren Überlegungen einiger ihrer Gründer führte.
5.2 Neue große Pläne: Vorschläge der Neugründer zum Umbau des Hochschulsystems Nachdem die Konzeptphasen für die Universitätsneugründungen in Konstanz und Bielefeld abgeschlossen und die Bau- und Aufbauplanungen an beiden Orten angelaufen waren, verfassten einige der beteiligten Wissenschaftler zusätzliche und erheblich weiter ausgreifende Konzepte. Die Zeit der HochschulreformDenkschriften, die vom Kriegsende bis in die frühen 1960er Jahre angedauert hatte, wurde nun von einer viel kürzeren, insgesamt nur wenige Jahre andauernden Phase der großen Pläne abgelöst. Ab 1965 entstand eine Reihe neuer Gremien, die sich mit Bildungs- und Wissenschaftspolitik planend beschäftigten, wie der deutsche Bildungsrat, der sich als Pendant zum Wissenschaftsrat und in Nachfolge des sogenannten Deutschen Ausschusses vor allem um die Schulentwicklung kümmern sollte, aber auch eigene landesinterne Planungs- und Beratungsgremien etwa in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. An diesem Planungsaufschwung nahmen drei der Universitätsneugründer teil, die in dieser Phase der dynamisierten Bildungspolitik über die Etablierung von Reformuniversitäten hinaus nach großen Systemlösungen suchten.
74 Zur Bewertung des Gebäudes durch die Nutzer auch: Wigger, Universität als Lernfabrik. 75 Storbeck, Neue Universität, S. 350.
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Als drei Beispiele für diese Entwicklung, die an die Neugründungsarbeit anschloss, teils über sie hinausging und sich teils von ihr ablöste, können die Pläne von Hartmut von Hentig, Ralf Dahrendorf und Helmut Schelsky aus den beiden Jahren 1966 und 1967 gelten. Als ob ihre Aktivitäten einer abgesprochenen Choreographie gefolgt wären, nahmen sie sich jeweils einer der drei Kernfunktionen der Universität an, die in den vorangegangenen Jahren neben organisatorischen Vorschlägen immer wieder Thema der Reformdiskussionen gewesen waren – der Bildung, der Ausbildung und der Forschung. Von Hentig widmete sich der Erziehungs- und Bildungsaufgabe zwischen Schule und Universität und blieb dabei der Idee einer Modellerprobung an einem Ort treu, Dahrendorf und S chelsky unternahmen jeweils den Versuch, die eigenen Ziele hinsichtlich der wissenschaftlichen Ausbildung beziehungsweise der Forschung mittels eines neuen großen Planes weiterzuverfolgen und über den einzelnen Neugründungsstandort auf die Hochschullandschaft des jeweiligen Bundeslandes auszudehnen, letztlich aber auf entsprechende Änderungen in der Bundesrepublik abzuzielen.
5.2.1 Hartmut von Hentigs Pläne zur Verbindung von Schul- und Hochschulreform Das Interesse an einer Stärkung der Bildungs- und Erziehungsfunktionen der deutschen Universitäten war mit wachsendem Abstand zum Kriegsende und der Befreiung vom Nationalsozialismus allmählich zurückgegangen und zusätzlich ab Mitte der 1950er von der Hinwendung zur Forschung an den Universitäten in den Hintergrund gedrängt worden. Die Vorschläge des Wissenschaftsrates von 1962 für Kollegienhäuser zur Kombination von Wohnformen und Einführungsveranstaltungen für die ersten Semester waren ein später Versuch, an die Nachkriegsdiskussionen nochmals anzuknüpfen. Sie waren aber zu schlecht vorbereitet, um Breitenwirksamkeit zu entfalten, und zudem vom Verband der Deutschen Studentenschaften vehement und öffentlichkeitswirksam abgelehnt worden. In der Folge war die Verbindung der Universitätsneugründungen mit Wohn- und Erziehungsexperimenten vorläufig aufgegeben worden. Doch drei Jahre später versuchte Hartmut von Hentig in Verbindung mit der Bielefelder Neugründung nochmals einen Anlauf, die Erziehungs- und auch die Ausbildungsseite der Universität auf andere Weise zu stärken. Welche Ziele verfolgte von Hentig und wie kam es zu dieser Verbindung mit Schelskys forschungszentrierten Ideen? Hentig (*1925) hatte bald nach Kriegsende ein Studium in Göttingen aufgenommen, das er 1950 in den USA fortsetzte. Obwohl es für den weitgereisten Diplomatensohn nicht die erste Begegnung mit der »neuen Welt« war, kam er 1953 doch voller neuer Eindrücke aus einem kleinen amerikanischen Liberal
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Arts College in Pennsylvania und dem anschließenden Graduate Studium an ellmut der großen University of Chicago zurück in die Bundesrepublik.76 Mit H Becker, Georg Picht und Ernst Klett verfügte er über geistesverwandte und einflussreiche Gesprächspartner, die seine pädagogischen und schulreformerischen Interessen bestärkten und deren Kontakte es – zusammen mit von Hentigs eigenen publizistischen Aktivitäten – erleichtert haben mögen, dass der junge Lehrer 1963 auch ohne Habilitation nach Göttingen berufen wurde. Walther Killy, nun von Hentigs Kollege in der Philosophischen Fakultät, stand mit Helmut Schelsky in Sachen Center for Advanced Studies seit 1963 in Kontakt, schlug 1965 aber Schelskys Angebot zur Mitarbeit in Bielefeld aus, um in Bremen einen eigenen Anlauf zur dortigen Universitätsgründung anzuleiten.77 Hentig hingegen, der Schelsky von Killy empfohlen worden sein dürfte, stieß Ende 1965 zur Auftaktsitzung des Wissenschaftlichen Beirates für die Neugründung in Ostwestfalen hinzu. »Schelsky lag – das war unschwer erkennbar – vor allem daran, mit einer universitätseigenen Schule die Berufung bedeutender Professoren zu erleichtern«, so von Hentigs spätere Erinnerung.78 Ob es tatsächlich so war, dass erst von Hentig Schelsky auf die Idee brachte, die Bielefelder Neugründung für eine Auseinandersetzung mit der pädagogischen Funktion der Universität zu nutzen, lässt sich aus Schelskys Unterlagen nicht belegen. Hält man sich Schelskys kritische Bemerkungen zu den Studium Generale- und Gemeinschaftsideen der 1950er Jahre vor Augen, ist das zwar denkbar, andererseits hatte Schelsky 1961 auch eine eigene Streitschrift verfasst, die der ausführlichen Kritik an der damaligen Schulreform gewidmet war.79 Direkt in der ersten Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates wurde von Hentig jedenfalls beauftragt, eine Stellungnahme zum Thema »Universität, höhere Schule und Universitätspädagogik« zu erarbeiten.80 Vorher schon hatte von Hentig in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift »Neue Sammlung – Göttinger Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft« sowohl seine eigenen Vorschläge zur Neugestaltung der schulischen Oberstufe als auch Vorschläge anderer zur Reform des universitären Grundstudiums veröffentlicht.81 Von Hentig selbst kam also von der Schul- zur Universitätsreform und entschloss sich dann in Bielefeld, beides zu kombinieren oder wie er selbst in seinen Erinnerungen formulierte: »Ich hatte nicht die Wahl zwischen Verbesserung der 76 Vgl. dazu die ausführliche Autobiographie von Hentig, Mein Leben. 77 Absagebrief Walther Killys an Helmut Schelsky vom 14.6.1965, in: UABI NL Schelsky 10. 78 Hentig, Mein Leben, S. 274. 79 Schelsky, Anpassung oder Widerstand. 80 Hentig, Universität und Höhere Schule. 81 Hentig, Gedanken zur Neugestaltung der Oberstufe. Mielitz, Die Situation der Studienanfänger. Mielitz war Assistent Gerd Tellenbachs in Freiburg, mit dem er auch eine gemeinsame Publikation als Kommentar zu den Studienreform-Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 veröffentlichte: Tellenbach/Mielitz, Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums.
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Schule und Verbesserung der Hochschule, ich musste versuchen, beides zu leisten – möglichst auf einmal.«82 Beflügelt von der allgemeinen Reformstimmung im Bildungsbereich, die er retrospektiv als eine »zweite Aufklärung« beschrieb, beschäftigte sich von Hentig in seinem 80 Seiten starken Gutachten sowohl mit der Lehrerbildung und dem Ort der Pädagogik an der neuen Universität als auch mit zwei neuen Institutionen, die er an die Bielefelder Neugründung angekoppelt sehen wollte: einer Laborschule und einem Oberstufen-College.83 Inspirationen für beide Institutionen hatte er aus den USA mitgebracht, wo er in Elisabethtown ein College mit einem andersartigen Übergang von der Schule zur Universität kennengelernt hatte und an der University of Chicago die von John Dewey 1896 gegründete Laboratory School, worauf er aber in seinem Gutachten bemerkenswerterweise nicht direkt Bezug nahm.84 Als Abgrenzung zur Konstanzer Universitätsgründung forderte von Hentig, das dort Versäumte nun nachzuholen: »Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Chance einer auch pädagogisch gestimmten Universität. […] Gelingen kann dies vor allem mit Hilfe einer […] l aboratory school oder Modell-Schule, zusammen mit deren konkretestem und hier einschlägigsten Vorhaben, dem Oberstufencollege.«85
Ganz zutreffend war diese Abgrenzung von der Konstanzer Neugründung nicht. Zwar waren dort keine institutionellen Experimente mit Blick auf Studium Generale und Erziehung vorgeschlagen worden, und auch die Pädagogik spielte keine besondere Rolle. Aber die Neustufung der Studienstruktur, die immerhin auch eine verändertes Grundstudium nach sich ziehen sollte, war vom Konstanzer Gründungsausschuss 1965 empfohlen worden, bevor der Wissenschaftsrat aufgrund der personellen Überschneidungen 1966 versuchte, sie auch über eine einzelne Neugründung hinaus in die Fläche zu tragen. Von Hentigs Vorschlag zielte darauf, die Grenzen zwischen Schule und Hochschule neu zu definieren. Im Zentrum stand die Idee, die Abiturprüfung bereits an das Ende des elften Schuljahr anzuschließen, die verbleibende Oberstufe dann als Collegestufe vom Gymnasium abzutrennen und um ein Jahr zu verlängern, so dass sie das erste Jahr des bisherigen Hochschulstudiums einschließen würde und mit einer neuen, noch zu entwickelnden Prüfung abgeschlossen würde – dem »Additur«, wie von Hentig es nannte. Worum es Hentig dabei vor allem ging, war ein von Studienräten und Hochschullehrern gemeinsam durchgeführtes »›Studium generale‹ im Sinne der mittelalterlichen facultas ar 82 Hentig, Mein Leben, S. 228. 83 Ebd., S. 183 ff. 84 Für die Laborschule spielte auch sein Einblick in Pichts »Odenwaldschule« eine große Rolle. 85 Hentig, Universität und Höhere Schule, S. 76.
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tium […] in ihrer propädeutischen Funktion«.86 Damit schloss er an die unmittelbaren Nachkriegsdiskussionen an, die diese Funktion allerdings noch ganz in der Universität unterbringen wollten. Als Student dürfte er die entsprechenden Versuche wie etwa die Burse als frühes Kollegienhausprojekt in Göttingen erlebt haben. Den größten Vorteil seines Vorschlags zwischen Schule und Hochschule sah Hentig in der Befreiung des Abiturs von »Zweideutigkeit« als Schulabschluss und Universitätszulassung und in einer rationelleren Selbstauslese der Schüler: »Das deutsche Bildungswesen erhielte damit die Vorstufe zu einer Einrichtung, die im Zuge der Differenzierung der Ausbildungsgänge immer notwendiger wird: eine Schleuse zwischen Schule und Universität, eine Art College, das der Schule abnimmt, Universität zu sein, und der Universität erspart, zu ›verschulen‹«.87
Worum es Hentig hingegen nicht ging – und das unterschied seinen Vorschlag grundsätzlich von dem des Wissenschaftsrates in 1962 – war das gemeinsame Wohnen der College-Studenten. Aus seinem Gutachten geht allerdings nicht klar hervor, ob er an Gemeinschaftswohnformen überhaupt kein Interesse gehabt hatte oder eventuell von Schelsky und anderen direkt ausgebremst worden war, bevor entsprechende Vorschläge verfasst wurden. Hentig schrieb nämlich etwas zweideutig: »Die ›Lebensformen‹, die an den neuen Universitäten vorherrschen, richten sich nach Vorentscheidungen der Gründer und sind nicht allgemein zu behandeln. […] Wenn gemischte Wohnformen der ›Entgötterung‹ des Professors dienen können, sollte man sie anstreben; die Kombination von Wohnen und Studieren ist dazu freilich nicht der einzige und beste Weg.«
Vielleicht hatte Killy ihm in Göttingen auch von den vorangegangenen, eher schwierigen Erfahrungen mit dem Aufbau des Studentendorfs Schlachtensee berichtet, das sich nicht in die avisierte Richtung einer Gemeinschaftslebens mit Kursprogramm hatte entwickeln lassen. Eine dem gemeinsamen Wohnen vergleichbare Wirkung erzielten laut Hentigs Gutachten aber auch universitätseigene Studienheime etwa in den Bergen, die für Blockseminare von Wochendauer geschaffen werden könnten, und Begegnungsräume in der Universität: »Eine großzügig angelegte Cafeteria ersetzt ein gutes Viertel der Universitätsreform.«88 Diese Idee, im neuen Universitätsgebäude zahlreiche Orte zur Begegnung zu schaffen, haben insbesondere die Konstanzer Architekten verfolgt. 86 Dazu der Anhang »Merkmale und Rahmen einer ›erweiterten college-artigen Oberstufe des ›Gymnasiums‹ in einer Universitätsstadt« in: Hentig, Universität und Höhere Schule, S. 81–85. 87 Ebd., S. 84 f. 88 Ebd., S. 51. Hentigs präzisiertes zweites Gutachten von 1971 enthielt dann zwar den Vorschlag eines Wohnheims, aber nur, um den räumlichen Einzugsbereich des OberstufenKollegs zu erweitern.
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Verblüffend ist, dass eine Diskussion von Hentigs Gutachten in den Protokollen der Bielefelder Gründungsgremien zunächst nicht belegbar ist. Hermann Lübbe erwähnte die Vorschläge zwar bei seinem einleitenden Vortrag auf der Klausurtagung der Gründungsgremien im März 1967 und ging auf das Hentigs zentrale Vorschläge ein. Er begrüßte die Aussicht auf ein System gestufter höherer Ausbildung, mit verschiedenen Abschlüssen, »die einerseits Qualitätsauslese erlaubt und andererseits über den, der den jeweils nächsten Schritt nicht mit geht, nicht das Schicksal verhängt, eine sozial gescheiterte Existenz zu sein.«89 Doch erst nachdem Hentig seine Vorschläge im November 1967 in der »Zeit« der Öffentlichkeit vorgestellt, dort die Bezüge zum amerikanischen und englischen College relativiert hatte, weil sein Oberstufencollege nicht die Mehrheit zum Beruf führen, sondern auf die Universität vorbereiten solle, erst danach kam es schließlich zu einer Diskussion des gesamten Textes im Wissenschaftlichen Beirat.90 Im Kreis der Bielefelder Gründer wurden Hentigs Ideen also erst zwei Jahre nach der Beauftragung des Gutachtens diskutiert. Zu diesem Zeitpunkt – Ende 1967 – lag nicht nur der Vorschlag des Wissenschaftsrates zur Neugliederung des Hochschulstudiums in Anlehnung an die angelsächsische Studienstruktur vor. Es war inzwischen auch deutlicher geworden, dass Hentig nicht als einziger an der Schulreform arbeitete und es konkurrierende Vorschläge zur Ober stufen-Reform geben würde, deren Auftakt die Kultusministerkonferenz mit dem Abschied vom früheren All-Fächer-Abitur 1960 eingeläutet hatte. Das Protokoll vermerkte daher im Wissenschaftlichen Beirat einiges an Skepsis: »Von Medem empfahl, das Projekt zurückzustellen mit Rücksicht auf die Gesamtplanung innerhalb der BRD. Schelsky fragte, ob nicht die Reform der Sekundärschule abgewartet werden sollte. Nörr wies darauf hin, dass durch ein solches Kolleg nicht eine vierjährige Oberstufe präjudiziert werden dürfe.«91
Ohne dass befürwortende Argumente aus dem Protokoll ersichtlich sind, stimmte die Mehrheit schließlich dennoch sowohl für die Laborschule als auch das Oberstufenkolleg, für das die organisatorischen und sachlichen Voraussetzungen nun geschaffen werden sollten. So machte sich Hentig daran, seine Vorschläge zu präzisieren und legte im Januar 1971 eine wesentlich umfangreichere Folgepublikation vor.92 89 Protokoll der der Klausurtagung des Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats der ostwestfälischen Universität vom 9.–16.3.1967 im »Hotel Schwaghof«, Bad Salzuflen, in: UABI: GA/WB. 90 Hartmut von Hentig, Reformen soll man nicht von oben anfangen, in: Die Zeit, 24.11.1967. 91 Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 15./16.12.1967 in Bielefeld, in: UABI: GA/WB. 92 Hentig, Das Bielefelder Oberstufen-Kolleg.
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Bemerkenswert ist, wie ausführlich Hentig in dieser zweiten Studie die Bedenken der Kritiker aufnahm und zu entkräften versuchte. Auf das Bedenken seiner Kritiker, antwortete Hentig in einem Frage-Antwort-Text. Die Reformbestrebungen von Hochschule und Schule müssten durch die Verschränkung ihrer Interessen in einer Institution koordiniert werden, so dass beide zur Kooperation gezwungen wären.93 Er warb vehement für den Versuch in einer eigenen Institution: »Das Experiment wird selbst für den Fall, dass sich die Organisationsform des Oberstufen-Kollegs nicht durchsetzt, die didaktischen Untersuchungen und Entwicklungsarbeiten hervorbringen, die jede Reform der Oberstufen und des Grundstudiums braucht. […] Das Experiment ›Oberstufen-Kolleg‹ an die anderen Experimente ›Gesamtschule‹ und ›Studienreform‹ anhängen hieße, andererseits das Ungewisse vom Ungewissen abhängig zu machen.«94
Dass also sowohl unterhalb als auch oberhalb seines Oberstufen-Kollegs Reformen anvisiert wurden, verstand er eher als Ansporn denn als Entmutigung. Die Modell-Schule war für Hentig schon dann ein Erfolg, wenn sie die Beteiligten zur kritischen Begleitung ihrer Experimente und zur Teilhabe anderer an ihren Ergebnissen bringen konnte, gewissermaßen einen Lernfortschritt erreichen würde. Eine vergleichbare argumentative Anstrengung hatte es bei den Universitätsgründern in Konstanz und Bielefeld nicht gegeben. Auch war die Art einer Verbreitung von »Lernergebnissen« aus den angestrebten Reformen dort nicht geregelt worden. Die weitere Entwicklung des Oberstufen-Kollegs, dessen Aufbau die Stiftung Volkswagenwerk unterstützte, kann hier nicht geschildert werden; seine Geschichte ist bisher nur bis in die frühen 1980er Jahre aufgearbeitet worden.95 Es liegen jedoch retrospektive Bewertungen durch Hentig selbst vor, die er zu unterschiedlichen Zeitpunkten anstellte. Kurz nach dem zehnjährigen B estehen des Oberstufen-Kollegs warb Hentig 1986 in der »Zeit« erneut für die Einführung eines Colleges in Deutschland.96 Die seit 1972 neugestaltete gymnasiale Oberstufe hatte seines Erachtens nämlich das wichtigste Probleme nicht gelöst. Der Übergang zwischen Schulen und Hochschule sei nach wie vor zu abrupt, die Studien- und Berufswahl nicht rational vorbereitet. Mit Blick auf Politik und Hochschulen konstatierte er zwanzig Jahre nach den Arbeiten am Bielefelder Gutachten 1986 resignativ: »In den entscheidenden Jahrzehnten, in denen sich viel bewegte und noch mehr hätte bewegen lassen, ging es den Kultusverwaltungen im wesentlichen um die Un-
93 Ebd., S. 67 f. 94 Ebd., S. 85. 95 Jung-Paarmann, Reformpädagogik in der Praxis. 96 Hartmut von Hentig, Brauchen wir in Deutschland ein College?, in: Die Zeit, 10.10.1986.
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terbringung der Massen und den betroffenen Institutionen um die Abwehr weiterer Belastungen. […] Der Föderalismus lässt alle möglichst lange an dem festhalten, worüber es Vereinbarungen gibt.«
Ein College hielt Hentig in der Bundesrepublik weiterhin für sinnvoll, doch es müsste nochmals erprobt werden, weil das Bielefelder Oberstufen-Kolleg sich zu einer Einrichtung für Studierende des zweiten Bildungswegs entwickelt habe. An den Grundprinzipien seiner 1967er Vorschläge hielt er bei diesem Werbeversuch im Wesentlichen fest. Weitere zwanzig Jahre später bilanzierte Hentig in seiner Autobiographie die Entwicklung des Bielefelder Oberstufen-Kollegs noch enttäuschter, aber auch selbstkritischer. Weder Schule noch Hochschule hatten sich für die neue Institution zwischen ihnen erwärmt: »Die Universität […] hat sich nie ernsthaft für diese ›Oberstufe‹ interessiert, die dann doch besser ›College‹ geheißen hätte. […] Meine Überzeugung, dass sich auch Zeit sparen lasse […] wenn man Wissenschaftspropädeutik und allgemeine Bildung systematisch verbinde und den künstlich allgemein gehaltenen Abiturienten nicht weiterhin völlig unvermittelt in das hochspezialisierte Fachstudium schicke, teilten die Herren von der Universität nicht. Andererseits glaubten die Schulleute, das Problem mit der Oberstufenreform längst angegangen zu haben.«97
Im Rückblick hätte Hentig die Prioritätensetzung der Aufbauzeit in Bielefeld gern nochmals verändert. Ende der 1960er Jahre lag sie für ihn auf der Laborschule, wie er klar zugab: »Um eines deutschen Colleges willen wäre ich nicht nach Bielefeld gegangen […] Der eigentliche Beweggrund meiner Pädagogik war die Erneuerung der öffentlichen Pflichtschule.«98 Im Nachhinein bedauerte er diese Priorisierung.99 Ob es an dem ambitionierten Versuch lag, Schul- und Hochschulreform gleichzeitig und in zwei Schulprojekten in Angriff zu nehmen? Tatsächlich existiert das Oberstufenkolleg bis heute unter dem ursprünglichen Namen, ist etwa 30 Jahre nach seiner Eröffnung aber in eine reine Schule umgewandelt worden und hat den Anspruch aufgegeben, eine neue Verbindung zwischen Schule und Hochschule zu schaffen.100 Diese Entscheidung fiel offenbar genau zu dem Zeitpunkt, als am Anfang des 21. Jahrhunderts sowohl Schulals auch Hochschulsystem in einer erneute Reformphase eintraten. Doch auch diesmal setzte man auf je eigene Reformen der Teilsysteme, die Verkürzung der Schulzeit auf der einen, die Umstellung auf gestufte Studiengänge auf der anderen Seite. Rein theoretisch hätte bei dieser Gelegenheit eine neue Institution in 97 Hentig, Mein Leben, S. 289 ff. 98 Ebd., S. 272. 99 Ebd., S. 495. 100 So die Darstellung auf den Internetseiten des Oberstufen-Kollegs: http://www.unibielefeld.de/OSK, letzter Abruf 6.3.2014.
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der Mitte zwischen Schulabschluss und spezialisiertem Fachstudium eingepasst werden können – ein College also. Doch weder griff die Politik diese Idee seinerzeit auf, noch wurde ihr dies von einem der damals vorhandenen Beratungsgremien empfohlen.
5.2.2 Dahrendorfs Gesamthochschulplan für Baden-Württemberg Von den vier Gründungsausschussmitgliedern, die in Konstanz den Ruf an die neue Universität angenommen hatten, war Dahrendorf bald schon die öffentlich bekannteste Figur. Doch das Konstanzer Projekt passte, als es von der Konzeptphase in die mühsame Aufbauphase überging, nicht mehr recht zu seiner eigenen Agenda. Als die Neugründung am Bodensee 1966 ihren provisorischen Betrieb aufnahm, brach der stellvertretende Gründungsausschussvorsitzende zu neuen Ufern auf – zuerst in die Politikberatung und schließlich in die Politik selbst. Seit Ludwig Raiser 1961 den frisch nach Tübingen berufenen Kollegen aus der gefragten Soziologie, der mit Anfang 30 schon Erfahrungen aus den Nachkriegsneugründungen Saarbrücken und Hamburg, aber auch aus England und den USA mitbrachte, in die Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates zu neuen Universitäten eingeladen hatte, hatten sich für Dahrendorf die Prioritäten verändert. So wandte sich Dahrendorf einige Monate nach Hentig ebenfalls einem Plan zu, allerdings nicht für die pädagogische Seite der Universität. Die wissenschaftsorganisatorische Dimension der Hochschulreform, die in Konstanz zunächst im Vordergrund gestanden hatte, wurde schon während der dortigen Arbeiten für ihn zunehmend von der gesellschaftspolitischen verdrängt. Statt der Forschungsfunktion der Universität rückte nun die Ausbildungsfunktion für Dahrendorf nach vorn. Bevor Dahrendorf mit seiner Beteiligung an einer Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates zu einem neuen Universitätsmodell die Ideen für die Universität Konstanz in Grundzügen mitentwickelte, hatte er im Juni 1961 an einer Konferenz der neugegründeten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im schwedischen Kungälv teilgenommen. Zentrale Themen der Konferenz, die maßgeblich vom britischen Soziologen Albert Henry Halsey organisiert worden war, den Dahrendorf aus seinem Promotionsstudium an der London School of Economics kannte, waren die Erschließung von Begabungsreserven und Chancengleichheit im Bildungswesen der damals 16 OECD-Mit ahrendorf 1962 gliedsländer.101 Inspiriert vom dortigen Austausch machte sich D an der Universität Tübingen an die empirische Untersuchung von Begabungs 101 Halsey/Ferrez, Ability and educational opportunity. Halseys Konferenzbericht erschien mit weiteren Tagungsbeiträgen erst 1967 in deutscher Übersetzung: Widmaier, Begabung und Bildungschancen.
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reserven in der Bundesrepublik. Mit Drittmitteln der neuen T hyssen Stiftung erwarb er eine Lochkartensortiermaschine und nahm mit seinen Mitarbeitern Sekundärauswertungen der Volkszählung von 1961 vor, um Zusammenhänge zwischen regionaler Herkunft, Schicht-, Religionszugehörigkeit und Geschlecht mit dem Bildungsgrad nachzugehen.102 So konnte er die geringen Bildungschancen katholischer Mädchen aus ländlichen Regionen und die starke Unterrepräsentation von Arbeiterkindern im höheren Bildungswesen der Bundesrepublik empirisch nachweisen. Diese Forschungsergebnisse machte Dahrendorf einer breiteren Öffentlichkeit in Vorträgen und Zeitungsartikeln bekannt und diese zugleich ihn. Medien und Politik nahmen – kurz nach Georg Pichts Artikelserie zur deutschen Bildungskatastrophe – Dahrendorfs verständlich formulierte Erkenntnisse begierig auf. Anfang Juni 1964 hielt er in Tübingen einen Immatrikulationsvortrag über die damals fünf Prozent »Arbeiterkinder an deutschen Universitäten«, der noch im selben Monat in der »Stuttgarter Zeitung« und in der Wochenzeitung »Die Zeit« erschien und von Kurt Georg Kiesinger in dessen Regierungserklärung aufgegriffen wurde.103 Im November 1964 wurde Dahrendorf Mitglied und stellvertretender Vorsitzender eines Beirates für Bildungsplanung, den Wilhelm Hahn neu eingerichtet und Georg Picht mit dem Vorsitz betraut hatte. Kurz nachdem der Konstanzer Gründungsausschuss im Sommer 1965 seine Arbeiten abgeschlossen hatte, erschien in der »Zeit« Dahrendorfs mehrteilige Artikelserie »Eine aktive Bildungspolitik für Deutschland«, die er ebenfalls rasch weiterverwertete und noch im gleichen Jahr in Buchform als »Bildung ist Bürgerrecht« publizierte. Damit knüpfte er an seine kurz zuvor erschienene umfangreiche Analyse »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« an, in der Dahrendorf sich der Frage gewidmet hatte, warum die liberale Demokratie in Deutschland in der Vergangenheit so wenig Anhänger gefunden hatte.104 Als pointierte Ableitung aus den dortigen Analysen forderte Dahrendorf nun den gleichberechtigten Zugang zur Bildung als Voraussetzung einer allgemein gelebten Demokratie und hob sich damit zugleich von Picht ab, der die die ökonomischen Motive der Bildungsexpansion in den Vordergrund gestellt hatte. Die Bücher Dahrendorfs aus dem Jahr 1965 wurden breit rezipiert. Dahrendorfs Bekanntheit zog mit der Schelskys als öffentlichkeitswirksamem Soziologen nun mindestens gleich. Dass sich Dahrendorf der gesellschaftspolitischen Dimension der Bildungsreform stärker zuneigte, hing aber nicht nur mit der starken Nachfrage nach seinen diesbezüglichen Erkenntnissen und abgeleiteten Forderungen zusammen, sondern wohl auch damit, dass er seine wissenschafts 102 Dazu Dahrendorfs Tübinger Habilitand und späterer Konstanzer Kollege Hansgert Peisert, Wanderungen zwischen Wissenschaft und Politik, S. 10 f. 103 Dahrendorf, Arbeiterkinder. 104 Zur Grenzgängerschaft Dahrendorfs zwischen Forschung und Politikberatung und zur Verbindung der Publikationen aus dem Jahr 1965 Meifort, Der Wunsch nach Wirkung.
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organisatorischen Ideen von der Rolle der Erfahrungswissenschaften im Konstanzer Gründungsausschuss 1964/65 gegen Ritter, Nesselhauf und Hess nicht hatte durchsetzen können. Und die Soziologie an der neuen Universität am Bodensee auf- und auszubauen, war für Dahrendorf offenbar keine ausreichende Bestimmung. So stürzte er sich förmlich in die neue politikberatende Aufgabe, die ihm Kultusminister Wilhelm Hahn im Frühjahr 1966 antrug. Dahrendorf, der schon zu Tübinger Zeiten einzelne Beratungsaufträge aus dessen Ministerium erhalten hatte, wurde von Hahn nun um die Erarbeitung eines Hochschulgesamtplans für Baden-Württemberg gebeten. Damit ging es nicht mehr »nur« um eine einzelne Reformuniversität, bei der letztlich ungeklärt war, wie ihre Reformmerkmale auf das übrige Hochschulsystem übertragen werden könnten. Nun galt es, statt der Einzellösung eine Systemlösung zu erarbeiten und einen großen und umfassenden Plan zu schmieden. Ab Juli 1966 leitete Dahrendorf den Arbeitskreis Hochschulgesamtplan beim Kultusministerium Baden-Württemberg.105 Somit konnte er, anders als im Konstanzer Gründungsausschuss und im Beirat für Bildungsplanung, als Vorsitzender jetzt selbst die Linien vorgeben und war von der Universität Konstanz ab Januar 1967 beurlaubt, um sich im Stuttgarter Kultusministerium mit einer Mitarbeitergruppe ganz der Arbeit am großen Plan zu widmen. Als dessen Ziel beschrieb der Arbeitskreis in der konstituierenden Sitzung, einen empirisch fundierten Bericht der »ein phantasievolles und zugleich realistisches Bild des Hochschulbereiches in 15 Jahren gebe«.106 Die Erwartungen an dieses Szenario waren hoch. Hildegard Hamm-Brücher hatte schon im September 1965 in der »Zeit« begeistert die neue kleine Planungsabteilung im baden-württembergischen Kultusministerium sowie deren Beirat für Bildungsplanung vorgestellt und eine große Aufbruchsstimmung seit Hahns Amtsantritt ausgemacht: »Innerhalb eines Jahres wurde der Grundstein gelegt, um aus Baden-Württemberg ein bildungspolitisches Musterländle zu machen.«107 Sogar ein halbes Jahr früher als geplant lag dann der Vorschlag des von Dahrendorf geleiteten Arbeitskreises am 31. Juli 1967 vor. Nicht zuletzt, weil Dahrendorf schon vor der Publikation des Planes auf einer Art Roadshow die Ideen in verschiedenen Foren in der Bundesrepublik vorgestellt hatte, war die Fachöffentlichkeit sorgfältig vorbereitet worden.108 105 Weitere Mitglieder waren die Professoren Hellmut Bredereck – Mitglied des Konstanzer Gründungsausschusses und des Wissenschaftsrates –, Karl Erlinghagen, Heinrich L indlar, Carl Christian von Weizsäcker sowie von der BASF Walter Ludewig und Richard Sinn. Dazu kamen sechs Forschungsassistenten. 106 Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 120. 107 Hildegard Hamm-Brücher, Baden-Württemberg, in: Die Zeit, 10.9.1965. 108 Ein Vorausexemplar des Hochschulgesamtplans nennt rund 20 entsprechende Termine zwischen Januar und Juli 1967, bei denen Ideen des Gesamthochschulplans vorgestellt und diskutiert wurden, etwa im Bildungsrat, Wissenschaftsrat, Hochschulausschuss der Kultusministerkonferenz und im Bergedorfer Gesprächskreis der Körber-Stiftung.
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Das Presseecho war enorm und fiel nicht nur im Land selbst weitestgehend positiv aus. Es reichte von »Wieder Avantgarde« (»Badische Volkszeitung«) über »Die Schrittmacher« (»Schwäbische Zeitung«), »Baden-Württembergs gutes Beispiel« (»Süddeutsche Zeitung«), »Abschied von Humboldt« (»Stuttgarter Zeitung«) bis zu »Warenhaus der Ausbildung« (»Die Zeit«) und »Ein umwälzender UniversitätsPlan – Revolution auf dem Reißbrett« (»Die Welt«).109 Es schien der große Wurf, auf den im Jahr drei nach dem Ausrufen der Bildungskatastrophe, in dem nun auch die anschwellenden Studentenproteste zunehmend Druck auf die Bildungspolitik zu entfalten begannen, viele warteten. Dahrendorf hatte aus Hahns Wunsch nach einem Hochschulgesamtplan einen Gesamthochschulplan gemacht. Anders als der Wissenschaftsrat, der in seinem ersten Plan, den Empfehlungen zum Ausbau von 1960, noch ganz pragmatisch auf Expansion unter weitgehendem Verzicht auf Reform gesetzt hatte, plädierte Dahrendorf jetzt für einen Umbau des Hochschulsystems vor seinem weiteren Ausbau. Und anders als Schelsky warb Dahrendorf auch nicht allein für eine Differenzierung der Universitäten durch Hinzufügung neuer Typen und Schwerpunktsetzungen, sondern für ein Zusammendenken aller Hochschultypen »als einen einzigen differenzierten Gesamthochschulbereich, in dem in gegliederter Weise sowohl die Forschung als auch die Ausbildung für eine Vielzahl qualifizierter Berufe ihren Ort hat«.110 Dieser umfassende Plan berücksichtigte neben Universitäten also auch Pädagogische Hochschulen, Kunsthochschulen, Ingenieurschulen und Höhere Fachschulen und gliederte den vorgeschlagenen Gesamthochschulbereich in einen wissenschaftlichen Hochschul- und einen Fachhochschulbereich. Durchlässigkeit zwischen Studiengängen und Hochschulformen war dabei das Ziel. Die Arbeitsgruppe unter Dahrendorf befürwortete eine weiterhin expansive Bildungspolitik, die erfolgreich die lediglich rhetorisch verstandene Frage zu beantworten hatte »Can we be equal and excellent too?« – in heute gängigen Begriffen also gleichzeitig Chancengleichheit und Exzellenz ermöglichen sollte.111 So trat neben den Vorschlag eines umfassend zu betrachtenden Hochschulwesens als zentrale Forderung des Plans die Neugliederung des Studiums, um allen Abiturienten auch einen Studienplatz anbieten zu können und einen Teil des stetig zunehmenden Stroms an Studierenden nach einem verkürzten Studium mit einem neuen Abschluss schneller ins Berufsleben zu entlassen. Nur der kleinere Teil der Abiturienten sollte ein wissenschaftsorientiertes Langstudium abschließen. Diese Idee des gestuften Studiums war von Raiser und anderen frühzeitig propagiert worden, auch vom Konstanzer Gründungsausschuss 1965 109 Der Buchpublikation des Planes wurden im Anhang auch gleich die zahlreichen Besprechungen in der Presse beigegeben: Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 167 ff. 110 Ebd., S. 37 ff. 111 Zitiert wurde damit der Titel eines Buchs des Präsidenten der Carnegie Foundation for the Advancement of Science: Gardener, Excellence.
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empfohlen, 1966 vom Wissenschaftsrat – erleichtert durch die personellen Überscheidungen der Gremien – teilweise aufgenommen und als Empfehlungen zur Studienreform für die Umsetzung in der Fläche gedacht worden, aber auf erbitterten Widerstand in den Universitäten gestoßen, wo Verschulung und Niveauverlust befürchtet wurden.112 Unerschütterlich wurde im » Dahrendorf-Plan« die viel kritisierte Idee aber weiterentwickelt, auf den Hochschulbereich jenseits der Universitäten ausgedehnt und im neuen Gesamthochschulbereich ein Kurzstudium bis zum Bakkalaureat und ein Langstudium zum Magister/Diplom vorgeschlagen. Auch die Idee des Konstanzer Gründungsausschusses von einem Lizentiat als zusätzlichen weiteren Abschluss vor der Promotion, die vom Wissenschaftsrat 1966 verworfen worden war, griff der Plan wieder auf. Darüber hinaus enthielt der »Dahrendorf-Plan«, wie er bald hieß, eine Fülle detaillierter Vorschläge und Berechnungen zu organisatorischen und zu bildungsökonomischen Fragen eines Gesamthochschulbereiches. Diese empirische Untermauerung der Forderungen hob sich deutlich ab vom bisher dominierenden Denkschriftcharakter der Beiträge zur Hochschulreform. Sehr deutlich wurden die Vorteile des neuen Modells mit Blick auf die Entwicklung der Studierendenzahlen nun auch in Zahlen herausgestellt. Hätte man – so das Ergebnis der präsentierten Berechnungen – einen derartigen Plan schon 1959 umgesetzt, als die Diskussion um die »Sturzflut der Studierenden« einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, wären 1966 durch die neuen Kurzstudiengänge bereits 20 Prozent weniger Studierende vorhanden, 42 Prozent kostengünstiger als an den teuren, Forschung und Lehre verbindenden Universitäten ausgebildet worden und insgesamt durch geringere Abbruchquoten mehr Hochschulabsolventen vorhanden gewesen.113 Die Planergruppe um Dahrendorf legte die Vermutung nahe, für den Hochschulbereich die Lösung schlechthin gefunden zu haben, die Hochschulbildung für alle zu einem bezahlbaren Preis bot. Dies erschien möglich, weil Dahrendorfs Arbeitskreis Vorschläge für ein innerhalb der Bundesrepublik bedingt anschlussfähiges System an Einrichtungen und Abschlüssen gemacht hatte. Im Konstanzer Gründungsausschuss hingegen hatte man kurz zuvor noch Unverträglichkeiten durch vom bestehenden Hochschulsystem abweichende Lösungen gescheut, um Studierenden und Wissenschaftlern Mobilität zu sichern. Dahrendorfs Kommentar zu seiner mit dem bestehenden Hochschulsystem der Bundesrepublik schwer vereinbaren Lösung lautete, dass das Land Baden-Württemberg dann eben Schrittmacherfunktion für den Rest der Länder ü bernehmen müsste. Auf einen weitgehenden und abweichenden Vorschlag habe der Arbeitskreis einfach nicht verzichten wollen, da – so die noch selbstbewusstere Begründung als bei Hentig, der Schul- und Hochschulreform gleichzeitig anzugehen 112 Zur Rezeption der Studienreform-Empfehlungen von 1966: Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 112 ff. 113 Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 93.
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meinen musste, – »es auf überregionaler oder Bundesebene bis heute keine Institution [gibt], die willens oder auch nur in der Lage wäre, einen entsprechenden Plan zu entwickeln«.114 War es bei der Konzeptionierung der Universität Konstanz in der ersten Hälfte der 1960er Jahre noch um das wissenschaftlich wünschbare Modell einer kleinen, auf Kooperation ausgerichteten forschungsstarken Universität gegangen, hatte Dahrendorf mit dem Gesamthochschulplan von 1966/1967 das Szenario eines gesellschaftlich wünschbaren Hochschulsystems aufgezeigt, mit einem Schwerpunkt auf der Ausbildung der Studierenden. Sein Plan einer differenzierten Gesamthochschule ging über die mit Konstanz verbundenen Ideen also weit hinaus, widersprach ihnen allerdings auch nicht direkt, da unter dem Dach des differenzierten Gesamthochschulbereichs prinzipiell unterschiedlichste Institutionen möglich schienen. Auch wenn die Frage hier nicht weiter verfolgt werden kann, wie die Idee der differenzierten Gesamthochschule im Arbeitskreis genau entstand, ist es naheliegend, dass – wie schon bei der Zweistufigkeit des Studiums, wo man sich am angelsächsischen Modell von Bachelor und Master orientierte – auch hier der Blick nach Westen ging. Dahrendorf erwähnte später lediglich die Columbia University in New York mit ihren Colleges und Schools als konkretes Modell.115 Noch ähnlicher zu Dahrendorfs Plan des differenzierten Gesamthochschulbereichs erscheint aber das ortverteilte System der University of California. In Kalifornien, wo Dahrendorf bereits 1957 ein Jahr am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Palo Alto verbracht hatte, entstand in den 1950er Jahren eine ganze Reihe neuer Hochschulen und nach Vorlage des California Masterplan of Higher Education aus dem Jahr 1960 schuf man dort in den Folgejahren ein gegliedertes System aus Universitäten, Colleges und Community Colleges. Wesentlich gestaltet wurde jener Prozess von Clark Kerr (1911–2003), der dieses University of California-System mit erdachte, aufbaute, leitete und 1963 schließlich ein auch international vielbeachtetes Buch über die modernen Anforderungen an die Universität veröffentlichte. Darin prägte er den Begriff von der »multiversity«, der auch Dahrendorf inspirierte.116 Was Kerrs Masterplan für Kalifornien von 1960 und Dahrendorfs Gesamthochschulplan für Baden-Württemberg von 1967 jedoch wesentlich voneinander unterschied, war der Grad ihrer Umsetzung. Der Plan für Kalifornien wurde Wirklichkeit, jener in Baden-Württemberg blieb in Vorstufen stecken, obwohl es erst einmal vielversprechend aussah. Hahn nahm die Ergebnisse 1967 zunächst 114 Ebd., S. 40. 115 Dahrendorf, Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans, S. 154 f. 116 Kerr, The Uses of the University. Einige Ideen des späteren Gesamthochschulplans präsentierte Dahrendorf schon 1965 in »Bildung ist Bürgerrecht«. Hier verwendete er auch bereits den Begriff »multiversity«, was als Beleg für die Rezeption der Ideen Kerrs gelten kann. Inwieweit die Diskussionen um eine Gesamtschule auch auf den Gesamthochschulplan abfärbten, wäre ebenfalls zu noch zu untersuchen.
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sehr positiv auf, wie sein Vorwort in der Veröffentlichung zeigt. Doch aus den Hochschulen kam Protest gegen die Planung und nach den besonders turbulenten hochschulpolitischen Jahren 1968/69 sah der zweite Hochschulgesamtplan von 1971 keine direkte flächendeckende Umsetzung, sondern zunächst Modellversuche vor. Erst nach dem Erproben von Kooperationen sollte eine integrierte Gesamthochschule entstehen, mit einem engeren »integrierten Kern« von Hochschulen und einem »kooperativen Ring« aus weiteren Institutionen. 1975 schließlich wendete sich das Kultusministerium von beiden Gesamthochschulplänen aus den Jahren 1969 und 1971 sowie dem Modellversuchsprogramm wieder ab.117 Dahrendorfs praktische Erklärung für das Scheitern seines Plans lag nach seiner ersten Rückschau von 1974 in der Unvereinbarkeit mit dem gleichzeitig auf den Weg gebrachten Hochschulgesetz in Baden-Württemberg, das nach neunjährigen Vorarbeiten 1967 parallel zu Dahrendorfs Plan fertiggestellt wurde – für Dahrendorf retrospektiv ein »Zusammenprall von Entwurf und Realität«: »Dass dieselben Menschen gleichzeitig und mit gleicher Kraft die Durchsetzung des Universitätsgesetzes und die Verwirklichung des Hochschulgesamtplanes verfolgen, war schwerlich denkbar. Das eine schrieb vorhandene Strukturen fest, das andere suchte diese einzubringen in neue Muster. Das eine war getragen von der Realität […] das andere […] noch unfertiger, bloß programmierter Entwurf.«118
Eine vorläufige Umsetzung in die Realität erlebten die Gesamthochschulideen aus Baden-Württemberg, die unter dem CDU-Minister Hahn entstanden waren, schließlich nur unter den sozialdemokratischen Wissenschaftsministern Johannes Rau in Nordrhein-Westfalen und Ludwig von Friedeburg in Hessen, wo 1971/72 in Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen, Wuppertal und Kassel sechs Gesamthochschulen gegründet wurden. Die Zusammenfassung des bereits bestehenden Hochschulsektors in einen Gesamthochschulbereich scheiterte aber selbst in diesen beiden Ländern, genauso wie das zentrale Element des Dahren dorf-Plans, die breite Einführung neuer Kurz- und Langstudiengänge.119 Nicht 117 Als zeitgenössische kritische Bilanz der Entwicklung: Hummel, Die ModellversuchPolitik der Hochschulgesamtplanung. Hummel bilanzierte resigniert: »Immerhin waren die Modellversuche offensichtlich geeignet, auf einer hochschulpolitischen Konzeption beruhendes Handeln vorzutäuschen und den Auftrag des Landtags formal zu erfüllen. Nicht zuletzt waren die auf Beteiligung an der Hochschulgesamtplanung drängenden Kräfte an den Hochschulen mehrere Jahre lang zufrieden gestellt, bis sie merkten, dass der Wagon, in dem sie saßen, längst vom Planungszug abgekoppelt worden war.«, ebd. S. 49. 118 Dahrendorf, Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans, S. 160 ff. Wilhelm Hahn stimmte Dahrendorfs Analyse der Spannung zwischen Hochschulgesetz und Hochschulgesamtplan in seiner Autobiographie zu, sah das Hochschulgesetz dabei aber natur gemäß positiver als Dahrendorf, vgl. Hahn, Ich stehe dazu, S. 182 ff. 119 Überblicksartig zur Gesamthochschulentwicklung: Rudloff, Ansatzpunkte und Hindernisse. Zur Auseinandersetzung um die Gesamthochschulidee im Wissenschaftsrat zwischen 1967 und 1970 Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 135 ff.
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mehr als fünf Prozent der Studierenden in der Bundesrepublik waren an Gesamthochschulen eingeschrieben, bevor das Experiment – obwohl es im Hochschulrahmengesetz des Bundes von 1976 noch fixiert worden war – rasch wieder abgebrochen wurde.120 Mit größerem zeitlichem Abstand bilanzierte Rudloff inmitten der zweiten großen Hochschulreformphase der Bundesrepublik: »Der Sprung ins Ungewisse, der sich mit dem hohen Innovationsgrad des Konzepts der Integrierten Gesamthochschule verband, war von einer Institution, die so sehr ihrer Tradition verpflichtet, auch bei kleineren Reformen oft skrupulös und infolge ihrer Entscheidungsstrukturen nur wenig beweglich war, kaum wirklich zu erwarten.«121
Tatsächlich hing das Zögern der bestehenden Universitäten aber auch mit der Uneinigkeit der Politik zusammen, die zu einer Überzeugung der Hochschulen oder der Durchsetzung der komplexen Planungsideen gegen deren Willen nicht gewillt und nicht einig genug war. Die letzten Spuren des gescheiterten Experiments, das mit Dahrendorfs Plan seinen Ausgang genommen hatte, wurden erst nach drei Jahrzehnten getilgt, als die Generation der Gesamthochschulplaner in den Ruhestand ging. Hessen und Nordrhein-Westfalen wandelten 2002 und 2003 ihre Gesamthochschulen, die teils schon seit Ende der 1970er Jahre den Doppeltitel »Universität-Gesamthochschule« trugen, endgültig in Universitäten um. Der Begriff der Gesamthochschule verschwand damit genau 35 Jahre nach seiner Einführung im Dahrendorf-Plan wieder von der Bildfläche. S chelsky, der schon mitten in der euphorischen Stimmung der Universitätsgründerzeit im Sommer 1961 deutlich seine Skepsis gegenüber der Umsetzbarkeit von »Globalreformen« geäußert hatte, behielt damit auf lange Sicht Recht. Große strukturelle Reformpläne, wie jener zur Gesamthochschule mit ihren neuen Studienabschlüssen, blieben Wunschträume. Die Interessen von Bund und Ländern waren zu vielfältig, um so einen komplexen Systemwandel organisieren zu können. Umgekehrt gab es aber auch nicht den Mut zu stark abweichenden einzelnen Länderlösungen, wie Dahrendorf es erhofft hatte, da dann die Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern behindert werden konnte, so das häufige Argument. Dahrendorf war mit seinem Plan letztlich nicht erfolgreicher als Hentig mit seinen Ideen von 1967 – die gestufte Studienstruktur mit Bachelor und Master wurde erst nach der Jahrtausendwende und dann als europäisches Projekt schließlich auch in der Bundesrepublik durchgesetzt, ohne dass aber zugleich hochschulstandort- und hochschultypen übergreifende Verbundstrukturen geschaffen wurden.
120 Eine Beschreibung und Bilanz der Gesamthochschulentwicklung in europäisch vergleichender Perspektive bei Cherych/Sabatier, Great Expectations and Mixed Performance, S. 197 ff. 121 Rudloff, Ansatzpunkte und Hindernisse, S. 85.
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5.2.3 Schelskys Forschungsplanung für Nordrhein-Westfalen Nachdem Dahrendorf Mitte 1966 mit dem Vorsitz einer Planungsgruppe in Baden-Württemberg betraut worden war, zeichnete sich am Ende desselben Jahres auch für Schelsky eine solche Aufgabe ab. Wie bei Dahrendorf folgte für Schelsky auf die Gründungsarbeit für eine einzelne Universität damit eine Phase intensiven Engagements in einem neuen Planungskörper auf Landesebene, wobei das Engagement bei Dahrendorf nur zwölf Monate dauerte, bei Schelsky knapp drei Jahre. Mikats Nachfolger im nordrhein-westfälischen Kultusministerium, Fritz Holthoff, hatte sich den Planungsbeirat des Kollegen Hahn in Stuttgart, der so viel Vorschusslorbeeren in der Presse erhalten hatte, zum Vorbild genommen und ließ direkt nach Amtsantritt die Vorbereitungen für die Gründung eines eigenen Planungsbeirates für die Entwicklung der Hochschulen in Nordrhein-Westfalen anlaufen. Kein Empfinden von parteipolitischer Lagerzugehörigkeit behinderte dieses Vorgehen damals, denn planen wollten jetzt alle. Schelsky, der dem Minister im Dezember 1966 eine Denkschrift über die Schwerpunktbildung der Forschung in Nordrhein-Westfalen zugeschickt hatte, wurde mit dem Vorsitz des neuen Gremiums betraut. Damit standen 1966/67 beiden neuen Planungsbeiräten Soziologen vor, die zunächst als Ideengeber für Hochschulgründungen in diesen Ländern gewirkt hatten, bevor sie nun die gesamten Hochschulsysteme in den Blick nehmen sollten.122 Im Rahmen der Vorbereitungen besuchte Schelsky Dahrendorf in Stuttgart, um sich von den dortigen Bemühungen seines Fachkollegen im Frühjahr 1967 selbst ein Bild zu machen.123 Ein intensiverer Austausch beider zu diesem Thema ist aber wie auch in Sachen Universitätsneugründung nicht belegt – Wettbewerb ging hier erneut vor Kooperation. Der zentrale Unterschied zwischen dem Engagement der beider Soziologen in den Hochschulplanungsbeiräten war, dass Dahrendorf sich mit seinem 1966/67 erarbeiteten Gesamthochschulplan von forschungsorganisatorischen 122 Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande. Eine Denkschrift zur Forschungs- und Hochschulpolitik von Helmut Schelsky, November 1966, in: UABI NL S chelsky 1, Dok. IXXX. Weitere Mitglieder des Planungsbeirates waren die Professoren Volker Aschoff (Nachrichtentechnik, TH Aachen), Albrecht Dihle (Klassische Philologie, Uni Köln), Franz Grosse-Brockhoff (Medizin, Uni Düsseldorf), Herbert Gülcher (Wirtschaftswissenschaften, Uni Münster), Heinz Heckhausen (Psychologie, Uni Bochum), Manfred Laubig (Politikwissenschaften, PH Münster), Wolfgang Paul (Physik, Uni Bonn) und Schelskys Vertrauter Eberhard Freiherr von Medem als Kanzler der Uni Bonn, früherer Mitarbeiter des Kultusministeriums und Mitgründer in Bielefeld. 123 So die Rekonstruktion bei Lechner, Der Planungsbeirat für die Entwicklung des Hochschulwesens. Nach Lechners Recherchen wurde Nordrhein-Westfalens Planungsbeirat von Holthoffs Ministerium mit deutlich weniger unterstützenden Ressourcen ausgestattet als sein Vorbild in Baden-Württemberg.
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Fragen ab- und aus seiner gesellschaftspolitischen Interessenlage heraus primär Ausbildungsfragen zuwandte, während Schelsky das Planungsengagement an die Ideen für die Universität Bielefeld anschloss und seinem Interessenschwerpunkt Forschungsförderung treu blieb. Diese Auseinanderentwicklung nahm Mitte 1965 ihren Ausgang. Als Dahrendorf nach Abschluss der langen Konstanzer Konzeptarbeiten über dem Text für »Bürgerrecht auf Bildung« saß, erstellte Schelsky etwa zeitgleich im August 1965 seine zweite, sehr viel detailliertere Konzeptskizze für die Neugründung in Ostwestfalen, in der er die Vorstellungen von verbesserten Forschungsbedingungen mit weiteren Ideen zusammentrug. Er schlug vor, nicht nur besonders gute Bedingungen für kooperative Forschung an diesem Ort zu schaffen, sondern auch Forschungsschwerpunkte in den Instituten und für die gesamte Universität einzurichten und diese Forschungsschwerpunkte auch zwischen den Hochschulen eines »Hochschulverbundes« abzustimmen. Die Koordination eines in seinen Aufgaben und Schwerpunkte differenzierten Hochschulsystems sollte nach seinen Vorstellungen entweder auf der Ebene Westfalens zwischen den Universitäten Münster, Bochum, Dortmund und Ostwestfalen, besser noch auf der nächsthöheren Ebene aller Landeshochschulen und idealerweise unter Berücksichtigung aller westdeutschen Hochschulen geschehen. Im Sommer 1965 konnte sich Schelsky bei seinen Überlegungen zur universitären Forschungsförderung von Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu wissenschaftlichen Einrichtungen außerhalb der Universitäten bestätigt sehen, die im April 1965 erschienen waren. Mit ihnen hatte das Planungs- und Beratungsgremium seine Empfehlungsreihe zu Bestandsaufnahme und Ausbau des Wissenschaftssystems fortgesetzt, nach den Universitäten nun auch Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten untersucht und dabei festgestellt, dass in der Bundesrepublik ein umfangreicher, öffentlich geförderter Forschungsbereich außerhalb der Universitäten entstanden war.124 Dieser Bereich, aus dem der Wissenschaftsrat mehr als 350 Einrichtungen zusammengetragen hatte – ohne die privatfinanzierte Forschung in der Wirtschaft –, war zu zwei Dritteln erst nach 1945 entstanden und zwar – wie es in den Empfehlungen tadelnd hieß – »nicht von einem Plan oder auch nur einer planvollen Koordination bestimmt«.125 Zu dieser Forschungslandschaft gehörten die Institute der Max-Planck-Gesellschaft, die neuen Großforschungseinrichtungen etwa in der Atomforschung sowie zahlreiche kleinere Staatsinstitute und Institute »an« Hochschulen. Innerhalb von etwa zwei Jahrzehnten war in der Bundesrepublik also eine umfangreiche bald 124 Im Januar 1965 war bereits der erste Bundesbericht Forschung erschienen, der erstmals Überblickwissen zu den Ausgaben für Forschung und Entwicklung und zu Forschungsförderung auch im internationalen Vergleich bot: Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Bundesbericht Forschung I. 125 Wissenschaftsrat, Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil III, S. 23.
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als außeruniversitäre bezeichnete Forschung entstanden, die aber in der Summe die frühere Vorrangstellung der Universitäten in der Forschung nun deutlich bedrohte. Der Wissenschaftsrat empfahl deshalb Bund und Ländern die Neugründung jedes weiteren öffentlichen Forschungsinstituts wenigstens fortan von einer »planvollen Überlegung« abhängig zu machen und in jedem Fall zunächst die Vorteile der Ansiedelung in einer Universität zu überprüfen. Die MaxPlanck-Gesellschaft, die in den Nachkriegsjahren bereits großes Geschick bewiesen hatte, wenn es um ihre Interessenwahrung und Unabhängigkeit ging, erhielt vom Wissenschaftsrat jedoch Bestandsschutz unter der Auflage, nur mäßig weiter zu wachsen. Von einer »stark expansiven Politik« der Gesellschaft riet der Wissenschaftsrat ab, denn »das Ergebnis wäre eine verhängnisvolle Aushöhlung des Forschungspotentials der Hochschulen und damit eine Schädigung der Lehre.«126 Eine starke Ausdehnung lag aber ohnehin nicht im Interesse der Gesellschaft, deren Exklusivität ja gerade ein Aushängeschild war. Generell wurde in Anbetracht der entstandenen Situation angeregt, dass die zahlreichen außeruniversitären Institute mit den Hochschulen enger kooperieren sollten, und als Zielperspektive ein »Verbundsystem der Forschung« skizziert, das sowohl die Forschung der Hochschulinstitute als auch die unorganisiert gewachsene außeruniversitäre Forschung umfassen und abstimmen sollte. Das Thema Schwerpunktsetzung und -abstimmung zur konzentrierteren und rationelleren Förderung der Forschung lag 1965 also in der Luft. Schelsky griff es auf und versuchte sein Konzept für eine einzelne forschungsstarke Universität um eine entsprechende Systemperspektive zu ergänzen. Parallel arbeitete auch der Wissenschaftsrat an einem eigenen Vorstoß zur Förderung der universitären Forschung, der über seine frühere Idee der intensiveren Forschungsförderung an einzelnen Universitätsneugründungen wie in Konstanz oder Bielefeld hinausgehen sollte. So wie die Empfehlungen zur Studienreform mit der Zweistufung des Studiums, die 1966 fertiggestellt wurden, waren auch die 1967 folgenden Empfehlungen zum weiteren Ausbau der Hochschulen mit dem Vorschlag von Sonderforschungsbereichen ein Versuch des Wissenschaftsrates, Lösungsvorschläge in die Fläche zu bringen und nicht mehr allein auf die Abstrahlwirkung einzelner innovativer Neugründungen zu setzen. Dafür wurden nach dem Muster der Ausbauempfehlungen von 1960 zunächst wieder alle Universitäten angeschrieben und um Benennung von Forschungsschwerpunkten gebeten, die künftig verstärkt gefördert werden sollten. Nicht weniger als 360 solcher Vorschläge erhielt der Wissenschaftsrat bis Juli 1966 – auch aus dem Bielefelder Gründungsausschuss –, als Hans Leussink als neuer Vorsitzender des Wissenschaftsrates den Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft offiziell über dieses Vorgehen und die Absichten zur Empfehlung eines neuen Förderprogramms informierte. Als Mitglied des DFG-Senats erlebte Schelsky im Juli 1966, 126 Ebd., S. 33.
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wie die Vorschläge des Wissenschaftsrates auf Skepsis in der DFG stießen.127 Die DFG sperrte sich zunächst gegen die Idee des Wissenschaftsrates – die von der Westdeutschen Rektorenkonferenz dagegen direkt befürwortet wurde –, mit einem neuen Förderformat auch Institutionen und nicht mehr nur einzelne Wissenschaftler zu fördern, obwohl es mit den überregionalen DFG-Schwerpunktprogrammen, die auf ein ähnliches Format aus der Frühzeit der DFG in den 1920er Jahren zurückgingen, bereits Ansätze für eine solche Förderung gab. Senat und Präsidium der DFG führten neben der Sorge um das bisher dominierende sogenannte Normalverfahren außerdem an, dass die starke Förderung einzelner Forschungsbereiche die postulierte Gleichheit der Universitäten durch eine neue Monopolisierung der Forschung an einzelnen Orten aufheben würde, während Leussink betonte, dass die Forschung ohne eine stärker konzentrierte Förderung aus den Universitäten weiter auswandern werde.128 Zunächst sah es nicht so aus, als ob man sich einigen würde. Wohl aus dieser Situation heraus, aber auch weil er das Vorgehen des Wissenschaftsrates, die Schwerpunkte sich eher zufällig entwickeln zu lassen, für falsch hielt, verfasste Schelsky eigene Vorschläge zur Forschungsplanung und -abstimmung auf Landesebene. Ende 1966 übermittelte er sie Mikats Nachfolger Holthoff, was offenbar zu seiner Berufung in den neu einzurichtenden Planungsbeirat führte. Im März 1967 veröffentlichte Schelsky eine gekürzte Fassung seiner Vorschläge auch in der »Deutschen Universitätszeitung«.129 Schelsky schlug vor, dass die neue Regierung in Nordrhein-Westfalen einen Vorstoß zur Schwerpunktbildung der Forschung machen sollte, um mit den Forschungskapazitäten rationeller umzugehen, sie zu konzentrieren und zugleich eine Spezialisierung der Universitäten zu ermöglichen. Direkt auf einen erfolgreichen Vorstoß auf Bundesebene zu setzen, hielt er dagegen für aussichtslos. Stattdessen solle der neue Kultusminister eine Forschungsplanungskommission einsetzen, die zunächst Grundlagen einer Forschungsplanung erarbeiten würde, bevor diese vom Minister den Selbstverwaltungsorganen der Hochschulen übermittelt werden sollten. Die Kommission sollte anschließend die erfolgten Schwerpunktmeldungen an den Wissenschaftsrat durchsehen und den Hochschulen bei ihren Entscheidungsfindungen beratend zur Seite stehen. In den Hochschulen sollte nach Schelskys Planentwurf dann von den Institu ten über die Fakultäten und Senate bis in die Landesrektorenkonferenz hinauf ein 127 Schelsky war Mitglied im Senat der DFG von 1962 bis 1968, vgl. Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 317. 128 Zur Entstehung der Sonderforschungsbereiche und der diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft Orth, Autonomie und Planung, S. 182 ff. Zeitgenössisch zur Diskussion um die Schwerpunktförderung auch Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 440 ff. In einer ersten Bilanz nach 15 Jahren auch zur Vorgeschichte: Stackmann/Streiter, Sonderforschungsbereiche. 129 Schelsky, Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande, 1967.
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komplexer Willensbildungsprozess ablaufen, um vier Arten von Schwerpunkten zu definieren – Instituts-, Fakultäts-, Universitäts- und Sonderschwerpunkte –, so wie Schelsky es für Bielefeld bereits vorgeschlagen hatte. Insbesondere die Universitätsschwerpunkte als interdisziplinäre Querschnittsfragestellungen hob Schelsky als zeitgemäße und notwendige Abkehr vom bisherigen Leitbild der möglichst alle Fächer versammelnden Volluniversität hervor. Zusätzlich zur hochschulinternen Abstimmung sollten gleiche Fachbereiche der Landesuniversitäten sich interinstitutionell austauschen. Nur wo von den Selbstverwaltungsgremien keine Einigung erreicht werden könnte, sollte das Ministerium entscheiden. Am Ende würde es einen Landesforschungsplan erlassen, an dem die Selbstverwaltungskörperschaften zuvor maßgeblich beteiligt waren und mit dem das Land im Wissenschaftsrat über eine abgestimmte Grundlage verfügen würde, auch mit den anderen Ländern und dem Bund zu verhandeln. Landesforschungssysteme galt es also später durchaus auch auf Bundesebene abzustimmen. Das ganze hochkomplexe Abstimmungsprozedere war nach Schelskys Kalkulation binnen einem bis anderthalb Jahren möglich, wovon der größte Teil natürlich auf die als konfliktreich antizipierten Diskussionen in den einzelnen Hochschulen entfiel. Auf einer solchen fundierten Grundlage könnte der Wissenschaftsrat anschließend noch eine sinnvolle nationale Abstimmung von Forschungsschwerpunkten leisten. Nach Schelskys Vorstellung sollten Hochschulverbünde die Einführung von Schwerpunkten in der Forschung und auch in der Ausbildung, was sich gegenseitig bedingte, erleichtern. Jeweils drei bis fünf benachbarte Universitäten, Technische Universitäten und weitere Fachhochschulen sollten sich zusammentun, um ihre Forschungsschwerpunkte und Spezialausbildungsgänge abzustimmen, gemeinsam Angebote der wissenschaftlichen Berufsfortbildungen anbieten zu können, aber auch kostspielige Infrastrukturen gemeinsam zu nutzen. Bevor Dahrendorf seinen Vorschlag der Gesamthochschulstruktur zur verbesserten vertikalen und horizontalen Durchlässigkeit in der Ausbildung unterbreitete, arbeitete Schelsky also an ähnlichen Verbund-Ideen zugunsten der Forschung und mit seiner Veröffentlichung in der DUZ schien er ihm auch zuvorkommen zu wollen.130 Verbünde hielt Schelsky für »das beste Mittel, den institutionellen Egoismus der Einzelhochschulen und Einzelfakultäten zugunsten einer Kooperationsform zu überwinden«.131 Wichtig war ihm schließlich, dass Schwerpunktplanung außer Ressourcenkonzentration und Spezialisierung 130 Anders als bei Dahrendorf scheint es aber international kein bestimmtes Vorbild gegeben zu haben, von dem Schelsky sich bei diesen Vorschlägen hat inspirieren lassen. Generell besaß er als DFG-Senator aber privilegierten Zugang zu entsprechenden Informationen. So wusste er auch frühzeitig, dass das DFG-Unit-Programm für interdisziplinäre Forschergruppen, das Anfang der 1960er Jahre nach angelsächsischen Vorbildern entstand, auf mangelnde Nachfrage stieß. 131 Schelsky, Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande, S. 17.
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zugleich auch Verzicht auf andere bisher gepflegte Forschungsfelder bedeuten würde und korrigierbare, aber prinzipiell langfristige Verpflichtungen bedeuten würde, etwa für die Berufungspolitik von Fakultäten. Diese konfliktreichen Nebenfolgen hatte der Wissenschaftsrat nach Schelskys Eindruck bisher unzulässigerweise ausgeblendet. Was die Durchsetzbarkeit der Schwerpunktsetzung in den alten Universitäten betraf, sah Schelsky die Naturwissenschaften und die Medizin ohnehin auf dem Weg in diese Richtung, weil die Kosten der Forschungsausstattung entsprechende Entscheidungen und Kooperationen mit finanzkräftigeren außeruniversitären Einrichtungen erzwingen würden. Schwierigkeiten erwartete er dagegen vor allem in den Geisteswissenschaften, wo die »Situation der solitären Forschung« dem Selbstverständnis vieler Hochschullehrer nach wie vor entspreche. Einen Hinweis auf erwartbare Widerstände hatten ihm nicht zuletzt die Beratungen mit den Mitgliedern der Bielefelder Gründungsgremien gegeben, die sich für Schelskys Vorschläge der Schwerpunktauswahl, Forschungsplanung und mit ihr verbundenen Berichtspflicht nicht durchweg hatten begeistern können. Zu dem Zeitpunkt, als Schelskys Vorschläge, in denen er eine überlegene Alternative zum Vorgehen des Wissenschaftsrates sah, in der »Deutschen Universitätszeitung« publiziert waren, erzielten Wissenschaftsrat und DFG – offenbar aus Sorge der DFG, ihre singuläre Position im Bereich der Forschungsförderung aufs Spiel zu setzen – doch noch eine Einigung. So empfahl der Wissenschaftsrat im Juli 1967 die Einrichtung eines neuen Förderprogramms »Sonderforschungsbereiche« und die DFG setzte die Vorschläge schrittweise um.132 Sie wählte in den nächsten Monaten etwa die Hälfte der über 360 ersten Vorschläge, die aus den Universitäten eingetroffen waren, aus, um sie einer weiteren Begutachtung in DFG und Wissenschaftsrat zu unterziehen. Im Sommer 1968 gingen 64 Anträge erfolgreich aus diesen Begutachtungen hervor und die ersten zwanzig wurden ab Ende 1968 als neue Sonderforschungsbereiche (SFB) mit zunächst offener Laufzeit durch die DFG gefördert.133 Sie trugen Kurztitel deren Spektrum von »Gesellschaftspolitik« und »Spätmittelalter und Reformation« über »Kardiologie« und »Meeresforschung« bis »Verfahrenstechnik« reichte.134 Die Fördermittel scheinen über alle Fächer und Standorte hinweg großzügig verteilt worden zu sein, ohne dass dem ein bestimmtes System der Abstimmung innerhalb oder zwischen den Universitäten zugrunde lag, wie es Schelsky befürwortet hatte. Die DFG konstatierte nach der ersten Bewilligungsrunde, »dass bisher 132 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, S. 126 ff. 133 Erst 1982 wurde eine maximale Förderungsdauer für SFBs von 15 Jahren festgelegt, um damals in Anbetracht endlicher finanzieller Ressourcen Platz für neue SFBs zu schaffen. Damit wurde das Ende für die erste Generation der SFBs aus den späten 1960er Jahren ein geläutet, dazu: Streiter, 20 Jahre Sonderforschungsbereiche, S. 6. 134 Wissenschaftsrat, Verzeichnis 1968.
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erst wenige Hochschulen die Gelegenheit genutzt haben, über die Schaffung von SFB eine Strategie ihrer eigenen Forschungsplanung zu entwickeln«.135 Während das neue Förderformat sich dessen ungeachtet schnell etablierte – nach nur fünf Jahren waren es 1973 bereits über 100 SFBs – und spezialisierte Forschung in größerem Maßstab nun nach den Wünschen der Universitäten gefördert werden konnte, kam das »Verbundsystem der Forschung«, in dem die Leistungen und Schwerpunkte von Hochschulen, Max-Planck-Gesellschaft und weiteren außeruniversitären Forschungseinrichtungen abgestimmt werden sollten, wie schon in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1965 auch in denen von 1967 über eine vage Umschreibung nicht hinaus.136 Mit der Einführung der Sonderforschungsbereiche in der Fläche hatten die Neugründungen in Konstanz und Bielefeld, die nach Vorstellung ihrer Gründer besonders günstige Bedingungen für kooperative Forschung in größeren Einheiten bieten sollten, schon in ihrer Aufbauphase ein Alleinstellungsmerkmal verloren. Besonders gute Forschungsbedingungen durch Fächer- und Mittelkonzentration und eine zeitweise Freistellung von Wissenschaftlern von der Lehre sollten nun auch an all jenen alten Universitäten möglich sein, die erfolgreich Sonderforschungsbereiche akquirieren konnten. Nicht nur mit dieser Situation musste Schelsky im Juli 1967 umgehen, als der von ihm geleitete Planungsbeirat nach eher schleppenden Vorbereitungen endlich zur konstituierenden Sitzung zusammenkam. Gut zwei Wochen nach dem Auftakt in Nordrhein-Westfalen ging außerdem Dahrendorf mit seinem Planungsteam in Baden-Württemberg schon über die Ziellinie und legte seinen Gesamthochschulplan vor, der mit dem Schwerpunkt Ausbildung die Aufmerksamkeit sowohl von Schelskys Bielefelder Neugründungsideen als auch den Vorschlägen zur Forschungsplanung schlagartig abzog. Doch nicht nur Dahrendorf hatte im Sommer 1967 die Akzente auf die Ausbildungsseite der Universität verschoben, auch der Wissenschaftsrat, der für seine Vorschläge zur Studienreform 1966 harsche Kritik geerntet hatte. Im Rückblick auf die inzwischen sieben Jahre alten ersten Empfehlungen zum Ausbau der Universitäten konstatierte der Wissenschaftsrat nun, dass das Wachstum der Studierendenzahlen und die Verlängerung der Studienzeiten deutlich unterschätzt worden waren. Nachdem die Gesamtzahl der Studierenden von 1950 bis 1960 bereits verdoppelt hatte, dauerte diese Wachstumsentwicklung entgegen der früheren Erwartungen unvermindert an. Im Wintersemester 1966/67 waren nun knapp 262.000 Studierende eingeschrieben. In allen Fächern – mit der einzigen Ausnahme des Bergbau- und Hüttenwesens – waren 135 Zitiert nach Nipperdey/Schmugge, 50 Jahre Forschungsförderung in Deutschland, S. 94. 136 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, S. 130 f.
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die Studierendenzahlen angestiegen, besonders stark in den Philosophischen Fakultäten, der Medizin, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft und der Rechtswissenschaft.137 Die durchschnittliche Studiendauer hatte seit Anfang der 1960er Jahre um zehn Prozent zugenommen, was die Universitäten zusätzlich belastete. Die neue Prognose der Abiturientenzahlen von 1967 korrigierte die letzte Prognose von 1964 um rund 30 Prozent nach oben, was drastische Folgen für die Studienanfängerzahlen erwarten ließ, weil immer mehr Schüler von der erworbenen Hochschulzugangsberechtigung tatsächlich Gebrauch machten. Deutlich zeichnete sich ab, dass es sich beim starken Wachstum der Studierendenzahlen um eine kontinuierlich fortschreitende Entwicklung handelte. Der Wissenschaftsrat konnte in seiner Bestandsaufnahme von 1967 aber auch auf große Erfolge der vergangenen Jahre hinweisen. So waren in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in Hochschulbaumaßnahmen hohe Summen investiert und das Personal stark ausgebaut worden – Zunahme der Lehrstühle um 54 Prozent. Fast ein Fünftel aller Studierenden erhielt Unterstützung aus dem Ende der 1950er Jahre eingeführten Honnefer Modell – dem späteren BaFöG – und 40.000 Wohnheimplätze waren geschaffen worden.138 Doch in allen Bereichen musste man feststellen, dass die Bemühungen die Nachfrage nicht decken konnten. Dazu kam die schleppende Entwicklung der Neugründungen, wie etwa in Konstanz, wo viele Jahre zwischen Idee und Planungsbeginn ver strichen waren. So bilanzierte der Wissenschaftsrat im Frühsommer 1967: »Die Möglichkeiten, neue wissenschaftliche Hochschulen zu errichten, sind 1960 zweifellos zu optimistisch beurteilt worden. Dass diese in so wesentlich geringerem Tempo aufgebaut wurden, als man erwartet hatte, hat dazu geführt, dass von einer Entlastung durch neue Hochschulen bis vor kurzem keine Rede sein konnte.«139
Zum Stichpunkt seiner Erhebung boten die Neugründungen in Bielefeld, Bremen, Dortmund und Regensburg 1967 noch keinen einzigen Studienplatz und die Universität Konstanz gerade einmal 53. Lediglich die Universitätsneugründung in Bochum konnte nach zwei Jahren Betrieb bereits 4.055 Studierende aufnehmen und damit in der Summe betrachtet etwa sieben Prozent des gesamten Wachstums seit Anfang der 1960er Jahre absorbieren. Trotz der langsamen Entwicklung befürwortete der Wissenschaftsrat aber die Verbindung von Expansion und Reform an den Neugründungen erneut: 137 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, S. 14 ff. 138 Der Wissenschaftsrat bezeichnete den Bau weiterer Studentenwohnheime als dringlich und wies darauf hin, dass diese auch Räume für politische, kulturelle und gesellige Veranstaltungen bereithalten sollten. Mit keinem Wort wurde hingegen auf die gescheiterten Kollegienhauspläne Bezug genommen: Wissenschaftsrat, Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, S. 32 f. 139 Ebd., S. 160.
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»Die Konzipierung und die nun beginnende Erprobung von Reformen an den neuen Hochschulen ist für die Hochschulen in ihrer Gesamtheit von großer Bedeutung. […] An ihnen besteht die Möglichkeit, exemplarisch die Probleme zu lösen, die die alten Universitäten bedrängen. Bewähren sich solche Lösungen, so werden sie auch auf die bestehenden Hochschulen ausstrahlen und von diesen in geeigneter Weise übernommen werden können.«140
Wie 1962 in den »Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen« wurden wiederum Beispiele für notwendige Reformen zwar genannt, aber erneut kein konkretes Verfahren aufgezeigt, wie positive und negative Lerneffekte tatsächlich zum Gewinn des Gesamtsystems ermittelt und weitergegeben werden könnten. Vielmehr wurden die beiden Neugründungen in Konstanz und Bielefeld nun explizit als Hochschultypen bezeichnet, bei denen »die hier versuchten Neugestaltungen von den bestehenden Universitäten wegen der ganz anders gearteten Bedingungen allerdings im wesentlichen nicht übernommen werden [können].«141 Wie schon 1962 schwankte man also weiter unentschieden zwischen den Alternativen übertragbares Modell versus untypischer Sonderfall. In Anbetracht der angespannten Ressourcensituation – finanziell wie personell – riet der Wissenschaftsrat von weiteren Neugründungen einstweilen ab. Schelsky war sowohl mit Dahrendorfs Plan als auch den neuen Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Hochschulentwicklung bis 1970 – beide im Juli 1967 bekanntgegeben – unzufrieden und versuchte nochmals für eine Richtungskorrektur zu werben. Vor der sogenannten Arbeitsgemeinschaft für Forschung – der späteren Akademie der Wissenschaften des Landes Nordrhein-Westfalen – kritisierte Schelsky, dass der Dahrendorf-Plan die Forschungsfragen gegenüber den Ausbildungsfragen vernachlässigt habe und dass in Baden-Württemberg außerdem über die Fakultäten und Hochschulen hinweg geplant worden sei, anders als in seinem Vorschlag, der die intensive Einbeziehung der Selbstverwaltungsgremien gefordert hatte. Auch den Wissenschaftsrat kritisierte Schelsky.142 Anstatt mit einem Programm mehr oder minder zufällig eingereichte Sonderforschungsbereiche zu fördern, die keine abgestimmten Hochschulprofile zur Grundlage hätten, müssten Forschungsschwerpunkte innerhalb und zwischen den Universitäten koordiniert werden. Den Terminus »Sonderforschungsbereiche« bezeichnete Schelsky sogar als »strukturell verharmlosenden Begriff«, weil die neuen Schwerpunkte damit zu »Sondersituationen« erklärt würden und ihr Einfluss auf die Gliederung und Verfassung des Hochschulsystems heruntergespielt würde.143 Was nach Schelsky nottat, war eine Stärkung der Planungs 140 Ebd. 141 Ebd., S. 161. 142 Schelskys Vortrag vom 18.10.1967 mit anschließender Diskussion in: Schelsky, Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande. Zur Kritik am Dahrendorf-Plan dort S. 19 f. 143 Ebd., S. 9. Tatsächlich blieb der Wissenschaftsrat über viele Jahre in die Genehmigung der SFSs involviert, wohl weil ihrer Bewilligung strukturbildende Wirkung zugeschrieben wurde.
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und Entscheidungsfähigkeit sowohl der Universitäten als auch der Kultusministerien. Auf Landesebene sah er die finanziellen Schwierigkeiten, den Ausbau der Hochschulkapazitäten im inzwischen erforderlichen Maß zu gewährleisten, als hilfreiches Druckmittel, um zu Schwerpunktplanungen in »regionalen Hochschulverbünden« zu kommen. Schelsky war also der Meinung, den besseren Plan in der Tasche zu haben und hoffte auf dessen Umsetzung durch den von ihm geleiteten Hochschulplanungsbeirat. Doch die Hinwendung zu den quantitativen Aspekten und zur Ausbildungsseite der Hochschulen vermochte er nicht zu stoppen. Die Studentenproteste, die sich seit 1967 wesentlich verstärkten, taten ihr übriges, die Aufmerksamkeit der Politik auf die Ausbildungsseite und – via Hochschulgesetzen – den rechtlichen Ordnungsrahmen der Hochschulen zu richten und die Forschungsfunktion der Universitäten hintenan zu stellen. Zwar gehörte Schwerpunktbildung in der Forschung neben Ausbildungsplanung und Finanzund Bauplanung zunächst zu den drei im Herbst 1967 vereinbarten Aufgabenfeldern des Beirates. Auch war die Reihenfolge ihrer Bearbeitung anfangs offen. Doch als es nach den ersten Recherchen des Beirates an die Priorisierung ging, setzte sich das Kultusministerium mit seiner neuen Planungs- und der alten Hochschulabteilung um die Jahreswende 1967/68 gegen Schelsky durch und bestand darauf, dass das Thema Ausbildungsplanung der Forschungsplanung vorgezogen wurde.144 Für die Politikberatung eines Professorengremiums wie Schelskys Beirat wurden damit Leitplanken eingezogen, die den Empfehlungsspielraum auf neue Weise einengten. Schelsky gab nach und so erarbeitete der Planungsbeirat bis zum Oktober 1968 seine ersten Empfehlungen, die auftragsgemäß die zu erwartende Nachfrage nach Studienplätzen und den voraussichtlichen Bedarf an Absolventen in ein Verhältnis zur im Land vorhandenen und zukünftigen Ausbildungskapazität der Hochschulen bis Mitte der 1970er Jahre setzten.145 Zu den zahlreichen Erkenntnissen, die diese Arbeiten zutage förderten, gehörte die Prognose, dass die Studierendenzahlen in Nordrhein-Westfalen sich in den 15 Jahren bis ins Jahr 1982 auf 168.000 steigern würden. Der Zuwachs wurde auf nicht weniger als 4.000 bis 6.000 Studierende geschätzt, was damals der Größe einer mittelgroßen Universität entsprach – pro Jahr.146 Der von Schelsky geleitete Beirat bilanzierte 144 So die Rekonstruktion bei Lechner, Der Planungsbeirat für die Entwicklung des Hochschulwesens, S. 126 f. 145 Planungsbeirat des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen, Empfehlungen I. Wie bei Dahrendorfs Plan erschien auch hierzu im Nachgang ein umfangreicher Materialband. Eine ausführliche Darstellung der Arbeiten bei Lechner, Der Planungsbeirat für die Entwicklung des Hochschulwesens. 146 Umfangreichere und bis ins Jahr 2000 reichende Berechnungen bezogen auf einzelne Studienorte und -fächer bot der gesonderte Band: Hitpass/Mock, Die Entwicklung der Universitäten bis zum Jahr 2000.
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nüchtern, dass das Hochschulsystem des Landes den Anforderungen in seiner gegenwärtigen Struktur langfristig nicht gewachsen sei.147 Verschiedene Vorschläge zur rationelleren Nutzung der Ressourcen und verbesserten Passung von Nachfrage und Bedarf etwa durch verstärkte Studienberatungen wurden entwickelt. Auf umfangreiche Zugangsbeschränkungen sollte aber verzichtet werden. Von einer Neugliederung des Hochschulbereichs wie im Dahrendorf-Plan sah man ab und versuchte Verbesserungen im bestehenden System zu erreichen. Als im Herbst 1968 die ersten Empfehlungen des Beratungsgremiums der Landeshochschulpolitik fertiggestellt waren, blieb Schelsky in seinem Vorwort nur eine bedauernde Randbemerkung zur Priorisierung der Planungsaufgaben des Beirates. Dass jeder Hinweis auf die Forschungskapazität der Hochschulen in diesem Plan fehle, bedeute keinesfalls, dass die Entwicklung der Forschung an den Hochschulen über dem Ausbau ihrer Ausbildungsmöglichkeiten vernachlässigt werden dürfe. Wegen der Beschränkung auf die Ausbildungskapazitäten stelle diese erste Empfehlung des Planungsbeirates eben »nur ein Stück einer Hochschulplanung für das Land dar und ist sicherlich kein Hochschulgesamtplan«.148 Ein zweiter Empfehlungsband folgte im November 1970, doch Schelskys Elan war dahin und offenbar war er nur sehr widerwillig bereit gewesen, den Vorsitz des Planungsbeirates überhaupt noch bis zur Verabschiedung der zweiten und letzten Empfehlungen auszuüben.149 Ein Teil dieser zweiten Empfehlungen, für den allerdings nicht mehr Schelsky selbst verantwortlich zeichnete, war tatsächlich der Forschungsplanung gewidmet und entsprach keineswegs dem, was Schelsky an Koordination im Idealfall vorgeschwebt hatte. Ohnehin waren die zweiten Empfehlungen im Moment ihres Erscheinens bereits überholt, da wenige Wochen vorher weitere Empfehlungen des Wissenschaftsrates erschienen waren, die den inzwischen drei Jahre alten Dahrendorf- Plan aufgegriffen und für die Einführung der »inhaltlich differenzierten, aber organisatorisch integrierten Gesamthochschule« und die Errichtung von nicht weniger als 30 neuen Gesamthochschulen in der Bundesrepublik geworben hatten.150 Schelskys Planungsbeirat war in einer außerordentlich dynamischen Übergangssituation tätig gewesen. Die Universitätsneugründungen des Landes in den 1960er Jahren waren bereits abgeschlossen, als er seine Arbeit aufnahm, und die zweiten Empfehlungen erschienen, als sich die gesamt- wie hochschulpolitische Lage dramatisch verändert hatte:151 Eine Grundgesetzänderung setzte im 147 Planungsbeirat des Kultusministers des Landes NRW, Empfehlungen I, S. 30. 148 Ebd., S. 10. 149 Ders.: Empfehlungen II, Düsseldorf, November 1970. Laut Lechner hatte Schelsky schon im Februar 1969 dem Minister seinen Rücktritt vom Vorsitz des Planungsbeirates angeboten. 150 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970. 151 Lechner, Der Planungsbeirat für die Entwicklung des Hochschulwesens.
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Mai 1969 eine Neuordnung des Bund-Länder-Verhältnisses in der Hochschulpolitik in Gang. Und der Minister, der den nordrhein-westfälischen Planungsbeirat 1966/67 eingesetzt hatte, hatte 1969 zwar noch die Fachhochschulen als neue Hochschultypen ins Leben gerufen, war im Juli 1969 in Folge der gegen ihn gerichteten Studentenproteste aber entnervt vom Geschäftsbereich Hochschulwesen zurückgetreten. Der Aufgabenbereich wurde vorübergehend unmittelbar beim Ministerpräsidenten angesiedelt, bis in der nächsten Legislaturperiode Johannes Rau das Ministeramt übernahm und eine eigene Agenda in Richtung Gesamthochschulen verfolgte. Die Arbeiten des von Schelsky geleiteten Planungsbeirates waren dafür kaum verwendbar und Schelsky stand für weitere Beratungen nicht mehr zur Verfügung. Wie Dahrendorf stieg er aus der Hochschulreform aus, bevor die Planungszeiten auf ihren endgültigen Höhepunkt zusteuerten.
5.3 Von großen Plänen zu großer Ernüchterung: Abschiede, Krisen, Zwischenbilanzen Mitte der 1960er Jahre war die Bildungspolitik in der Bundesrepublik zu einem zentralen Politikfeld geworden und hatte ihre Aktivitäten in einem Zeitraum, der etwa zwischen die beiden Neugründungseröffnungen in Konstanz 1966 und in Bielefeld 1969 fiel, zunehmend beschleunigt. Neben die Auseinandersetzung der Fachöffentlichkeit aus Hochschullehrern und Politikern trat seit den ersten, vielfach noch gemeinsam von Professoren und Studenten veranstalteten überregionalen Protesten am 1. Juli 1965 eine Studentenbewegung, die seit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 eine große öffentliche Aufmerksamkeit sowie eine enorme Mobilisierung und nach dem Angriff auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 schließlich eine Radikalisierung erlebte. Während die Hochschulreformer unter den Professoren 1966/67 zu Hochform aufliefen und ein Plan den nächsten jagte, verstärkte die Hochschulpolitik ihre Arbeit an Hochschulgesetzen. Doch als Als Willy Brandts sozialliberale Regierung die Große Koalition auf Bundesebene ablöste und er in seiner Regierungserklärung Ende Oktober 1969 nicht nur erklärte, mehr Demokratie zu wagen, sondern ebenfalls ankündigte, »Bildungspolitik, Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt«, da hatten manche Beteiligte bereits realisiert, dass tiefgreifende Reformen im Hochschulbereich trotz der erst im Mai 1969 erfolgten Grundgesetzänderung, die endlich eine Beteiligung des Bundes an Hochschuldingen zuließ, jetzt in ideologisch aufgeheizten Situation nur noch sehr schwer umzusetzen waren. Zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Auslastung der begehrten Studienplätze und zur Drittelparität in inneruniversitären Gremien in den Jahren 1972/73 änderten schließlich die Lage nachhaltig und
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zogen rote Linien für Hochschulreformen.152 Doch welche Konsequenzen zogen die Gründer der Reformuniversitäten Konstanz und Bielefeld aus der Tatsache, dass die Neugründungen in den sich verändernden politischen und hochschulpolitischen Verhältnissen schnell und nachhaltig unter Druck von verschiedenen Seiten kamen?
5.3.1 Dahrendorfs Abschied in die Politik und Schelskys Abschied von der Politik Das Engagement, das bei Dahrendorf und bei Schelsky auf die Gründungskonzeption einer neuen Universität folgte, und die größeren Zusammenhänge der wissenschaftlichen Ausbildung und der Forschung im Hochschulsystem in den Blick genommen hatte, war – anders als bei Hentig – nicht von Dauer. Im Abstand von anderthalb Jahren verabschiedeten sich beide von ihren Beratungsund Planungsaufgaben. Dahrendorf fühlte sich nach Verabschiedung seines Gesamthochschulplans im Sommer 1967, wie schon nach der Gründungsausschussarbeit in Konstanz, nicht dauerhaft zuständig für die Umsetzung seiner Ideen. Die Erforschung der Gesellschaft und die Beratung der Politik wollte er Ende 1967 in außerordentlich dynamischen Zeiten gegen die Gestaltung der Gesellschaft durch Politik tauschen. Kurz nach Veröffentlichung des Gesamthochschulplans begann Dahrendorf eine politische Blitzkarriere.153 Am 29. Januar 1968 erregte er große Aufmerksamkeit mit dem Rededuell, dass er sich während des Wahlkampfs mit Rudi Dutschke auf einem Autodach sitzend anlässlich des FDP-Parteitags in Freiburg lieferte. Wenig später gelangte der Sohn des früheren SPD-Bürgerschafts- und Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf zunächst für die FDP in den im April 1968 neugewählten Landtag von BadenWürttemberg, wo er nach diesem Seitenwechsel seinen vorherigen Auftraggeber Kultusminister Hahn scharf für dessen neues Universitätsgesetz kritisierte, das mit den Vorschlägen des Dahrendorf-Plans nicht kompatibel war.154 Bevor die Umsetzung des Gesamthochschulplans aber wirklich ausdiskutiert und konkrete Schlussfolgerungen gezogen waren, ließ sich Dahrendorf nach nur achtzehn Monaten als Landespolitiker im Herbst 1969 in den Bundestag 152 Numerus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1972 und Urteil des Bundesverfasungsgerichts zum niedersächsischen Gesamthochschulgesetze vom 29. Mai 1973. 153 Ausführlich zum Auf- und Abstieg Dahrendorfs als politischem Seiteneinsteiger Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 163 ff. 154 Hahn veröffentliche einen Hochschulgesamtplan I, der nur einen Teil der Vorschläge aus dem Dahrendorf-Plan übernahm, im April 1969 und einen Hochschulgesamtplan II im Februar 1972, der dann die Erprobung einzelner Gesamthochschulmodelle vorsah. Zeit genössisch kritisch: Heymann, Das Scheitern der Hochschulreform.
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wählen. Gerne hätte Dahrendorf auf Bundesebene versucht, seine Gesamthochschulideen nun nicht nur für ein einziges Bundesland zu verwirklichen.155 Doch Bildungsminister wurde der parteilose Hans Leussink (1912–2008), der nach seinem Rektorat an der TH Karlsruhe auch der Westdeutschen Rektorenkonferenz und dem Wissenschaftsrat vorgesessen hatte, womit er Dahrendorf zwei Spitzenfunktionen im Postenkarussell der bundesrepublikanischen Wissenschaftsorganisationen voraus hatte. Dahrendorf wurde stattdessen Parlamentarischer Staatssekretär unter Außenminister Walter Scheel.156 Doch Leussink war schließlich vor allem mit der Verhandlung eines Hochschulrahmengesetzes und der Auseinandersetzung über Beteiligungsrechte der universitären Gruppen beschäftigt und nicht mit der Umsetzung großer Strukturreformen nach Art der Gesamthochschule. Dahrendorf wechselte bald abermals – diesmal schon nach neun Monaten – auf die nächsthöhere Ebene und ging von der Bundes- in die Europapolitik, wo er erst Kommissar der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für Außenhandel und ab 1973 für ein Jahr auch noch Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Ausbildung wurde. Nur von Ferne konnte er aus Brüssel beobachten, wie einzelne Bundesländer und auch der Wissenschaftsrat seine Ideen aus dem Gesamthochschulplan von 1967 aufgriffen, über »differenzierte«, »integrierte« und »kooperative« Gesamthochschulmodelle zunächst noch sachlich diskutierten und bald erbittert stritten. Dahrendorf selbst hat auf die weiteren Entwicklungen nach Vorlage seines großen Planes – abgesehen von der anfänglichen Auseinandersetzung im baden-württembergischen Landtag – keinen Einfluss mehr genommen. Nach seinem kometenhaften Aufstieg in der Politik seit Ende 1967 wendete er sich von dieser ebenso schnell wieder ab, um 1974 in die Sphäre der Wissenschaft zurückzukehren und für ein Jahrzehnt die Leitung einer Hochschule zu übernehmen – allerdings nicht der inzwischen in turbulente Fahrwasser geratenen Universität Konstanz, sondern der London School of Economics, an der er promoviert hatte. Für ein kurzes Intermezzo lehrte er Mitte der achtziger Jahre nochmals zwei Jahre am Bodensee und blieb der Neugründung – auch wenn ihre Gestalt von seinen ursprünglichen Vorstelllungen abwich – über die nächsten Jahrzehnte aus der Entfernung freundlich verbunden. Nach Beendigung seiner politischen Blitzkarriere fand Dahrendorf Zeit, über sein Engagement für die Konstanzer Gründung und den Gesamthochschulplan nochmals zu reflektieren. Und nachdem sich die bildungspolitischen Stürme Mitte der 1970er Jahre gelegt hatten, schmückte sich die Universität auch gerne mit ihrem früheren Gründungsausschussmitglied. So steuerte Dahrendorf zu verschiede 155 Dahrendorf, Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans für Baden-Württemberg, S. 162. 156 Zu Scheels Verhinderung von Dahrendorf als Bildungsminister vgl. Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 198 f.
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nen Gründungsjubiläen der Universität Aufsätze und Vorträge mit seinen Erinnerungen bei – zuletzt beim 40jährigen Jubiläum im Jahr 2006. Auch Schelsky blieb der von ihm maßgeblich geprägten Neugründung nicht erhalten. Anders als Dahrendorf ging er jedoch nicht in die Politik, sondern nahm enttäuscht Abschied von ihr. Ein halbes Jahr nach Vorlage der ersten Empfehlungen seines Planungsbeirates begab Schelsky sich in eine Art innere Emigration, nicht ohne zuvor noch zu einem Rundumschlag auszuholen. Als die Bielefelder Neugründung 1969 auf die Zielgerade einbog, verabschiedete ihr »Gründervater« sich mit einem Paukenschlag und veröffentlichte kurz nach der Entscheidung im Architekturwettbewerb seine Abrechnung mit der Hochschulpolitik. Zum Auftakt einer Serie im »Spiegel«: »Mit dem Latein am Ende. Krise und Zukunft der deutschen Hochschulen«, die fast über das ganze Jahr 1969 fortgeführt wurde, brachte das Hamburger Nachrichtenmagazin Ende Juni 1969 einen Vorabdruck aus Schelskys Buch »Abschied von der Hochschulpolitik oder die Universität im Fadenkreuz des Versagens« und rahmte Schelskys Thesen mit einem umfangreichen eigenen Bericht ein. Die Universität sei -so der »Spiegel« inzwischen »zu gesund zum Sterben, zu krank zum Leben.«157 Nachzulesen war eine düstere Beschreibung der Lage im Frühsommer 1969, in der beide Universitätsgründer und Planer – Dahrendorf noch als Landespolitiker und Schelsky noch als Professor an der Universität Bielefeld – im Zusammenhang zu Wort kamen: »Alle gegen alle mit Tomaten und Rempeleien, mit Verächtlichmachung und Selbstbemitleidung, mit Pseudo-Argumenten und altväterischen Belehrungen. Wie radikal- reformerische Studenten sich in fanatisierten Teachins unter Anarchisten kaum noch Gehör verschaffen können […], so erstickt die Stimme reformerischer Professoren häufig im Chor konservativer Kollegen. […] ›Deklarationen des guten Willens gibt es heute im Überfluß‹, resümierte der Konstanzer Soziologe Ralf Dahrendorf die Reformdebatten der letzten Jahre, ›auch an mehr oder minder hochtrabenden Erfolgs berichten einzelner Institute, Fakultäten und Hochschulen und Kultusminister ist kein Mangel, […] aber noch haben alle Verantwortlichen eher Grund, schamrot zu werden, als sich mit angeblichen Verdiensten zu schmücken, wenn sie von der Hochschulreform sprechen‹. […] Noch skeptischer äußert sich Dahrendorfs Kollege Professor Helmut Schelsky. ›Die Chancen zu einer bloß reformerischen Lösung der Erneuerung der traditionellen deutschen Universität sind verpaßt‹«.158
Tatsächlich war die euphorische Stimmung der vorangegangenen Jahre dahin – nicht nur bei Schelsky. Dessen ganze Analyse, mit der er seine Resignation erklärte, lag dann passenderweise pünktlich zur Eröffnung des ersten Bielefelder 157 Mit dem Latein am Ende, in: Der Spiegel, Heft 26, 23.6.1969. Auftakt der Spiegel-Serie über Krise und Zukunft der deutschen Hochschulen, die nach 16 Beiträgen mit dem Heft 42 (1969) endete. 158 Ebd.
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Semesters im Herbst 1969 beim Bertelsmann-Verlag vor, der auch die Publikationsreihen der Bielefelder Neugründung mit Berichten über ihre Aufbauarbeit im Programm hatte.159 Was Schelsky auf gut 150 Seiten zusammentrug, waren die eigenen Erfahrungen im Hochschulsystem, für dessen Weiterentwicklung er sich vor allem seit seiner Antrittsvorlesung in Münster 1960, mit der er schlagartig zu einer vielbeachteten Stimme im Hochschulreformdiskurs geworden war, in unterschiedlichen Positionen und für mehrere Projekte (Center for Advanced Studies, Universitätsneugründung Bielefeld, Forschungsplanung auf Landesebene) eingesetzt hatte. Der Titel »Abschied von der Hochschulpolitik« sollte aber nicht nur seine »persönliche Resignation vor jeder Reformpolitik des Hochschulwesens auf der Grundlage der akademische Selbstverwaltung« ausdrücken, sondern auch seiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass die Hochschulpolitik in ihrer bisherigen Form an ein Ende gekommen war.160 Schelskys Analyse enthielt neben aller Enttäuschung eine Fülle kluger Beobachtungen zu den zweieinhalb Jahrzehnten Hochschulpolitik seit Kriegsende, teils unter Wiederverwendung und Weiterentwicklung von Gedanken aus »Einsamkeit und Freiheit« von 1963, und zusätzlich nun zu den Entwicklungen der 1960er Jahre. Hier zog jemand Bilanz, der einerseits seinen Einsatz von der Hochschulpolitik nicht gewürdigt und sich andererseits von der Öffentlichkeit für reformunwillige Professorenkollegen in Kollektivhaftung genommen sah. Weil er die Professoren zu Unrecht von Studenten, Politik und Medien mit der Alleinschuld an der schwierigen Lage der Hochschulen bezeichnet sah, nahm er – bewusst oder unbewusst – Anleihe bei der Terminologie von Georg Picht, der 1964 in seiner Buchpublikation der »Bildungskatastrophe« vom »Versagen der Länder« und vom »Versagen des Bundes« gesprochen hatte, und überschrieb seine Kapitel in Erweiterung Pichts als »Versagen der Professoren«, »Versagen der Studenten und Assistenten«, »Versagen der Behörden« und »Versagen der Politiker und der Öffentlichkeit«. Alle vier Gruppen hätten sich unfähig gezeigt, die Ziele der Reform von Forschung und wissenschaftlicher Ausbildung zu erfassen und über Gesetze und Einführung von Reformmaßnahmen festzuhalten. Zudem habe jede Gruppe habe weitere Aufgaben in ihrem Zuständigkeitsbereich vernachlässigt. Die Professoren hätten es verpasst, als Selbstverwaltungskollektiv eine Einigung über Rangfolge und Konkretisierung der nötigen Reformen zu erzielen. Vor diesem Hintergrund konnte er gar nicht nachvollziehen, was die Studenten, die nach Schelskys Einschätzung die Schwächen der Professoren exzessiv kompensierten, von der Mitwirkung in entscheidungsunfähigen Gremien denn erhofften. 159 Schelsky, Abschied von der Hochschulpolitik. Das Buch enthielt in der zweiten Hälfte verschiedene Aufsätze und Vorträge, die Schelsky in den 1960er Jahren zu hochschulpolitischen Themen verfasst hatte. 160 Schelsky, Abschied von der Hochschulpolitik, S. 15.
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Während sich zeitgenössisch auch viele andere Kommentatoren den Konfliktlagen zwischen Professoren und Studenten widmeten, erörterte Schelsky in seiner Publikation besonders ausführlich die Rolle der Behörden und Politiker bei der Hochschulentwicklung der letzten Jahre, die seines Erachtens völlig unterbelichtet war. Der Staat hatte sich nach Schelskys Urteil quasi der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, weil er die Initiative zur Studienreform, zur Revision staatlicher Prüfungsordnungen und Laufbahnvorschriften nicht ergriffen hatte – die Konstanzer hatten diese Verweigerung in Punkto Juristenausbildung ja beispielhaft erlebt. Hätten sich die Länder frühzeitig für die Reform der Lehrerausbildung in Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultäten sowie für die Juristen- und Medizinerausbildung engagiert, hätten sich nach Schelskys Einschätzung für mehr als die Hälfte der Studierenden die Studienverhältnisse direkt verbessern und Unzufriedenheiten als Nährboden der Studentenproteste eindämmen lassen. Auch hätte die Beseitigung der generellen Planungs- und Reformschwäche der Hochschulen durch eine Anreizsteuerung des Staates über Richtlinien und Zielwerte ohne Verletzung der korporativen Autonomie der Hochschulen angegangen werden können – ein Gedanke der offen ausgesprochen erst Jahrzehnte später populär werden sollte. Im Anschluss an Raiser, der am Ende der 1950er Jahre schon das Verhältnis von Staat und Hochschulen analysiert hatte, sah Schelsky die Ursache des breiten Versagens der Hochschulbehörden jetzt ganz deutlich in den falschen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Vergangenheit: »Die von den Universitäten in der nationalsozialistischen Zeit erfahrene Entmachtung ihrer Autonomie und Selbstverwaltung durch den gesinnungsstaatlichen Dirigismus und die deswegen ihnen von allen Seiten gemachten Vorwürfe, diesem System sich unterworfen zu haben, führte die Universitäten in einen verspäteten Antagonismus zum Staat. […] Die Universität demonstrierte verspätet und risikolos die Staatsfeindlichkeit einer ›bekennenden Kirche‹«.[…] Der Staat [… ] hat dieses Selbstbild der Universität in ihrer überzogenen Autonomie aber bereitwillig aufgenommen […] aus Furcht unter den Schatten nationalsozialistischer Staatseingriffe in Forschung und Lehre zu geraten.«161
Nach der öffentlichen Diskussion um seine nationalsozialistische Episode um die Jahreswende 1965/66 fühlte sich Schelsky offenbar frei genug, diese sehr plausible Interpretation vorzunehmen. Große Schwächen der Hochschulpolitik nach 1945 seien ferner die Unterlassung einer konzeptionsgesteuerten Hochschulpolitik, eine den Universitätswünschen kritiklos folgende Haushaltspolitik und eine laxe Handhabung ihrer Aufsichtspflicht gewesen. Material für seine Kritik an den Behörden zog Schelsky zunächst aus dem Erfahrungsbereich als Gründungsausschussvorsitzender. Selbst bei den Hochschulneugründungen 161 Ebd., S. 80 f.
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hätten Bund und Länder auf eine dezidierte Reformpolitik in diesem Experimentierfeld verzichtet und die Chance vertan, den alten Hochschulen zu einer kontinuierlichen Modernisierung zu helfen: »In exakter Parallele zu den Professoren und ihrer Selbstverwaltung waren die Hochschulbehörden einfach nicht darauf eingestellt, neue gesellschafts- und wissenschaftspolitische Anforderungen in ihrem Routinesystem zu erledigen.«162
Dilettantisches Agieren und haushaltspolitische Planlosigkeit hätten vielen am Aufbau beteiligten rasch den Elan genommen. Auch die eigenen Erfahrungen im nordrhein-westfälischen Planungsbeirat 1967/68, die der Arbeit an seiner Streitschrift unmittelbar vorangingen, verarbeitete Schelsky. So zeigte er sich erschüttert, dass den Hochschulbehörden wie auch den Universitäten fundierte Datengrundlagen fehlten: »Die Hochschulbehörden hatten diese Vorbedingungen einer Planung der Entwicklung des Hochschulwesens überhaupt noch nicht entdeckt.«163 Tatsächlich hätten die Hochschulbehörden die starke Zunahme der Studierendenzahlen auf Basis nationaler Daten nicht zuletzt aber auch aus dem internationalen Vergleich wohl kommen sehen können. Auch Forschungsplanung sei den staatlichen Instanzen weitgehend fremd, weshalb es kein Wunder sei, dass die öffentlich finanzierte außeruniversitäre Forschung an Attraktivität gewinne. Von einzelnen engagierten Beamten abgesehen habe eine Verwaltung wohl selten »derart sach- und politikfern ein institutionelles System geleitet wie die Hochschul verwaltung«.164 Nicht genug mit diesem Rundumschlag: Die Gründung des Wissenschaftsrates 1957, nach Schelskys Einschätzung eine »hochschulpolitische ›Nebenregierung‹«, habe die Länder dazu verführt, auf die Errichtung eigener Planungsabteilungen auch dann noch zu verzichten, als das Defizit erkannt war. Jetzt erst würden Konsequenzen aus dieser Situation gezogen, in dem die Stiftung Volkswagenwerk den Ländern helfe, ein Hochschulinformations system (HIS) aufzubauen. Trotzdem, konstatierte Schelsky, hätten die Beamten in preußisch-deutscher Tradition versucht, das mit seiner Expansion heillos überforderte System leidlich am Funktionieren zu erhalten. Auch der Gruppe der Hochschulpolitiker in den Parlamenten wandte sich Schelsky zu. Hier bemängelte er fehlende Sachkenntnis und falsche Ehrfurcht, eine verspätete Hinwendung zum Themenfeld Hochschule verbunden mit einer Fehleinschätzung der momentanen Lage, nämlich die vorrangige Interpretation der Hochschulkrise als Interessenkonflikt universitärer Gruppen, der mit Gesetzgebungsakten gelöst werden könne. Statt Hochschulgesetze zu erstellen
162 Ebd. 163 Schelsky, Abschied von der Hochschulpolitik, S. 85 ff. 164 Ebd., S. 87.
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hätte sich die Hochschulpolitik der Studienreform, der Personalstrukturreform, einer verbesserten Planungsfähigkeit alle beteiligten Instanzen und Neuordnungsmaßnahmen im Zusammenspiel von Ausbildungs- und Forschungsaufgaben der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen widmen müssen. Die Beratung von Gesamthochschulkonzeptionen wie im Dahrendorf-Plan machte nach Schelskys Auffassung keinen Sinn, bevor die Politik sich zuvor nicht über die grundsätzlichen Fragen verständigte, welche Art von Berufsausbildung die einzelne Hochschulen künftig leisten und welche Rolle die Forschung im Wissenschaftssystem spielen solle. Seine umfängliche Fehleranalyse schloss Schelsky mit einer Einschätzung zur weiteren Entwicklung des Hochschulsystems mit Blick auf das Zusammenspiel von Staat und Hochschulen wie auch das Engagement der bisher Hochschulreformen gegenüber aufgeschlossenen Wissenschaftler. Weil die um Studenten und Assistenten erweiterten Selbstverwaltungsgremien noch schlechter funktionieren würden als zuvor, stellte Schelsky der Autonomie und Selbstverwaltung der Hochschulen keine gute Prognose aus. Nach längerer Anlaufzeit werde wohl ein starkes, vom Staat gestütztes Management in den Hochschulen entstehen, dem gegenüber die Selbstverwaltungsgremien nur noch gewisse Wahl- und Kontrollfunktionen ausüben würden. Die weitere Auswanderung der Forschung aus den Hochschulen sah er als unvermeidlich an, weil die personelle Beanspruchung der Professoren im nächsten Jahrzehnt sich primär auf den Ausbau des Ausbildungswesens konzentrieren werde. Zudem konstatierte er bei vielen Kollegen einen »Drang, all diesen frustrierenden Kommunikationsexzessen und als entehrend empfundenen Aggressionen zu entfliehen, um sich dem voll widmen zu können, was diese Personen zumeist an die Hochschulen gezogen hat, nämlich die Wissenschaft als Forschung.«165 Was konnte in den Augen Schelskys nun eine Linderung der universitären Problemlage bewirken? Die Hoffnung der Universitäten, einen großen Teil der Studienanfänger auf die neuen Fachhochschulen umleiten zu können, hielt er für ebenso verfehlt wie die Annahme, dass sich die notwendigen Strukturveränderungen der Hochschulen parallel schalten ließen mit einer drastischen Steigerung ihrer Funktionsfähigkeit. Auch von den neuen Hochschulgesetzen erwartete er keinen nachhaltigen Beitrag zur Lösung der Misere. Gesetze könnten nur dann helfen, wenn die Betroffenen bereit seien, sie einzuhalten, was viele Studenten als auch Professoren nicht seien. Ohne der Schilderung der Entwicklungen an der Universität Konstanz weiter vorauszugreifen, sollte sich Schelskys Szenario als durchaus zutreffend erweisen, dass die Länder über kurz oder lang zur Einsetzung von Staatskommissare auf Ebene der Hochschulen gezwungen sein könnten.166 165 Ebd., S. 142. 166 Ebd., S. 149.
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Nun war Schelsky 1969 nicht der einzige, der seine übergroße Enttäuschung publizistisch verarbeitete. Der knapp zehn Jahre jüngere Freiburger Politologe Wilhelm Hennis (1923–2012) tat es ihm gleich und veröffentlichte eine Sammlung zuvor bereits veröffentlichter Beiträge, die die jüngere Entwicklung »von kräfteverschleißender Bemühung um Reform zu hilflosem Zorn und Resignation« als eine in der Professorenschaft nicht untypische aufzeigen sollten.167 Wie Schelsky so war auch Hennis in einem neuen einleitenden Essay auf der Suche nach Erklärungen für die gegenwärtige Krise, in der die Öffentlichkeit den Universitäten kaum mehr Lösungen zutraute und den Gesetzgeber ans Werk schickte, was auch Hennis vehement ablehnte. Für ihn waren im Wesentlichen drei Ursachen auszumachen, die zu einer Situation geführt hatten, die man nur noch euphemistisch als verfahren bezeichnen konnte. Zu lange hätten Bund und Länder trotz stark ansteigender Abiturientenzahlen nur auf den Ausbau der bestehenden Hochschulen statt auf Neubau gesetzt. Die wesentliche Schuld für die lange Ablehnung von Neugründungen sah Hennis bei der Westdeutschen Rektorenkonferenz, die die standespolitischen, territorialen Interessen der alten Universitäten in einer Weise verteidigt hatte, die Hennis als »restriktiv und reaktionär« bezeichnete.168 Er stimmte auch Schelskys Analyse zu, dass es in den Nachkriegsjahren zu einer von den Hochschulen betriebenen Verschiebung der Rechteverteilung zwischen Staat und Hochschule gekommen sei: »So bekommen die Universitäten heute, am Ende der sechziger Jahre, die Quittung für eine Politik systematischer Ausdehnung ihrer Rechte gegenüber dem Staat, die man je nach Geschmack ›Ausbau der Autonomie‹, ›Aushöhlung des Kulturstaates‹ oder auch knapp als schleichende Usurpation bezeichnen kann.«169
Diese Selbstüberschätzung erwies sich nach Hennis als unerwartet fatal: »Mit der Forcierung der Autonomie, gekoppelt mit der Hypostasierung des Körperschaftsgedankens wurden die rechtsbegrifflichen Voraussetzungen geschaffen für die Universität als ›Freiraum‹, von dem die radikalen Studenten sich anschicken, Besitz zu ergreifen.«170
Damit gab Hennis der Generation Hochschulrektoren, die in den Wiederaufbaujahren in Verantwortung gestanden hatten, die Doppelschuld sowohl an der 167 Hennis, Die deutsche Unruhe, S. 7. Eine vergleichende Rezension beider Bücher schrieb etwa Hans Georg Reiche am 28.1.1970 im Handelsblatt: Hochschulreform aus Sicht der Professoren. 168 Im Bemühen, dieses Verschleppen zu verstehen und zu rekonstruieren, hatte Hennis sich durch die beiden von Rolf Neuhaus bearbeiteten und von der Westdeutschen Rektorenkonferenz herausgegebenen Quellenbände zur Hochschulreform 1945–1959 einschließlich der Beschlüsse der WRK und ihrer Vorläufer seit 1945 sowie den zweiten Band zu den Neugründungen seit 1960 gearbeitet. 169 Hennis, Die deutsche Unruhe, S. 30. 170 Ebd., S. 41.
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verschleppten Expansion der Hochschulen als auch an den Diskussionen um die »Demokratisierung« der Hochschulen. Die Rektoren hätten die geforderte und erlangte Autonomie schlicht nicht ausgefüllt, was in Anbetracht der diskontinuierlichen Wahrnehmung von Leitungsaufgaben in jährlichem Ämterwechsel allerdings auch keine leichte Aufgabe war. Soweit konnte Schelsky wohl mitgehen. Eine weitere Ursache für die Misere war nach Hennis aber dann die falsche Bevorzugung der Forschung vor der Lehre und der wissenschaftlichen Ausbildung, die er beispielhaft an den »Musterneugründungen« in Konstanz und Bielefeld verwirklicht sah. Genau diesen Frontalangriff auf diese beiden Neugründungen hatte Hennis für einen Vorabdruck aus seinem Buch Ende Mai 1969 in »Christ und Welt« ausgewählt, mit dem er Schelskys Vorabdruck im »Spiegel« wenige Wochen zuvor kam oder ihn möglicherweise überhaupt erst veranlasste.171 Der Wissenschaftsrat hatte nach der Bewertung des Freiburger Politologen die Ausbaupolitik der Westdeutschen Rektorenkonferenz 1960 zunächst aufgegriffen und konnte für sich nicht in Anspruch nehmen, die für Entlastung der alten Universitäten sorgenden Neugründungen in Bochum und Regensburg wesentlich mit angeschoben zu haben. Bei Durchsicht der Dokumente aus dem Anfang der Neugründerzeit war Hennis offenbar auch erstmals auf Rothes Gutachten zu Bremen von 1961 gestoßen. Zwar schien es ihm im Anschluss an die »wohl doch versunkene idealistische Pädagogik und Philosophie« inzwischen etwas aus der Zeit gefallen, doch in der Ausrichtung auf Fragen der Lehre und Erziehung aktueller denn je, nämlich ein »wirklich originelles und vor allem politisch-pädagogisches Konzept«, auch wenn die Wohnheimvorstellungen Rothes der Studentenmentalität von 1969 noch stärker widersprachen als schon 1962/63, als der VDS sie kritisierte.172 Schließlich holte Hennis zum Schlag gegen Konstanz und Bielefeld aus, die seines Erachtens für die Politik des Wissenschaftsrates standen. In seiner Ausrichtung auf kooperative Forschung war Konstanz für Hennis »reiner Ausdruck deutscher Professorenideologie, die ›die Wissenschaft als solche‹ treiben wolle«. Er konnte nicht nachvollziehen, wie das Bundesland, in dem ja auch er Professor war, solchen Gründungsideen in der sich »zum ersten Mal in der unangenehmsten Form jene unverbindliche Modell-Denkweise niederschlägt« sein Plazet hatte geben können.173 Noch bissiger fiel der Angriff auf die Bielefelder Gründung aus. Für Hennis war sie »eine völlige Entfernung von der Idee einer deutschen Universität als Anstalt, an der junge Menschen eine Ausbildung für besonders wichtige Berufe bekommen«.174 Hentigs Reformideen ignorierte er. Der Vorrang der Forschung vor der Ausbildung in Anbetracht der Überfüllung 171 Wilhelm Hennis, Wer hat die beste neue Universität?, in: Christ und Welt, 6.6.1969. 172 Hennis, Die deutsche Unruhe, S. 51. 173 Ebd., S. 54 f. 174 Ebd., S. 56.
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der Universitäten gerade in Nordrhein-Westfalen war ihm eine Verletzung der Kollegialität unter Professoren, die Schwerpunktsetzung in der Forschung Ausweis von Vetternwirtschaft: »Noch nie war es in der deutschen Universität üblich, dass man sich seine Kollegen unter dem Gesichtspunkt aussuchte, dass sie auch hübsch mit einem ›kooperieren‹«.
Dass Forschung von Schelsky auch noch explizit als »Amtspflicht« aller Professoren an dieser Neugründung bezeichnet wurde, hielt er für hanebüchen, da doch ohnehin jeder Professor forschen würde. Der jährliche Wechsel von Forschung und Lehre war ihm eine »ungeheure Privilegierung« und eine »eklatante Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes«, die hoffentlich rasch vor dem Verwaltungsgericht ein Ende finden werde. Unverschämt fand er die Charakterisierung als »Modell-Universität«, da die Bielefelder Verhältnisse doch nur dann übertragbar seien, wenn 90 Prozent der Studierenden vom weiteren Studium ausgeschlossen werden würden. Hennis schloss seinen verschriftlichten Wutausbruch mit der Feststellung, in Bielefeld und Konstanz »segelt die Unverschämtheit doch unter der Flagge der Reform«: »Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand es rechtfertigen kann, bei der jammervollen Lage der deutschen Universitäten einen erheblichen Teil der zur Verfügung stehenden Lehrkräfte aus dem allgemeinen Arbeitsprozess herauszuziehen, damit sie sich in Bielefeld in ein buen retiro reiner Forschung zurückziehen können.«175
Seine ganze Kritik an den beiden Neugründungen zielte exakt in die gleiche Richtung wie die Beschwerden aus der Universität Köln, die nach Veröffentlichung der Bielefelder Konzeption im Kultusministerium eingegangen waren, und ebenfalls den Entstehungskontext von Schelskys Konzept in den Jahren 1962 bis 1965 ignorierten. Von sich aus hat Schelsky auf Hennis’ Fundamentalkritik in »Christ und Welt« ausführlich geantwortet und Hennis an mehreren Stellen Fehler und Tatsachenverdrehung bescheinigt, doch Hennis ließ Schelskys Rechtfertigungen nicht gelten und unterstellte dem Bielefelder Gründer in seiner Antwort in »Christ und Welt«, dass er ihm »das Maul stopfen wolle« und »sein cholerisches Temperament« an ihm auslasse.176 Hennis’ Analyse, die im Vergleich zu Schelskys weit weniger umfassend war und kein vergleichbares Engagement zum Erfahrungshintergrund hatte, offenbarte in ihrer Aggressivität nicht nur den bis 1969 eingetretenen Stilwandel im öffentlichen Meinungs 175 Ebd., S. 60. 176 Die Entgegnung Schelskys erschien am 27. Juni ebenfalls in »Christ und Welt« unter dem Titel »Pflichten oder Pfründe? Ein Hochschulmodell im Kreuzfeuer«. Darauf reagierte Hennis in der gleichen Ausgabe mit seiner Stellungnahme unter dem Titel: Phantastisch ungleich, in: Christ und Welt, 27.6.1969.
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austausch zwischen Studierenden und Professoren – und scheinbar ebenso innerhalb der Professorenschaft –, sondern zeigte vor allem auch, wie angespannt und gereizt die Stimmung 1969 an vielen Hochschulen war. So wie Schelsky sich über die verwaltungs- und entscheidungsunfähigen Kollegen ärgerte, brachte Hennis die aus seiner Sicht egoistische Haltung der Professoren an beiden Neugründungen in Konstanz und Bielefeld auf die Palme. Doch anders als Schelsky zog Hennis sich nicht resigniert zurück, sondern ließ seinem zunächst nur publizistisch kanalisierten Ärger auch Taten folgen. Hennis gehörte im Folgejahr zu den Mitgründern des »Bund Freiheit der Wissenschaft«, der sich der Verteidigung der Universitäten vor der studentischen Revolution verschrieb und in gewisser Weise Radikalisierung mit Radikalisierung beantwortete.177 Auch wenn Schelsky auf Hennis’ Angriff im Frühsommer 1969 noch kühl gekontert hatte, dürfte ihn der Angriff aus der Reihe der Professoren in seiner Wahrnehmung bestärkt haben, dass das Engagement für sein Projekt einer kleinen, interdisziplinären und forschungsstarken Universität immer weniger Aussicht auf Erfolg hatte und der erforderliche Krafteinsatz in einem schlechten Verhältnis zum erwartbaren Wirkungsgrad stand. Während Hans Paul Bahrdt in seiner Rezension von Schelskys Schrift dem Fachkollegen seine Verbitterung noch nicht abnehmen wollte, ging Schelsky den mit seinem Buch eingeschlagenen Weg doch weiter, äußerte sich 1970 im Nachwort zur Neuauflage von »Einsamkeit und Freiheit« nochmals in ähnlicher Weise, zog sich in Bielefeld zunächst auf seine Rolle im Direktorium des Zentrums für interdisziplinäre Forschung zurück und legte im April 1971 schließlich alle Ämter an der Universität Bielefeld nieder.178 Nachdem er zwei Jahre später in der Fakultät für Soziologie für die mangelnde Mitarbeit in der universitären Selbstverwaltung gerügt worden war, ließ er sich im Oktober 1973 auf eigenen Wunsch an die Universität Münster versetzen, wo er sich fünf Jahre später emeritieren ließ. Anders als Dahrendorf blieb Schelsky »seiner« Neugründung nicht wohlwollend verbunden und sie ihm für lange Zeit auch nicht. Beiträge Schelskys zu späteren Universitätsjubiläen gab es bis zu seinem Tod 1984 ebenso wenig wie eine Reverenz der Universität an den Wissenschaftler, der ihre Entstehung mit seinen vielfältigen Ideen und seinem enormen Einsatz so maßgeblich beeinflusst hatte. Erst nach seinem Tod veranstaltete das ZiF zum zwanzigsten Jubiläum ein Symposium zur Interdisziplinarität, das auch an Schelskys Ideen erinnerte.179 25 Jahre später veranstaltete das ZiF zu Schelskys hundertstem Geburtstag eine weitere Tagung, die unter dem Titel »Giving Meaning to Interdisciplinarity in the Organization of Universities« nochmals der Erinnerung an ihn gewidmet war. Bei dieser Gelegenheit sprach der frühere Gründungsausschusskollege und 177 Dazu Wehrs, Protest der Professoren. 178 Hans Paul Bahrdt, Alle, alle haben versagt, in: Der Spiegel, 16.3.1970. 179 Kocka, Interdisziplinarität.
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spätere Staatssekretär Hermann Lübbe über Schelskys Leistungen als Universitätsgründer und versuchte die Universität nochmals dafür zu gewinnen, ihrem Gründer ein Andenken zu bewahren. Eine Büste Schelskys ist in Bielefeld – anders als für Dahrendorf 2010 in Konstanz – aber bisher nicht aufgestellt worden. Trotz Dahrendorfs Abgang aus Konstanz 1967, Schelskys Abwendung von Bielefeld 1969 und der unentschiedenen Haltung des Wissenschaftsrates zu Neugründungen – Empfehlung eines Stopps des Neugründungsreigens in 1967, Empfehlung 30 weiterer Neugründungen als Gesamthochschulen in 1970 – ging die Arbeit nicht nur auf den Baustellen der Neugründungen, sondern natürlich auch an der Umsetzung ihrer Strukturen weiter. Und nicht alle Vertreter der Universitätsneugründungen hatten an der Wende zu den 1970er Jahren schon resigniert. Nachdem Günther Gillessen in der »Frankfurter Allgemeinen« unter der Überschrift »Ende des hoffnungsvollen Versuchs« im April 1971 ausführlich über Schelskys Rückzug berichtet hatte, bat dessen Bielefelder Kollege Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem Leserbrief darum, doch nicht das Ende des Experiments vorzeitig auszurufen, das »nach wie vor echte Verwirklichungschancen hat, weil dadurch gerade die Resignation derjenigen herbeigeführt wird, auf deren Engagement es für die weitere Verwirklichung des Versuchs wesentlich mit ankommt«.180 Doch dessen ungeachtet wuchs die Gruppe der Resignierenden bald weiter an.
5.3.2 Reform und Gegenreform am Beispiel der »Konstanzer Krise« von 1972 Noch bevor im Frühjahr 1970 die letzten Rezensionen von Schelskys Abschiedsschrift erschienen waren, kamen negative Schlagzeilen von anderen Universitätsneugründern. Walther Killy, der sich in den 1950er Jahren so vehement für die Kollegienhäuser eingesetzt hatte, hatte sich in Bremen für einen weiteren Anlauf zur Universitätsgründung zur Verfügung gestellt und berichtete in der »Zeit« Anfang Februar 1970 ausführlich vom Scheitern dieses dritten Versuchs, die seit Kriegsende beabsichtigte Neugründung diesmal mit Hilfe der Universität Göttingen als Patenuniversität zu bewältigen.181 Der Bremer Gründungssenat, dessen Zusammensetzung sich mit Blick auf die Beteiligung der »Gruppen« von den vorherigen Gründungsgremien grundlegend unterschied, hatte 180 Ernst Wolfgang Böckenförde, Das Bielefelder Reformkonzept, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.5.1971 als Antwort auf Günther Gillesen, Das Ende eines hoffnungsvollen Versuchs. Zum Verzicht Schelskys auf alle Universitätsämter in Bielefeld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.4.1971. 181 Der Versuch entbehrte nicht einer gewissen Ironie, da aus der Universität Göttingen Ende der 1950er Jahre der massive Widerstand gegen die Neugründung in Wilhelmshaven hervorgegangen war, die in deren Schließung und Einverleibung als neue sozialwissenschaftliche Fakultät mündete.
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sich »in vollem gegenseitigen Unverständnis« aufgelöst, weil zwischen den sechs Professoren, drei Assistenten und drei Studenten keine Einigung über die Organisation der ersten Berufungen erzielt werden konnte. Der nun dritte Ex-Gründungsrektor Killy konstatierte einen »Mangel an Wirklichkeit« bei allen Beteiligten, der ihn keinen Sinn in einem weiteren Engagement sehen ließ.182 Killy, der 1967/68 auch Rektor in Göttingen gewesen war, gab entnervt auf und folgte einem Ruf in die Schweiz nach Bern. Auch aus Konstanz kamen im Frühjahr 1970 die ersten Meldungen über schwierige Auseinandersetzungen innerhalb der Universität, aber auch mit der Landesregierung. Selbst die abgelegene Neugründung am Bodensee machte nun unfreiwillig Schlagzeilen mit der Beteiligung der Assistenten und Studenten an den universitären Gremien: »Kleine Reformuniversität im Strudel« vermeldete die »Frankfurter Allgemeine« Ende April 1970 und »Reform in der Pubertätskrise« überschrieb in der »Zeit« der Konstanzer Biochemiker Peter Hemmerich seinen Bericht über Auseinandersetzungen um die Universitätsverfassung.183 In den folgenden zwei Jahren berichteten beide Zeitungen regelmäßig über die schrittweise Eskalation der Ereignisse in Konstanz, wobei die Sympathien der Berichterstatter zunehmend auf Seite der Universitätsleitung lagen. Wilhelm Hahn, der seit 1964 in der Presse zunächst als modernster Kultusminister gefeiert worden war und mit diesem Ruf des Modernisierers 1966 beinahe Kiesinger als Ministerpräsident beerbt hätte, wurde schließlich zum Gegenreformator erklärt. Das Drama um die Satzungsgestaltung der Konstanzer Universität verlief parallel zur Auseinandersetzung um Drittelparität an vielen anderen Hochschulen und um unterschiedliche Hochschulgesetzentwürfe aus sozialdemokratisch- und unionsregierten Bundesländern.184 Es hatte im Frühjahr 1969 seinen Ausgang genommen. Anders als die Bielefelder Gründungsgremien, die sich Mitte 1968 an die Erarbeitung einer Universitätssatzung gemacht hatten und bis Februar 1969 zu einem Ergebnis gekommen waren, das die Strukturen und Organe der Neugründung und ihr Zusammenspiel festlegte, vom Land genehmigt und pünktlich zum ersten Semester im Oktober 1969 in Kraft gesetzt 182 Walther Killy, Wie wir keine Universität gründeten. Warum Leute, die das gleiche vorhatten, vom Einverständnis zum Unverständnis kamen, in: Die Zeit, 6.2.1970. Vorherige Gründungsausschussvorsitzende waren die Professoren Otto Weber (1961–1966) und Wolfgang Bargmann (1966–1967) gewesen. Killy hatte das Amt 1968 angetreten. Erfolgreicher Gründungsrektor wurde kurz darauf der Privatdozent Thomas von der Vring. Eine Zeitleiste zur Geschichte der Universität Bremen inzwischen unter: http://www.uni-bremen.de/archiv/ geschichte.html; letzter Abruf 2.3.2014. 183 Günther Gillessen, Kleine Reformuniversität im Strudel. Als Zaungast einer dramatischen Senatssitzung in Konstanz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.4.1970. Peter Hemme rich, Reform in der Pubertätskrise. Skandal an der Universität Konstanz, in: Die Zeit, 1.5.1970. 184 Detailliert zur Auseinandersetzung um das Hochschulrahmengesetz des Bundes: Bocks, Mehr Demokratie gewagt, sowie als Vergleich der Gesetzgebung in Bayern und Hessen Rohstock, Von der »Ordinarienuniversität« zur »Revolutionszentrale«.
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wurde, besaß die Konstanzer Universität seit der Aufnahme ihres Betriebs nur eine vorläufige Grundordnung.185 Sie war in Abstimmung zwischen dem Gründungsausschuss und dem Kultusministerium entstanden und im März 1966 erlassen worden.186 Die Erarbeitung einer endgültigen Satzung hatte man auf den Zeitpunkt aufgeschoben, zu dem 30 Professoren oder acht in jeder der drei Fakultäten ernannt waren, was im Frühjahr 1969 der Fall war. Nun konnte die Satzungsdiskussion beginnen, allerdings war die 1966 festgelegte Zusammensetzung des Senats, was die Mitwirkungsrechte der Assistenten und Studenten betraf, von den Entwicklungen überholt worden und die »Reformuniversität« befand sich diesbezüglich nur drei Jahre später keineswegs mehr an der Spitze der Reform. 30 Lehrstuhlinhabern saßen im Konstanzer Großen Senat nur je zwei Nichtordinarien, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten gegenüber – von Drittelparität also keine Spur. So beschloss der Große Senat im März 1969 eine Änderung seiner Zusammensetzung, um erst auf dieser Basis dann die endgültige Universitätssatzung zu erarbeiten. Die 15 Fachbereiche sollten je einen Habilitierten, Assistenten und Studenten entsenden, die zugleich Gruppen – und Fachinteressen vertreten sollten. Zu diesen 45 gewählten Mitgliedern kamen Rektor, Dekane und einige weitere Mitglieder der Universität. Die neue Zusammensetzung des Großen Senats, die ebenfalls keine Drittelparität darstellte, dieser aber sehr nahe kam, jedoch über die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit zugleich eine Majorisierung durch eine einzelne Gruppe ausschloss, wurde vom Kultusministerium zunächst nicht genehmigt. Wolfgang Brezinka, Professor im Fachbereich Erziehungswissenschaften, war mit dem Änderungsbeschluss nicht einverstanden gewesen und hatte über Dienstaufsichtsbeschwerden und Interventionen beim Kultusminister und Ministerpräsidenten versucht, die Neuregelung zu stoppen. Im Lauf des Jahres 1969 hatte sich zudem die hochschulpolitische Gesamtsituation so stark zugespitzt, dass die Landesregierung wegen der vorgeschlagenen Zusammensetzung der Konstanzer Konstituante zögerte – die Drittelparität hatte sich inzwischen zum Gegenstand einer Art Glaubenskrieg zwischen sozialdemokratisch und unionsregierten Bundesländern entwickelt. Nicht alle wollten »mehr Demokratie wagen«, wie Willy Brandt Ende Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung gefordert hatte. Als Hahn die veränderte vorläufige Grundordnung im April 1970 schließlich doch genehmigte, wurde der Senat neu gewählt und im Ergebnis verloren 28 der zuvor vertretenen 41 Professoren ihren Sitz im Senat, unter ihnen Brezinka. Dieser zeigte nun, dass nicht nur die Studenten und Assistenten, sondern eben auch ein einzelner Professor bei geschicktem Taktieren durchaus in der Lage war, für 185 Universität Bielefeld, Satzung der Universität Bielefeld. 186 Zum Grundordnungskonflikt an der Universität die Beiträge der ehemaligen Prorektoren Horst Rabe und Horst Sund. Rabe, Die Grundordnung der Universität Konstanz, sowie Sund, Die Konstanzer Krise von 1972.
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eine nachhaltige Störung des universitären Betriebs zu sorgen. Brezinka löste ein Normenkontrollverfahren gegen Universität und Land aus, in dessen Ergebnis im November 1971 die nach langem Zögern geänderte Grundordnung wieder kassiert wurde – nicht aber wegen inhaltlicher Bedenken, sondern wegen eines Formfehlers: Sie war vom Kultusministerium nicht ordnungsgemäß verkündigt, nämlich nur genehmigt, nicht aber erlassen worden! Damit war auch der 1970 neu gewählte Senat nach anderthalb Jahren seines Amtes enthoben. Weil die Arbeit an der endgültigen Satzung inzwischen aber fast abgeschlossen war – das Verwaltungsgerichtsurteil erging wenige Tage nach der ersten Lesung des Entwurfs im Großen Senat der Universität –, bat die Universitätsleitung das Kultusministerium um einen nachholenden Erlass der bisher nur genehmigten veränderten Grundordnung, um die Arbeiten abschließen zu können.187 Diesem Wunsch folgte Hahn jedoch nicht, sondern wollte die Gelegenheit nun doch für grundlegende Änderungen nutzen. Er ließ im Kultusministerium einen eigenen Satzungsentwurf ausarbeiten, der an mehreren Stellen von den in Konstanz bereits praktizierten oder für die Zukunft erarbeiteten Lösungen wesentlich abwich: zentral in der Frage der Repräsentation und der Mitwirkungsrechte von Studierenden und Assistenten, zudem aber auch bei der Binnenstruktur der Universität, wo er eine Reduktion der Fachbereiche von 15 auf sechs vorsah. Die Konstanzer Reformbefürworter, die im ersten baden-württembergischen Hochschulgesetz von 1968 mit seiner Kodifizierung und Vereinheitlichung des Hochschulrechtes noch Experimentierfreiheit zugesprochen bekommen hatten, sahen nun ihre Autonomie im Kern angegriffen und die Chancen für Konstanzer Sonderlösungen zugunsten einer »Gleichschaltung« mit den übrigen Landesuniversitäten dahinschwinden. Der Minister wiederum befand sich im Landtagswahlkampf, wo er offenbar eine harte Haltung zu zeigen gewillt war, um sich einerseits von der Hochschulpolitik sozialdemokratischer Regierungen wie in Hessen und Nordrhein-Westfalen abzusetzen und andererseits die Große Koalition aus SPD und CDU im Land durch eine CDU-Alleinregierung abzulösen, was im April 1972 auch gelang. Als das Kultusministerium Mitte Juni 1972 seinen eigenen Satzungsentwurf vorlegte, traten Rektor Hess und Prorektor Rabe im Protest zurück. Hess erklärte: »Ich kann nicht Vollstrecker eines Erlasses sein, dessen Inhalt den Forderungen widerspricht, die ich als Rektor im Namen der Universität seit Monaten erhoben habe. […] Es bestand keine Notwendigkeit, ein jahrelang ohne Störung des Arbeitsfriedens funktionierendes fruchtbares Reformexperiment der Angleichung an das Hochschulgesetz aufzuopfern.«188 187 Zu Details des erarbeiteten Entwurfs Rabe, Die Grundordnung der Universität Konstanz, S. 38 ff. 188 Hess’ Rücktrittserklärung zitiert nach Sund, Die Konstanzer Krise, S. 122. Dort eine detaillierte Auflistung zahlreicher Dokumente zu dem zweijährigen Konflikt.
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Ähnlich, wie Schelsky in den Schlussthesen seines Buches von 1969 prognostiziert hatte, setzte das Kultusministerium sich über die Autonomie der Universität nun hinweg. Hahn ließ sich nach der gewonnenen Landtagswahl auch von der Presseberichterstattung nicht mehr irritieren.189 Er verfolgte das Ziel, die Ordnung an den Universitäten mit den ihm verfügbaren Mitteln wieder herzustellen und selbst dort, wo die Auseinandersetzungen friedlich verliefen – wie in Konstanz – die Ansprüche der Studenten und Assistenten zurückzudrängen. So verzichtete er auf die Erarbeitung eines für die Universität akzeptablen Kompromisses und Mitte Oktober 1972 beschloss der Ministerrat die vorläufige Grundordnung in der Fassung des Ministeriums. Unmittelbar nach diesem Beschluss bat Hess den Minister um Annahme seines im Sommer noch als Warnschuss ausgesprochenen Rücktritts und ferner um sofortige Beurlaubung und Emeritierung. Hahn entsprach diesen Bitten des Konstanzer Gründungsrektors. Danach trat auch der amtierende Prorektor Sund von seinem Amt zurück. Damit war die Neugründung genau zu dem Zeitpunkt, als die ersten Teile des großen Universitätsneubaus auf dem Gießberg bezogen wurden, ohne Leitung und ihre Mitglieder über die weitere Entwicklung ebenso verunsichert wie die Fachöffentlichkeit, die die Entwicklung des Konstanzer Reformexperiments beobachtete. Kultusminister Hahn setzte – nachdem er Anfang Dezember 1972 auch noch mit einem Polizeigroßeinsatz an der ehemals von ihm geleiteten Universität Heidelberg für überregionale Aufmerksamkeit gesorgt hatte – mit dem ehemaligen CDU-Landtagsabgeordneten Theopont Diez (1908–1993) einen »Landesbeauftragten« ein.190 Der ehemalige Oberbürgermeister von Singen wechselte damit von der Spitze des Vereins der Freunde der Universität Konstanz an die Spitze der ganzen Universität und leitete sie ab Dezember 1972 interimistisch.191 Gleichzeitig setzte die Landesregierung eine »Beratende Kommission zur Weiterentwicklung der Reformuniversität« unter dem Vorsitz des Staatssekretärs im 189 Etwa Nina Grunenberg, Konstanz in Not. Wie eine Reformuniversität abgewürgt werden soll, in: Die Zeit, 30.6.1972. Nach Hess’ Rücktritt Nikolas Lang, Gekillte Reform, in: Die Zeit, 27.10.1972. 190 Anlass des Polizeieinsatzes war die Verhinderung eines Vortrags mit dem Titel »Innenpolitische Situation in der Bundesrepublik und Kampf gegen den braunen ›Bund Freiheit der Wissenschaft‹ an der Universität«, dazu etwa: Kalte Küche, in: Der Spiegel, 11.12.1972. 191 Von Diez selbst gibt es nur wenige veröffentlichte Äußerungen, etwa seinen Jahresbericht zum Ausscheiden aus dem Amt des Landesbeauftragten und eine rückblickende Äußerung im Abstand von knapp 15 Jahren: Diez, Zur Lage der Universität Konstanz; ders., »Auf dem Weg geblieben. Über ein erstes Krisentreffen nach Übernahme seines Amtes mit einigen Konstanzer Professoren bei Raisers Schüler Friedrich Kübler berichtete er dort: »Ich hatte an diesem Abend ein Gefühl wie bei der politischen Arbeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Die Frage nach dem politischen Bekenntnis des anderen rückte in den Hintergrund. Es galt nur die Frage: Wie können wir gemeinsam die Krise der Universität bewältigen?«
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Kultusministerium, Paul Harro Piazolo, ein. Das Kultusministerium berief in diese Kommission die Präsidenten/Rektoren der Universitäten Hohenheim und Freiburg sowie zwei Professoren aus Konstanz, darunter den Raiser-Schüler Friedrich Kübler, um die weitere Verwendbarkeit der Gründungsausschussdenkschrift zu überprüfen. Die Kommission beschloss die Zielzahl der Studierenden von 3.000 auf 6.000 zu verdoppeln und befürwortete als »Beiträge zur Reform des öffentlichen Dienstes« neben dem verwaltungswissenschaftlichen Studium auch die Erprobung der sogenannten einphasigen Juristenausbildung. Die Vorschläge wurden im Oktober 1974 vom baden-württembergischen Ministerrat gebilligt, jedoch anders als die Denkschrift des Gründungsausschusses, die sie jetzt ergänzen sollten, nicht in vergleichbarer Form veröffentlicht.192 Im Mai 1973 sprach das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Drittelparität, das den jahrelangen Auseinandersetzungen um die Beteiligungsrechte von Studenten und Assistenten, die die Gesetzgeber in Bund und Ländern nicht beizulegen vermocht hatten, ein Ende setzte. Bestimmte Vorrechte der Professoren in den breiter zusammen gesetzten Gremien wurden nun festgeschrieben, was eine Anpassung verschiedener Landeshochschulgesetze und Universitätssatzungen notwendig machte. Nach dem Verfassungsgerichts-Urteil normalisierte sich die Lage in Konstanz, und die Universität wählte im November 1973 wieder einen Rektor. Dabei entschied sich die »Reformuniversität« für eine etwas weniger revolutionäre Lösung als die Freie Universität Berlin, die 1969 den Assistenten Rolf Kreibich (*1938) zum Präsidenten gewählt hatte, oder die inzwischen tatsächlich gegründete Universität Bremen, die nach Killys Rückzug den Privatdozent Thomas von der Vring (*1937) zum Gründungsrektor gewählt hatte. Aber mit dem Professoren Frieder Naschold (1940–1999) wählte sie einen noch jungen Sozialwissenschaftler an die Universitätsspitze. Auf sein dreijähriges Rektorat folgte dann – wie an vielen anderen Universitäten – die Rückkehr der etwas älteren Professorengeneration an die Spitze; in Konstanz die des Biochemikers und vormaligen Prorektors Horst Sund (*1926), der bis 1991 kontinuierlich zum Rektor der Universität wiedergewählt wurde und in der Leitung damit für eine ähnliche Kontinuität sorgte wie sein Kollege Grotemeyer von 1970 bis1992 in Bielefeld. Mit größerem zeitlichem Abstand mutet der Grundordnungskonflikt an der Konstanzer Universitätsneugründung überzogen an. Doch in den Jahren 1969 bis 1973 waren Umfang und Ausgestaltung der Mitbestimmung durch die neu in die universitären Gremien hinzugekommenen Gruppen der Assistenten und Studenten für alle Beteiligten zentral. Nachdem die Verbreiterung des Hochschulzugangs am Anfang der 1960er Jahre noch intensiv verhandelt worden 192 Zur Zusammenstellung und Tätigkeit der Kommission liegen nur wenige Äußerungen Piazolos vor: Piazolo, Zur Entstehung, Gestaltung und Auswirkung einer Reformuniversität, S. 89 f.
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war, ging es nun um den Zugang zu den Selbstverwaltungsorganen der Universitäten. Die Auseinandersetzung um Hochschulreform verlagerte sich damit auch in Konstanz für einige Zeit vollkommen auf die rechtliche Dimension und Fragen der Mitbestimmung. Gillesen hatte in der »Frankfurter Allgemeinen« am Anfang der Konstanzer Krise 1970 mit Blick auf alte und neue Universitäten vermutet: »Mit der Paritäten-Herrschaft hört hier [in Konstanz, MM] die Reform auf – so wie sie an anderen Universitäten damit nicht mehr zustande kommen kann.«193 Zumindest für die ersten beiden Jahre des neuen Jahrzehnts band die Auseinandersetzung über die Mitbestimmung so viel Aufmerksamkeit innerhalb der Universität sowie im Zusammenspiel oder phasenweise eher im Kampf mit dem Kultusministerium, dass andere Projekte an der sonst von Studentenprotesten verschonten Neugründung, wie etwa die Reform der Juristenausbildung, in den Hintergrund geschoben oder ganz aufgehalten wurden.194 Viele Zeitgenossen erlebten die Jahre 1972/73 als einen tiefen Einschnitt nach langen Jahren des wirtschaftlichen Wachstums in den Nachkriegsjahren. Die im Frühjahr 1972 veröffentlichte Studie »Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit« und die erste Ölkrise im Herbst 1973 gelten als Ausdruck einer nunmehr krisenhaft wahrgenommenen weiteren Entwicklung. Grenzen des Wachstums korrespondierten auch Grenzen der Hochschulreform. In der Hochschulgeschichte wird immer wieder auf zwei Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1972/73 verwiesen, die als Zäsur gelten. Das erste Urteil vom Juli 1972 betraf die eine Demokratisierungswelle, die seit den 1950er Jahren das Hochschulsystem der Bundesrepublik erfasst hatte, nämlich die Öffnung der Universitäten für größere Studierendenzahlen aus breiteren Schichten der Bevölkerung. Das Bundesverfassungsgericht stützte diese Entwicklung mit seiner äußerst kritischen Bewertung des Numerus clausus, den es in Spannung zum Grundrecht auf freie Berufswahl sah. Als Folge des NC-Urteils wurde der Blick der Hochschulpolitik noch stärker auf die Quantitäten und eine möglichst hohe und gleichmäßige Auslastung der Kapazitäten sowie einen stark regulierten Zugang gerichtet. So entstand innerhalb weniger Jahre die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) ebenso wie die Kapazitätsverordnung (KapVO) und Curricular normwerte (CNW).195 Was gesellschaftspolitisch und verfassungsrechtlich notwendig erschien, war zugleich mit der Idee eines differenzierten Hochschul 193 Günther Gillessen, Reformuniversität im Strudel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.4.1970. 194 Als Beispiel dafür auch die Untersuchung von Raupach/Reimann, Hochschulreform durch Neugründungen, die bei Bielefeld stark auf Satzungsdiskussion und Drittelparität ausgerichtet war. 195 Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen beerbte die 1967 von den Hochschulen bereits eingeführte zentrale Registrierstelle. Als Selbstbeschreibung der neuen Aufgabe: Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen, Bericht.
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systems und durch einen strukturellen Numerus clausus geschützte Reformuniversitäten schwer vereinbar. Das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1973 betraf die andere Demokratisierung, die nicht den Zugang zur Universität, sondern zu den Strukturen ihrer Selbstverwaltung betraf. Mit diesem Urteil wurde die Gruppenuniversität als Nachfolgerin der Ordinarienuniversität im Grundsatz anerkannt, allerdings Regeln für ihre genaue Ausgestaltung aufgestellt und gewisse Vorrechte für die Gruppe der Hochschullehrer festgeschrieben. Höchstrichterlich wurde damit über die zweifache Demokratisierung der deutschen Universitäten seit den 1950er Jahren entschieden, nachdem die Politik sich mit einer Einigung über die Frage der Drittel- und Viertelparität äußerst schwer getan hatte, die sich im Zuge der Studentenproteste ab 1967 zu einem hochgradig ideologisierten Gegenstand entwickelt hatte, wie der Konstanzer Fall zeigt.
5.3.3 Zwischenbilanzen der Gründer- und Aufbaugeneration Gleichzeitig zum Einschnitt, den die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1972 und 1973 für die Hochschulpolitik in der gesamten Bundesrepublik darstellten, erlebten die beiden Neugründungen in Konstanz und Bielefeld eine besondere Zäsur. Zwei zentrale Figuren zogen sich aus den beiden Reformuniversitäten zurück: die Neugründung am Bodensee verlor ihren Rector Magnificus und jene in Ostwestfalen ihren Spiritus Rector. Schelsky wandte sich endgültig von »seiner« Neugründung ab und ging enttäuscht zurück nach Münster; Hess trat in Folge des Grundordnungskonfliktes von 1972 als Rektor zurück und ließ sich emeritieren. Während Schelsky seine hochschulpolitische Bilanz als Streitschrift bereits auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 1969 vorgelegt hatte und schon in der damaligen Situation keinen Anlass zur weiteren Betätigung mehr gesehen hatte, war Hess in Konstanz noch drei Jahre länger engagiert geblieben. Erst als Hahn im baden-württembergischen Landtagswahlkampf von 1972 im Satzungsstreit mit und in der Universität Konstanz ein Exempel statuierte, gab auch Hess auf. Einige Monate später legte er ein umfassendes Resümee vor.196 Mit seinem Rechenschaftsbericht vom März 1973 eröffnete Hess als Gründungsrektor eine ganze Reihe an Zwischenbilanzen, die binnen weniger Jahre aus Konstanz kamen: 1976 erschien zum zehnjährigen Jubiläum des Lehrbetriebs eine Sonderheft der »Konstanzer Blätter für Hochschulfragen«, 1977 folgte unter dem pessimistischen Titel »Gebremste Reform« ein umfangreicher Sammelband von Konstanzer Mitgründern zum 70sten Geburtstag des Gründungsrektors Gerhard Hess und 1979 mit der positiveren Titelbotschaft »Auf 196 Hess, Sieben Jahre Universität Konstanz.
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den Weg gebracht« ein nicht weniger voluminöser Band zum 75sten Geburtstag des früheren Landesvaters und Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger. Im Vergleich dazu mutete die Bielefelder Rückschau zunächst sehr bescheiden an. Zur zehnjährigen Aufnahme des Lehrbetriebs in Ostwestfalen erschien 1979 ein einziger und noch dazu vergleichsweise schmaler Band mit dem neutralen Titel »Zwischenstation«. Erst nachdem die Konstanzer 1988 schon einen weiteren Band mit wiederum fast 500 Seiten »Zwischenbilanz« vorgelegt hatten, die sie dem damaligen »Landesvater« Lothar Späth widmeten, zogen die Bielefelder in den 1990er Jahren mit mehreren Publikationen nach – die allerdings weder einem Landespolitiker oder gar Helmut Schelsky gewidmet waren, noch den Umfang der verschiedenen Konstanzer Zwischenbilanzen erreichten. Doch zunächst zu den 1970er Jahren und den ersten Jubiläumsschriften der Gründer- und Aufbaugeneration. Wie bewerteten die Beteiligten die zurückliegende Entwicklung und den erreichten Aufbaustand bis zum zehnjährigen Jubiläum und welche Themen standen dabei im Vordergrund?
Konstanzer Zwischenbilanzen Der Konstanzer Gründungsrektor Gerhard Hess machte 1973 den Anfang und legte nach nur sieben Betriebsjahren mit seinem Rechenschaftsbericht die erste Bilanz der Konstanzer Universitätsentwicklung vor. Hess war bemüht, dabei nicht nur den Kreis der resignierenden Gründer wie Schelsky in Bielefeld und Killy in Bremen zu erweitern, sondern einen ausgewogene Bestandsaufnahme der zurückliegenden Entwicklungsphase des Neugründungsprojektes zu geben, was Schelsky beim Neugründungsprojekt in Ostwestfalen offenkundig nicht mehr als seine Aufgabe gesehen hatte. Rechenschaft abzulegen war Hess aber wohl auch deshalb ein Anliegen, weil mit seinem Rücktritt aus dem ursprünglichen Gründungsausschussteam in Konstanz lediglich noch H erbert Nesselhauf verblieben war, dessen altersbedingte Emeritierung bald bevorstand; Dahrendorf war 1968 zu neuen Ufern aufgebrochen und Waldemar Besson 1971 – mitten in der Konstanzer Auseinandersetzung um die neue Satzung – mit nur 42 Jahren verstorben. Hess rekapitulierte in seinem Bericht die zentralen Ideen und Strukturen der Neugründung und trug die Veränderungen zusammen, die in den ersten Aufbaujahren an verschiedenen Stellen des ursprünglichen Konzepts vorgenommen worden waren. So hatte die Studenten- und Assistentenbewegung bereits vor dem Satzungskonflikt ihre Spuren in der Konstanzer Realität hinterlassen: 1966 waren Mitwirkungsrechte für Studierende eingeführt und im Frühjahr 1968 die Stellung der Assistenten präziser definiert worden (laut Hess seitdem quasi »Assistenzprofessoren«). Wichtige Bestandteile der Gründungskonzeption aber harrten nach sieben Jahren immer noch der Umsetzung. So war die Aufstellung eines Forschungsplans bisher nicht gelungen und die vorgesehenen drei großen Zentren mit Ausnahme jenes in der Bildungsforschung nicht auf
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den Weg gekommen. Dafür waren immerhin drei der neuen und von den Konstanzer wie Bielefelder Gründungsideen ja inspirierten Sonderforschungsbereiche eingerichtet worden, die sich mit der Konstanzer Zentren-Idee weitgehend überschnitten. Auch bei den Fächerschwerpunkten hatte sich manches anders entwickelt als geplant: »Die Spur der ehrgeizigen Absicht, die Sozialwissenschaften zum ausstrahlenden Mittelpunkt der Universität zu machen und sie darum in die Mitte zwischen Naturwissenschaftlicher und Philosophischer Fakultät zu platzieren, ist nur noch im Veranstaltungsverzeichnis erhalten. […] Persönliche Entscheidungen, Missgeschick bei Berufungen, die Entwicklung anderer Fachbereiche in der Fakultät haben dem Gedanken die Durchschlagskraft genommen.«197
Das war ein nicht besonders stark bedauernder Bezug auf Dahrendorfs Pläne von der zentralen Stellung der Erfahrungswissenschaften und dessen raschen Fortgang aus Konstanz. Andere Fächer und Studiengänge hatten sich Hess zufolge dafür positiver als in der ursprünglichen Planung entwickelt oder waren später erst hinzugekommen, etwa das neuartige Verwaltungsstudium im Fachbereich Politikwissenschaft oder die Erprobung einer einphasigen Juristenausbildung. Letztere war wohl ein Friedensangebot der Universität an die gekränkten Rechtswissenschaftler in der Landesregierung und den anderen Landesuniversitäten, deren Vorstellungskraft von einer Universität ohne rechtswissenschaftliche Abschlüsse überfordert gewesen war.198 All diese Modifikationen waren für Hess »Veränderungen in der Linie des Gründungsberichtes«. Zugleich stellte er jedoch fest: »Wer sie allerdings am Maßstab der Utopie misst, wird sie allemal wie den Gründungsbericht selbst unzulänglich finden. Die Utopisten sollten nicht vergessen, dass Universitäten zwar Stätten der theoretischen Reflexion über schlechte, gute und vollkommene Gesellschaftsformen sind, dass sie selbst aber […] nie das Muster für eine Gesellschaftsordnung abgeben, an dem sich die allgemeine Ordnung orientieren könnte.«199
Damit hob Hess als gemäßigter Reformer auf die Lage ab, in der sich Schelsky als Planer schon 1969 und die Konstanzer spätestens in der Konstanzer Krise von 1972 wiederfanden. Nicht nur mussten sie mit einer nach Hess’ Wahrnehmung eigentümlich labilen Generation von Studierenden zurechtkommen zusätzlich fühlten sie sich in die Zange genommen von den »Utopisten«, denen die Reformen nicht weit genug gehen konnten, auf der einen Seite und den »Gegenreformern« wie etwa Hahn oder die im Bund Freiheit der Wissenschaft engagierten auf der anderen, die das Rad der Reform zu weit gedreht sahen. So zeigte Hess’ 197 Hess, Sieben Jahre Universität Konstanz, S. 61. 198 Ebd., S. 82. 199 Ebd., S. 29.
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Bericht vom Frühjahr 1973 bei allem Bemühen um Ausgewogenheit in unterschiedlichen Zusammenhängen doch immer wieder, wie sehr er unter dem Eindruck des Konfliktes vom Vorjahr stand. Die »Konstanzer Krise« schimmerte durch die gesamte Darstellung. Nicht nur beim Rückblick auf die Entwicklung der Universität räumte Hess der Auseinandersetzung um die Satzung in den Jahren 1969–1972 weit mehr Raum ein, als ihr im Verhältnis zur vorangegangenen Zeit von 1959 bis 1969 proportional zugestanden hätte. Offensichtlich wollte er den Eindruck vermeiden, eine Sache unerledigt hingeschmissen zu haben. Für den zurückgetretenen Gründungsrektor war die »natürliche Partnerschaft« zwischen Staat und Hochschule zerbrochen, »wo der Staat seine Abkehr von Konstanz und von Kernstücken seiner Reformkonzeption durch seine Eingriffe bezeugt und den Mut zum Planen nimmt«.200 Zwar bemühte sich Hess, die Frage nach der Wirkung der Reformuniversität am Bodensee zu beantworten und führte sowohl Beispiele von Konstanzer Innovationen an, die sich problemlos auf andere Universitäten übertragen ließen (z. B. Fachbereichsstrukturen, zentrale Verwaltung wissenschaftlicher Stellen, Auflösung von Haushalten der Institute) als auch solche, die vorläufig auf Konstanz begrenzt bleiben mussten, etwa weil sie – wie die zentrale Bibliothek – von der baulichen Struktur der Neugründung abhingen. Er sah keinen Widerspruch darin, manche Innovationen rasch zu übertragen und andere erst weiter zu erproben. Doch äußerte er die Befürchtung, dass die Differenzierung der Hochschullandschaft, für die Konstanz wie Bielefeld nach den Ideen ihrer Gründer ähnliche Bausteine darstellen sollten, als Prinzip insgesamt unter starken Druck geraten war: »Dem Staat ist, nicht zuletzt durch die paradoxe Wirkung einer rebellierenden Studentengeneration, die ihn bekämpfte, eine erhöhte Macht zugeflossen. Diese gegen eine Reform, wie sie Konstanz zu verwirklichen suchte, zu gebrauchen, ist eine falsche Zielrichtung. Der Staat muss sie darauf verwenden, eine Bilanz seiner Bildungspolitik – in Ländern und Bund – zu ziehen, und zu entscheiden, in welchen Formen, an welchen Stätten und in welchen Berufsrichtungen er die Massen von Studenten ausbilden will, denen er, als sie Schüler waren, das Versprechen gegeben hat, dass sie studieren können.«201
Als Ergebnis einer solchen Bilanz hielt es Hess für unausweichlich, dass die Studierendenströme in ein differenziertes Ausbildungssystem gelenkt werden müssten, vermied es aber, in diesem Zusammenhang nochmals die 1967 von Dahrendorf ins Spiel gebrachte Gesamthochschulidee aufzurufen. Dieser Lösungsvorschlag war sechs Jahre nach seiner ersten Skizzierung nämlich – wie auch die Gesamtschule – zum Gegenstand einer nahezu hysterischen Auseinanderset 200 Ebd., S. 83. 201 Ebd., S. 90.
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zung zwischen SPD- und unionsregierten Ländern geworden und, noch bevor er in das erste Hochschulrahmengesetz von 1976 aufgenommen wurde, als Lösung für das gesamte Hochschulsystem in der Bundesrepublik, so gut wie erledigt. Nicht nur Hess hatte 1973 Bedarf, Bilanz zu ziehen. Kaum hatte er sich ausführlich zur Konstanzer Entwicklung zu Wort gemeldet, machte sich auch Dahrendorf, der seine politische Blitzkarriere inzwischen beendet hatte und ins englische Hochschulsystem gewechselt war, an die Aufarbeitung der zurückliegenden Reformzeit in Baden-Württemberg. Zu Konstanz äußerte er sich erstmals am Rande eines Beitrags zum zehnjährigen Amtsjubiläum des in Konstanz nun weithin geächteten Kultusministers Wilhelm Hahn. Darin rekapitulierte Dahrendorf seine Arbeit am Gesamthochschulplan ausführlich und ging nur nebenbei auf das vorangegangene Engagement für die Konstanzer Gründung ein: »Ich habe die politische Schizophrenie der beiden Prozesse, der Konstanzer Planung (als Stellvertretender Vorsitzender des Gründungsausschusses) und der Bildungsplanung (als Stellvertretender Vorsitzender des Beirates für Bildungsplanung und Vorsitzender des Arbeitskreises Hochschulgesamtplan) stärker als andere erlebt und erlitten. Konstanz, der süße Anachronismus, die Vollendung der Humboldtschen Universität durch ihre Widerlegung, […] aber die Dynamik war bereits anderswo, bei den neuen Gymnasiasten […] bei der Gesamthochschule, und jenseits von all diesen Themen, bei Rudi Dutschke vielleicht […] Über die Tragik der anachronistischen Gründung (Wäre sie vielleicht ein halbes Jahrzehnt früher ohne Einschränkung gelungen? Oder ist sie eine der Wirrungen meiner Generation, die noch nicht da war, als sie ihre Träume verwirklichen konnte, und nicht mehr siegen konnte, als die kam?) […] wird vielleicht auch noch einmal zu schreiben sein.«202
Mit diesen fragmentarischen ersten Bemerkungen verlieh Dahrendorf der Konstanzer Entwicklung eine tragische Note. Zugleich weckte er den Anschein, dass das Engagement für diese nunmehr aus der Zeit gefallene Neugründung am Bodensee ihm im Rückblick etwas unangenehm, zumindest aber erklärungsbedürftig erschien. Zum zehnjährigen Jubiläum des Vorlesungsbetriebs am Bodensee baute Dahrendorf zwei Jahre später seine Überlegungen aus und veröffentlichte sie in einem Themenheft der »Konstanzer Blätter für Hochschulfragen« unter dem Titel »Konstanz, ›der süße Anachronismus‹«.203 »Süß« war für Dahrendorf an dem Konstanzer Vorhaben im Rückblick die Idee einer »›Zweidrittelmehrheit‹ der erfahrungswissenschaftlichen Fakultäten« aus Natur- und Sozialwissenschaften und damit »die Logik der Wissenschaften einmal in Institution und Architektur zu fassen, gleichsam das Abstrakteste in äußerster Konkretion zu behandeln«.204 Das »anachronistische« Element benannte er nicht gleichermaßen 202 Dahrendorf, Zur Entstehungsgeschichte des Hochschulgesamtplans, S. 141 f. 203 Dahrendorf, Konstanz, »der süße Anachronismus«. 204 Ebd., S. 18. Auf die LSE als Vorlage seiner Konstanzer Vorschläge verwies Dahrendorf hier erstmals.
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konkret, verwies aber auf fehlende Ausführungen des Gründungsberichtes zur Stellung der Studenten, zu Kosten-Nutzen-Erwägungen sowie zur »Verwendbarkeit frisch erfundener akademischer Grade«.205 Deutlich nahm Dahrendorf außerdem Bezug auf die Alternative zwischen Modell- und Reservat-Charakter der Neugründung, die von Land, Wissenschaftsrat und Gründungsausschuss nie klar beantwortet worden war: »Im Gründungsbericht versuchten wir, mannhaft die Zähne zusammenzubeißen und den Leser davon zu überzeugen, dass Konstanz zwar einerseits etwas Besonderes sein, andererseits aber als Beispiel für andere gelten solle. Da stimmt indes etwas nicht, und die gequälten Argumente verraten es.«206
Schon im ersten Aufbaujahr 1966 und damit noch vor dem Anschwellen der Studentenproteste hätten er und der Kollege Waldemar Besson, der nun verstorben war und seine eigene Version dieser Geschichte nicht mehr darlegen konnte, am Sinn des Konstanzer Projekts gezweifelt. Nach Dahrendorf seien auch Kiesinger Zweifel gekommen und Hahn sei eh nie ein Fan der Konstanzer Ideen gewesen – nur Gründungsrektor Hess habe unverändert an der Idee festgehalten: »Und so geschah es, dass die ›Philosophen‹, deren Zeit-Fühler von derlei Entwicklungen weniger tangiert wurden, die Universität Konstanz zu prägen begannen, die doch in gewisser Weise gegen sie gegründet war.«207
Hier war also Dahrendorf Revanche für Hess’ wohl nicht ganz aufrichtiges Bedauern über die gescheiterte Idee der Erfahrungswissenschaften, die nochmals einen Eindruck davon gab, wie konträr die Auffassungen beider Fraktionen im Gründungsausschuss wohl gewesen waren. Dahrendorfs Fazit zum Zehnjährigen lautete – und das bezog er nicht nur auf seine gescheiterte Idee der Erfahrungswissenschaften –, dass »Konstanz nicht das geworden ist, was seine Gründungsväter sich vorgestellt haben«. Zwar gebe es gute Erfolge vorzuweisen bei der gegliederten Zentralbibliothek oder im Zentrum für Bildungsforschung, das er mit auf den Weg gebracht hatte, aber »die wissenschaftstheoretische Reformidee von Konstanz ist in den Maelstrom der gesellschaftlichen Reformen geraten«.208 Dahrendorf stützte damit die schon von Schelsky und Hess vorgebrachte These, dass es um die weitere Differenzierung des Hochschulsystems Mitte der 1970er Jahre nicht gut bestellt war. Ebenso wie Hess hielt er an der Entscheidung für die Vergrößerung und Diversifizierung der Studierendenschaft gleichwohl als richtig fest In der Summe war es für Dahrendorf bedauerlich, aber auch kein Drama, dass Konstanz 205 Gemeint waren wohl Lizentiat und die Kombination von Habilitation und Promotion. 206 Dahrendorf, Konstanz, »der süße Anachronismus«, S. 18. 207 Ebd. 208 Ebd., S. 22 f.
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zum zehnten Jubiläum das »Hybride, Zwitterhafte, Unscharfe« innewohnte – »Reformkonfetti« lautete seine freundlichste Umschreibung. Was Dahrendorf problematischer fand als den Verlauf der Konstanzer Gründung war ein von ihm konstatiertes »Desinteresse an den Möglichkeiten der Reform« Mitte der 1970er Jahre.209 Auch hier stimmte er mit dem Romanisten Hess überein, der – trotz seiner für Dahrendorfs Eindruck minder fein ausgebildeten »Zeit-Fühler« – ebenfalls einen erneuten Klimawandel in der Hochschulpolitik festgestellt hatte. Um im Bild zu bleiben, war das Reformhoch jetzt einem ausgeprägten Tief gewichen.210 Wo sich die Hochschulpolitik nach kurzer und hochbeschleunigter Zeit des Engagements erschöpft zurückzog, übernahm nach Hess’ Einschätzung die staatliche Hochschulverwaltung nun das Ruder und machte sich an die Detailsteuerung. Nach einer Phase außerordent licher Autonomie der Universitäten in den Nachkriegsjahren, die Schelsky und Hennis 1969 in ihren Streitschriften jedoch retrospektiv als Problem ausgemacht hatten, lautete Mitte der 1970er der Vorwurf, dass man von einem Extrem ins andere gefallen war. Hatte der Staat für Hennis und Schelsky den Hochschulen gegenüber seine Aufgaben vernachlässigt, so übertrieb er es nach Hess’ und Dahrendorfs Wahrnehmung nun. Auf diese Entwicklung der bundesdeutschen Hochschullandschaft schaute Dahrendorf aus London vergleichsweise entspannt. Auch Hess hatte nach sei nem Rückzug in Konstanz ein Angebot aus dem direkt benachbarten Ausland wahrgenommen und wirkte in der Schweiz als Berater für den Ausbau der theologischen Fakultät Luzern zur Universität.211 Weniger gelassen waren hingegen etliche in Konstanz verbliebene Kollegen. Unter ihnen war die Verbitterung über die Ereignisse des Jahres 1972 auch vier Jahre später noch sehr präsent. Zwar konnten sie schwerlich vermeiden, dass Kultusminister und Finanzminister des Landes beim zehnjährigen Hochschuljubiläum 1976 vor Ort sprachen, doch ehren wollte die Universität sie nicht. Im Rahmen der mehrtägigen Jubiläumsfeierlichkeiten verlieh sie lediglich dem Impulsgeber der Gründung, Kurt Georg Kiesinger, die Ehrenbürgerschaft der Universität – die zweite nach Gerhard Hess. Rektor Frieder Naschold brachte bei dieser Gelegenheit die Wahrnehmung auf den Punkt, die an der Universität offenbar weitverbreitet war. Die Universität habe mit Kiesingers Fortgang aus Stuttgart einen Entzug der Unterstützung erfahren, aber nicht verdient, wo sie insbesondere mit Blick auf die Forschung so viele Innovationen wie die Fachbereichsstruktur, die 209 Ebd., S. 22. 210 Hess, Die Gründung der Universität Konstanz, S. 13. 211 Dieses Projekt entwickelte sich allerdings nur schleppend. Erst drei Jahrzehnte nach Hess’ Engagement erfolgte tatsächlich der Ausbau zur Universität Luzern, deren Rektorat für einige Jahre der Soziologe Rudolf Stichweh, vormals Professor an der »Reformuniversität« Bielefeld, übernahm.
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Sonderforschungsbereiche, eine zentrale Forschungsmittelverwaltung oder eine Forschungsberichterstattung vorzuweisen hatte. Diese Innovationen seien heute selbstverständlich und dabei in Vergessenheit geraten, dass es sich mindestens um Konstanzer Erfahrungen, wenn nicht um Erfiondungen handele: »Was am Bodensee verwirklich worden war, verdiente ohne Abstriche die Bezeichnung Reformuniversität.«212 Ihren Beitrag zur Reform war sie zu leisten gewillt, man ließ sie nur nicht mehr – so lautete der trotzige Vorwurf an den Kultusminister. Wilhelm Hahn selbst schrieb weder in der Jubiläumsausgabe der »Konstanzer Blätter« 1976 noch in der Festschrift für den Gründungsrektor 1977 einen Beitrag – die Herausgeber hatten ihn dazu wohl auch nicht eingeladen. Und es half es auch nicht, dass Hahn bei der Jubiläumsfeier in Konstanz im Juni 1976 zu neuer Zusammenarbeit und einer »Atmosphäre des Vertrauens« aufrief.213 Was Hahn an Konstanz anlässlich der Jubiläumsfeier lobte, waren nicht die von Naschold hervorgehobenen Erfolge der Forschungsuniversität, sondern der neue verwaltungswissenschaftliche Studiengang und die Erprobung der einphasigen Juristenausbildung. Ganz explizit schloss er in seiner Ansprache zum Jubiläum aus, was er ja bereits in seinem Gutachten von 1962, als er noch nicht Kultusminister gewesen war, abgelehnt hatte, nämlich die von vielen Konstanzern gewünschte Ausrichtung auf Forschung: »Doch kann das Ziel nicht sein, Konstanz zu einer Forschungsuniversität zu entwickeln. […] Der Beitrag der Universität Konstanz zur Studienreform wird auch künftig ein Gradmesser für die Erfüllung des Reformauftrages sein.«214
Auch der Finanzminister wollte zum Konstanzer Zehnjährigen keine Geschenke verteilen. Nüchtern wies er in seiner Ansprache darauf hin, dass die neuen Flächenrichtwerte eine höhere Belegung des Neubaus erforderlich machten. Waren es bisher noch weniger als die ursprünglich vorgeschlagenen 3.000, nämlich genau 2.751 Studierende in Konstanz, sollten es baldmöglichst wenigstens 4.500 sein.215 Die ursprüngliche Baukonzeption sei aus Gründen angezeigter Sparsamkeit nicht mehr umsetzbar. Nicht nur das Hallenschwimmbad, sondern auch verschiedene zunächst vorgesehene Erweiterungsbauten fielen dem neuen Sparzwang zum Opfer – so die Ankündigung anlässlich der Jubiläumsfeier. Das Verhältnis zwischen den enttäuschten Gründern und einer Landesregierung, die sich eindeutige Notwendigkeiten exekutieren sah, blieb unterkühlt. 212 Ansprache von Frieder Naschold bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Kurt Georg Kiesinger. 213 Hahn, Die Universität hat sich bewährt, S. 52. 214 Ebd. S. 54. 215 Gleichauf, Beschränkung auf das Notwendige, S. 59. Studierendenzahl nach der im Jubiläumsheft der Konstanzer Blätter wiedergegebenen Statistik. Die Zielgröße 6.000 war freilich schon 1974 beschlossen worden, vgl. S. 419.
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Insbesondere Wilhelm Hahn blieb für viele der Neugründer am Bodensee eine unerwünschte Person. Bevor er im Mai 1978 nach 14 Jahren im Amt schließlich nach einer Regierungsumbildung von Hans Filbinger sein Ministerium verlor, legten die enttäuschten Konstanzer nochmals nach. Herbert Nesselhauf, letztes verbliebenes Mitglied des Gründungsausschusses bis zur Emeritierung 1975, gab zusammen mit Hess’ Schüler Hans Robert Jauß unter dem oben bereits erwähnten Titel »Gebremste Reform. Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte« 1977 den ersten umfangreichen Sammelband zur Entwicklung der Konstanzer Universität heraus.216 Der Band versammelte Beiträge zur Gründungsgeschichte der Universität, einzelnen Elementen ihrer Struktur, detaillierte Rekonstruktionen der Satzungskrise zwischen 1969 und 1973 sowie zahlreiche Darstellungen zur Entwicklung der einzelnen Fächer in Konstanz. Den Herausgebern zufolge ging es um »Augenzeugenberichte« aus der Gründungsund Aufbauzeit, die erste Bausteine zur Beantwortung der Frage beitragen sollten, »warum als Ergebnis eines Jahrzehnts der leidenschaftlichsten Anstrengungen die derzeitige Gestalt der Universität herauskam, die niemand, dem es mit der Reform ernst war, so gewollt haben kann« – hier fiel auch das Wort von der »Reformruine« Konstanz.217 Während in den Beiträgen zur Entwicklung und Organisation der Universität Enttäuschung über das Agieren der Landesregierung geäußert wurde, fielen die Bilanzen der einzelnen Fachvertreter über das im Fächeraufbau Erreichte durchaus positiv aus. Insbesondere die Naturwissenschaftler sahen ihre Arbeiten vom Grundordnungskonflikt kaum bedroht und beklagten eher die schleppende Fertigstellung ihrer Gebäude aufgrund von Finanzierungsengpässen. Anlässlich dieser ersten Leistungsbilanz der Professoren bat der 1970 nach Konstanz berufene Philosophieprofessor Jürgen Mittelstraß (*1936) darum, die »Philosophen« – gemeint waren die Vertreter der Geisteswissenschaften – doch ausgewogener zu beurteilen als Dahrendorf es im Vorjahr getan hatte: »So einfach aber, und vor allem so desolat, wie hier dargestellt wird, sind die ›philosophische‹ Verhältnisse nicht. […] Versöhnung über den Gräbern von Historismus und Szientismus ist möglich und darüber hinaus, gerade auch zur Durchsetzung der methodischen Intentionen Dahrendorfs, geboten.«218
Thomas Luckmann (1927–2016), ebenfalls 1970 nach Konstanz berufener Soziologe, richtete sich ebenfalls an Dahrendorf und relativierte die Ansprüche der Soziologie aus der Konstanzer Gründungszeit: 216 Jauß/Nesselhauf, Gebremste Reform. Die Ansprachen bei der Übergabe des Bandes in einer Feierstunde für Hess im April 1977, an der auch Hahn teilnahm und versöhnliche Worte an Hess richtete, sind dokumentiert in: Gerhard Hess zum 70. Geburtstag. 217 Vorwort der Herausgeber, in: Ebd. 218 Mittelstraß, Universitätsreform als Wissenschaftsreform, S. 10.
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»Gewiss, nach ihrem heilswissenschaftlichen Fiasko ist die Soziologie schlechter dran als zuvor: alle Versuche, allgemeine Gesellschaftstheorie zu betreiben, stehen im Missk redit. Dennoch war das Fiasko heilsamer als ein Erfolg: Der Erfolg hätte die Soziologie endgültig um ihre Nüchternheit gebracht«.219
Pointiert lautete Luckmanns Fazit also: Die Erfahrungswissenschaften waren nun um eine Erfahrung reicher und auf Normalmaß zurückgeschrumpft. Dahrendorf reagierte seinerseits auf Mittelstraß’ Versöhnungsangebot mit einer sehr wohlwollenden Rezension des Jubiläumsbandes in der »Zeit«.220 Vom »süßen Anachronismus« und »Reformkonfetti« war jetzt nicht mehr die Rede. An den Grundlinien seiner Bewertung vom Vorjahr hielt er jedoch fest: »Die Gründung wurde alsbald von der Zeit überholt. Sie kam zu spät, um ihre Idee noch durchsetzen zu können. Die Bildungsexpansion mit ihren neuen Ansprüchen an die akademische Lehre, und das Interesse an der sogenannten Demokratisierung beherrschten die Hochschuldiskussion schon als der Gründungsbericht im Jahre 1965 abgeliefert wurde. […] Das neue Thema der Bildungspolitik und die Einwirkung staatlicher Gewalt sind von außen über die Gründung eingefallen.«
Wie schon Hess von »Herrschaft« sprach, so tat es Dahrendorf und fügte noch »Gewalt« hinzu. Die Terminologie der protestierenden Studenten hatten sich auch die gemäßigten Professoren angewöhnt. Zugleich räumte Dahrendorf die Möglichkeit für ein Happy End ein. Die Reformideen in Konstanz seien stark genug für eine Neubelebung unter anderen Umständen. Nachdem im 1977er Zwischenfazit vor allem kritische Stimmen versammelt waren, taten sich kurz darauf diejenigen zusammen, die dem Konstanzer Unterfangen vor allem etwas Positives abgewinnen wollten. Versammelt waren sie im nächsten, ebenfalls fast 500 Seiten starken Zwischenfazit zur Konstanzer Entwicklung, das zum 75sten Geburtstags von Kurt Georg Kiesinger 1979 erschien – zugleich dem Jahr, in dem sich Kiesingers Ankündigung der Universitätsgründung in Konstanz zum zwanzigsten Mal jährte.221 Wie schon im 1977er Band berichteten in dieser Festschrift erneut zahlreiche Fachvertreter von ihren Forschungen in Konstanz. Der entscheidende Unterschied zum vorangegangenen Zwischenfazit der von Nesselhauf und Jauß herausgegebenen Beiträge war aber, dass der einleitende Teil der Festschrift für Kiesinger zu »Strategien einer Universitätsgründung« zum großen Teil aus Beiträgen von Vertretern der staatlichen Seite bestand. Hier kam nicht nur Wilhelm Hahn als ehemaliger Kultusminister zu Wort, sondern gleich auch sein Vorgänger im Amt, Gerhard Storz, und sein Nachfolger Helmut Engler; desweiteren der 219 Luckmann, Soziologie in Konstanz, S. 256. 220 Ralf Dahrendorf, Gebremste Reform. Es war einmal – Ein trauriges Kapitel deutscher Hochschulpolitik, in: Die Zeit, 8.7.1977. Die weiteren Zitate ebd. 221 Sund/Timmermann, Auf den Weg gebracht.
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damalige Amtschef im Kultusministerium Paul Harro Piazolo, der ehemalige »Staatskommissar« Theopont Diez, der frühere Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle und weitere Landespolitiker mehr.222 Die Arbeitsteilung der Beiträger aus dem Kultusministerium sah so aus, dass Hahn sich auf Kiesingers Ehrung als visionärer Impulsgeber beschränkte und seinem Nachfolger im Amt überließ, die aktuellen Herausforderungen in Konstanz zu benennen. Dieser wählte dann in Anbetracht der vorangegangenen Konflikte die vorsichtige Formulierung, dass das von ihm entworfene Programm für den künftigen Ausbau der Universität Konstanz (Verdoppelung der Studentenzahlen, Ausbau neuer Lehramtsstudiengänge, Erweiterungsbauten für Biologie und Physik) bewusst realistisch gehalten worden sei, »damit keine hochgespannten Erwartungen geweckt werden, die nicht erfüllt werden können«.223 Noch einmal wollte man sich nicht »gebremste Reform« vorwerfen lassen. Die Beschreibung der Entwicklung von 1959 bis 1979 aus Landessicht übernahm dann Paul Harro Piazolo (1926–2000). Piazolo war im Kultusministerium von der ersten Minute an mit dem Konstanzer Projekt befasst gewesen, nacheinander als persönlicher Referent von Hahns Vorgänger Gerhard Storz, als zuständiger Referent für die Universitätsgründung in Konstanz, als Leiter der von Hahn 1964 eingerichteten neuen Planungsabteilung und schließlich als Staatssekretär (in Baden-Württemberg Amtschef), als der er 1972 auch die Einsetzung des »Staatskommissars« in Konstanz organisierte und 1973 die begleitende Kommission zur weiteren Entwicklung leitete. Bald nach Vorlage dieses Bandes machte er den Sprung in die Bundespolitik und wurde im ersten Kabinett Helmut Kohls Staatssekretär im Bundesbildungsministerium. P iazolo eröffnete seine Bilanz direkt mit der Feststellung: »Für mich ist Konstanz nachwievor eine Reformuniversität.«224 Bei allen Veränderungen der äußeren Verhältnisse sei »der Kern, das Wesentliche des Reformvorhabens […] nie aufgegeben worden und hat sich auch auf andere Hochschulen ausgewirkt«. Beispiele der erfolgreichen Ausstrahlung waren für Piazolo die Vereinheitlichung und Transparenz des Prüfungswesens, die Einrichtung starker zentraler Einrichtungen wie Zentralbibliothek und Technische Dienste zur Entlastung der Forschenden und Lehrenden, die Überlegungen zur Stärkung von Forschungskooperationen in Zentren, die zur Erfindung der Sonderforschungsbereiche beitrugen, sowie die starke Universitätsspitze. Piazolos zufriedenes Fazit lautete: »Wesentliche Grundgedanken des Gründungsberichtes für die Universität Konstanz sind Allgemeingut im Hochschulbereich geworden.«225 222 Die Frankfurter Allgemeine berichtete über die unterschiedlichen Lesarten der beiden Jubiläumsschriften unter: Die Reform der Reformhochschule, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.1980. 223 Engler, Der weitere Ausbau der Universität Konstanz, S. 37. 224 Piazolo, Zur Entstehung, Gestaltung und Auswirkung einer Reformuniversität, S. 83–93. 225 Ebd., S. 93.
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Die staatliche Seite bemühte sich also, im 1979er Band die positive Entwicklung herauszustellen, und breitete den Mantel des Schweigens über die zurückliegenden Konflikte zwischen Land und Universität. So übernahm es der Konstanzer Jurist Bernd Rüthers (*1930), der Gründungsmitglied des Bund Freiheit der Wissenschaft war, kritischere Töne anzuschlagen. In Abgrenzung vom Titel des 1977er Jubiläumsbandes »Gebremste Reform« überschrieb Rüthers seinen Beitrag nun mit »Geschäumte Reform« und meinte damit eine »überschäumende Reformideologie«.226 Der Begriff »Forschungsuniversität« sei eine »begriffliche Eitelkeit der jungen Universität« gewesen und habe den Reformgedanken selbst gefährdet, indem er an den wahren Problemen der Hochschulreform vorbeiging, womit Rüthers verspätet in den Chor der Kritiker aus Hennis und den Kölner Dekanen an der Bielefelder Idee einstimmte. Wenn es in Konstanz trotzdem Forschungserfolge gebe, so Rüthers, hätten sie eher die Naturwissenschaften und nicht die geisteswissenschaftlichen Beschwerdeführer des 1977er Bandes, wie die namentlich genannten Mittelstraß, Nesselhauf, Jauß, Narr oder Hickel zu verbuchen. Auch »die ferngebliebenen Gründerväter« bekamen von Rüthers für den Umgang mit ihrem »wissenschaftstheoretischen Reißbrettentwurf« nun die Leviten gelesen: »Väter der neuen Universität wollten viele sein. Und jeder hatte noch eine neue, extravagante Idee beizutragen. Aber als es galt, das endlich geborene Kind aufzuziehen, da wandten sich die meisten Ideenspender ab.«227
Mit den Folgen hatte Rüthers, der 1971 einen Ruf nach Konstanz angenommen hatte, offenbar keine gute Erfahrung gemacht. Nachdem er seine ersten vier Berufsjahre als Professor an der Freien Universität Berlin im Zentrum der Studentenproteste verbracht hatte, war er zum einen wohl davon überrascht worden, dass in Konstanz – an der Peripherie von Land und Hochschulsystem – die Konflikte um die Rechte der Studierenden und die Rolle der Universitäten in der Gesellschaftsreform 1971 erst auf ihren Höhepunkt zusteuerten. Zum anderen erlebte er offenbar eine starke Fraktionsbildung unter den Professoren, die die neue Universität aufbauten: »Das neugeborene Kind wurde zur Erziehung in fremde Hände gegeben. Es kam die Generation, die sich selbst als die der ersten Stunde bezeichnete. Mit den arrivierten und eher gesetzten Gründervätern hatte sie naturgemäß wenig gemein. Jetzt war meist Jugend Trumpf. Diese junge Generation von Konstanz sah sich als das im Wesentlichen unabhängige Vollzugsorgan der Gründung.«228 226 Rüthers, Die geschäumte Reform, S. 100. Rüthers legte wenig später ausführlich nach: ders., Universität und Gesellschaft. 227 Ebd., S. 98. 228 Ebd.
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Von diesen Epigonen grenzte sich Rüthers ab. Ohne Namen zu nennen, beschrieb er sie als »eifernder Reformer«, für die unter dem Schlagwort »Reformuniversität« alles neu und anders gemacht werden musste. »Naiv-elitäre Wolkenkuckucksheime« wie die Selbstbeschreibung als »Klein-Harvard am Bodensee« aber auch die »Ideologie der Gleichheit« der universitären Gruppen seien das Ergebnis gewesen, die zu einer »Phase der kalkulierten Konflikte von 1971 bis 1976« führte, die über den Grundordnungskonflikt hinausreichte und beim zehnjährigen Jubiläum ihren Höhepunkt erlebte. Beispiele waren für Rüthers die Wahrnehmung der Universität als Antistaat, inakzeptable Umgangsformen sowie das Paktieren der Universitätsleitung mit extremistischen Studierendenbündnissen. Rüthers vertrat die Meinung, dass die Herausgeber des vorangegangenen Jubiläumsbandes von 1977 das Land für sein Agieren gegenüber der »Reformuniversität« zu Unrecht kritisierten. Überhaupt wollte Rüthers den Begriff »Reform« nicht mehr hören, dem die »Reform-Schulmeister der Nation« eine »pseudo- sakrale Rolle« zugeschrieben hätten.229 Was für ihn am Ende der 1970er Jahre anstand, war eine mühsame Umkehr, die nach seinem Eindruck in Konstanz auch langsam vorankam. Die Universität mache weniger Schlagzeilen in der Presse, das Vertrauen zu Region und Landesregierung wachse wieder. Beleg für die Umkehr war für Rüthers das Experiment mit der einphasigen Juristenausbildung, mit der ein ursprünglich nicht vorgesehener neuer Studiengang erprobt wurde. Im Ausbau der Rechtwissenschaft sah der Rechtswissenschaftler nicht weniger als den »wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der Universität«230. Letztlich erwies sich Rüthers Triumph aber als verfrüht. Das Experiment der einphasigen Juristenausbildung wurde nach Ablaufen der 10jährigen Experimentierphase zu Beginn der 1980er Jahre abgebrochen.231 Fortan war die Juristenausbildung mit erstem und zweitem Staatsexamen wieder bundesweit vorgeschrieben und der davon abweichende Weg musste auch in Konstanz aufgegeben werden. Rüthers Interesse an der Universitätspolitik blieb dennoch erhalten. Im Anschluss an das 15jährige Rektorat Horst Sunds amtierte er als Rektor der Konstanzer Universität von ihrem 25sten bis zum 30sten Jubiläum (1991–1996). Eine weitere Zwischenbilanz über die Entwicklung der Universität und ihr Verhältnis zum Land, wie jene beiden, die in engem Abstand 1977 und 1979 so unterschiedliche Bewertungen der Situation vornahmen, entstand in diesen Jahren seines Rektorats allerdings nicht mehr. Die meisten jung nach Konstanz Berufenen, die Rüthers 1979 als selbstberufene Gründer und Reformer suspekt erschienen, hatten inzwischen die Emeritierung erreicht oder standen kurz davor.232 229 Ebd., S. 95 f. 230 Ebd., S. 104 f. 231 Dazu Stürner, Konstanzer Juristenausbildung, sowie Juristische Fakultät der Universität Konstanz, Einstufige Juristenausbildung. 232 Mit der Fertigstellung des Universitätshauptgebäudes und etwa mit dem Ausscheiden der Aufbaugeneration erschien 1988 nochmals eine voluminöse Bilanz von rund 500 Seiten:
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Bielefelder Zwischenbilanz Das Erinnern und Bilanzieren setzte in Bielefeld später ein als in Konstanz und fiel zunächst weit weniger umfangreich aus. Während zur Neugründung am Bodensee bis zum zehnjährigen Jubiläum bereits vier Publikationen mit Zwischenbilanzen vorlagen, erschien in Bielefeld nach zehn Betriebsjahren die erste Bestandsaufnahme und weitere erst Mitte der 1990er Jahre, als in Konstanz die Welle des Erinnerns bereits abgeebbt war. Der erste Band »Zwischenstation. Universität Bielefeld 1979« war vergleichsweise schmal und in einfacher Ausstattung erstellt worden. Eine Parallele zum Konstanzer Band »Gebremste Reform« von 1977 bestand allerdings darin, dass kein Vertreter der staatlichen Seite – etwa Paul Mikat oder Hermann Lübbe als frühere Vertreter des Kultusministeriums aus der Gründungszeit oder Reimut Jochimsen (SPD) als damals amtierender Wissenschaftsminister – zu Wort kam. Und Schelsky, der seinen »Abschied von der Hochschulpolitik« schon 1969 zum Beginn des ersten Bielefelder Semesters veröffentlicht hatte, steuerte ebenfalls keinen Beitrag zum Jubiläum bei – ein Versuch zur Heilung des Zerwürfnisses scheinen beide Seiten 1979 nicht unternommen zu haben. Als Herausgeber dieser ersten Rückschau aus Universitätsperspektive fungierte schlicht »die Universität«. Rektor Karl Peter Grotemeyer und der Prorektor für Struktur, Planung und Bauangelegenheiten, Dietrich Storbeck, verfassten zwei einleitende Bestandsaufnahmen zur Entwicklung der gesamten Universität, bevor Vertreter der einzelnen Fächer sehr unterschiedliche Beiträge zu ihren Forschungen, zum Aufbau der Fakultäten oder – das allerdings nur sehr am Rande – zur Entwicklung der Lehre und der Studiengänge beisteuerten.233 Storbecks einleitender Beitrag ähnelte in seiner Anlage dem Rechenschaftsbericht, den Hess in Konstanz 1973 vorgelegt hatte. Er rief die Vorgeschichte der Gründung und ihren Ablauf in Erinnerung, berichtete über Standortauswahl und Bauplanung und glich Konzept und Realität miteinander ab.234 Das Fächerspektrum in Bielefeld war mit Ausnahme der Geowissenschaften im Wesentlichen so aufgebaut worden wie geplant. In der Beschränkung auf bestimmte Fächer sah Storbeck nach zehn Jahren Aufbauzeit inzwischen eine Schwierigkeit, da es die Kombinationsmöglichkeiten im Lehramtsstudium und manche Spezialisierungen einschränkte – das »vermindert die Attraktivität der neuen Universität«235. Diese Einschätzung ließ einen Wunsch nach Arrondierung erkennen und betraf vor allem eines jener Merkmale, die Bielefeld von der vorLeibinger/Sund, Zwischenbilanz. Bei Wissenschaftsrat und DFG war die Erinnerung an ihren Einfluss auf die Gründung damals noch präsent, wie die Beiträge des Generalsekretärs des Wissenschaftsrates, Peter Kreyenberg, und des DFG-Präsidenten Hubert Markl zeigten. 233 Etwa Koselleck, Geschichtswissenschaft in Bielefeld. 234 Storbeck, Zehn Jahre Universität Bielefeld. 235 Ebd., S. 24.
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angegangenen Neugründung in Bochum unterschieden und mit Konstanz gemeinsam hatte, nämlich die freiwillige Beschränkung auf bestimmte Fächer, die eine Konzentration und Schwerpunkbildung ermöglichen und gleichzeitig Kosten sparen sollten. Eine von Storbeck beachtlicherweise nur als kosmetisch eingestufte Änderung, die bereits mit der neuen Satzung 1969 vorgenommen wurde, betraf die Gliederung der Fächer in Fakultäten statt in Institute, also beispielsweise Fakultät für Geschichtswissenschaft. Wie sah die Bilanz im zentralen Bereich Forschung aus? Umgesetzt worden waren nach Storbeck die drei Universitätsschwerpunkte Lateinamerikaforschung, Mathematik und Wissenschaftsforschung, genauso wie die Fakultäten sich intern über verschiedene Schwerpunkte verständigt hatten. Auch die zentrale Vergabe eines bestimmten, nicht bezifferten Etats für Forschungsprojekte und eine zugehörige Forschungsdokumentation waren – wie in Konstanz – realisiert worden, ebenso – beides Bielefelder Alleinstellungsmerkmale – der Wechsel von Forschung und Lehre (jedoch mit verdoppeltem Deputat im Lehrjahr) und natürlich das Zentrum für interdisziplinäre Forschung, das dazu beigetraben habe, »den Ruf der Universität Bielefeld schnell international zu verbreiten«.236 Weniger erfolgreich als das ZiF, das – von diesem Lob der Reputationsverbreitung abgesehen – im Jubiläumsband bemerkenswerterweise keinerlei Rolle spielte, beurteilte Storbeck die Anbindung der von ihm als »Großforschungsprojekte« bezeichneten »Schulprojekte« Hartmut von Hentigs, die erst im Anschluss an die erste Konzeptphase hinzugekommen waren. Sie hatten nach Storbecks Bewertung trotz unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zur Universität schnell ihr Eigenleben als selbständig agierende Institutionen entwickelt und fachliche Kontakte zu den Fakultäten der Universität nicht systematisch entwickelt. Etwas selbstkritisch merkte der für Planung zuständige Prorektor an, dass die Schulprojekte von den Fakultäten allerdings auch kaum Impulse dazu hätten empfangen können, weil diese durch ihre eigenen Aufbau- und Reformprobleme vollkommen beansprucht gewesen seien. Doch Storbecks abschließendes Urteil hob nicht auf die Herausforderung des gleichzeitigen Aufbaus ab, sondern lautete, dass eine »Reformuniversität« eben »nicht mit allen möglichen neuen Ansätzen überfrachtet werden sollte«.237 Das war letztlich eine Abwertung Hentigs ambitioniertem Versuch, den Übergang von der Schule zur Hochschule neu zu gestalten. In Sachen Lehre und Studium schickte Storbeck entschuldigend voraus, dass die Studienreform erst kurz nach der Bielefelder Konzeptphase zum großen Thema der Hochschulpolitik geworden sei, immerhin dann aber die Fachbereichskommissionen als Aufbaustäbe der Fakultäten sehr viel mehr beschäftigt
236 Ebd., S. 27. 237 Ebd., S. 26.
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habe als zunächst gedacht. Das war richtig, wenn man die Vorschläge des Wissenschaftsrates zur Studienreform von 1966 zum Maßstab nahm, falsch, wenn man bedenkt, dass der VDS sich schon 1962 diesem Thema ausführlich gewidmet hatte. Zentrale, zum Punkt der Studienreform von Schelsky vorgesehene Vorschläge waren zudem nicht umgesetzt worden, nämlich der strukturelle Numerus clausus und die Studienbetreuungsgruppen. Ersterer war nach Storbeck an den neuen Flächenbelegungsrichtwerten von Bund und Ländern und letztere an den Bielefelder Studierenden selbst gescheitert, die im neuen hochschul politischen Klima kein Interesse an diesen Meister-Schüler-Verhältnissen gezeigt und »quasi als Gegenbild studentische Studiengruppen«238 eingerichtet hätten. Neu hinzugekommen war gegenüber dem ursprünglichen Konzept dafür ein umfangreiches Studienberatungswesen auf verschiedenen Ebenen (Fachschaften, Fachvertreter, Universität), das je nach Bedarf in Anspruch genommen werden konnte, also im Gegensatz zur Idee der Studienbetreuungsgruppen kein verpflichtendes Angebot war. In Sachen rechtlicher Organisationsrahmen konnte Storbeck im Vergleich zum Konstanz, wo der Satzungskonflikt zum Rücktritt des Gründungsrektors und einer länger andauernden Krise im Verhältnis von Land und Universität geführt hatte, für Bielefeld recht gelassen Bilanz ziehen. Hier war die Satzungsarbeit zwischen November 1968 und Februar 1969 in einem »Punktationsausschuss« schnell und erfolgreich erledigt worden, so dass die Neugründung zur Eröffnung des ersten Semesters über eine rechtmäßig vom Land erlassene Satzung verfügte. Diese sah die Besetzung fast aller Universitätsgremien – mit Ausnahme des Rektorats – durch Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studierende im Verhältnis 2:1:1 vor. Storbeck machte allerdings rückblickend eine faktische Drittelparität aus, weil die jeweiligen Professoren, aufgrund von Reisen oder weil sie die Selbstverwaltungsaufgaben nicht ernst nehmen würden, nach seiner Beobachtung häufig nicht vollständig in den Gremien anwesend waren. Insgesamt erweckte Storbecks Zwischenbilanz den Eindruck, dass es wenige offene Baustellen gab, an denen das Bielefelder Gründungskonzept der Idee nach nicht umgesetzt worden war. Dazu zählte für ihn ein Zentrum für Wissenschaft und Praxis und ein Rahmen für freiwilligen Hochschulsport, der in den Worten des Prorektors »nach den hiesigen Erfahrungen, insbesondere in den letzten Jahren, sowohl Ausgleichsfunktion als auch Kommunikationsfunktionen in erheblichem Maße ausfüllen kann«.239 Von den zahlreichen Vorschlägen, die Schelsky in seiner Fortschreibung des Konzeptes im August 1965 festgehalten hatte, war nicht mehr die Rede. Ärgerlich fand Storbeck vor allem, dass der Aufbau der Universität zu langsam voranging und die Politik seit dem Nu 238 Ebd., S. 27 f. 239 Ebd., S. 41.
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merus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1972 ihr Handeln primär an den Quantitäten ausrichtete. Ein einheitlicher Planungsrahmen und einheitliche Organisationsstrukturen würden per Hochschulgesetzgebung nun über alle Hochschulen gelegt werden statt die Idee von Schelskys differenziertem Hochschulsystem aus den frühen 1960er Jahren weiterzuverfolgen. In diese Kerbe schlug auch Rektor Grotemeyer, dessen einleitende Bilanz zum Zehnjährigen in einigen Punkten von der seines Prorektors deutlich abwich.240 Was die ursprünglichen zentralen Ideen Schelskys von der Stärkung der Hochschulforschung, ihrer Schwerpunktausbildung und fachübergreifenden Kooperation anbelangte, war seine Bilanz deutlich kritischer: »Heute – 1979 – ist festzustellen, dass die Universität trotz erheblich ungünstigerer Aufbaubedingungen als geplant zwar erhebliche Forschungsleistungen aufweisen kann, dass aber eine Forschungsintensivierung im Bereich der kooperativen und interdisziplinären Forschung erst in Ansätzen bzw. nur für einen Teil der in Bielefeld betriebenen Forschungsarbeiten erreicht werden konnte. Die angestrebte Schwerpunktplanung mit einer darauf abgestellten Personalplanung wurde niemals realisiert. Auch die in den Strukturmerkmalen geforderte ›Koordination der Forschungsschwerpunkte‹ mit anderen Hochschulen ist verfahrensmäßig nicht umgesetzt worden«.241
Grotemeyer stimmte Storbeck zwar zu, dass immerhin Universitätsschwerpunkte und einzelne Schwerpunkte und Kooperationen in und zwischen den Fakultäten ausgebildet worden seien, aber die grundlegende, Anfang der 1960er Jahre ausgemachte Herausforderung, nämlich die Abwanderung der Forschung aus den Hochschulen und damit eine drohende Trennung in Ausbildungshochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, bestand nach seiner Überzeugung weiterhin. Die Studienreform hatte nach Grotemeyer die Forschungsreform nämlich überrollt. Die Fakultäten hätten sich in der Aufbauphase auf die Studienreform konzentrieren und im Vergleich zu den ursprünglichen Vorstellungen des Gründungsausschusses immense Ausbildungslasten übernehmen müssen: »Die während des Universitätsaufbaus faktisch vollzogene Veränderung der in den Strukturmerkmalen gesetzten Prioritäten ist nicht planmäßig vorgenommen worden […] Die Universität Bielefeld konnte nicht mehr als reine ›Forschungsuniversität‹ aufgebaut werden, sondern als eine ›Forschungs- und Ausbildungsuniversität‹.«242
Tatsächlich hatten die weiteren Steigerungen der Studierendenzahlen die Neugründung Bielefeld schneller erreicht als jene in Konstanz. Während am Bodensee zum zehnjährigen Jubiläum des Lehrbetriebs die ursprünglich einmal avisierte Grenze von 3.000 Studierenden noch nicht überschritten worden war 240 Grotemeyer, Bedingungen und Perspektiven hochschulpolitischer Planung. 241 Ebd., S. 11. 242 Ebd., S. 12.
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(2.751 im Sommersemester 1976), waren es in Bielefeld 1974 im fünften Jahr bereits über 3.000 und im Sommersemester 1979 dann 6.904 Studierende.243 Problematisch war für den Rektor dabei nicht das Wachstum an sich, sondern wie die veränderten Rahmenbedingungen in staatliches Handeln umgesetzt wurden.244 Den Aufbau der Universität in den ersten zehn Jahren hatte er als permanente Planungsunsicherheit erlebt. Die ursprünglich von Mikat postulierte Trennung von Reform- und Entlastungsuniversitäten (Bielefeld versus Bochum) sei weder sinnvoll noch praktisch durchführbar gewesen, doch die dann erfolgte generelle Fixierung auf die quantitativen Aspekte des Ausbildungsbereichs und der Verzicht auf Forschungsplanung sei ebenfalls keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen gewesen. Der Vorwurf des Rektors in der Einleitung des Jubiläumsbandes lautete: »Das Ministerium für Wissenschaft und Forschung bekundete kein Interesse oder war nicht in der Lage, einen Dialog über die weiteren Perspektiven der Universität Bielefeld mit ihren Organen zu führen und auf diese Weise die eigenen Planungshorizonte zu verdeutlichen. An seine Stelle trat ein ›Erlassverfahren‹. […]Enttäuschungen und ein Rückzug aus dem universitätspolitischen Geschäft waren daher bei allen an einer Reformarbeit interessierten Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern unausbleiblich.«245
Grotemeyer beließ es allerdings nicht bei der Kritik der Landesregierung und des Wissenschaftsministeriums, sondern machte auch – und das unterschied seine Bestandsaufnahme von der klaren Schuldzuweisung der Konstanzer Bilanz von 1977 – erhebliche Fehler auf Seiten der neugegründeten Universität aus. Seines Erachtens hätte sich die Universität selbst kritischer mit der veränderten Situation auseinandersetzen müssen, »wurde mit ihr [d. h. der Rede von der Reformuniversität, M. M.] doch der Eindruck erweckt, eine grundlegende Reform des gesamten Wissenschaftssystems ließe sich mittels einiger ›Reforminseln‹ erreichen. Das Problem aber war, wie angesichts verstärkter Ausbildungsbelastungen Reformen in allen Hochschulen durchgeführt werden konnten.«246.
Man hatte in Bielefeld an den genehmigten Strukturmerkmalen weiter festgehalten, statt die neue Herausforderung rechtzeitig anzunehmen, so die Einschätzung des Rektors. Statt beispielsweise das Studiengruppenkonzept zu aktualisieren oder Initiativen zu Forschungsplanung mit Akteuren außerhalb der Universität zu entfalten, habe man eine defensive Argumentationshaltung ver 243 Sowohl das Sonderheft der Konstanzer Blätter zum zehnjährigen Jubiläum 1976 als auch die Zwischenbilanz der Bielefelder Universität von 1979 enthalten einen Anhang mit einigen zentralen Daten zur Entwicklung. 244 Grotemeyer, Bedingungen und Perspektiven hochschulpolitischer Planung, S. 12. 245 Ebd., S. 14. 246 Beide Zitate ebd.
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folgt und sich stets auf die formale Gültigkeit des Gründungskonzeptes berufen. Eine kontinuierliche und gezielte Auseinandersetzung mit dem Gründungskonzept sei dabei verpasst worden. Einen einfachen Ausweg aus der verfahrenen Situation vermochte Grotemeyer zum zehnjährigen Jubiläum nicht aufzuzeigen. Die Gruppenuniversität wollte er jedenfalls nicht als Schuldigen ausmachen, denn argumentative Überzeugung der Betroffenen sah er als unverzichtbar an. Ihm fehlte vielmehr eine offene Diskussion zwischen Staat und Hochschule über normative Zukunftsmodelle und eine vernünftig begründete Neuordnung des Verhältnisses von Forschung und Lehre. Mit Dahrendorf stimmte er in der Diagnose überein, dass dabei an die ursprünglichen Ideen der Bielefelder wie der Konstanzer Gründung nochmals angeknüpft werden könnte: »Für die dringend erforderliche Grundsatzdiskussion über bildungspolitische Perspektiven bieten das Strukturkonzept der Universität Bielefeld und die dahinterstehenden grundsätzlichen Überlegungen nach wie vor fruchtbare Anknüpfungspunkte. Ich bin sicher, dass sie einen interessanten Überschuss an Problemlösungskapazitäten enthalten, den es zu bewahren und über die institutionellen Grenzen hinaus zu nutzen gilt.«247
Allerdings sah der amtierende Rektor als zwingende Voraussetzung dafür an, dass die staatliche Seite ein verändertes Planungsverständnis entwickele und die Hochschulen Bereitschaft zu weiteren Reformanstrengungen und Konzeptdiskussionen zeigten. Voraussetzung für ein erneutes Engagement der Hochschulangehörigen sei neues Vertrauen in das staatliche Handeln.248 Vergleicht man die Bestandsaufnahmen aus beiden Neugründungen zum Zehnjährigen, fällt auf, dass die Leitungen beider Universitäten sich explizit bemühten, die Frage nach der Einlösung der Konzepte zu beantworten und Abweichungen vom ursprünglichen Plan zu begründen. Die Frage der Wirkung über den eigenen Standort hinaus, also die abstrahlenden Effekte der Reformuniversitäten – Erbe hatte im baden-württembergischen Landtag seinerzeit im zeittypischen Überschwang ja von »radioaktiver Reform« gesprochen –, beschäftigte die Konstanzer aber insgesamt stärker als die Bielefelder, da letzteren mit Schelskys Szenario eines differenzierten Hochschulsystems schon in der Konzeptphase quasi der Druck genommen war, als Modell positiv wirken zu müssen.
247 Ebd., S. 16. 248 Wie die Konstanzer 1988 mit Vollendung des Baus und Ausscheiden der Gründer generation einen letzten Sammelband zur Gründungsgeschichte vorlegten, erschienen in Bielefeld umfangreichere bilanzierende Publikationen erst Anfang der 1990er Jahre: Dress u. a., Die humane Universität; Lundgreen, Reformuniversität Bielefeld; Kaufmann/Korff, Soziologie in Bielefeld, sowie zum 40jährigen Jubiläum, zu dem man in Konstanz nur eine Rede Ralf Dahrendorfs publizierte: Asal/Schlak, Was war Bielefeld.
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Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Reformuniversitäten bestand Ende der 1970er Jahre in der Katerstimmung, die unter vielen Akteuren vor Ort herrschte, auch wenn sich heute nicht mehr bestimmen lässt, wie repräsentativ die von melancholisch über wütend bis resignativ reichenden Äußerungen in den Jubiläumsbänden waren. Das Verhältnis der Wissenschaftler und vor allem der Einrichtungsleitungen zu den Landesregierungen und Hochschulpolitikern war an beiden Standorten angespannt, die Aufbaustäbe sahen sich in ihren Erwartungen enttäuscht. Die staatliche Seite wiederum kam auffallend wenig zu Wort. Entweder hielt sie sich mit Bewertungen bewusst zurück oder wurde durch die Universitäten von der Bilanzierung des Erreichten explizit ausgeschlossen. In Konstanz führte der offene Konflikt um die Satzung zu einer auch überregional stärker beachteten Konfliktlage, die offenbar bei einem Teil der Beteiligten das Bedürfnis weckte, das Bild der Ereignisse mit einer eigenen Darstellung zu beeinflussen, wie es mit dem 1979er-Band für Kiesinger dann geschah. Das ganze Projekt Bielefeld verband sich nicht in besonderer Weise mit einem einzelnen Politiker, wie es bei Konstanz mit Kiesinger der Fall war. Überhaupt schien Bielefeld für die Hochschullandschaft in Nordrhein-Westfalen kein solch herausragendes Ereignis wie Konstanz für Baden-Württemberg. Der Wissenschaftsrat, der die erste Neugründungswelle mit angeschoben hatte und Erwartungen an die Innovationswirkung dieser neuen Universitäten zumindest anfangs noch unterstützt hatte, hüllte sich zu den ersten Jubiläen in Schweigen. Er bilanzierte erst 1980, worauf im abschließenden Kapitel zurückzukommen ist.
6. Ausblick: Gründerzeiten nach Konstanz und Bielefeld
Wie entwickelte sich die Hochschullandschaft nach der Gründung von Konstanz und Bielefeld weiter? Welche mit den Reformuniversitäten verbundenen Ideen wurden in den folgenden Jahren erneut aufgegriffen und was wurde langfristig aus der Idee von Reformuniversitäten und Reform durch Neugründung?
6.1 Neugründungen bis zum Ende der 1980er Jahre: Fixierung auf Quantitäten Die Hochschullandschaft, in der Konstanz und Bielefeld ursprünglich eine besondere Position mit mehr oder weniger abstrahlender Wirkung einnehmen wollten, erweiterte und veränderte sich im ersten Jahrzehnt des Aufbaus der beiden Universitätsneugründungen bereits erheblich. Eine Fülle von neuen Hochschulen wurde gegründet, die die anfangs vielbeachteten Projekte am Bodensee und in Ostwestfalen ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend in den Hintergrund drängten. Zunächst war es das Projekt der Gesamthochschulen, das die Aufmerksamkeit der Hochschulpolitik ab dem Sommer 1967 auf sich zog. Mit seiner Ausrichtung auf die Ausbildungsseite der Universität zielte es darauf ab, nicht nur neue Kurzstudiengänge einzuführen, sondenr auch Studienangebote hochschultypenübergreifend und standortübergreifend abzustimmen, was bis zur Fusionen von unterschiedlichen Hochschulen in auch ortsverteilten Gesamthochschulen reichen sollte. Auch die Neugründungen in Bielefeld und Konstanz schienen sich zunächst diesem neuen und sehr komplexen Szenario anpassen zu müssen, nachdem der Wissenschaftsrat die »inhaltlich differenzierte, aber organisatorisch integrierte Gesamthochschule« 1970 zur neuen Wunschlösung deklariert hatte. Erste Vorschläge für die Integration der beiden Neugründungen in eine Gesamthochschullandschaft wurden in Konstanz und Bielefeld aus eigenen Stücken erarbeitet.1 Doch diese Ideen kamen nicht zur Umsetzung. 1 Hess/Schneider, Die integrierte Gesamthochschule Konstanz sowie Universität Bielefeld, Universität Bielefeld. Aufbauplan II. Mit Herbert Nesselhauff und Karl-Peter Grotemeyer waren zwei Mitglieder der Neugründungen im Wissenschaftsrat an den Empfehlungen zum Gesamthochschulbereich beteiligt, was die schnelle Reaktion der Neugründungen auf die neue Lage sicher erleichterte, dazu Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 174 ff.
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Ausblick Ausblick
Während Baden-Württemberg seine Gesamthochschulplanung, die vom ursprünglichen Dahrendorf-Plan von 1967 deutlich abwich, Anfang der 1970er Jahre zwar fertigstellte, dann aber nur halbherzig weiterentwickelte und schrittweise wieder aufgab, verfolgte Nordrhein-Westfalen unter dem Wissenschaftsminister Johannes Rau (1931–2006) die Gesamthochschulidee anfangs besonders ehrgeizig, gründete sechs neue Gesamthochschulen, gab jedoch die Integration der bestehenden und neugegründeten Universitäten in eine Gesamthochschullandschaft nach kurzer Zeit auf. So blieb Bielefeld der Umbau der gerade erst eröffneten Universität zu einer Gesamthochschule erspart, jedoch musste die Universität zwischen 1978 und 1980 die vor Ort bereits bestehende Pädagogische Hochschule integrieren, da die gesamte Lehrerausbildung auch unterhalb der Gymnasien nun – wie ab Anfang der 1970er Jahre in fast allen Bundesländern – an die Universitäten verlegt wurde. Nur Baden-Württemberg verfolgte diesbezüglich einen Sonderweg und behielt seine Pädagogischen Hochschulen bei, so dass es in Konstanz weder zur Integration einer pädagogischen noch zur Fusion mit einer Fachhochschule kam. Auch dieser Unterschied trug dazu bei, dass sich die Studierendenzahlen in Konstanzer langsamer erhöhten als in Bielefeld. Parallel zur Debatte um Gesamthochschulen wurde in der Bundesrepublik ab 1969 ein Fachhochschulsektor ausgebaut, in dem Ingenieurschulen und weitere höhere Fachschulen zusammengefasst und durch Neugründungen von Hochschulen dieses Typs ergänzt wurden.2 Die Fachhochschulen unterschieden sich von den Universitäten in ihrem Studienangebot und in den Anforderung an ihre Lehrenden. Die Forschung und insbesondere Grundlagenforschung stand zunächst nicht im Zentrum ihres Selbstverständnisses, so dass sie in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens kein Promotionsrecht erhielten. Ursprünglich sollten die im Juli 1968 – ein Jahr nach Vorlage des Dahrendorf-Plans und mitten in den Studentenunruhen, den sich damals auch die Ingenieurstudenten an ihren Fachschulen angeschlossen hatten – von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossene Begründung der Fachhochschulen ein Übergangsphänomen sein, bis sie in die neuen Gesamthochschulen integriert würden. Nachdem der Konsens der Bildungspolitik über die Gesamthochschulen Anfang der 1970er Jahre jedoch zerfiel, verfestigten sich die Strukturen der neuen Fachhochschulen. Trotz neuer Gesamthochschulen und Fachhochschulen kam das Universitätsgründen in den 1970er Jahren nicht aus der Mode.3 Die zweite Gründungswelle begann 1969/70. Den Anfang machte Rheinland-Pfalz mit der ortsverteilten Universitätsgründung in Trier und Kaiserslautern. Bis dahin hatte das Land nur die eine von den französischen Besatzern gegründeten Universität Mainz. Der Doppelgründung Trier-Kaiserslautern attestierte CDU-Minis 2 Für Nordrhein-Westfalen dazu: Mayer, Bildungspotential. 3 Eine Chronologie der Gründungen und Aufwertungen zu Universitäten bei Rüegg, Geschichte der Universität in Europa, S. 510 ff.
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terpräsident Helmut Kohl (*1930) in einem Memorandum bundesweite Bedeutung, weil mit ihr bewiesen würde, dass innerhalb kurzer Zeit sehr wohl viele neue Studienplätze geschaffen werden könnten. Statt langen Diskussionen über Reformen also wirksame Handlungen, so lautete der Anspruch.4 Nur 15 Monate, so rechnete Kultusminister Bernhard Vogel (*1932) stolz vor, waren bei dieser Universitätsneugründung vom Gründungsbeschluss bis zum Beginn des ersten Semesters vergangen. Gerade im Vergleich zu Konstanz und Bielefeld, wo man sieben bzw. fünf Jahre benötigt hatte, war das tatsächlich enorm schnell, erklärte sich aber eben auch daraus, dass es sich nicht mehr um Gründungen handelte, denen jeweils eine Grundsatzdiskussion über Reformen vorangegangen war. Noch schneller allerdings war es in den Nachkriegsjahren gegangen, als die Neugründungen etwa in Mainz und in Berlin (FU) binnen weniger Monate ihren Betrieb unter schwierigsten Bedingungen und direkt mit hohen Studierendenzahlen aufgenommen hatten. Wie Rheinland-Pfalz mit der Gründung von Trier-Kaiserslautern, so verfuhren am Beginn der 1970er Jahre noch weitere Bundesländer. Nachdem die Große Koalition auf Bundesebene im Mai 1969 das Grundgesetz geändert hatte, war nach langjährigen Verhandlungen eine neue Basis für das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bildungs- und Hochschulbereich ermöglicht worden. Anfang 1970 konnte deshalb das sogenannte Hochschulbauförderungsgesetz in Kraft treten, das die gemeinsame Finanzierung des Hochschulaus- und -neubaus durch Bund und Länder in neuer Weise möglich machte.5 Bayern baute daraufhin unter dem 1970 neu ins Amt gekommenen Kultusminister Hans Maier (*1931) bestehende Hochschulen in Augsburg, Bayreuth, Bamberg, Eichstätt und Passau zu Universitäten aus und brachte die Hochschulausbildung in die Fläche, ebenso Niedersachsen, wo Peter von Oertzen (1924–2008), der im gleichen Jahr SPD-Kultusminister wurde, auf bestehenden Pädagogischen Hochschulen in Oldenburg, Osnabrück und Hildesheim Universitäten gründen ließ.6 Jede der neuen Universitäten konkurrierte um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit – nicht nur der akademischen. Dies traf insbesondere für Bremen zu, wo es nach über zwanzig Jahren Vorbereitungen erst in Folge der neuen Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe endlich gelang, die U niversitätsgründung 4 Helmut Kohls Geleitwort in: Ministerium für Unterricht und Kultus, Universitätsgründung Trier-Kaiserslautern. 5 Das Gesetz wurde 2006 im Zuge der sogenannten Föderalismusreform wieder abgeschafft, was nach kurzer Zeit den Zustand der 1960er Jahre wieder herbeiführte, nachdem manche Länder in der Lage waren, ihre Hochschulbauten adäquat zu erhalten und zu ergänzen und andere nun nicht mehr. Eine erneute Änderung des Grundgesetzes, in Richtung des Zustandes von 1969 bis 2006 wurde im Dezember 2014 durchgeführt, ohne dass aber für den Sanierungsstau im Hochschulbau direkt auch eine Lösung verabredet wurde. 6 Oldenburg nahm als einzige der Nachkriegsneugründungen einen Namen an und sorgte damit für langjährige Auseinandersetzung: Rheude, Kalter Krieg um Ossietzky.
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auch in die Tat umzusetzen. Allerdings erregte die Hansestadt nun Aufsehen mit einem – je nach Beobachtungsstandpunkt – gesellschaftspolitischen Reformoder Revolutionsprojekt. Nachdem die Universitäten seit Ende der 1950er Jahre eine doppelte Demokratisierung erlebt hatte, zunächst mit der Eröffnung eines breiten Zugangs ab Anfang der 1960er und dann mit der Beteiligung aller »Gruppen« der Universität an ihrer Selbstverwaltung ab Ende der 1960er, schien Bremen mit seiner Neugründung einen weiteren Schritt zu gehen und die Gesellschaft durch die Universität hindurch umzubauen. 1971 eröffnete die neue Universität Bremen, die statt Rothes Plan einer Erziehung- und Bildungsuniversität in den Augen mancher Kritiker eine »rote Kaderschmiede« war, die Erziehung politischer Art betrieb und den Gesellschaftsumsturz vorbereiten half. Diese Auseinandersetzungen können hier allerdings nicht weiter verfolgt werden.7 Um das Bild der Neugründungen aber zu vervollständigen, sind zwei neue Hochschultypen noch zu nennen. 1972/73 wurden Bundeswehr-Hochschulen, später Universitäten, in Hamburg und München gegründet, als Ergebnis einer Neuorganisation der Bildung und Ausbildung für die Streitkräfte, die 1970 der sozialdemokratische Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt (1918–2015) angestoßen hatte.8 Und Ende 1974 gründete Nordrhein-Westfalen nach den Gesamthochschulen in Hagen, teils nach dem Muster der 1969 in England entstandenen Open University, auch noch die erste und einzige staatliche Fern-Universität in der Bundesrepublik. Mit diesen Projekten der 1970er Jahre lief der Boom der staatlichen Hochschulgründungen in der Bundesrepublik langsam aus. 1980 zog der Wissenschaftsrat, der die Ausbau- und Neugründungswelle 1960 angestoßen hatte, nach zwanzig Jahren Universitätsgründungen eine Bilanz. Er zählte dabei 18 neue Universitäten und 6 neue bzw. noch als solche bezeichnete Gesamthochschulen seit 1960.9 Das Beratungsgremium, das nun in seinen Reihen weder auf wissenschaftlicher noch auf politischer Seite noch Mitglieder hatte, die die Neugründungsempfehlungen 1960 angestoßen hatten, rekonstruierte als Beweggründe für die Hochschulneugründungen der zurückliegenden beiden Dekaden Bildungsbeteiligung, forschungs- und regionalpolitische Motive. Mit Blick auf den ursprünglichen Reformimpetus der Neugründungen Konstanz und Bielefeld formulierte man diplomatisch: 7 Darstellung aus Sicht des Gründungsrektors: Vring, Hochschulreform in Bremen. Zur zeitgenössischen Presseberichterstattung: Griesche, Die Bremer Hochschulreform und die Presse. Zum Vergleich der Bremer Gründung mit denen in Konstanz und Bielefeld in gesellschaftspolitischer Hinsicht siehe Rudloff, Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens. 8 Dazu Ellwein/von Müller/Plander, Hochschule der Bundeswehr. 9 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zum Ausbaustand. Nicht alle neuen Hochschulen wurden hier mitgezählt, etwa die beiden der Bundeswehr. Auch die Fachhochschulen wurden in dieser Untersuchung erstaunlicherweise nicht berücksichtigt.
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»Dagegen kommt den verschiedenen hochschulreformerischen Zielsetzungen ein im Einzelfall unterschiedliches Gewicht zu. Auch haben sich die Zielsetzungen und ihre Akzentuierung in der Zeit des Aufbaus der Hochschulen oft verändert. So erhielt die bildungspolitische Zielsetzung der raschen Erweiterung der Ausbildungskapazitäten während der Einrichtung der Universitäten Konstanz und Bielefeld eine zunehmende Bedeutung.«10
Diese Bilanz des Wissenschaftsrates deckte sich mit den Zwischenbilanzen der Neugründer aus den späten 1970er Jahren, die ihre Projekte von den Entwicklungen vorläufig überholt sahen. »Reform durch Neugründung« war als Motiv am Anfang der 1980er Jahre offenbar eine abwegige Vorstellung. Die Beurteilung der Neugründungen und die Bilanzierung der jeweils verfolgten Zielsetzung wurden vom Wissenschaftsrat gar nicht weiter vertieft, weil sich die Rahmenbedingungen eben verändert hatten.11 Zunächst hatte das NC-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1972 die bestmögliche Ausnutzung aller verfügbaren Hochschulkapazitäten und damit eine Fokussierung auf die Quantitäten erzwungen. Als die Kultusministerkonferenz 1977/78 ihren sogenannten Öffnungsbeschluss fasste, der eine noch höhere Auslastung der Hochschulen ermöglichte – in der Annahme oder zumindest der Hoffnung, dieser Bedarf sei vorübergehend – wurde diese Tendenz verstärkt. So konzentrierte sich die Bilanz von 1980 vollkommen auf die quantitativen Aspekte, also den Beitrag der Neugründungen zur Erweiterung der Kapazitäten. Hierin lag nun rückblickend das unstrittige Hauptziel der Neugründungen, während 1960 noch eine prominente Fraktion die Reformen als große Chance der Neugründungen in den Vordergrund gerückt hatte, um von ihnen aus auch die bestehenden Hochschulen auf Trab und zu Veränderungen ihrer Strukturen und Aufgabenwahrnehmung zu bringen. Für sich genommen waren die quantitativen Ergebnisse, die der Wissenschaftsrat jetzt zusammentrug, durchaus beeindruckend. Zum Wintersemester 1979/80 boten die Universitäts- und Gesamthochschulneugründungen insgesamt rund 130.000 Studienplätze, was einem Viertel aller damaligen Studienplätze entsprach. Diese waren freilich, da Ausbau und Nachfrage seit den 1960er Jahren nicht mehr in Deckung gebracht werden konnten, überbelegt. Bei dieser Überbelegung wichen die neuen Hochschulen deutlich von den alten ab. An den bestehenden Universitäten belegten nämlich 760.000 Studierende die 535.000 rechnerisch vorhandenen Studienplätze, an den Gesamthochschulen 50.000 Studierende die 35.000 bestehenden Studienplätze; an den neuen Universitäten dagegen standen 100.000 Studierende rund 98.000 Studienplätzen gegenüber – das Verhältnis war dort also fast ausgeglichen, wobei große Unterschiede zwischen den einzelnen Standorten bestanden. Diese Auslastungsunterschiede hingen mit dem 10 Ebd., S. 10. 11 Ebd., S. 8.
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Einzugsgebiet der Hochschulen, ihrem Fächerangebot und auch ihrer räumlichen Ausstattung zusammen. Aus Sicht des Wissenschaftsrates am schlechtesten schnitten in Sachen Auslastung die ersten Neugründungen der 1960er Jahre ab, die auf der grünen Wiese aufgebaut worden waren. Konstanz war mit seinen 3.200 Studierenden nach den 1980 geltenden Ausnutzungsvorgaben der vorhandenen Flächen nur zu 57 Prozent ausgelastet – ein Wert, den keine bundesdeutsche Universität damals unterschreiten konnte –, Bielefeld lag mit 7.400 Studierenden zwar weit über den ursprünglich einmal ausgegebenen 3.000, war aber nach geltender Vermessung des Gebäudes eben auch nur zu 69 Prozent »befüllt«.12 Deutlich beengter im Sinne der Flächenrichtwerte, nach denen die Bilanz des Wissenschaftsrates jetzt alles beurteilte, war das Studieren in allen Ballungsräumen, etwa in Bonn oder Berlin (FU), wo mit Belegungsquoten von 195 Prozent Spitzenwerte gemessen wurden. Wer in Konstanz in den 1970er Jahren beispielsweise Romanistik studierte, traf nur auf höchstens 50 Kommilitonen, in Politik- und Sozialwissenschaften auf etwa 400. Ähnlich war es in Bielefeld, wo die Statistik bis Ende der 1970er Jahre keine 100 Studierenden in der Geschichtswissenschaft zählte, aber jeweils über 1.000 in Politik- und Sozialwissenschaften bzw. Rechtswissenschaft. Innerhalb der zusammengefassten Gruppe Naturwissenschaften und Mathematik war es in Konstanz die Biologie, die mit 300 Studierenden schließlich am besten ausgelastet war, in Bielefeld die Mathematik für rund 400, was den jeweils in den Gründungskonzeptionen festgelegten Schwerpunkten entsprach. Wer sich gut informierte, konnte im überbelegten deutschen Hochschulsystem also 1980 durchaus noch überschaubare Studienorte und -fächer finden. Während der Wissenschaftsrat für Konstanz und ähnliche Neugründungen »in einer geographischen Randlage« und mit geringer Fächerbreite erhebliche »Auslastungsschwierigkeiten« diagnostizierte, dürfte dies vor Ort doch positiver erlebt worden sein – schließlich entsprach die Unterauslastung – zumindest im Konstanzer Fall – ja dem in den frühen 1960er Jahren vom Wissenschaftsrat noch selbst gewollten Größenziel. Ein Konstanzer Romanist oder ein Bielefelder Historiker konnte sich, wenn er intensiv Forschung betreiben wollte, über diese schlechten Auslastungsquoten seines Fachs durchaus freuen und eine gute Forschungsbibliothek stand ihm als Geisteswissenschaftler zur Verfügung. Bei aller Konzeptarbeit an neuen Studiengängen und Aufbauarbeiten dürfte in Anbetracht der vergleichsweise geringen Studierendenzahlen also in diesen Fächern durchaus Zeit verblieben sein, um eigenen Forschungsfragen nachzugehen. Was schlug der Wissenschaftsrat 1980 auf Basis seiner Auswertungen mit Blick auf die Neugründungen vor? Ihre Auslastung sollte den politischen Maßgaben 12 Ebd., S. 15 und 23 ff. Detaillierte Angaben zur Belegung der einzelnen Studiengänge an beiden Standorten siehe Wissenschaftsrat, Stellungnahme zum Ausbaustand S. 64 ff. und S. 131 ff.
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entsprechend natürlich erhöht werden mit Hilfe eines breiteren Fächerangebots, guter Berufungen zur Erhöhung der Reputation, einer besseren Abstimmung der Angebote auf die Region, gezielter Öffentlichkeitsarbeit und Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen. Unter Infrastruktur verstand man dabei bemerkenswerterweise Studentenwohnheime, Hochschulsporteinrichtungen, Gästehäuser und Mensen, also allesamt »soziale Aspekte«, die die Gründungsausschüsse in Konstanz und Bielefeld kaum bis gar nicht interessiert hatten. Diese Bemerkungen zu Rahmenbedingungen der Forschung und des sozialen Lebens an den Neugründungen standen aber eben nicht im Vordergrund der Bilanz, sondern Quantitäten waren jetzt alles. Auch in der »Deutschen Universitätszeitung«, wo vom Fazit des Wissenschaftsrats ausführlich berichtet wurde, ergab man sich der geschilderten Lage und bemerkte nur konsterniert, es seien eben »die Reformansätze durch die sprunghaft gestiegene Zahl der Studierenden völlig in den Hintergrund getreten«.13 Man hoffte auf die frühen 1990er Jahre, in denen der Ansturm auf die Universitäten nachlassen würde – eine trügerische Hoffnung, aber ein auch damals schon seit vielen Jahrzehnten etabliertes Reaktionsmuster.
6.2 Mehr »Princeton«: Das ZiF bekommt erlesene Gesellschaft Die Bilanz der Neugründungswelle der 1960er und 1970er Jahre hatte der Wissenschaftsrat 1980 ganz auf die Quantitäten der bereitgestellten Studienplätze ausgerichtet. Weitere Neugründungen schienen in Anbetracht der Haushaltslage und der vergleichsweise geringen Auslastung der Neugründungen einstweilen nicht mehr empfehlenswert. Der Rat hatte mit dem Aufgreifen der Dahrendorfschen Gesamthochschulpläne zudem Schiffbruch erlitten und die Reformeuphorie sich allgemein verflüchtigt. Was in der 1980er-Bilanz allerdings nicht thematisiert wurde, waren kleinere Versuche, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre jenseits der neu eingeführten Sonderforschungsbereiche auch individuelle Forschungsfreiräume zu eröffnen, die man in Konstanz und Bielefeld noch den Mitgliedern ganzer Universitäten zugedacht hatte. Auf der Suche nach solchen Forschungsfreiräumen in den Geisteswissenschaften machten sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Reihe von Akteuren daran, den Traum vom deutschen Princeton nochmals aufzunehmen, der ja seit Karsens Idee von 1947 für die Zukunft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft durch die westdeutsche Wissenschaftslandschaft geisterte, im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrats 1960/61 kurzzeitig diskutiert worden war und dann von Schelsky und Mitstreitern auf Anregung der Stiftung Volkswagenwerk 1963/64 wieder aufgegriffen worden war. Das aus diesen Vorarbeiten schließlich hervorgegangene 13 Boppel, Der Stolz der sechziger Jahre.
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Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF), das fächergrenzenübergreifende Forschung in einem geschützten Rahmen außerhalb, aber an eine Universität angeschlossen bot, fand in der Folge weitere Nachahmung. Ziemlich genau zehn Jahre nach Schelskys Beteiligung an den Überlegungen der Stiftung Volkswagenwerk kam es zum zweiten Anlauf, der am Ende der 1970er Jahre schließlich Züge eines Wettbewerbs entwickelte. 1973 schlug Rainer Lepsius, der 1961 den Ausbau der Politologie und Soziologie für die Deutsche Forschungsgemeinschaft untersucht hatte, bei deren Jahresversammlung die Gründung einer »Max-Weber Gesellschaft« vor. Damit hatte er zwar den falschen Akteur gewählt, da die DFG keine Institutionen gründen wollte.14 Doch die Idee als solche fand Gefallen. Seit 1974 zirkulierten im Stifterverband zudem Überlegungen zur verstärkten Förderung der Geisteswissenschaften mit einem »Modell Princeton« und parallel entwickelte Harald Weinrich, einer der ersten Direktoren des ZiF und für dessen Aufbau auch zu einer Erkundungsreise von Institutes of Advanced Studies in den USA gewesen, für die Thyssen Stiftung das Konzept für ein »Deutsches Wissenschaftskolleg«.15 Die Ideen des Stifterverbandes wurden dabei beflügelt vom Angebot der Deutschen Bank, eine größere Summe ihres Stiftungsfonds für Elitenförderung in den Geisteswissenschaften zu investieren. Wer half, die Idee zu konkretisieren? Als DFG-Vizepräsident wurde zu entsprechenden Vorgesprächen im Stifterverband 1974 zunächst Herbert Nesselhauf hinzugezogen, der sich ja in Konstanz seit der Mitgliedschaft im Gründungsausschuss und bis zur Emeritierung im Folgejahr noch für eine fachgrenzenübergreifende Kooperation einsetzte. Bei den weiteren Planungen trafen dann noch mehr alte Bekannte zusammen, die teils die Konstanzer Planungen mit angeschoben hatten. Die »Projektgruppe Princeton« des Stifterverbandes umfasste Winfried Schulze zufolge den früheren Vorsitzenden des Wissenschaftsrates Helmut Coing, inzwischen Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Rudolf Vierhaus als Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte, den ehemaligen Konstanzer Rektor Gerhard Hess und dessen Nachfolger als DFG-Präsident von 1964–1973, J ulius Speer. Auch der frühere Bielefelder Mitgründer Hermann Lübbe, der nach Schelskys Fortgang von der Universität Bielefeld Anfang der 1970er Jahre an die Universität Zürich gewechselt war, kam dazu. Den Namen »Historisches Kolleg« brachte offenbar Gerhard A. Ritter (1929–2015) ins Gespräch, als eine Fokussierung auf die Geschichtswissenschaft sich abzeichnete, die dem Stifterver 14 Der Titel fand später doppelte Verwendung: Ein Kolleg an der Universität Erfurt wurde 1994 nach ihm benannt und 2012 wurde die Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland um den Zusatz Max-Weber-Stiftung ergänzt. 15 Die folgenden Informationen nach Schulze, Der Stifterverband, S. 264–273. Kurz zur Entstehungsgeschichte auch: Gall, 25 Jahre Historisches Kolleg.
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band auch handhabbarer schien als ein Bedienen aller Geisteswissenschaften. Die parallel in der Thyssen Stiftung verfolgten Planungen bezogen sich nicht auf den Sehnsuchtsort Princeton, sondern auf Anregung Harald Weinrichs auf das Collège de France in Paris, das Coing 1960 schon im Neugründungsausschuss des Wissenschaftsrates als nachahmenswertes Modell vorgeschlagen hatte. Sowohl Stifterverband als auch Thyssen Stiftung ging es darum, »große Forscherpersönlichkeiten« zu fördern und ihnen Zeit für die Arbeit an Monogra phien zu geben, die an den Universitäten knapper geworden war, seitdem dort viel mehr Studierende und nur noch die wenigsten zu Wissenschaftlern ausgebildet werden wollten. In den Planungsdiskussionen tauchten dabei ähnliche Argumente wie 1963/64 auf. Man machte sich etwa Sorgen, ob die Kultusminister in Anbetracht der Überlastung der Universitäten führende Forscher zeitweise von der Lehre freistellen würden – Schelsky hatte das entsprechende Feedback auf seine Vorschläge 1964 als »Fluchthilfe-Argument« bezeichnet. Nach der Diskussion verschiedener kleinerer und größerer Kollegmodelle kam 1977 offenbar der Punkt, an dem Alfred Herrhausen (1930–1989) für den Geldgeber Deutsche Bank von den munter diskutierenden Geisteswissenschaftlern nach drei Jahren auch einmal ein Ergebnis sehen wollte. So kam es beim Stifterverband zur Entscheidung für die kleine, auf die Geschichtswissenschaft beschränkte Variante. Das Historische Kolleg nahm im Herbst 1980 in München die Arbeit auf und ermöglichte Stipendiaten auf ein Jahr, ein größeres Forschungsprojekt zu bearbeiten. Das Bielefelder ZiF mit seinen fachgrenzen-übergreifenden, themenbezogenen Arbeitsgruppen und weiteren Kooperationsformaten wurde somit ergänzt um eine Variante zur Förderung geisteswissenschaftlicher Individualforschung, die zuerst Killy bereits 1963 der Volkswagenstiftung vorgeschlagen hatte, die dort aber keine Zustimmung des Kuratoriums gefunden hatte, so dass Schelsky seine mit Killys damals konkurrierende und auf gemeinsame interdisziplinäre Forschung ausgerichtete Idee im Rahmen der Universitätsneugründung in Bielefeld hatte umsetzen können. Zwischen den beiden Einrichtungen ZiF und Historisches Kolleg entstand als dritte Variante kurz darauf das Wissenschaftskolleg in Berlin, das, so wie das Münchner Kolleg, nicht fest mit einer Universität verbunden wurde. Der damalige Berliner SPD-Wissenschaftssenator Peter Glotz (1939–2005) fasste 1978 den Entschluss, die Wissenschaftslandschaft der Hauptstadt in Wartestellung, die mit Subventionen aus Westdeutschland auch kulturell und wissenschaftlich unterstützt wurde, um ein Institute for Advanced Studies zu bereichern, so wie es München als heimlicher Hauptstadt aus süddeutscher Perspektive gerade mit Hilfe der Deutschen Bank zugefallen war. Seitdem die Berliner Universitäten in vielen Fachbereichen zu politischen Unruheherden geworden waren, schien man der für förderungswürdig befundenen Forschung lieber separate Orte zuweisen zu wollen. So hatte die Berliner Wissenschaftspolitik 1969 das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) als außer-
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universitäres Forschungszentrum der Sozialwissenschaften geschaffen, kurz nachdem die Förderung dieser Fächer in Konstanz und Bielefeld nicht in ursprünglich vorgesehenem Maße und auch nur ohne die konzeptionierenden Soziologen Dahrendorf und Schelsky hatte erfolgen können. Zehn Jahre später folgte in Berlin ein weiterer Versuch, die geisteswissenschaftliche Forschung etwas außerhalb der Universitäten zu stärken, eben das Berliner Wissenschaftskolleg (WiKo). Zwischen dem Berliner Wissenschaftskolleg und der nun 25 Jahre zurück liegenden Diskussion um Kollegienhäuser ergab sich in Berlin eine merkwürdige Verbindung. Auf Hinweis von Hellmut Becker vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin gewann Glotz den Mediävisten Peter Wapnewski, der 1969 wie viele andere Professoren – etwa Rüthers in Konstanz – vor den Berliner Studentenunruhen in die Provinz geflohen war und seitdem an der TH Karlsruhe lehrte.16 Im Herbst 1978 bot Glotz Wapnewski den Posten des Gründungsrektors an, wohl nicht wissend, dass dieser schon einmal ein Kolleg geleitet hatte, nämlich 1952 das Collegium Academicum an der Universität Heidelberg, das den traditionellen Verbindungen in Heidelberg damals eine neue Form des studentischen Wohnens, Lebens und Lernens entgegensetzen sollte. Wapnewski sagte zu und baute das WiKo auf, das Kooperationsvereinbarungen mit den Berliner Universitäten schloss. Ausgewählte Wissenschaftler und auch einige Künstler konnten am WiKo fortan als Fellows für ein Jahr ihren Forschungen nachgehen, wurden in gediegenen Berliner Villen untergebracht, nahmen täglich eine Mahlzeit zusammen ein und tauschten sich über ihre Forschungsarbeiten aus. Alles war ein bisschen erlesener geraten als in München, auch wenn dort bald die frühere Villa des Künstlers Friedrich August von Kaulbach bezogen werden konnte. Der soziale Aspekt des getrennten Forschens aber gemeinsamen Lebens auf Zeit wurde in Berlin stärker betont als am Historischen Kolleg und am ZiF, wo man sich nicht im Speisesaal, sondern eher in der Bibliothek oder im Fall des ZiF auch im einrichtungseigenen Schwimmbad treffen konnte. Die Anschubfinanzierung des WiKo kam 1980 von der Volkswagenstiftung, die ihr Kuratorium im ersten Anlauf 1964 nicht hatte überzeugen können, um ein ähnliches Projekt von Helmut Schelsky und Mitstreitern zu fördern. Nachdem der Wissenschaftsrat 1982 dem neuen Wissenschaftskolleg »überregionale Bedeutung« und »gesamtstaatliches wissenschaftspolitisches Interesse« bescheinigt hatte, woran nach Peter Glotz’ Erinnerung Reimar Lüst – früherer Vorsitzender des Wissenschaftsrates und nun Präsident der Max-Planck-Gesellschaft – entscheidenden Anteil hatte, war der Weg auch für eine gemeinsame 16 Zur Entstehung des Wissenschaftskollegs gibt es inzwischen eine reiche Erinnerungsliteratur der Beteiligten. Etwa Glotz, Wie es anfing. Wapnewski, Die ersten fünf Jahre; außerdem in seinen Lebenserinnerungen ders., Mit dem anderen Auge; zuletzt als Nachruf: Lepenies, Royaldemokratie und Gründercharisma.
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Bund-Länder-Finanzierung des WiKo frei.17 Das Historische Kolleg dagegen ist nie in diese Gemeinschaftsförderung gekommen und kann allein deshalb weit weniger Stipendiaten fördern als das Berliner WiKo.18 Bei unterschiedlicher Finanzierung und unterschiedlicher Ausrichtung der Förderung griffen WiKo wie Historisches Kolleg in den 1970er Jahren die Ideen auf, die Schelsky mit Killy und weiteren Mitstreitern schon 1963/64 ventiliert hatte, und die in Gestalt des Bielefelder ZiF am Rande des Teutoburger Waldes nun erhebliche Konkurrenz durch ähnliche Einrichtungen in den beiden gefühlten deutschen Hauptstädten Berlin und München erhielten. Diese boten nicht nur Großstadtflair sowie zahlreiche Bibliotheken und Archive vor Ort, sondern enthoben die auserwählten Fellows und Stipendiaten auch von Kooperationspflichten wie am ZiF und boten ein alternatives Format für geistes- und sozialwissenschaftliche Individualforschung.19
6.3 Nochmal Reformuniversitäten: Wiederholungsversuche in Erfurt und Bremen So wie die Idee des Bielefelder ZiF bereits in den 1970er Jahren von verschiedenen Wissenschaftlern, Wissenschaftsförderern und -politikern aufgenommen wurde und zu zwei grundsätzlich vergleichbaren Gründungen am Anfang der 1980er Jahre führte, kam auch die Idee der Universitätsreform durch Neugründung zu Wiederholungsversuchen.20 In den 1990er Jahren, als die Mehrzahl der in den 1960er Jahren gründungsaktiven Wissenschaftler und Hochschulpolitiker das Berufsleben beendete oder nahe davor stand, kam es zu zwei Neugründungen in Erfurt und Bremen, mit denen nochmals ähnliche Erwartungen verbunden wurden wie mit jenen in den frühen 1960er Jahren. Welche Ideen aus den Konstanzer und Bielefelder Neugründungen wurden hier nochmals aufgegriffen und inwiefern unterschieden sich diese Neugründungsprojekte von den 30 Jahre zuvor am Bodensee und in Ostwestfalen verfolgten?
17 Für Glotz handelte es sich bei Lüst um »den wohl mächtigsten und oft genug stillsten deutschen Wissenschaftsorganisator der letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts«, Glotz, Wie es anfing, S. 59. Zu Lüsts Rolle als Wissenschaftsorganisator auch: Der Wissenschaftsmacher. 18 Das Historische Kolleg erhält seit 2001 eine Grundfinanzierung vom Freistaat Bayern, während die Stipendiaten von verschiedenen wissenschaftsfördernden Stiftungen gefördert werden. 19 Einen wahren Boom erlebten Institutes for Advanced Studies in der Bundesrepublik schließlich im Rahmen der sogenannten Exellenzinitiative, als viele geförderte Universitäten ab 2005 solche Zentren schufen, um Forschungsfreiräume in den Universitäten zu schaffen. 20 Eine Ausnahme stellt die staatlich anerkannte private Universität in Witten-Herdecke dar, die Anfang der 1980er Jahre zunächst mit Ausrichtung auf die Medizin gegründet wurde, lange bevor der Boom privater Hochschulen ab den 2000er Jahren einsetzte.
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6.3.1 Die Universität Erfurt: Eine zweite Chance für die Gründer der 1960er Jahre? Anfang der 1990er Jahre kamen in Folge der deutschen Einheit nochmals Gründerzeiten für staatlich finanzierte Hochschulen und Universitäten auf. In Erfurt fand am 29. April 1994 der feierliche Gründungsfestakt einer weiteren Universitätsneugründung statt. In seiner Rede zog der thüringische CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel dabei eine direkte Verbindung zu den Universitätsgründerzeiten seit 1960: »Wer hätte je gedacht, dass wir nach dem Gründungsboom der sechziger und siebziger Jahre durch den Glücksfall der deutschen Geschichte, durch die Wende, in diesem Jahrhundert noch einmal die Chance bekämen, eine Universität zu gründen? ›Schlußstein einer neuen Gründerzeit‹ – so könnte man dieses Ereignis zusammenfassen, denn es ist mit einiger Sicherheit eine der letzten Gründungen dieses Jahrhunderts. […] Mit der Neugründung [Erfurt] beginnen wir das Schlußkapitel der wohl interessantesten Epoche der deutschen Universitätsgeschichte.«21
Tatsächlich herrschten in Folge der deutschen Einheit Anfang der 1990er Jahre nochmals Gründerzeiten für staatlich finanzierte Hochschulen und Universitäten. Wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen wurden auch in der Bildungsund Wissenschaftspolitik westdeutsche Muster in die ostdeutschen Bundesländer übertragen. So kam es mit der Reföderalisierung Ostdeutschlands zunächst zur Gliederung in Bundesländer, mit ihnen zu neuen Landeshauptstädten und diese erhielten im Fall von Potsdam, Magdeburg und Erfurt auch neue Universitäten.22 In all diesen Fällen konnte auf bestehende Hochschulen und Spezialhochschulen vor Ort aufgesetzt werden. Dennoch fiel die Universität Erfurt aus dem Rahmen. Bei der Gründung, die strenggenommen die Wiedergründung einer bereits 1389 gegründeten, aber Anfang des 19. Jahrhunderts geschlossenen Universität war, kamen Akteure zusammen, die schon Neugründungsprojekte der 1960er Jahre mitgestaltet hatten und die Chance erhielten, sich nochmals als Universitätsgründer zu betätigen. Um wen handelte es sich und was machten die früheren Neugründer aus dieser ungewöhnlichen zweiten Chance? Als Ministerpräsident verantwortlich für das Neugründungsprojekt in Erfurt und vermutlich auch treibende Kraft war Bernhard Vogel, der in Helmut Kohls 21 Thüringer Ministerium, Neues Wagen, S. 15 ff. 22 Mecklenburg-Vorpommern verzichtete auf eine Universitätsneugründung in Schwerin und beließ es bei den bestehenden Universitäten in Greifswald und Rostock, Sachsen hatte in der Landeshauptstadt Dresden bereits eine Technische Universität. Weitere Hochschulgründungen erfolgten auch außerhalb der Landeshauptstädte, etwa in Frankfurt an der Oder und Cottbus. Eine historische Aufarbeitung dieser Entwicklung steht noch aus. Ein erster Überblick bei Söllner, Ostprofile.
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erstem Kabinett Kultusminister des Landes Rheinland-Pfalz gewesen war und als solcher ab 1969 die Universitätsgründung Trier-Kaiserslautern mit hohem Tempo und Ausrichtung auf die Kapazitäten durchgebracht hatte. Nachdem er Kohl als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz beerbt und nach zwölf Jahren in diesem Amt in den politischen Vorruhestand gegangen war, ließ er sich nach der deutschen Einheit reaktivieren, um von 1992 bis 2003 nochmals als Ministerpräsident zu amtieren – nun im Freistaat Thüringen. Fast genau 25 Jahre nach der Gründung in Trier-Kaiserslautern konnte er in Erfurt so ein zweites Mal eine Universitätsgründung umsetzen, zusätzlich zum umfassenden Umbau der Wissenschafts- und Hochschullandschaft in seinem Land. Auch den Vorsitz des »Strukturausschusses der Gründungskommission« übernahm im Juni 1993 ein bereits erfahrener Gründer, nämlich der Philosophieprofessor Hermann Lübbe. In seinem Fall waren fast drei Jahrzehnte vergangen, seit er sich von Helmut Schelsky für die Mitarbeit im Bielefelder Gründungsausschuss hatte gewinnen lassen, dessen Ideen er als Staatssekretär in sich dynamisch entwickelnden Zeiten auch zu retten versucht hatte. In Erfurt nun zeichnete Lübbe selbst von Anfang bis Ende für den Gründungsausschuss verantwortlich, ohne freilich damit die Verpflichtung einzugehen, ein Gelehrtenleben an dieser Einrichtung zu verbringen, denn Lübbe war kurz zuvor bereits emeritiert worden. So wie bei den Neugründungen der 1960er Jahre zunehmend Jugend Trumpf war, je weiter das Jahrzehnt voranschritt, so schlug bei der Übertragung der westdeutschen Muster nach Ostdeutschland nun die Stunde der erfahrenen und dem Ruhestand nahen oder schon in ihm befindlichen Wissenschaftler und Politiker.23 Auch wenn die Erfurter Gründung hier nicht im Detail nachgezeichnet werden kann, allein weil wichtige Quellen wie bei den Neugründungen der 1960er Jahre noch nicht zugänglich sind, können doch einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede zu den Gründerzeiten der 1960er Jahre ausgemacht werden.24 Diesmal waren im Gründungsausschuss unter Lübbes Vorsitz, anders als noch 1965, als Mitglieder von Anfang an drei Studierende, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin und – immer noch sparsam – eine einzige weitere Frau, die Prorektorin der TU Ilmenau Dagmar Schipanski. Schipanski war zugleich Mitglied des Wissenschaftsrates und ab 1996 auch dessen Vorsitzende. Aus der Hochschulrektorenkonferenz nahm deren Generalsekretär Josef Lange teil, so dass zwei Wissenschaftsorganisationen diese Gründung im Gründungsausschuss begleiteten. Natürlich hatte Lübbe neben diesen Funktionären der Wissenschaftsorganisationen auch ihm bekannte Wissenschaftler versammelt, 23 Anders verhielt es sich bei den anschließenden Berufungen, wo viele zum Zuge kamen, die in der Bundesrepublik vergeblich auf frei werdende Stellen warteten, die von der Kohorte der in den 1960ern und 1970ern massenhaft eingestellten Professoren und Akademischen Räte langfristig besetzt waren. 24 Überblicksartig zur Entwicklung im ersten Jahrzehnt: Herz, Das Reformkonzept der Universität Erfurt.
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unter anderem aus lang vergangenen Münsteraner Zeiten den Philosophen Odo Marquard und den Theologen Trutz Rendtorff, die schon Schelsky 1965 auf seiner ersten Gründungsausschuss-Wunschliste an das Kultusministerium in Düsseldorf stehen hatte. Zu den weiteren Beteiligten zählten der Politologe Peter Graf Kielmannsegg (*1937) und der Historiker Lothar Gall (*1936).25 Insgesamt hatte der Erfurter Ausschuss unter Lübbes Vorsitz keinen so holprigen Verlauf wie seinerzeit jener in Ostwestfalen, sondern brauchte nur sechs Sitzungen, bis im Januar 1994 seine Empfehlungen vorlagen und ein Vierteljahr später der Gründungsfestakt stattfand, 602 Jahre nach der ersten Universitätsgründung in Erfurt.26 Der Wissenschaftsrat hatte sich 1992 zum Projekt positioniert, allerdings skeptisch.27 In Anbetracht der Sanierungsaufgaben in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft sah er die finanziellen Möglichkeiten des Landes bereits stark in Anspruch genommen. Zudem prognostizierte er für Erfurt höchstens 4.000 Studienplätze als Bedarf – statt 10.000 laut Hochschulentwicklungsplan – und riet zu einer Ausrichtung auf die Kulturwissenschaften, Staats- und Verwaltungswissenschaften, also zu einer kostengünstigen Variante.28 Er hatte außerdem – das war aus haushalterischer Sicht am wichtigsten – ein inhaltliches Konzept zur Auflage gemacht, um über die Aufnahme in die Förderung nach dem Hochschulbauförderungsgesetz zu entscheiden, wo er seit der Grundgesetzänderung 1969 ja Torwächterfunktion übernahm und den Ländern und Universitäten in gewissem Rahmen Auflagen erteilen konnten. Mit diesen Vorklärungen des Landes und des Wissenschaftsrates, die eine finanzielle Hängepartie wie in Bielefeld damals ausschließen helfen konnten, lagen dem Gründungsausschuss zudem recht klare Vorgaben vor. Jedenfalls bestand für Lübbe kein Anlass, wie damals für Schelsky, weitgehende Entwürfe zu formulieren, über deren Umsetzbarkeit er vom Land dann lange im Unklaren gelassen wurde. Der Rahmen, in dem die Beratung der Neugründung nun erwartet wurde, war offenbar präziser definiert. Die Empfehlungen zur Erfurter Gründung, die Lübbe mit dem Ausschuss erarbeitet hatte, enthielten neben den konkreten Empfehlungen auch zahlreiche wissenschaftspolitische Beobachtungen und Kommentare – zur Eignung des Abiturs als Hochschuleingangsprüfung, zur Dauer akademischer Qualifika tionsarbeiten und vielem anderen mehr –, die das weitergehende hochschulpolitische Interesse Lübbes und seiner Mitstreiter klar zu erkennen gaben, ohne dass die angesprochenen Herausforderungen im Kontext der Erfurter Grün 25 Die komplette Besetzung in Thüringer Ministerium, Empfehlungen des Strukturausschusses, S. 17 ff. Ob die Besetzung des Gründungsgremiums ähnlich umkämpft war wie seinerzeit für Bielefeld, ließe sich natürlich nur aus den Akten klären. 26 Thüringer Ministerium, Neues Wagen. 27 Dazu etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wissenschaftsrat gegen Universität Erfurt, 28.1.1992. 28 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Gründung einer Universität in Erfurt.
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dung aber hätten gelöst werden können. 1993/94 war das deutsche Hochschulsystem noch nicht in seine nächste dynamische Reformphase eingetreten, sondern stand ganz an ihrem Anfang. Zwar hatte der meinungsstarke Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, bereits 1991 im »Spiegel« einen Artikel publiziert unter der Überschrift »Die Universität ist verrottet«, doch war die damit verbundene Aufforderung zu einer Neuorientierung der deutschen Universitäten zu diesem Zeitpunkt in der Hochschulpolitik noch nicht konsensfähig.29 Das westdeutsche Wissenschaftssystem war schließlich in Ermangelung anderer schnell praktikabler Vorschläge gerade erst auf die ostdeutschen Länder übertragen worden. So fehlte den Vorschlägen zu Erfurt auch jede Reformeuphorie. Die Empfehlungen zur Verbesserung des Studiums, was vor allem eine verbesserte Organisation und Strukturierung meinte, standen an erster Stelle und enthielten beispielsweise die Forderung, »jedem Studenten in jedem Semester einmal die verpflichtende Gelegenheit zu bieten, für die Dauer einer Stunde mit einem seiner Dozenten Studienplan und Studienverlauf zu erörtern«.30 Das war von Schelskys Idee für Bielefeld mit Studienbetreuungsgruppen aus 15 Studierenden je Professor meilenweit entfernt. Der Erfurter Gründungsausschuss eröffnete seine Ausführungen zur Forschung an der Neugründung mit der realistischen Feststellung »die Universitäten haben ihr Forschungsmonopol […] längst verloren«.31 Und wenn die Forschung in den Naturwissenschaften weitgehend aus den Universitäten ausgezogen war, wollte man in Erfurt wenigstens in den Geisteswissenschaften einen Versuch machen, sie gegenüber der außeruniversitären »kompensatorisch auch inneruniversitär zu stärken«.32 Über die sechs Fakultäten mit einem begrenzten Fächerspektrum und Fokus auf den Geisteswissenschaften (Kath. Theologische, Juristische, Wirtschaftswissenschaftliche, Sprach- und Literaturwissenschaftliche, Kultur- und Sozialwissenschaftliche sowie Erziehungswissenschaftliche Fakultät) hinweg sollten sieben Universitätszentren (etwa für Humanismusforschung) eingerichtet werden als Organisationseinheiten für Forschungsschwerpunkte mit Laufzeiten von acht bis zwölf Jahren. Wie schon bei den Neugründungen der 1960er Jahre sollten Disziplinen an der Universität angesiedelt werden, die in Deutschland noch Entwicklungsbedarf hatten, wozu der Ausschuss die Bevölkerungswissenschaft und die Kulturgeschichte des Christentums zählte. Das dritte und am ausführlichsten ausgearbeitete Element der auf Forschung bezogenen Empfehlungen für Erfurt betraf schließlich die Einrichtung eines Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Dieses 29 Dieter Simon, Die Universität ist verrottet, in: Der Spiegel, 9.12.1991. 30 Thüringer Ministerium, Empfehlungen des Strukturausschusses, S. 10. 31 Ebd., S. 12. 32 So Lübbe bei der Erläuterung der Ausschuss-Empfehlungen anlässlich des Gründungsaktes in: Thüringer Ministerium, Neues Wagen, S. 28.
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Zentrum hatte insofern eine Vorgeschichte außerhalb des Gründungsausschusses, als die Konstanzer Professoren Jürgen Mittelstraß und Hans Robert Jauß zusammen mit Wolfgang Frühwald (*1935) – damals Mitglied im Wissenschaftsrat und bald darauf dann Präsident der DFG – sowie dem Bielefelder Professor Reinhart Koselleck und weiteren fach- und hochschulpolitisch einflussreichen Wissenschaftlern zwischen 1987 und 1990 mehrere Tagungen zur Situation der Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik durchgeführt hatten, deren Beratungsergebnisse auch den Vorschlag eines Forschungskollegs enthielten.33 Dieser Vorschlag, an dem also mindestens zwei frühere Konstanzer und ein früherer Bielefelder Gründer beteiligt waren, diente als Blaupause für das Max-Weber-Kolleg in Erfurt, das dann vom ehemaligen Bielefelder Mitgründer Lübbe aufgenommen und mit auf den Weg gebracht wurde. Am MaxWeber-Kolleg sollten inner- und interuniversitäre Forschergruppen Platz finden und auch mehreren Gastprofessuren bereitgestellt werden. Das nach dem in Erfurt geborenen Max Weber benannte Kolleg sollte der universitären Reintegration außeruniversitärer Forschung dienen und »nach bewährten Erfahrungen aus der Gründungsgeschichte anderer Universitäten […] als erste Einrichtung der neuen Universität, nämlich mit Teilfunktionen der Projektforschung, die Arbeit aufnehmen«, wie es in Anspielung an das ZiF hieß, das ab 1968 als erste Einrichtung der Universität Bielefeld aufgebaut worden war.34 Die Erfurter Universitätsgründung bot also auch Gelegenheit, nach dem Histo rischen Kolleg in München und dem Wissenschaftskolleg in Berlin ein weiteres Kolleg als Schutzraum geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung zu schaffen, dies aber 15 Jahre später nun wieder enger in eine Universität einzubinden, als die Projekte, die in den 1970er Jahren vorbereitet worden waren. Trotz des Kolleg-Modells wurde in den umfassenden Erfurter Gründungsausschussempfehlungen von den früheren Konstanzer und Bielefelder Gründer nicht mehr ein Modell-Charakter ihrer Vorschläge für Strukturumbauten bereits bestehender Universitäten propagiert. Anders hielten es jedoch die Repräsentanten der Selbstverwaltungsorganisationen, die dem Projekt mehr Glanz verleihen wollten. Der damalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Hans-Uwe Erichsen (*1934) erhoffte anlässlich der Gründungsfeier, dass es in Erfurt gelingen möge »von jener Sicht Abschied zu nehmen, die die Hochschule in erster Linie als Zahlengefüge begreift, dass es gelingt, vom quantitativen zum qualitativen Denken zurückzufinden und damit […] die Entwicklung des Hochschulwesens in Deutschland zu stimulieren«.35 33 Die Kurzfassung: Frühwald u. a., Geisteswissenschaften heute. 34 Thüringer Ministerium, Empfehlungen des Strukturausschusses, S. 16. Der Abschnitt zur Beschreibung des Max-Weber-Kollegs ist besonders ausführlich, S. 98–107. 35 Ebd., S. 40.
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Erfurt war ein Baustein in diesem Vorhaben. Und noch im selben Jahr gründete Erichsen als HRK-Präsident zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung das Centrum für Hochschulentwicklung, das als »Reformwerkstatt« für die deutschen Hochschulen agieren und dabei weniger zu Kompromissen gezwungen sein sollte als das Beratungsgremium Wissenschaftsrat, in dem Wissenschaft und Wissenschaftspolitik mit Bund und Ländern stets zur Suche nach einem gemeinsamen Nenner gezwungen waren. Auch DFG-Präsident Wolfgang Frühwald, der das Konzept des Max-Weber-Kollegs mit erdacht hatte, verband bei der Gründungsfeier in Erfurt große Hoffnungen mit der neuen Universität. Während Schelskys ZiF die Zusammenarbeit der Disziplinen habe fördern wollen, gehe es mit dem Max-Weber-Kolleg 25 Jahre später um ein noch viel wichtigeres Projekt, nämlich darum, die außeruniversitäre Forschung in die Universität zurückzuholen: »Wenn es gelingt, in der Praxis der Erfurter Universität den ungehemmten Strom des Auszugs von Forschung aus den Universitäten modellhaft zu bremsen oder seine Bewegungsrichtung gar umzukehren, so wird diese Universität mehr geleistet haben als zahllose Reformversuche in den vergangenen vierzig Jahren.«36
Erfurt sollte die übrige Hochschullandschaft also stimulieren und die außeruniversitäre Forschung reintegrieren helfen. Beides waren große Erwartungen, wenn man sich vergegenwärtigte, wie lange der Auszug der Forschung aus den Universitäten und die Überlast der Hochschulen in der Lehre nun schon andauerte. Bald schon zeigte sich dann auch, dass die Umsetzung dieser großen Pläne holpriger geriet als ihre Konzeptionierung. Zwar gelang es dem Land 1996, Peter Glotz als Gründungsrektor zu gewinnen, der unter anderem als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft sowie als Berliner Wissenschaftssenator und Begründer des Berliner Wissenschaftskollegs eine Menge bildungspolitischer Erfahrungen mitbrachte und dem Projekt zudem eine gewisse überregionale Öffentlichkeit sichern helfen konnte. Schließlich hatte er kurz zuvor für mehr Autonomie der Universitäten plädiert und ein Buch mit dem Titel »Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten« veröffentlicht, das die zeitgenössische Wahrnehmung der Universitäten 1996 besser auf den Punkt brachte als fünf Jahre zuvor, als Simon dieses Urteil ausgesprochen hatte.37 Doch schon als es mit der Neugründung losgehen sollte, spottete »Die Zeit« im Sommer 1996 über die leere Thüringer Landeskasse und den bedauernswerten Gründungsrektor: 36 Ebd., S. 60. 37 Peter Glotz: »Im Kern verrottet?«. Glotz’ Titel spielte an auf die Äußerung des früheren Vorsitzenden des Wissenschaftsrates Dieter Simon an, der die Universitäten 1991 für im Kern verrottet erklärt hatte, siehe oben.
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»Peter Glotz wird es sein, der gerade zur rechten Zeit sein Amt als bildungspolitischer Sprecher der SPD aufgegeben hat […]. Er wird nun möglicherweise das Vergnügen haben, in Erfurt ausgerechnet das Gründungskonzept seines bildungspolitischen Gegners aus lange vergangenen Reformzeiten, des hochgerühmten und stockkonservativen Zürcher Theologen und Philosophen Hermann Lübbe, umsetzen zu dürfen.«38
Tatsächlich blieb Glotz der neuen Universität nur drei Jahre erhalten, auch das ein Muster der Neugründungen aus den 1960er Jahren, deren Gründungsrektoren aus unterschiedlichen Anlässen nicht lange dabeiblieben. Die bald folgende Zwischenbilanz der Aufbaujahre fiel nicht günstig aus. Anders als bei allen Neugründungen der 1960er und 1970er Jahre gab es nun nämlich eine gewisse Überprüfung der gesetzten Ziele. Inzwischen hatte sich in der deutschen Wissenschaftslandschaft Evaluation als Überprüfung individueller und institutioneller Leistungen durchgesetzt, wozu die Begutachtung der kompletten ostdeutschen Wissenschaftslandschaft in den frühen 1990er Jahren erheblich beigetragen hatte. So legte der Wissenschaftsrat 2004, nach zehn Jahren der Erfurter Aufbauzeit, wovon nur etwa die Hälfte im Lehrbetrieb verlief, eine Zwischenbilanz vor, die nicht mehr rein quantitativ ausfiel, wie noch 1980 die Beurteilung der Neugründungen der 1960er und 1970er Jahre.39 Der Rat, der sich 1992 skeptisch gegenüber dem Erfurter Neugründungsbedarf und den Thüringer Neugründungsmöglichkeiten geäußert hatte, hielt die neue Universität nach zehn Jahren für etabliert und urteilte: »Als kleine Universität mit Schwerpunkt in den Geistes- und Sozialwissenschaften übernahm sie einen umfassenden und anspruchsvollen Reformauftrag für Lehre, Forschung, Nachwuchsförderung, Weiterbildung und Administration. Diesem Reformauftrag wird sie bisher in manchen Bereichen wie der Lehre mehr, in manchen wie der Forschung weniger gerecht.«40
Ausgerechnet dem Max-Weber-Kolleg jedoch, für das sich die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftsfunktionäre so stark gemacht hatten, attestierte der Wissenschaftsrat nun erhebliche Mängel.41 In Sachen Forschung fiel das Urteil besonders streng aus. Der Reformanspruch der Erneuerung der geisteswissenschaftlichen Forschung sei nicht eingelöst worden.42 Der Wissenschaftsrat sah keine Basis für baldige Höhenflüge der kleinen Universität zur strahlenden Reformeinrichtung und urteilte: »Die Universität sollte des-
38 Trotz leerer Kassen: Thüringen leistet sich noch eine Universität – in Erfurt, in: Die Zeit, 2.8.1996. 39 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Universität Erfurt, Köln 2004: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/6125–04.pdf, letzter Abruf 10.7.2014. 40 Ebd., S. 48. 41 Ebd., S. 49. 42 Ebd., S. 56.
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halb ihren Reformanspruch neu überdenken und auf ein realistisches Maß reduzieren.«43 War die Evaluation der Reformuniversität Erfurt 2004 eine klare Neuerung gegenüber den Projekten Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren, bei denen die Einlösung der ursprünglich einmal aufgestellten Ziele niemals systematisch und von außen überprüft, sondern nur von den Gründern selbst anlässlich von Jubiläen resümiert worden ist, so blieben Finanzierungsschwierigkeiten doch vertraute Begleiter der Neugründungen.44 Bei aller ursprünglichen Unterstützung von DFG und Hochschulrektoren-Konferenz für das Neugründungsprojekt mit seinem neuartigen Kolleg zeigte sich der Wissenschaftsrat von der Umsetzung nicht überzeugt, trommelte aber auch nicht dafür, dem unterfinanzierten Projekt zur Hilfe zu eilen. Die Sache wurde als Problem des Landes und nicht des gesamten Hochschulsystems betrachtet. Lösungen wurden Anfang des neuen Jahrtausends nun ohnehin weniger vom Staat erwartet.45
6.3.2 Die International University Bremen: Privat statt Staat Reformen waren am Ende der 1990er Jahre erneut in aller Munde, wie zuletzt in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, nur unter anderen Vorzeichen. Der Staat sollte nicht mehr Bildung für alle garantieren oder die Hochschulselbstverwaltung der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft anpassen, sondern er selbst und die von ihm betriebenen und finanzierten Institutionen waren nach internationalen Benchmarks zu modernisieren.46 So wie es Ende der 1990er Jahre plötzlich eine old economy und eine new economy gab, so schien einigen Hochschulpolitikern und Wissenschaftlern wiederum die Idee verlockend, die alten Universitäten durch das Vorbild neuer und mit Wettbewerbselementen in Bewegung zu bringen. Der Gedanke der Reform durch Neugründung erlebte eine Renaissance, erfuhr aber eine Neuausrichtung und Erweiterung mit Blick auf die handelnden Akteure und vor allem die Modelle, an denen man sich 43 Ebd., S. 64. 44 Erst nach über dreißig Jahren setzte die Universität Konstanz in der allgemeinen Reformstimmung Ende der 1990er unter einem ihrer Professoren, Jürgen Mittelstraß, eine ansonsten extern besetzte Strukturkommission ein, deren selbsterklärtes Ziel »reinventing Konstanz« lautete: »Der Kommission ging es […] unter anderem auch darum, das Reformpotential wiederzubeleben, mit dem sich Konstanz schon einmal an die Spitze einer institutionellen Reform der deutschen Universitäten gesetzt hatte«, siehe: Strukturkommission Universität Konstanz, Modell Konstanz, S. 9. In Bielefeld ist eine vergleichbare Bestandsaufnahme nicht überliefert. 45 Einige der früheren Neugründer sahen das Ende der staatlichen Neugründungen mit gewisser Enttäuschung, etwa: Frühwald, Über die Gründung von Universitäten. 46 Zum Anbruch der Reformjahre im Kontext der längerfristigen Entwicklung zuletzt Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1207 ff. sowie zu den folgenden Jahren Wolfrum, RotGrün an der Macht.
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orientieren wollte. Am eindrücklichsten hat diese Entwicklung ihren Ausdruck wohl in der International University Bremen (seit 2007 Jacobs University Bremen) gefunden.47 Die International University entstand ab 1997/98 ausgerechnet in Bremen, das in der Geschichte der Bundesrepublik zwar keine Bekanntheit als besonders finanzkräftiges Land erworben hatte, dafür aber seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine bemerkenswerte Universitätsneugründungsgeschichte zurückblicken konnte. Bereits 1948 war in der unter amerikanischer Besatzung stehenden Hansestadt ein erster Versuch unternommen worden, eine internationale Universität zu gründen. Als eine Kombination von Anregungen der Nachkriegsneugründungen in Mainz, Saarbrücken und Bremerhaven sollte es sich um ein Hochschulexperiment handeln, das Ideen aus dem angelsächsischen Hochschulsystem aufnehmen und eine ehemalige Wehrmachtskaserne nutzen sollte. Der zweite Versuch war knapp zehn Jahre später gestartet und hatte die Diskussionen der späten 1940er und 1950er Jahre um Bildung und Erziehung und die auseinanderfallende Einheit der Universität aufgenommen und mit dem Vorschlag einer Campus- und Collegeuniversität zu lösen vorgeschlagen. Er inspirierte wesentlich die einsetzenden Universitätsgründerzeiten der 1960er Jahre, blieb selbst aber ebenso erfolglos wie schon der erste Gründungsversuch in Bremen. Stattdessen kam es erst in den 1970er Jahren zum Aufbau der Universität, die in ideologisierter Zeit dann lange das Image der »roten Kaderschmiede« trug. Nach einem Jahrzehnt Verschnaufpause sah sich Bremen in den 1990er Jahren in der Lage, abermals mit einem Reformexperiment voranzugehen und bereitete ab etwa 1997 die Gründung der International University vor. Wie schon mancher Nachkriegsgründung stand der Neugründung ein aufgegebenes Kasernengelände zur Verfügung. Aus Panzergaragen konnten jetzt Labore und aus Mannschaftsquartieren Büros werden. Mit viel Phantasie vermochten die roten Backsteingebäude das Flair der an der Ostküste der Vereinigten Staaten liegenden Liberal Arts Colleges verbreiten. Die neue Universität wollte man jetzt nach dem in den 1960er Jahren verworfenen Patenschaftsmodell mit Unterstützung der US-amerikanischen Rice University aus Houston (Texas) gründen. Für den Vorsitz der Planungsgruppe gewann der Bremer Senat den Astrophysiker Reimar Lüst (*1923), der die bundesdeutsche Hochschul- und Wissenschaftslandschaft wie auch die US-amerika 47 Überblicksartig zuerst der am Aufbau der IUB/JUB beteiligte Max Kaase, Die International University Bremen. Etwas später und mit nicht ganz so großen Ambitionen wie die IUB ist 2003 die Zeppelin University (ZU) in Friedrichshafen am Bodensee gegründet worden, als staatlich anerkannte Stiftungshochschule mit heute ebenfalls um die 1.000 Studierenden in kostenpflichtigen wirtschafts-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Studiengängen. Seit Verleihung des Promotions- und Habilitationsrechts 2011 darf sie sich auch Universität nennen, da skurrilerweise nur der deutsche Begriff Universität geschützt ist, nicht aber der englische University, was sich viele private Fachhochschulen zu Nutze machen.
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nische gut kannte und bereits in der Vergangenheit dafür geworben hatte, sich stärker an amerikanischen Vorbildern zu orientieren. Bevor Lüst in den 1970er Jahren Präsident der Max-Planck-Gesellschaft und später noch Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung gewesen war, hatte er ab 1969 den Vorsitz des Wissenschaftsrates innegehabt. Unter seinem Vorsitz hatte das Beratungsgremium 1970 den großen Plan zum Umbau der deutschen Hochschullandschaft in ein System integrierter Gesamthochschulen mit Kurzstudiengängen verabschiedet, der kurz darauf auf ganzer Linie scheiterte. Lüsts Neigung, mit Bund und Ländern große bildungspolitische Pläne zu schmieden, dürfte damit einen nachhaltigen Dämpfer erfahren haben, so dass das Modell Reform durch Neugründung an einem einzelnen Standort eher eine Unterstützung des Wissenschaftsmanagers im Ruhestand lohnte. Als Gründungspräsident für die Neugründung wurde der mit Anbruch der rot-grünen Jahre aus dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft entfernte FDP-Staatssekretär Fritz Schaumann (*1946) gewonnen. Am 11. Februar 1999 erfolgte die Gründungsfeier der International University Bremen GmbH, im November 2001 die sogenannte Akkreditierung durch den Wissenschaftsrat, die erste solche Prüfung einer Privatuniversität in der Bundesrepublik. Der Betrieb lief zu diesem Zeitpunkt bereits. Was war der Plan, der in so kurzer Zeit ausgearbeitet, geprüft und in die Umsetzung gegangen war? Kompakt wurde er in der Prüfung durch den Wissenschaftsrat 2001 beschrieben: »Selbstverständnis und Struktur der IUB orientieren sich am Vorbild solcher privaten amerikanischen Universitäten, zu deren konstitutiven Merkmalen das Streben nach Exzellenz, eine ausgeprägte Forschungsorientierung, die Gewinnung entsprechender Wissenschaftler, eine geringe Lehrbelastung der Professoren, eine Auswahl der Studierenden durch die Hochschule unter Leistungsgesichtspunkten, eine günstige Betreuungsrelation von Professoren zu Studierenden, eine ausgeprägte Forschungsorientierung auch für die Studierenden, modularisierte Studienprogramme mit international anschlussfähigen Studienabschlüssen, eine College-Struktur und Campusanlage und schließlich eine Finanzierung durch Erlöse eines (aufzubauenden) Kapitalstocks, durch Spenden, Drittmittel sowie Studiengebühren zählen.«48
Was die Forschungsorientierung betraf, kam diese Kurzfassung den ursprünglichen Konstanzer und Bielefelder Überlegungen durchaus nahe, nicht aber was College, Finanzierung und Ausrichtung allein auf amerikanische Vorbilder betraf. Auch zu den Bemühungen der späten 1940er Jahre bestand ein Unterschied darin, dass Briten und Amerikaner lediglich für die Übernahme einzel 48 So es anders als bei den früheren Staatliche Gründungen nun keine veröffentlichten Empfehlungen eines Gründungs- oder Strukturausschusses mehr gab, wird zur Beschreibung der Ziele auf die Ausgangslage in der Akkreditierung zurückgegriffen: Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur vorläufigen Akkreditierung der International University Bremen, hier S. 4 f. online verfügbar: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/5068–01.pdf, letzter Abruf 12.7.2014.
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ner Elemente ihrer Hochschullandschaften wie Colleges oder Kuratorien geworben hatten, was seinerzeit weitgehend erfolglos geblieben war. Am Ende der 1990er Jahre gelang nun plötzlich ein kompletter Institutionen-Transfer aus den USA in die Bundesrepublik. Ein idealtypisches amerikanisches Universitätsmodell wurde in der Hochschullandschaft der Bundesrepublik, die durch ihre Kritiker offenbar sturmreif geschossen war, binnen zweier Jahre angesiedelt. Als GmbH musste sie dabei keine Rücksicht nehmen auf die Befindlichkeiten anderer Hochschulen, die auf gleiche Bedingungen pochen würden, wie seinerzeit etwa die Kölner Dekane oder der Freiburger Wilhelm Hennis gegenüber Konstanz und Bielefeld. Die Faszination der Neugründung schien ungebrochen: »Die IUB verfügt im Vergleich mit den bestehenden und reformorientierten Hochschulen über den Vorteil, neuartige Konzepte entwickeln zu können, ohne durch bestehende Strukturen, Bestimmungen und Traditionen gehindert zu sein.«49
Während in Erfurt noch Fakultäten etabliert worden waren begann die Bremer Neugründung mit einer School of Engineering and Science und einer School of Humanities and Social Sciences – Die Zielgröße der neuen Universität lautete auf 1.200 Studierende, was die kühnsten Träume der Neugründungen der 1960er Jahre bei Weitem unterbot. Binnen fünf Jahren sollte der Aufbau im Wesentlichen abgeschlossen sein. Während der Universitätscampus auf einem alten Kasernengelände im deutschen Hochschulsystem nun nichts Neues mehr war, konnte das von den Colleges nicht gesagt werden, die an der IUB vorgesehen waren. Sie ermöglichten ein »wissenschaftsbezogenes Lebensumfeld«, das in in dieser Form in Deutschland noch nicht anzutreffen sei, hielt es der Wissenschaftsrat in seiner Akkreditierung fest. Alle Mitglieder der Universität würden hier »Bestandteil eines jeweils besonderen Lern-, Beratungs- und Lebenszusammenhanges«, so dass »eine besonders intensive Betreuung, Beratung und Förderung der Studierenden über die Vermittlung von Fachwissen hinaus ermöglicht« würde.50 Kein Verweis erinnerte daran, dass die Einführung von Colleges in den Nachkriegsjahren als Alternative zu den alten studentischen Verbindungen intensiv diskutiert und an einzelnen Standorten in kleinem Format allerdings nur mit geringer Unterstützung der jeweiligen Universität auch erprobt worden war, vom Wissenschaftsrat selbst 1962 noch mit einen wenig professionell vorbereiteten Versuch über die Universitätsneugründungen verbreitet werden sollte, dann aber durch die erheblich professionellere Lobbyarbeit des Verbandes Deutscher Studentenschaften zu Fall gebracht wurde, was die Finanzminister der Länder mit Blick auf die ohnehin horrenden Neugründungskosten nur gutheißen konnten.51 49 Ebd., S. 69. 50 Ebd., S. 6 und S. 74. 51 Ebd., S. 54.
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Anders als alle früheren Neugründungen sollte die International University sich aus Spenden, einem aufzubauenden Kapitalstock, Drittmitteln und Studiengebühren finanzieren. Obwohl das Experiment weitgehend außerhalb des für die übrigen Hochschulen geltenden Rahmens stattfinden würde und eine private Universität sein sollte, waren für die Aufbauphase jedoch öffentliche Zuschüsse zugesagt worden, weil das Land Bremen das Projekt als Teil des regionalen Strukturwandels definierte. 109 Millionen Euro gab das Land unter dem SPD-Wissenschaftssenator Wilfried Lemke (*1946) dazu. Weitere Förderung kam über das Hochschulbauförderungsgesetz (rund 40 Millionen Euro vom Bund). Allerdings konnten die Colleges aus diesem Fördertopf offenbar keine Unterstützung erhalten, da die Regelungen des deutschen Hochschulbaus Colleges bisher nicht kannten. Vier Jahre nachdem der Wissenschaftsrat die ersten Ergebnisse der Erfurter Neugründung kritisch und die weiteren Aussichten pessimistisch beurteilt hatte zog er 2008 eine erste Bilanz zum Bremer Neugründungsprojekt.52 Wie hatte sich die staatlich großzügig bezuschusste Universitäts-GmbH in Bremen gegenüber der vollstaatlichen Neugründung in Thüringen geschlagen? Knapp über 1.000 Studierende waren an der Universität eingeschrieben, ganze drei Viertel von ihnen aus dem Ausland. Sie wurden von rund 100 Professoren unterrichtet. Die BA/MA-Studiengänge waren fertig und die Colleges in Betrieb. Fast 50 Jahre nach den Empfehlungen von Rothe und aus dem Wissenschaftsrat, wohnten nun Professoren oder Professorinnen mit Familie als College Master mit in den drei Colleges und standen den jungen Studierenden als Ansprechpartner zur Verfügung. »Die Übertragung der Institution des College in das deutsche Hochschulsystem stellt zweifellos eine gelungene Innovation dar«, konstatierte der Wissenschaftsrat.53 Großspender hatten sich für die Colleges gefunden, die entsprechend Krupp-College, Nordmetall-College und Mercator-College hießen. Den Anspruch, eine disziplinenübergreifende Ausbildung wie an amerikanischen Liberal Art Colleges anzubieten, hielt der Wissenschaftsrat für erfolgreich eingelöst. Zusätzlich zu den College Masters, die die häufig noch nicht volljährigen Studierenden ansprechen konnten, standen allen Studierenden auch eigene Academic Advisor zur Verfügung. »Mit diesem Konzept erzielt die Jacobs University sehr gute Ausbildungsergebnisse und ein hohes Maß an fachlicher und sozialer Kompetenz der Ausgebildeten. Die Jacobs University wird damit einem Anspruch gerecht, Ausbildung mit Bildung zu 52 Die Beurteilung erfolgte als sogenannte Reakkreditierung, mit der die Entwicklung des Konzeptes in der Realität beurteilt wurde: Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Reakkreditierung der Jacobs University Bremen, online verfügbar: http://www.wissenschaftsrat. de/download/archiv/8312–08.pdf, letzter Abruf 12.7.2014. 53 Ebd., S. 11.
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verbinden, den viele Bewerber neben hochwertiger Lehre an private Bildungseinrichtungen stellen.«54
Während es auf der Seite von Bildung und Ausbildung in neuen Studiengängen und Colleges also sehr viel besser als im öffentlich finanzierten Hochschulbereich aussah, wurde die Lage in der Forschung kritischer eingeschätzt: »Angesichts der Tatsache, dass die Jacobs University erst 2001 ihren Studienbetrieb aufgenommen hat und die letzten Labore im Jahr 2005 fertiggestellt wurden (Life Sciences und Biotechnology), verwundert es nicht, dass das bereits bei der Gründung ambitionierte Ziel, eine international sichtbare Forschungsuniversität zu werden, noch nicht erreicht ist.«55
Eine Perspektivkommission hatte der Universitätsleitung schon 2005 eine Beschränkung auf nur mehr fünf Forschungsthemen nahegelegt. Den neuen Präsidenten Joachim Treusch (*1940), der für anderthalb Jahrzehnte das primär bundesfinanzierte frühere Atomforschungszentrum Jülich mit einigen tausend Wissenschaftlern geleitet hatte, befand man grundsätzlich für in der Lage, die notwendige Konzentration zusammen mit den Dekanen zu organisieren. Jedoch wurde zwischen den Zeilen recht deutlich ausgesprochen, dass die Gutachter es kaum für möglich hielten, mit den verfügbaren Ressourcen sowohl eine anspruchsvolle Undergraduate-Ausbildung als auch eine ebensolche GraduateAusbildung und Forschung zu betreiben. Kritisch wurde nämlich insbesondere die Finanzlage der Neugründung eingeschätzt. Der große Zuschuss der öffentlichen Hand war fast verbraucht und die Studiengebühren konnten nicht im erhofften Maß eingespielt werden, da viele Studierende Stipendien erhielten. Inzwischen war zwar der frühere Bremer Kaffeehändler Klaus Jacobs (1936–2008) eingesprungen, der dem Universitätsexperiment kurz vor seinem Tod eine 200-Millionen- Euro-Spende in Aussicht gestellt hatte. Doch trotz des Einstiegs der Jacobs Foundation hielten die Gutachter die Finanzierung der Universität nur für die nächsten drei Jahre für gesichert, trauten ihr aber zu, dann schon noch eine Lösung zu finden, bis 2017 eine erneute Reakkreditierung durch den Wissenschaftsrat stattfinden würde. Man drückte also beide Augen zu. 2013 riet das Beratungsgremium, das ausschließlich aus Wissenschaftlern öffentlich finanzierter Einrichtungen und Wissenschaftspolitikern aus Bund und Ländern bestand, die selbst Mühe hatten, die öffentlichen Bildungseinrichtungen angemessen zu finanzieren, davon ab, weitere finanzielle Zusagen der öffentlichen Hand an die Jacobs University auszusprechen.56 54 Ebd., S. 68. 55 Ebd., S. 70. 56 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Hochschulsystems des Landes Bremen, hier S. 85: Online verfügbar: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/3456–13.pdf, letzter Abruf 12.7.2014.
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6.4 Reform durch Neugründung – Reform ohne Neugründung Als die Jacobs University Bremen 15 Jahre nach ihrer Gründung knapp an der Pleite vorbeischrammte, war in der »Zeit« zu lesen: »Es ist das Ende eines Traums vom ›Harvard an der Weser‹, und es ist das Ende eines Traums von einer privat finanzierten Volluniversität in Deutschland.«57 Harvard mit fast 30.000 Studierenden, etwa halb so vielen Mitarbeitern und einem Stiftungskapital von vielen Milliarden US-Dollar war freilich kein angemessener Vergleichsgegenstand. Schon in den 1960er Jahren hatte die Rede von »Klein-Harvard am Bodensee« eher dazu gedient, die Konstanzer Pläne als elitär und weltfremd herabzusetzen. Aber warum gab es 2013/14 kaum öffentliches Bedauern darüber, dass die Jacobs University Schwierigkeiten hatte in der bisherigen Form, also nicht nur als College-, sondern auch als Forschungsuniversität mit einer ambitionierten Graduate-Ausbildung, zu bestehen? »Die Zeit« mutmaßte, es liege am starken staatlich finanzierten Wissenschaftssystem und der mangelnden Bereitschaft, bei diesem bestehenden Angebot für ein Studium an JUB 20.000 Euro im Jahr zu bezahlen.58 Tatsächlich gab und gibt es in der Bundesrepublik ein reiches Angebot an Hochschulen und Universitäten, an denen fast kostenfrei studiert werden kann. Zwar hatten einige Bundesländer in der Reformeuphorie der Jahrtausendewende die Wiedereinführung von Studiengebühren – vergleichbares Hörergelder waren erst am Ende der 1960er Jahre vollständig abgeschafft worden – zunächst bis 2005 rechtlich durchgefochten und daraufhin Gebühren von im Mittel 500 Euro je Semester eingeführt. Aber die von einem überschaubaren Stipendien- und Studienkreditangebot begleiteten Gebühren wurden im Angesicht nahender Landtagswahlen bereits bis 2014 in allen betroffenen Bundes ländern wieder abgeschafft. Wer diesen Versprechen Glauben schenkte, musste sich doch durch ein besonderes Maß an Optimismus auszeichnen, wo die Länder seit Ende der 1960er Jahre fortdauernde Schwierigkeiten hatten, im Wettbewerb der Ressorts dem Bildungsbereich einen höheren Anteil an den Steuereinnahmen zuzusprechen; dies zudem in einer Situation, in der 2009 mit einer Grundgesetzänderung eine »Schuldenbremse« vereinbart worden war, mit der ab 2019/2020 in allen Ländern der Bundesrepublik die Höhe der möglichen Nettokreditaufnahme reduziert werden sollte. Ein Scheitern der Jacobs University (JUB) konnte aus Sicht der Hochschulpolitik Mitte der 2010er Jahre offenbar in Kauf genommen werden, da es für das gesamte deutsche Hochschulsystem keine negative Signalwirkung haben
57 Beispielhaft dazu: Zu viel, zu teuer, zu spät, in: Die Zeit, 28.2.2014. 58 Ebd.
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würde – sie war in den Worten der Bankenkrise seit 2008 nicht »systemrelevant«.59 Natürlich hätten die Bremer Bürger bzw. die Bürger der Bundesländer, die ein eigenständiges Land Bremen finanzieren helfen, viel Steuergeld »verloren«, aber der Aufbau einer privaten Forschungsuniversität in Deutschland wurde ja von Anfang an für ambitioniert erklärt. Wenigstens drei Gründe sprechen aus heutiger Situation gegen das in Bremen versuchte Modell der Reform durch Neugründung in der Variante einer privaten Universität. Erstens hat sich parallel zum Experiment in Bremen seit Ende der 1990er Jahre in der Bundesrepublik eine umfangreiche Landschaft privater Hochschulen etabliert, die sich zwar häufig auf anwendungsnahe und in der Ausstattung gleichzeitig eher günstige Fachgebiete konzentriert, aber weitgehend ohne große staatliche Zuschüsse wie in Bremen auskommt. Diese privaten Hochschulen machten am Anfang der 2010er Jahre bereits 25 Prozent aller Hochschulen in der Bundesrepublik aus, bildeten freilich nur rund sechs Prozent aller Studierenden aus, die bereit waren, entsprechende private Investitionen in ihre Ausbildung zu tätigen.60 Private Hochschulen hatten sich also im ersten Aufbaujahrzehnt parallel zum Modell der JUB als Ausbildungsangebot erfolgreich etabliert und falls die JUB dafür einen Anreiz geben sollte, so war er nun entfallen. Ein zweites Argument, das Anfang der 2010er Jahre gegen die Rettung des Bremer Experiments aus öffentlichen Mitteln sprach, ist die neue Aufmerksamkeit für die Forschungsfunktion der staatlichen Hochschulen, die die Politik zunehmend in einem globalen Wettbewerb sah. Im Januar 2004 hatte die SPDBundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (*1951) nach einer Klausur des SPD-Parteivorstands einen Wettbewerb mit dem legendären Titel »Brain Up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten« angekündigt, der sich an das kurz zuvor etablierte Fernsehformat »Deutschland sucht den Superstar« anlehnte. Die Kommentatoren überschlugen sich bei der Vorstellung, dass eine SPD-geführte Bundesregierung den Aufbau von »Eliteuniversitäten« fördern würde. »Spiegel Online« berichtete beispielsweise: »Der Kanzler verteidigte den Aufbau von Elite-Universitäten. Ziel sei es, dass einige Universitäten bis zum Jahr 2010 mit Spitzen-Instituten in den USA oder der Schweiz konkurrieren könnten. […] Er machte deutlich, dass keine Neugründungen geplant
59 Gleiches gilt etwa für die wesentlich kleinere Humboldt-Viadrina School of Governance, die 2003 von der Präsidentin der Universität Frankfurt/Oder, Gesine Schwan, und dem Präsident der Humboldt-Universität, Jürgen Mlynek, ins Leben gerufen wurde und ihren Betrieb im Juni 2014 wegen Insolvenz einstellen musste. 60 Der Wissenschaftsrat hatte bis Anfang 2012 fast 100 solcher Hochschulen akkreditiert und dann eine erste Bilanz gezogen: Wissenschaftsrat, Private und kirchliche Hochschulen, online verfügbar: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2264–12.pdf, letzter Abruf 12.7.2014.
Reform durch Neugründung
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seien. Stattdessen sollen die Spitzenunis aus dem Wettbewerb der bestehenden Hochschulen entstehen. Es gehe nicht darum, ›auf der grünen Wiese neue Institutionen zu schaffen‹, sagte Schröder.«61
Die ursprüngliche Wettbewerbsidee ging aus längeren Bund-Länder-Verhandlungen 2005 dann mit dem eher unglücklichen Titel »Exzellenzinitiative« hervor. Im Rahmen dieser Initiative wurden zunächst bis 2017 etwa vier Milliarden Euro bereitgestellt, um die sich die staatlichen Universitäten der Bundesrepublik mit Konzepten für die Nachwuchsausbildung, für große Forschungsverbünde und mit »Zukunftskonzepten« zur Entwicklung einer ganzen Universität bewerben konnten. Keine Neugründungen auf der grünen Wiese hatte der Bundeskanzler versprochen und so kam es auch. Tatsächlich hätte man mit vier Milliarden Euro am Anfang des neuen Jahrtausends vermutlich nicht einmal mehr eine einzelne Universität in der Größe der Ruhr-Universität Bochum neu errichten können, die von den Möglichkeiten von Harvard dann freilich immer noch meilenweit entfernt gewesen wäre. Statt Reform durch Neugründung richtete sich der Wettbewerb zwischen 2005 und 2017 auf Reformen der bestehenden Hochschullandschaft. Anders als noch 1960 bemühten sich der Wissenschaftsrat nicht mehr um »Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen«, sondern ließ die Teilnehmer am Wettbewerb der Exzellenzinitiative ihre »Zukunftskonzepte« für die Universitäten selbst erstellen, von international besetzten Gutachtergruppen bewerten und von kompliziert konstruierten Gremien schließlich Auswahlentscheidungen über die Förderung treffen. Was dieser Wettbewerb langfristig für die deutsche Hochschullandschaft bewirkt hat, ist heute noch nicht abzusehen. Doch so, wie die frühen Neugründungen Konstanz und Bielefeld wesentlich zur Entwicklung des Förderformats Sonderforschungsbereiche beitrugen, um dem Auszug der Forschung aus den Universitäten in Wirtschaft und öffentlich geförderte außeruniversitäre Einrichtungen nicht nur an den Neugründungen etwas entgegenzusetzen, könnten aus dem Wettbewerb Exzellenzinitiative neue, langfristig angelegte Kooperationsformate zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung entstehen. Eine dritte Entwicklung, die der International University Bremen schon während des Aufbaus ihr Alleinstellungsmerkmal der angelsächsischen Studienabschlüsse BA/MA nahm, war der Beginn des sogenannten Bologna-Prozesses. Fast zeitgleich zur Bremer Gründung wurde 1998/99 auf europäischer Ebene die Einführung der Studienabschlüsse BA/MA als zentrales Projekt auf dem Weg zu einem europäischen Hochschulraum beschlossen. Ohne dass es die Mehrheit der Hochschulangehörigen zuvor realisiert hätte, mussten auf Basis der europäischen Vereinbarung nun die neuen gestuften Studienstrukturen 61 Klausur in Weimar. Wie die SPD die Bürger bilden will, in: Spiegel Online, 6.1.2004, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/klausur-in-weimar-wie-die-spd-die-buergerbilden-will-a-280801.html, letzter Abruf 19.7.2014.
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verpflichtend eingeführt werden. Diese waren nach vorbereitenden Diskussionen in den Gründungsausschüssen der Neugründungen Bochum und Konstanz 1966 vom Wissenschaftsrat und 1967 in einer Variante vom Dahrendorf-Plan im Grundsatz empfohlen worden, waren aber von der westdeutschen Hochschullandschaft und Bildungspolitik seinerzeit nicht euphorisch aufgenommen worden. Etwas mehr als dreißig Jahre später wurde die Erarbeitung der neuen Studiengänge BA und MA nur noch von einer Minderheit der Betroffenen – etwa den Ingenieuren, die am Markenzeichen Diplom hingen, und den Juristen, die bereits die Reformversuche in Speyer in den späten 1940ern und Konstanz in den 1970er Jahren bekämpft hatten – zunächst noch erfolgreich abgewehrt. Diese drei Entwicklungen – Einführung gestufter Studiengänge nach angelsächsischem Muster, Aufbau eines ausbildungsorientierten privaten Hochschulsektors und neuartige Förderung universitärer Forschung und Profilbildung im Wettbewerbsformat – waren alle in einem kleinen Zeitfenster der Hochschulpolitik zwischen Mitte der 1990er und Mitte der 2000er Jahre angelaufen. Um die Wende zum zweiten Jahrzehnt der 2000er Jahre scheint diese Reformphase mit der Rücknahme der Studiengebühren und einer erneuten Novellierungswelle von Landeshochschulgesetzen auszulaufen oder sich zumindest nur noch in deutlich vermindertem Tempo fortzusetzen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Reformphase der 1960er Jahre lassen sich, insbesondere mit Blick auf die Universitätsneugründungen ausmachen? So wie ab Mitte der 1960er Jahre veränderten sich auch Mitte der 1990er Jahre die Erwartungen an die Hochschulpolitik und die Reformbereitschaft der Hochschulen. Waren jeweils am Anfang dieser Reformphasen neue Universitäten gegründet worden, mit denen verschiedene Akteure die Hoffnung verbanden, stimulierend auf die gesamte Hochschullandschaft zu wirken, entwickelten sich der Erwartungshorizont und die Bemühungen der Hochschulpolitik schneller weiter, als die Hochschulneugründungen aufgebaut werden konnten und es während der Planungszeit der Hochschulexperimente wohl jeweils für möglich gehalten wurde. Dieses Schicksal teilte »Harvard an der Weser« mit »Klein-Harvard am Bodensee« und Erfurt samt Max-Weber-Kolleg mit Bielefeld und seinem ZiF. So liegt der Schluss nahe, dass Reform durch Neugründung in den 1960er und 1990er Jahren Reformzeiten für alle Hochschulen ankündigte, von denen die jeweiligen Neugründungsprojekt dann gar nicht mehr vorrangig profitieren konnten. Ist damit die Generation der Universitätsgründer, die in den 1960er Jahren Konstanz, Bielefeld oder Trier-Kaiserslautern vorantrieb und in den 1990ern Wiederholungsversuche in Erfurt und Bremen unternahm, also im Abstand von etwas mehr als 30 Jahren zwei Mal gescheitert? Gegen diese pessimistische Lesart spricht, dass die Neugründungen zwar nicht exakt nach Konzept umgesetzt werden konnten, aber viele der Reformideen, die in den späten 1940er und 1950er Jahren zunächst von einer kleinen Gruppe Studierender, Wissenschaftler und Politiker diskutiert und in den 1960er Jahren dann über die Neugrün-
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dungen implementiert werden sollten, in den späten 1990er Jahren eine zweite Chance zur Umsetzung bekamen. Seit den späten 1960er Jahren waren Hochschulpolitik und Hochschulen zunächst vollauf damit beschäftigt, eine gewaltige Expansion des Hochschulsystems von der Eliten- zur Breitenausbildung zu organisieren, das von weniger als 100.000 Studierenden an den Universitäten am Anfang der 1950er Jahre auf über 1,7 Millionen Studierende Mitte der 2010er Jahre (zudem 0,9 Millionen an den Fachhochschulen), von weniger als 20 auf über 60 staatliche Universitäten anwuchs und parallel mit den wachsenden Ansprüchen aller Beteiligter eine umfangreiche Verrechtlichung und eine allmähliche Professionalisierung des Managements erfuhr. Auch in den 2000er Jahren mussten allerdings Reform und weitere Expansion parallel bewältigt werden. Manche Reformideen, die mit den frühen Neugründungen der 1960er Jahre in Konstanz und Bielefeld, aber auch in Bochum, Regensburg und Bremen verbunden waren, konnten kurzfristig realisiert werden, wie etwa die Campusanlage erster Universitäten oder der Abschied von der Idee der Volluniversität zugunsten von Fächerschwerpunkten. Erst in den späten 1990er Jahren wurde die Idee der Differenzierung und der Schwerpunktbildung in der Hochschullandschaft, die von Schelsky schon Anfang der 1960er Jahre propagiert worden war, wieder aufgegriffen – dann zumeist eher als »Profilbildung« denn als »Differenzierung«. Andere der Reformideen aus den 1960er Jahren sind erst langfristig und teils auch erst in Ansätzen umgesetzt worden, wie die gestufte Stu dienstruktur, die Einrichtung von abgestimmten Forschungsschwerpunkten oder die Etablierung weiterer angelagerter Center for Advanced Studies. Zur Reintegration öffentlich finanzierter außeruniversitärer Forschung in die Universitäten oder zumindest zur engeren Verbindung beider Sphären sind bisher nur erste Schritte unternommen worden. Aber auch die Einrichtung von Kuratorien oder Hochschulräten sind Vorschläge der Nachkriegsjahre, die häufig erst 40 oder 50 Jahre später eine Umsetzung erfuhren. Schließlich gibt es auch Reformideen, die seit den ersten Nachkriegsjahren diskutiert, aber bis heute kaum umgesetzt werden konnten, wie etwa die Versuche zur Etablierung des Colleges als neuer Zwischenstufe zwischen schulischer und wissenschaftlicher Bildung und Ausbildung. Die Experimente der Kollegienhäuser zählen hierzu ebenso wie Hartmut von Hentigs Schulexperimente an der Universität Bielefeld. Während die Studierenden der frühen 1960er Jahre in den Ideen der Kollegienhäuser eine Bedrohung ihrer individuellen Autonomie gesehen hatten und die Befürworter der Ideen wenig zur Überzeugung der Studenten unternahmen, gibt es – nachdem seit Ende der 1960er Jahre gewissermaßen die privat organisierte Wohngemeinschaft an die Stelle öffentlich organisierter Colleges trat – zusätzliche Argumente für die Einführung von College-Elementen in die deutschen Hochschulen, etwa die Verkürzung der Schulzeit und der Wegfall der Wehrpflicht, die zu einer jüngeren Studierendenschaft führt, die sich zudem weiterhin vergrößert und diversifiziert hat. Doch die Chance zur
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Implementierung entsprechender Elemente, die die Umstellung der Studiengänge auf die gestufte Struktur von BA/MA geboten hätte, ist Ende der 1990er Jahre nicht genutzt worden. Die Mehrheit der Lehrenden ist mit der Einführung der neuen Studiengänge in den bisherigen anderthalb Jahrzehnten der Bologna- Reform auch bereits gut ausgelastet gewesen.62 Will man optimistisch auf die Hochschulreform seit Ende des Zweiten Weltkriegs blicken, bleibt letztlich nur festzustellen, dass Universitäten eben Jahrhunderte alte Institutionen sind, deren Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit nicht überschätzt werden sollte, wie auch die Bereitschaft von Politik und Öffentlichkeit, sich Bildungsreformfragen intensiv und mit einem langen Atem zuzuwenden. Die Hochschulreformphase der 1990er/2000er Jahre scheint diesmal nicht so scharf abgebremst worden zu sein, wie jene der 1960er Jahre. »Der Exitus des Reformbegriffs bedeutet aber noch nicht das Ende des Phänomens«, wie Ralph Bollmann in einer essayistischen Reform-Geschichte festhielt.63 Von daher erscheint es plausibel, dass weitere langdiskutierte Reformideen in den nächsten Jahren eine erneute Prüfung und vielleicht auch Einführung in der Breite der Hochschullandschaft erfahren, ohne dass sich die Akteure freilich immer der Tatsache bewusst wären, dass viele ihrer Ideen so neu gar nicht sind. Während beispielsweise die eine Hälfte des Dahrendorf-Plans, die breite Einführung gestufter Studiengänge, drei Jahrzehnte später über die europäische Ebene mittels des sogenannten »Bologna-Prozesses« für die Nationalstaaten als verbindlich erklärt wurde, steht die Umsetzung der zweiten Hälfte des Dahrendorf-Plans aus. Unter veränderten Vorzeichen und natürlich unter einem anderen Titel könnte das Konzept der integrierten Gesamthochschule aber noch eine Renaissance erfahren, wenn die Bundesländer durch den sich abzeichnenden doppelten Problemdruck aus demographischem Wandel und Finanzierungsschwierigkeiten zu Restrukturierungen ihrer Hochschul- und Wissenschaftslandschaften gezwungen werden. Vorboten einer solchen Entwicklung sind einerseits die bereits erfolgte gleichmäßige Etablierung der neuen gestuften Studiengänge sowohl an Fachhochschulen als auch Universitäten, andererseits die jüngsten Schwierigkeiten der Universitäten, das Promotionsrecht als exklusives Privileg und damit als wesentliches Abgrenzungsmerkmal sowohl zum Fachhochschulbereich als auch zur außeruniversitären Forschung – etwa in der Max-Planck-Gesellschaft – erfolgreich zu verteidigen. Einige Länder experimentieren an der Peripherie bereits mit Fusionen von Fachhochschulen und Univertsitäten etwa in Lüneburg und Cottbus. Was hingegen aus heutiger Perspektive als unwahrscheinlich gelten kann, ist die erneute Gründung von Universitäten vom Reißbrett. Über diese 62 Eine essayistische Zwischenbilanz dazu: Lenzen, Bildung statt Bologna, rezensiert von Jürgen Kaube unter dem Titel: Ein deutsches College ist unausweichlich. Folgen der BolognaReform, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.5.2014. 63 Bollmann, Reform, S. 8.
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wohl doch einzigartige Möglichkeit, Universitätskonzepte auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen, hatte der Soziologe Heinrich Popitz nach seiner Jurymitgliedschaft im Preisausschreiben über neue Universitäten Mitte der 1960er Jahre in einem Freiburger Professorenkabarett spöttisch bemerkt: »Dann lässt sich gründen offenbar, was nicht mehr ist, doch früher war; dann, was nicht war, noch ist, jedoch noch werden kann und kommen noch; und endlich – folg’ mir unbeirrt – was weder war, noch ist, noch wird.«64
Auch wenn es eine Neugründungswelle staatlicher Universitäten in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird, beschäftigt die Gestalt der Universität, die Versuche zu ihrer Reform, zur unterschiedlichen Gewichtung der Funktionen Bildung, Ausbildung und Forschung und das spannungsvolle Verhältnis zur sie umgebenden Umwelt ihre Mitglieder natürlich weiterhin. Bislang ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die Flut an Publikationen essayistischer und wissenschaftlicher Art zum Thema Hochschulreform zurückgehen würde.65
6.5 Aus neuen Universitäten werden alte: 50-Jahrfeiern in Konstanz und Bielefeld Im April 2016 gab die Universität Konstanz eine Pressemitteilung zum guten Abschneiden der Hochschule in einem internationalen Hochschulranking für Universitäten unter 50 Jahren heraus: »Sprung unter die zehn weltbesten jungen Universitäten«.66 Ist eine Universität mit 50 Jahren noch jung oder fühlt sie sich nur so? Wie auch immer, selbst neue Universitäten werden älter. Als erste der Neugründungen der 1960er Jahre hat Bochum 2015 das 50ste Jubiläum des Lehrbetriebs erreicht und gefeiert. Die Universitäten Konstanz und Bielefeld können dieses Jubiläum 2016 bzw. 2019 feiern.67 64 Zitiert nach Dahrendorf, Über Grenzen, S. 182. Zum Preisausschreiben der Wochenzeitung Christ und Welt siehe auch S. 135. 65 Zwei Beispiele für viele der Essay von Hörisch, Die ungeliebte Universität oder der Sammelband von Pöppinghege/Klenke, Hochschulreformen früher und heute. 66 Presseinformation Nr. 20 vom 6. April 2016: Erneute Leistungssteigerung: Sprung unter die zehn weltbesten jungen Universitäten, online unter: http://www.aktuelles.uni-konstanz. de/presseinformationen/2016/20/, letzter Abruf 16.4.2016. 67 Informationen unter: http://www.uni-konstanz.de/50Jahre/, letzter Abruf: 16.4.2016. Als Teil des Festprogramms veranstaltete die Universität einen Workshop über die Geschichte der Reformuniversitäten und deren Lerneffekte für gegenwärtige Hochschulreformen In Bielefeld wurde bereits zum 40jährigen Jubiläum eine umfangreiche Ausstellung vorbereitet und anschließend dokumentiert: Löning, Wie gründet man Universitäten.
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In der Hochschullandschaft der Bundesrepublik sind beide Universitäten sehr gut etabliert. Forschungsstärke, die heute auch über die Höhe eingeworbener Drittmittel, die Anzahl laufender Sonderforschungsbereiche oder zuletzt die erfolgreiche Beteiligung an den Fördertöpfen der Exzellenzinitiative gemessen wird, ist zweifellos vorhanden. Konstanz warb 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft die meisten Drittmittel aller deutschen Universitäten ein, wenn die Beträge der kleinen Universität auf das Personal relativiert werden. Beide Universitäten können darauf verweisen, dass in den letzten Jahrzehnten berühmte Wissenschaftler an ihnen geforscht und gelehrt haben. Auch was die Ausbildungsleistungen betrifft, schneiden beide seit Einführung der Hochschulrankings in Deutschland am Ende der 1980er Jahre häufig gut ab. Bereits bei der Veröffentlichung der ersten Uni-Rangliste schrieb »Der Spiegel« 1989 »Die neuen Unis sind die besten […] Das Resultat einer Umfrage unter 6000 Studenten bricht mit einem jahrzehntelang sorgsam gehüteten Tabu: Unter den westdeutschen Universitäten besteht ein deutliches Leistungsgefälle.«68 Selbst wenn man Rankings kritisch sieht und nur auf die Quantitäten schaut, leisten Konstanz mit zuletzt rund 11.000 Studierenden und Bielefeld mit etwas über 21.000 Studierenden heute einen substantiellen Beitrag, der weit über die ursprünglich jeweils anvisierten 3.000 Studienplätze hinausgeht. In ihren Außendarstellungen präsentieren sich beide Universitäten weiterhin demonstrativ als Reformuniversitäten. Und wer heute an den Neugründungen studiert und arbeitet und die Lebenszyklen moderner Gebäuden kennt, kann über die laufenden Sanierungen auf das Alter der Universitäten schließen. Die Konstanzer Universitätsbibliothek hat eine Asbestsanierung und viele Konstanzer Gebäudeteile Dachsanierungen gerade hinter sich. Das Universitätshauptgebäude Bielefeld, das im Gegensatz zum Konstanzer in einem Stück errichtet worden ist, muss nach mehr als 40 Jahren Betrieb in den nächsten Jahren komplett saniert werden. Beachtlich, dass es überhaupt so lange benutzbar war, da es so viel höher belegt wurde, als bei der Bauplanung bestimmt. Im Juni 2014 fiel mit der Eröffnung eines Ausweichgebäudes – übrigens ebenfalls mit einer zentralen Achse nach dem Vorbild der großen Halle in der Mitte des Hauptfgebäudes – der Startschuss zur großangelegten Campussanierung, die in den nächsten zehn Jahren rund 1 Milliarde Euro kosten wird.69 Schon im Vorfeld ist auf dem Bielefelder Campus ein neues Namenskonzept umgesetzt worden. Alle Wege und Plätze wurden nach wissenschaftlichen Erkenntnisbegriffen benannt und heißen nun beispielsweise »Bildungsgang«, »Pfad der Erkenntnis«, »Hermeneutischer Zirkel« oder »Durchbruch«. Wie ist das Verhältnis der beiden Universitäten zu ihren Gründungsfiguren? Das Verhältnis der Bielefelder Neugründung zu ihrem Konzeptgeber war seit 68 Die neuen Unis sind die Besten, in: Der Spiegel, 11.12.1989. 69 Informationen online unter: http://www.campus-bielefeld.de/, letzter Abruf 19.7.2014.
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Schelskys Weggang lange Zeit gar keines. Erst mit der Erschließung seines auf die Gründung bezogenen Nachlasses im Universitätsarchiv bis 2006, einer Ausstellung des Archivs zum 40sten Jubiläum im Jahr 2009 und einem Symposium am ZiF zum 100. Geburtstag Schelskys in 2012 änderte sich das allmählich.70 Hermann Lübbe rief die Universität bei seinem Vortrag auf diesem Symposium explizit dazu auf, Schelsky ein Andenken zu bewahren.71 Anders verhält sich die Lage in Konstanz, wo einige der Gründer früh mit akademischen Ehren ausgezeichnet wurden und die Universität die Beziehung zum letzten überlebenden Gründungsausschussmitglied Ralf Dahrendorf pflegte. Schon bald nach seinem Tod im Jahr 2009 wurde vor dem Senatssaal der Universität eine Bronzebüste Dahrendorfs aufgestellt. Die 50-Jahrfeiern beider Einrichtung in den Jahren 2016 und 2019 werden wohl Aufmerksamkeit nicht nur auf die Gründergeneration der »Reformuniversitäten« lenken. Zu jenem Teil ihrer Entwicklung, der die Gründungsgeschichte in langer Perspektive betrifft, will dieses Buch einen Beitrag leisten.
70 Löning, Wie gründet man Universitäten. 71 Giving Meaning to Interdisciplinarity in the Organization of Universities – A Symposium on the Occasion of Helmut Schelsky’s 100th Birthday. Als Publikation dazu inzwischen: Weingart/Padberg, University Experiments.
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Mit Bezug auf die eingangs formulierten Fragen werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung im Folgenden zusammengefasst. Den 1960 einsetzenden Universitätsgründerzeiten ging zunächst eine 15 Jahre andauernde Diskus sionsphase über Hochschulreformen voraus. Diese Debatte war anfangs in hohem Maße durch Beiträge einzelner Personen bestimmt, da erst im Verlauf dieser anderthalb Jahrzehnte das Set an Interessenvertretungen und Wissenschaftsorganisationen schrittweise komplettiert wurde. Die Alliierten in den drei westlichen Zonen und Berlin verfolgten jenseits der zeitweisen Versuche zur Entnazifizierung keine entschlossene Reformagenda. Briten und Amerikaner ermöglichten in den ersten Nachkriegsjahren vor allem Gesprächsforen, um deutsche Universitätsvertreter zur Auseinandersetzung mit einzelnen Bestandteilen der Hochschullandschaften ihrer Heimatländer anzuregen. Erst als die Verantwortung für den Kultusbereich bereits wieder auf die Länder übergegangen war, veranlassten die Briten eine Bestandsaufnahme der Hochschullandschaft in ihrer Besatzungszone und setzten eine Arbeitsgruppe nach ihrem Muster einer Royal Commission ein, die ein erstes umfangreiches Grundsatzdokument mit Vorschlägen zur Hochschulreform erarbeitete, das sich vor allem auf die Bildungs- und Ausbildungsaufgaben der Universitäten und ihre Öffnung zur Gesellschaft konzentrierte. Zwar hatten sich auch einzelne Universitäten mit Neuerungen der Bildungsfunktion als einem weit verstandenen, stets aber unzureichend definierten Bereich beschäftigt, unter dem charakterliche Bildung der Studierenden, Allgemeinbildung aber auch Demokratieerziehung etwa über ein neues und teils verpflichtendes Studium generale verstanden wurden, doch waren dies nur punktuelle und nicht abgestimmte Maßnahmen. Grundsätzlich wurde von den Universitäten am Leitbild der Humboldtschen-Universität festgehalten, das nun bei vielerlei Gelegenheiten popularisiert wurde. Reform durch Neugründung erfuhr, ohne dass dies von den Zeitgenossen so bezeichnet wurde, bereits eine Erprobung an verschiedenen neu gegründeten Institutionen in allen drei westlichen Besatzungszonen. Am aktivsten waren die französischen Besatzer, die in Mainz und Saarbrücken zwei Universitäten und in Speyer eine neuartige Hochschuleinrichtung gründeten und Wehrmachtskasernen zu Campusuniversitäten umwidmeten. Zu den regionalpolitischen Motiven der französischen Besatzer trat die Absicht hinzu, die Lehr- und Forschungsinhalte zu erweitern und beispielsweise vergleichende Studien in der Geschichts-, der Literatur- aber auch den Rechtswissenschaften zu fördern. Briten und Amerikaner unterstützten ebenfalls die Stärkung b estimmter Fächer, insbesondere
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der Sozialwissenschaften, aber auch Experimente mit neuen Hochschultypen. So entstand in der britischen Zone eine Hochschule in Wilhelmshaven, welche die Förderung sozialwissenschaftlicher Fächer mit einem College-Experiment kombinierte. Die Öffnung der Universitäten für neue Schichten und der Zugang über den zweiten Bildungsweg spielten sowohl in Wilhelmshaven als auch an der neuen Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg eine Rolle, an der verschiedene Soziologen, die sich in den 1960ern für Hochschulreformen engagierten, in den Nachkriegsjahren zuerst lehrten. Die Neugründung der Freien Universität in Berlin wurde von den amerikanischen Besatzern zwar nicht angestoßen, aber schließlich kräftig unterstützt. An der Freien Universität wurden ebenfalls bestimmte Fächer gestärkt, Mitbestimmungsrechte der Studierenden erstmals verankert und mit dem Studentendorf Schlachtensee ferner ein Wohnexperiment gefördert. Ein andersartiger Vorstoß aus der amerikanischen Besatzungsadministration, der auf Basis der in Berlin verbliebenen Kaiser-Wilhelm-Institute eine forschungsstarke Graduiertenuniversität schaffen wollte, blieb hingegen ohne breite Unterstützung und wurde schließlich aufgegeben. All diese institutionellen Reformexperimente der späten 1940er Jahre sind zeitgenössisch aber nicht im Zusammenhang betrachtet worden, ihre Erfahrungen weder systematisch ausgewertet noch beworben worden. Die Innovationen spielten sich vielmehr an der Peripherie der Universitätslandschaft ab, auch weil die offizielle Vertretung der Universitäten Neugründungen aus Sorge um Qualitätsverluste, vor allem aber aus Ressourcen- und Statuskonkurrenz vehement ablehnte. In den 1950er Jahren brachen die Reformdiskussionen keineswegs ab. Während der Wiederaufbau der Universitäten voranschritt, wurden im Verlauf des Jahrzehnts nacheinander alle Aufgaben der Universitäten in den drei Bereichen Bildung, Ausbildung und Forschung Gegenstand von Reformvorschlägen. Aus der unmittelbaren Diskussion der Nachkriegsjahre herkommend stand zunächst vor allem die Bildungsfunktion der Universitäten im Fokus, die nach Ansicht mancher um eine Erziehungskomponente ergänzt werden sollte. Entsprechende, wiederum häufig vage formulierte Vorschläge wurden auf Konferenzen diskutiert und in Bestandsaufnahmen zusammengetragen, bezogen sich nicht nur auf das Studium generale, sondern auch auf konkrete Experimente mit neuen Gemeinschaftswohnformen, die den konservativen Studentenverbindungen als neuartige, teils aber auch bildungsromantisch verklärte Sozialisationsformen für die Studierenden entgegengesetzt wurden. Konkurrenz erfuhren diese Wohnund Bildungshäuser im Verlauf der 1950er Jahre allerdings durch den aufkommenden sozialstaatlichen Studentenwohnheimbau, der Unterkunft ohne verbindliches Programm bot, und auch durch die evangelischen und katholischen Hochschulgemeinden, die Unterkunft mit einem wiederum eigenen Programm kombinierten. Mitte des Jahrzehnts rückte mit dem voranschreitenden Wiederaufbau, dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Systemkonkurrenz von Ost und West die Forschungsseite der Universität stärker in den Vordergrund. Nach-
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holbedarf in der Forschung, Förderungsbedarf für neue Disziplinen und fachgrenzenübergreifende Forschung wurden zu Themen der in diesem Feld nun Aktivitäten entfaltenden Hochschul- und Wissenschaftspolitik von Bund und Ländern. Während von den Universitäten mit Blick auf ihre Forschungsfunktion Struktur- und Organisationsveränderungen erwartetet wurden, entstand parallel ein großer außeruniversitärer Forschungsbereich, in den zunächst vor allem natur- und ingenieurwissenschaftliche Forschung abwanderte. Mit der neuen Aufmerksamkeit für die Forschungsfunktion erlebten die ehemals prestigereichen Geisteswissenschaften zugleich einen Statusverlust gegenüber den anwendungsbezogenen Natur- und Ingenieur-, sowie den mit Blick auf die moderne Gesellschaft ebenfalls anwendungsbezogenen und in der Bundesrepublik noch neuen Sozialwissenschaften. Parallel zu dieser neuen Aufmerksamkeit für die Forschungsfunktion der Universitäten rückte in einem dritten Schritt mit der starken Zunahme der Studierendenzahlen ab Mitte des Jahrzehnts ihre Ausbildungsfunktion in den Vordergrund. Diese Entwicklung, die ganz im Einklang mit internationalen Trends stand, überraschte dennoch sowohl die Länder als auch die Universitäten, die die einsetzende Wandlung von Forschungsund Elitebildungs- zu Breitenausbildungseinrichtung zunächst mehrheitlich als »Überschwemmung« und »Sturzflut« wahrnahmen. Die Vergrößerung der Universitäten erfolgte also nicht planvoll »von oben«, sondern anfangs rein nachfragegetrieben. Auch die sozialpolitische Maßnahme einer breiten finanziellen Studienförderung wurde erst auf hartnäckige Lobbyarbeit der Studierenden hin eingeführt. Während zur Neuausrichtung der Bildungsfunktion schon in den Nachkriegsjahren Impulse aus den Heimatländern der drei Besatzungsmächte aufgenommen wurden, die teils eine eigentümliche Kombination mit deutschen bildungshumanistischen Zielen erlebten, übten für die Forschungsfunktion in den 1950er Jahren vor allem die Vereinigten Staaten Orientierungsfunktion aus. In Sachen Ausbildungsfunktion öffneten sich die Akteure schließlich erst ganz am Ende der 1950er Jahre internationalen Vergleichen. An der Wende von den 1950er zu den 1960er Jahren wurde die Notwendigkeit des Ausbaus der Universitäten und einer aktiveren und planvolleren Hochschul- und Wissenschaftspolitik anerkannt und mit dem Wissenschaftsrat zunächst ein zuständiges neues Gremium eingerichtet. Die Vereinbarung eines umfangreichen Ausbaus der bestehenden Universitäten – anfangs noch ganz nach deren Wünschen – wurde ergänzt um die Neugründung einiger Hochschulen. Mehrere Länder erklärten sich ab Ende 1959 zu Universitätsneugründungen an den Standorten Bochum, Bremen, Konstanz und Regensburg bereit. Die Neugründungsoption wurde von den reforminteressierten Kräften als große Chance angesehen, die seit dem Kriegsende ventilierten, häufig aber nur punktuell aufgenommenen oder gänzlich abgelehnten Ideen in neuen Institutionen zu erproben und von dort aus in die bestehenden Universitäten zu überführen. Dieser Aufbruch fiel ironischerweise genau in das 150ste Gründungsjahr der
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Berliner Humboldt-Universität, deren Entwicklung seit dem frühen 20. Jahrhundert zur idealtypischen deutschen Universität verklärt worden war. Die reforminteressierten Kräfte nutzten diese Koinzidenz und propagierten die Neugründungen als eine Art neue Humboldt-Universitäten der Gegenwart. Binnen kurzer Zeit entstanden in den anbrechenden Universitätsgründerzeiten drei verschiedene Vorschläge zur Gestaltung der Neugründungen, die jeweils unterschiedliche Akzente auf die Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungsfunktion setzten und auf je eigene Weise Traditionsbezüge und internationale Vorbilder kombinierten. Als erstes wurde in Bremen das Konzept einer Collegeund Campusuniversität vorgelegt, das an die Erziehungs- und Bildungsdiskussionen der Nachkriegsjahre anknüpfte und diese mit einem Transfer architektonischer Ideen verknüpfte, der sich praktisch an Vorlagen vor allem aus Nordund Südamerika orientierte. Als zweites legte der Wissenschaftsrat ein Bündel an Vorschlägen für Neugründungen vor. Seine »Anregungen« widmeten sich einerseits der Bildungs- und Ausbildungsfunktion der Universitäten mit einem Vorschlag, der von den angelsächsischen Colleges auch terminologisch Abstand hielt und sogenannte Kollegienhäuser samt Lehrprogramm entwarf. Andererseits entwickelte das neue Gremium den Plan für eine forschungsstarke Universität mit verschiedenen organisatorischen Innovationen, die für die Konstanzer Neugründung gedacht waren. Dabei setzten in der Deutschen Forschungsgemeinschaft aktive Wissenschaftler unter Hinzunahme des Soziologen Ralf Dahrendorf die entscheidenden Impulse. Als Dritter unterbreitete der Verband Deutscher Studentenschaften ein sorgfältig ausgearbeitetes, umfangreiches Programm für neue Universitäten, das abgeschotteten Experimenten – auch im Sinne von Campusanlagen in Stadtrandlage – eine Absage erteilte, am stärksten die Ausbildungsseite der Universität betonte, und in der Sorge um individuelle Autonomieverluste vor allem jegliche Wohn- und Gemeinschaftsexperimente strikt ablehnte. Während diese drei Konzepte ausgearbeitet wurden und von einer auch zunehmend öffentlich geführten Diskussion über Hochschulreformen und Chancen von Neugründungen begleitet wurden, begannen die Länder bereits ihre Neugründungsaktivitäten zu konkretisieren. Der Konstanzer Gründungsimpuls des baden-württembergischen Ministerpräsidenten erfolgte 1959 zunächst aus regionalpolitischen Motiven der Strukturförderung am Bodensee und der Einbindung des neuen Landesteils Baden. Mit der inhaltlichen Bestimmung des Leuchtturmprojektes des Landesvaters war das Kultusministerium hingegen überfordert und suchte externe Hilfe, wie durch die erstmalige Auswertung von Auftragsgutachten verschiedener Wissenschaftler für diese Untersuchung gezeigt werden konnte. Während die Einzelgutachten, die man nach Humboldts Vorbild eingeholt hatte, dem Land keine eindeutige Richtung wiesen, erhielt die Neugründung durch die Beratung mit Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft eine Ausrichtung auf die Forschungsfunktion der Universität und die Förderung bestimmter Fächer,
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deren Stand und Förderbedarf die DFG gerade hatte kartographieren lassen. Diese Ausrichtung der Neugründung wurde durch die vehemente Ablehnung der Collegeexperimente durch die Interessenvertretung der Studierenden bestärkt. Insgesamt benötigte das Land mehrere Jahre, die Universitätsgründung einzuleiten und die politische Meinungsbildung in Landesregierung und Parlament zu organisieren. Um im Parlament einen breiten Konsens über die Gründung herzustellen, wurden schließlich Überlegungen einer reinen Graduiertenuniversität aufgegeben, ebenso wie eine strikte Größenbegrenzung und eine Residenzpflicht auf dem Campus. Die Konzeptarbeit des Gründungsausschusses konnte erst anschließend einsetzten, als die Bildungspolitik 1964 auf Basis neuer empirischer Untersuchungen und deren populärer Verbreitung neue öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr und der Handlungsdruck auf die Politik stetig anstieg. Der Konstanzer Gründungsausschuss folgte dennoch dem in den Vorarbeiten des Wissenschaftsrates und der Denkschrift der Landesregierung vorgegebenen Rahmen und konkretisierte ein Universitätskonzept, das den Akzent auf die Forschung in einigen Fachgebieten sowie verschiedene organisatorische Neuerungen setzte, zwar auch Vorschläge zur Studienreform enthielt, aber weitgehende Abweichungen von der bestehenden Hochschullandschaft vermied. Weder Land noch Gründungsausschuss konnten sich in diesem Prozess darüber einig werden, ob die neue Universität nun eine Art Reservat und Sonderwissenschaftszone mit Privilegien für die dortigen Forscher sein oder aber als »reformierte Normaluniversität« Modellcharakter für bestehende Universitäten haben sollte. Das Bielefelder Neugründungsprojekt startete 1964 zeitverzögert zu den ersten Neugründungen der 1960er Jahre, nachdem Nordrhein-Westfalen die Neugründung Bochum sowie eine weitere in Dortmund auf den Weg gebracht hatte und nun sehr viel schneller in der Lage war, die Neugründung in Ostwestfalen einzuleiten. Diese folgte zunächst ebenfalls regionalpolitischen Motiven, wurde dann aber reformerisch aufgeladen und an das Konstanzer Experiment angelehnt. Während Baden-Württemberg ganz auf die Beratung durch den Wissenschaftsrat gesetzt hatte, wählte das Düsseldorfer Kultusministerium für seine dritte Gründung den Soziologen Helmut Schelsky aus, der sich seit Einsetzen der Gründerzeit intensiv mit der Geschichte und Soziologie der Hochschulreform und den bereits bekannten Plänen für Neugründungen auseinandergesetzt hatte. Wie im Rahmen dieser Untersuchung erstmals gezeigt werden konnte, war Schelskys Interesse an der Forschung noch weitgehender als im Fall der Konstanzer Gründer. Er hatte sich zunächst nämlich nur für eine neuartige »Akademie« als außeruniversitäre, interdisziplinäre Forschungseinrichtung eingesetzt, geprägt durch Erfahrungen als Leiter der großen Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster. Erst als Schelskys Projekt keine Förderung durch die neue Stiftung Volkswagenwerk erhielt und etwa zeitgleich das Angebot des Gründungsausschussvorsitzes aus dem Düsseldorfer Kultusministerium kam, arbeitete er seine Pläne so um, dass seinem Center for Advanced Studies quasi
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eine Universität angegliedert wurde. Während im Konstanzer Fall die Vorbereitungen des Landes langwierig und die Gründungsausschussarbeit dafür rasch verlaufen waren, verhielt es sich im Bielefelder Fall genau umgekehrt. Zwischen Gründungsimpuls und Beauftragung Schelskys war wenig Zeit vergangen, doch seit seinem Kurzkonzept gab es eine nicht enden wollende Reihe an Verzögerungen. Sah es zunächst so aus, als hätte Schelsky die Zustimmung des Ministers für Konzept, Gründungsgruppe und Finanzierung, stellten sich all diese Aspekte in dem Moment, als renommierte Wissenschaftler informell zur Mitarbeit gewonnen waren, als unsicher heraus. Viel Papier wurde mit Konzeptentwürfen versehen, bis es am Ende ein knappes offizielles Dokument der Gründungsgremien gab. Viele Ideen, die Schelsky im Gespräch mit den potentiellen Gründungsausschussmitgliedern für die Neugründung entwickelt hatte, waren darin gar nicht mehr enthalten. Die letztlich knapp fixierten Ziele umfassten neben dem ZiF vor allem Strukturen und Instrumente zur besser abgestimmten und fachgrenzenübergreifenden Forschung. Dieser Universitätstyp sollte nach Schelsky keinen allgemeinen Modellcharakter haben, sondern ein Baustein zur Differenzierung der Hochschullandschaft sein. Während die Bau- und Aufbauplanungen an beiden Standorten liefen, bei denen sich die Architekten noch stärker an internationalen Vorbildern orientierten, als es die Wissenschaftler getan hatten, erste Berufungen erfolgten und Lehre und Forschung in Provisorien aufgenommen werden konnten, veränderte sich das Umfeld der beiden Reformuniversitäten radikal. Die Konjunkturentwicklung erlebte 1965/66 eine erste Abkühlung, wohingegen sich die Gemüter der Studierenden ab 1966/67 erhitzten und sich ihr Fokus allmählich von den Vorschlägen zur Hochschulreform zu Vorschlägen der Gesellschaftsreform entwickelten, die von den Universitäten ausgehen sollte. Die an den beiden Reformuniversitäten beteiligten Wissenschaftler und Politiker haben auf diese nachhaltige Veränderung der Umwelt unterschiedlich reagiert. Ralf Dahrendorf hat seine Beratungstätigkeit von der forschungsorientierten Reformuniversität Konstanz direkt nach dem Beginn des Lehrbetriebs ab- und ganz der Entwicklung seines ausbildungsorientierten Gesamthochschulplanes zugewandt. Helmut Schelsky dagegen ließ sich zwar als Soziologe, genau wie Dahrendorf, auf Landesebene für einen Planungsbeirat einspannen, um planend den Blick von einer einzelnen, stimulierend gedachten Neugründung auf die gesamte Hochschullandschaft zu weiten, ist dabei jedoch seiner Schwerpunktsetzung auf Forschung treu geblieben. Während Dahrendorf angespornt vom enormen medialen Echo auf seinen neuen großen Plan in die Politik aufbrach, resignierte Helmut Schelsky über die für seine Wahrnehmung nach fehlende Professionalität der Hochschulpolitik und deren mangelnde Bereitschaft, unter starkem öffentlichen Druck den von ihm für richtig erachteten Weg zu einem differenzierten Hochschulsystem weiterzugehen. Hätten die beiden Neugründungen in ihrer ursprünglichen Zuspitzung auf die Forschung gerettet werden können, wenn das Verhältnis zu den Studierenden
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besser gewesen wäre? Beide Gründungsausschüsse hatten schließlich die Vorschläge des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) ignoriert und erst auf dem Höhepunkt der Proteste Studierende und Assistenten zu ihren bereits weitgehend abgeschlossenen Beratungen hinzugezogen. Eine engere Einbindung des VDS hätte zumindest nicht über 1969 hinaus getragen, da der Verband auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen von Studenten aufgelöst wurde und eine professionelle Interessenvertretung der Studierenden seitdem in der Bundesrepublik nicht mehr existiert. Überhaupt machten sich die Verbündeten für die Neugründungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend rar. Der Wissenschaftsrat wandte sich von den Neugründungsprojekten in Konstanz und Bielefeld ab, indem er versuchte, Reformen doch direkt in die Breite der Hochschullandschaft zu bringen. Für die Bildungs- und Ausbildungsfunktion der Universität empfahl er 1966 die Einführung der gestuften Studienstruktur, für die Stärkung der Forschungsfunktion 1967 die breite Einführung von Sonderforschungsbereichen, für die Verbesserung der Selbstverwaltung unterbreitete er 1968 entsprechende Vorschläge und für die Neuordnung des gesamten Hochschulbereiches befürwortete er 1970 schließlich die Struktur der integrierten Gesamthochschule. Mitten im Aufbau der Reformuniversitäten in Konstanz und Bielefeld wurde die Bildungs- und Hochschulpolitik gegen Ende der 1960er Jahre förmlich überschüttet mit Reformkonzepten, zu denen dann aus Bielefeld auch noch Hartmut von Hentigs Laborschul- und College-Projekte kamen, die das dortige Neugründungsprofil nachgelagert auch auf den Seiten Bildung und Ausbildung ergänzen sollten. Die Hochschulpolitik konzentrierte sich nach der ersten Demokratisierungswelle durch Verbreiterung des Zugangs und Ausbau der Hochschulen seit Anfang der 1960er am Ende der 1960er aber ganz auf die Verrechtlichung des Hochschulbereichs durch erste Entwürfe und baldige Novellierungen von Hochschulgesetzen, die eine Homogenisierung der Landeshochschullandschaften und Vorgaben zur zweiten Demokratisierung – der Mitbestimmung aller universitären Gruppen an der Hochschulselbstverwaltung – enthielten. Die Fokussierung auf die Ausbildungsseite der Universitäten und die Quantitäten, die Verrechtlichung der Rahmenbedingungen sowie die damit einhergehenden Autonomieverluste der Anfang der 1960er Jahre noch sehr frei konzeptionierenden Wissenschaftler führte etliche an den Gründungen beteiligte Personen in eine enttäuschte Haltung. Die ersten Zwischenbilanzen zum zehnjährigen Jubiläum des Lehrbetriebs in Konstanz und Bielefeld 1976/79 fielen daher über weite Strecken pessimistisch aus, während sich die jeweilige Landespolitik zurückhielt und das Beratungsgremium Wissenschaftsrat sich sogar ganz auf eine quantitative Bilanz der Neugründungen zurückzog. Diese Gründerkrise der 1970er Jahre, die auf euphorische Universitätsgründerzeiten und Hochschulreformjahre im vorangegangenen Jahrzehnt folgte – bei fortdauernden Neugründungen von Universitäten, Fach- und Gesamthochschulen –, ist in langfristiger Perspektive zu relativieren. Einige der jüngeren
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Gründer aus den 1960er Jahren erhielten in den 1990er Jahren sogar die ungewöhnliche Chance, nochmals gründend aktiv zu werden. Eine nachfolgende Generation Hochschulreformer aus Wissenschaft und Politik hat viele Themen der 1950er und 1960er Jahre seit den späten 1990er Jahren wieder aufgegriffen, allerdings wohl eher in Unkenntnis der Vorgeschichte, und mit einigen Jahrzehnten Verzögerung auch umsetzen können. Die grundsätzliche Herausforderung bestand in den 1960er wie auch seit den ausgehenden 1990er Jahren darin, Expansion und Reform gleichzeitig zu bewältigen und keine einseitige Förderung einer einzelnen Aufgabe der Universitäten in Bildung, Ausbildung und Forschung zu betreiben. Während die Wissenschaftler sich häufig vorrangig der Forschungsfunktion und die Hochschulpolitiker eher der Ausbildungsfunktion zuwenden, fehlt es der Bildungsfunktion der Universitäten und überhaupt ihrer lebens weltlichen und sozialen Seite bis heute an Fürsprechern.
Dank
Dieses Buch ist die gekürzte Fassung meiner im Dezember 2014 an der Freien Universität Berlin verteidigten Dissertation. Mein Dank gilt vielen Menschen, die mich auf dem langen Weg bis zur Fertigstellung dieser Studie unterstützt haben. Die Universität als Untersuchungsgegenstand hätte mein Interesse kaum geweckt ohne die Erfahrungen an drei sehr unterschiedlichen Universitäten. An allen hatte ich das Glück, auf besondere akademische Lehrer zu treffen, die zugleich Mentoren waren: in Augsburg Klaus-Dieter Post, in Charlottesville (USA) Janet Hudson und das Team am German Department, an der Humboldt-Universität in Berlin Heinrich August Winkler und Rüdiger vom Bruch. Mein Doktorvater Paul Nolte hat die Promotion trotz ungeahnter Dauer und bald auch räumlicher Entfernung auf eine Art betreut, von der viele Promovierende wohl nur träumen können. Ein klassisches gedrucktes Buch wäre aus der Dissertation ohne seine Beharrlichkeit und sein Engagement sowie den großzügigen Druckkostenzuschuss der Universitätsgesellschaft Bielefeld nicht mehr entstanden. Die Archiv- und Literaturrecherchen erleichtert haben insbesondere Martin Löning vom Universitätsarchiv Bielefeld und Thomas Lampe von der Bibliothek der Hochschulrektorenkonferenz. Für ihre Bereitschaft zum Gespräch danke ich den Zeitzeugen Lothar Krappmann und Peter Müller, für die Überlassung von Dokumenten der VolkswagenStiftung ihrem Generalsekretär Wilhelm Krull. Wertvolle Rückmeldungen zu Teilen des entstehenden Textes gaben Tanja Hommen, Alexander Kranz, Franziska Meifort, Britta Padberg und Gerlind Rüve. Auf unterschiedliche Weise mit Rat und Tat unterstützt haben dieses Projekt meine Eltern und Geschwister sowie Margareta Schweiger-Wilhelm, Levke Haders, Veronika Lipphardt, Ele Schiller und ganz besonders Renate Lüderitz. In der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates haben sich über die Jahre viele Kolleginnen und Kollegen für gelegentliche historische Exkurse interessieren lassen. Dass ich mich mit Universitätsreformen und Reformuniversitäten nicht nur im Beruf, sondern über zehn Jahre unseres gemeinsamen Lebens in wechselnder Intensität noch »nebenher« beschäftigen konnte, verdanke ich Rebecca, die ich ohne Wissenschaftsgeschichte freilich nicht kennengelernt hätte. Sie hat meinen Text, der zu weiten Teilen erst mit Matilda und Pauline das Laufen lernte, neben ihrem beruflichen Büchermachen für die Begutachtung und noch ein zweites Mal zur Publikation in Form gebracht.
Abkürzungen
AdWR Archiv des Wissenschaftsrates BaFöG Bundesausbildungsförderungsgesetz BArch Bundesarchiv BuW Baukunst und Werkform BzW Berichte zur Wissenschaftsgeschichte CDU Christlich Demokratische Union DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DUZ Deutsche Universitätszeitung FDP Freie Demokratische Partei FU Freie Universität Berlin GG Geschichte und Gesellschaft GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HRK Hochschulrektorenkonferenz HSTA NRW Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf HStAS Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart HZ Historische Zeitschrift IAS Institute for Advanced Studies JbUg Jahrbuch für Universitätsgeschichte KBfH Konstanzer Blätter für Hochschulfragen KMK Kultusministerkonferenz MPG Max-Planck-Gesellschaft Nl. Nachlass NTM NTM: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin SDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund SFB Sonderforschungsbereich SFS Sozialforschungsstelle Dortmund SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands TH/TU Technische Hochschule/Technische Universität UABI Universitätsarchiv Bielefeld UAKO Universitätsarchiv Konstanz VDS Verband Deutscher Studentenschaften VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte WR Wissenschaftsrat WRK Westdeutsche Rektorenkonferenz ZiF Zentrum für interdisziplinäre Forschung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archivalien Archiv des Wissenschaftsrats, Köln
Protokolle der Wissenschaftlichen Kommission, der Verwaltungskommission und der Vollversammlung
Bundesarchiv, Koblenz
B/138 Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft B/166 Verband Deutscher Studentenschaften B/247 Wissenschaftsrat
Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart EA 3
Kultusministerium
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf NW 122 NW 178 NW 681
Kultusministerium: Ministerbüro Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Abteilung III Ministerium für Wissenschaft und Forschung: Neugründungen
Universitätsarchiv Bielefeld
Konzeptionelle Planung (KP) Gründungsausschuss/Wissenschaftlicher Beirat (GA/WB) Nachlass Hirzebruch Nachlass Schelsky
Universitätsarchiv Konstanz 57 147 148
Gründungsrektor, Gerhard Hess Rektor Gerhard Hess Rektor Gerhard Hess
Periodika Badische Neueste Nachrichten Christ und Welt Der Spiegel Deutsche Universitätszeitung Die Zeit Frankfurter Allgemeine Zeitung Handelsblatt
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Konstanzer Blätter für Hochschulfragen Konstanzer Universitätszeitung Neue Westfälische Tagesspiegel Westfalen-Blatt
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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–, Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Hochschulsystems des Landes Bremen, Köln 2013. –, Private und kirchliche Hochschulen aus Sicht der Institutionellen Akkreditierung, Köln 2012. –, Stellungnahme zum Ausbaustand und zu den Entwicklungsbedingungen neuer Hochschulen, Köln 1980. –, Stellungnahme zur Gründung einer Universität in Erfurt, Köln 1992. –, Stellungnahme zur Reakkreditierung der Jacobs University Bremen, Köln 2008. –, Stellungnahme zur Universität Erfurt, Köln 2004. –, Stellungnahme zur vorläufigen Akkreditierung der International University Bremen (IUB), Köln 2001. –, Vergleich von Kosten deutscher und ausländischer Hochschulbauten. Bericht einer vom Wissenschaftsrat beauftragten Arbeitsgruppe über eine Untersuchung ausgewählter inund ausländischer Beispiele, Wiesbaden 1968. –, Verzeichnis 1968 im Sinne der Verfahrensordnung für die Einrichtung und Finanzierung von Sonderforschungsbereichen, Juli 1968. –, Zur Einrichtung von Kollegienhäusern an wissenschaftlichen Hochschulen, in: ders., Anregungen zur Gestalt neuer Hochschulen, 1962. Wolbring, Barbara, Trümmerfeld der Bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945–1949), Göttingen 2014 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 87). –, »Ein wirklich neuer Anfang«. Öffentliche Kritik an den Universitäten und Reformforderungen in der Besatzungszeit (1945–1949), in: Franzmann, Andreas/Wolbring, Barbara (Hg.), Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin 2007, S. 61–74. Wolff, Wilhelm von, Das unbekannte Gesamte. Zur Baugeschichte der Universität Konstanz, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 128 (2010), 181–212. Wolfrum, Edgar, Rot-Grün an der Macht, Deutschland 1998–2005, München 2013. Wolgast, Eike, Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46), Heidelberg 2001 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 22). Würmser, Grit, Auf dem Weg zu neuen Hochschultypen. Eine organisationssoziologische Analyse vor dem Hintergrund hochschulpolitischer Reformen, Wiesbaden 2010. Zauner, Stefan, Die Johannes Gutenberg-Universität als »Université Rhénane«. Zur Wiedergründung der Mainzer Hochschule 1946 im Kontext der französischen Besatzungspolitik, in: BzW 21 (1998), S. 123–142. Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (Hg.), Bericht der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen in Dortmund 1973–1974, Dortmund 1974. Zierold, Kurt, Forschungsförderung in drei Epochen: Deutsche Forschungsgemeinschaft: Geschichte, Arbeitsweise, Kommentar, Wiesbaden 1968. Zünder, Ralf, Studentendorf Schlachtensee 1959 bis 1989; eine Dokumentation, Berlin 1989. –, Eichkamp! 60 Jahre Internationales Studentenheim in Berlin 1947–2007, Öhringen 2007. Zur Universität Konstanz. Stellungnahme des Kultusministeriums, abgedruckt in: KBfH 4 (1966), S. 14–52. Zur Universität Konstanz. Stellungnahme des Finanzministeriums, abgedruckt in: KBfH 4 (1966), S. 7–25.
Personenregister
Abendroth, Wolfgang 46, 97 f. Adenauer, Konrad 69 Adorno, Theodor 58, 324 Aebli, Hans 348 Aicher, Otl 361 f. Albach, Horst 287, 320 Albert, Hans 257, 286 f. Alewyn, Richard 257, 259, 265, 269, 324 Andersch, Alfred 27 Angelloz, Joseph-Francois 40 Anger, Hans 58–60, 62, 78, 111, 118, 251 Anrich, Ernst 99, 102, 105 f., 115 f., 124 Antes, Horst 364 Aschoff, Volker 285, 287, 391 Autenrieth, Heinz 159–165, 178, 180, 199 Autrum, Hansjochem 74, 198, 201 f. Bachmann, Horst 140 f., 147 Bachof, Otto 307 Bahrdt, Hans Paul 147, 413 Bargmann, Wolfgang 112, 194, 415 Baumgarten, Eduard 58, 111, 113, 118, 124, 138, 142, 147, 162 f., 185–187, 190, 243, 251 Becker, Carl Heinrich 27, 68, 80, 250, 252 Becker, Hellmut 68, 377, 450 Bender, Joachim 370 Bense, Gerhard 370 Besson, Waldemar 135–137, 201 f., 210 f., 231, 233, 290, 295, 348, 353, 422, 426 Bill, Max 356 Blumenberg, Hans 198, 201, 287, 289 f., 293, 321, 338, 354 Bock, Klaus Dieter 278, 283, 291 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 287, 320, 349, 414 Boeckh, Joachim 51 Bohnenkamp, Hans 135 Bolewski, Hans 162 Brandt, Willy 174 f., 402, 416 Bredereck, Hellmut 201 f., 216, 385 Brezinka, Wolfgang 416 f. Bulmahn, Edelgard 466 Bünning, Erwin 194 Butenandt, Adolf 69, 76, 194
Chamier, Bernward von 370 Cimiotti, Emil 364 Claessens, Dieter 287, 296, 321, 338 f. Clemen, Wolfgang 257, 265, 295 Coing, Helmut 68, 72, 84, 110 f., 116, 123, 125, 129 f., 138, 179, 186, 191, 265, 267 f., 448 f. Conze, Werner 191, 201, 285, 287, 289, 292, 294 f., 321, 325 f., 328, 332 f. Dahrendorf, Ralf 12, 18, 20 f., 35, 40, 46, 58, 89, 126, 130, 153, 171, 179- 187, 197, 201–215, 219–222, 231–233, 243 f., 247, 251, 261, 265–269, 283, 290, 295, 315, 324, 348, 351, 376, 383–392, 395–405, 409, 413 f., 422–430, 439, 442, 447, 450, 468, 470 f., 473 Daube, David 348 Dehnkamp, Willy 206 Delbrück, Max 74, 126, 348 Dewey, John 378 Diez, Theopont 418, 431 Dirks, Walter 27 Edding, Friedrich 87, 109, 146, 334 Ellwein, Thomas 15 Elmenau, Johannes von 195, 229 Erbe, Walter 187 Erhard, Ludwig 93, 331 Erichsen, Hans-Uwe 456 Eschenburg, Theodor 201, 212 Falkenstein, Adam 77, 201, 209 Ferber, Christian von 265, 268 f. Fichte, Johann Gottlieb 25, 82, 115, 246, 305 Filbinger, Hans 429 Firnhaber, Eberhard 351 Flexner, Abraham 252 Forßmann, Jörg 370 Fuchs, Walther Peter 51–56, 59, 72, 97, 98, 102–106, 117–119, 123, 159, 194, 203 Frese, Jürgen 321, 329, 339, 348 Friedeburg, Ludwig von 58, 389 Frühwald, Wolfgang 456 f.
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Personenregister
Gall, Lothar 454 Gambke, Gotthard 275 Geißler, Clemens 314 Gerstenmaier, Eugen 229 f. Gillessen, Günther 133 f., 414 f., 420 Glotz, Peter 449–451, 457 f. Goethe, Johann Wolfgang von 24, 211 Grimme, Adolf 97 f. Grotemeyer, Karl Peter 321, 348–353, 419, 434, 437–439 Haas, Rudolf 117, 119, 126 Habermas, Jürgen 58, 62 f., 104, 245, 251 Hahn, Wilhelm 12, 20, 135, 162–173, 178, 181, 200, 205 f., 265 f., 346, 384–386, 388–391, 403, 415–418, 421, 423–431 Hallauer, Fridolin 333 f., 338 Hallstein, Walter 32 f., 48 f., 108, 124, 152 Halsey, Albert Henry 383 Hamm-Brücher, Hildegard 230, 385 Hartmann, Heinz 287, 296, 321, 329 Hasemann, Karl-Gotthart 334 Heerwagen, Fritz 164, 189 Heieck, Ludwig 184 Heilmeyer, Ludwig 201 Heimpel, Hermann 61, 68, 79–83, 87, 98 f., 102, 105 f., 140, 163, 169, 257 Heisenberg, Werner 64 Helmle, Bruno 153, 201, 212 f., 431 Hemmerich, Peter 134 f., 415 Hennis, Wilhelm 214 f., 410–413, 427, 432, 462 Hentig, Hartmut von 20, 287, 289, 321–325, 348–350, 354, 371, 376–387, 390, 403, 411, 435, 469 Heppe, Hans von 81 Herrhausen, Alfred 449 Herzog, Helmut 368 Hess, Gerhard 66, 71–73, 76, 82 f., 126, 128, 130, 171, 179, 196–202, 207–219, 229–234, 243 f., 274, 277, 283, 285, 290 f., 295, 301, 331, 348–350, 358–360, 385, 417 f., 421–430, 434, 448 Heuss, Theodor 72, 111 Heuß, Alfred 115, 124 Hirzebruch, Friedrich 285, 292–295, 321, 333, 338, 350 Holthoff, Fritz 332–337, 342 f., 391, 394 Horkheimer, Max 58, 82 Hotzan, Jürgen 370 Huber, Ludwig 205
Humboldt, Wilhelm von 24–27, 30, 41 f., 53, 62, 82 f., 87, 91, 93, 99 f., 106, 111, 114 f., 128, 136, 143, 147, 159–164, 173, 184, 209–211, 220, 243, 245 f., 250–254, 268, 297 f., 309, 318, 355, 386, 425 Hylla, Erich 53, 58 Imdahl, Max 287, 290, 321 Iser, Wolfgang 198 Jacobs, Klaus 464 Jahr, Günther 321 Jahrreiß, Hermann 84, 86 f. Jaspers, Karls 26, 99, 102, 105 f., 135, 140, 169, 193, 244 Jauß, Hans Robert 198–200, 322, 348, 429–432, 456 Jecht, Horst 130 Jochimsen, Reimut 434 Karsen, Fritz 31, 42, 67, 125, 447 Kaufmann, Erich 287, 320 Kaulbach, Friedrich August von 450 Kerr, Clark 388 Kielmannsegg, Peter Graf 454 Kiesinger, Kurt Georg 110, 112, 126, 151–159, 165, 177, 182–188, 200, 205, 219, 233, 238, 247, 290, 312, 331, 346, 365, 384, 415, 422, 426–431, 440 Killy, Walther 53–56, 59, 72, 103, 106, 141, 256–264, 271–274, 286 f., 321, 329, 377, 379, 414 f., 419, 422, 449, 451 Kleihues, Josef Paul 367–370 Klett, Ernst 377 Klöppel, Kurt 112, 126, 191 Kogon, Eugen 27 Kohl, Helmut 431, 443, 452 f. Köpke, Klaus 368 Koselleck, Reinhart 287, 289, 321, 338, 349, 456 Korte, Hermann 371 Krappmann, Lothar 139, 148 f., 187 Krauch, Helmut 287, 321 Krause, Walter 184–187 Kreibich, Rolf 419 Krelle, Wilhelm 287, 292, 294 f., 320, 324 Krysmanski, Hans-Jürgen 321 Kübler, Friedrich 348, 418 f. Kühn, Heinz 331, 334 f. Kulka, Peter 368 Kurras, Karl-Heinz 340
Personenregister
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Lange, Josef 453 Legge, Stephan 370 Legge-Suwelack, Ursula 370 Lehnartz, Emil 117 Lemke, Wilfried 463 Lenz, Hans 148 Lenz, Wilhelm 241 f. Lepsius, Rainer 74–77, 179, 208, 448 Leussink, Hans 112, 125, 159, 290, 393 f., 404 Linde, Horst 217, 359 f., 365, 367 Lindsay, Alexander Dunlop 33, 35, 50, 97 Litt, Theodor 57, 82 Lohmar, Ulrich 205, 265, 289, 333 f., 354 Luckmann, Thomas 429 f. Ludz, Peter Christian 287, 321, 348 Luhmann, Niklas 350 Lübbe, Hermann 12, 209, 287–289, 292–298, 308, 311, 320 f., 325 f., 329, 333–339, 348–350, 380, 414, 434, 448, 453–458, 473 Lüst, Reimar 450 f., 460 f.
Nitsch, Wolfgang 139 Nörr, Dieter 287, 296, 320, 380
Maier, Franz Georg 348, 360 f. Maier, Hans 443 Maihofer, Werner 40, 287, 320, 338, 349 Mann, Wenzeslaus Ritter von 358–361 Marquard, Odo 287, 296, 321, 454 Maunz, Theodor 131 f., 195, 201, 205, 323 Medem, Eberhard Freiherr von 286, 292 f., 315 f., 320, 350, 380, 391 Meinecke, Friedrich 42 Melchers, Georg 74, 183 f., 198–200, 233 f., 363 Meschkat, Klaus 139 Mestmäcker, Ernst Joachim 257, 271, 285–287, 292, 294–296, 320, 328, 330, 338, 349 f. Metz, Johan 287, 292, 294–296, 321 Meyers, Franz 12, 148, 237, 331 Meyl, Arwed 73–75 Mikat, Paul 205 f., 237–243, 265, 274–279, 282–296, 306, 312–321, 324–336, 354, 391, 394, 434, 438 Mittelstraß, Jürgen 429–432, 456, 459 Moberly, Walter 252 Müller, Peter 139, 329, 339 f., 371 Münster, Clemens 27
Raabe, Paul 273 Raiser, Ludwig 12, 33, 56, 64 f., 71 f., 82, 89–91, 110–113, 117, 122–130, 133, 142, 156–162, 165, 171–173, 179, 196–202, 211–213, 216, 224, 231, 244, 248 f., 265–268, 278, 281, 290, 293, 295, 341, 348, 383, 386, 407, 419 Rau, Friedrich 174 f., 204 Rau, Johannes 334, 389, 402, 442 Rendtorff, Trutz 287, 296, 454 Repgen, Konrad 285, 294 f., 326, 329 Riddy, Donald Charles 29 Ritter, Gerhard A. 448 Ritter, Joachim 12, 201 f., 207–209, 219–223, 289, 385 Röhrs, Klaus 370 Rothe, Hans Werner 95–106, 107 f., 111, 114 f., 118, 120 f., 127 f., 133, 140–149, 158 f., 162–164, 169, 174, 179–181, 194, 218, 226, 240, 245–250, 277, 310, 356–361, 411, 444, 463 Rougemont, Dennis de 271 Rucker, August 82, 229 Rüegg, Walter 15 Rüthers, Bernd 432 f., 450
Naschold, Frieder 419, 427 f. Nesselhauf, Herbert 201 f., 209, 222, 231, 233, 348, 351, 385, 422, 429–432, 441, 448
Schaumann, Fritz 461 Scheel, Walter 404 Scheib, Otto 142, 216
Obst, Erich 95 f., 102 Oehler, Christoph 15, 58 Oetker, Rudolf 325, 327, 331 Oertzen, Peter von 443 Ohnesorg, Benno 340, 402 Oppenheimer, Julius J. 56 Orff, Carl 194 Piazolo, Paul Harro 194 f., 419, 431 Picht, Georg 57, 94, 203, 204, 215, 240 f., 267, 377, 384, 406 Pick, Heinz 165–170, 173, 178, 186, 200 Piene, Otto 364 Plessner, Helmuth 56, 75 f., 82, 257–259, 269 Pölnitz, Götz Freiherr von 323 f. Popitz, Heinrich 135, 471 Preisendanz, Wolfgang 198, 348
512
Personenregister
Scheidemann, Karl Friedrich 88–90, 109 Scheler, Max 252 f., 259 f. Schelsky, Helmut 12, 19, 21, 46, 61–63, 76, 104, 124, 135–137, 159, 182–187, 198–200, 205, 234, 243–284–341, 346–354, 365–375, 376–380, 384–390, 390–402, 403–414, 418, 421–423, 426 f., 434–439, 447–457, 469, 473 Schipanski, Dagmar 453 Schleiermacher, Friedrich 25, 115 Schlensag, Günther 201, 351, 359 Schmidt, Helmut 444 Schmittlein, Raymond 38 Schneider, Friedrich 165, 172 f., 178, 191 f., 200 f., 241, 285, 326, 329 Schröder, Gerhard 367 Schütz, Werner 81, 83 f., 112, 116, 192, 205, 237, 288 Schwarz, Hans-Peter 135–137 Seitz, Frederick 76 Siepmann, Wolf 368 Simon, Dieter 455, 457 Snell, Bruno 33, 36, 56, 82, 126 Speer, Julius 148, 265, 448 Spranger, Eduard 25, 42, 53, 99, 102, 105 f., 117, 136, 164–170, 173, 178–180, 200, 222, 244, 254 Stackmann, Karl 285, 287, 321, 329 Standop, Ewald 285 Steffens, Heinrich 25 Storbeck, Dietrich 314–316, 371–375, 434–437 Storz, Gerhard 112, 153–160, 165, 171, 177, 184–189, 196–201, 205, 209, 335, 430 f.
Strauß, Franz Josef 70 Striedter, Jurij 198 Stützl, Wolfgang 287, 321 Sund, Horst 351, 416, 418 f., 433 Tasic, Zoran 370 Tellenbach, Gerd 54, 56 f., 79, 126, 129 f., 165, 173, 178 f., 191, 201, 213, 377 Tenbruck, Friedrich 58, 247 Thape, Moritz 205 f. Tonutti, Emil 201 Töpper, Katte 268 Treue, Wilhelm 48 Treusch, Joachim 464 Vierhaus, Rudolf 194, 209, 448 Vogel, Bernhard 443, 452 Vring, Thomas von der 415, 419 Wapnewski, Peter 51, 450 Weber, Otto 174, 194, 277, 415 Weinrich, Harald 287, 329, 338, 348, 350, 371, 448 f. Weizsäcker, Carl Friedrich von 33, 36, 50, 53, 287 Wenke, Hans 117, 119, 162, 164, 174, 191, 194, 201, 208, 239, 244, 276, 283 Wisborg, Lennart Bernadotte Graf 358 Wolter, Jan 370 Wurster, Carl 111 Zenz, Karl Heinz 140–143, 147 Zierold, Kurt 64 f., 250 Ziertmann, Paul 53